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]]>Die
Zeitschrift für Politik und Literatur,
redigirt von
17. Jahrgang.
!. Semester. I. Band.
Leipzig,
Verlag von Friedrich Ludwig Herbig.
1858.
Ein Jahr ist vergangen, reich an Blüten und Sonnenlicht. Die Garben-
zahl war groß, die Körner schwer, kaum faßten die Fässer den süßen Most
und der lachende Herbst dehnte seine Herrschaft so weit aus, daß die Hand¬
arbeit im Freien bis jetzt kaum unterbrochen wurde. Aber wie hold die
Geister der Natur dem deutschen Lande auch gewesen sind, auf den Menschen
liegt doch ein trüber Ernst und unruhig, freudlos und sorgenvoll blicken sie
nach der Gegend des Himmels, aus welcher die Gestirne der nächsten Zukunft
über unsere Häupter aufsteigen.
Wir sind ärmer geworden. Nicht daß die Luftgebilde geträumten Reich¬
thums verschwinden, auch nicht daß Millionen von erworbenem Vermögen
wieder verloren sind, ist unser größter Verlust. Was alle verstimmt und
demüthiget, ist die nationale Einbuße an Männern, an Kraft und Vertrauen.
Wir haben den Glauben an Viele verloren, die wir unter den besten unsrer
Nation zu zählen gewohnt waren, die Ueberzeugung ist geschwächt, daß
unser Volk nicht arm ist an maßvoller Energie, an besonnenen, dauerhaften,
redlichen Arbeitern. Was im Verkehr des Marktes Mißtrauen heißt, ist nur
ein Ausdruck für das allgemeine Gefühl der Enttäuschung und das schmerz¬
liche Unbehagen darüber, daß so viele schwach und gewissenlos gehandelt
haben.
Auch in andern Gebieten des deutschen Lebens war die Erhebung
versagt, welche bei großen politischen Wandlungen den Völkern in Schmerz
und Freude so gut Bedürfniß ist. wie dem Einzelnen. In dem größten
Staate Deutschlands vollzieht sich ein verhnngnißvoller Wechsel fast lautlos
in beengenden Formen. Allmälig hat sich ein dunkler Schatten über die glän¬
zende nad bewegliche Seele gebreitet, welche durch 17 verhängnißvolle Jahre
Preußens Geschicke entschied. Die Kunde von diesem furchtbaren Ereigniß —
nicht verhehlt und doch nicht öffentlich ausgesprochen, — drang nur durch Gerüchte
unsicher und entstellt in das betroffene Volk. Dem neuen Regenten und den
Preußen wurde das volle Maß der Empfindungen versagt, welche erschüttern,
erheben und verjüngen, so oft ein König sein Antlitz vom Leben abkehrt zu
dem stillen Haus, seiner Ahnen. Ein König scheidet, ein neuer Herrscher
kommt, und es fehlt alles Gewaltige, der düstere Pomp und die feierlichen
Klagen des Schmerzes, es fehlen die neuen Kränze, die reinen Gewänder,
es fehlt der laute Ausdruck der Gefühle, mit denen ein großes Volk dem
neuen Souverän cntgegenruft. Der Fürst selbst entbehrt die hohe Poesie des
Königthums, deren voller Glanz nur aus die ersten Wochen der Herrschaft
fällt, und für ihn ach! so schnell verbleicht. Ihm sind die alten Gesichter
geblieben, der alte Staub, die matte graue, einfarbige Alltäglichkeit. Lang¬
sam und reizlos umschließt den Pslichtvollen sein neues Amt, und längst em¬
pfindet er den Druck der Krone, bevor ihr Leuchten seine Stirn erhellt. Der
?3. Januar wird wahrscheinlich eine Verlängerung seines Maubads bringen.
Schwerlich werden die Kammern dieses Winters etwas thun, um das neue
Verfassungsleben Preußens an dem großen Uebergange zu betheiligen. — In
diesem Jahre aber werden in Preußen neue Volksvertreter gewählt.
Doch zwischen den grauen Schatten, welche die Wiege des neuen Jahres
umgeben, fehlen nicht ganz farbige Bilder und lachende Gesichter. In dem
Königsstamm der Hohenzollern wird ein neuer Haushalt eingerichtet. Des
Deutschen Herz, stets bereit zu lieben und zu verehren, und gemüthlicher Erhe¬
bung sehr bedürftig, erwärmt sich bei dem Gedanken an das Glück eines jungen
Paares und freudig werden kleine Züge aus ihrem Leben erzählt und gehört,
welche Hoffnung geben, daß die Verlobten, welche einst die Krone Preußens
tragen sollen, glücklich und gut sein werden. Und wenn warme Glück¬
wünsche des Volkes ihnen das neue Haus schmücken konnten, so müßte jeder
Dachziegel von Golde sein. Auch dem NichtPreußen erscheint als Verhei¬
ßung einer großen Zukunft, daß jetzt Wahrheit wird, was vor mehr als
hundert Jahren erstrebt und damals einem König vereitelt wurde, dessen
Heldengestalt noch immer über dem .Kampf unserer Parteien schwebt als Haus¬
geist des preußischen Staats, und Vorkämpfer des deutschen Nordens.
So ist auch in der vcrnüchterten, unsichern Gegenwart das Gemüth der
Deutschen nicht ohne die Geschenke der Göttin, welche ihm die nationalste
von allen ist, der Hoffnung. Ueber jedem Wechsel der Stimmung und Inter¬
essen aber soll unsrer Nation die große Ueberzeugung stehn, daß wir in eine
Periode unsrer Entwicklung getreten sind, wo wir alles sichere Wachsthum
an Stärke und Größe nicht als ein müheloses Geschenk der ewigen Gewalten,
auch nicht als eine plötzliche Gabe unsrer Fürsten erwarten dürfen, sondern
daß wir selbst mit Tüchtigkeit, in langen Kämpfen und durch unermüdliche Arbeit
darnach zu ringen haben. Und so sollen wir das neue Jahr nicht mit Klagen
und Träumen beginnen, sondern mit den Borsätzen eines ernsten Willens.
Solche gute Vorsätze spricht auch dies Blatt grüßend vor seinen
Lesern aus.
Es ist nicht die Absicht, in den folgenden Seiten die Gräuel des furcht¬
baren Krieges aufzuzählen. Wer die lebhaften Schilderungen der beiden >
Humoristen aus dem 17. Jahrhundert zur Hand nimmt, erkennt schaudernd, daß
vor 200 Jahren dieselben Brutalitäten in unsern Dörfern verübt wurden,
von denen wir jetzt in Berichten aus Ostindien vernehmen. Auch soll hier
nicht versucht werden, die Größe des Unglücks zu skizziren, denn eine solche
Darstellung würde selbst dann noch ungenügend werden, wenn man das
ungeheure Detail aus hunderttausend vergilbten Blättern in ein ernstes Ge¬
schichtswerk verarbeitete. Dagegen sollen hier einige Züge aus dem Leben
des Volkes zu einem Bilde verbunden " werden, Thatsachen, welche an sich
unbedeutend sind, aber in ihrer Zusammenstellung wol die Theilnahme der
Leser beanspruchen dürsen. Es ist in d. Bl. mehr als einmal gesagt worden,
daß die Folgen des ungeheuren Verlustes an Menschen und Gütern von
jenem Kriege bis in unser Jahrhundert fühlbar geworden sind; es ist auch
der Versuch gemacht worden, diesen Verlust sür einzelne Landschaften an¬
nähernd zu bestimmen. Die Annahme wird nicht zu hoch gegriffen sein, daß
das damalige Deutschland, Oberbaiern und Oberöstreich ausgenommen, weit
über 60 Procent seiner Bewohner (in den Dörfern über 70 Procent) verloren
habe, an seinem Viehinvcntarium aber sicher nicht weniger als 80 Procent,
und daß diese Verluste durch die Vernichtung und Verwüstung alles übrigen
Besitzthums und durch die Demoralisation der Ueberlebenden noch gesteigert
wurden. Hier nun soll an einzelnen Beispielen die Zerstörung der Dorf¬
gemeinden verständlich gemacht und dabei gezeigt werden, welche Kräfte
neben den verderbenden thätig waren, das Übrigbleibende zusammenzuhalten
und die letzte Vernichtung der Nation- abzuwehren. Die Verhältnisse sind einer
bestimmten Landschaft entnommen, welche durch das Kriegsunglück zwar
hart getroffen^ wurde, aber nicht mehr als die meisten andern Länder
Deutschlands, ja nicht so sehr als z. B. die Mark Brandenburg und mehre
Territorien des niedersächsischen und schwäbischen Kreises. Es ist die thüringische
und fränkische Seite des Waldgebirges, welches in der Mitte Deutschlands
als uralte Grenzscheide zwischen dem Norden und Süden gilt; vorzugsweise
die jetzigen Herzogthümer Gotha und Meiningen. Die folgenden Einzelheiten
sind aus Kirchenbüchern, Gemeindeacten, mehres aus den voluminösen
Kirchen und Schulgcschichtcn, welche geistliche Sammler im vorigen Jahr¬
hundert Herausgaben, entnommen.''
Deutschland galt um das Jahr 1618 für ein sehr reiches Land. Auch
der Bauer hatte in dem langen Frieden eine Wohlhäbigkeit erlangt, welche
wahrscheinlich größer war. als sie im Durchschnitt noch gegenwärtig ist. Die
Zahl der Dörfer in Thüringen und Franken war etwas größer als jetzt.
Die Häuser waren zwar nur von Holz und Lehm in ungefälliger Form, oft
in engen Dorsstraßen zusammengedrängt, aber sie waren nicht arm an Haus¬
rath und Behagen. Schon standen alte Obstbaumpflanzungen um die Dörfer
-und viele Quellen ergossen ihr klares Wasser in steinerne Tröge. Auf
den Düngerstätten der eingefriedeten Höfe tummelten sich große Scharen
von kleinem Geflügel, auf den Stoppeläckern lagen mächtige Gänseherden
und in den Ställen standen die Gespanne der Pferde weit zahlreicher als
jetzt, wahrscheinlich ein großer starkknochiger Schlag, verbauerte Nachkommen
der alten Ritterrosse, sie. die stolzeste Freude des Hofbesitzers. Große Ge¬
meindeherden von Schafen und Rindern grasten auf den steinigen Höhen-
zügen und in den fetten Riedgräsern. Die Dvrfflur lag — wo nicht
die altfränkische Flurtheilung in lange Bänder sich erhalten hatte — in drei
Felder getheilt, deren Husen schon damals viel gespalten und Beet sür Beet sorg¬
fältig versteint waren. Der Acker war nicht ohne höhere Cultur. Es ward
häufig Weizen in das Winterfeld gesäet. Wald wurde im Norden des Renn-
stiegs eifrig und mit großem Bortheil gebaut, der Flachs wurde durch die
Wasserröste zubereitet, auch die Pferdebohne scheint schon damals ein
beliebtes Futtergewüchs gewesen zu sein und die bunten Blüten des Mohnes
und die schwanken Rispen der Hirse erhoben sich inmitten der Aehrenfelder. An
den Abhängen von warmer Lage aber waren in Thüringen und Franken damals
überall Rebengärten und diese alte Cultur, welche jetzt in denselben Land¬
schaften fast untergegangen ist, muß in günstigen Jahren doch einen sehr
trinkbaren Wein hervorgebracht haben, sogar noch auf den Vorbergen des
Waldgebirges, denn es werden in . den Chroniken einzelne Weinjnhre als
vortrefflich gerühmt. Auch Hopfen ward fleißig gebaut und vorzüglich in
Franken schon damals zu gutem Biere benutzt. — Die Lasten, welche auf dem
Bauernstand lagen, servitutem und Abgaben waren nicht gering, am größten
auf den adligen Gütern, aber es gab nicht wenig freie Bauerdörfer im Lande
und das Regiment der Landesherrn war im Ganzen weniger hart, als im
südlichen Franken und in Hessen. Es ist ein Irrthum, wenn man die Bureau¬
kratie und Schreiberherrschaft als ein Erzeugnis; der neuen Zeit betrachtet, es
wurde schon damals viel regiert und die Dörfer hatten dem herzoglichen
Amtsboten, der ihnen die Briefe brachte, schon oft sein kleines Zehrgeld zu
zahlen. Die Gemeinderechnungcn wurden seit fast hundert Jahren ordent¬
lich geführt und von den Landesregierungen beaufsichtigt; auch auf Orts¬
zeugnisse und Heimathscheine ward schon gehalten, und die Gemeinden
empfahlen einander freundnachbarlich in gewählten Ausdrücken ihre An¬
gehörigen, welche aus einem Dorf nach dem andern zogen. Auch der
Handelsverkehr war nicht gering. Durch Thüringen führte fast parallel mit
den Bergen eine große Handelsstraße von der Elbe zum Rhein und Main
und am Abfall des Gebirges gegen die Werra lag die große Heerstraße, welche
den Norden Deutschlands mit dem Süden verband. Die Vectnranz auf den
kunstlosen Straßen erforderte zahlreichen Vorspann und brachte den Dörfern Ver¬
dienst und Kunde aus der fernen Welt, auch manche Gelegenheit Geld auszugeben.
Seit der Reformation waren wenigstens in allen Kirchdörfern Schulen, die
Lehrer meist Theologen, auch Schuilehrcrinnen für die Mädchen fanden sich
zuweilen. Es wurde ein kleines Schulgeld gezahlt und ein Theil der
Dorfbewohner war in die Geheimnisse des Lesens und Schreibens ein¬
geweiht. Der Gegensatz zwar zwischen dem Landmanne und dem
Städter war damals größer als jetzt, der „dumme Bauer" war in den
Stuben der Handwerker immer noch ein Lieblingsgegenstand unholder Scherze
und als charakteristische Eigenschaften seines Standes wurden ihm Roh¬
heit, Einfalt, unredliche Pfiffigkeit, Trunkliebe und Freude an Prügeln nach¬
gerühmt. Aber wie abgeschlossen und arm an wechselnden Eindrücken sein
Leben auch damals war, man würde sehr Unrecht thun, wenn man ihn sür
wesentlich schwächer und untüchtiger hielte, als er jetzt ist. Im Gegentheil
war sein Selbstgefühl nicht geringer und oft besser berechtigt. Wol war
seine Unkenntniß fremder Verhältnisse größer, denn es gab noch keine
Zeitungen und Lokalblätter, und er selbst war in der Regel nicht weiter ge¬
wandert als bis zur nächsten Stadt, wo er seine Producte verkaufte, etwa
einmal über die Berge, wenn er Kühe trieb, als Thüringer nach Erfurt
auf den Waidmarkt, als Franke vielleicht ins Katholische nach Bamberg mit
seinem Hopfen. Auch war er in Tracht, in Sprache und Liedern nicht modisch,
wie die Städter, er gebrauchte gern alte derbe Worte, welche der Bürger sür
unfläthig hielt, er schwor und fluchte anders und sein Begrüßungsceremo-
niel war ein anderes als das des Städters, aber nicht weniger genau.
Doch deshalb war sein Leben nicht arm an Gemüth, an Sitte, selbst
acht an Poesie. Noch hatte der deutsche Volksgesang ein kräftiges
Leben und der Landmann war der eifrigste Bewahrer desselben, noch
waren seine Feste, sein Familienleben, seine Rechtsverhältnisse, seine Käufe
und Verkäufe, reich an alten farbenreichen Bräuchen, an Sprüchen und
ehrbarer Repräsentation. Auch die echt deutsche Freude an hübscher Hand¬
werksarbeit, das Behagen an saubern und kunstvollen Erbstücken, theilte der
Landmann damals mit dem Bürger. Sein Hausgeräth war stattlicher als
jetzt. Zierliche Spinnräder, welche noch für eine neue Erfindung galten,
sauber ausgeschnittne Tische, geschnitzte Stühle und Wandschränke haben sich
einzeln — selten in Thüringen, öfter in Fransen — bis ans unsere Zeit er
halten und werden jetzt mit den irdenen Apostclkrügen und ähnlichem Trink-
geschirr von Kunstsammlcrn ausgekauft. Groß muß der Schatz der
Bauerfrauen an Betten, Kleidern, Wüsche, an Ketten, Schaumünzen und
anderem Schmuck gewesen sein, und nicht weniger begehrungswürdig waren die
zahlreichen Würste und Schinken im Rauchfang. Auch viel baares Geld lag ver¬
steckt in den Winkeln der Truhe oder sorglich in Töpfen und Kesseln vergraben,
denn das Aufsammeln der blanken Stücke war eine alte Bauernstande, es
war seit Menschengedenken Friede gewesen und Wald und Hopfen brachten
gutes Geld. Das Leben des Bauern war reichlich ohne viele Bedürfnisse, er
kaufte in der Stadt die Nesteln für seine Kleider, den silbernen Schmuck für Weib
und Töchter, Würze für seinen sauern Wein und was von Metallwaaren
und Geräth in Hos und Küche nöthig war. Die Kleider von Wolle und
Leinwand webten und schnitten ost die Frauen im Hause oder der Nachbar
im Dorfe. Der Landmann nahm seine Mütze tief ab vor dem Landesherr»
oder vor den gelehrten Juristen, denn er liebte bereits die gefährliche Auf¬
regung der Processe, aber er wälzte wol auch ihnen gegenüber mit geheimem
Stolz die Erinnerung an eine kupferne Ofenblase oder ein paar alte Scher¬
ben in sich herum, die er gefüllt mit schweren Joachimsthalern im Milchkeller
oder unter seinem Ehebett versteckt hatte.
So lebte der Bauer in Mitteldeutschland noch nach dem Jahre 1618.
Er hörte des Sonntags in der Schenke von wildem Kriegsgetümmel hinten
in Böhmen, wo die Länder des Kaisers lagen, um den er sich wenig küm¬
merte. Er kaufte wol von einem verschmitzten Händler ein fliegendes Blatt,
oder ein Spottlied auf den verlorenen König der Böhmen; er gab einem
.zerschlagenen Flüchtling von Prag oder Budweis, der bettelnd an seine Thür
kam, von seinem Brot und Käse und hörte seine Schauergeschichten mit Kops¬
schütteln. Der Amtsbote brachte ein Schreiben des Landesherrn in das Dorf,
aus dem er sah. daß auch ihm zugemuthet wurde, für neugeworbene Sol¬
daten Geld und Getreide nach der Stadt zu liefern, er ärgerte sich und beeilte
sich seinen Schatz noch tiefer zu vergraben. Doch bald wurde ihm deutlich,
daß eine schlechte Zeit auch gegen ihn heranziehe, denn das Geld, welches
er in der Stadt empfing, wurde sehr roth, und alle Waaren wurden theurer;
auch er wurde in die heillose Verwirrung hineingezogen, welche seit 1620
durch das massenhafte Ausprägen werthlosen Geldes über das Land kam.
Er sah rundum in seiner Nähe Hcckenmünzcn aufrichten und erfuhr, daß man
jetzt überall von Kupfer Geld mache. Wenn er in die Stadt kam, wurde
er -vom Kaufmann betrogen, man verlangte seine guten Thaler, wenn er
bezahlen sollte und gab ihm garstiges Hcckengcld, wenn er zu fordern hatte.
Sein Pastor sing von der Kanzel an gegen Wucher, theure Zeit Und schlechtes
Geld zu predigen, und das machte ihn sehr argwöhnisch, denn wenn schon der
Pfarrer das neue rothe Geld nicht mehr zum Opfer annehmen wollte, so mußte
die Sache in der Welt schlecht stehen. Er behielt sein Getreide und Fleisch zu
Hause und ging gar nicht mehr nach der Stadt. Aber er bekam doch Händel mit
Städtern und seinen Nachbarn, weil er auch das neue Geld bei seinen Zahlungen
loswerden wollte, und nur altes gutes als Bezahlung annehmen. Sein Herz
war voll böser Ahnungen. So ging es bis zum Jahr 1623. Da sah er das
Unheil noch von anderer Seite heranziehen. Die Diebstähle und Einbrüche
mehrten sich, fremdes Gesindel wurde oft auf den Landstraßen gesehen. Trom¬
peter sprengten mit schlimmen Nachrichten nach den Städten, angeworbenes
Kriegsvolk zog prahlerisch und frech vor seinen Hof, forderte Unterhalt, stahl
Würste, und nahm Hühner im Schnappsack mit. Desenfioner, ein neu errichtetes
Corps von berittenen Polizeisoldaten, trabten in das Dorf, forderten wieder
Zehrung, legten sich ihm in Quartier und belästigten ihn mehr als die Spitz¬
buben, die sie von seinen Viehställen abhalten sollten. Endlich begannen —für
Thüringen seit 1623 — die Durchmärsche fremder Truppen und die großen Leiden
des Krieges senkten sich auf ihn. Fremdes Kriegsvolk von abenteuerlichem Aus¬
sehen, durch Blut und Schlachten verwildert, marschirte in sein Dorf, legte sich
ihm in Haus und Bett, mißhandelte ihn und die Seinen, forderte Zehrung, Kon¬
tribution, außerdem Geschenke und zerschlug.' verwüstete, und plünderte doch
noch, was ihm vor Augen kam. So ging es fort, seit 1626 mit jedem
Jahre schlimmer, Banden folgten aus Banden, mehr als ein Heer setzte sich
um ihn herum in Winterquartieren sest. die Lieferungen und Quälereien schie¬
nen endlos. Mit Entsetzen sah der Bauer, daß die fremden Soldaten mit
einer Spürkraft, die er der Zauberei zuschrieb, aufzufinden wußten, was er
tief in der Erde versteckt hatte. Wenn er ihnen aber zu schlau, gewesen war,
so wurde sein Loos noch schlechter, dann wurde er selbst ergriffen und durch
Qualen, welche niederzuschreiben peinlich ist, gezwungen, den Versteck
seiner Schätze selbst anzugeben. Von dem Schicksal seiner Frau und seiner
Töchter schweigen wir. das Greulichste wurde so gewöhnlich, daß eine Aus¬
nahme befremdlich war. Aber noch andere Leiden folgten. Seine Töchter,
seine Magd, sein kleiner Knabe wurden nicht nur viehisch gemißhandelt, sie
waren auch in dringender Gefahr durch Ueberredung oder Gewalt fortgeführt zu
werden. Denn jedem Heerhaufen folgte ein roher unseliger Troß von Dirnen
und Knaben. Es war eine Sache der Ehre und des Vortheils für den Ar-
quebusier wie den Reuter, eine Dirne zu halten, mit der er im wilden Haus¬
halte lebte und einen Buben, der ihm die niedrigsten Dienste verrichtete, für
ihn Beute machte und stahl. Das Schicksal dieser Unglücklichen läßt sich
denken! Aber die Wirthschaft des Landmanns ward noch in anderer Weise
verwüstet. Sein Knecht hatte vielleicht einige Jahre die Schläge der fremden
Soldaten ertragen, zuletzt lief er selbst unter die, welche schlugen; die Gespanne
wurden vom Pfluge gerissen, die Herden von der Weide geholt, und dadurch
die Bestellung der Felder oft unmöglich gemacht. Und doch, wie jammer¬
voll und hilflos seine Lage war, in der ersten Hülste des Krieges, bis
zum Tode Gustav Adolphs, war doch das Schreckliche noch verhältnißmäßiq
erträglich. Denn noch war selbst in Plünderung und Zerstörung ein gewisses
System, einige Mannszucht hielt wenigstens die regelmüßigen Heerhaufen
zusammen und ein und das andere Jahr verlief ohne große Truppen¬
züge. Es ist uns möglich in dieser ersten Zeit zu erkennen, wie viel einzel¬
nen Gemeinden zugemuthet wurde, denn schon saßen in dieser Zeit die Landes'
bchörden fest in ihren Schreibstuben, und nach den Durchmärschen wurden
von den betroffenen Gemeinden gewöhnlich Liquidationen über ihre Leistungen
eingefordert, deren Beträge ihnen freilich nicht wieder erstattet wurden. Wer
solche Liquidationen in den Gemeindearchivcn durchblättert, der wird die Namen
berüchtigter Heerführer, die er aus der Geschichte oder aus Schillers Wallen¬
stein kennt, in sehr realer Verbindung mit den Geschicken eines thüringischen
Dorfes finden.
Die Wirkungen, welche ein solches Leben voll Unsicherheit und Qual aus
die Seelen der Landleute ausübte, war sehr traurig. Die Furcht, eine bebende,
klägliche Furcht umzog entnervend die Herzen. Immer war ihr Gemüth voll
von Aberglauben gewesen, jetzt wurde mit rührender Leichtgläubigkeit alles
aufgesucht, was als Eingreifen überirdischer Gewalten gedeutet werden konnte.
Man sah am Himmel die schrecklichsten Gesichter, man fand die Anzeichen furcht¬
baren Unheils in zahlreichen Mißgeburten; Gespenster erschienen, unheimliche Laute
klangen vom Himmel und auf der Erde. In Ummerstadt z. B.. Herzogthum Hild¬
burghausen erschienen weiße Kreuze am Himmel, als die Feinde einrückten.
Ais sie in die Kammerkanzelei eindrangen, trat ihnen ein weißgekleideter Geist
entgegen und winkte ihnen zurück und niemand konnte sich von der Stelle
rühren. Nach ihrem Abzüge hörte man acht Tage lang im Chor der aus¬
gebrannten Kirche ein starkes Schnauben und Seufzen. — Zu Gum-
pershausen machte eine Magd großes Aufsehn im ganzen Lande. Sie
erfreute sich der Besuche eines kleinen Engels, der sich bald in rothem, bald
in blauem Hemdlein, vor ihr aufs Bett oder den Tisch setzte und ängst¬
liche Wahrheiten aussprach, vor Gottcslüsterung und Fluchen warnte,
wehe! schrie, und schreckliches Blutvergießen verhieß, wenn die Menschheit
nicht das Lästern,'die Hoffart und die gestärkten blauen Krägen, --
damals eine neue Mode — abschaffen würde. Wie man aus den eifrigen
Protokollen ersieht, welche die geistlichen Herrn verschiedener Würden über die
Halbblödsinnige aufnahmen, verursachte ihnen nur der eine Umstand Bedenken,
weshalb das Engelein nicht sie selbst besuche, sondern eine einfältige Magd.
Neben dem Schrecken zog Trotz und wilde Verzweiflung in die See¬
len. Die sittliche Verwahrlosung nahm im Landvolk furchtbar überHand.
Weiber entliefen den Männern, Kinder den Eltern, die Gewohnheiten, Laster
und Krankheiten der durchziehenden Heere blieben zurück, selbst wenn die
Räuber aus dem verwüsteten und halb zerstörten Dorfe abzogen. Damals
wurde das Tabakrauchen bei dem Landvolk allgemein, das Branntweintrinken,
das sich etwa seit dem Bauernkriege auf dem Flachlande verbreitet hatte,
wurde ein gewöhnliches Laster. Die Achtung vor fremdem Eigenthum ver¬
schwand. Im Anfange des Kriegs waren die Nachbardörfer einander noch
hilfreich gesinnt. Wenn die Soldaten in dem einen Dorfe Vieh forttrieben
und dasselbe bei der nächsten Nachtrast wieder verkauften, so gaben die Käu¬
fer den neuen Erwerb um den Einkaufspreis oft den frühern Eigenthümern
zurück. Das thaten in Franken selbst katholische und protestantische Ortschaf¬
ten einander zu Liebe. Allmälig aber begann der Landmann zu stehlen und
zu rauben wie der Soldat. Bewaffnete Haufen rotteten sich'zusammen, zogen
über die Landesgrenze in andere Dörfer und entführten, was sie bedurften. Sie
lauerten den Nachzüglern der Regimenter in dichtem Wald oder in Gebirgs¬
pässen aus und nahmen oft nach hartem Kampfe an dem Leben der Bezwunge¬
nen eine rohe Rache, ja sie überboten die Virtuosität der Soldaten in
Erfindung von Todesqualen, und es wird wenige Waldhügel geben, in
deren Schatten nicht damals greuliche Unthat von solchen verübt
ist, w.elche dort früher als friedliche Holzfäller und Steinbrecher ihr kunst¬
loses Lied gesungen hatten. Es entstand allmälig ein grimmiger Corpshaß
zwischen Soldaten und Bauern, der bis an das Ende des Krieges dauerte
und mehr als etwas Anderes die Dörfer Deutschlands verdorben hat.—Auch
zwischen den Landschaften und einzelnen Oertern entstanden Fehden. Hier sei
aus der düstern Zeit nur eine harmlose berichtet.
So hatten die Bürger von Eisfeld noch mehre Jahre nach dem Kriege
heftige Feindschaft mit dem Kloster Banz, wegen zwei wohltönenden Glocken
ihrer alten Stadtkirche, dem „Banzer" und der „Messe". Ein schwedischer
Obrist hatte die beiden Glocken aus Banz abgeführt und dem Städtchen ver¬
kauft. Und zweimal, wenn katholische Völker in Eisfeld lagen, waren die
Mönche mit Wagen und Seiten hingezogen, ihre Glocken wieder¬
zuholen, aber das erste Mal bekamen die Mönche mit einem gewissenhaften
Kroaten der Einauartirung Händel, weil sie eine Thurmuhr obenein mitnehmen
wollten. Der Kroäk drang mit dem Säbel aus die frommen Männer ein, und
er und seine Kameraden liefen auf den Thurm und läuteten heftig mit den
Glocken, so daß die Mönche von Banz für unmöglich fa,nden, die Glocken
herunterzuhvleu und an ihrer Statt nur die Thurmuhr mitnahmen. Das
zweite Mal gings ihnen nicht besser; endlich nach dem Frieden wurde ihnen
als Ersatz eine andere kleine Glocke angeboten. Als sie aber auf dieser den
Spruch sahen: „Erhalt' uns Herr bei deinem Wort", gingen sie kopfschüttelnd
wieder nach Hause. Endlich verglich Herzog Ernst der Fromme die Sache,
nahm als Dank die kleine Glocke für sich selbst und hing sie in Gotha auf
dem Fricdenstein aus.
Nach Kräften suchten sich die Dörfer vor der Raubgier der Solda¬
ten zu wahren. So lange noch Geld aufzubringen war, machten
sie Versuche, durch Zahlung einer Geldsumme an die vorausgesandten
Offiziere die Einquartirung 'von sich abzukaufen, und mancher Schurke
benutzte solche Furcht und erhob in der Maske eines vorausgesandten Fouriers
hohe Steuern von den getäuschten Dorfsassen. Auf die Kirchthürme und hohe
Punkte der Flur wurden Wachen gestellt, die ein Zeichen gaben, wenn
Truppen in der Ferne sichtbar wurden. Dann brachte der Landman, was
er retten konnte, die Frauen und Kinder und leichtbewegliche Habe eilig in
einen entfernten Versteck. Solche Verstecke wurden mit großem Scharfsinn
ausgesucht, durch Nachhilfe noch unzugänglicher gemacht und Wochen, ja Mo¬
nate lang fristeten dort die Flüchtlinge ihr angstvolles Dasein. Im schwarzen
Moor zwischen Gräben, Binsen und Erlengebüsch, in dunkler Waldesschlucht,
in alten Lehmgruben und in verfallenem Mauerwerk suchten sie die letzte
Rettung. Noch jetzt zeigt an manchen Orten der Landmann mit Theilnahme
aus solche Stellen. Zu Aspach in einem alten Thurm ist 16 Fuß über dem
Boden ein großes Gewölbe mit eiserner Thüre, dorthin flüchteten die Aspachcr,
so oft kleine Banden auf das Dorf marschirten, für längere Flucht aber hatten
sie ein Feld von mehren Ackern, das mit Heimbuchen dicht umwachsen war,
darum pflanzten sie Dorngeöüsch, das ans dem fruchtbaren Boden hoch wie
Bäume wurde und dicht wie eine Mauer stand. In diesem Verhack, zu dem
man nur auf dem Bauche kriechend gelangen konnte, hat sich die Gemeinde
oft verborgen. Nach dem Kriege wurden die Dornen ausgereutet und der
Boden in Hopfen-, dann in Krautländer verwandelt. Noch .heißt ein Theil
dieses Grundes „der Schutzdorn". — Waren die Soldaten abgezogen, dann
kehrten die Flüchtlinge in ihre Häuser zurück und besserten nothdürftig aus,
was verwüstet war. Nicht selten freilich fanden sie nur eine rauchende Brand¬
stätte.
Auch nicht alle, die geflohen waren, kamen zurück. Die Wohlhabenderen
suchten sich und ihre Habe in den Städten zu bergen, wo doch die Kriegs¬
zucht ein wenig straffer und die Gefahr geringer war. Viele auch flüchteten
in ein anderes Land und, wenn dort Feinde drohten, wieder in ein anderes.
Die Meisten hat sicher das Elend dort nicht weniger hart geschlagen. — Aber
auch die im Lande blieben, kehrten nicht alle zur heimischen Flur. Das
wilde Leben im Versteck und Walde, die rohe Freude an Gewaltthat und
Beute machte die Trotzigsten zu Räubern. Mit rostigen Waffen versehn,
die sie vielleicht getöteten Marodeuren abgenommen hatten, führten sie unter
den Fichten der Berge ein gesetzloses Leben, als Gefährten des Wolfes und
der Krähe, bald Wilddiebe, bald Wegelagerer.
So verminderte sich die Bevölkerung des flachen Landes mit reißender
Schnelligkeit. Schon zur Zeit des Schwedenkönigs waren mehre Dörfer ganz
verlassen und um die geschwärzten Balken und das Stroh der zerrissenen
Dächer schlichen die Thiere des Waldes und etwa die zerlumpte Leidensgestalt
eines alten Mütterleins oder eines Krüppels. Von da an nahm das Unheil
in solcher Steigerung zu, daß sich nichts in der neuem Geschichte damit ver¬
gleichen läßt.' Zu den zerstörenden Dämonen des Schwertes kamen andere nicht
weniger furchtbare und noch gefräßigere. Das Land war- wenig bebaut wor¬
den und hatte eiye schlechte Ernte gegeben. Eine unerhörte Theurung ent-,
stand, Hungersnoth folgte und , in dem Jahre 1635 und 36 ergriff eine
Seuche,so schrecklich, wie sie seit fast hundert Jahren in Deutschland nicht
gewüthet hatte, die kraftlosen Leiber. Sie breitete ihr Leichentuch langsam
über das ganze deutsche Land, über den Soldaten, wie über den Bauer, die
Heere sielen auseinander unter ihrem sengenden Hauch; viele Oerter verloren
die Hälfte ihrer Bewohner, in manchen Dörfern Frankens und Thüringens
blieben nur einzelne übrig. Was noch von Kraft in einer Ecke des Landes
gedauert hatte, jetzt wurde es zerbrochen. — Der Krieg aber wüthete von dieser
Schreckenszeit ab noch 12 lange Jahre. Auch er war schwächer geworden, die Heer¬
haufen kleiner, die Operationen aus Mangel an Lebensmitteln und Thieren un¬
steter und planloser, aber wo die Kriegsfurie ausflackerte, fraß sie erbarmungs¬
los weg, was sich noch von Leben zeigte. Das Volk erreichte die letzte Tiefe
des Unglücks; ein dumpfes apathisches Brüten wurde allgemein. Bis dahin
hatte sich die Presse in Streitschriften, Liedern und fliegenden Blättern lebhast
an dem Kampfe betheiligt, seit der großen Seuche werden auch diese Volks¬
stimmen selten. Ein klägliches, bettelhaftes Wesen nimmt in Stadt und Land
überHand. Gleichgiltigkeit gegen das eigne und fremde Leid, rohe Genußsucht,
Kriecherei und Gesinnungslosigkeit werden hervorstechende Züge auch in den
anspruchsvolleren Classen. Von den Landleuten ist aus dieser letzten Zeit
wenig zu berichten. Sie vegetiren verwildert und hoffnungslos, aber nur
geringe Nachrichten sind in Dorfurkunden, Pfarrbüchern und kleinen Chroniken
zu finden. Man hatte in den Dörfern das Schreiben, ja fast die laute Klage, ver¬
lernt. Daß jetzt eine Zeit gekommen war, wo solche, die zwanzig Jahre
des Leidens ausgehalten hatten, selbst Hand an sich legten, das lesen wir aus
Berichten der Gesandten, welche an dem großen Frieden Jahre lang vergeblich
arbeiteten.
Man mag fragen, wie bei solchen Verlusten und so gründlichem Verderb
deriUeberlebendcn überhaupt noch ein deutsches Volk geblieben ist. das nach
geschlossenem Frieden wieder Land bauen, Steuern zahlen und nach einem
durstigen Vegetiren von hundert Jahren wieder Energie, Begeisterung und
ein neues Leben in Kunst und Wissenschaft zu erzeugen vermochte. Aller¬
dings ist wahrscheinlich, daß sich das Landvolk ganz in schwärmende Banden
aufgelöst hätte, und daß die Städte niemals im Stande gewesen wären, ein
neues Volksleben hervorzubringen, wenn nicht drei Gewalten den deutschen
Landmann vor der gänzlichen Zerstreuung bewahrt hätten: seine Liebe zu
dem väterlichen Acker, die Bemühungen seiner Obrigkeit' und vor allem
der Eifer seines Seelsorgers, des Dorfpfarrers. Des Bauern Liebe zur eig¬
nen Flur, noch jetzt ein starkes Gefühl, welches gegen die wohlthätigsten
Ackergesetze feindlich arbeitet, war im 1,7. Jahrhundert noch um vieles mäch¬
tiger. Denn der Bauer kannte außerhalb der eigenen Dorfflur sehr wenig
von der Welt, und die Schranken, welche ihn von einem andern Lebensberuf
und anderer Herren Land trennten, waren sehr schwer zu übersteigen. So
lief er mit Zähigkeit immer wieder aus seinem Versteck nach dem zerstörten
Hofe und versuchte immer wieder die zerstampften Aehren zusammenzulesen,
oder in das niedergetretene Land den wenigen Samen zu streuen, den er sich
gerettet hatte. Er hütete sich wohl, seinem Hause ein wohnliches Aussehen zu
geben, er gewöhnte sich in Schmuz und Ruinen zu Hausen, und verbarg das
flackernde Feuer des'Herdes vor den raubgierigen Blicken, welche vielleicht
durch die Nacht nach einem warmen Neste suchten. Die kärgliche Speise ver¬
steckte er an Orte, vor welchen selbst dem ruchlosen Feind graute, in Gräber,
in Särge, unter Todtenköpfe. So hauste er unter dem Zwange der Gewohnheit,
der allgewaltigen, wie gering auch die Hoffnung war, daß seine Arbeit ihm
selbst zu Gute kommen werde. — Kaum geringeres Interesse als er selbst, hatte
sein Landesherr und dessen Beamte ihn zu erhalten. Je geringer die Zahl
der steuerzahlenden wurde, desto höher stieg der Einzelne im Werth. Von
der Residenzstadt aus kümmerten sich die Regierungen durch ihre Amtleute, Vögte
und Schösser während des ganzen-Krieges um das Schicksal der Dörfer, ja
der Einzelnen. Die Actenschreibcrei wurde nnr in der ärgsten Zeit unterbrochen
und immer wieder angefangen. Zeugnisse, Berichte, Eingaben und Rescripte
liefen bei all dem Elend hin und her/) Eingaben und Kosten Liquidationen
wurden unermüdlich eingefordert und manch armer Schulmeister verrichtete ge¬
horsam seinen Dienst als Gemcindeschrciber, während der Schnee durch die
ausgeschlagenen Fenster in seine Schulstube hineinwehte, die Gemeindekasse
zerbrochen auf der Straße lag und die Dorfgemeinde, deren Rechnungen
er schrieb, bewaffnet in den Wald gezogen war, mit finstern ungesetzlichen
Anschlägen, welche der Landesregierung niemals berichtet wurden. So unnütz
dies Schrcibcrwcsen in vielen Fällen war, es zog doch zahllose Fäden, durch
welche der Einzelne an die Ordnung seines Staates gebunden wurde. Und
daß der Mechanismus der Verwaltung sich erhielt, war in den Pausen und
am Ende des Krieges von größter Bedeutung.
Das beste Verdienst aber um die Erhaltung des deutschen Volkes hatten
die Landgeistlichen und ihr heiliges Amt. Zuverlässig war ihr Einfluß in
den katholischen Landschaften nicht geringer, als in den protestantischen, wenn
uus auch wenig Nachrichten darüber geblieben sind, denn die katholischen
Dorfpfarrer waren damals ebenso dem Schreiben abhold, als die evangelischen
schrcibclustig. Doch an der Bildung ihrer Zeit hatten die protestantischen
Pfarrer einen weit größeren Antheil. Die deutsche gelehrte Bildung war
durch die Reformatoren wesentlich theologisch geworden, und die Pfarrgeist-
lichen repräsentirten diese Intelligenz gegenüber dem adligen Gutsherrn und
den Bauern. Sie waren in der Regel in den alten Sprachen gut bewandert,
geübt Latein zu schreiben und elegische Verse zu machen. Sie waren starke
Disputircr, wohlerfahren in dogmatischen Streitigkeiten, voll eifrigem Zorn
gegen Schwcnkfcldiancr, Theophrastianer, Rosenkreuzer und Wcigeliancr, hart¬
näckig, rechthaberisch, und ihre Lehre war stärker im Haß gegen die Ketzer,
als in Liebe gegen ihre Mitmenschen. Ihr Einfluß aus das Gewissen der
Laien hatte sie hochmüthig und herrschsüchtig gemacht, und die Begabteren unter
ihnen kümmerten sich mehr um Politik als für ihre Tugend gut war. Wenn
man einen Stand verantwortlich machen darf, für UnVollkommenheiten der
Zeitbildung, welche er nicht geschaffen hat, sondern nur repräsentirt. so hatte
die lutherische Geistlichkeit eine schwere und verhängnißvolle Schuld an der
Verödung des Gemüthes, der unpraktischen Kraftlosigkeit, dem trockenen,
langweiligen Formalismus, welche damals in deutschem Leben sehr oft zu Tage
kam. So waren die Geistlichen als Stand weder bequem noch besonders liebens¬
wert!), und selbst ihre Moralität war engherzig und inhuman. Aber all dies Unrecht
führten sie in den Zeiten der Armuth, der Trübsal und Verfolgung, lind unter
ihnen am meisten die armen Dorfpfarrer. Sie waren den größten Gefahren
ausgesetzt, den kaiserlichen Soldaten am meisten verhaßt, durch ihr Amt gezwun¬
gen sich dem Feinde bemerkbar zu machen, die Rohheiten, welche sie, ihre Frauen
und Töchter zu erdulden hatten, trafen tödtlich ihr Ansehen in der eigenen Ge¬
meinde. Ihr Leben wurde durch die Beiträge ihrer Beichtkinder erhalten, sie waren
nicht geübt und wenig geeignet, sich durch körperliche Arbeit die Tage zu fristen;
unter jeder Verringerung des Wohlstandes, der Sittlichkeit, der Menschenzahl
ihres Dorfes hatten sie am meisten zu leiden. Man muß einer sehr großen
Mehrzahl von ihnen das Zeugniß geben, daß sie all diese Gefahren als
echte Streiter Christi ertrugen. Die Meisten hielten bei ihren Gemeinden aus bis
fast zum letzten Mann. Ihre Kirche wurde verwüstet und ausgebrannt, Kelch
und Crucifix gestohlen, der Altar durch eklen Unrath beschmutzt, die Glocken
vom Thurm geworfen und weggeführt. Da hielten sie den Gottesdienst in
einer Scheuer, auf freiem Felde, im grünen Waldversteck. Wenn die Ge¬
meinde zusammenschmolz, daß der Gesang der Zuhörer aufhörte und kein
Cantor mehr die Bußlieder intonirte, da riefen sie den Nest der Ge¬
meinde noch zur Betstunde zusammen. Sie waren stark und eifrig im
Trösten und Strafen, denn je größer das Elend war, desto mehr Grund zur
Unzufriedenheit fanden sie auch in ihrer Gemeinde. Häusig waren sie die ersten,
welche von-der Verwilderung der Dorfbewohner zu leiden hatten; Diebstahl
und frecher Muthwille wurden am liebsten gegen solche geübt, deren zürnen¬
der Blick und feierliche Klage am meisten imponirt hatten. Ihre Schicksale
sind daher vorzugsweise charakteristisch für jene eisernen Jahre und wir sind
glücklicherweise in der Lage, grade von ihnen zahlreiche Aufzeichnungen zu
besitzen, oft in Kirchenbüchern, denen sie ihr Leid klagten, während kein Mensch
sie hören wollte. Aus solchen Notizen thüringischer und fränkischer Pfarr-
gciMcher seien hier nur wenige Beispiele mitgetheilt.
Magister Michael Ludwig war seit 1633 Pfarrer zu Sonncufeld.
Doll predigte er im Walde unter freiem Himmel seiner Gemeinde, ließ sie mit
der Trommel statt mit der Glocke zusammenrufen, und Bewaffnete mußten
Wache stehen, während er predigte; acht Jahre hielt er so aus, bis seine Ge¬
meinde ganz verschwand. Da rief ein schwedischer Oberst den tapfern Mann
als Prediger zum Regiment, er wurde später Präsident des Feldconsistoriums
bei Torstenson und Superintendent zu Wismar. — Georg Faber, Prediger zu
Gellershausen, hielt mit drei, vier Zuhörern Betstunden bei steter Lebens¬
gefahr, stand jeden Morgen um drei auf, studirte und lernte seine Predigten
von Wort zu Wort auswendig, schrieb dabei noch gelehrte Abhandlungen
über biblische Bücher.
In den benachbarten Landstädten hatten die Geistlichen nicht weniger zu
ertragen. In Eisfeld z. B. war seit 1635 Rector Johann Otto, ein junger
Mann der erst geheirathet hatte; er hat acht Jahre in der allerschlimmsten Zeit
mit noch einem Lehrer die ganze Schule halten müssen und dabei das Can-
torat gratis versehen. Was seine Einnahmen gewesen, kann man aus
Notizen sehen, die der tüchtige Mann in seinen Euklid geschrieben hat: „Zwei
Tage gedroschen im Herbst. 5 Tage gedroschen im Februar 1647. 2 Tage
gedroschen im Januar 47. i Tag im Holz gearbeitet 1646. V2 Tag geschnitten."
4 Hochzeitsbriefe geschrieben, item ^Tag Hafer gebunden, 1 Tag geschnitten
u. s. w. Er dauerte aus und stand seinem Amt 42 Jahr in Ehren vor.
Sein Nachfolger der große Lateiner, Johann Schmidt, Lehrer des berühmten
Cellarius, war unter die Soldaten gerathen und las einst auf der fürstl.
Schloßwache in einem griechischen Dichter; das sah sein Offizier mit Erstaunen
und meldete es Ernst dem Frommen, der ihn zum Lehrer machte. —
Der Superintendent Andreas Pochmann ebendaselbst war als elternlose
Waise mit zwei kleinen Brüdern von den Kroaten geraubt worden. Er rettete
sich mit den Brüdern in der Nacht. Später wurde er als lateinischer
Schüler wieder von Soldaten aufgefangen, zum Fourierschützen und dann zum
Musketier gemacht. In der Garnison aber studirte er sort, fand unter seinen
.Kameraden Studenten aus Paris und London, mit denen er das Lateinische
übte. Einst blieb er als Soldat krank am Wachtfeuer liegen, unter seinem
Aermel die Pulvertasche mit IV2 Pfd. Pulver, da erreichte die Flamme den
Aermel, und verbrannte ihn zur Hälfte ; die Pulvertasche blieb unversehret. Als
er aufwachte, sah er sich allein im verlassenen Lager ohne einen Pfennig Geld.
Da fand er in der Asche 2 Thlr. Damit schlug er sich aus Gotha zu; auf
dem Wege kehrte er zu Langensalza in ein einsames Häuslein an der Mauer
ein, eine alte Frau nahm den Todmüden auf und legte ihn auf ein Bett.
Es war die Peftwärterin. das Lager ein Pestbett, und die Krankheit wü¬
thete damals in der Stadt; er blieb unversehret. Wie sein Leben ist d/is
seiner meisten Zeitgenossen voll von wunderbaren Lebcnsrettungen, plötz¬
lichen Uebergängen, unerwarteter Hilfe, ebenso wie von Todesgefahr, Noth
und häufiger Veränderung des Ortes. Solche Zeiten muß man genauer
ansehen, um zu verstehen, wie sich grade in einer Periode, in welcher Milli¬
onen untergegangen und verdorben sind, bei den Ueberlebenden ein fatali¬
stischer Glaube an die göttliche Vorsehung, welche auf wunderbare Weise in
das Leben des Menschen eingreift, ausgebildet hat.
Fast aus jedem Kirchdorf kann man Erinnerungen an die Leiden, die Er¬
gebenheit und Ausdauer seiner ^Pfarrer zusammentragen. Freilich nur 'die
Stärksten überwanden eine solche Zeit, ohne selbst zu verkümmern. Die end¬
lose Unsicherheit. Mangel an Nahrung und das gesetzlose Treiben der Sol¬
daten und der eigenen Pfarrkinder machte viele auch in ihrer Gesinnung arm¬
selig, kriechend, bettelhaft. Ein Beispiel statt vieler. Johannes Elfflein, seit
1632 Pfarrer zu Simau, wurde so arm, daß er Tagelöhnerarbeit thun
mußte, Holz im Walde hauen, hacken, graben, säen, zweimal wurde ihm
eine Beisteuer aus der Armenbüchse von Koburg, die man bei Kindtaufen auf¬
stellte, zugetheilt. Endlich ließ das Consistorium zu Koburg einen Kelch seiner
Kirche verkaufen, damit er sich Brot dafür schaffe. Für ein besonderes Glück
hielt er, als,es einmal eine vornehme, adlige Leiche gab. Da bekam er einen
guten alten Reichsthaler und ein Viertel Korn. Und als er kurz daraus einem
vertrauten Nachbar seinen Hunger klagte und dieser in verzweifeltem Entschluß
erwiederte, er wüßte wol, was er in solchem Fall thun würde, da sagte Ma¬
gister Elfflein in starkem Glauben: „Mein Gott weiß schon Mittel, ehe ich
sollte Hunger sterben, ehe müßte ein reicher Edelmann sterben, damit ich
wieder Geld zu einem Viertel Korn kriegte." Und er betrachtete als eine
Schickung der Vorsehung, daß dies melancholische Ereigniß bald darauf ein¬
trat. Seine Lage war so jämmerlich, daß sogar die raubgierigen Soldaten
in der Nachbarschaft ihren Buben, die sie auf Beute schickten, dringend em¬
pfahlen, sie sollten den Pfarrer von Simau in Ruhe lassen, denn der arme
Tropf hätte selbst nichts. Endlich bekam er eine andere Pfarre. — Viele Pfarrer,
welche, einst hosfmmgsreiche und gebildete Männer gewesen waren, zogen in
den letzten Jahren des Krieges als „Vaganten" oder „Exulanten" Almosen hei¬
schend durch die Lande. Sie erhielten dazu von ihrem Consistorium Zeugnisse,
versuchten auch wol sich in der Fremde als Prediger niederzulassen, und kehrten,
wenn das Elend sie nicht getödtet hatte, um das Ende des Krieges zu ihrer Dorf¬
kirche zurück. Daun sammelten sich um sie die Trümmer der früheren Gemeinde,
die Kirche ward wieder nothdürftig gesäubert und hergestellt, auch ein Com¬
munionkelch wurde von einem benachbarten Adeligen oder einem ausgedienter
Hauptmann, der seinen Frieden mit der Kirche zu macheu wünschte, geschenkt
und unter den größten Entbehrungen und kleinlichen Gezänk mit rohen
Pfarrkindern wurde das kirchliche Leben aufs Neue eingerichtet.
Endlich flog die Nachricht durch das Land, daß der Friede geschlossen sei,
ein Friede seit vielen Jahren heiß ersehnt. Welche Wirkung die Nachricht
auf die Ueberreste der deutschen Nation machte, ist noch aus rührenden Einzel¬
heiten zu erkennen. Den alten Leuten erschien er als eine Rückkehr ihrer Jugend,
sie sahen die reichen Ernten ihrer Kinderzeit wiederkehren, dicht bevölkerte Dörfer,
die lustigen Sonntage unter der umgehauenen Dorflinde, die guten Stunde»,
die sie mit ihren getödteten und verdorbenen Verwandten und Jugendgenossen
verlebt hatten, sie sahen sich selbst glücklicher, männlicher und besser als sie in
fast 30 Jahren voll Elend und Entwürdigung geworden waren. Die Jugend
aber, das harte, kriegserzeugte, verwilderte Geschlecht, empfand das Nahen
einer wunderbaren Zeit, die ihm vorkam wie ein Märchen aus fernem Lande.
Die Zeit, wo auf jedem Ackerstück des Winter- und Sommerfeldes dichte gelbe
Aehren im Winde wogen, wo in jedem Stalle die Kühe brüllen, in jedem
Kober ein rundes Schweinchen liegen sollte, wo sie selbst mit zwei Pferden
und lustigem Peitschenknall aus das Feld fahren würden'und wo kein feind¬
licher Soldat ihre Schwestern oder ihr Mädchen mit rohen Liebkosungen an
sich reißen durste; wo sie nicht mehr mit Heugabeln und verrosteten Mus¬
keten den Nachzüglern im Busch auflauern, nicht mehr als Flüchtlinge in
unheimlicher Waldesrande auf den Gräbern der Erschlagenen sitzen würden; wo
die Dächer des Dorfes ohne Löcher, die Höfe ohne zerfallene Scheuern
sein sollten; wo man den Schrei des Wolfes nicht in jeder Winternacht vor
dein Hofthore hören würde, wo ihre Dorfkirche wieder Glasfenster und
schöne Glocken haben würde, wo in dem beschmuzten Chor der Kirche ein
neuer Altar, mit einer seidenen Decke, einem silbernen Crucifix und einem
vergoldeten Kelch stehen sollte und wo einst die jungen Burschen wieder Bräute
zum Altar führen könnten, die einen Kranz im Haare trügen. Eine leiden¬
schaftliche, schmerzliche Freude zuckte damals durch alle Seelen, selbst die wil¬
deste Brut der Kriegszeit, das Soldatenvolk, wurde davon ergriffen, selbst die
harten Regierenden, die Fürsten und ihre Gesandten fühlten, daß der große
Friedens'act die Rettung Deutschlands vor dem letzten Verderben sei. Feierlich
und mit aller Inbrunst, deren das Volk fähig war, wurde das Friedensfest
in Stadt und Dorf begangen. Aus dem Kreise von Dorferinncrungcn, wel¬
chem die vorhergehenden Beispiele entnommen sind, sei auch die nachfolgende-
Festbeschreibung angeführt.
Döllstedt, ein stattliches Kirchdorf des Herzogthums Gotha. hatte schwer
gelitten. Im Jahre 1636 hatte den Ort das hatzfeldische Corps überfallen, großen
Schaden gethan, die Kirche geplündert, das Holzwerk ausgebrochen und ver¬
brannt, wie solches der Pfarrer Herr Deckner kurz vorher prophezeit hatte.
„Dieser liebe Mann," so schrieb sein Nachfolger, Herr Pfarrer Trümpcr, „hatte
seine Zuhörer mit gerechtem Eifer ihrer Sünden wegen gestraft. Aber seine
Strafen und Warnungen hatte man verlacht, ihm allen Verdruß und Undank
erwiesen, den Hopfen von den Stangen geschnitten, das Korn von den Fel¬
dern entführet, wie er Anno 1634 mit weinenden Augen klagte. So hatte
er auch nichts Anderes, als Gottes gerechte Strafen solchen verstockten Herzen
ankündigen können. Nicht nur öffentlich von der Kanzel, sondern auch noch
wenige Stunden vor seinem seligen Abschied hatte er solche Klage geführt:
Ach du armes Döllstedt! wie wird dirs nach meinem Abschied übel gehen!
Und daraus hat er sich gegen die Kirche gewendet und sein mattes und mit
dem Tode ringendes Haupt über Vermögen mit Hilfe des Wärters aufgerich¬
tet, als wollte er aus der Kammerecke, wo er sein Leben beschlossen, die Kirche
noch einmal ansehen und hat gesagt: Ach, du liebe, liebe Kirche! wie wird
drrs nach meinem Tode gehen! Mit Besen wird man dich zuscunmeu-
kehren."
SeineProphezeihung traf ein, dasDorfhatteimIahre1636 an 5,500 si. Kriegs-
schäden zu liquidiren, von 1627—37 zusammen 29,595 si; so daß die Ein¬
wohner sich nach und nach verloren und die Stätte sast ganz wüst stand;
un Jahre 1636 waren noch zwei Paar Eheleute im Dorfe; im Jahr 1641,
nachdem Banner und im Winter die Franzosen wieder gewirthschaftet hatten,
war ein halber Acker Korn bestellt, und vier Paar Einwohner vorhanden. — Der
großeEifer Ernst des Frommen von Gotha bewirkte, daß sich inseinem Land diever^
lassenm Dörfer verhältnißmäßig schnell wieder mit Menschen besetzten. Im Jalir
1650 den ig. August konnte in Döllstedt das „Jubel- und Friedensfest" gefeiert
werden. Die Beschreibung desselben folgt hier, wie sie der damalige Pfarrer
Trümper im Kirchenbuch aufgezeichnet hat, der Leser wird sie nicht ohne Theil¬
nahme lesen:
Den 1». August, Morgens 4 Uhr sind wir mit unsern Adjuvcmten und
den Hausleuten von Gotha auf unsern Thurm gestiegen und haben den Mor¬
gensegen musicirt. Gegen 7 Uhr ist, wie den vorigen Tag um 1 Uhr
auch geschehen, mit allen Glocken angefangen worden zu läuten, eine ganze
Viertelstunde, halb 8 wieder so lange. Unterdeß hat sich das Volk,. Mann
und Weib, jung und alt, ohne was beim Geläute bleiben müssen, vor dem
Thor versammelt, und ist l) das Weibervolk auf einer Seite gestanden, und
vor demselben der Friede, welchen die adeligen Jungfrauen mit einem schönen
grünen seidenen Kleide und andern Zierrath ganz schön ausstafsiret, auf dem
Haupt einen schönen grünen Kranz mit eingemengten gelben Flittern und
einen grünen Zweig in der Hand habend. 2) Auf der andern Seite gegen
dem Dorfe standen die Mannspersonen, und vor denselben die Gerechtigkeit
in einem schönen weißen Hemde, einen grünen Kranz auf dem Haupte, ein
bloß Schwert und gelbe Waage in den Händen tragend. 3) Gegen das
Feld auf.dieser Seite standen die Junggesellen mit Röhren, und etliche mit
bloßen Schwertern und vor denselben der Mars, als ein Soldate gekleidet,
und eine Armbrust in den Handen tragend. 4) In der Mitte standen die
Schüler, Hausleute und Adjuvcmten neben mir, da habe ich eine Erinnerung
gethan, daß wir oft mit thräncnfließenden Augen zu unsern Thoren hätten
aufsuchen und flehen müssen, und wenn der Sturm vorüber, mit Freuden
wieder heimgegangen, ungeachtet wir alles verwüst, zerschlagen und umge¬
kehrt gefunden. Also wären wir billig itzund, dem lieben Gott zu Ehren,
vor unser Thor herausgegangen, und weil er uns durch gnädige Verleihung
des edlen lang erwünschten Friedens von dergleichen Verwüstung, Fliehen
und Flehen errettet, nun zu desselben Thoren eingehen mit Danken, und zu
seinen Vorhöfen mit Leben, wollten darauf unsere Stimme einmüthig erheben
und singen: Allein Gott in der Höh sei Ehr ze. 5) Unter Mnsiciruug dieses
Gesetzleins näherten sich der Friede und Gerechtigkeit je mehr und mehr. Auf
die Worte: „All' Fest' hat nun ein Ende," steckten die mit bloßen Schwertern
dieselben ein, die mit den Büchsen thaten einige Salven, und kehrten sie da¬
rauf auch um. Der Friede winkte denen hierzu Bestellten; die nahmen dem
Martl, weicher thäte, als wolle er sich wehren, seine Armbrust und zerbrachen
sie ihm; Fried und Gerechtigkeit traten zusammen und küsseten sich, et) Da¬
raus um'de der angefangene Gesang fortgesungen, und schickte man sich an zu
gehen. Vor den Schülern ging Andreas Ehrhardt nach Vermögen ausgepicht,
einen Stab mit einem grünen Kranz über der Hand umwunden. Darauf
folgten die Schüler alle mit grünen Kränzen auf den Häuptern, grüne Zweige
in den Händen, und hatten die kleinen weißen Hemden an, darauf die Ad-
juvanten, Spielleut, nach welchen ich, der Pfarrer, neben dem Herrn Pfarr>er
von Vargula, welcher zu mir kam. Nach uns gingen die Mägdlein, die
kleinen vorher, die großen darnach, alle nach ihrem Vermögen geschmückt, und
grüne Kränze auf ihren Häuptern. Nach diesen ging der Friede und hinter
ihnen Knaben, die trugen einen Korb mit Wecken, eine Schüssel mit Aepfeln.
welche hernach unter die Kinder ausgetheilt wurden; item allerlei Früchte
des Feldes.
Auf diese folgten die adeligen Jungfrauen neben ihren Muhmen, welche
sie zu sich gebeten; nach ihnen die Edelleute v. Seebach, Sachsen und andere,
die zu ihnen kommen waren. Nach diesen ging die Gerechtigkeit und hinter
ihr her die Heimburger und Gerichtsschöppen, alle weiße Stäbe in den
Händen tragend, mit grünen Kränzen umwunden. Hierauf folgte der Fähn¬
drich Christian Heum in seinem besten Schmuck, mit einem Stab, daran er
ging, in der Hand aber mit einem grünen Kranz umwunden. Nach diesen
gingen die Mannspersonen zu Paaren mit grünen Sträußen in den Händen.
Ans die Mannspersonen folgte der Mars gebunden, und hinter ihm die jungen
Bursche mit den umgekehrten Röhren. Darauf folgte der Wachtmeister Hic! Er
Dietrich Grün,, in seinem Schmuck, einen Stab in der Hand wie der Fähn¬
drich: auf ihn folgten die Weibspersonen, alle auch zu Paaren in ihrer
Ordnung; alle singend durch das Dorf nach der Kirche. Als der obgednchte
Ge>arg ausgesungen war, sungen wir: Nun lob, mein Seel, den Herrn.
In der Kirche wurde es mit Singen und Predigen der fürstl. Ordnung
gemäß gehalten. Nach vollendetem Gottesdienst gingen wir in voriger Ord¬
nung aus der Kirche auf den Platz vor der Schenke, da die Mannspersonen
ans einer Seite, die Weibspersonen auf der andern Seite einen halben Circul
und alsdann einen feinen weiten Kreis schlössen, und wurde unter dem Hingeben
gesungen: „Nun freut Euch, lieben Christen gemein." Nach geschlossenem
Kreise bedankte ich mich gegen sämmtliche, daß sie nicht allein unserer hohen
landesfürstlichen Obrigkeit Ausschreiben zu diesem Mal gehorsamlich nach¬
gelebt, sondern auch auf mein Begehren allesammt Adlige, und Unadlige,
vor das Thor gegangen, und in so schöner Ordnung mir zur Kirche gefolget
mit Vermahnung. Nachmittags dem Gottesdienst wieder fleißig bei¬
zuwohnen. Und ob ich zwar sagte, es möchte ein jeder zu diesem Mal aus
seinem Hause zur Kirche gehen, so hatten sie sich doch allesammt wie Vor¬
mittage vor der Schenke versammlet, war auch der Friede und Gerechtigkeit
wieder in ihrem Schmuck da, Mars aber hatte sich verloren. Als ich das-
selbe berichtet wurde, ging ich unter dem letzten Puls mit den Schülern, Ad-
juvantcn und Hausleuten zur Hinterthür hinaus, durch die Kirchgaß nach
der Kirche, da mir jeder männiglich wiederum, wie frühe geschehen, in die
Kirche folgete. Darinnen wurde damals gesungen: „Nun laßt uns Gott dem
Herren u." Aus der Kirche gingen wir in solcher Ordnung wieder singend:
„Lobet den Herrn, lobet den Herrn ze." aus gedachten Platz, da ich aber¬
mals gegen Fremde und Einheimische mit einem herzlichen Friedenswunsch
mich bedankte. Und wurden hier vor K gr. Wecke und etliche reise Aepfel
unter die Kinder ausgetheilet."
Bekannt ist, daß der große Friede sehr langsam kam, wie die Genesung
aus einer tödlichen Krankheit. Die Jahre 1648—50 vom Friedensschluß bis
zur Feier des Friedcnsfcstcs gehörten noch zu den schwersten der eisernen Zeit,
unerschwingliche Kriegssteuern waren ausgeschrieben; die Heere der verschiedenen
Parteien lagen bis zur Abzahlung auf den Landschaften und der Druck, wel¬
chen sie auf die elenden Bewohner ausübten, war so furchtbar, daß mehr als
ein Verzweislungsschrei der Völker sich in den Hader der immer noch verhan¬
delnden Parteien mischte. Dazu kamen Plagen andrer Art, alle Länder wim¬
melten von „herrenlosem Gesindlein". Banden entlassener Kriegsknechte mit
Dirnen und Troßbuben, Scharen von Bettlern, große Räuberhaufen streiften
aus einem Gebiet in das andere, sie quartirten sich gewaltsam in den Dörfern
ein, welche noch Einwohner hatten und setzten sich wol gar in den verlassenen
Hütten fest. Auch die Dorfbewohner mit schlechten Waffen versehen, der Ar¬
beit entwöhnt, fanden es zuweilen noch bequemer zu rauben, als das Feld zu
bestellen und machten heimliche Streifzüge in benachbarte Territorien, die
Evangelischen in katholisches Land und umgekehrt. Auch die echten Kinder
eines gesetzlosen Lebens, die Zigeuner, waren an Zahl und Dreistigkeit
gewachsen, und lagerten phantastisch ausgeputzt mit ihren hochbeladenen Karren,
mit gestohlenen Pferden und rankenden Kindern um den Steintrog des Dorf¬
platzes, grade wie im Anfange des l ö. Jahrhunderts, wo sie zuerst bandenweise
in das deutsche Land eingefallen waren. Wo grade ein kräftiger Regent und eifrige
Beamte thätig waren, wurde solchem wilden Wandern nach Kräften entgegengear¬
beitet. Die Dorfleute des Herzogthums Gotha mußten noch im Jahre 49 von den
Kirchthürmen Wache halten, Brücken und Fährten über die Bäche des Landes
besetzen und Lärm machen, so oft sie einen marfchirenden Haufen erblickten.
Ein System von Polizeiverordnungen, durchaus nothwendig und heilsam, war
das erste Zeichen des neuen Selbstgefühls, welches die, Regierungen erhalten
hatten. Wer sich niederlassen wollte, dem wurde die Ansiedlung leicht gemacht.
Wer fest saß, mußte angeben, wie viel Land er bebaut hatte, in welchem
Zustand ihm Haus und Hos war, ob er Vieh hatte. Neue Flurbücher und
Verzeichnisse der Einwohner wurden angefertigt, neue Steuern in Geld und
Naturalien wurden ausgeschrieben und auch durch solchen harten Druck die
Dorfbewohner zur Arbeit gezwungen. Allmälig besetzten sich die Dörfer wieder
mit Menschen. Viele Familien, die sich zur Kriegszeit in die Städte geflüchtet
hatten, besserten ihre verwüsteten Hofe aus, andere zogen aus dem Gebirge
oder der Fremde wieder zurück, auch verabschiedete Soldaten und Troßknechte
tauften von dem Nest ihrer Beute zuweilen Acker und ein leeres Haus oder
liefen zu dem heimischen Dorfe. — Es wurde viel geheiratchet und eifrig getauft.
Dritter Theil. Mit Mozart's Bildniß nach Tischbein, und drei Notenbeilagen.
Leipzig, Breitkopf und Härtel. —
Es sei uns erlaubt, bei der Anzeige eines Werks, welches zu den wohl-
thuendsten Erscheinungen der neusten Zeit gehört, und welches in seiner Gat¬
tung als historische und kritische Analyse einer schöpferischen Naturkraft in
der ganzen Literatur ohne Gleichen ist, mit einem Tadel zu beginnen, einem
Tadel, in welchem zugleich ein mehr oder minder laut ausgesprochenes Mi߬
vergnügen des Publicums seinen bestimmteren Ausdruck finden soll. Ueber
die Tiefe der Forschung, die Feinheit des Urtheils und die warme Begeiste¬
rung, die sich in diesem Buch ausspricht, ist alle Welt einig; zugleich hört
man aber an verschiedenen Orten die Klage, daß es zu lang sei. Im ersten
Augenblick scheint diese Klage völlig unbegreiflich; denn lange Bücher sind
dem deutschen Publicum im Allgemeinen nicht fremd. und selbst in dieser be¬
stimmten Sphäre sind in den letzten Jahrzehnten eine Menge halb belle¬
tristischer, halb wissenschaftlicher Werke erschienen, die das Leben eines großen
Künstlers behandeln und an Umfang dem vorliegenden Buch nicht viel nach¬
geben. Diese Bücher haben ihr Publicum gefunden, obgleich sie meist ein
triviales artistisches Geschwätz in hochtrabenden Formen sind. Für den wahr¬
haft Gebildeten mußten diese leeren Fictionen eines sentimentalen Künstler-
thums ebenso langweilig sein, als die streng historische Darstellung Zahns
interessant ist, Ja, wenn wir davon absehn, was auf Rechnung der histori¬
schen Aufgabe des Buchs kommt, die erschöpfende Verarbeitung des Materials,
so behaupten wir. daß es zu den unterhaltendsten Büchern gehört, die man
sich überhaupt vorstellen kann. Freilich finden sich darin längere Besprechungen
von Musikstücken, die man wenig mehr aufführt, und die daher nur den¬
jenigen interessiren. der aus der Kunst ein eigentliches Studium macht, es
finden sich in den Anmerkungen und Zusätzen gelehrte Notizen, die nur auf
wenig Leser berechnet sind. Aber diese Excurse durften nicht fehlen, wenn das
Buch seinen Zweck, den vollständigen Abschluß des Materials, erfüllen sollte;
der Laie kann sie mit leichter Mühe überschlagen, und was übrig bleibt
wird jeden fesseln, der überhaupt Sinn sür das Verständniß menscklicher Zu¬
stünde, siden für geniale Größe hat, den Laien wie den Künstler, das Weib
wie den Mann. Wie alle Männer, die das Handwerkszeug ihrer Wissen¬
schaft im festen Vesii) haben und ihrem Gegenstand nach allen Seiten hin
gewachsen sind, besitzt Jahr im hohen Grade die Gabe der Popularität, d. h.
er ist im Stande, genau das zu sagen, was er sagen will, seinen Gedan¬
ken den adäquaten Ausdruck, seinem Gefühl den charakteristischen Tonfall zu
geben. Weit entfernt von dem vornehmen Wesen vieler unserer besten Ge¬
lehrten, die nur von denjenigen verstanden werden können und verstanden
werden wollen, welche dieselben Studien durchgemacht, dieselbe Höhe der
Wissenschaft erstiegen haben, betheiligt Jahr seinen Leser, indem er alle
Schwierigkeiten ebnet, an seiner Untersuchung, er legt ihm alle Actenstücke in
der gehörigen Ordnung vor. macht ihn aus die wichtigen Punkte aufmerksam,
und es gehörte schon eine ziemlich verwahrloste Bildung dazu, wenn man
ihm nicht in allen seinen Schlüssen folgen könnte.
Dennoch sind jene Vorwürfe nicht ganz ohne Grund; das Buch hätte
nicht unbeträchtlich abgekürzt werden können, ohne einen seiner Borzüge ein¬
zubüßen.
Einmal geht die Länge aus dem zu weit getriebenen Streben hervor,
durchaus verständlich zu sein, alles vollständig zu sagen, was überhaupt ge¬
sagt werden kann. Wir glauben, daß man dem Leser etwas mehr zumuthen
dürfte. Beim Dichter ist alle Welt davon überzeugt, daß er am meisten
wirkt, wenn er etwas zu errathen übrig läßt, vorausgesetzt, daß für jeden
normal gebildeten Verstand das Wort des Räthsels unzweifelhaft ist. Der
wissenschaftliche Schriftsteller hat dasselbe Recht, und abgesehn von dem ma¬
teriellen, keineswegs zu verachtenden Raumgewinn, erlangt er damit noch ein
zweites. Die Wahrheiten, die er ausspricht, und die Form, die er ihnen
gibt, prägen sich dem Gedächtniß und der Phantast» dann am lebhaftesten
ein, wenn" es einige Mühe kostet, sie in ihrem vollen Umfang zu würdigen.
Darin liegt zum Theil der Zauber der Dichter und Philosophen unseres
classischen Zeitalters. Freilich ist mit dieser Form der Paradoxie in Deutsch¬
land ein schreiender Mißbrauch getrieben worden, man hat den Leser über¬
listet oder vielmehr betrogen, indem man ihm durch Weglassung des vermit¬
telnden Gliedes eine für den bestimmten Fall evidente Formel als allgemeine
Regel einschmeichelte. Allein dieser Mißbrauch kann den richtigen Gebrauch
nicht aufheben. Zahns ästhetische und psychologische Deductionen sind so
gehaltvoll, sie dringen so tief in den Kern der Sache ein, daß der wahrhaft
gebildete Leser, der über den unmittelbaren Eindruck sich durch Reflexion
erhebt, ihm seine Bewunderung nicht versagen wird; der gewöhnliche Leser
dagegen, dem der Verfasser Satz für Satz seinen Gedanken entwickelt, folgt
ihm mit der größten Unbefangenheit, als verstände sich das alles von selbst;
er wird in keinem Augenblick überrascht, und die Folge davon ist, daß sich
seinem Gedächtniß nichts einprägt. Hegel hat einmal gesagt, der Anfang
des philosophischen Studiums müsse sein, daß dem Schüler Hören und Sehen
vergehe. Freilich kann man den Satz arg mißverstehn. und es ist Hegel selbst
so gegangen, aber an und für sich ist er nicht unrichtig. Gewiß wird man
uns nicht so deuten, als ob wir die Marktschreierei und Koketterie mancher
modernen Schriftsteller damit rechtfertigen wollten, die. wenn sie etwas Merk¬
würdiges zu sagen haben, vorher die Trommel rühren und ihren Hanswurst
Bocksprünge machen lassen, wir meinen die Parodoxie der Wahrheit in dein
Sinn, wie sie Goethe z. B. im „Faust" anwendet. Freilich hat der prosaische
Schriftsteller nicht une der Dichter das Recht, sich im Vertrauen auf die In¬
spiration für sich selbst der Arbeit der Vermittelung zu überheben, aber er
hat keineswegs nöthig, den Leser mit dem ganzen Gedankengang bekannt zu
machen, dein er sein Resultat verdankt, falls er nur die evidente Form findet.
Von allen Wissenschaften ist keine prosaischer als die Mathematik, und doch
gibt der Mathematiker das Resultat, zu dessen Aufsindung er vielleicht Fo¬
lianten vollgeschrieben hat. häusig auf einer Seite.
Ein zweiter Uebelstand ist. daß dem Werk die letzte Feile fehlt. Jahr
hat seinen Stoff sehr geistvoll gruppirt. jedoch nach zwei Rücksichten, theils
nach dem sächlichen Zusammenhang, theils nach dem chronologischen; daraus
sind eine Reihe kleiner Abhandlungen hervorgegangen, von denen jede ein¬
zelne ihren Gegenstand erschöpfend behandelt. Aber nicht selten hat ihn diese
Gruppirung zu Wiederholungen verleitet, da manche seiner Belege unter ver¬
schiedene Rubriken gehören. Am meisten tritt das bei den Briefen hervor,
welche in der Regel im Anhang i" <?xwnso abgedruckt werden, so daß man'
manche Stelle dreimal antrifft. Hier konnte, ohne daß in der Anordnung
etwas Wesentliches verändert wurde, die einfache Scheere nachhelfen. Es
kam gar nicht daraus an. in jedem einzelnen Capitel den Gegenstand zu er-
schöpfen. Die chronologische Ordnung mußte zu Grunde liegen und die ei¬
gentliche Charakteristik in der Form eines Excurses sich da einfügen, wo es
am passendsten war. Auch in diesem Bande ist in Bezug aus die Zeit vie¬
les vorausgenommen, was uns zwar diesmal sehr interessirt, was aber bei
der weiteren Fortsetzung voraussichtlich wiederholt werden muß.
Indem wir nun, nach Beseitigung dieser unwichtigen, aber doch nicht zu
umgehenden Ausstellung auf einzelne Vorzüge des Werks die Aufmerksamkeit hin¬
lenken, können wir eine gewisse Verlegenheit nicht unterdrücken- Jahr hat bei seiner
Arbeit das Princip der gebildeten Bewunderung, derjenigen Bewunderung, die
sich durch deutliche Analyse rechtfertigt, in einer so classischen Form zur Anwen¬
dung gebracht, daß er eigentlich seinem Kritiker die Pflicht auflegt, an ihm das¬
selbe Verfahren zu beobachten. Allein wir müssen uns dieser Pflicht entzieh»;
um ihr nur einigermaßen nachzukommen, müßten wir diese Anzeige zu einer
Abhandlung ausdehnen. Wer das Buch aus eigener Anschauung kennt, hat
unserer Beihilfe nicht Noth; nur für diejenigen, die es noch nicht gelesen
haben, heben wir einige Punkte hervor.
Was die Kritik der einzelnen Kunstwerke betrifft, die in diese Periode
fallen, so tritt am meisten die „Entführung aus dem Serail" hervor.
Wir sind in der Lage gewesen, im ersten Quartal dieses Jahrgangs S. 481 ff.
unsern Lesern daraus einen Auszug mittheilen zu können, der hinlänglich
zeigt, mit welcher Feinheit Jahr es versteht, die so unendlich schwierige Auf¬
gabe, ein musikalisches Kunstwerk in Worten zu erläutern, wenigstens so
weit durchzuführen, daß derjenige, der die Musik kennt, weiß, um was es sich
handelt. An sich ist die Musik incvmmcnsurabel: wer des angeborenen musi¬
kalischen Sinns entbehrt, dem wird man nie deutlich machen können, wo¬
von die Rede ist; abw es gehört schon ein großes Geschick dazu, diesen an¬
geborenen Sinn in die rechte Fährte zu lenken. Die „Entführung aus dem
Serail" entzückt jeden, der sie hört. Jahr macht es nun dem Bewunderer
möglich, sich selber Rechenschaft zu geben, was ihn daran entzückt hat. Dies
Unternehmen ist himmelweit von der thörichten Bemühung verschieden, die
Töne durch Worte ausdrücken zu wollen.
Die Mehrzahl der Leser wird in diesem Band hauptsächlich die Dar¬
stellung der rein menschlichen Zustände, also der biographische Theil interessuen.
Wenn man früher nur auf diejenige Seite des künstlerischen Lebens seine
Aufmerksamkeit richtete, die der Oeffentlichkeit zugekehrt war, so bemüht man
sich jetzt, in das Innere des Herzens einzudringen, und für die Größe und
Schönheit der Leistungen in der Größe und Schönheit des Gemüths das
Verständniß zu suchen. Wenn dies Bestreben zuweilen zu übereilten Schlu߬
folgerungen führt, so ist es doch im Allgemeinen zu billigen, zu billigen na¬
mentlich im Gegensatz gegen das frühere romantische Vorurtheil, welches gern
im Gefühl des Kontrastes zwischen dem Ideal und der Wirklichkeit stehen
blieb und dem Genius keine größere Schmeichelei sagen zu können glaubte,
als wenn es ihn von aller vernünftigen Ordnung und Sitte freisprach. Wer
im Stande ist, die Geheimnisse des Lebens völlig zu durchschauen, wird jedes¬
mal zu dem Resultat kommen, daß die schöpferische Kraft nichts Anderes ist.
als der concentnrte Ausdruck der vollen Natur. Aber es ist freilich nicht leicht,
auch nur annäherungsweise in die Tiefe einer menschlichen Seele so weit ein¬
zudringen, daß man den Schlüssel für die incommensurabeln Momente ent-
deckt, die auch bei unbedeutenderer Persönlichkeit zurückbleiben. namentlich
wenn ihre leitende Thätigkeit sich nicht, wie die eines Helden oder eines
Staatsmannes, sinnlich dem Auge bloßstellt. Der Biograph Mozarts ist
darin günstiger gestellt als z. B. der Biograph Shakspeares, der fast aus¬
schließlich auf Vermuthungen angewiesen ist. Das Material, welches wir
über Mozarts Leben besitzen, ist so umfassend, daß die erste Aufgabe der Bio¬
graphen eine kritische Sichtung desselben sein muß. Mozart hat bei seinem
sorglosen, freien und offenen Sinn der Lästerung einen großen Spielraum
geboten, und nicht blos der böse Wille, sondern auch die gutmüthige Einfalt,
die sich über liebenswürdige Schwächen freute, hat diese Blößen zu den selt¬
samsten Verleumdungen ausgebeutet. Aus der andern Seite hat man sich
bemüht, um den guten Ruf eines großen Mannes zu retten, seine Schwächen,
auch wo sie handgreiflich vorlagen, zu vertuschen. Jahr hat den umgekehrten
Weg eingeschlagen: er gibt die volle ungeschminkte Wahrheit, wie sie aus
seinen Forschungen hervorgegangen ist, er gibt sie nicht blos aus Pflichtge¬
fühl gegen die Wissenschaft, sondern in der festen Ueberzeugung, daß eine
wahrhaft edle Natur durch, die vollständige Wahrheit nichts verlieren kann.
Er hat Recht gethan, denn die strengste Sittlichket wird sich nicht erweh¬
ren können, nach diesem Bilde den Menschen ebenso warm zu lieben, als
man den Künstler verehrt. Wie in seinen musikalischen Dichtungen, ist Mozart
auch in seinem Leben aus einem Guß: eine freie sorglose Künstlernatur, mit
frohem Muth dem Leben entgegenblickend, im innersten Kern gesund und hei¬
ter, jedem guten Eindruck offen und durch die eigne Güte mit dem festen
Glauben an die Güte aller erfüllt. Sein Vater, den man gleichfalls aus
dieser Biographie ehren und schätzen lernt, hatte bis zu einer gewissen Grenze
die Natur seines Sohnes richtig durchschaut, und wie seine Liebe dadurch
gewachsen war. so hatte er auf der andern Seite die Gefahren nicht verkannt, die
bei einem so unbefangenen sorglosen Gemüth aus der Berührung mit der
Welt hervorgehn mußten. Vielleicht war sein Mittel, diesen Gefahren zu be¬
gegnen, nicht richtig gewählt. Er hatte ihn über das Knabenalter hinaus in
allen praktischen Angelegenheiten einer ängstlichen Leitung unterworfen, die
Mozarts Selbstständigkeit uicht fördern konnte, und er hatte sich so daran ge¬
wöhnt, der liebevolle Vormund seines Sohnes zu sein, daß der erste Versuch
desselben, in der ernsthaftesten Angelegenheit des Lebens sich dem väterlichen
Willen zu entziehn, eine dauernde Entfremdung zurückließ. Anklagen kaun
man den besorgten Vater deshalb nicht, aber man lernt daraus begreifen,
daß auch der Mann sich nur sehr schwer und in vieler Beziehung gar nicht
daran gewöhnte, den augenblicklichen Eingebungen des Gefühls jene noth¬
wendige Controle des Verstandes entgegenzuhalten, die er bis dahin immer
von der väterlichen Hand zu erhalten gewöhnt war. Der Einblick in seine
häuslichen Verhältnisse macht einen schmerzlichen Eindruck, denn es ist des
Mannes überhaupt und namentlich einer so edlen Natur unwürdig, sich fort¬
während auf fremde Hilfe zu verlassen und diese mitunter in nicht beneidens-
werther Art in Anspruch zu nehmen. Aber dies trübe Gefühl wird verscheucht
durch das schöne Bild des Ganzen, durch die innige Liebe zu seiner Frau,
durch die übersprudelnde Lust am Leben, den Adel eines reinen Gefühls.
Freilich hat er noch nicht den Byron gelesen und sein Gefühl äußerte sich
noch nicht in tragischen Formen. Das Getändel mit seinem Stanzerl, Kraller-
ballerl, Spitzignaseri u. s. w. wird vielen modernen Lyrikern sehr wenig
genial vorkommen, aber es ist auch in diesen Spielereien dieselbe Innigkeit
und Gesundheit, die uns in seinen Kompositionen erfrischt und erhebt. Es ist
in unsern Tagen vielleicht das dankenswertheste Geschäft des Schriftstellers,
Freude am Leben, Freude an der menschlichen Natur zu erregen und es sind
uns aus den letzten Jahren sehr wenig Schriften bekannt, denen das in so
hohem Maße gelungen wäre.
Die Schilderung der persönlichen Verhältnisse Mozarts führt den Bio¬
graphen in die damaligen Culturzustände ein, die mit umfassender wissen¬
schaftlicher Genauigkeit charakterisirt werden. Die eine Seite derselben, das
musikalische Treiben, wird mit einer Sorgfalt und Ausführlichkeit charakterisirt,
daß der spätere Geschichtschreiber nicht mehr darüber hinaus kann, aber auch
die übrigen Zweige der Cultur sind nicht blos berührt, sondern zum Theil,
freilich nur innerhalb des Umfangs, der durch den Gegenstand geboten war,
erschöpfend behandelt. Wir machen z. B. auf die interessanten Mittheilungen
über den Einfluß des Freimaurerordens, dem auch Mozart wie so viele große
Männer jener Zeit mit voller Seele angehörte, auf das öffentliche Leben und
die Gesittung jener Periode aufmerksam. Bei weitem aber das Größte, was
Jahr geleistet hat, liegt in dem seinen Verständniß, mit welchem er das künst¬
lerische Schaffen Mozarts charakterisirt.
Es gehört zu den interessantesten Fragen, welche die Betrachtung eines
Kunstwerks in uns hervorruft, wie das entstanden sei, was uns so mächtig
bewegt. An eine vollständige Lösung dieser Frage läßt sich nicht denken, es
hat schon die größten Schwierigkeiten, sich ihr auch nur zu nähern. Von
einer unmittelbaren Beobachtung des Schaffens durch einen Fremden ist na¬
türlich gar nicht die Rede, und was das Schlimmste ist, der schaffende Künst¬
ler selbst hat in der Negel über seine Thätigkeit kein bestimmtes Bewußtsein,
wenn auch der bekannte Ausspruch Goethes gegen Schiller, daß das Genie
als solches durchaus bewußtlos verfahre, mancher Restriktionen bedarf, um
nicht mißverstanden zu werden. Will man endlich versuchen, aus dem Kunst¬
werk heraus nachträglich die Operation zu analysiren, aus der es hervor¬
gegangen ist, so wird dieser Versuch um so weniger gelingen, je vollständiger
sich in demselben Form und Inhalt durchdrungen haben. Ein unfertiges, ein
romantisches Werk bietet Handhaben genug, dem subjectiven Ursprung auf
die Spur zu kommen, denn das Unvollständige, das Jrrationelle läßt sich er¬
messen, aber wo der Stoff vollständig von der Idee gesättigt ist. stehen wir
wie vor einem Naturprodukt, wir können es Wohl auseinandernehmen, aber
es nicht als ein Unfertiges, allmälig Entstehendes uns vorstellen.
Diese Schwierigkeiten sind groß, aber wie man sie wenigstens bis zu
einer gewissen Grenze überwinden kann, lehrt am besten die Arbeit Jahns.
Mozart liebte es zwar nicht, über seine eigne Thätigkeit zu reflectiren, doch
stand er in seiner offenen, heitern Weise gern und willig Rede und setzte
fremder Wahrnehmung keine Hülle entgegen. Er ist viel beobachtet worden,
und wenn auch der Unverstand aus einzelnen Thatsachen die unsinnigsten
Folgerungen gezogen hat, so bleiben doch die Thatsachen selbst bestehn. und
wer mit der Natur des Genius vertraut ist, kann daraus wichtige Schlüsse
herleiten, um so mehr, da Mozart in seinen Briefen sich selbst sehr treu por-
traitirt. Zudem sind von ihm zahlreiche Handschriften von Entwürfen, kleine
Aufzeichnungen zur Beihilfe seines Gedächtnisses u. s. w. vorhanden, und
hier zeigt sich, was philologische Gewissenhaftigkeit vermag, wenn sie mit
tiefeindringendem Verständniß verbunden ist. Jahr hat eine bewunderns¬
würdige Arbeit darauf verwandt, diese Zettelchen zu sammeln, zu studiren. zu
vergleichen; selbst die Art der Handschrift entgeht ihm nicht; was aber für
einen Pedanten ein leerer Notizenkram geblieben wäre, wird für ihn das
Material zu einem kunstvoll zusammengefügten Gebäude. Jahr hat sich die
Studien unserer großen Dichter, namentlich Goethes und Schillers, über d,e
Natur ihrer Kunst, wohl zu Nutze gemacht, und da er selbst soweit productiv
ist- um das Verhältniß des musikalischen Schaffens zum künstlerischen Schaffen
überhaupt klar aufzufassen, so eröffnet er in das Wesen des Genius eine Per¬
spektive, die ebenso entzückt als überrascht. Was unsere Aesthetik an objec¬
tiven Gesetzen ausgestellt hat, läßt noch immer viel zu wünschen übrig; in
der transcendentalen Seite dieser Wissenschaft dagegen, die sich mit dem Ver¬
hältniß des Subjects zum Object beschäftigt, sind wir namentlich durch Goethe
und Schiller bereits sehr weit gekommen.
Den Mittelpunkt dieser Analyse bildet ein Brief Mozarts, welchen
Rochlitz mittheilt. Aus verschiedenen äußern Widersprüchen hat Jahr zu er¬
örtern gesucht, daß der Brief interpolirt sein müsse; wenn wir einem so be¬
währten Kenner gegenüber mit einer eigenen Ansicht hervortreten dürfen, so
würden wir noch weiter gehn, wir würden behaupten, daß ihn Mozart gar
nicht geschrieben hat. wenn er auch unzweifelhaft das Richtige trifft. In
Mozarts übrigen Briefen herrscht eine reizende, ganz ursprüngliche Naivetät;
auch in diesem Brief ist freilich der Ton naiv, aber so, wie ihn ein geistreicher
Mann in die Seele eines andern hinein empfindet. Hat ihn Rochlitz selber
componirt — unmöglich wäre es nicht — so ist er das Zeugniß eines außer¬
ordentlichen Talents.
„Wenn ich recht für mich bin und guter Dinge, etwa auf Reisen im
Wagen, oder nach guter Mahlzeit beim Spatzieren, und in der Nacht wenn
ich nicht schlafen kann, da kommen mir die Gedanken stromweis und um
besten. Woher und wie das, weiß ich nicht, kann auch nichts dazu. Die
mir nun gefallen, die behalte ich im Kopf, und Summe sie auch wohl vor mich
hin, wie mir andere wenigstens gesagt haben. Halt ich das nun fest, so
kommt mir bald eins nach dem andern bei, wozu so ein Brocken zu brauchen
wäre, um eine Pastete daraus zu machen, nach Kontrapunkt, nach Klang der
verschiedenen Instrumente <;t ««ztsi-Ä. Das erhitzt mir nun die Seele, wenn
ich nämlich nicht gestört werde; da wird es immer größer, und ich breite es
immer weiter und Heller aus, und das Ding wird im Kopfe wahrlich fast
fertig, wenn es auch lang ist, so daß ichs hernach mit einem Blick, gleichsam
wie ein schönes Bild oder einen hübschen Menschen im Geist übersehe, und
es auch gar nicht mehr nacheinander, wie es hernach kommen muh, in der
Einbildung höre, sondern wie gleich alles zusammen. Das ist nun ein Schmauß.
Alles das Finden und Machen geht in mir nur wie in einem schön starken
Traum vor - aber das Ucberhören, so alles zusammen, ist doch das Beste.
Was nun so geworden ist, das vergesse ich nun nicht leicht wieder, und das
ist vielleicht die beste Gabe, die mir unser Herrgott geschenkt hat. Wenn ich
nun hernach einmal zum Schreiben komme, so nehme ich aus dem Sack mei¬
nes Gehirns, was vorher, wie gesagt, hineingesammelt ist. Darum kommt
es hernach auch ziemlich schnell aufs Papier, denn es ist, wie gesagt, eigent¬
lich schon fertig, und wird auch selten viel anders als es vorher im Kops
gewesen ist. Darum kann ich mich auch beim Schreiben stören lassen, und
mag um mich herum mancherlei vorgehen, ich schreibe doch; kann auch dabei
plaudern, nämlich von Hühnern und Gänsen u. s. w." —
Der eigentliche Kern des Schaffens entzieht sich in der That der Analyse,
damit ist aber nicht gesagt, daß nicht das Bewußtsein und der Wille auch
in den entscheidenden Punkten der Arbeit thätig sein sollte. Der einzelne
Künstler wie der Mensch steht nicht isolirt, er erhebt sich auf der Basis ver¬
gangener Bildung, die ihm-durch Erziehung mitgetheilt wird. Der große
Künstler wird stets eine strenge Vorschule durchgemacht haben, um die Sprö-
digkeit des Stoffs und die Strenge der Form nicht mehr als ein äußeres
Hemmniß, sondern als die nothwendige Gestalt seiner Eingebungen zu em¬
pfinden. Diese Erziehung, die der Knabe äußerlich empfängt, setzt der Mann
in unausgesetztem Studium fort, Mozart blieb in seiner Jugend, so lange
er unter der Obhut des Vaters war. von den regelrechtesten Studien und
Arbeiten nichts erspart; selbst als reifer Mann und entwickelter Künstler wollte
er keineswegs für den gelten, der in sorgloser Genialität seine Compositionen
hinwerfe, oder sich seiner redlichen Mühe und Anstrengung schäme. „Man
irrt, sagte er einmal, wenn man denkt, daß mir meine'Kunst leicht geworden
ist, niemand hat so viel Mühe auf das Studium der Composition verwendet
als ich. und es gibt nicht leicht einen berühmten Meister in der Muse?. den
ich nicht fleißig und oft mehrmals durchstudirt hätte." Durch frühe Unbildung
werden nun die Gesetze der Kunst zum Jnstinct, zur vollen Natur/) aber da--
mit entschwindet noch nicht das Bewußtsein des Gesetzes, das anch der fertige
Künstler sich jeden Augenblick bei seinem Schaffen vorhalten muß. „Die den,
Künstler inwohnende schöpferische Kraft wirkt in ihm nicht mechanisch, wie
ein Uhrwerk, das, einmal aufgezogen, sortarbeitet. bis es abgelaufen ist,
sondern die Aufgabe, welche jedem Menschenleben auf geistigem und sittlichen,
Gebiet gestellt ist, in unausgesetztem Ringen die Ausgleichung jener Gegensätze
zu erstreben, erneuert sich auch für den Künstler fort und fort im Großen wie
im Kleinen. Das ist das eigentliche Arbeiten des Künstlers." —
Mit der wunderbaren Fülle in Mozarts Schöpferkraft waren noch andere
Erscheinungen verbunden, die nicht weniger in Erstaunen setzen. Zunächst die
Gabe, unabhängig und gleichsam abgeschieden von der Außenwelt im Innern
ZU schaffen, und bis ins feinste Detail auszubilden, das fo Gebildete nicht
allein in jedem Augenblick klar anzuschauen und vollständig zu überblicken,
sondern mit einem bewundernswürdigen Gedächtniß festzuhalten, um es, so¬
bald er wollte, auch äußerlich zu firiren. Wenige vermögen das innere Leben
klar zu fassen, welches im tiefsten Schacht des Geistes rastlos arbeitet, schafft
und bildet, ohne doch den Zusammenhang mit dem äußern Thun ganz aus¬
zugeben; ein oberflächlicher Beobachter pflegt sich nur an die nach außen ge¬
richtete Thätigkeit zu halten, ohne von dem innern Schaffen etwas zu ahnen)
Auch Mozarts Vater hatte von dieser Organisation kein völliges Verständniß;
er schätzte als Fleiß und Arbeit nur die letzte, eine lange ununterbrochene Kette
geistiger Anstrengungen und Mühen abschließende Thätigkeit, das Niederschreiben,
wodurch allerdings das künstlerische Gebilde erst abgeschlossen wird. Dies
galt aber Mozart selbst als das Unwesentliche, es fiel ihm lästig, weil die
freie Production dabei den geringsten Antheil hatte, er schob es so lange als
möglich auf, nicht allein, weil er sich die Freiheit über ein Kunstwerk, das
ihn innerlich beschäftigte, so lange als möglich vorbehielt, sondern auch, weil
er mehr Befriedigung im Schaffen als im Aufschreiben fand, er schob es dann
auch mitunter zu lange auf. Das mag freilich der geordnete Geschäftsmann
mißbilligen,''zumal wenn er weiß, daß Mozart jederzeit im Stande war, be¬
stellte Arbeit solid und tüchtig zu liefern.
Von seiner ungeheuern Abstractiouskraft beim Componiren und seinem
Gedächtniß nur ein Beispiel. Bei der Uebersendung eines Musikstücks an
seine Schwester entschuldigt er sich, daß das Präludium, welches vor die
Fuge gehöre, hinter derselben geschrieben sei. „Die Ursache aber war, weil ich
die Fuge schon gemacht hatte und sie, unterdessen ich das ^Präludium aus¬
dachte, aufgeschrieben." Er war also im Stande, während er das im Kopf
fertig gemachte Werk, und zwar hier ein Werk in strengster Form, das nur
abzuschreiben schon Aufmerksamkeit erfordert, wie aus einem Fach, in dem es
aufbewahrt lag, hervornahm und niederschrieb, zugleich ein neues Kunstwerk
in Gedanken hervorzubringen; die schaffende und die blos reproducirende Kraft
seines Geistes waren also gleichzeitig nach verschiedener Richtung, in voll¬
kommener Freiheit thätig — das übersteigt fast die Vorstellung.
Mit einem erhebenden Gefühl legen wir das schöne Buch aus der Hand,
das uns in das edelste Schaffen des menschlichen Geistes, des Geistes, der
mit dem Herzen ganz eins ist, einen tiefen Einblick öffnet; möchte es uns
bald vergönnt sein, die Fortsetzung zu begrüßen! Man erstaunt, wenn man
erfährt, daß Jahr diese Biographie mit der ganzen ungeheuern Arbeit, die
sie einschließt, gewissermaßen in seinen Mußestunden ausführt. Die Studiren-
den in Bonn folgen mit gewinnreicher Aufmerksamkeit seinen Vorlesungen über
alte Kunstgeschichte, die gelehrte Welt erwartet mit Spannung seine Archäologie
(in der Weidmännischen Sammlung), den comvendiarischen Abschluß jener
Studien, in denen er vielleicht jetzt die erste Autorität ist, sür die er in der
Einleitung zu der Münchner Vasensammlung so tief eingehende gelehrte Vor¬
arbeiten geliefert hat. Eine Reihe schöner Verpflichtungen lasten auf ihm,
wir aber, im Sinn des größeren Publicums, dem die allgemein menschlichen
Interessen näher liegen als die gelehrten, mochten ihn dringend auffordern,
vor allem an die Vollendung des Mozart, an das noch größere Werk über
Beethoven und das über Haydn zu denken; denn die Archäologie wird nicht
untergehn, wenn man auch noch länger auf ein zweckmäßiges Lehrbuch wartet,
aber die Vorarbeiten zu dem Leben jener großen Männer können nicht zum
zweiten Mal gemacht, sie können von keinem andern so bearbeitet werden, als
Jahr es versteht. Bei allem Respect vor der Gelehrsamkeit — dem Volk
die Perspektive in den tiefen Schacht eines großen, genialen Lebens zu
öffnen und damit seinen Sinn für das Große zu stärken, zu erweitern, sein
Gefühl zu adeln, ist doch noch mehr werth, und da es gnr wenige in Deutsch¬
land gibt, in denen die seltene Vereinigung auseinanderliegender Gaben —
kritische Methode und warmes Herz, strenge Gelehrsamkeit und Kunstbildung
freies Urtheil und Begeisterung — in diesem Grad sich vorfindet so darf
Wenn der arabische Schiffer die Chowadschi aus dem Frankenlande, die
auf seiner Dahabieh die Reise von Kairo hinauf nach den Trümmcrstättcn
von Theben und weiter nach den Wasserfallen von Syene machen, mit leuch¬
tenden Blicken fragt: „Habt auch ihr einen solchen Strom?" so begreift man
das. Die Frage ist reine Prosa. Aegypten ist eine Oase der großen nord¬
afrikanischen Wüste, der Nil ihr Schöpfer und Erhalter. Der Mann denkt
an die dürren, todten Flächen von Sand und Gestein, die sich zu beiden
Seiten Tagereisen auf Tagereisen strecken, und weidet seine Augen an dem
Gegensatz, der ihnen in dem prachtvollen Spiegel süßen Wassers und in der
fetten tiefgrünen Uferlandschaft entgegentritt. Wir verstehen seine Empfindung,
wenn er den Fluß mit einem Gesichte heiliger Scheu, wenn er ihn trotz Koran
und Mohammed als eine Gottheit betrachtet, und wir glauben ihm, wenn
er meint, hätte der Prophet vom Nilwasser gekostet, so würde er Allah um
ewiges Leben gebeten haben, um es immer trinken zu können. Es schmeckt
auch dem, der nicht an das Brackwasser der Wüstenbrunnen gewöhnt ist, sehr
^ohl, schon deshalb, weil ganz Aegypten kein anderes hat.
Nicht so begreiflich ist es in den ersten Wochen dem stromauffahrenden
weihenden, wenn er Europäer, die ihm flußabwärts kommend begegnen, mit
Wärme von der Poesie des Lebens auf dem Nil sprechen hört, wenn einzelne
^utzückt, begeistert, berauscht von seinen Freuden und Genüssen sind, wenn das
eine und das andere schwärmerische Gemüth in seiner Trunkenheit so weit
geht, zu erkläre», es habe nie schönere Zeiten erlebt und werde nie schönere
erleben. Der', Neuling kann solcher Hingerissenhcit gegenüber in den Fall kom¬
men, entweder an dem Geschmacke der Schwärmer oder an seinem eignen irre
zu werden. Er meint vieles Seltsame, aber wenig Schönes gesehen zu haben.
Er glaubt zu wissen, daß dies im Wesentlichen auch serner so bleiben wird,
und es bleibt in der That so, ja die Oase, durch die ihn sein Schiff trägt,
wird, je weiter er in sie eindringt, nur ärmer an landschaftlichen Reizen.
Die Gegend von Kairo hinter ihm verlohnte die Reise unzweifelhaft.
Auf dem rechten Ufer die mächtige Stadt, ein Wald von Minarets, hellfar¬
bige Gartenpaläste, halbverborgen von dunkelgrünen Wipfeln, darüber auf der
Kante des röthlichen Mokattamgebirgs, stolz in der Nähe, zauberhaft acknuthig
in der Ferne, die Citadelle mit Mehemed Alis Alabastcrmoschee, aus dem Strome
lebendigster, buntester Schiffsverkehr, auf der linken Seite jenseits der Palmen¬
haine, welche die Stätte des verschwundenen Memphis beschatten, die blauen
Niesenzelte der Pyramiden am Saum der gelben Wüste geben ein Gesammt-
bild. das sich der Seele als bleibender Gewinn einprägt. Was weiter hinauf
dem Auge geboten ist. rechtfertigt als einzelnes jenes Entzücken nicht. Das
Nilthal oberhalb der Hauptstadt ist beinahe so einförmig wie die Wüste, durch
die es sich hinwindet. Ein breiter, langsam fließender Strom gelbgrauen
Wassers durchschneidet eine grüne Thalsohle, die zur Rechten und Linken, fast
überall gleichhoch, gleichförmig und gleichfarbig, meilenlangen nackten Mauern
ähnlich, die röthlichgrauen Bergketten der' lybischen und der arabischen Wüste
einfassen. Die Biegungen und Windungen des Flusses sind zahlreich, aber
nur selten eröffnet sich dem um eines der vielen Borgebirge Schiffenden ein
wesentlich neues Landschaftsbild. Felder mit Gerste und Durrah, Zuckerrohr
und Baumwollenstauden, Palmenhaine, mit ihren rothen Stämmen und ihren
graugrünen Wipfeln von fern gesehen deutschem Kicfernhochwald täuschend
ähnlich, in ihrem Schatten erdfahle Dörfer, Ameisenhaufen vergleichbar, über
den Dörfern Taubenschwärme, im Strome Sandbänke mit langen Reihen von
grauen Gänsen und Enten, weißen Jbissen und Pelikanen besetzt, dazu als
Staffage auf dem Wasser bisweilen ein Schiff oder Boot, altertümliche drei¬
eckige Segel blasend oder mit taktmäßig sich streckenden Ruderfüßen die' Flut
zertheilend, auf dem Lande nackte schwarzbraune Arbeiter an Schöpfmaschinen
beschäftigt, blauverschleierte Fellahweiber. die mit antiken Wasserkrügen auf
den Köpfen nach dem Strome herniedersteigen, Kameele in Herden und Kara-
vanen, graue Büffel in grünem Klee. Eselsreiter mit weißem Turban und
blauem Kasten. hin und wieder ein prächtiger Schech oder Bej, der in allen
Farben des Regenbogens strahlt — das ungefähr sind die Bilder, welche auf
der durchschnittlich drei Wochen währenden Stromfahrt von Bulak bis Assuan
Tag für Tag sich wiederholen. Die Städte, an denen die Reise vorüberführt,
unterscheiden sich von einander fast gar nicht, von den Dörfern nur durch ihre
Größe und dadurch, daß sie einige Minarets haben. Denkmäler des Alter¬
thums werden erst von Theben an sichtbar, und die Regel ist. sie erst auf der
Rückfahrt zu besuchen. So einförmig die Gestalt des Landes ist, so eintönig
ist seine Stimme. Der Gesang der arabischen Matrosen beim Ziehen und
Rudern der Dahabich. das Gekreisch der Vogelschwärme, das leise Rauschen
des Flusses an den Seiten des Kiels, das Concert der Grillen und Schakals
am Abend, das melancholische Gestöhn der Sakiahs") am User trägt. Tag auf
Tag in derselben Melodie sortkiingcnd. nicht wenig dazu bei. die einschläfernde
Wirkung der Landschaft zu verstärken. Auch Ausflüge in das Land hinein
bieten nur in den ersten Tagen Neues. Die Jagd am Ufer gibt immer und
immer dasselbe» Tauben auf'Palmen. Abenteuer erleben im heutigen Aegyp-
ten nur amerikanische Chowadschi. denen auch — genau von der Stelle bei Man-
falut an. bis zu welcher nach Murrays rothem Buch die Krokodilzonereicht —
die Drachenschaft des Nil häufiger als andern Sterblichen zu erscheinen beliebt.
Der Reisende ist Pascha, ist Autokrat auf seinem Boot, die Mannschaft
hat ihm aufs Wort zu gehorchen, und sie gehorcht ihm. wenn er die rechte
Mitte zwischen Milde und Strenge zu treffen weiß, wirklich aufs Wort.
Er ist auch am Ufer in Dorf und Stadt unverletzlich und ungebun¬
den, nur dem Konsul seiner Flagge für sein Thun verantwortlich.
Das Klima ist ein ewiger Frühling. Die Abwechslung von warmen Tagen
und langsam erkaltenden Nächten, der stete Aufenthalt in freier Luft, der rei¬
nen Luft der Wüste, stärkt die Nerven und füllt die Adern mit Gesundheit.
Aber gute jene Ungebundenheit trägt, da bei ihr dem Willen kein Hinder¬
niß entgegensteht, dazu bei, daß man das Einerlei des Lebens auf dem Nil
tiefer empfindet, während das Gefühl ungewöhnlicher Kraftfülle vergeblich auch
einem Gegenstand sucht, an dem es sich bethätigen könnte.
So geht es fort Tag auf Tag. bis in die Region der Monumente, bis zu
den Wasserfällen, bis in das granitne Thal von Nubien hinein. Die Lange¬
weile, die dieser Zustand hervorbringt, würde zum Mißbehagen, zur Verzwei¬
felung werden, wenn es ganz so fortginge.
Aber allmälig. bei dem Einen früher, beim Andern später, beginnt sich
ein anfangs unerklärliches Etwas zu regen, eine Wandlung seines Denkens
und Fühlens zu vollziehen. An die Stelle des wirtlichen Lebens tritt, erst
nur an stillen Abenden, dann am lichten Tage ein Traumleben, dessen wun¬
derbare Magie auf der Heimfahrt, wo das ganze Aegypten. seine Natur und
seine Kunst, seine Gegenwart und seine Vergangenheit sich in der Erinnerung
spiegelt, auch das nicht leicht erregbare Gemüth mit ihrem Zauber bestrickt.
Zuerst ist es uur ein dumpfes, inhaltsloses Brüten, dem des Fakirs gleich, der
nur für das leere Wort Om lebt. Wie der Fakir sich dabei aus die Nasen¬
spitze blickt, so blickt der Chowadschi, aus dem Dach seiner Kajüte sitzend, auf
die Wollen seines Pfeifenkopfs. Dann wird es Heller.und Heller. Die Qual
der Langeweile ist einem Gefühl des Behagens gewichen. Die Sonne des Orients
bescheint ihn, bescheint, wie er setzt ganz inne wird, auch die Landschaft. Das
Behagen wird zur Beschaulichkeit, zu einer innerlichen Schöpfung, und ohne daß
der Träumende sich dessen bewußt wird, ist Saul auch unter den Propheten.
Die Sonne ist das große Mysterium des Morgenlandes. Sie vor allem
ist es, welche jene Magie auf das Leben des Fremden in Aegypten ausströmt.
Er hat die Empfindung, als ob er ihr Licht mit der Luft einathme, eine äthe¬
rische, schwer in Worte ;u fassende Empfindung, ein Vorschmack von Leben
und Weben im ewigen Licht. Man fühlt es warm in den Adern, wie edlen
Wein. Das ganze Körpersystem saugt mit allen Poren Sonnenschein ein.
Man sieht mit andern Augen, hört mit andern Ohren, lebt in einer andern
Welt. Ein warmes, tiefinniges Behagen senkt sich vom Himmel auf das Herz,
füllt es und befruchtet es zu rosenfarbenen stillen Träumen, in welche wie¬
derum Gedanken an die ungeheure Vergangenheit des Landes ihre Schatten
weisen und jene milde Wehmuth erzeugen, die auch in den Bechern und Augen
der Seligen schwimmt.
Die ägyptische Sonne strahlt nicht, da keine Wolken sie stören. Sie scheint.
Sie schießt ihr Licht nicht, sondern gießt es aus. Die Formen der Landschaf¬
ten in unserm Norden heben sich scharf und streng wie Gebilde des Wintern
frohes vom Himmel ab. Die Linien des Morgenlandes und vorzüglich die
der Niloase verschmelzen mit der Bläue droben und miteinander. Die Sonne
ist die Vermittlerin, sie trennt nicht, sondern vermählt die einzelnen Schön¬
heiten des Gemäldes. Und in derselben Weise wirkt sie auf das Gemüth.
Stimmungen, unbestimmte Empfindungen, bunte Schemen drängen sich an die
Stelle der Gedanken, eine Fata Morgana gaukelt mit tausend und tausend
Bildern, schwankend, flackernd, verfließend, sich umgestaltend und wieder zer¬
gehend über dem Spiegel der Seele — es ist, als ob auch unser Leibliches
zerfließen wollte, um mitzukreisen und mitzuschwebcn in dem Neigen der gött¬
lichen Phantasien.
Altes und Neues, Kleinliches und Erhabenes geht an uns vorüber im
bunten Wechsel. Wir verstehen das Flüstern des Stromes am Bug der Da-
habiel). Er murmelt von dem Geheimniß seiner Quelle, von dem niegesehenen
Mondgebirge tief im Binnenlande, und er gedenkt der Tage, wo er einer
von den vier Flüssen des Paradieses war. Wir fühlen die Bedeutung des
leisen Stöhnens der Sakiahs; es ist die Tradition der alten Linosklage, ein
Nachhall des Wehrufs um deu ermordeten Osiris, ein Trauerlied auf den
nicht mehr klingenden Memnon. auf das todte .Volk in den Munücngrüften
von Theben und Beni Hassan. Die steinerne Welt der Monumente thaut auf.
die steifen Könige lösen sich von den Wänden, auf denen sie der Meißel ver¬
ewigte, ihre großen Augen blitzen, das Weibrauchgesäß des Priesters, der ihnen
als Göttern räuchert, läßt Wölkchen aus Wölkchen entquellen. Der Harfner
aus dem Grabe Ncnnses des Dritten läßt seine viernndzwanzigsaitige Harfe
erklingen, und vorüberschweben durch den Weihrauchdampf Amun. der Götter¬
vater mit den blauen Federn, seinen königlichen Sohn Sesostris an der Hand.
Hathor. die Liebesgöttin vom Tempel in Denderah. mit Kleopatras Brustbild
von demselben Heiligthum. Isis mit dem Kuhkopf und Thot, der dreimalgroße
Gott mit dein Schakalshaupt. Alle werden nur im Profil sichtbar, wie auf
den Grab- und Tempelwänden, von denen sie herabstiegen. Dazwischen tönt
das übt irn,w sind der ächzenden Sakiah, das unendliche Bntschischgeschrci des
heutigen Geschlechts und taon wieder das Getöse des Triumphzugs Pharao
Sisaks. als er den König von Juda. dessen Bild wir in Knrncck sahen, ge-
fangen nach Theben brachte.
Und die Traumgestalten werden plastischer, greifbarer, die Wirklichkeit drü¬
ben, auf den Ufern, jetzt verklärt, schaut herein in den Kreis der Erinnerungen.
Die Fellahweiber mit'den alterthümlichen Krüger auf den Köpfen verwandeln
sich in Frauen der heiligen Geschichte. Die Männer, die auf den von der
Abendsonne angestrahlten Feldern nach Mekka gekehrt ihr Gebet verrichten,
sind Beter der Urzeit, wo es keine Kirchen und Moscheen gab, Zeitgenossen
Melchisedets und Abrahams. Der Esel, der von einem Mann mit dem Pil¬
gerstab getrieben, eine Araberin und ihren Säugling trägt, mahnt an das
Bild, das wir uns von der Flucht nach Aegypten machten. Der Ziegenhirt,
der aus dem Brnnnenrande sitzt, ist Moses, der- beim Vater Ziporas dient.
Der Leichenzug, der mit seinen Klageweibern aus dem Stadtthor guillt und
sich über die Schutthaufen herab nach dem Begräbnißplatz hinwindet, mag
einen Jüngling von Neun der Mutter entführen. Durch die Palmenhaine aber
gießt die Sonne ein Licht,, von dem sich dies alles wie eine Reihe alter Bilder
von Goldgrund abhebt.
Von der unmittelbaren Gegenwart schweift die Phantasie zurück über
Thebens Trümmerfeld und die einsame Tempelruine von Ombos. nach den Kata¬
rakten von Syene und über die strudelnden, schäumenden Stromschnellen
hinaus nach dem stillen Philä, dem einzigen wirklich anmuthigen Landschafts-
bilde am Nil. der ultima 'I'oris der meisten Reisenden. Das wild zerklüftete
Thal erscheint wieder, dessen dunkelrothe oder bleifarbne Granitfelsen, in rie¬
senhaften Blöcken auf- und durcheinandcrgeschichtet. uns mit Schauer erfüllten.
Der Fluß, hier breit und still wie ein Alpensee. glänzt uns entgegen wie ein
blauer Spiegel, Zwischen den düstern Klippen rinnt die goldgelbe Sandflut
der Wüste herab. Einzelne Palmen beschatten die Lupinenbette aus dem
schmalen Saume fruchtbaren Landes zwischen dem Gestein und Wasser, und in
Mitten des wellenlosen Stromes taucht mit seinen vom Baumgrün umgebenen
Pylonen und Säulenhallen die heilige Insel der Isis, die letzte Zufluchtsstätte des
ägyptischen Heidenthums auf. Ein Boot trägt uns hinüber, wir gehen, von
den Festen der Göttermutter träumend, durch die dunkeln Höfe, durch
die buntbemalten Korridore, durch die Nebentempel und schauen dann von der
Terrasse im Süden hinab auf die ruhige Flut, wie sie aus der rothen Schlucht
leise murmelnd heranströmt, um kurz daraus sich in den Kampf mit den Fel¬
sen zu stürzen.
Zögernd trennt sich die Erinnerung von dem bezaubernden mild melan¬
cholischen Gegensatz, in dem das liebliche Eiland zu der Nacktheit, Schroffheit
und Unwirthlichkeit seiner Umgebung steht. Die Coulissen verschieben sich,
der halbbtgrcibne Tempel von Edfu, die Ruinen-von Esneh mit ihrem unter¬
irdischen Säulensaal treten in die Scene, aber noch lange bildet das holde
Philä, mondbeglänzt, wie jeder es geschaut haben muß, der es ganz geschaut
haben will, den Hintergrund des Gemäldes, bis endlich das alte National-
heiligthum von Karnak, mit seinen Pylonen und Obelisken und seiner von
hundertundzwanzig Riesensäulen getragenen Halle die größte Ruine der
Welt, Luksor und das Memnonium. der Pharaonenpalast von Medinet Habu
und die ganze ungeheure Trümmerstätte von Theben sich an seine Stelle drängt.
Wir sitzen auf einer umgestürzten Säule. Der graubärtige Führer hat
gefunden, daß er überflüssig ist, und sich, in seinen Burnuß gehüllt, im Schat¬
ten eines zerbrochnen Kolosses schlafen gelegt. Die Esclsbuben sprechen nur
flüsternd und beobachten neugierigen Blickes die Chowadschi, während ihre
Thiere, schläfrig die Augen schließend und die Ohren hängen lassend langsam
ebenfalls den Schatten suchen, um sich zum Schlaf hinzustrecken. Von den
Säulenschäften schauen Götter und Könige auf uns herab, im Westen blicken
uns in den gelben Bergen lange Reihen von schwarzen Grabthüren an, durch
die allmälig das ganze Aegyptervolk in das Nachtreich der Mumien auswanderte,
im Süden erheben sich aus grünen Saatfeldern auf ihren Thronen die beiden
Kolosse des Pharao Ann noph, von denen der eine uns von Kind an als der
klingende Memnon bekannt ist. Er ist der König dieser Trümmerwelt. Er
thront auf den Ruinen Thebens, selb se eine Ruine. Täglich kommt die Sonne
wie sie einst kam, aber sie belebt ihn nicht mehr. Sohn der Morgenröthe,
warum so schweigsam? Frage meine Schwester, die Sphinx der Pyramiden!
Frage die Dichter, denen ich Rede stand!
Und wir sind wieder auf unsrer Dahabieh, mitten auf dem Strome. Die
Sonne ist untergegangen, nur die Kante der Bergwand im Osten ist noch
schwach von der Abendröthe beleuchtet. Ein günstiges Wind führt uns an
einem Felsvorsprung vorüber, auf dem in der Kapelle eines arabischen Heili¬
gen die ewige Lampe brennt. Die Sitte erfordert, daß die Matrosen hier em
Brot als Opfer in den Strom werfen, damit der Heilige die Heimfahrt segne.
Das Opfer ist gebracht, der Schech hat es wohlgefällig angenommen; denn
er sandte von der Höhe seine Tauben, es ihm zu holen. Die Ruder ruhen.
Das Schiffsvolk ahmt dem Chowadschi nach, der auf dem Verdeck sitzend den
Tanz der Sterne auf den Wellen beobachtet. Von der Laterne am Bugspriet
beschienen, hocken die braunen Gesellen im Kreise und lassen die Pfnfe von
Mund zu Mund gehen. Der Schiffsjunge holt die Tarabuka. und der Sän¬
ger der Gesellschaft — es fehlt nie an einem solchen Sänger — trägt vom
Gemurmel der Tarabuka und dem taktmäßigen Händeklatschen der Uebrigen
begleitet mit leisen Molltönen ein Liebeslied aus der Wüste oder eine Ro¬
manze von Abu Said oder Antar vor. In der Ferne leuchtet das Licht eines
andern Bootes mit Europäern, am Ufer ein Wachtfeuer, durch dessen Rauch¬
wolken weiße Turbane sichtbar sind.
Das Schiff hat sein Ziel für heute erreicht. Auf steiler Uferbank zeigen
sich die. dunkeln Umrisse von Palmen, darin die Hütten eines Dorfes. Das
Herdfeuer eines Kaffeehauses flackert den Ankömmlingen einladend entgegen.
Die Tänzerinnen des Ortes sammeln sich am Landungsplatz und gaukeln in
ihren hellen Gewändern lockend aus dem Dunkeln ins Helle und wieder in
die Nacht zurück. „Fantasia? Fantasia. pa Chowadschi?" rufen die Sirenen
des Nil nach dem Boot herüber. Die Frage wird durch den Dragoman be¬
jaht, der Chowadschi will ihre Fantasia gnädig ansehen, und behend geht die
Mannschaft daran, die Dcchabieh für den Tanz der Bajaderen vorzubereiten.
Noch nie waren ihre Finger und Füße so rasch, als heute, wo sie die Bühne
für dieses Ballet vorbereiten, bei dem sie Galerieplätze haben sollen. Im
Nu ist die Mitte des Verdecks in ein großes Zelt verwandelt, Geräth und
Geschirr aus dem Wege geräumt, ein Sitz für die Künstlergesellschaft erbaut
und die große Laterne in der Mitte des improvisirten Zeltes als Kronleuchter
aufgehangen. Die Chowadschi nehmen Platz vor der Kajüte, die Matrosen
lagern sich im Kreise um den Vordermast. Die Dandies unter ihnen haben
Zeit gefunden, sich für die Gelegenheit nach .Kräften zu putzen, schneeweiße
Turbane statt der Alltagsfetzen um die Schläfe zu winden, die Finger mit
silbernen Ringen zu bestecken, selbst die Gesichter zu waschen. Der Schiffs¬
junge prüludirt mit Daumen und Mittelsingern aus dem Trommelfell der
Tarabuka. Der alte Capitän schlägt dann und wann die Leincnwände des
Zeltes auseinander, um auszuschauen, ob sie kommen.
Und sie kommen endlich. Frauenstimmen lassen sich hören. Das Bret,
das die Brücke vom Boot nach dem Lande bildet, beginnt zu schwanken'. Ein
gelbes Müdchengesicht mit schwarzen Augen, ein rother Tarbusch mit Ketten von
Goldmünzen geschmückt, blitzt durch die Leinwandthür. Der Körper, in ein
Gazehemd, ein gesticktes Leibchen, einen bunten Schleier und weite Beinklei¬
der von Seide gehüllt, folgt trippelnd nach, und die Gawassi steht vor uns.
Andere Schwestern von der Zunft kommen »ach, zuletzt die Musik, eine alte
Frau mit einem Tambourin und ein graubärtiger Geiger mit dem Nabud,
der zweifältigen Violine Aegyptens. Der T)ragoman macht die Honneurs,
nöthigt die Mädchen auf den Apfelsinenkorb, den ein Ibrahim oder Moham¬
med von der Mannschaft in einen Lehnstuhl verwandelt hat, auf die Pro¬
visionskiste, die durch eine andere geschickte Hand zu einem leidlich bequemen
Divan geworden ist, präsentirt Aquavit und Cognac/ den die Sirenen zum
Erstaunen der Ehowadschi in Quantitäten wie die Matrosen zu sich nehmen,
präsentirt auch die Pfeife, die dann von der Primadonna bis zu der alten
Hekate mit dem Tambourin die Runde macht'. — Die Tarabuka des Schiffs¬
jungen mahnt leise an den Zweck des Besuchs. Aber es bedarf eines zweiten
Glases und einer zweiten Pfeife, ehe Hekate und der Graubart mit der
Geige der Mahnung antworten. Der Fidelbogen fährt über die Saiten, die
Finger huschen am Griffbret auf und nieder, Hekate schlägt und schüttelt ihre
Schellentrommel — die ägyptische Polyhymnia, die der ägyptischen Terpsichore
aufspielt. Dazu singen sie — ein seltsames, wu-hnwitziges Klettern und
Springen von einer Stufe der Tonleiter zur andern, ein näseln und Gur¬
geln, ein diabolisches Kreischen und Zittern, wie wir es nie gehört haben,
wie mir uns nur die Musik vorstellen, welche das Orchester auf den Tempel-
Wänden von Theben machen würde, wenn es, plötzlich von neuem belebt, zu,
uns herabstiege. Wir denken an ein Concert der Unterwelt, unsre Matrosen
schwelgen in den Tönen wie. im Paradiese. Das taktmäßige Händeklatschen,
mit dem sie die wilde Melodie begleiten, klingt wie ihr vergnügtes Schmatzen
nach fetten Genüssen. Selbst dem Schiffsjungen quellen vor Entzücken die
Augen aus dem Kopfe, und wie toll trommeln seine Fingerspitzen auf die
Tarabuka.
Und jetzt erhebt sich die erste Tänzerin, tritt aus den gelben Schnabel-
schuhen, läßt den Schleier fallen wie Aphrodite den Meeresschaum und schreitet
blos mit dem Hemd und Leibchen und den weiten Hosen bekleidet, kleine
Messingcastagnetten mit Daumen und Mittelfinger emporhaltend, schlank und
stolz in die Mitte des Kreises. Bewegungslos wie ein Steinbild steht sie
einen Augenblick da und läßt die wüthende Brandung von Tönen an sich
anprallen, bis plötzlich die ganze Oberfläche ihres Körpers erst leise,, dann
immer heftiger mit der Musik im Takte zittert. Ihre Hände lassen, über den
Kopf erhoben, die Castagnetten erklingen, langsam dreht,sie sich einmal um
sich selbst, indem ihr rechter Fuß dabei als Stützpunkt dient und alle Mus-
kein während der Wendung convulsivisch beben, dann schreitet sie bedächtig,
unaufhörlich mit allen fleischigen Theilen des Leibes sibrirend. vorwärts und
rückwärts - ein wundersames Bild von Bewegung und Ruhe in Eins ver¬
bunden, eine unablässige Aufeinanderfolge von fieberischer Wonneschauern
der Leidenschaft, morgenländischer Leidenschaft, morgenländischen Liebc-
verlangens, glühendster Sinnlichkeit.
„Die ganze Nacht durch lasse ich nicht ab mit Seufzen
Ueber eine einsame Gazelle, die Entführerin meiner Seele.
Ich gelobe, wenn meine Geliebte kommt,
Will ich Thaten verrichten, wie sie Nntar nicht gethan."
So. begleitet von Tambourin und Nabab. Tarabuka und Händeklatsche...
erschallt der Gesang der Musikanten, in den die andern Tänzerinnen ein-
fallen. und der die Primadonna zu neuem spasmodischen Zusammenkauern
anregt.
> „Und die Geliebte kam zu mir bebenden Ganges,
Und ihre Augenlider machten mich trunken.
Ich streckte die Hand aus, den Becher zu ergreifen.
Da ward ich berauscht von ihren Augen.
O Du in dem rosenrothen Kleide, in dem rosenrothen Kleide.
Liebling meiner Seele, bleibe bei mir!"
Und die Tänzerin beugt sich plötzlich nieder. Me. ohne Unterlaß von
ihren wollüstigen Schauen überlaufen, auf die Knie, streckt sich der ganzrn
Länge nach immer taktmäßig zuckend aus den Boden hin, erhebt sich in der¬
selben Weise zitternd und tritt dann zurück, um sich wieder in ihr Ober¬
gewand und deu Schleier zu hüllen, während die Musik eine andere zu ähn¬
lichen Pantomimen herbeiruft. „Buono!" ruft der Chowadschi - Buono,
das einzige Wort Europas, welches die Mädchen verstehen. „Tejb! Tejb!"
schallt der Brävorus der Matrosen am Bugspriet. „Waikas!"") murmelt der
alte Eapitän in seinen Bart, wenn das Spiel geendet ist.
Die Gawassitänze sind einer der wesentlichsten unter den bunten Steinen,
aus denen sich das Mosaitbild des Traumlebens auf dem Nil zusammensetzt.
Ihre wilden Melodien aber werden übertönt von dem melancholischen Gesang
der Satiahs, welche immer aufs Neue ihre klagenden Stimmen hören lassen,
immer wieder daran erinnern, daß Aegypten ein großes Todtenfeld ist und
dem Chowadschi noch lange, nachdem er in die Heimath zurückgekehrt ist, die
vorwiegende, Stimmung des Nillebens nachempfinden lassen. Einzeln und
in der Nähe gehört, singen sie so wenig schön, wie ein Wagenrad, das sich
durch den klingenden Frost eines winterlichen Schneewcgs hindurcharbeitet.
Anders in der Ferne und in Gemeinschaft miteinander. Es sollen ihrer aus
den Usern des Nil an fünfzigtausend stehen. Eine ruft der andern zu, und
diese wieder ihrer Nachbarin auf dem andern Gestade. Ein horizontal laufen- ,
des Rad treibt ein lothrechtlaufendes. Jenes wird von Ochsen in Bewegung
gesetzt, dieses schöpft mit Krüger aus einer Grube am Flusse die befruchtende
Flut in einen Graben, der sie in kleinen Kanälen über das benachbarte Feld
ausbreitet. Das bewegende Princip der Maschine, der Musikant d.es Instruments
ist ein Knabe, der auf dem horizontalen Rade sitzend, unablässig die Hinter¬
theile der Ochsen bearbeitet. Nie wird die Rabe des Rades mit fettiger
Substanz bestrichen. Sie würde der Maschine die Stimme nehmen, und der
Fellah liebt das Concert der Sakiahs wie der Alpenbewohner seinen Kuhreigen.
Das Concert ist von unendlicher Mannigfaltigkeit, aber stets von trauriger
Wirkung. Es ist der Schwanengesang Aegyptens. Einige Sakiahs haben
eine scharfe, schrille Stimme, es mögen die jungen sein. Andere kreischen
mehr in den Tönen des hilflosen, hoffnungslosen Alters. Es ist die Klage
des zu hoch besteuerten Ackerlandes, in welche sich, ganz von fernher suMmend,
ähnlich dem Insektengeschwirr unsrer Wiesen an schwülen stillen Mittsommcr-
tagen. die Klagen aller der Geschlechter mischen, welche wir in unserem träu¬
merischen Sinnen im Laus der Jahrtausende über dieses Land, gehen
und verschwinden sahen. Es hat, wo der Fluß breiter wird und die Strö¬
mung das Boot des Chowadschi durch die Mitte der Wasserfläche führt, die
wunderbarste Aehnlichkeit mit fernem Glockenklang, und der Träumende fragt
sich, ob auch das. Ohr hier eine Fata Morgana hat wie das Auge. Wir
glauben den orthodoxen Baßton des Geläuts der Kathedrale, den milden
Tenor der und jener Parvchialkirche der Vaterstadt, den -Discant ihrer
Kapellglöckchcn, die Silberstimmcn der Glocken ferner Dörfer zu vernehmen.
Das ist Se. Jakob, das Peter und Paul und das ist die Gottcsackerkirche!
Und daseist — o daß du schwinden mußt, schöner Traum! — das halb ara¬
bische, halb englische Kauderwälsch des Kochs aus der Kajüte-. „Abendessen
sertig, Gentlemen. Stehe zu Ihrem Befehl!"
Abonnementsanzeige zum neuen Jahr.
Mit dem Anfange des neuen Jahres beginnen die Grenzboten
den ^VR?. Jahrgang. Die unterzeichnete Verlaqshandluug erlaubt
sich zur Pränumeration auf denselben einzuladen, und bemerkt, daß alle
Buchhandlungen und Postämter Bestellungen annehmen.
Leipzig, im December 1857. Fr. Lndw. Herbig.
Schon in den spätern Zeiten der römischen Republik, besonders im letzten
vorchristlichen Jahrhundert, hatten die Formen des geselligen Verkehrs sich in
ziemlich hohem Grade ausgebildet und befestigt, und eine nicht geringe An¬
zahl von Höflichkeitsbezeugungen war durch das Herkommen zum Range von
Pflichten (oKcia) erhoben'worden. AIs aber Rom einen Hof erhielt, wurden
auch die Gesetze der Höflichkeit je länger desto zahlreicher, complicirter. strenger
und drückender, un/nun erst bildete sich ein Ecremoniel aus. das sich auf
alle gesellschaftliche Verhältnisse bezog und das Detail der überall zu be¬
obachtenden Formen mit genauen Unterscheidungen regelte. Diese Convemen-
zen des geselligen Verkehrs erlitten im Lauf der Zeit mannigfache Modifi-
cationen/da sie sich nach den an dem jedesmaligen Hose beobachteten Formen zu
nahten pflegten. Doch scheinen während der ersten beiden Jahrhunderte
wesentliche Aenderungen nicht eingetreten zu fein, mir daß gegen Ende dieser
Periode die Förmlichkeiten zunahmen und die Tendenz sich mehr geltend
machte , die Abstufung der verschiedenen Stunde und Nangclassen schärfer zu
markiren. Im dritten Jahrhundert wurden die römischen Sitten mehr und
mehr von orientalischen Einflüssen inficirt. die sich besonders auch in strenger
Scheidung zwischen Höhern und Niedern und Ausbildung eures asiatischen
Ceremoniels am Hose und den nach dessen Muster eingerichteten großen
Häusern kundgaben, bis endlich Diocletian dem römischen Kaiserhof voll¬
ständig den Charakter eines orientalischen gab.
Aus dem totalen Umsturz der frühem Zustände und der chaotischen Ver¬
wirrung, welche die Bürgerkriege herbeigeführt hatten, ging mit Begründung der
Monarchie eine neue Ordnung der gesellschaftlichen Verhältnisse hervor.
Einen Geburtsadel. der als solcher einen abgeschlossenen Stand gebildet
hätte, gab es schon längst nicht mehr, wenn auch das Patriziat noch in der
Kaiserzeii in einer sah'cinexistenz fortdauerte, bis es unter Konstantin zum
bloßen Titel wurde. Der ebenfalls erbliche Amtsadel (die Nobilität) bestand
zwar in der Kaiserzeit. fort, aber je mehr die Staatsämter aufhörten eine
wirkliche Bedeutung zu huben, desto mehr büßten sie von ihrem ursprünglichen
Charakter ein, wovon sogleich die Rede sein wird. Die neue Rangordnung
der Stände war im Wesentlichen weder auf Geburt noch auf amtlicher Stel¬
lung, sondern auf den Besitz basirt. In der Grachenzeit hatte sich ein aus
Census basirter Ritterstand gebildet, durch Festsetzung eines senatorischen
Census, der von August ausging, bildete sich ein Senatorenstand. Das erforder¬
liche Minimum von Vermögen betrug für jenen gegen 30,000, für diesen
über 70,000 Thaler. Sank das Vermögen einer noch so edeln und alten
Familie unter diese Summe herab, so verlor sie den ersten Rang, falls sie
nicht durch kaiserliche Unterstützung darin erhalten wurde; so wie andererseits
eine Frau, die ihrem Mann eine Mitgift von dieser Höhe mitbrachte, ihn
dadurch zum senatorischen Range erhob. Daher eine Menge von Familien
schon im ersten Jahrhundert zu den beiden ersten Stünden gehörten, die
von niedriger Herkunft waren, selbst von Freigelassenen stammten; und
wenn die Freigelassenen selbst freilich durch ihre Geburt von der Erhebung
in den ersten Stand ausgeschlossen waren, so war ihnen doch die Theil¬
nahme an den Vorrechten des zweiten nicht versagt. Während also,
wie Horaz klagt, jeder, dem einige Hundert von den 30,000 fehlten, trotz
Rechtschaffenheit und Bildung zum Pöbel gerechnet wurde, sah man viele
Menschen, die aus eine' mehr oder minder anständige Weise jene für die
damalige Zeit sehr mäßige Summe zusammengebracht hatten, sich als Ritter
geriren. Unter Tiberius (im Jahre 21) kam der Gegenstand im Senat
zur Sprache und es wurde Klage geführt, daß sogar Kneipwirthe häufig
den goldenen Ring trügen, zu dessen Anlegung nur die beiden ersten
Stände berechtigt waren: worauf man beschloß, daß fortan hierzu nicht
nur der ritterliche Census, sondern auch freie Geburt und Abstammung von
einem freigebornen Vater und Großvater erforderlich sein sollte. Aber diese
Bestimmung scheint wenig gefruchtet zu haben. Denn erstens wurde sie durch
die Kaiser selbst umgestoßen, die Freigelassenen häufig den goldenen Ring und da¬
mit das Recht der freien Abstammung verliehen, theils erwies sich ohne
Zweifel das Geld mächtiger als das Gesetz, und verschaffte den Freigelassenen
factijch Rechte, die ihnen gesetzlich nicht zukamen. Aus den Sitzen der Ritter
saßen im Theater Elegants, deren Väter Kuppler, Ausrufer, Gladiatoren und
Fechtmeister gewesen waren. Der Kerl, der vom Euphrat als Sklave nach
Rom gekommen war, und dessen durchlöcherte Ohrläppchen seine Herkunft
verriethen, verlangte und erhielt den Vortritt vor dem Manne von sena¬
torischer Abkunft, weil ihm seine fünf Kramläden die dreißigtausend abgewor¬
fen hatten: da doch einmal, sagt Juvenal, die Majestät des Reichthums bei
uns die höchste ist, wenn auch dem unseligen Gelde noch kein Tempel gebaut,
noch keine Altäre errichtet sind.
Die beiden obern Stände waren durch verschiedene äußerliche Aus¬
zeichnungen von dem Volk gesondert. Die der Retter bestanden außer den
goldenen Ringen und besondern Plätzen in den Schauspielen, in einem
schmalen Purpurstreis. der vom Halsausschnitt zum untern Saum der Tunica
ging, während die Senatoren einen breiten trugen. Der breite Streif wurde
aber von August auch den durch Herkunft und senatorischen Census ausge¬
zeichneten Rittern verliehn. und diese damit zu einer höhern. von dem
übrigen Stande gesonderten Classe erhoben. Die Ertheilung des Ritterpferdcs
war seit August der Anfang zur höhern militärischen oder amtlichen Laufbahn,
die auch zur Beförderung in den ersten Stand führen konnte. Die Vorrechte
des Senatorenstandes bestanden in dem Recht, den Senatssitznngen schon vor
dem zur Berathung erforderlichen Alter von 25 Jahren beiwohnen zu dürfen,
in Bevorzugungen beim Militärdienste und in dem eximirten Gerichtsstand,
zu dem auch die Frauen und Kinder dieses Standes gehörten. Innerhalb
des Senatorenstandes sonderten sich durch Beförderung zu den verschiedenen
Aemtern oder auch durch bloße Verleihung der betreffenden Titel und Jnsig-
nien verschiedene Rangclassen ab. deren höchste die' Consularcn bildeten. Ob-
wol das Consulat schon im Anfang der Kaiserzeit aller wirklichen Macht
und später auch aller Functionen entkleidet war, so galt es doch immer noch
als die höchste Würde, die ein Unterthan erlangen konnte.
Der Kaiser Julian nennt es „eine Ehre, die jede Macht aufwiegt, für
die Unterthanen einen Preis und eine Belohnung der Tugend. Treue, Ergeben¬
heit oder der Dienstleistungen gegen die Regenten, für die Regenten eine
Zierde und einen Schmuck, den sie den andern von ihnen verliehenen Gütern
hinzufügen;" und noch der gothische Schriftsteller Jornandes sagt bei Ge¬
legenheit der Ernennung Theodorichs zum Consul, dies werde für „das höchste
Gut und die größte Ehre in der Welt" gehalten. Um nnn möglichst viele
verdiente Unterthanen mit derselben beglücken zu können, kürzten die Kaiser
die Konsulate von einem Jahr aus zwei Monate und zuweilen noch kürzere
Zeiträume ab. so daß die Zahl der Consuln z. B. in einem Jahr auf !5,
in einem andern sogar auf 25 stieg. Hieraus entstand ein neuer Rangunter¬
schied zwischen den Consuln der beiden ersten Monate, die dem Jahr den Namen
gaben, und den übrigen, die man die kleinern Consuln nannte. Aber auch
so konnte noch immer die Sehnsucht des senatorischen Standes nach Erlan¬
gung der consularischen Würde ebensowenig hinreichend befriedigt werden,
als der Wunsch der Regierung, möglichst viele Verpflichtungen auf so wohl¬
feile Art los zu werden, und möglichst viele bedeutende Personen sich zu ver¬
binden. Sie verlieh also den Titel und die Jnsignien des Konsulats ohne
das Amt. und konnte auf diese Weise auch dem umfangreichsten Bedürfniß
gerecht werden. So bildete sich sowol unter den höhern Beamten, als unter
den Senatoren eine eigne Nangclasse der Consularen, die in späterer Zeit
erblich wurde. Ebenso wurden nun die Rangstufen und Jnsignien der übrigen
Aemter, der Prätur, Aedilität u. s. w. ohne das Amt selbst verliehen; die Jn¬
signien auch solchen Personen, die zum Eintritt in den Senat nicht berechtigt
waren, als Rittern und Freigelassenen, selbst Ausländern. So erhielt z. B.
der jüdische Konig Agrippa, ein Enkel Herodes des Großen, von dem ihm
sehr verbundenen Claudius die consul arischen Jnsignien, dessen Bruder He¬
rodes die prätorischen. Es leuchtet ein, wie zweckmäßig diese wohlfeilen Aus-
zeichnungen waren, um den Untcrthanenehrgeiz in eine für die Monarchie
ersprießliche Richtung zu lenken, und der Eifer, mit dem sie erstrebt, der Werth,
der ihnen beigelegt wurde, zeigt, daß die Absicht vollkommen erreicht worden
ist. Auch kam es vor. daß die Kaiser Senatoren, die sich vergangen hatten,
zu einer tiefern Rangstufe degradirten. Von einem so ausgebildeten, com-
plicirten, und durch äußere Abzeichen nüancirten Nangsvstcm war zur Uni-
sormirung der verschiedenen Classen nur noch ein Schritt, und einmal wenig¬
stens ist dieser Gedanke wirklich gehegt worden. Der Kaiser Alexander Se-
verus hatte im Sinne, allen Würden und allen Aemtern eigne Trachten zu
verleihen, an denen sie sogleich erkennbar sein sollten, so wie er auch die
Sklaven durch eine besondere Tracht von den Freien unterscheiden wollte.
Aber die beiden berühmten Juristen Paulus und Ulpian sollen ihn davon
durch die Vorstellung zurückgehalten haben, daß daraus sich fortwährende
Reibungen und Streitigkeiten ergeben würden. So hatte es denn bei der
Unterscheidung der drei Stunde durch den Purpurstrich sein Bewenden. Welche
Wichtigkeit auf die Standes- und Nangesunterschicde gelegt wurde, zeigt am
besten die scrupulöse Genauigkeit, mit der in Inschriften die Aemter. Würden
und Titel in der gehörigen Reihenfolge aufgezählt werden. Diese dehnte sich
beim ersten Stande auch auf die Frauen auf, unter deren Titulaturen nicht
nur Mutter, Schwester, Großmutter, sondern auch „Verwandte von Männern
senatorischen Standes" vorkommt. Natürlich waren die Rangunterschiede im
geselligen Verkehr sür Vortritt, die Ordnung der Plätze bei Tafel u. s. w.
maßgebend. Wie stark das Standesgefühl war, mag man daraus ermessen,
daß ein Tacitus es als einen Gegenstand der öffentlichen Trauer bezeichnen
konnte, daß ein Mitglied des kaiserlichen Hauses einen Mann heirathete, dessen
Großvater aus der Landstadt Tivoli herstammte und nur zum Ritterstande
gehört hatte. Nicht minder charakteristisch ist die Art, wie er sich über das
ehebrecherische Verhältniß von Germaniens Schwester Livia mit Tibers allmäch¬
tigen Günstling Sejan äußert: „sie. deren Oheim August, deren Schwieger¬
vater Tiber war, die von Drusus Kinder hatte, schändete sich, ihre Ahnen
und ihre Nachkommen durch Ehebruch mit einem Manne, dessen Vorfahren
nicht zum Amtsadel gehört hatten." War schon der Abstand zwischen den
beiden ersten Ständen so groß, so trennte vollends den ersten vom dritten
eine unermeßliche Kluft. Ein Senator prätorischen Ranges, der unter Domi-
tian wegen eines zweifelhaften Vergehens angeklagt, die freiwillige Verbannung
der sichern Veurtheilung vorzog, sah sich genöthigt, zu seinem Lebensunter¬
halt in Sicilien Unterricht in der Beredsamkeit zu ertheilen. Einst als er
vor seinem Auditorium auftrat, sagte er in der Einleitung seiner Rede : „Welches
Spiel treibst du mit uns. Fortuna! du machst aus Senatoren Professoren, aus
Professoren Senatoren!" In diesem Satz, sagt der jüngere Plinius, ist so viel
Galle, so viel Bitterkeit, das; ich glaube, er hat das Lehramt nur übernom¬
men . um dies sagen zu tonnen. Der zweite Theil dieser Antithese spielt
wahrscheinlich auf den berühmten Rhetor Quintilian an, der längere Zeit eine
öffentliche Professur bekleidet hatte, und darauf von Domitian zum Prmzen-
crzicher gemacht und durch Verleihung der consularischen Insignien geehrt
wurde, eine Standeserhöhung, die später noch einigen Prinzenlehrern zu Theil
wurde, aber offenbar selten war und großes Aufsehen erregte. Alle Stande
vereinigten sich übrigens in der entschiedensten Geringschätzung der Ausländer,
besonders wenn sie so unglücklich waren, unfrei geboren zu sein. Man mochte
sich vor ihnen noch so tief demüthigen, wenn sie reich und mächtig waren,
man dünkte sich doch unendlich mehr als sie.
Während der senatorische Stand die höchste Stufe des gesellschaftlichen
Rangsystems einnahm, hatte er doch als solcher nur einen sehr geringen An¬
theil an der Regierungsgewalt. Es war ein oberster Grundsatz der von Au-
Aust begründeten cüsarischcn Politik, den Schwerpunkt der wirklichen Macht
außerhalb der Aristokratie zu legen, weil nur von dieser eine bedenkliche
Opposition zu befürchten war, und dieser Grundsatz ist so lange beibehalten
worden, bis (im dritten Jahrhundert) die Besorgnis; vor dem ^mal gänzlich
geschwunden, war. Deshalb wurden die lieugcschaffenen, mit der Macht be¬
kleideten Behörden, die den alten Staatsämtern entzogen war. zum Theil
mit Rittern beseM, wie namentlich das Commando der Garden, dessen In¬
haber schon unter Tiber die erste Person nach dem Kaiser war, später, wo er
auch die höchste Gerichtsbarkeit und das Recht erlangte. Rescripte mit Gesetzes¬
kraft zu erlassen, eine beinahe der kaiserlichen gleichkommende Macht besaß.
Auch die Vicekönige mehrer Provinzen, die als kaiserliche Domänen admini-
stirt wurden, waren Ritter, (namentlich der wichtigsten. Aegypten, die ohne
kaiserliche Erlaubnis; ein Senator nicht einmal betreten durste), zum Theil
sogar Freigelassene, z. B. Felix, der Procumtor von Judäa. Auch in den
Eabinetsrath. der mehr und mehr die factische Bedeutung erhielt, die der
Senat nur noch dem Scheine nach besaß, zogen die Kaiser Männer aus dem
Nitterstmide. dem auch Augusts vertrautester Rath Mäcen, ohne Zweisel im
Einverständnis; mit seinem kaiserlichen Freunde, bis zu seinem Ende angehörte.
Die sehr zahlreichen Beamten dieses Cabinets waren Freigelassene, und ge¬
langten in unscheinbaren Stellungen mitunter zu einem allmächtigen Einfluß,
wie die Beispiele der Cabinetssccrctäre Pallas und Narcissus zeigen, die in
der That in Claudius Namen regierten. Endlich waren die mit der Zeit ins
Grenzenlose vervielfachten Chargen des Hofstaates mit kaiserlichen Sklaven
und Freigelassenen besetzt, und die Macht der Kammerdiener war damals
mindestens nicht kleiner als jetzt. Die Classe der kaiserlichen Militär- und
Hausbeamten, die also selten von hohem, oft vom allerniedrigsten Stande
war, besaß natürlich mit der Macht auch das Ansehn, auf das sie nach dem'
Gesetzbuch des Rangsystems keinen Anspruch hatte. Dergleichen Widersprüche
kommen in allen gesellschaftlichen Zuständen vor, aber niemals sind sie so
massenhaft, so grell und schneidend hervorgetreten, als in der Gesellschaft
des kaiserlichen Roms. Vor dem Freigelassenen, dem das nationale Vorur¬
theil nie die Ebenbürtigkeit mit dem geringsten Freigebornen zugestand, vor
dem Sklaven, dem das Recht selbst die Persönlichkeit absprach, erniedrigten
sich die Abkömmlinge der erlauchtesten Familien oft zu sklavischer Demuth,
und die höchsten Würdenträger der Monarchie wetteiferten in Beweisen von
Ehrerbietung gegen diese so tief verachteten Menschen.
Das Prototyp des ganzen geselligen Verkehrs in Rom war der Hof,
dessen Einrichtungen, Formen und Ceremoniel in den übrigen großen Häu¬
sern mehr oder minder genau nachgeahmt wurden. Die Personen, die an den
Hof gezogen wurden, wählte der Kaiser selbst, wobei durchaus nicht Stand
und Rang, sondern persönliche Eigenschaften maßgebend waren. August nahm
die hervorragendsten Mitglieder seiner Elite, wie bemerkt, absichtlich aus dem
Ritterstande, auch griechische Philosophen, Gelehrte und Literaten wurden
der täglichen Tischgenossenschaft des Kaisers gewürdigt. Diese Personen
führten den Namen Freunde und Begleiter des Kaisers, der mit der Zeit zum
förmlichen Titel wurde. Sie bildeten sein Gefolge, begleiteten ihn auf Reisen
und speisten-an seiner Tafel; sielen sie in Ungnade, so wurden sie davon
ausgeschlossen. Ein Theil der Hofdienerschaft war eigens zu ihrer Bedienung
bestimmt. Da die Kaiser selbst noch in späterer Zeit öfter sich als hoch¬
gestellte Privatleute zu geriren liebten, wechselten sie mit dieser Elite allerlei
Höflichkeiten, nahmen Einladungen an ihre Tafeln an, besuchten sie in Krank¬
heiten (wenn sie sehr herablassend waren, ohne Leibwache) und erwiesen ihnen
die letzte Ehre. Die Elite der kaiserlichen Freunde zerfiel in Classen, es gab
Freunde erster, zweiter und dritter Classe, (eine Einteilung, die schon
C. Gracchus getroffen haben soll), von denen die ersten zu Einzelaudienzen ge¬
zogen, die nächstfolgenden gruppenweise, die letzten nur in Masse vorgelassen
wurden. Diese Classenunterschiede wurden überhaupt genau festgehalten, z. B.
bei der Vertheilung von Geldgeschenken und Legaten, wo die zweite Classe
zwei Drittel, die dritte ein Drittel der an die erste fallenden Summen er¬
halten zu haben scheint; ferner ohne Zweifel bei Tafel und sonst. Von
Alexander Severus wird als Zeichen ungewöhnlicher Herablassung erwähnt, daß
er nicht blos bei Freunden erster und zweiter, sondern auch dritter Clalje
Krankenbesuche machte.
In der Regel fand am Hofe ein täglicher Morgenempfang Statt. Ber
diesem erschien im Palast nicht blos die kaiserliche Elite, sondern regelmäßig
auch der größte Theil der Senatoren. Auch die übrigen Stände wurden,
namentlich'von herablassenden Kaisern, wenn auch wahrscheinlich nicht oft.
empfangen. Frühaudienz wurde gleich nach Sonnenaufgang ertheilt, eine nach
uusern Begriffen sehr unbequeme, aber der römischen Tageseinteilung ange¬
messene Zeit. Diese war insofern vollkommen naturgemäß geblieben, als sie die
sämmtlichen Verrichtungen und Geschäfte in die Zeit der Tageshelle verlegte
und in der Nachmittagszeit mit dem Hauptmahl beschloß; deshalb mußte der
gesellige Verkehr mit Tagesanbruch seinen Anfang nehmen. Vespasian. der
ungemein thätig war, empfing schon vor Tagesanbruch im Bett und ließ sich
während der Audienz ankleiden. Eine eigne Abtheilung der kaiserlichen Haus¬
beamten war ausschließlich für den Dienst bei den Audienzen bestimmt. Die
Art des Empfangs richtete sich theils nach der größern oder geringern Herab¬
lassung der Kaiser, theils nach dem Range und dem persönlichen Verhältniß
der Vorgelassenen. Auch hier wurde wenigstens während des ersten Jahr¬
hunderts von den meisten Kaisern noch die Fiction durchgeführt, daß sie sich
nicht als absolute Monarchen, sondern nur als die Ersten des Senatoren-
standcs gerirten. und dessen Mitglieder so viel als möglich wie ihres Gleichen
behandelten. Sie begrüßten z. B. die bevorzugten und ihnen näherstehenden
Senatoren mit Kuß und Umarmung. Diese zärtliche Sitte fand jedoch schon
Tiber so unbequem. daß er sie für seinen Hof durch einen eignen Erlaß auf¬
hob: sie wurde aber an den spätern Höfen wieder eingeführt. Die nicht des
Kusses gewürdigten Senatoren wurden von gnädigen Kaisern wenigstens
so viel als möglich angeredet, wobei man großen Werth darauf legte, wenn
der Kaiser den Namen selbst im Kopfe hatte und nicht erst von dem hiermit
beauftragten Freigelassenen daran erinnert zu werden brauchte. Auch gestatteten
die Kaiser im ersten Jahrhundert nicht die Anrede „Herr" (äomiuo), weil co
die des Sklaven an seinen Eigenthümer war; erst Domitian führte sie ein,
von da ab war sie gewiß stehend (der jüngere Plinius schreibt z. B. immer
s" anTrajan), Alexander Severus verbot sie sich ausnahmsweise. Auch Kaiserinnen
hielten ihre Cour. Livia empfing die Senatoren und auch Personen der
übrigen Stände, wenigstens während' der Regierungszeit ihres Sohnes Tiber,
und ließ die Namen derer, die sich zur Cour eingehenden hatten, im öffent-
lichen Anzeiger mittheilen; dasselbe that Agrippnm als Claudius Gemahlin.
Alexander Severus schloß Frauen von Übeln Ruf von dem Empfang seiner
Frau und Mutter aus.
Wie der Kaiser hielten auch die Großen Roms ihren täglichen Morgen-
empfang, dessen Einrichtung genau dieselbe war wie am Hofe. In jeder
Frühe strömte ihren Palästen eine bunte Menge zu: arme Clienten des Hau¬
ses mit schmuziger Toga und geflickten Schuhen drängten sich schon in der
Dämmerung auf den Vorplatz, zuweilen in solcher Masse, daß sie die
Gasse stopften und den Durchzug der Vorübergehenden hemmten. Sänften¬
träger in rothen Livreen brachten einen reichen MaM im Trabe getragen, der
hinter den zugezogenen Vorhängen seinen Morgenschlnmmer fortsetzte, und von
einem Gefolge eigner Clienten umgeben war. Victoren machten rin ihren
Ruthenbündeln einem Consul oder Prätor in purpnrverbrnmter Toga Platz.
Die Masse der Morgenbesucher füllte das Atrium, einen hohen, geräumigen, säu-
lengetragencn Prachtsaal, mit einer Lichtöffnung in der Decke; die vertrautesten
Freunde des Herrn wurden einzeln ins Schlafgemach des Hausherrn vorge¬
lassen, die weniger vertrauten mehre aus einmal. Der Menge zeigte sich dieser,
wenn er dies überhaupt für gut fand, nur, um ihre ehrfurchtsvollen Begrüßungen
in vorher von seinen Dienern bestimmter Reihenfolge entgegenzunehmen.
, Die große Mehrzahl der täglichen Morgenbesucher waren die Clienten. Von
dem Verhältniß der Clientel, wie es in der Republik war, hatte sich in der
Kcnscrzeit nur eine Caricatur erhalten, es war aus einem Pietäts- ein Mieths-
verhältniß geworden. Eine ganze Classe von dürftigen Menschen machte es
zu ihrem Erwerb, gegen eine festgesetzte Entschädigung in das Gefolge
und den Hofstaat der Reichen und Vornehmen einzutreten. Selbst sehr mittel¬
mäßig begüterte Geschäftsmänner mußten um ihres Credits willen wenigstens
einige Clienten halten. Da nun ein volles Atrium zu den unumgänglichen
Erfordernissen eines großen Hauses gehörte, mußten dessen sämmtliche Clienten
sich an jedem Morgen zum Empfange einstellen, falls sie nicht ihren Tagelohn
verlieren wollten, und zwar nie anders als in der Toga, dem Staatskleide,
die für sie allmülig eine Art auszeichnender Uniform wurde, da sie übrigens
in Rom mehr und mehr außer Gebrauch kam. Auch Männer von Talent und
literarischem Ruf, wie Salejus Bassus und Martial, sahen sich durch Armuth
gezwungen, Clientcndienste zu thun. Glücklich, wenn sie wie der letztere einen
Patron fanden, der seine Umgebung aus gebildeten Leuten wählte und sie
anständig behandelte, welches beides zu den allerseltensten Ausnahmen gehörte.
Martial hat die Leiden der „nächtlichen Wanderungen", die er aus eigner langer
Erfahrung kannte, besonders beweglich geschildert: er verlange ja nicht viel, sagt
er, nichts als ausschlafen zu können; die Unmöglichkeit diesen bescheidenen Wunsch
zu befriedigen, vertrieb ihn endlich aus Rom. „Wenn der Schein der Gestirne
zweifelhaft zu werden anfängt, oder sich noch die kalten Wagen des trägen
Bootes am Himmel herumdrehn," sagtJuvenal. „entreißt sich schon der arme
Client seinem Schlaf und vergißt in der Hast seine Schuhe zu schnüren, voll
Angst, das Heer der Besucher möchte seinen Kreislauf bereits beendet haben/'
So macht er sich noch im Finstern aus den Weg, zu einer Zeit, wo auf den Straßen
niemand anzutreffen war, als die Bäcker, die ihre Waaren ausrufen und deren
früheste Kunden, die Knaben, die mit Lampen in der Hand in die Schule
gingen, oder ein Nachtschwärmer, der von einem späten Gelage heimkehrte.
In ganzen Scharen, unter deren Tritten der Boden dröhnte, zogen diese Frohn-
Pflichtigen des Morgenbesuches durch Rom. kein Wetter durfte sie zurückhalten,
weder die pfeifende Tramontana, noch die kalten Güsse des Winterregcns. selbst
nicht Hagel und Schnee, oöwo! Schneefall sonst eine hinreichende Entschuldi¬
gung war, um z.B. angenommenen Einladungen nicht Folge zu leisten. Dazu
der Straßenschmuz. die ungeheuren Wege, wenn die befundene Methswoh-
nung des Clienten am einen, und der Palast des Patrons am andern Ende
von Rom lag, besonders da die meisten in ehre Besuche an einem Morgen
in leisten hatten; endlich, wenn sich nun die Straßen mit dem lärmenden
Treiben des Tages zu füllen begannen, das Gedränge und selbst die Gefahr
ren. die Fußgängern von den schwer beladenen Lastwagen drohten, stellt man
sich dies alles vor. so wird man die Klagen der armen Clienten mehr als
gerechtfertigt finden. Aber schwerer zu ertragen als alles dies, war die Behandlung,
die sie >u der Regel erfuhren. Sie mußten ihrem Patron die tiefste llnterthä-
nigkeit zeigen, ihn „Herr" oder „König" anreden; wenigstens im zweiten Jahr¬
hundert reichte man ihnen schon die Hand zum Kusse; selbst die Sklaven des
Hauses erlaubten sich gegen sie, was sie wollten ; an der Tafel des Herrn mu߬
te» sie mit den elendesten Speisen vorlieb nehmen, sich gefallen la^en. den
Gegenstand gnädiger Späße abzugeben u. s. w. Wurden sie nach Jahren
dieses siruern Dienstes mit einer kleinen Bersorgung bedacht lz. B. als Auf¬
seher auf einem Landgut), so durften sie sich glücklich schätzen.
D'e täglichen Morgenbesuche, welche die beiden ersten Tagesstunden füllten,
gehörten zu den charakteristischen Eigeiithüiiilichkeiten Roms, die dem Fremden
ausfielen. In der That darf man sich wol vorstellen, daß in jeder Frühe die
eine Hälfte der Bevölkerung auf dem Wege war, der andern ihre Aufwartung
zu machen. Auch der Reiche und Angesehene bequemte sich dazu dem Reichern
und Angesehenern gegenüber, und antichambrirte ber Freigelassenen und selbst
Sklaven (des Kaisers), um die Ernennung zu einem höhern Amt zu erlangen.
Und wer lebte wol so außerhalb der Gesellschaft, daß er sich nicht bisweilen
> die Nothwendigkeit versetzt gesehn hätte, einen Morgenbesuch zu machen!
Auch Gelehrte vermochten die zeitraubende Sitte nicht zu umgehn. anch Philo-
sophen kamen in den Fall, sich in die Launen eines Portiers fügen zu müssen.
Ins Wasser ich auch must,
Da hat ich schleckt- Lust,
Mo» warf mich nein gelnmden,
Gott Hai mich lvSgcwuudeu,
Das! ich uicht^durft ersaufen
Bin wund-rund entlause».Oft hat mir der^Sölden
Und zorn<ge Croat
Da» Schwert aus Herz gefehlt
Und mich gar sehr zersetzet,
Doch konnt' ich »ock nicht sterben,
Kein Unfall mich verderbe».Mistlackcn etlich Mad,
Woh man, als in el» F»b
Mir i» den Leib zur Stunden,
Vier Äcrcls mich fest bunten-,
Dock Jon»i' ich noch nicht sterben
Rein Unfall mich verderbe».Ich war ein Exulant,
Dort im Thüringer Land
Notlebe» mich ernährte,
Bis Gott die Pfarr besah-erde
Zum Hcuback. nud der Friede
tSrfvlgt durch Monas Knie.Hier hab' ich Christi Knecht
Die Kirch bestellet recht.
Das Wort darin gelehret,
Die Bösen abgewehret,
Die Sünder abfolviret,
Und treulich infornriret.
Aus: Bier ckristli-le Lieber von Martin Bötzinger. (Ilitig^ 8)
Unter den zahlreichen biographischen Aufzeichnungen protestantischer
Pfarrer, welche sich aus der Zeit des großen Krieges erhalten haben, ist eine
der lehrreichsten dje des Fronten Martin Bötzinger. sowol das Dorfleben
zur Zeit des Krieges, als die Verwilderung der Menschen wird aus seiner.
Erzählung zum Erschrecken deutlich. Bötzinger war kein großer Charakter,
und die kläglichen Schicksale, welche er zu ertragen hatte, haben ihn nicht
stärker gemacht. Ja man wird ihm das Prüdicat eines recht armen Teufels
schwerlich versagen. Dabei besaß er aber zw^el Eigenschaften, welche ihn für
uns werthvoll machen, zuerst eine unzerstörbare Lebenskraft. welche mit nicht ge¬
ringem Leichtsinn verbunden war, und jenes verzweifelte deutsche Behagen, das auch
der trostlosesten Lagej immer noch erträgliche Seiten abzugewinnen weiß. Er war
ein Poet. Seine deutschen Verse sind, wie die vorgesetzte Probe zeigt, durchaus
schauderhaft, aber sie dienten ihm in der schlechtesten Zeit als zierliche Bettel¬
briefe, durch welche er sich Mitleiden zu verschaffen suchte. So hat er alle
Amtleute und Schösser der Parochie Heldburg in einem gewissermaßen epischen
Poem gefeiert, so die traurigen Verhältnisse von Koburg, wo er eine Zeitlang
als Flüchtling verweilte. Außerdem war er schreibselig und hatte die Eigen¬
schaft, zwar nicht sehr geordnet, aber lebhast und ausführlich zu beschreiben.
Von dem Lebenslauf, den er niederschrieb, waren der Anfang und der
letzte Theil schon abgerissen, als ihn im Jahr 1730 Krauß seiner Hildburg¬
hänsischen Kirchen-, Schuld und Landeshistorie einverleibte. Aus diesem
,.^ 4 n«t»?««t,» «.i«»«'.^^» ««4.<v^ «,t«>Me
Fragment wird das Folgende getreu mitgetheilte ?tur einzelne Ausdrucke
sind, so weit es hier nöthig war, in unsere Redeweise übertragen, und
die Reihenfolge der Begebenheiten, welche in seiner Selbstbiographie durch-
cinandcrlnufen, ist hier nach den Jahren geordnet. Böhinger war Gymna¬
siast zu Koburg, während der Kipperzeit Student zu Jena gewesen, wurde
1626 Pfarrer zu Poppenhauscn. Im Frühjahr 1627 war der junge Pfarrer
in Begriff, Herrn Michael Böhme's. Bürgers und Raths zu Heldburg einzige
Tochter, Namens Ursula, zu freien.
„Als nun a. 1627. Dienstag nach Iubilate alle Präparatoria dazu ge¬
macht waren, kamen eben an solchem Tag 8000 Mann Sachsen-Lauenburgi-
sches Volt, nebst dem Fürsten selbst, vor Heldburg, schlugen ein Feldlager
auf dem Samen, verderbten in acht Tagen die Stadt und das Amt dermaßen,
daß weder Kalb noch Lamm, weder Bier noch Wein mehr zu bekommen war.
Es wurde aus allen Aemtern.Proviant zugcführet. und konnten dennoch kaum
die fürstlichen Officwund Beamten unter rhncn aushalten. Wurden wegen Kälte,
so einfiel, in die Stadt und Dorfschaften etliche Tag eingelegt. Da bin ich
zu Poppenhauscn im Pfarrhaus das erste Mal geplündert worden. Denn ich
hatte nicht allein nichts verwahret, sondern vielmehr zugeschicket, als wenn
ich einen ehrlichen Gast oder Officirer Herbergen wollte. Kam um mein
Weißzeug, Bettgcräth. Hemden u. .s. w. Denn ich wußte noch nicht, daß die
Soldaten Mauser wären, und alles mitnahmen. Musee der Landesfürst. Her¬
zig Casimir. selber nach Heldburg reisen, und stellte dem Lauenburger ein
fürstliches Banquet an. schenkte ihm etliche stattliche Rosse und 8000 THU.,
damit er ihn nur hinwegbrächtc. Nach diesem Unglück fand sich allenthalben
der Segen Gottes wieder ein zur Verwunderung. Denn die Wintersaat auf
Hellingen zu war wegen der Hütten, Quartier und Feuer. deren viel tausend
zu sehen waren, im Grund weg. mel 100V Hütten, viel i«t> Schock Stroh
und anderes waren da beisammen, sie machten mehr eine Wüste, als Aecker
aus. Gleichwol wuchs aus diesen gebrannten Hüttenstättcn und Gruben so
eine dicke Saat, daß dasselbe Jahr ein Ueberfluß der Winterfrucht war. Mi-
raculum!-—So gewann meine Hochzeit ihren Fortgang am Dienstag nach Exaudi,
und ward gehalten anf dem Rathhaus. —
Fünf Jahre lang war ein ruhiger Stand im Land bis anno 32, außer
daß mancher kaiserliche Zug zu 2, 3 und mehr Regimentern hin und Herzog,
die im Amt Heldburg auch ost Quartier nahmen, und ausmergelten. Ich
hatte zu Poppenhausen keine Noth. Wollte wünschen, daß ichs jetzo so gut
hatte. als ichs vorm Krieg gehabt. Da aber das Feuer des Kriegs wollte
""kommen, reformirten die'benachbarten Bischöfe stark, schickten Jesuiten und
Mönche mit Diplomatibus ins Land, repctirtcn die geistlichen Güter und
Kloster. Die Fürsten hatten ihre Defensioner hin und wieder, welche bis-
weilen im benachbarten Papstthum mausetcn und Crabrones irritirten. "Ein
jeder Verständige konnte wol merken, die Sache würde arger werden. Es
flohneten auch die Edelleute, ihre Pfarrer-, Voigte ze. das Ihrige in unser
Städtlein und Dörfer, hofften sicherer zu sein, als in ihren Orten.
Anno t6ö i Michaeli kam König Gustavus aus Schweden Plötzlich über den
Wald, als wenn er flöge, Königshofe» und viel andere Ort bekam er ein,
und es ging sehr bunt daher. Unsere vom Adel warben dem .König Volk,
welches im Mausen und Rauben ja so arg war, als die Feinde. Sonderlich
nahmen sie den benachbarten Katholischen ihre Kühe, Pferde, Schweine,
Schafe, und trieben sie gen Heldburg, da war ein Gekauf, eine Kuh für
einen Ducnten, ein Schwein sür l Thlr. Und liefen die Papisten oft her,
und sahen, wer und wie ihr Vieh kaüffte, sie löseten es auch selber oft wieder.
Es wurde aber ihnen so oft genommen, daß sie des Löscns müde wurden
und waren die armen benachbarten Papisten übel dran. Wir allhier zu
Poppenhausen verwahreten ihnen aus Nachbarschaft ihr Gesehrtlich in Kirch
und Häusern, so weit es helfen wollte. Da sich aber anno is>:!2 das Blatt
wandte, und die drei Generale, Friedländer, Tilly und Baierfürst, Koburg
und »das Land einnahmen, halfen die benachbarten Papisten rauben und
brenne», und funden wir bei ihnen keine Treu noch Sicherheit.
Als man am Abend Michaelis die ganze Ccmhaune. als Losungsschuß, von
Koburg hörte, !daß der Feind ankäme, und sich jeder wahrnehme- zog ich mit allen
denen, so ich etliche Wochen gehcrbergt. »ach Heldburg, dahin ich schon mein
Weib und Kind geschickt hatte. Die Stadt hielt ihre Wache, meinete nicht,
daß es so übel würde daher gehn. Burgemeister und etliche des Raths rissen
aus. mein Schwäher sei. war Verwalter über Pulver, Blei und Lunten, daß er
der Wache ihre Nothdursft austheilcte. er mußte wol in der Stadt bleiben. Ich
hatte mit Weib und Kindern Lust aus der Stadt zu ziehen, er aber wollte mich
nicht, viel weniger seine Tochter aus der Stadt lassen, hieß uns zu Haus
bleiben, hatte einen ziemlichen Beutel mit Thalern gefüllt, damit gedachte er
sich im Unfall los zu machen. Aber es war der Mittag am Fest Michaelis
»och nicht recht heran, da präsentirten sich 14 Leiter, man meinte, es wären
Herzog Bernhards Völker, aber es war sehr weit gefehlet. Diese mußte man
nun einlassen ohne allen Dank. Diesen folgten bald etliche Fußgänger, welche
zum Anfang alles durchsuchten, und schlugen und schössen, wer nicht wollte
pariren. Mitten auf dem Markt hatte einer von diesen vierzehn meinen Schwäher
mit einem Pistol vor den Kopf geschlagen, daß er wie ein Ochs nieder¬
gefallen. Der Reuter ist abgestiegen, hat ihm die Hosen visitiret, und haben
unsere Bürger, so auf dem Rathhaus gewesen, gesehen, daß der Dieb einen
großen Klumpen Geld herausgezogen. Als ihm die Betäubung ob dem Schlag,
vergangen und er aufgestanden, muß er mit in das Sternwirthshaus, da sie zwar
zu fressen funden, aber nichts zu sausen; da spricht er, er wolle heim und
zu trinken bringen. Weil sie nun gedachten, er möchte ihnen ausreiften, nah¬
men sie das Zinn und Essen alle mit. und kommen in mein Haus. Es wählte
nicht lange, so fordert einer Geld, da er sich nun entschuldigt, stach ihn der
Tropfs mit seinem eigenen Brodmesser, in Gegenwart meines und seines Weibes,
daß er zu Boden sank. Hilft' Gott! wie schrie mein Weib und Kind. Ich
stak in des Baders Haus über dem Stätlein im Stroh, sprang herab und wagte
mich unter sie. Wunder war. daß sie mich in der Harzkappe nicht singen.
Ich nahm meinen Schwätzer, der da wie ein Trunkener taumelte, und trug ihn
in die Badstube, daß er verbunden würde. Ich mußte zusehen, daß einer
eurer Mutter. sB. redet seine Kinder ans die Schuh und Kleider auszog, und
dich, Sohn Michael, auf den Armen trug. Hiermit räumten sie das Haus
und Gassen. Ich wagte mich weiter, ging von Baders Höflcin durch in meines
Schwähers Kammer, trug Kissen und Betten hinüber, worauf wir' ihn legten.
Noch weiter mußt ichs wagen, ging in Keiler, darinnen sein Bruder. Herr
Georg Böhm. Pfarrer zu Lindenau. in 3 Stückfässern 2 Fuder guten Wein
liegen hatte, ich sollte für den Schwäher einen Labetrunk holen, aber die Fäs¬
ser waren oben so fleißig und dichte zugemacht, daß. wenn ich gleich den
Zapfen herausholte, doch nichts heraus laufen wollte, ich mußte gar lang vor
dem Zapfen mit großer Gefahr stehen, ehe ich einen Löffel voll bekam. Kaum
war ich hinüber, kommt ein Schelm in die Badstuben, wirft den Kranken vom
Bett, und sucht alles aus.,. Ich hatte mich nerlich verkrochen unter die Schwitz-
dank, wo ich wol zu schwitzen bekam, denn vorigen Tags war Badetag ge-
Wesen. Weil nun in der Stadt ein Metzeln und ein Niederschießen, auch
uinncmd sicher war. kamen in einer Stund unterschiedliche Bürger, wollten
sia, verbinden lassen. Da gab mein Schwüher zu. daß ich ein Loch suchte
und aus der Stadt käme, mein Weib und Kinder aber wollte er nicht mit
nur lassen. Also ging ich aus die Schloßgärten zu. und kam an der Hohe
hinter das Schloß, daß ich gen Holtzhausen und Gellershausen zu sehen
konnte, obs sicher wäre? Da funden sich Bürger und Weiber zu mir. an nur
einen Trost zu haben, und mit mir zu reisen. Kam also über den Hunds-
Hanger Teich' ins Hatz. und wollte auf den Strauchhahn zu. Als wir nun
bei den Heidcäckern waren, ritten acht Reiter, (waren Kroaten) oben
auf der Höhe. Da sie unser gewahr werden, enannten sie uns eilends. Zwei
Bürger, Kührlein und Brehme. entkamen, ich mußte ain meisten aushalten.
Sie zogen mich eins, Schuhe, Strumpf und Hosen, und ließen mir nur die
Hartzkappe. Mit den Hosen gab ich ihnen meinen Beutel mit Geld, den ich
vor drer Stunden hinten in die Hosen gesteckt und also vor den ersten Man
erhalten hatte. Die Noth war so groß, daß ich nicht an meinen Beutel
gedacht, bis ich ihn das letzte Mal sahe. Forderten 1000 Thlr.. darnach
500 Thlr., endlich 100 für mein Leben, ich sollte mit in ihr Quartier, mußte
auch barfuß ein Stund lang mitj laufen. Endlich wurden sie gewahr, daß
ich ein Pap oder Pfaff wäre, welches ich auch gestund, da hieben sie mit
ihren Säbeln auf mich hinein, ohne Discretion, und ich hielt meine Arm
und Hände entgegen, habe durch Gottes Schutz nur eine kleine Wunde unten
an der Faustj bekommen. Etliche geben den Noth, mir die Testikel zu
nehmen, der Obrist aber, ein stattlicher Mann, wollte es nicht zugeben.
Unterdessen wurden sie einen Bauer gewahr, welcher' sich in den Büschen
besser verkriechen wollte. Es war der reiche Caspar von Gellershausen, auf
solchen reiten sie alle zu, und blieb nur einer bei mir. welcher ein geborener
Schwede, und gefangen worden war. Dieser sagte zu mir: „Pape, Pape.
less, less, du must sonst steifen." Jtem, er wäre gut schwedisch. Ich sing Ver¬
trauen aus dem Rath und bat ihre, wenn ich liefe, sollte er mir zum Schein
nachreiten, als wenn er mich einholen wollte. Und also geschah es, daß ich
den Eroaten entkam. Der reiche Caspar aber mußte auf solchem Ort elend
sterben. Denn als er sich nicht ausziehen wollte, welches ich wol sah, haben
sie ihm die Kniekehlen wol entzwei gehauen. Darüber er um solchem Ort
liegen geblieben, und nach Abzug der Feinde gefunden ward. Ich aber lies
im groben Eichenholz ungefähr eine ganze Stunde fortwährend, konnte
keinen dicken Busch ersehen, da ich mich verbergen konnte, fiel endlich nur
in eine Wasserlache, wodurch eine eichene Wurzel gewachsen war. Ich war
so matt vom Laufen, daß ich nicht weiter konnte, das Wasser sing an K. v.
mir zu entgehen, und ich konnte nicht aufhören, meinte die Blase wäre mir
zersprungen. Mein Herz pochte auch so sehr, daß ich nicht wußte, ob ich den
Pferdehufschlag hörte, oder obs mein Herz wäre. Also saß ich. bis es Nacht
wurde, stand auf und ging immer dem dicken Gebüsch nach, kam vor, daß ich
gen Scidenstadt hinaussehen konnte. Schleiche mich ins Dorf, und weil ich
Hunde bellen hörte, hoffte ich Leute zu Haus anzutreffen, aber da war nie¬
mand, ging deswegen in einen Stadel und wollte mich zu Nacht auf dem
Heu behelfen. Da schickts Gott, daß die Nachbarn, die im Strauchhan sich
verkrochen gehabt, eben hinter diesem Stadel zusammenkommen, und berathen,
wo sie sich wieder sammeln und wo sie hingehen wollen. Das konnt ich
eigentlich hören, stieg deswegen herab, und ging aus das Haus zu, da war
der Bauer allererst hinein, hatte ein Licht angezündet, stand im Keller und
rasende Milch ab. die er essen wollte. Ich stand oben am Loch, redete ihn
an und.grüßte ihn, er sah auf, und sah den untern Theil des Leibes, näm¬
lich das Hemd und nackte Beine und oben schwarz. Er erschrack sehr; als ich
ihm aber sagte, daß ich Pfarrer zu Poppenhausen wäre und von Soldaten
wäre ausgezogen, trug er die Milch heraus, und ich bat ihn, daß er mir bei
seiner Nachbarschaft von Kleidern etwas zu wage brächte, ich wollte mit ihnen,
wohin sie auch gehen würden. Er ging aus, unterdessen machte ich mich
über seinen Milchtopf und leerte ihn ganz aus. Hat mir mein Lebtag keine
Milch so wohl geschmeckt. Er kam nebst andern wieder, und brachte mir
einer ein Paar alte lederne Hosen, die von Wagentheer sehr übel star¬
ken; ein andrer ein Paar alte Ricmenschuhe,' ein andrer zwei Strümpfe,
einen grünen und weißen wollenen. Diese Livree schickte sich weder für einen
Reisenden noch für einen Pfarrer. Dennoch nahm ichs mit Dank an, konnte
aber in den Schuhen nicht gehen, denn sie waren hart gefroren. Die Strumpf¬
sohlen waren zerrissen und ging also mit ihnen mehr barfuß als beschuhet
gen Hildburghausen. Wenn wir uns umsahen, so sahen rar, wie es im Jtz-
grund an vielen Orten lichterloh aufbrannte. Damals ging auch Ummer-
stadt. Rodach. Eisfeld. Heldburg im Feuer zu Grunde. Ich machte mit
meiner Ankunft ein solches Spectakael, Schrecken und Furcht zu Hildburghausen,
daß sich niemand (da doch viel 1000 Fremde dahin gekommen waren) sicher
wußte, obgleich die Stadt starke Wache .hielt. Mir aber war nur
die Sorge, wie ich ein ehrlich Kleid, Strümpfe, Schuhe etc. bekommen mochte,
ehe wir da ausrissen. Ging deswegen unbeschuhet zu Herrn Burgemeister Paul
Waitz. zum Diaconus etc.. bat mir etwas zu schenken, damit ich mich ehrlich
bedecken möchte. H. Waitz schenkte mir einen alten Hut, war fast eine Elle
hoch, deformirte mich mehr, als etwas anderes, gleichwol setzte ich ihn auf.
H. Schmellers Eidam, jetzt Diaconus zu Römhild, sckenkte mir ein Paar
Hosen, die über den Knien zugingen, die waren noch gut. H. Dresse! ein
Paar schwarze Strümpfe, der Kirchner ein Paar Schuhe. Also war ich
stafsiret, daß ich ohne Scham unter so viel tausend fremden Leuten, die in der
Stadt Sicherheit suchten, und uuter deu Bürgern mich durste sehen lassen.
Der Hut aber deformirte mich gar sehr, drum trachtete ich aus Gelegenheit,
wie ich einen andern überkommen möchte. Es trug sich aber zu, daß das
ganze Ministerium, Schulcollegen und Rath heimlich sich vereinigt hatten, daß
sie Unwissend der gemeinen Bürgerschaft. Nachts v Uhr die Thore wollten
öffnen lassen, und davon gehen mit Weib und Kind. Dies erfuhr ich. ging
deswegen ur des H. Stadtschreibers Behausung, wo die Herren sich alle ver¬
sammelten, niemand aber wollte meiner achten noch mich kennen. Ich setzte
mich allein über einen Tisch im Finstern, wurde da gewahr, wie ein sein ein-
barer Hut am Nagel hing. Ich dachte, wenn dieser bei ihrem Aufbruch hangen
bliebe, so wäre es mir gut. Gehts doch ohnedies alles zu Boden nach dem
Abzug. Und was ich wünschte und gedachte, das gerieth mir. Es ging an
cur Scheiden. Heulen und Valcdiciren. ich legte den Kopf auf den Tisch als
um Schlafender. Als nun fast jedermann im Abziehen war. hängte ich den
langen Störcher an die Wand, that einen Tausch und ging mit den andern
Leuten vor in die Gasse. Da war diese Verabredung unter den Leuten offenbar
geworden. Saßen unzählig viele Leute mit'ihren Packeten auf der Gasse,
auch viele, viele Wagen und Karren angespannt, die alle, als das Thor aus
ging, mit fortwanderten. Als wir ins freie Feld kamen, sahen wir, daß die
guten Leutchen sich in alle Straßen vertheilten. Da wurden viel 1000 Wind¬
lichter gesehn, diese hatten Laternen, diese Strohschäube, andere Pechfackeln.
In Summa etliche 1000 Leute zogen in Traurigkeit fort. Ich und mein
Haufe kamen um 12 Mitternacht gen Themar, welche Stadt sich mit uns
auch aufmachte, und abermals etliche hundert mehr wurden. Der Marsch ging
auf Schwarzig, Steinbach zu, und als wir gegen Morgen in ein Dorf kamen,
da wurden die Leute erschreckt, daß sie Haus und Hos auch zurückließen, und
mit uns fortzögen. Wir waren etwa eine Stunde in der Herberge gewesen,
so kam schon Post, daß die Kroaten diesen Morgen wären zu Themar einge¬
fallen, hätten die Fuhrmannsgüter oder Geleit ausgehauen, geplündert, dem Bürge¬
rn erster den Kopf aufgespalten, die Kirche ausgeplündert, auch die Orgelpfeifen
auf deu Markt herausgetragen etc. Da wars hohe Zeit, daß wir gewichen.
Hildburghausen aber hat sich darnach mit einer großen Summe Geldes und Kelchen
ranzioniren müssen, sonst wäre die Stadt auch eingeäschert worden, wie andere
Städte. Auf dieser Wanderschaft bekam ich auch ein Paar Handschuh, Messer und
Scheide verehret. Das währte etwa 5> oder 0 Tage, da kam die Post, die
Feinde wären von Koburg aufgebrochen. Da konnte ich nicht länger bleiben.
Ich lief geschwind auf Römhild zu, wo mein Herr Gevatter Cremer Amts-
schreiber war. Mußte Herrn Amtmann referiren, wie mirs ergangen.. Nur
dieses Städtlein blieb ungeplündert. Herr Amtmann ließ Feuer unter sie
geben, und Gott erhielt durch des Amtmanns Vorsicht dies Städtlein. Unterdeß
kam Römhild ganz voll Exulanten, die theils bekannt, theils unbekannt
waren. Ich achtete aber damals keiner Gesellschaft, überlief viel 100 Men¬
schen und kam zuerst nach Heldburg zurück, eben da man die Erschlagenen auf
einem Karren auf den Gottesacker führte. Als ich solches sah, ging ich auf.
den Gottesacker, und fand 17 Personen in einem Grab liegen, darunter
waren 3 Rathspersonen, eine mein Schwiegervater, der Cantor. etliche
Bürger, der Hofmeister, Landknecht und Stadtknecht. Waren alle gräulich
zugerichtet. Nach diesem ging ich in meiner Schwiegerin Haus, da fand ich
sie krank, und vom Radeln, Zwicken mit Pistolschrauben so übel zugerichtet,
daß sie mir kaum Rede geben konnte. Sie gab sich darein, sie müßte auch ster¬
ben. Drum befahl sie. ich solle mein Weib und Kinder, welche der Feind
mitgenommen,-suchen lassen. Es waren aber die Kinder, (du Michel IV-,
und deine älteste Schwester 5 Jahr alt). Gern hätte ich zu Heldburg etwas
gegessen, es war aber weder zu essen noch zu trinken da. Laufe deswegen
hungrig und erschrocken auf Poppenhausen zu, dort nicht allein mich zu erquicken,
sondern auch Boten zu schaffen, die mein Weib und Kinder suchte» und aus-
lösten. Aber da erfahre ich, das, auch Poppenhäuser Kinder wären mit weg¬
genommen worden, und dazu der Marsch auf viele Straßen gegangen wäre,
dazu ein Bote Leibes und Lebens unsicher wäre. Unterdessen bereiten meine
Pfarrkinder zu Poppenhausen eine Kuh. welche den Kriegsleuten entlaufen,
diese erwartete ich mit hungrigem Magen. Da aßen wir Fleisch genug ohne
Salz und Brot. Ueber der Mahlzeit kam mir Post, mein Weib wäre gekom¬
men, welches auch wahr, und also zugegangen war. Sie war von etlichen
Musketieren mit sammt ihren zwei Kindern mitgenommen worden bis Altenhau-
sen, dort war sie aus Furcht der Ehre mit zwei Kindern über die Brücke ins Wasser
gesprungen. Da war sie nun von den Soldaten selbst wieder herausgezogen wor¬
den, und mit ins Dorf gebracht worden, wo sie in der Küche die Abendmahl¬
zeit zuschicken helfen mußte. Unterdes? kommt ein Haufe anderer Soldaten, die
höher und mehr waren, und trieben diese aus dem Quartier. Da bekommt mein
Weib Gelegenheit zu entlaufen. Drehet sich aus. und läßt die 2 Kinder im
Haus uuter den Soldaten. Eine arme Bettelfrau führet sie durch heimliche
Winkel aus dem Dorf, und bringt sie ins Holz, in eine alte Spelunke, darin
sie die Nacht und den andern Tag bis gegen Abend verbleibt. Diesen Tag
brach das Boll aus allen Quartieren auf. also macht sich meine Frau aus.
und kam gesund und in Ehren zu mir. daß wir alle frol, waren und Gott
dankten. —
Wie es aber zu Heldburg mit Mord. Brand etc. hergegangen, will ich auch
melden. Die Stadt Heldburg hatte Defensioner und Ausschuß und es war decre-
tut. wenn Truppen vom Feind ankamen, die Stadt zu defcndiren. Denn
man hoffte immer. Herzog Bernhards Völker sollten nicht weit sein, und das
Land entsetzen. Da es nun am h. Michaelistage 32 anging, wichen unsere reichsten
Bürger und Rathsherrn aus mit Wagen und Pferden. Mein H. Schwäher
aber war gesetzt zum Pulverthurm, daß er täglich der Wache Lunten. Kugeln
und Pulver mußte austheilen, daher ihm nicht geziemen wollte, die Stadt,
wie andere thaten, zu dcseriren. Darüber er nicht allein in seinem Haus von
einem Reuter gestochen ward, sondern sich also verblutet, daß er gar matt
wurde. Als nun die Stadt angezündet ward, eilet er mit vielen andern
Bürgern und Bürgersleuten aus der Stadt, und kommt mit meinem Weib
und zwei Kindern in der Nacht nach Poppenhausen, mein Weib richtet ihm ein
recht Krcmkenbettiein zu. Denn es war von Edelleuten und Boigten mein
Pfarrhaus mit allerlei Hausgeräth gestöhret/, Und obgleich Mauser darin
gewesen, war doch noch genug da. Des Tags kommt eine ganzer Haufe
Reiter ins Pfarrhaus. exanuniren die Meinigen, lassen sie aber passiren, weil
da ein Beschädigter lag. bestellen die Nachtmahlzeit, ziehen fort aufs Beulen.
kommen gegen Abend und bringen Raub allerlei. Da muß man sieden und
braten, helfen auch die benachbarten Weiberlein weidlich dazu. Da die Reiter aber
aufbrechen, rathen sie meinem Schwiegervater, er solle nicht wohl trauen,
dieser Lärm werde noch 8 Tage dauern, und weil die Straße daher ginge,
möchte er und seine Tochter Gewalt erfahren, drum sollte er, weil die nächsten
Dörfer papistisch wären, sich in ein anderes Dorf machen. Das thut mein
Schwiegervater und geht bei Nacht und Nebel gen Gleichmuthausen, Sicher¬
heit zu haben; aber die gottlosen Nachbarn bringen ein Geschrei aus, daß
die Reiter die lutherischen Leute wollten verbrennen und erschlagen. Sie
thätens aber zu ihrem Vvrcheil, denn die Papisten liefen mit den Reitern
in unsere Dörfer und Häuser, stahlen ja so sehr als andere. Da wollte mein
Schwiegervater auch dort nicht länger verbleiben, ging mit den Seinigen ins Ein¬
öder Holz und blieb da Tag und Nacht. Macht sich darnach hervor, daß er
auf die Heldburger Straße gegen Einöd sehen konnte; als er nun eines Tags
niemand sonderlichs auf der Straße weder fahren noch reiten sah, und auch das
kleine Glöcklein, so man pflegt zu läuten, wenn man Kinder tauft, hörte,
gedachte er, es wäre so. schleicht der Stadt näher zu, und sieht den ganzen
Weg nichts Hinderliches. Sobald er aber in die Stadt kommt, wird ihm
nachgelauscht, wo er einkehre. Da kommt ein ganzer Haus Drossen und
führen ihn und mein Weib und Schwiegerin in Herrn Göckels Haus. Ach,
da war ein Banquettiren und Gehäuse! Als er nun angestrengt wird, Geld zu
geben, und allerlei vorwcndct, haben sie ihm mit Talglichtern seine Augen,
Bart und Maul scheußlich geschmieret und verherget, mein Weib aber un¬
verschämt in der Stube vor jedermann wollen nothzüchtigen, welche aber so
sehr schrie, daß ihre Mutter mit Gewalt in die Stube sprang, und sie durch
die Stubenthür, welche zwar zu. aber das untere Feld, das mit Leisten künst¬
lich eingemacht und zerbrochen war, herausschlüpft. Da hat sich der Koch
über sie erbarmt und sie aus dem Haus geführt; und als ihm mein Weib
etliche Ducaten (welche sie 8 Tage lang vorn im Ueberschlag an ihrem
Ermel erhalten), gegeben, hat er meinen Schwäher, (aber übel zugerichtet)
ihr zugestellt. Also sind sie mehr todt als lebendig aus der Stadt gegangen,
und weil er der Mattigkeit halber nicht weiter kommen mögen, ins
Siechhaus. Da hielten sich auf nicht allein die armen siechen Leute, sondern
auch viele ehrbare Bürger und Weiber, in Hoffnung an diesem Ort sicherer
zu sein. Aber weit gefehlt. Obgleich mein Schwüher dem Tod nahe auf ein Bett
gelegt worden, und jedermann sah,- wie blutig und übel er zugerichtet war,
dennoch ist er hin und her geschleppt, und ohne Zweifel von losen Leuten
verrathen worden, daß er ein Reicher wäre. Meine Schwieger hat man ge¬
radelt, mein Weib und Kinder in die Stadt gefangen geführt, sie hat den Sol¬
daten Hemden mache» sollen. Als sie nun auf dem Kirchhof sitzet, und ihr
einer ein Stück Leinwand bringet, solls zerschneiden, spricht er zu seinem
Kameraden: Gehe hin. mache den Bauer., (meinen Schwäher meinend)
vollends todt. Dieser geht hin. kommt bald wieder und hat in sei¬
nen Armen meines Schwähers Hosen und Wamms, und spricht zu
meiner Frau: „dein Vater ist fertig". O Grausamkeit! Als die Mauser
genug aus der Kirche gemauset hatten an Kleidern, und weißem Zeug,
zogen sie aus der Stadt, und mußte mein Weib mit ihnen, es wäre ihr
lieb oder leid. — ' -
Nicht lange darnach bekamen sie vor Leipzig und Lützen ihren
Lohn dafür, wie ,an andern Orten zu lesen. Nach diesem zog man
allenthalben wieder nach Haus, und fanden sich die Leute wieder. Aber das
Schaf- und Rindvieh war alles weg. Ich erhielt mehr nicht als 3 Kälber
von 8 Stück, ohne die 48 Schafe, die mit der ganzen Herde wegkamen.
Im tönten Jahre starb und ward begraben Herzog Johann Casimir eben
an dem Tage, da dem Gustav. König in Schweden in diesem Land seine Leichen¬
predigt gethan ward. War solche Zeit ein sehr großes Rauben und Plündsrn.
auch von Herzog Bernhards Völkern, deren 9 Regimenter im Jtzgrund lagen,
damit man in Sicherheit den fürstlichen Leichnam begraben konnte.
^.no »4 war es noch viel arger; und man merkte wohl, daß in kurzem
alles über und untergehen würde. Darum that ich aus dem Weg. was ich
konnte, gen Stelzen, zum Pfarrer, meine Betten. 2 Kühe und Kleider u. s. w..
aber es ging im Herbst, nachdem Lamboy sich eingelagert, alles an allen
Orten daraus, und kostete mich das Winterquartier in 35 Wochen mehr als
si.. wie ichs dem Hauptmann Krebs Uguidiren mußte. Hatte in
meinem Hause 1 > Personen, ohne Troß und Mägde. Es ist nicht zu beschreiben,
was ich, mein Weib und Kinder die Zeit über habe leiden und ausstehen
müssen. Konnte endlich nicht länger vor ihnen sicher sein, machte mich krank
aus dem Staube, kam nach Mitwitz und Mupperg. da ich ja so wenig Ruhe
hatte, als zu Heldburg. Sonderlich quälete mich meine Stiefmutter, (sie ist
vom Donner erschlagen worden.) sie konnte mich nicht sehen in meinem Exil bei
meinem alten Vater. Mußte mich nach Neustadt machen zu Herrn Rector M. Val.
Hoffmann, jetzigem Superintendent. Aberich warnicht alleinschrarm. sondern auch
täglich kränker, deswegen ich nur gedachte, wie ich wider gen Poppenhausen oder
Heldburg käme, und da stürbe. Denn ich war meines Lebens ganz müde. Wunder-
lich kam ich in Finsterniß und Nacht durch die Wege und Dörfer, da es noch
allenthalben unsicher war. und endlich naH Poppenhausen. Da waren meine
armen Pfarrkinder und Schulmeister ja so froh, als wenn unser Herrgott
gekommen wäre. Es war aber solch große Mattigkeit und Mangel, daß wir
den todten Leuten ähnlicher sahen, als den lebendigen. Viele lagen schon
aus Hunger darnieder, und mußten gleichwol alle Tage etliche Male Fersen-
geld geben, und uns verstecken. Und obgleich wir unsre Linsen, Wicken und
arme Speise in die Gräber und alten Särge, ja, unter die Todtenköpfe ver¬
steckten, wurde es uns doch alles genommen,--
Damals mühten die noch lebendigen Leute von Haus und Hof gehen
oder Hungers sterben. Wie denn zu Popvenhausen die meisten begraben
wurden. Es blieben etwa noch 8 oder « Seelen, die anno 36 vollends darauf
gingen oder entwichen. Dieselbe Gelegenheit hatte es auch mit Lindenau,
welche Pfarre mir 163« vicariatsweise von, fürstlichen Konsistorium anbefohlen
war. Ich konnte keine Einkünfte genießen. Aepfel, Birnen, Kraut und Rüben,
war meine Besoldung. So bin ich von g,. 30 bis 41 auch der Lindcnauer
Psarr gewesen. Ich ließ zwar die Pfarre zurichten, konnte aber wegen Unsicherheit
und Plackerei nicht beständig drunten wohnen und verrichtete die Labores
von Heldburg aus. Mein Zeugniß von den Lindenauern ist Noch vorhanden,
worin sie bekennen, daß ich in 5 Jahren nicht 10 si. an Geld bekommen
habe, sie haben mir aber seither den Nest mit Holz und Aepfeln richtig
gemacht. —'
Als Ä. 40 zwischen Ostern und Pfingsten die kaiserlichen und die schwe¬
dischen Armeen zu Saalfeld ein Feldlager schlugen, wurde Franken und
Thüringen nah und fern verderbet. Am Sonntag Exaudi früh 4 Uhr fielen
kaiserliche starke Parteien zu Heldburg ein, als die meisten Bürger noch in
den Betten ruhten. Meine ganze Viasse oben rein und hinten mein Hos
ward in Eile voll Pferde und Reiter, nicht anders als wenn ihnen mit
Fleiß mein Haus wäre gezeigt worden. Da wurde ich und mein Weib wol
5 Mal in einer Stunde gefangen, wenn ich von e-mein los kam, nahm mich
ein anderer. Da führt' ich sie halt in Kammer und Keller, möchten selber
suchen, was nam dienen möchte. Endlich verließen sie mich zwar alle
und ließen mich allein im Haus, doch war das Schrecken, Furcht und
Angst so groß, daß ich an meine Baarschaft nicht gedachte, welche ich
zehn mal hätte können retten, wenn ich getraut hätte damit fortzu¬
kommen. Aber es waren alle Häuser und Gassen voll Reiter, und
hätte geschehen können, daß, wenn ich meinen Mammon zu mir gefaßet, ichs
einem zugetragen hätte. Aber ich dachte vor Angst an kein Geld. Es ließen
sich Männer und Weiber durch die Gil de Hasischen Reiter, so bei uns im
Quartier lagen, hinausconvvyiren. Da kam ich wieder zu Weib und Kindern,
wir begaben uns ins nächste Holz, gegen Hellingen, da blieb Alt und Jung, Geist¬
liche und Weltliche Tag und Nacht. ' Der meisten Leute Speise waren schwarze
Wachholderbeeren, Nun wagten es etliche Bürger, gingen in die Stadt, kamen
und brachten essende Waare und sonst, was ihnen lieb gewesen. Ich
dachte, ach! wenn du auch könntest in dein Haus kommen, und die baaren
Pfennige ertappen, und damit dich und deineKinder könntestfortbringen. Jchwagts
und schlich hinein, gehe durchs Spielet- aufs Mühtthor zu. welches mit Palli^
haben vermacht war. Da hatte inwendig ein und der andere auf der Lausche
gestanden, die mich Unwissenden erhaschten, wie eine Katze eine Maus. Da
ward ich mit neuen Stricken gebunden, daß ich mich weder mit Gehen, noch
Greifen behelfen konnte, sollte entweder Geld geben oder reiche Leute verrathen.
Mußte den Dieben für ihre Pferde im Herrnhof Futter schwingen, den
Pferden zu trinken vorhalten und andere lose Arbeit thun. Da ich mich nun
etwas frei zu sein däuchte. laufe ich davon, aber unwissend, daß vor dem
Hofthor ein ganzer Haufe Soldaten stand, lief ich ihnen also in w Arme.
Welche mich mit Degen und Bandeliren sehr wohl abschlugen, mich besser alt
Stricken verwahrten, und von Haus zu Haus führten, und sollte ihnen sagen,
wem dies oder jenes Haus wäre. Also ward ich auch in mein Haus
geführt, da sehe ick in der Hausflur' den kupfernen Schöpftopf liegen, in
welchem meine Baarschaft. 300 Thlr.. gewesen, und dachte, hättest du das ge-
wußt, daß die Vögel und Füchse weg wären, so wärest du draußen geblieben.
Weil ich nun niemand verrathen wollte, setzte mir einer meine eigene Kappe, die
in meinem Hause aus der Erde lag. auf, und hieb mir mit einem Hirschfänger
auf den Kopf, daß das Blut bei den Ohren herein lief, und war kein Loch
durch die Haube, denn sie war von Filz. Noch mehr", eben dieser setzte mir
aus Muthwillen den Hirschfänger auf den Bauch, wollte Probiren, ob ich fest
wäre, drücket ziemlich hart auf, dennoch wollte Gott nicht, das; er mir weiter
Blut abgewinnen sollte. Zweimal in einer Stunde, nämlich in der Schnei¬
derin Wittich Hof auf dem Mist, zum andern Mal in des Waldmeisters
Stadel haben'sie mir den Schwedische,« Trunk, mit Mistjauche gc-
tteben. dadurch meine Zähne fast alle wackelnd geworden. Denn ich wehrte
mich, als man mir einen großen Stecken in den Mund steckte, so gut ich
Gefangener konnte. Endlich'führten sie mich mit Stricken fort, und sagten,
sie wollten mich aufhängen, brachten mich zum Mühithor hinaus auf die Brücke;
da nahm einer von ihnen den Strick, womit beide Füße zusammengezogen
waren, der andere den Strick am linken Arm. stießen mich ins Wasser, und
hielten die Stricke, womit sie mich regierten, auf und nieder zogen. Und
weil ich um mich schmale und Steurung suchte, erhaschte ich die Rechenstecken,
welche aber auf mich zuwichen, und konnte daran keinen Anhalt finden, nur
daß durch Gottes Schickung mir ein Loch gemacht wurde, daß ich konnte
unter die Brücke schlüpfen. So oft ich mich wollte anhalten, schlugen sie mich
mit gedachten Rechenstccken. daß dieselben entzwei sprangen, wie ein Schul¬
bakel. Als sie sich nun nicht allein müde gebärdete hatten, sondern auch dachten,
'es hätte meinen Nest, ich würde im Wasser ersaufen, lassen sie Heide Stricke
fahren, da wischte ich unter die Brücke, wie ein Frosch, konnte mir keiner
bekommen. Da such? ich im Hosensack und finde ein Messerlein. so sich
zusammenlegen ließ, welches sie nicht ballen haben wollen, ob sie mich schon oft
durchsucht. Damit schnitt ich die Stricke an beiden Füßen los, und sprang hin¬
unter Stockwerk hoch, wo die Mühlräder liegen. Es' ging mir das Wasser
über den halben Leib, da warfen die Schelme Stöcke, Ziegelsteine und Prügel
hinter mir her. um mir den Rest vollends zu geben. Ich war auch willens
mich ganz hinaus zu arbeiten, gegen des Müllers Hintere Thür,- konnte aber nicht,
entweder, weil die Kleider voll Wassers mich zurück dehneten, oder vielmehr
weil Gott solches nicht haben wollte, daß ich da sterben sollte. Denn wie ein
trunkener Mann hin und her taumelt, also auch ich, und komme auf die andere
Seite gegen den hintern 'Brnuhof. Da sie nun merkten, ich würde im
Zwinger aufsteigen. laufen sie alle in die Stadt, und nehmen mehr Gesellen
zu sich, passen unten bei den Gerbhäusern auf. ob ich ihnen kommen würde.
Aber als ich dieses merkte, daß ich jetzo alleine war, blieb ich im Wasser liegen
und steckte meinen Kops unter einen dicken Weidenbusch, und ruhete im
Wasser 4 oder 5 Stunden, bis es Nacht wurde, und vorher in der Stadt
stille wurde; dann kroch ich heraus halb todt, konnte der Schläge wegen
fast keinen Athem holen. Ging hinab bis an die Gerbhäuser, wurde da
gewahr, daß es noch nicht sicher; daß einer dort Gras nahete, einer Gerbers¬
kessel ausriß, und wäre schier auf diesen gekommen. Mußte also da stecken
bis in die Nacht. Ging dann über die Brunncnröhren. den Wasserfluß
immer hinab und kletterte über einen Weidcnstamm, daß ich die andere Seite
gegen Poppcnhausen innen bekam. Als ich an den Poppenhäuser oder Ein¬
öder Weg kam, tags da und dort voll Weißzeug, welches die' Soldaten weg¬
geworfen oder verloren hatten. Ich konnte mich nicht bücken etwas aufzuheben,
kam endlich nach Poppcnhausen, und fand niemand einheimisch, denn Claus
Hör, dessen Frau eine Sechswöchnerin war, der mußte mir die Kleider vom
Leib schneiden, denn ich war verschwollen, legte die nassen Kleider ab, damit
sie trocken wurden. Mußte mir auch ein Hemd leihen, da besah er mir das
Fell, welches ganz bunt von Schlägen, ward endlich mein Rücken und Arme
schwarz vom Geblüte. Den andern Tag gebot mir das schöne Pfarrkind aus,
denn er fürchtete sich, man möchte mir nachstehen und er meinetwegen in Unglück
kommen. Also zog ich die nassen Kleider mit seiner Hilfe um, und ging fein sachte
auf Lindenau zu, immer durch die dicksten Büsche, und hielt mich jenseit in den Lin-
denauer Garten, von denen ich das Dorf sehen konnte. Wurde endlich gewahr, daß
etliche Leutlein in ein Haus gingen, ging darauf zu. man wollte mich aber
nicht einlassen, denn die Furcht war zu groß. Endlich, da sie durch das
Fenster sahen, daß ihr Pfarrer kam. kam ich ein, und blieb etliche Tage bei
ihnen. Denn sie hatten einen im Quartier, der ein Lindenauer Kind war,
der half ein wenig. Ich aber hatte da ein neues Unglück Als der im
Quartier Liegende mit den Lindenauern nach Schloß Einöd ging, da abzuholen,
was sie noch von ihrer Habe fanden, hielt unter der Zeit der Schultheiß,
uird Schmidt und ich auf den Thurm Wache, wir versahen alle drei den Dienst,
es kommen etliche Reiter in das Dorf, sehen uns auf dem Thurm,
gehen stracks auf den Thurm, und finden uns da beisammen. Als wir nun
aus dem un-gestalten Auftreten und Sprache merkten, daß es Reiter wären,
lernte ich leider steigen, so übel mir war. kletterte aus den Glockenstuhl
hinaus, und legte mich wie ein Kätzchen hinter das Uhrhaus; aber es stieg
gleichwol ein Dieb hinan und fand wich. Meine Pfarrkinder sagten, ich
wäre ihr Schulmeister, baten für mich, ich wäre schon von den Soldaten
übel geschlagen worden. Es half nur aber nichts. Dieser Schulmeister
mußte'immer mit herabsteigen, und ging der Schultheiß voran, darnach em
Reiter, ferner der Schmidt, darnach ein Reiter, endlich folgte ich tarclo xeäv.
Als sie nun zum Kirchthor alle hinaus waren, blieb ich drinnen, und regelte
das Thürlein zu. und lief zum andern Thor hinaus und verkroch mich in
einer Rübengrube. Hilf Gott! wie wehe geschah mir. daß ich niederducken
und so auf allen Vieren eine Stunde liegen mußte. Also kam. ich davon.
Meine schönen Mitwächtcr mußten mit in eine Mühle und Säcke mit Mehl
auffassen. — Freitag vor Pfingsten kam ich mit vielen Bürgern nach Koburg am
Sonntag Eraudi. Es hatte'mir ein Dieb meine Schuhe ausgezogen, und mir alte
böse dafür gegeben. die ich fast acht Tage trug, es waren beide Sohlen herausge¬
fallen. Wenn es nun bei Tage Ausreißens galt, dreheten sich die Schuhe ringsum,
und stand oft das vorderste zu hinterst. Mußte mich oft lassen auslachen.
Also kam ich nach Koburg. Nun war mein Martyrium schon vor etlichen
Tagen nach Koburg gekommen, auch die Sage, ich wäre todt gemacht. Als
'es nun selber kam. verwunderten sich Bürger und alte Bekannte. Dr. Kester.
Generalsuverintendent, item Consul Körner luden mich die Pfingstfeiertage
etliche Mal zu Gast, und thaten mir. Weib und Kindern, die Koburger. vier
Wochen lang viel Gutes, wie ich solches in einem Druck am Johannistag ge-
rühmet. - Ach welch ein Jammer und Noth ward da gesehen und gehöret, da
alle umliegende kleine Städtlein : Eisfeld. Heldburg. Neustadt, sammt den Dorf-
schaften sich in der Stadt elendiglich behelfen mußten. Da war heischen und
betteln keine Schande. Doch wollte ich meinen guten Wirth H. Hoffmann. Apo-
theker, nicht gar zu sehr beschweren. Ging mit dem Pfarrer, zu Walburg, Eiscn-
tmut, vie.to» YMsrnM M>,t.in drei Wochen in die Welt, gen Culmbach. Bcu-
reuth. Hirschheid. Altorf. Nürnberg und wieder gen Koburg. Da ich nun fand,
daß mein Weib und Kinder wieder zu Poppenhausen eingezogen waren, und
aufs Neue Gil de Hafische Reiter hatten, zog ich heim, und war weder zu
schleißen noch zu beißen um sie. Was nur Gott auf der Reise be>eherne.
mußte ich aufs Rathhaus tragen und den Soldaten geben, und waren die
Kinder schier vor Hunger verdorben. Denn sie hatten die Zeit über nicht
Kleie genug kaufen können zu Brot. Mein Superintendent H. Grams starb
wegen schwedischen Trunks aus dem Schloß etwa vier oder fünf Wochen nach
diesem Tumult.
Weil nun die Exactivnes und Pressuren immer fort gingen, ich keine
Besoldung haben konnte, und doch neben meiner Pfarre auch die Pfarre zu
Heldburg mußte helfen versehen, ging ich can wstimvirio <K cvuLilio Dr. Kes-
lers und mit Recommandationschreiben gen Eisenach zu Herzog Albert, und
trug Unterschiedlichen im Consistorio meine Armuth vor. Bekam Vergünstigung
und andere Recommandativn an Ihro Fürstl. Gnaden beide Herren Brüder, ob
ich in Dero Landen konnte befördert werden. Also kam ich von Eisenach
nach Gotha. eben als unser Gu> Fürst und Herr Herzog Ernst das
Kaufhaus zur Residenz machen ließ. Denn ich habe die Huldigung zu
Gotha und angesehen. Das Fürstl. Konsistorium ließ mir bald die Pfarre
Röllchen vorschlagen. Weil aber die Notleber mit ihrem alten Pfarrer
disceptirtcn, und vier Wochen Aufschub hatten, ihren Krieg auszuführen,
suadirte H. Dr. Glaß, ich sollte indol-im mit meiner Recommandation nach
Weimar gehen und für meine arme Hausgenossen etwas colligiren. Mein
Vagiren aber währete bis anno 1641. Ich kam Dienstags d. 18. Jan.
wieder nach Gotha, und stand die Pfarre für mich noch offen, welche ich in
höchster Unterthänigkeit und Dankbarkeit angenommen, und W Matth. 20 vom
Weinberg die Probepredigt gethan habe. Ich habe aber zu Röllchen nicht allein
unsicher gelebt, da man täglich ans die Flucht handeln mußte, sondern auch
Streitigkeiten mit den Bauern gehabt, die in Kirchen- und Schulsachen das
Maul immer nach Erfurt hingen, und alle Fürstl. Ordnungen wegen des
Catechrsmi bei ihnen odios waren. Ich Pfarrer mußte das bei dem Rath
und Bauern entgelten, und weil alle Besoldung in der Ländern stak, dazu
ich weder Hofmeister noch andere Mittel haben konnte, daß ich zurecht
gekommen wäre, suchte ich unterthänig an um eine Translocation. Und hat
unser Gu. Fürst und Herr, sobald er nach der Erbtheilung die Pfarre Crock,
und dies Dorf (Heubach) betrachtet, mich zum Pfarrer hierher vorgeschlagen,
welches ich länger, als ein Jahr zuvor erfuhr. Habe also anno 47. diese
Versetzung unterthänig angenommen, und am Sonntage Judica meine Probe¬
predigt gethan, in Gegenwart der H. Commissarien und Eingepsarrten. Die
Voccttion bekam ich des andern Tages, und bin also im Namen Gottes heraus¬
gezogen mit Weib und Kind. Und dies wäre mein vierter Kirchendienst, wo
ich für meine Person begehre zu sterben, so es Gottes Wille wäre, aber mein
Weib sehnet sich weg, wegen großen beschwerlichen Mangels an Dienstboten,
an einen bessern und ebenern Ort. Ich stells Gott und der Obrigkeit heim."
So weit reicht, was von der Biographie Bötzingers erhalten ist. — In
Heubach endlich erlebte er den Frieden, und verwaltete dort noch 2« Jahre
sein Amt. Er starb 167Z. 74 Jahr alt. nachdem er 47 Jahr ein Leben ge¬
führt hatte, dem man das Prädicat „friedlich" nicht geben kann. Heubach
war eine neue Pfarre, welche Herzog Ernst der Fromme von Gotha ein¬
gerichtet hatte. Bötzinger der erste Pfarrer. Er mußte in dem fürstlichen
Jagdhause wohnen. welches Herzog Casimir am Walde sich für die Zeit der
Auerhahnsbalz gebauet hatte. In dem Forsthaus nebenan hauste ein
trotziger Förster, die Gegend war wild, wenig bewohnt und das Volk
durch den Krieg und gesetzloses Waldleben roh. Es scheint, daß der neue
Pfarrer den Waldmenschen nicht besonders willkommen war; besonders der
Förster wurde sein heftiger Gegner, und verstohlen klagt der Pfarrer in latei¬
nischen Distichen, die er in das Kirchenbuch schrieb, seinem Nachfolger das
bittere Leid, welches ihm dieser Diener des Waldes zufüge. Er warnt
den zukünftigen Pastor brüderlich vor der Schlechtigkeit des Mannes und vor
dessen böser Frau. Aber trotz dieser Händel läßt sich schließen, daß der viel-
geplagte Dulder nicht ganz unglücklich gewesen ist. .eine harmlose Selbst¬
beschaulichkeit ist auch aus seinen lateinischen Versen zu erkennen. Als er endlich
starb, wurden, wie damals Sitte war. von ansehnlichen Amtsbrüdern rüh¬
mende Verse auf ihn gemacht, von denen uns lateinische und deutsche erhalten
sind. Sogar Herr Andreas Bachmann, Hofprediger zu Gotha, ein vornehmer
Mann, gönnte „seinem lieben, alten, nunmehr seligen Amtsbruder" die Krone
der Ehre, welche folgendermaßen anfängt und hier schließen soll!
„Martinus Bötzingcr, ein treuer Gottcsknecht.
Im Pfarramt lange Zeit, wie Hiob schlecht und recht,
Doch nimmer ohne Kreuz, ein wohlgeplagter Mann,
Wie seines Lebens Laus des Weitem zeugen kann/ —
Wenn die Reaction fortwährend darüber 'klagt, daß sich der Liberalismus
die deutsche Entwickelung ganz nach dem Maßstab englischer und französischer
Verfassungsformen vorstellt und die Abweichung der deutschen Zustände
außer Acht läßt, so ist dieser Vorwurf nicht un gegründet, aber die Schuld
trifft hauptsächlich die deutschen Regierungen von 1815—48. Blättert man
z, B. in der preußischen Staatszeitung bis 1847, so erstaunt man über das
Geschick, mit welchem die parlamentarischen Verhandlungen von London und
Paris, in zweiter Linie auch die von Madrid, Brüssel u. s. w. behandelt
sind, während sich über Deutschland, einzelne dürftige Hofnotizen, Todesfälle
u. f. w. abgerechnet, kein Wort darin vorfindet. Jene Debatten waren nicht
in dem Sinn einer bestimmten Partei, etwa im Sinn des preußischen Absolu¬
tismus redigirt, sondern ganz objectiv; man konnte sich aus ihnen viel voll¬
ständiger über die Ansichten und Grundsätze der leitenden Persönlichkeiten in
jenen Ländern unterrichten, als aus irgend einer französischen Zeitung. Die
natürliche Folge war. daß sich das gesammte Publicum im hohen Grade
für Guizot, Thiers, Odilon Barrot, für Peel. Russel, Palmerston
interessirte, während es von den Staatsmännern, auf welche bei Preu¬
ßens Zukunft zu rechnen war, nicht einmal die Namen wußte. Zwar
brachten die liberalen Blätter Süddeutschlands einige Notizen von den
Kammerverhandlungen der kleinen deutschen Staaten, aber diese beschränkten
sich entweder auf Localsragen, für die man anderwärts kein Verständniß er¬
warten durfte, oder sie waren nur ein schwacher Abklatsch von dem großen
Schauspiel, welches in London und Paris ausgeführt wurde. Die politische
Beschäftigung muß entweder von einem bestimmten realen Interesse ausgehn,
oder sie muß die Phantasie anregen, und sür das Letztere sorgten die
Leiter in England und Frankreich und ihre Verb/endete, die preußische Staats¬
zeitung, in hinreichendem Maß. Als nun bei dem Antritt des jetzt regieren¬
den Königs der Presse eine freiere Bewegung verstattet wurde, als die alt¬
ehrwürdigen Institute Berlins die Budcnfragc an der Schloßfreiheit und
Probleme von ähnlicher Tragweite behandelten, ließen sich die Provinzial-
blätter, welche nun die Führung der Opposition übernahmen, die Lehren der
Staatszeitung wohl gesagt sein: sie behandelten die deutschen Zustände nach
den Gesichtspunkten der französischen Parlamentsredner. Es machte zuweilen
einen ganz wunderlichen Eindruck, wenn Stichwörter, die für Deutschland gar
keinen Sinn hatten, und abstracte Bezeichnungen, denen die entsprechenden
Thatsachen fehlten, ohne Weiteres der neuen Politik zu Grunde gelegt
wurden. Als man in Berlin einen Localverein zur Hebung der nothleiden¬
den Classen gründete, schien das Exercitium in den parlamentarischen Formen
der Hauptzweck zu sein- auch hier hatte man eine äußerste Rechte und äußerste
Linke, ein rechtes und linkes Centrum und einen Tiers-Parti; es regnete von
Amendements. Interpellationen, Präsidentenwahlen u. d.- g.. und man konnte
schon damals wahrnehmen, daß es uns erforderlichen Falls an „ehrenwerthen"
Rednern nicht fehlen würde. Nun kam die große Ueberraschung des vereinigten
Landtags, dessen Verhandlungen die Staatszeitung neben den englischen und
französischen ausführlich mittheilte. Es hätte sich daraus eine sehr gedeihliche
Entwicklung der politischen Gewohnheiten herleiten lassen, wenn nicht die
Regierung geflissentlich das Ansehn dieser höchst loyalen Versammlung, die
sie doch selber ins Leben gerufen, untergraben hätte. Wenn man auch rechts
und links an die fleißige Lectüre der preußischen Staatszeitung d. h. der
französischen Redensarten erinnert wurde, so waren die Mitglieder dieser Ver¬
sammlung doch durchweg Männer, die innerhalb des Staats ein bestimmtes
Interesse zu vertreten hatten, und jeder in seinem Kreise vollständig wußten,
um was es sich handelte. Richtete das Publicum zunächst, wie es sich von
selbst versteht, seine Aufmerksamkeit auf die sogenannten allgemeinen Fragen,
so Hütte es sich mit der Zeit daran gewöhnt, auch die Wichtigkeit der Spe¬
cialitäten zu begreifen, der landwirthschaftlichen, gewerblichen Verhältnisse u. s. w.
Die Unruhen von 1848 leiteten die öffentliche Meinung wieder in die ent¬
gegengesetzte Richtung, und die abstracte Politik, das einseitige Parteiinteresse
dominirte für mehre Jahre die öffentlichen Verhandlungen. Wenn sich jetzt in
dieser Beziehung eine gründliche Reaction wahrnehmbar macht, so verdankt man
das zum Theil dem so viel geschmähten Materialismus. Die Noth hat die Men-
schendcchin gebracht, sich um den concreten Inhaltder Zuständezu kümmern, und ohne
deshalb die Formfragen bei Seite zu setzen, die Politik wieder auf ihre
eigentliche Basis zu beziehen, auf die Volkswirthschaft, das Recht u. s. w.
Wenn daher die Kammerverhandlungen und die Zeitungen gegenwärtig einen
viel weniger brillanten Eindruck machen als 1848, ja als 1842 und 184».
so ist das nur ein scheinbarer Rückschritt. Denn früher handelte es sich nur
um allgemeine Wünsche, und die Parteien schienen sich einander zuzurufen:
fürchte dich, damit ich mich nicht fürchte! jetzt dagegen kämpft Einsicht gegen
Einsicht, und die Bureaukratie, die früher den Liberalismus als eine jugend¬
liche Schwärmerei bemitleidete, hat jetzt alle Kräfte aufzubieten, um in den
materiellen Fragen den vollwichtigen Gründen der Presse und der parlamen¬
tarischen Opposition zu begegnen. Durch diese gründlichere Einsicht in die hei¬
mischen-Zustände lernt man auch das Ausland richtiger würdigen, und während
früher die Leser der Staatszeitung nur die Außenseite des Parlamentarismus
gewahr wurden, bemüht sich jetzt jedes der neuen Blätter, seinen Leser hinter
die Coulissen einzuführen.
Bei der flüchtigen Lektüre der Zeitungen bemerkt man häusig nicht, mit
was für ernsthaften Fragen man sich beschäftigt hat; zudem wird der Zu¬
sammenhang oft unterbrochen, und die Erinnerung reicht nicht aus, alles das
zu ergänzen, was die Zeitung doch nicht beständig wiederholen kann. Eine
Sammlung, wie die europäische Chronik, d. h. eine verständig geordnete
und durch spätere Erfahrung berichtigte Wiederholung des politischen Materials
ist ein sehr dankenswerthes Unternehmen. Der Plan des Verfassers ist durch¬
weg zu billigen, er gibt die Thatsachen in der Umständlichkeit, die noth¬
wendig ist, um ein wirkliches Interesse zu erregen, druckt die hauptsächlichen
Actenstücke vollständig ab, und stellt zur Bequemlichkeit des Lesers die erläu¬
ternden Notizen, die man sonst mühsam aus statistischen und andern Hand-,
büchern aufsuchen mußte, an der Spitze jedes Capitels zusammen. Wenn er
sich in seinen Gesinnungen zu der Partei hält, welche auch in unsern Blättern
vertreten wird, so bemüht er sich doch, jede Parteirücksicht zu entfernen, und
nur die Thatsachen reden zu lassen; ja er geht in seiner Objectivität in einer
Beziehung zu weit. Er theilt nämlich bei allen bedeutenden Ereignissen, auch
wenn später durch urkundliche Mittheilungen die Sache völlig aufgeklärt ist,
die früheren Ansichten und Conjecturen der verschiedenen Zeitungen mit. weil
sie nach seiner Ansicht als Stimmen der Zeit Benchtung verdienen. Wir glau¬
ben, daß er diese Sorgfalt übertreibt. Die Zeitung ist verpflichtet, täglich
ihren Lesern mitzutheilen, was sie selber weiß, aber nur in außergewöhnlichen
Fällen wird es von Interesse sein, zu erfahren, in wie weit sie darin geirrt
oder das Richtige getroffen hat. In den Fortsetzungen des Jahrbuchs wird
der Verfasser durch ein beschränkteres Eingehn auf diese Ephemeren hoffent¬
lich einen größeren Raum gewinnen.
Wenn man den Inhalt dieser Chronik erwägt, so tritt wol für jeden
Unbefangenen die Ueberzeugung hervor, daß für die nächste Zeit an eine
größere Action nicht zu denken ist. Die gewaltigsten Mächte Europas haben
in der orientalischen Frage ihre Kräfte aneinander gemessen, ohne zu einem
erheblichen Resultat zu gelangen; jede ist wachsam auf die andere, und wenn
die Diplomaten geschäftig sind, neue Combinationen und Bündnisse zu Stande
zu bringen, so läßt sich doch ohne große Prophetengabe annehmen, daß diese
im Augenblicke, wo es zur Action kommen soll, an dem stillschweigenden
Widerstand aller übrigen Staaten scheitern werden. Aber diese politische Muße
ist grade die rechte Zeit, die Gesinnung der Menge für eine zukünftige Ent¬
wickelung zu bearbeiten. Bei dem factischen Dualismus, der in Deutsch¬
land herrscht, liegt die Kernfrage aller allgemeinen Politik darin.-ob der
Schwerpunkt der Entwickelung nach Oestreich oder nach Preußen fällt.
Wir haben seit Jahren die letztere Ansicht vertreten, wundern uns aber acht,
wenn bei dem unverkennbaren Aufschwung Oestreichs und der geschickten
Taktik seiner Regierung auch die entgegengesetzte im Publicum Raum gewinnt.
Es läßt sich von dem neuen Oestreich sehr viel Gutes sagen und wir nah¬
men daher unser Jahrhundert, welches augenscheinlich im Sinn der
östreichischen Propaganda rcdignt ist. wenn es auch im Programm heißt:
„von der Einseitigkeit der Parteirichtungen, welche in der jüngsten Vergangen¬
heit wurzeln, wird man sich frei zu erhalten bemüht sein" mit einigem Inter¬
esse zur Hand. „Die Gesellschaft, die sich zu diesem Unternehmen verbun¬
den hat. und sich des aufrichtigen Bestrebens bewußt ist. ihrer Nation da
durch einen Dienst zu leisten, dürfte sich, auch was literarische Befähigung
und Ruf betrifft, nicht scheuen, Namen zu nennen; sie hat aus Gründen,
die vielleicht errathen werden, beschlossen, daß die Nation einzig und
allein von der Einsicht in den Inhalt der ersten Hefte ihre Theilnahme ab¬
hängig machen solle." Indeß gleich nach den ersten Seiten wird man ent¬
täuscht. Die zehn bis zwölf Redensarten, welche darin vorkommen, sind die
zehnte oder zwölfte Auflage der zehn bis zwölf Redensarten, in denen sich der
bekannte Schriftsteller Diezel bewegt. Zwar wird man in sofern wieder
me. als das Vocabularium der Schimpfwörter dies Mal in mäßigere An¬
wendung gebracht ist, aber vielleicht hat die Redaction etwas gestrichen, und
jedenfalls.'wenn der Biograph Steins nicht Diezel selbst ist. so muß er einen
Doppelgänger haben. Was aber Diezel über das Verhältniß Oestreichs
zu Preußen denkt, ist bereits bekannt. Preußen ist ein Territorialstaat, dessen
Wesen darin liegt, sich nie zu einer großstaatlichen Politik erheben zu können.
Wenn das mitunter doch zu geschehen scheint, so ist das nur eine Anomalie.
Preußens Wesen besteht darin, seine Besonderheit vermittelst des Auslandes
zu erhalten (S. 18). Preußen verdankt seine Stellung in Deutschland nur
dem Einfluß des Auslandes (S. 18-. das nur hat der Verfasser selbst unter¬
strichen); Preußen verdankt Frankreich gradezu seine Großmachtstellung is. 8).
Es ist nicht nöthig, von diesen Hanswurstiaden noch mehr mitzutheilen. Wie
schön sticht dagegen Oestreich ab! es hat die deutsche Kaiserkrone mit so viel
Ehre, als ihm die Zustände des Reichs irgend gestattet, getragen (S. 3); es
hat zwar im siebenjährigen Krieg das gesammte Ausland, namentlich Nu߬
land und Frankreich gegen Preußen gewaffnet; aber das war ganz in der
Ordnung u. s, w. Nebenbei werden der deutschen Aristokratie ziemlich er¬
hebliche Komplimente gemacht. Die Verbindung Steins mit dem preußischen
Staat wird „eine unglückliche Ehe" genannt, und dieser interessante Einfall
wird mehrmals wiederholt. - Ein Anderer, der sich L. N. unterzeichnet, be¬
schreibt Fichtes Leben in derselben Art. wie es schon mehrmals geschehen ist.
die eigenthümliche Tendenz ist nur, nachzuweisen, daß Fichte nicht den Schock-
punkt der deutschen Entwickelung in Preußen gefunden habe. Die Beweis¬
führung S. 115 ist ungewöhnlich. „Fichte sagt in seinen Gesprächen über
Patriotismus: der in Preußen lebende Deutsche könne nichts Anderes wollen,
als daß, zunächst in dieser Staatseinheit, der deutsche Nationalcharakter her¬
vortrete und von da sich über die übrigen deutschen Stämme verbreite."
„Nur einmal in einer Stelle des Entwurfs zu einer politischen Schrift vom
Frühjahr 1813, hat Fichte etwas wie den „deutschen Beruf Preußens"
im Auge. Die Frage behandelnd, welcher von beiden deutschen Großstaaten
geeigneter sei für ein deutsches Kaiserthum/ räumt er Preußen den Vorzug
ein. weil es nicht wie Oestreich außerdeutsche Interessen zu verfechten habe.
Der Geist seiner bisherigen Geschichte, setzt er hinzu, zwingt es fortzuschreiten
in der Freiheit, in den Schritten zum Reiche, nur so kann es fortexistiren,
sonst geht es zu Grunde." — Damit ist natürlich bewiesen, daß Fichte den
Schwerpunkt deutscher Entwickelung nicht in Preußen findet; um so mehr da er
hinzusetzt, daß diejenige Partei, die auf Absonderung Preußens von Deutsch¬
land dränge, gegen den preußischen Geist handele. — Offener geht der
dritte Mitarbeiter zu Werk, der sich N. unterzeichnet, und das Leben des Mi¬
nisters Brück beschreibt. Oestreich ist unter allen deutschen Staaten der ein¬
zige, der nicht durch Auflehnung gegen Kaiser und Reich entstanden ist;
„aber die Consequenzen dieser Abnormität kamen eben nur bei Preußen, die¬
sem ganz bürgerlich durch Kauf entstandenen, auf keiner naturwüchsigen Stamm¬
grundlage fußender, durch seine ganze Stellung zu ehrgeizigen Plänen beson¬
ders berufenen Staate mit seiner vorwiegend protestantischen und verständig-
kritischen Bevölkerung zur Reife und Ausbildung." Wie gemein sieht doch
dieser bürgerliche Ursprung Preußens aus, da das aristokratische Oestreich
sich durch Heirathen vermehrt hat.
IZolls, Mi'3.M alii, tu deux ^.u«erit>,, nul>0!
In Folge dieses verschiedenen Ursprungs hat Preußen stets zwischen Li¬
beralismus und Reaction geschwankt, „während man in Oestreich in der
Abwehr der freiheitlichen Elemente sich immer getreu blieb." (S. 125) 1849
ist für Oestreich die Periode der Umkehr, „nicht zwar in dem Sinn einer
Angliederung, wie man ihn bei Preußen vorfand, wol aber in dem, künftig¬
hin für Deutschland zu werden, was es immer hätte sein sollen: als erster
deutscher Großstaat auch erster Vertreter der deutschen Nationalinteressen,
Deutschland Stärke gebend und von Deutschland Stärke erhaltend." Ja
wol! Die Paciscirung Hessen-Kassels und Schleswig-Holsteins waren der
Anfang. — Nun werden die bruckschen Denkschriften über die deutsche Handels¬
einigung paraphrasirt, mit dem Refrain: „man wird bekennen, mit einer
Organisation, wie die hier in Aussicht genommene, wäre ungefähr dasjenige
gegeben, was vom nationalen Gesichtspunkt für das Gedeihen unserer Volks-
Wirthschaft wünschenswert!) und zugleich unerläßlich ist." Der Anschluß Bel¬
giens. Hollands/Dänemarks. Italiens an diesen volkswirthschaftlichen Verein
solle zugleich „eine politische Föderation zwischen all diesen Ländern" hervor¬
bringen; damit wäre freilich das Schleswig-holsteinische Problem gelöst! Mit
der Zeit soll auch ein allgemeines Parlament daraus hervorgehn. an dem sich
Ungarn. Serben und Kroaten betheiligen (S, 164). Nun die charakteristische
Stelle. S. 166: „Je härter der Widerspruch wird (zwischen Oestreich und
Preußen), desto eher muß sich die Lösung herausarbeiten; vor allem wird
sich die Nothwendigkeit, aus dem gegenwärtigen Verhältniß der deutschen
Staaten, nach Beseitigung der thatsächlichen Hindernisses, in em
bundcsstaatliches überzugehen, täglich gebieterischer entwickeln, wenn auch
Oestreich selbst jenen Theil des bruckschen Programms, welcher den Bundesstaat
eigentlich schon voraussetzt, fürs Erste nicht weiter betonen und an dem
Niederfallen der Zollschranken, sich genügen lassen sollte. Nur wird es sich
dann gefallen lassen müssen, von Zeit zu Zeit an den Ausspruck (der
bruckschen Denkschrift) erinnert zu werden, daß. wenn der deutsche Zollverein
nicht auch zum politischen wird, die Zerwühlung der gesellschaftlichen Zustände
fortdauern werde, und ebenso^ daß heute, „wo alle Völker nach gründlicher
Verbesserung ihrer politischen und socialen Zustände streben, jeder versäumte
Tag ein unwiederbringlicher Verlust ist u. s. w."
Die Hauptsache wäre, zu erfahren, wer diese Anträge stellt? Wer sind
die Herren L. N., N. u. s. w.? Es wäre nicht unwichtig, darüber Auskunft
M erhalten. Dem preußischen Staat kann es sehr gleichgiltig sein, wenn ob-
scure Scribenten ihn beschuldigen, er verdanke seine Großmachtstellung
französischem Einfluß; aber der östreichischen Regierung muß daran liegen,
daß man nicht etwa den Verdacht erregt, sie habe dabei ^die Hände im Spiel.
Beide Staaten. Oestreich und Preußen, verfolgen mit unablässigem Eiser ein
ernstes, historisch berechtigtes Ziel des Ehrgeizes, und da diese miteinander
collidiren. so wird es vielleicht noch einmal zu einem Zusammenstoß kommen;
die Weltgeschichte wird entscheiden, wessen Recht das tiefer begründete war.
Aber beide Staaten stehn zu hoch, um in diesem Kampf ein Mittel anzuwenden,
das nur Ohnmächtigen ziemt, das Mittel der Schmähung. Um so weniger
'se jetzt der geeignete Zeitpunkt, da sür die nächste Periode die ehrgeizigen Ent¬
würfe des einen wie des andern Staats n-icht die ^ geringste Aussicht haben
sich zu erfüllen; weder wird Preußen die norddeutsche Union zu Stande
bringen, noch Oestreich den mitteleuropäischen Staatenbund. Beide haben jetzt
eure sehr bestimmt vorgezeigete Aufgabe, die deutsche Ehre in dem Punkt
;u wahren, wo sie wirklich gefährdet ist, in Schleswig-Holstein. Nur das
N-MMZü^j,-.»!','-''''''
einträchtige Zusammenhalten der beiden deutschen Großmächte kann in dieser
Angelegenheit eine günstige Entscheidung vermitteln, und jeder Versuch diese
Eintracht zu gefährden, verdient gebrandmarkt zu werden.
Was nun aber den Umstand betrifft, den auch die Mitarbeiter unsers
Jahrhunderts widerwillig zugeben, daß tue bei weitem größere Mehrzahl
der Gebildeten sich allmälig die Ueberzeugung angeeignet hat, die deutsche
Entwicklung falle mit der preußischen in der Hauptsache zusammen, so kann
.er nur völlig verstanden werden, wenn man die Gesinnung ernster Männer,
die von einem lebhaften deutschen Vaterlandsgefühl erfüllt waren, und zu die¬
sem Resultat kamen, ohne Preußen durch Geburt oder Stellung anzugehören,
genetisch verfolgt. Am lehrreichsten sind solche Schriftsteller, die ursprünglich
starke Antipathien zu bekämpfen hatten / wie z> B. Paul Pfizer, der als
Schwabe dem preußischen Wesen am wenigsten befreundet war. Seit dem
vorigen Jahr ist man wol allgemein überzeugt, daß unter den Trägern dieser
Sache Friedrich von Gagern der hervorragendste Charakter war. Der
zweite Band seiner Lebensbeschreibung, mit dem das Werk, da der dritte
Band vorausgegangen war, abgeschlossen ist, wird den Unbefangenen in
dieser Ueberzeugung bestärken. Zunächst greift wol jeder Leser nach dem
ete. Capitel in welchem die vertrauten Briefe der Familie Gagern von der
Rückkehr des Generals aus Ostindien bis zu seinem unglückseligen Tode mit¬
getheilt sind. Neue Thatsachen erfährt man nicht, aber man versinnlicht sich
die Stimmungen und Motive der leitenden Persönlichkeiten, Es kostete Hein¬
rich von Gagern einen schweren Kampf, die durch seine frühere historische
und politische Bildung, zum Theil auch durch den Einfluß seines Bruders
gewonnene Ueberzeugung, daß Preußen in dem neu zu bildenden Bundesstaat
die Hegemonie übernehmen müsse, auch dann fest zu halten, als die furcht¬
bare Erschütterung 'dieser Monarchie am 18. März allen frühern Voraus¬
setzungen zu widersprechen schien. Und hier ist es wohlthuend und überzeu¬
gend, daß dem warmen und beweglichen Gefühl Heinrichs de-r entschlossene
unerbittliche Verstand seines Bruders zur Seite trat, und daß beide unabhängig
voneinander aus das nämliche Ziel zusteuerten; ja daß auch der Bater, der
in seinem wechselvollen Leben den Einsturz so mancher Illusionen durchgemacht
hatte, und dessen Sympathien ursprünglich nach einer andern Richtung gingen,
im Wesentlichen ihnen beitrat. Die flüchtig hingeworfenen kleinen Briefe
versinnlichen uns deutliche? die Gemüthsbewegungen, von denen dieser Bildungs-
proccß begleitet war. als die parlamentarischen Reden, die doch immer
bis zu einem gewissen Grad zurecht gemacht waren. — Daß Heinrich von
Gagern das unglückselige Ereigniß von Kandern durch ausführliche Mittheilung
aller Actenstücke noch einmal vor die Seele führt, mag man seiner brüderlichen
Pietät zu Gute halten- sein Perlust war groß, aber der Verlust Deutschlands
war nicht kleiner. - Die übrige» Eapitel enthalten die belgische Revolution
1830—3t. die Sommertage und Winterquartiere in Nordbrabant bis nach
dem Friedensschluß zwischen Holland und Belgien 1831-3». den Dienst bei
der niederländischen Cavalerie 1839--14 und die Sendung nach Ostindien
1844—47. Das Geschick Gagerns. durch kleine, scheinbar unbedeutende Feder¬
striche einen Charakter und eine Situation scharf zu umreißen, ist aus deu
Tagebüchern des dritten Bandes bereits bekannt. Insofern sind diese^ spora¬
dischen Mittheilungen auch für den künftigen Historiker von großer Wichtig¬
keit; fast ebenso wichtig als Röderers Tagebücher für die Geschichte des Con-
sulats. Daneben finden sich noch gehaltvolle Züge, die das schöne Bild der
edlen und männlichen Persönlichkeit, das wir ans dem dritten Bande ent¬
nommen haben, erfreulich ergänzen; an dem Eindruck des Ganzen wird da¬
durch nichts verändert. Mit Erhebung, aber freilich auch mit Wehmuth über
den unersetzlichen Verlust, legen wir das Buch ans der Hand.
Was ist es nun. das diesen echten Freund des deutschen Vaterlandes,
der Preußen nichts verdankte, und dem das Berlinerthum gewiß ebenso zu¬
wider war. als es jedem Gebildete« zuwider ist, was ist es, das seine Gleich¬
gesinnten. das Philosophen. Historiker. Staatsmänner bestimmt hat. den
Glauben an die Fortdauer Deutschlands an die Entwicklung des preußischen
Staats zu knüpfen, obgleich dieser Staat es an Schwächen und Zmonseqnenzcn
zu keiner Zeit hat fehlen lassen? — Der Grund liegt freiliä, zum Theil
in der äußern Nothwendigkeit. So viel geistige Einflüsse und Bewegungen
dazu beitragen können. Deutschlands Wiedergeburt vorzubereiten, so weiß man
doch sehr wohl, daß die letzte Entscheidung nnr von demjenigen gegeben wer¬
den kann, der Eisen in die Wagschale zu werfen hat. Allein dieses Motiv
der Berechnung würde der Phantasie keine Beschäftigung geben. Wenn man
von Preußen spricht, so denkt man vielmehr stets an den Staat Friedrich des
Großen.
Man vcrsinnliche sich die unglückselige Periode des Elends und der Schmach
seit dem dreißigjährigen Kriege, in der selbst die Hoffnung einer bessern Zukunft
verloren schien. Der Erste, der den Deutschen wieder Selbstgefühl einflößte,
war der Sieger bei Fehrbellin.. Freilich sagt man von Friedrich dem Gro¬
ßen nicht mit Unrecht, er habe den preußischen Staat geschaffen, aber er
konnte es doch nur. weil er das geeignete Material vorfand. Er war der
Erbe des großen Kurfürsten. Daß das winzige Preußen sieben Jahre lang
den gesammten Streitkräften Europas erfolgreich widerstehn konnte, hat frei¬
lich nur der Genius Friedrichs möglich gemacht. Aber daß diese Reihe von
Siegen dem deutschen Naüonalgcfühl den Impuls gaben, sich ebenbürtig neben
das Selbstgefühl der Briten und Franzosen zu stellen, dazu war noch ein
andrer Umstand nöthig. Auch die Oestreicher haben reiche Vorbecrn gepflückt.
Die Siege Eugens gegen die Türken und Franzosen, die Thaten Laudons
und andrer östreichischer Feldherrn im siebenjährigen Kriege reichen zwar nicht
an die Wundervaren Erfolge Friedrichs, aber sie werden in den Jahrbüchern
der Geschichte mit Ruhm genannt werden. Woher kam es denn, daß sie das
Bewußtsein der Nation nicht erfüllten, wie die Siege bei Roßbach, bei Zorn¬
dorf, ja der Sieg bei Leuthen?
Weil Friedrich so glücklich war, in der Belebung des deutschen Geistes
den entscheidenden elektrischen Funken zu treffen. Joseph II. war gewiß kein
gewöhnlicher Mensch; was er für seinen Staat erstrebte, war verständig'
zusammenhängend, den Bedürfnissen der allgemeinen europäischen Bildung
entsprechend; er wollte wie Richelieu, wie Ludwig XIV., wie Friedrich II..
den Staat zu einer absoluten Macht erheben, alle brauchbaren Kräfte des
Volks in seinen Dienst ziehen, den übrigen, die ihn nicht störten, freien
Spielraum gewähren. Dasselbe wollte Friedrich, aber während ihm der Jubel
und die Begeisterung seines gesammten Bolkes, der Beifall Deutschlands und
Europas entgegenkam, begegnete Joseph nur Kälte, Abneigung, heftigem
Widerstand, endlich allgemeinem Haß. Es reicht nicht aus, einen großen
Willen zu haben, um einen neuen Staat zu schaffen, ein neues Princip in
die Geschichte einzuführen. Auch daß Friedrich persönlich bedeutender war,
als sein Nebenbuhler, entscheidet die Sache noch nicht, der Hauptpunkt ist,
in Friedrich verkörperte sich der preußische Geist zu seiner genialsten Erschei¬
nung. Joseph hatte nichts vom östreichischen Geist. Der östreichische Geist
fand seinen Ausdruck in Metternich. Metternich hat sein Princip übertrieben
und deshalb in mancher Beziehung schädlich gewirkt, aber auch er war kein
kleiner Mensch, und er verstand die Natur seines Staats besser, als die Män¬
ner von 1848.
Einen Wechsel in der Politik findet man bei beiden Staaten, auch in
Oestreich zeigen sich fortwährend liberale, reformatorische Velleitäten, aber
sobald sich das Gleichmaß herstellt, tritt in beiden der ursprüngliche charak-
teuflische Geist hervor. Preußen, das Kind der Reformation, des Staats¬
absolutismus, der Ausklärung, reformirt. sobald es zur Besinnung kommt,
während Oestreich, an den Katholicismus geheftet und aus einer Conglo-
meration der verschiedenartigsten einander widerstrebenden Elemente hervor¬
gegangen, in dem gleichen Fall die conservative Fahne aufsteckt. Oestreich
ist in diesem Augenblick in der glänzendsten Phase des Reformirens, und doch
schließt es das Concordat und doch beschränkt es die Presse, jetzt, wo alle
Schrecken der Revolution längst überwunden sind. Die Geschichte ist doch
eine stärkere Macht, als man glaubt. Friedrich hat seinen Staat geschaffen,
aber nicht aus dem Nichts, und seine Schöpfung ist nicht in Nichts zerflogen.
In den Zeiten der höchsten Noth hat man nicht blos die bürgerliche Frei-
heit hergestellt, nicht blos die Verwaltung solid organisirt, man hat Berlin
zum Mittelpunkt der wissenschaftlichen Bildung in Deutschland gemacht. Daß
unter den Männern, an welche sich die Wiedergeburt Preußens knüpft, Stein,
Blücher, Gneisenau, Humboldt. York. Schön. NKbuhr, Schleiermacher u. s. w.
einige von Geburt nicht zu Preußen gehörten, thut nichts zur Sache; feiert
doch auch Oestreich mit Recht in Prinz Eugen den östreichischen Helden.
Es sind grade hundert Jahre her. daß die schwarzweißen Fahnen, wenn
auch gegen Deutsche, doch zur Ehre des deutschen Namens sich unsterblichen
Ruhm erworben haben, man lese die lebensvollen Bilder, die Professor Ku-
tzcn von den Schlachten bei Kollin und Leuthen entwirft; welcher
Deutsche wird nicht warm, wenn sich die Heldengestalt Friedrichs vor seiner
Phantasie entfaltet! Consistorialrath Stahl und Redacteur Wagener haben
zwar in Zeiten allgemeiner Verwirrung die schwarzweiße Fahne aufgesteckt,
aber das ist noch kein Zeichen, daß sie ihnen wirklich zukommt. Friedrich ist
der Genius des preußischen Staats: specifisch preußisch ist, was seinem Geist
entspricht, nicht das Gegentheil. Die Preußen sind, wie Vincke in der Pauls-
kn'che ganz richtig bemerkte, deutsch, und sie wissen es auch; sie wissen, daß
sie nichts sind, wenn sie nicht deutsch sind; und die schwarzweißen Fahnen,
die in Fehrbellin, in Roßbach, in Leipzig und Waterloo zu Ehren Deutsch¬
lands geweht haben, werden auch in der Zukunft ihrer Geschichte keine
Schande machen. .
— Die Verhandlungen über den Suez-
kanal, aus Anlaß deren Herr Ferdinand de Lesscps hierher kam, rücken mehr und
mehr ihrem Ende entgegen, und es scheint keinem Zweifel mehr zu unterliegen, daß
Napoleon III. im nächsten Jahre Frankreich mit der Nachricht von ihrem Schluß
und der, wenn auch ein wenig modificirten Annahme des französischen Projects
durch die Pforte wird überraschen können, Am letzten Sonnabend gab Aali Pascha,
der Minister der auswärtigen Angelegenheiten, aus Anlaß der Anwesenheit des vor-
gedachten französischen Staatsmannes ein glänzendes Diner, zu dem alle Mitglieder
sowol der Gesandtschaft des Herrn von Thouvenel. wie auch des osmanischen
Cabinets eingeladen waren. Neben dem genannten Chef der französischen Legation
saß der Großvczicr Raschid Pascha, und beide unterhielten sich auf das freundlichste
miteinander. Wol mit Recht zieht man daraus den Schluß, daß nach der Abreise
Lord Redcliffes das gute Einvernehmen zwischen den beiden einander lange feindlich
gcgcnübcrgcstandcnen bedeutenden Männern vollkommen wieder hergestellt worden ist.
Was man von dem Resultate der über den Suezkanal geführten Unterhandlungen
hier weiß, reducirt sich auf die Thatsache, daß die Zustimmung zur Ausführung
selbst vom hiesigen Gouvernement nicht weiter beanstandet wird, und daß man
lediglich Bedenken trägt, dem französischen Ansinnen zu willfahren, wonach der Kanal
zu einem allen Nationen und zu jeder Zeit offenstehenden Verkehrswege erklärt und
der Pforte das Recht abgesprochen werden soll, denselben unter gewissen Umständen
einzelnen Flaggen zu schließen. Die Ausführung des Durchstichs wird Verhältnisse
von so eigenthümlicher Natur schaffen, daß es Schwierigkeiten haben mag, sich in
dieselben hineinzudenken. Gesetzt den Fall, der Kanal sei vollendet, und die
Pforte entäußere sich des Rechtes, ihn für gewisse Flaggen unter Umständen, also
wenn Krieg zwischen ihr und den Mächten besteht, welche von jenen repräsentirt
werden, zu schließen, so wird dadurch ein Zustand statuirt, der bis dahin durchaus
unerhört gewesen ist. Es darf dies an und für sich indeß nicht als so wichtig an¬
gesehen werden, wie die sich daraus ergebenden Consequenzen, Die Befugniß, den
das Mittel- und rothe Meer verbindenden Scekannl zu schließen, würde der Türkei
eine ungemessen größere Bedeutung verleihen, wie ihr aus der Herrschaft über
die beiden, die mittelländische See und den Pontus verbindenden Meerengen er¬
wachsen. Die osmanischen Staatsmänner erkennen dies sehr wohl und sie sind
durchaus nicht geneigt, indem sie die Bewilligung zur Ausführung des Kanals er¬
theilen, zugleich die ihrem Lande daraus erwachsenden günstigen politischen Chancen
aus der Hand zu gebe». Es ist schwer zu bestimmen, wie in Hinsicht auf diese
Ncbenpunkte die Partie steht; äußerst wenig nur dringt darüber aus den Konferenz¬
sälen hinaus ins Publicum, aber, wie schon oben ausgesprochen wurde, sind die
Meinungen darüber durchaus einig, daß man eine Entscheidung noch in wenigen
Tagen zu erwarten hat.
Was die Stellung Oestreichs zu der in Rede stehenden Frage angeht, so weiß
man seit länger als einem Monat, daß es sich dein französischen Verlangen an¬
geschlossen hat, was nicht auch von Nußland zu sagen ist. Letztere Macht würde
es, aus begreiflichen Gründen, lieber sehen, wenn der Pforte das Recht zugestanden
würde, Befestigungen an den beiden Ausgängen des Kanals zu errichte» , und den¬
selben im Kriegsfall der feindlichen Flagge zu schließen; denn da ihre (die russischen)
Häfen im Pontus. die doch bei einem kriegerischen Zerwürfniß mit der Türkei ver¬
möge des Bosporus und der Dardanellen abgeschnitten sind, bei dem asiatischen
Handel allein in Betracht kommen, so kann aus der bezüglichen Stipulation für
Rußland' kein Nachtheil erwachsen. Am entschiedensten scheint es in Englands Inter¬
esse zu liegen, daß die Meerenge befestigt werde. Es darf noch auf eine lange Zeit
hinaus hoffen, in Konstantinopel den dominirenden Einfluß zu üben, und damit
nach freiem, eigenen Belieben über das Auf und Zu des wichtigen neuen See-
thors zu verfügen. Von einer Einmischung des Gouvernements der Vereinigte»
Staaten oder Preußens in diese Angelegenheit, habe ich nichts erfahren; ich ver¬
muthe sogar, daß nach der Abreise des Herrn Karrol Spence erstere Macht Hierselbst
gar nicht politisch vertreten ist. Als den Nachfolger des Genannten bezeichnet man
einen Mr. Buchanan, muthmaßlich ein Verwandter des jetzigen Präsidenten.
In Hinsicht aus sonstige Vorkommnisse ist nur zu erwähnen, daß neuerdings
eine große Anzahl hiesiger bedeutender Bankiers und Kaufleute von der Regierung
die Aufforderung erhalten haben, im Verein mit mehren osmanischen Staatsbeamten.
insbesondere mit dem Finanzminister Hassib Pascl a und dem Münzdircctvr TüzOghlu
über die Lage der türkischen Finanzen in Berathung zu treten. Es ist hierin nur
ein ernstere und weitgreifende Beschlüsse vorbereitender Schritt zu erkennen. Was
zu erwarten steht, ist schwer schon setzt zu definiren, indeß werden muthmaßlich die
nächsten Wochen schon Licht in der Sache verschaffen. Nach Einigen handelt
es sich nur nichts Anderes, als um eine Wiederaufnahme der im Juli ab¬
gebrochenen Unterhandlungen . wegen einer, unter starker Mitwirkung des hiesigen
Haudclsstandcs zu errichtenden osmanischen Nationalbank.
In Hinsicht auf ti.c Eisenbahn zwischen hier und Trieft, von der ich Ihnen schrieb,
daß das sie betreffende Project die lebhafte Unterstützung der hiesigen französischen
Legation fände, habe ich noch zu bemerken, wie es mehr und mehr den Anschein
gewinnt, als könne dieselbe wirklich im Frühjahr, mindestens vorbereitend, in Angriff
genommen werden. Wenigstens soll der hier als Agent der betreffenden Compagnie
sich aufhaltende General Klapka bestimmt eine derartige Hoffnung geäußert haben..
Es wäre dies, neben der Ausführung des Suezkanals, der zunächst wichtigste Sieg,
welchen das französische Interesse hier davon zu tragen vermag. Für die auf das
Centrum der östreichischen Monarchie, über Adrianopel, Sofia und Belgrad zu rich¬
tende Bahn sind dagegen nur wenig Aussichten auf ein baldiges Beginnen der be¬
treffenden Arbeiten vorhanden, wenn anch diese Linie vor der ersteren den wichtigen
Vortheil voraus hat, daß sie bereits vermessen ist.
Die feine Welt von Pera trifft eben ihre Vorbereitungen zu einem ersten und
glänzenden Ball, den der russische Gesandte, Herr von Butcnicff, .morgen in dem
hiesigen Lcgationspalais geben wird, und mit dein er die diesjährige Saison eröffnet.
Nachdem gestern ein Sturm und starker Regenguß, noch spät in der Nacht, eine
lauge Reihe unvergleichlich schöner Tage unterbrochen, hat sich seitdem das Wetter
wieder aufgeheitert und die Sonne strahlt wieder hell aus die in diesem Winter mit
besonders frischem Grün bedeckten Berge und Hügel, von denen die Stadt eingefaßt
wird, hernieder. Die Promenaden sind mit Lustwandelnden bedeckt, und weit über
die Dächer des Frankenquartiers hin schallt das Läuten und Bimmeln der katho¬
lischen Kirchenglocken und Glöcklein zu Ehren des ersten Weihnachtstages. —
In der genannten Abhandlung wird (S. 206) über die
im Frühjahr 185« im Buchhandel erschienene Schrift: „Tellkampf über die neuere
Entwicklung des Bankwesens in Deutschland" ein Urtheil gefällt, welches entweder
auf flüchtiger Durchsicht, oder auf einem Mißverständniß derselben zu beruhen
scheint. Es heißt daselbst:
„Der Verfasser gehört zu denen, welche dem Staate allein das Recht zur
Banknotenausgabe lassen wollen, und will er dies damit beweisen. daß Banknoten
als allgemeines Tauschmittel der Werthmcsscr des Landes seien, dessen Anordnung
wie beim Maß und Gewicht doch dem Staate zukomme. Wir meinen aber mit
einem bildlichen Vergleiche läßt sich überhaupt nichts beweisen, zumal das Geld
noch etwas mehr als bloßer Wcrthmesser ist. Selbst aber wenn es dies allein
wäre, so wird es unmöglich verboten sein können, daß Leute im Verkehre sich eines
anderen, als des öffentlichen Maßes und Gewichtes bedienen. Wenn sie darin einen
Vortheil finden, warum sollten sie denn nicht auch ein beliebiges Crcditpapier ver¬
wenden, wenn es ihnen nützlich erscheint? Wir wagen zu behaupten, daß nur in
der allmälig anzubahnenden Rückkehr zu diesem einfachsten Zustande eine Menge
Geldkrisen vermieden werden können. Mindestens zeigt grade der jetzige Augenblick
wieder, daß die Privilegien des Staates und der Banken das nicht vermögen."
Der Recensent scheint anzunehmen, daß der Verfasser der erwähnten Schrift
den Staatsbanken und'nicht den Privatbanken das Wort rede.
In der That empfiehlt aber dieser
Der Verfasser gesteht allerdings dem Staate die Gesetzgebungsgewalt über das
Bankwesen und das Recht der Ausgabe von Banknoten, als Stellvertretern des
baaren Geldes, ebensowol zu, als das Recht Gold und Silber zu prägen, — Rechte,
welche überall anerkannt sind, — er empfiehlt aber, mittelst dieser Gesetzgebungs-
gewalt die Normativbcdingungen für ein Privatbankwcscn nach schottischen Vor¬
bilde aufzustellen und die Summe der auszugebenden Noten gesetzlich festzustellen.
In diesem Sinne heißt es u. a. (S. 3.)
„Die größte Gefahr des Bankwesens ist stets die Zuvielausgabc der Noten
und dahin drängt die Spekulation fortwährend; diese Zuvielausgabc führt zu ver¬
derblichen Krisen, und der einzelne Staat vermag nicht, denselben zuvorzukommen,
da er allein die Zuvielausgabc der Banknoten für ganz Deutschland nicht ver¬
hindern kann. Nur die sämmtlichen Zollvcrcinsstaaten können gemeinsam die
finanzielle Uebersicht ihrer Notenansgabc und ihrer Kräfte haben, um das Maß
richtig zu bezeichnen.
Wird hierfür nicht Sorge getragen, so sind große Verluste früher oder später
unvermeidlich." — Ferner- <S. 5.)
„Da wir nun aber einmal an allen Grenzen von notcnausgcbcnden Banken
umgeben sind, gegen deren Circulation wir uns durch baares Geld und eigne bessere
Noten zu schützen haben, so empfehle ich die Errichtung von Privatbanken nach
dem seit mehr als hundert Jahren, als vortrefflich bewährten Muster der schottischen
Banken und außerdem die Beachtung der neuen von Sir Robert Peel durchgesetzten
englischen Gesetzgebung hinsichtlich des Bankwesens. Nach dem schottischen Bank¬
wesen hasten die Actionäre und Theilnehmer der Banken für deren Notenausgabe
nicht nur mit ihren Actien und dem Bankcapitalc, sondern subsidiarisch auch mit
ihrem eignen Vermögen. Die Statuten anderer Banken, welche diese Verpflichtung
nicht enthalten, Privilcgircn die Bcinkthcilnehmer durch eine Ausnahme von den ge¬
wöhnlichen Verpflichtungen aller sonstigen Schuldner und setzen dadurch das Publi-
cum Verlusten aus, während aus Kosten desselben einige Speculanten sich bereichern
tonnen. Die schottischen Statuten dagegen entsprechen den Grundsätzen der Ge¬
rechtigkeit."
Gegen den Einwurf der Beurtheilung:
— „Wir meinen aber, mit einem bildlichen Vergleiche läßt sich überhaupt
nichts beweisen, zumal das Geld noch etwas mehr als bloßer Wcrthmcsser ist" —
haben wir einfach Folgendes zu bemerken:
In der erwähnten Schrift wird keineswegs die Behauptung aufgestellt, daß
das Geld bloßer Werthmesscr sei, sondern es heißt vielmehr in derselben:
(S. 63.)
„Unter dem Gelde versteht man immer die Quantität reinen oder feinen Metalls,
welche in einer gegebenen Summe vorhanden ist. Das Geld ist 1) Wcrthmcsser
und 2) Tauschmittel.
Einer Berichtigung bedarf endlich noch die Aeußerung des Recensenten:
„Schließlich bemerken wir dem Verfasser, daß nicht, wie derselbe mehrfach an¬
führt, Girobankcn zu Amsterdam und zu Hamburg bestehen. Die einzige noch vor¬
handene reine Girobank ist die Hamburger."
In der erwähnten Schrift wird nicht mehrfach angeführt, daß Girobankcn
zu Amsterdam und Hamburg bestehen, sondern als existirend wird daselbst
is. 69) nur die Hamburger Girobank genannt; und dann ganz allgemein von
Girobankcn nach dem bekannten Muster der Banken von Amsterdam und Ham¬
burg gesprochen; es wird deren Wesen erklärt, aber nicht ihre Geschichte geliefert.
Aus dem Vorstehenden ergibt sich, wie wenig die Bedenken und Einwürfe des
Recensenten bei genauerer Prüfung der beurtheilten Schrift begründet erscheinen.
Zum Schluß ist zu bemerken, daß diese Abhandlung zuerst im Winter 1855- 56
zur Motivirung eines Vortrages im preußischen Herrenhause hervortrat, also als eine
der ersten Stimmen, welche vor den Gefahren einer Nachahmung des amerikanischen
Bankwesens und der Lvoivts et«z Li^ein mudilior warnte, und daß sie schon damals
die Fehler jenes Bankwesens und einer von ihm geförderten maßlosen Speculation
als die Hauptursachen der periodisch wiederkehrenden Bank- und Handelskrisen nach¬
wies. Daß diese Warnung nur zu wohl begründet war, zeigt die jetzige Krisis zur
G
— Handbuch der Erdkunde von G. A. von
Klöden. Berlin. Weidmann, l. Lieferung. — Dieses Buch verspricht zu leisten,
woran es bisher noch so sehr gefehlt: eine Geographie, die zugleich eine-unmittel¬
bare Anschauung gewährt. Dies wird hauptsächlich durch die in den Text einge¬
druckten Holzschnitte erreicht, die ebenso verständig entworfen, als geschickt ausgeführt
sind. Das Ganze ist auf 3 Bde, zu 25 Lieferungen 1.0 Sgr,) berechnet. Der
lec Band enthalt 1! Abschnitten Astronomiscke Geographie-, die Erdoberfläche; Vul¬
kanismus; die Erdrinde; das Wasser; die Lust; Verbreitung der Wärme und Klimate;
Verbreitung der Pflanzen; der Thiere; Landschaftliches Bild der Erde; Verbreitung
der Menschenracen, Sprachen und Religionen, Der 2de Band behandelt Europa,
der 3te die übrigen Welttheile, —
Der neuen preußischen Provincialblätter andere Folge. Herausgegeben
von ,5', v, Hasenkamp, Königsberg, Koch, — Die neue Redaction bemüht sich
eifrig, diesen für die Provinz so wichtigen Blättern tüchtige Mitarbeiter zu gewin¬
nen, „Die Provinz," sagt der Herausgeber mit Recht, „welche dem Staat den
Namen gegeben hat, ist reicher an hervorragenden Eigenthümlichkeiten, reicher um In¬
dividualität als die übrige». Dieser größere Reichthum entspringt aus dem ganzen
Gange ihres historischen Entmicklungsprocesscs, aus ihrer durch Entfernung und
Mangel an Communicativnsmittcln herbeigeführten größern Isolirung von den
geistigen und materiellen Interessen des übrigen Deutschlands, aus der Berührung
dreier Nationalitäten, überhaupt aus der Berührung mannigfacher Gegensätze in
diesem Grenzland deutscher Gesittung," —
vol seul» »ilvgorioo, iirs>divo v api vatioini aeus, Divina Lome al»
Je?.ion! uns reoitsts g,Ils, sooiota »osäonüva al Vasiie», eka I-! ?iooltioui. Dasei
Lelrvc!iglia.u8or. — Eine interessante Nachlese zu den zahlreichen Auslegern
Dantes. —
Kardinallcgat Cuno Bischof von Präneste. Ein Beitrag zur Geschichte
der Zeit Kaiser Heinrichs IV. Von Gustav Schone, — Weimar, Bostan. —
Es ist Schade, daß der Verfasser dieser sehr fleißig und gründlich ausgearbeiteten
Monographie eine gelehrte Abhandlung dazu benutzt hat, seinem Mißfallen an den
„Rcformjuden" und „Lichtfrcundtn" Luft zu machen, und Avälard als einen cmti-
cipirtcn Uhlich darzustellen. Wenn sich eine Monographie auf entfernt liegende
Gebiete begibt, so wird man zwar nicht verlangen, daß sie diese eingehend darstellt,
wol aber, daß sie alle unmotivirten Behauptungen vermeidet, Thränen galten im
Mittelalter nicht für so schimpflich als heute. —
Abonnementsanzeige zum neuen Jahr.
Mit dem Anfange des neuen Jahres beginnen die Grenzboten
den X VI?. Jahrgang. Die unterzeichnete Verlagshandlung erlaubt
sich zur Pränumeration aus denselben einzuladen, und bemerkt, daß alle
Buchhandlungen und Postämter Bestellungen annehmen.
Leipzig, im December I8.">7. Ar. Ludw. »Herbig.
Von David Friedrich Strauß. Zwei Theile. Leipzig, Brockhaus, 1857.
Ueber Hütten Geschriebenes und Gedrucktes hatten wir schon sehr viel:
einen Hütten bisher nicht, weder eine Lebensbeschreibung, die desselben
würdig wäre, noch eine irgend genügende Ausgabe seiner Werke. Und daß
doch Herde Leistungen von unsrer Zeit, will diese sich nicht zu ihrer eignen
Schande verkennen, nicht geweigert werden dürfen, bedarf für den, der ihn
verstünde, des Beweises nicht. Jene erste Schuld unsrer Zeit an Hütten ist
nun abgetragen: wir haben dafür einem Manne zu danken, der sich, seiner
theologischen und kritischen Werte zu geschweige», durch seine Schilderungen
Schubarts, Marklins, Frischlins als klaren Historiker und gründlichen Anthro¬
pologen überhaupt und als fähigsten Erforscher und Darsteller hervorragender
Individualitäten insbesondere bewährt hatte, der aber uns in diesem seinein
neuesten Werke ebensosehr jene früheren übertroffen zu haben scheint, als
uns Huttens'Persönlichkeit selbst als eine eminentere Verkörperung deutscher
Nationalität erscheint, mag sie nun geliebt oder gehaßt werden; denn zum
Verachten bringt es. so oft es versucht wordeu ist, keiner. Das aber bewährt
den Beruf unsres Biographen, daß er ohne die mindeste Verläugnung oder
Verhehlung seiner eigenen scharf ausgeprägten Persönlichkeit in die seines Hel¬
den mit liebenswürdigster Receptivität einzudringen und mit liebevoller Hin¬
gebung darzustellen und zu preisen verstanden hat. Daß er dieses gewollt,
gekonnt und wirklich geleistet hat. davon ist das ganze Werk selbst bleibender
Beweis; als Beweisstelle mag hier der Schluß der Vorrede stehen, wo es von
Hütten heißt: „seine Pfeile sind unsterblich, und wo immer in deutschen Landen
gegen Verfinsterung und Geistesdruck, gegen Pfaffen- und Despotenthum eine
Schlacht gewonnen wird, da ist Huttens Geschoß dabei gewesen." Der Bio¬
graph ist selbst ein Mann, der. wenn er auch nicht vieler Menschen Städte
gesehen, doch trefflich der Menschen Geist sich gemerkt hat, auch im eignen
Gemüth des Leidens vieles erfahren.
Doch ich will ja nicht, was mir etwa leichter würde, einen panegyrischen
Aufsah über den Biographen Strauß, sondern einen berichtenden und. gelingts,
auch berichtigenden über seine Biographie Huttens dem Leser vorlegen. Diese
besteht, außer Vorrede und Schriften- und Namenregister, aus zwei Theilen,
deren ersten der Verfaßer als „Vorübungen und Kampfspiele" mit Huttens
älterem Wahlspruch „SineeritLi' citia xomp-im. Redlich und ohne Prunk," den
anderen als „Hütten im Kampf gegen Rom" mit dem cäsarischen Motto
Huttens „iaetg, sse alea, Ich Habs gewagt," 'charakterisiert hat. Wie gründlich
der Verfaßer seinen Helden verstanden, zeigt'schon diese, man dürfte sagen,
endlose kurze Ueberschrift des zweiten Buches: warum nicht „Huttens Kämpfe
und Ende?" Huttens Ende war nur das Ende des siechen kleinen Körpers
des großen Mannes; aber den Kampf Huttens setzt er noch fort, wenn auch
die plätschernden Wellen des Zürcher Sees die Grabstätte Huttens, die nie¬
mand mehr kennt, abgespült haben werden.
Wollte ich die Vorrede des Buches nicht berühren, weil sie mich selbst,
und sehr freundlich, berührt, so wäre das, däucht mir, falsche Scham: was
von mir dort Thatsächliches berichtet wird, hat seine Nichtigkeit, und des Ver¬
faßers Urtheil über mich und meine litterarische Thätigkeit mag er erforderli¬
chen Falles selbst verantworten: Veranlaßung von mir zu sprechen war ihm,
daß'ich seit vielen Jahren sehnlich wünsche und bestrebt bin jene obbezeichnete
andere Schuld unserer Zeit an Hütten abzutragen, und jetzt zu einer namhaften
Abschlagszahlung darauf durch Herausgabe des brieflichen Verkehrs Huttens
und andrer über ihn bereit bin. Die Vorrede gedenkt der Verdienste früherer
Bearbeiter des Lebens und der Schriften Huttens, des emsigen Burckhard, des
genialen Blickes Herders, der schwachgerüstcten Panegyrik Schubarts, der etwas
handwerksmäßigen Fertigkeit Meiners. Panzers ehrlicher Katalogisierung. Wa-
gcnseils Briefsammlung war zu tadeln, sie ist so schlecht, daß sie in dieser
Eigenschaft nur von Münchs Ausgabe übertroffen worden ist, welche Strauß
sehr glimflich als unwißend, fahrlüßig, liederlich bezeichnet. Wagenseils und
Bürks biographische Versuche sind durch die Nennung mindestens zureichend
geehrt, gleichen Anspruch hätten wol einige poetische, z. B. der Fröhlichs,
gehabt. Ausländischer Lebensbeschreibungen Huttens z. B. der französischen
von Lobstein, Zeller, gedenkt Ser. nicht, selbst nicht der von Niceron und
Bayle, die wieder viel von Deutschen benutzt worden sind; aber wenn auch
alle diese Darstellungen hauptsächlich nur aus deutschen geschöpft sind, so be¬
weisen sie doch Theilnahme unsres Nachbarvolks an dem deutschen Hütten.
Daß Weislinger nicht aufgeführt worden ist, muß ich tadeln, zumal Ser.
aus Zeitschriften, in denen man ihm selbst so gern das Zeitliche gesegnet hätte,
wußte, daß noch nicht aller Weislinger begraben ist. Aus andrem Grunde
hatte Füßlis leider unvollendete Biographie Anspruch auf nicht unrühmliche
Erwähnung, wie sie. neuere geschichtliche Forschungen, namentlich Nantes und
Gervinus gesunden haben. Daß des Verfaßers Wunsch, seine Schrift möchte
alle diejenigen herzlich ärgern, die ihr Held, wenn er heute lebte, ärgern würde,
in Erfüllung gehen wird, bezweifle ich ebensowenig, als daß sich viele mit
wir über seine Schrift herzlich freuen werden.
Jeder beider Theile ist in 12 Kapitel getheilt, deren Ueberschriften den
Inhalt im allgemeinen meist treffend bezeichnen, wie auch durch das ganze
Buch hindurch Columncnüberschriften, Buch und Kapitel (links) und den spe¬
cielleren Inhalt (rechts) angebend, den Leser fördern. Wie bequem für diesen
die Einrichtung ist, sieht jeder, wie unbequem und schwierig sie aber dem
Verfaßer sein mußte, bedenken wol nur wenige; zu diesen stellen wir uns und
wollen zum Dank dafür hier auch nur flüchtig erwähnen, daß nicht überall
die Gefahren jener Einrichtung mit gleichem Glück überwunden worden sind,
wie z. B. die „Entschuldigung wider etlicher uno. Ausgeben" in II. 5. verfrüht
zu den Schriften von 1520 und 21 gestellt ist (II. S. 124 ff.).
Im 1. .Kap. von „Huttens Abkunft und Klosterleben 1488. . . 1504 (5?)"
erhalten wir nicht eine trockene Genealogie des alten fränkischen Rittergeschlech¬
tes derer von Hütten und eine unanschauliche Topographie von dem Schloße
Steckelberg und seinen Umgebungen, sondern ein lebensvolles Zeit-, Familien-
und Ortsgemälde, aus welchem wir den kleinen Hütten so zu sagen heraus¬
wachsen sehen. Und schon hier bekundet der Verfnßer sein Talent zur pro¬
portionierter correcten Zeichnung der Nebenfiguren: so versetzt er uns (S. 12.)
durch einfache Angabe des Altersverhältnisses Huttens zu den mitlebendcn
I>ki'80i)a.e ärMiÄtis Undt.(nig.ni sofort auf den richtigen synchronistischen Stand¬
punkt ; so sehen wir den erstgebornen Steckclberger Hütten, unsren Ulrich, als
Schüler unter den Mitbewohnern der alten suldischen Abtei; so lernen wir
hier schon Eitelwols vom Stein so kennen, daß er uns nicht bloß, um Hutteus
Flucht aus dem Kloster zu verstehen, ebenso wichtig erscheint, als der etwas
mit sich selbst zerfallene störrige Bater des Knaben, sondern daß wir ihm später
wieder zu begegnen hoffen; auch des Crotus etwas zweifelhafter Antheil an
jener Flucht gibt schon hier Veranlaßung, uns für diesen bedeutenden Men¬
schen, dessen Leben nur gar zu lückenhaft bekannt ist, zu interessieren; den
Namen dieses Joh. Jäger leitet auch Ser. unrichtig ab; Crotus ist eine
Bezeichnung des Sternbildes des Schützen. Leider hat sich aber auch der
Verfaßer vor dem Schluße dieses Kapitels durch Mohnike zu einer, wie
ich glaube, ebenso unrichtigen als Huttens Charakter unentsprechenden Er¬
klärung verleiten laßen, daß nämlich Hütten im Sommer 1509 in die Greifs-
walder Universitätsmatrikel als „clericus" eingeschrieben worden sei, vielleicht
weil er „in seiner damaligen hilflosen Lage sich gern für einen Geistlichen
halten ließ, um desto eher Unterstützung zu finden." Nein, Hütten, und hätte
^ sich auch eigenhändig als elsrieus eingeschrieben. ist weder Weltgeistlicher
oder Mönch geworden, noch hat er sich dafür ausgegeben: olvrieus (stanz,
oloro, engl. clerk) ist, auch noch später, jeder littvris, nicht bloß der -zueris
initiaw8,,8olwlarin, ^eolivr, Komm« lodern, a sellol-u- or man et lottvrs, wie
z. B. aus Ducange, Menage, Johnson u. a. ersehen werden kann. Doch
das ist nur der Mangel eines Wcstenknopfs; da sehet zwei ganze große Le¬
bensläufe mit wenigen Strichen hingezeichnet: „Nicht lange nachdem auf diese
Weise Hütten auA dem Kloster zu Fulda in die Welt entflohen war, flüchtete
sich zu Erfurt Luther aus der. Welt in das Kloster. Wie bezeichnet dieser
Gegensatz Natur und Bestimmung beider Männer.- Der eine will sich unter
Menschen umtreiben, der andere mit Gott ins Reine kommen. Zwar erkennt
dieser später den falschen Weg und verläßt das Kloster, ohne jedoch seiner
Denk- und Handelsweise das dort erhaltene Gepräge wieder abthun zu können.
Bei aller Breite und Großartigkeit seines spätern Wirkens blieb Luther eine
streng in sich zusammengefaßte, aber auch eine geistliche, dadurch gebundene
und verdüsterte Persönlichkeit: während Hütten eine weltliche, ritterliche, freie,
selbst im Unglück heitere, aber freilich auch unstäte und in ihrem Thun sich
vielfach übernehmende Natur ist." Und nun vergleiche man das Gelingen der
Kämpfe und das Ende der beiden deutschen Vorkämpfer!
Das 2. Kap. „Universitätsjahre. Erste Freunde. 1505...9" beginnt
mit der für Huttens Bildungsgang und Freundschaftsanknüpfnngen wichtigen
Frage, ob er von Fulda aus zuerst nach Erfurt oder alsbald nach Köln und
von da über Erfurt Vnach Frankfurt a. O. gewandert sei. Letzeres ist durch
neu hinzugekommene Argumente doch noch nicht ganz festgestellt; unser Ver¬
faßer neigt zu der Annahme, Hütten sei von Fulda spätestens anfangs 1505
nach Erfurt, von da im Sommer mit Crotus nach Köln, im Jahre darauf
über Erfurt nach Frankfurt a. O. gezogen. Bewiesen ist bis jetzt hiervon nichts,
auch nicht, daß Crotus und Hütten zusammen nach Köln gegangen sind, und
mir scheint daher am gerathcnsten, nach Camerarius den ersten Studenten¬
aufenthalt Huttens in Köln zu suchen, wohin er durch den spitzen Winkel über
Erfurt, dem nächsten Orte, an dem er Landsleute zu treffen wußte, gelangt sein
mag. Finster sah es doch noch in Köln aus. als Hütten da, wie man später
sagte, Humaniora studieren wollte: es ist als ob die Kutte, der Scholastik gün¬
stig, die reine Luft des classischen Alterthums zersetzte. Mit Crotus lernte hier
Hütten sich frei zu machen von der moderigen Form der damals ganz zünfti¬
gen Lehre, die sich die Namen der Theologie und Philosophie anmaßte, und
die doch, um als Ernst zu gelten, den geistreichen Jünglingen zu läppisch, um
Unterhaltung zu gewähren, zu pedantisch und fratzenhaft erschien; hier lasen
sie die ersten Samenkörner auf, aus denen ein Jahrzehnt später das wunder¬
same Gebüsch erwachsen ist, worin die odseui'i viri sammt dem Gewände
Haut und Haare laßen mußten. Hier findet daher auch die Schilderung des
zu Spott und Witz wie zu traulicher Hingebung an die Genüße geistreicher
Geselligkeit mit Aeltern, wie Mullan, und insbesondere auch mit Jüngeren,
wie dazu schon die damaligen akademischen Graduierungen veranlaßten, allezeit
wohlgelauntcn Crotus ihre so zu sagen organische Stelle. Hier geschehen denn
auch die Vorstellungen anderer in Huttcns Lebensgeschichte mehr oder weniger
bedeutsamer Männer, seines Lehrers Rhagius von Sommerfeld, seines Mit-
reuchlinisten des Grafen Hermann von Neuenar, seiner Freunde Crocus, des
Koblenzer Fabricius und anderer, und sehr geschickt läßt unser Biograph von
Köln aus Hütten die von diesem in den Klagen II. 10. geschilderte Rhein-
reise zu den deutschen Dichtern machen und fragt, hier noch zeitig genug, an
deren Schluß, wer dem Studenten während der Wanderjahre das nöthige
Geld gewährte, da ihn der Vater als einen Wildfang ohne Unterstützung ließ.
Außer der Hinweisung auf-die freundlichen Vettern Frowin und Ludwig wünsch¬
ten wir hier eine kleine Episode über die ökonomischen Verhältnisse damaliger
Studenten, wozu unter andrem aus Platers Selbstbiographie treffliches zu
entnehmen wäre. Auf Huttens Zug nach Frankfurt a. O. weilt er und unser
Biograph einige Zeit auf der Erfurter Universität und namentlich mit wohl¬
verdienter Liebe bei den beiden biederen Landsleuten und Gesinnungsgenoßen
Huttens, dem gleichalterigen Erhalt Hesse, und dem 16 Jahre älteren gothai-
schen Kanonikus Mullan (Korr. Mut). Im Herbste 1506 geht Hütten aus
die Universität Frankfurt a. O.. die kurz vorher Joachim I. gegründet hatte,
dessen jüngster Bruder der nachmalige Mainzer Erzbischof und Cardinal und
Huttens Dienstherr war, der ihn auch jetzt wol schon mit Stipendien unter¬
stützte, auf die gewichtige Fürsprache Eitelwolfs., welcher M an seinen Tod
Huttens väterlich gesinnter Gönner blieb; auch die Gönnerschaft des Lebuser
Bischofs Dieterich von Bülow rühmt Hütten in seinen Klagen dankbar. Außer
Rhagius waren in Frankfurt der Elsaßer Publius Vigilantius Bacillarius
Axungia (dessen deutschen Namen niemand angiebt', hieß er Schuler oder, aus
Wagenschmier verderbt. Wackelschmier?) und der Thüringer Trcbelius (Notia-
nus ist das latinisierte Surwint'. d. i. Süderwind, Südwind) seine Lehrer, und die
metlenburgischen Junker von Osten so wie der später in seiner Heimat zu ho¬
hem Ansehen aufgestiegene Pomercmer Stoientin seine namhafterer Freunde.
Von einer akademischen Graduierung Huttens reden zwar Spätere, aber ohne
zureichenden Grund. Dem Frankfurter Aufenthalt gehören die beiden poeti¬
schen Versuche an, die I.-rü8 Mrrelrmo und vo Virtute elsAme-r exlwrwtio,
welche man bisher sür die Erstlinge der huttenschen Muse gehalten hat; wir
besitzen aber eine bisher ganz unbemerkt gebliebene Elegie an Eoban Heß.
welche schon in Erfurt verfaßt worden ist und die ihrem Gegenstande gemäß
nicht so sehr als jene poetisch-rhetorisches Uebungsstück ist. Aber auch in jenen
Erstlingen weiß der sinnige Biograph schon die Keime eines edlen Charakters
zu erkennen.
Das 3. Kap. ist dem Lebensabschnitte Huttcns gewidmet, der für die
innere Festigung des Charakters der wichtigere, dessen verhältnißmäßig große
Dunkelheit uns daher um so lästiger ist; der Berfaßcr weiß aber mit dem
Stoff, den uns die Klagen und einige Briefe bieten, das „etwas vom fah¬
renden Ritter in Hütten" so lebendig zu gestalten, daß wir diesen auf seiner
Reise nach der Ostsee und einer ungestümen Fahrt ans ihr selbst wie im Nebel
verfolgen können, bis wir ihn krank und bettelarm in Greifswald immatricu-
liert und im Hause der nach Huttens Schilderung eben so gemeinen als wohl¬
habenden Lotze, des Bürgermeisters und seines Sohns des Professors, finden, die
ihn. als er Ende 1509 mit deren Einwilligung nach Rostock abzog, schmählich
misshandeln und berauben ließen, so daß er in letztrer Stadt, von Fieber und
Dürftigkeit fast bis auf die Knochen verzehrt, bei dem mildthätigen Elbert
von Harlem Obdach und Pflege zu finden ebensosehr als Glück zu preisen
hatte, als ihm die rohe Härte der Lossii zu den heftigen Querelen Stoff gab.
„Die Hebamme von Huttens Geist war der Zorn." Diesen hatte hier nur ein
privates Unrecht angefacht; in entsprechendem Gebiet halten sich auch die 20
Elegien, aus denen die von Trebel eingeführten und vom Berfaßer den Sechs¬
zehnern der Rostocker Universität mit einem Tetrastichon an jeden derselben
gewidmeten (Zuerelarum libii du» bestehen, theils Klagen, theils Hilfsgcsuche
und Danksagungen an Freunde, Gönner,, Verwandte und Leser, zum Schluß
-rei Kormxmo^ die Huttens Muse für sich zu werben sucht. Auf
diese Elegie verweist schon 1514 Eoban Heß die Nachwelt als auf eine Art
poetischer Nationcillitteratur. Das Schicksal der huttcnschen Druckschrift von
1510 erzählt Strauß, nicht aber, daß im britischen Museum sich ein von Hütten
selbst durchcorrigiertes und mit einem ungedruckten Widmungsgedicht an den
6 Jahre später in Wittenberg verstorbenen Dr. Kilian Reuter vermehrtes Exem¬
plar derselben findet, worin er auch die beiden im Druck ausgefallenen Verse
(II. 2, 5 und 6), welche dann auch in einige andere der erhaltenen Exemplare
eingeschrieben worden sind, zugesetzt hat. Ende 1510 datiert Hütten aus
Fachs Haus in Wittenberg an seine Freunde Osten die Widmung der in He¬
xametern verfaßten und ebenda laid. I^dr. 1511 vollendeten^,» v<;iÄti(.!u>al
oder Stichologie, welche an sich unwichtigste unter seinen Schriften, weil sie
Schulbuch geworden ist, die meisten Drucke (ich kenne etwa 24) erfahren hat.
In Wittenberg im dessen Universitätsmatrikel Hütten nicht eingeschrieben ist)
erhielt er also auch den biographisch so wichtigen Brief des Crotus vom
3, Februar 1511. worin dieser, auf andere uns leider nicht erhaltene Briefe Bezug
nehmend, von der noch immer sehr bedenklichen Gesinnung des Vaters und
von der zwar wohlwollenden der fuldischen Mönche gegen ihn spricht, die jedoch
— Hütten scheint also darum nachgesucht zu haben, — Geldunterstützung vorläufig
nicht gewähren wollten. Darauf scheint Hütten etwa ein Semester in Leipzig
Vorlesungen gehalten zu haben, wenigstens ist sür diese Annahme ein späterer
Brief Veit Weilers; gegen sie aber, daß davon in Zarnckes Leipziger Univer¬
sitätsgeschichte nichts erwähnt ist, weniger daß Hütten schon im Herbste seine
mühselige Wanderung durch Böhmen und Mähren nach Wien gemacht hatte.
Hier in Vadians Pensionsanstalt (oonwbernium) machte er sich alsbald geachtet
und beliebt : er wußte viele spannende und merkwürdige Erlebnisse zu berichten,
hatte auch, auf einzelne Blätter, großentheils auf dem Pferde niedergeschrie¬
bene ansprechende Gedichte, seine ersten politischen Ansprachen, mitzutheilen.
Wat ließ sie in Wien (1512), Hütten selbst später in Augsburg, umgearbeitet
und vermehrt (Anfang 1519) drucken, eine Anmahnung des Kaisers zum Kriege
gegen das Froschvvlk der Venezianer, ein Heroicum, daß Deutschland noch nicht
entartet sei. und ein Gedicht auf seinen eignen Einzug in Wien. Hier hin¬
derte die Schelsucht der Universitätszunft die Ausführung seines Plans, über
die Verskunst Vorlesungen zu halten; er wanderte über die Alpen.
Nach Italien zieht sein Bildungstrieb den Deutschen seit Jahrtausenden,
zog es ihn zu Huttens Zeit um so mehr, als es die Pflanzstätte humanisti¬
scher und juristischer Bildung war. und Hütten insbesondere drängte dahin
der Wille des Vaters, daß der Sohn, der einer Prälatur so leichtfertig ent¬
laufen war, doch ans der weltlichen Laufbahn etwas werde. In Pavia hörte
er im Sommer 1512 die Vorlesungen des Jason Mainus und hatte mit dem
Augsburger Rem einen gemeinschaftlichen Lehrer im Griechischen. Bald aber
vertrieben ihn die Kriegsunruhen; drei Tage hatten die Franzosen den armen
sieberkranken deutschen Studenten in so hartem Gefängnisse gehalten, daß er
sich schon seine Grabschrift dichtete. Auch in Bologna wollte ihm weder das
Glück wohl, noch der es billig gesollt hätte, der Cardinal Lang von Salzburg
(er war schon 1511 Cardinal geworden, obgleich ihm erst 1513 feierlich der
Hut aufgesetzt wurde), welchem Hütten bei dessen Durchreise nach Rom im
Namen der Deutschen zu Bologna ein Huldigungsgedicht gewidmet hatte; die>
ses ist wol nie erschienen, und seinen Widerwillen gegen den diplomatischen
Prälaten hat Hütten nicht wieder abgelegt. Er mußte sich nun zum kaiserli-
chen Heere anwerben laßen, aus welchem Dienst ihm mehr poetische als krie¬
gerische Kränze erwuchsen, Epigramme auf den Kaiser Maximilian und die
Kriegsereignisse. „eines seiner frischesten, reizendsten Werke", die schon mit
kecken Vorgefechten gegen den Papst schließen. Schwerlich gehört der Vir l.o-
nus, der erst 1513 in Erfurt erschien, seiner Entstehung nach dieser Zeit alt-
er ist „eine Reliquie aus früheren Tagen". Dagegen möchte ich den (ersten)
Nemo (gedruckt Erfurt ^ ^r.. dann 8. I. sDeventerj 1513. si6l3 bei Ser. ist
Dnicksehler!, Wittenb. 151« u. 1518. 4.) für ein Erzeugniss der Stimmung
halten, in welcher er sich vornahm - etwas zu werden und sich zu dem ihn.
und wie dieses und Hütten damals standen, mit Recht so wenig anziehenden
Studium der Jurisprudenz zu bequemen, so wie auch der s.> g. Nouv rook-
viseons, die vermehrte und verveßerte Auflage jenes ersten, der Entstehung
nach (gedruckt ist er erst 1518) vor die zweite italiänische Reise 1515... i?
fällt, von der er denn doch wiederkehrte, ohne etwas geworden zu sein. Im
Sommer 1514 treffen wir Hütten als mainzischen Commissär in Erfurt, rigid
juristisch austretend; in Mainz nahmen sich Eitelwolf vom Stein, und wol auch
sein Vetter, der Marschall Frowin v. Hütten des jungen Mannes, der zwar
nichts war, aber etwas wollte und konnte, beßer an als die centaurischen
Angehörigen auf der heimatlichen Burg, und wenn Eitelwolf nicht allzubald
gestorben wäre, wer war zu der Ausführung des Plans in Mainz eine Muster-
akadcmie zu gründen. brauchbarer als sein Schützling Ulrich? Dieser dich¬
tete auch, dazu aufgefordert von jenem Gönner, für den feierlichen Einzug des
neuen Erzbischofs in seine rheinische Residenz (8. Nov. 1514) einen Panegy'
ricus, der ihm außer einem Geschenke von 200 Goldgulden die Zuneigung
des jungen Fürsten verschaffte. Diesem Mainzer Aufenthalt gehört auch die
Anknüpfung der persönlichen Bekanntschaft zwischen Erasmus und Hütten an.
Im Mai 1515 trifft eine doppelte Trauerbotschaft den in Bad Ems Heilung
suchenden Hütten am selben Tage, Eitelwolss Tod und die Ermordung seines
Vetters Johannes v. Hütten, von der srankenbergischen Linie, des Sohnes
des Würzburger Rathes und Erbamtmanns zu Trimberg Ludwig v. Hütten,
durch den Herzog Ulrich von Wirtenberg.
Dieser Greuelthat und einem großen Theil der dadurch veranlaßten
Schriften Ulrichs v. Hütten ist das 5. Kapitel der vorliegenden Schrift ge¬
widmet. An dem Beispiele der Reden gegen den Herzog Ulrich bewährt Ser.
sein Talent, in die Genesis und die Individualität eines Schriftstellers und
Schriftwerkes einzudringen, so sehr, daß wir, da wir nicht abschreiben wollen,
dem Beschreiben entsagen. Nur zwei bibliographische Bemerkungen wollen
wir hersetzen-. 1) daß die Anm. 1 S. 135 am Schluße selbst ungenau ist- in
die Brust stößt der Herzog seinem Schlachtopfer das Schwert nur auf dem
Bilde in dem Ausschreiben; auf dem in der f. g. Steckelberger Sammlung
steckt er das Schwert über dem Kopfe des Ermordeten in die Erde, diesen mit
der Schlinge daran zu binden; 2) daß die s. g. Steckelberger Sammlung doch
wol nicht auf Steckelberg gedruckt ist, obgleich am Schluße steht vxcuizmn in
are« LtsKolderK: ich besitze ein Exemplar, in welches Jvo Schöffer eigenhän¬
dig eingeschrieben hat,„I>i'0 vonviÄbiliWimo oil-o <!So ('our-into pvvtmSvr ü.
ssvimnv SeKovtkor (ZsleoMaMo moZunM," und es ist mir nicht wahrscheinlich,
daß mit einer Stegreissdruckcrei, wie die Steckelberger gewesen sein müßte, ein
so schöner schöfferscher Druck, als er in jener Sammlung vorliegt,, hätte gelie¬
fert werden können.
Huttens zweite Reise nach Italien 1515... 17 schildert das K. Kapitel.
Sie ward un Winter 1515 angetreten; der Nemo. den er umgedichtet in
Deutschland zurückgelaßen hatte, war er auch noch, als er wiederkehrte, den
Wunsch der Seinigen (der den Vater sogar so liberal gemacht hatte, daß auch
er ihm nun all^Müis logilms Kumxwm zuwandte, obwol auch jetzt wieder
der Erzbischof vvP Mainz beihalf), er möchte als Doctor zurückkommen, hat
er nicht erfüllt; die Umstände verhinderten es. Hütten zog — er wäre lieber
zu Erasmus gezogen — nach Rom; die Reiseroute sucht Ser. gewiß richtig in
dem Briefe des Magister Lang, I^M olisc vir. II. 12. Hier entstanden nicht
bloß köstliche Epigramme, die uns meist in der Augsburger Sammlung vom
2. Jan. 1519 zuerst' vorliege» (deren Holzschnitte zum Theil wirkliche Por¬
träts sind, z. B. von K. Max, von Hütten selbst, von Julius II.), ..ohne
Zweifel aber auch in italiänischen Drucken existieren, welche leider bei uns gar
nicht zu finden sind; sondern hier keimten auch manche der vollendetsten hut-
tenschen Werke, die später erst ihre Gestalt erhielten, wie die Clag und Ber-
mahnung, die römische Dreifaltigkeit und andere. Auch sein Schwert für
Deutschlands und seines Kaisers Ehre zu gebrauchen, ward er in dieser Zeit
veranlaßt: in Viterbo kosteten Schmähungen einem Franzosen das Leben und
vier anderen Fersengeld. Ende Juli 1516 war Hütten auch schon von Rom
weg nach Bologna gezogen, wo er mit den Würzburger Freunden Fuchs und
Fischer zusammen wohnte, und wo mit ihm der damalige Hofmeister der
Nürnberger Genter. der Neffen Pirckheimcrs, Evchläus, häufigen Berlehr hatte.
Aber das Absynth der damaligen Jurisprudenz, das er im Ganzen doch vor¬
schriftsmäßig getrunken zu haben scheint, mundete Hütten auch jetzt wieder gar
nicht, er nahm lieber mit den jungen Genter noch Unterricht im Griechischen
und las, die wahre Lectüre für einen Hütten, Aristophanes und Lucian.
Schön ist, was Ser. andeutet, weshalb eigentliche Freundschaft zwischen Hüt¬
ten und einem Constans, Muticui, Erasmus und.Melanchthon nicht entstehen
konnte; was er aber (S. 170) „von den schlechten Bildern, die von ihm übrig
sind", soge, bedarf der Berichtigung. Es ist uns (in der Berliner Kupferstich¬
sammlung) eine dürersche Zeichnung von Huttens Kopf erhalten, die nicht nur
kein schlechtes Bild ist, sondern auch einen Beweis liefert, daß wir wol eher
als in Huttens Strenge, ja Wildheit und seinen oft schneidenden und zurück¬
stoßenden Reden, den Grund der angeführten Thatsache in des Mannes stäh¬
lerner Treue und rücksichtsloser Geradheit in Behauptung der Wahrheit und
Freiheit zu suchen haben, die sich freilich mit dem den Umständen großes Ge¬
wicht beilegenden Charakter jener Männer, welche alle trotz ihrer Bedeutend-
heit von, Achselträgerei und Klciniichkeitsgeist nicht frei waren, nie vollkommen
verbinden konnte: Hütten war nicht begeistert für Freiheit und Wahrheit, die
Hingebung an sie war sein constanter natürlicher Zustand. Ich kann es mir
nicht versagen, hier wenigstens auf die Erscheinung Huttens in der „Tragedia
(oder Comedia) oder Spill, gehalten in dein Künigtlichcn Sal zu Paris; >524"
hinzuweisen, wo auch Erasmus treffend gezeichnet agiert. Daß Ser. mir den
Beweis der Aechtheit und Identität jenes dürerschen Bildes (es ist ihm nicht
unbekannt) abfordern kann, weiß ich wohl, auch daß mir derselbe bei der gro¬
ßen Menge sogenannter Huttenporträts und einander widersprechender Argu¬
mente vielleicht nicht genügend gelingen würde. In einer zweiten Auflage
der Huttenbiographie, die hoffentlich nicht ausbleiben wird, wird dann hoffent¬
lich auch den Huttenbildern ein Anhangskapitel gewidmet werden. Wir keh¬
ren zu den Erzeugnissen der huttenschen Muse selbst zurück: die vMtol!,, Italie
an Kaiser Max. worauf Eoban die rcz^onsoriu. schrieb, die Heroica von der
Fischerei der Venetiancrl und Marcus, voll poetischen und politischen Schwun¬
ges und ernster Ironie, die 2. und :s. Rede gegen den Wirtemberger und der
Phalarismus, die alle in Bologna ausgearbeitet worden sind, würden bei
-einem andern, können aber nicht bei Hütten, der nun auch den Dreißigen sehr
nahe kam, beweisen, daß er seine juristischen Studien hintangesetzt habe. Eine
Erkrankung aber und darauf im Frühjahr 1.517 ein Streit der Deutschen und
Lombarden zu Bologna, zufolge dessen'Hütten als Sprecher seiner Nation
vor dem Gouverneur Fieschi (das Hisvus und das Fragezeichen hinter 1«'1i»c!u«
hätte auf S. 184 wegbleiben können) sich zu patriotisch ausgesprochen hatte,
veranlaßten ihn, das consilium u>dcmmU nicht abzuwarten; er gieng über Ferrara
und Venedig, an welchen Orten, besonders letzterem, er angenehme Bekannt¬
schaften machte und mit der freundschaftlichsten Hochachtung aufgenommen
wurde, nach Deutschland zurück. ,.Wir können (heißt es S. 178), in Absicht
auf die Form Huttens Schriftstellerei in 3 Perioden theilen: Die erste die
poetische, von seinen frühesten epigrammatischen und elegischen Versuchen in
den Jahren 1506 und 7 an bis zum Panegyricus auf Albrecht und der Epistel
Jtalias in den Jahren 1514 und 16. Der Nechtshcmdel wider den Herzog
von Wirtenberg wirft ihn seit 1515 in die rednerische Form, neben welcher
er auch die Briefform mit Sorgfalt ausbildet. Von 1517 an wendet er sich
mit Vorliebe der Gesprächsform zu, greift aber bei Vcranlaßungen zur Streit¬
rede zurück, wie er die Briefform auch serner fleißig anbaut; lateinische Ge¬
dichte werden selten; daß wir dagegen von da an nicht wenige deutsche
Reime bei ihm finden, hängt mit seiner Hinwendung zur deutschen Sprache
zusammen."
Die beiden folgenden Kapiteb (7, 8), zeigen uns Hütten und seine littera¬
rische Thätigkeit in dem reuchlinistischen Kampfe gegen das kölnische Mönchs-
theologenthum. Nach einer Charakteristik Neuchlins folgt die Erzählung von
dessen Zusammen- oder richtiger Gegencinandertrefsen mit Pfefferkorn und dem
damit beginnenden, für die Litteratur so zu sagen weltgeschichtlichen Kriege
zweier Richtungen des Schristcnthums, welche eine Gränze des Mittelalters
und der neuere» Zeit bilden. (Von Pfefferkorn besitzen wir einen mit dem
Monogramm Hieronymus Hopfevs, I- II- bezeichneten gleichzeitigen Kupferstich,
der, wenn auch schlecht, doch ähnlich in Weislingers Huttenus delarvatus wie¬
derholt ist, und zur Veranschaulichung oder Ergänzung der erotischen Beschrei¬
bung, S. 105 Not. 1, dienen kann, wie wir denn, um es in dieser Paren¬
these zu sagen, die Anführung der zugänglicheren und irgend zuverlässigen
Porträts in biographischen Darstellungen ganz geeignet erachten). Das Verbren¬
nen der hebräischen Bücher, welchem Reuchlin. auch zu amtlicher Mitwirkung
berufen, nur mit sehr verständigen Unterscheidungen, da sich die Maßregel nach
Lage der Sachen nicht mehr ganz vermeiden ließ, das Wort redete, war die
Stelle, an welcher das Geschwür der schon in die zweite Gährung weit vor¬
angeschrittenen Scholastik der Käsemönche zum Ausbruch kam. Von Anschul¬
digungen in Druckschriften kam es, nach unnützen und mehr Friedfertigkeit als
Muth bekundenden Versuchen Reuchlins sich Ruhe zu verschaffen, zu Processen
vor der geistlichen Gewalt, in denen zwar die kölnische Partei den Vortheil
der bequemeren Moral für sich hatte, Reuchlin aber für seine Sache die Zu¬
stimmung der älteren Männer von Bildung, mochten sie auch' zum Theil die
Form der reuchlinischen Gegenschriften mit Recht missbilligen, und die auflo¬
dernde Verehrung und den neckischen Muth der in der humanistischen Richtung
auflebenden Jugend. Das Verfahren des Ketzermeisters Hochstraten im Oct-
1513, die komische Scene der dadurch, daß der Erzbischof die von Reuchlin
an den Papst eingelegte Appellation zuließ, gehinderten Verbrennungsmono¬
manie des Dominicaners, die dennoch (10. Febr. 1514) erfolgte Verbrennung
des Augenspiegels zu Köln, die Absolution Reuchlins vor dem commissarischen
Gerichte zu Speier und Verfällung der verketzernden Partei in in Goldgulden
Kostenersatz (24, Apr. 1514), Hochstratens Berufung an den Papst und Reuch¬
lins Adhäsion gaben dem Streit ein immer weiter um sich greifendes Inter¬
esse; die Kölner zogen in das ihrige die theologischen Facultüten, die sich
fortan glücklich recrutierenden Reuchlinisten in das ihrige weltliche und geist¬
liche Potentaten und Städte, den Kaiser selbst. Leo X. und die von ihm er¬
nannte Commission waren der Sache des in Person und zum Spicken gespick¬
ter Hochstraten wenig geneigt; die Partei des letztern drohte mit Berufung an
ein Concilium, ja selbst mit Abfall vom Papste; die Partei Reuchlins verstärkt
sich durch das^ humanistische Mittel der Herausgabe einer Sammlung von
Briefen elarorum viroium ack Joa. lieuellin (zuerst Tübing. März 1514). Am
2. Juli 151K erging d'le Sentenz zu Gunsten Reuchlins, aber alsbald auch
ein die Sache niederschlagendes Decret des Papstes, MMÄaturn cke suxor-
^eleuato; Hochstraten zog leichter als er gekommen war an Geld, aber voller
an Gehäßigkeit und Gehaßtheit wieder heim; jedoch auch die Rührigkeit der
Reuchlinisten hatte das eigentliche Ziel nicht erreicht; das gegen die Theolo¬
gaster gezogene Schwert kam noch nicht wieder in die Schei-de. Schon im Som-
mer 1514 schreibt Mullan von einem I'riunlKdnL <ü->Mionis des Accius Neo-
bius „ick c-se Ilvrmanni IZusenii", um dieselbe Zeit will Erasmus ein gleich¬
namiges Gedicht von Hütten in Mainz vorgezeigt bekommen haben, und
Eoban Heß erklärte später mit aller Bestimmtheit, der Iriumxlrns Laxnionis
Lleutnvi'ü L^mi (zur Erklärung des Namens war auf Sücmob. II. 63 zu ver¬
weisen, wonach „byzinische Freimüthigkeit" von einem Sohne Poseidons ab¬
geleitet wird), welcher v. O- u. I. (1518? aber beide Drucke sind aus der
anshclmischen Officin) erschien, sei von Hütten. Strauß hält die Gründe
hierfür auch für überwiegend; ich kann aus ihnen nur den Jndicienbeweis
entnehmen, daß Hütten der Redacteur und wol auch Hauptverfcißer der merk¬
würdigen Schrift, diese übrigens eine ihm mit Busch gemeinsame Arbeit sei;
von Buschcns IrimnMiL ist daher auch später nicht mehr die Rede. Außer
einer guten Anzahl Briefe von Hütten, (hervorzuheben ist der an den Grafen
Hera. v. Neuenar vom 3. Apr. 1518, der zugleich Huttens erstes Augenmerk
auf die Wittenberger bekundet) und seiner Freunde an ihn und andere über
die reuchlinistische Sache gehören dieser Richtung auch an die hexametrische
LxelÄmMo gegen Pfefferkorn, einen in Halle 1514 gemarterten Namensvetter
des Kölner, und eine elegische Verwendung für Reuchlin bei dem nachmaligen
Papst Hadrian VI. Weitaus das gefährlichste Geschoß gegen die Kölner
Feinde, das sie auch zu Tode verwundete, waren aber die IZMtolae odseuro-
ruin viroinm: das sind nie rostende Pfeile, wie sie die komische Satire nie
glücklicher und ernstlicher geschleudert hat. Der erste, 41 Briefe enthaltende
Theil erschien 1516 in zwei verschiedenen Drucken, eine zweite durch eine „^.p-
nknäex" von 7 Briefen vermehrte Ausgabe spätestens 1517 (in ein mir vor¬
liegendes Exemplar hat der Constanzer Cour. Zwick „1517" seinen Namen
eingeschrieben); der zweite aus 70 Briefen bestehende Theil erschien wahr¬
scheinlich auch schon 1517; zum Anhang des ersten kam (1537?) ein achter
Brief hinzu. Die Zuthaten der neueren (seit 1556) erschienenen Ausgaben,
von denen keine etwas taugt, läßt auch Ser. mit Recht unberücksichtigt. Er
hebt zunächst hervor, wie sie Gegenstück einerseits der Dxn. e1g.rvrnni virorum,
andererseits des ^i'imnpnns Laxnionis seien, und versucht dann, glücklich ge¬
nug, eine Vorstellung von ihrer Art dem deutschen Leser zu geben. Wir
brauchen hier nur daran zu erinnern, daß diese Briefe nach Form und Inhalt
nichts als der Scholastiker eigenes Zeuch sind, das ihnen in die Hände gegeben
ist, daß sie sich damit unter sich vernichteten, wie das denn in der Hauptsache
auch geschehen ist; in allen Wissenschaften brechen sich nun aus verschiedenen
zusammenwirkenden Veranlaßungcn neue Bahnen, was auch Hütten in einem
Brief aus dieser Zeit mit Jubel preist, und wenn es ein Zufall ist, so ist es
ein artiger, daß das herkömmlich dafür geltende Geburtsjahr der Reformation
auch das der ckuo volnmirm, I?M. odse. vir. ist; diese haben „sogar noch vor
Luthers Ablaßstreit den wesentlichen Inhalt seiner Thesen und Streitschriften
ausgesprochen," freilich auch nicht zuerst. Ser. legt nun ein ziemlich detaillier¬
tes System des Inhalts jener Briefe vor. um dann die Frage nach deren
Autorschaft zu erörtern. Ausgehend von Huttens eignen und anderer Aeuße¬
rungen, welche diesen als Verfaßer erscheinen laßen, erwägt er dann das
merkwürdige Schreiben gegen die Apologie des Crotus von 1532, auf welches
wir unten zurückkommen mühen, und weiches den ganzen Crotus von dessen
Erfurter Zeit an so abschildert, daß man ihm die Versaßerschaft der UM.
v. ansieht, die er ihm zudem ausdrücklich zuspricht. Dieses bezieht auch
Ser. nur auf den ersten Theil der Briefe und sucht daraus, daß Hütten seit
der Ermordung seines Vetters durch diese Familienangelegenheit zu sehr in
Anspruch genommen und seit dem Herbste 15 in Italien gewesen sei, zu er¬
klären, daß derselbe von Anfang an vielleicht keinen Antheil an jenen Briefen
gehabt habe, und dessen Theilnahme vorzugsweise auf den 2. Theil zu bezie¬
hen sei; der erste Theil bestehe ursprünglich nur aus Briefen, die aus Deutsch¬
land und den Niederlanden datiert seien; der zweite habe viele aus Rom da¬
tierte Briefe und allerhand römische Anschauungen, und in ihm würden „unter
der Form des Berichts von gehaltenen Gesprächen häufiger sehr ernste Erör¬
terungen eingeflochten", auch werde hier Hütten von den Briefstellern mehrmals
genannt und „schlecht gemacht". Ser. entscheidet (S. 270). „nach äußeren
Zeugnissen wie nach inneren Gründen haben wir in den Lxp. o. v. ein
Pickenick vor uns, dessen erste und hauptsächlichste Schüßeln von Crotus. die
übrigen, mit jenen an Reichthum und Wohlgeschmack wetteifernd, von einer
Anzahl der besten Köpfe unter den Humanisten der Zeit, insbesondere auch
von Ulrich v. Hütten geliefert waren." Dieses Vild genügt mir nicht; ich
darf aber hier meine Ansicht von der Autorschaft der Lxx. 0. V. nicht zu be¬
gründen versuchen; sie ist, ganz nicht neu. diese: Hauptmitarbeiter an beiden
Theilen sind Crotus, Hütten, Busch; Redacteur und Haupturheber des ersten
ist Crotus, des zweiten ist Hütten; wie viel oder wenig einzelne Einfälle
anderer und welcher anderen eingearbeitet worden seien, ist genau nicht zu
bestimmen, wol aber laßen sich vollständiger als Ser. wagen mochte, einzelne
Briefe dem Crotus oder Hütten und Büschen zuerkennen. (Vgl. auch die zum
Theil sehr schwache „Charakteristik... der Lx)>. v. v. aus dem Lclwd. R«z-
vien in Vogler u. Bothe. Altes u. Neues f. Gesch. u. Diesel. Potsd. 1832.
^. S. 231 ff.) Mit dem Bericht über die Aufnahme, welche die Lpx. o. v.
Namentlich bei Erasmus fanden, wie die vernichteten Dunkelmänner eine Ver-
'Uchtungsbulle gegen die Briefe erwirkten und sich dann durch ihre eigenen (des
Ortwin Gratius) I^mvrrtMone« o. v. völlig ruinierten, schließt das anmuthige
achte Kapitel.
Auf seiner Heimreise aus Italien weilte Hütten im Juli 151? im Hause
des kaiserlichen Raths Peutinger zu Augsburg, dessen Tochter Constanze den
Lvrberkranz flocht, womit der Kaiser des gelehrten und kunstreichen, viel-
erfahrener und kampfesmuthigen Ritters.Stirn am 12, Juli schmückte. Das
Dichtcrdiplom verdanken wir den emsigen Nachforschungen Burckhards. Peu-
tinger, Spiegel und Stab suchten auch den jungen Freund in des Kaisers
Dienste zu ziehen, dieser aber wanderte, nach einigem Bedenken, über Bam-
berg. wo er bei dem befreundeten Kanonikus Jacob Fuchs verweilte und Ea-
merarius ihn kennen lernte, und wo die vierte Rede gegen den Wirtemberger
geschrieben wurde, heimwärts. Von Stackelberg 1. December ist die merk¬
würdige an Leo X. gerichtete Vorrede zu der Schrift des Lorenzo Valla über
die constantinische Schenkung datiert, welche Herder als Jugend-, Helden- oder
Eulenspiegelstreich bezeichnete, welche aber Ser. richtiger als eine wohlberech-
nete Wendung erklärt, dem Papste die Aeußerung des Mißvergnügens über
die, wie Hütten wohl wußte, sehr unwillkommene Publication abzuschneiden.
Eine Abschrift von Battas noch jetzt in der Geschichte der Kritik der kanoni-
stischen Rechtsquellen Epoche machenden Schrift hatte sich Hütten noch in Bologna
bei Constans, wo er sie zuerst gesehen, bestellt. Die curialistischen Aussau-
gungen Deutschlands erklären, „wie derselbe Erzbischof, der Luthers Angriff auf
den Ablaß so übel aufnahm, mit Huttcns Kampf gegen die päpstlichen Uebergriffe
im Stillen nicht so unzufrieden war", vielmehr den keck angreifenden Streiter
in seine Dienste nahm; der Mainzer Erzbischof hatte für sein Pallium 20,000
(nach Ranke Reform. I. 309 waren es 30,000) Goldgulden zu bezahlen, wo¬
gegen er sich an dem Ablaßhandel erholen sollte. Schon um Weihnachten fin¬
den wir Hütten in Angelegenheiten des Fürsten auf einer Reise zum Könige
von Frankreich; in Paris bei Rnzäus bestens empfangen, machte er den gün¬
stigsten Eindruck auf Budüus, der nicht ohne Glück damals mit Erasmus um
die Palme europäischen Gelehrtenruhmes rang, die Bekanntschaft des berühm¬
ten Faber von Estaples, der königlichen Leibarzte de la Ruelle und Cops
aus Basel. Aber schon im Februar geleitet er seinen Mainzer Herrn nach
Halle, ist jedoch am 3. April wieder in Mainz, von wo er, kaum vom Pferde
abgestiegen, den' oben angeführten Brief an den Grafen Neuenar über die
reuchlinistische Angelegenheit nach Köln 'schreibt, den wir als den Höhepunkt
von Huttens Amtswirksamkeit bezeichnend herausheben möchten; er läßt einen
raschen, aber umsichtigen, mannigfaltig, aber freudig und gründlich thätigen
Geschäftsmann erkennen, dessen eigentliches Wesen aber Patriotismus und Hu¬
manismus ist. ^
Auch das 10. Kap. eröffnet sich mit Reisen nach Sachsen und zurück nach
Mainz, von wo Hütten schon am 25. Mai 1518 an Pcutinger seine Aufmale
mung an alle deutschen Fürsten zum Türkenkrieg sendet, welchen der Kaiser
und die österreichische Partei aufrichtig beabsichtigte, der Papst und seine Partei
ernstlich zu beabsiehiigen vorgab, der größere Theil der Reichsstände und der
Geistlichkeit aber, auf welche die Lasten der Kriegszurüstung und Führung
hauptsächlich gedrückt haben würden, mit Erfolg hinaus zu deliberieren suchte.
Mit allem Feuer seiner Vaterlandsliebe zeigt hier Hütten die Nothwendigkeit
dieses Krieges; aber wie mit einem Flammenschwerte fährt er auch in die
Eifersüchtelei, Ueppigkeit und Selbstsucht der Fürsten, und wie ein Würgenge!
in die Herde der Römlinge. Die schlimmsten Stellen ließ Hütten, hauptsäch¬
lich wol auf Peutingers Betrieb, aus dem ersten, dem Quartdruck der Rede
(Augsb. 1518) weg; aber das war Huttcns Sache nicht, er veranstaltete gleich
darauf im folgenden Jahr kri>not lruremu Noguutmm einen vollständigen
(Octav-) Druck, worin jene Stellen, „welche zu freimüthig gegen das römische
Wesen angehen, als daß ein schlechter Papst sie dulden könnte", an ihrem
Orte zu lesen sind. Daß Hütten nicht" der Vf. einer s. g. öl'u,t,lo äisLuasorm
<lo «lecimi» sei, die ihm von vielen zugeschricven wird, habe ich jüngst zu der
ersten vollständigen und lesbaren Ausgabe derselben gezeigt; Ser. räth auf'
Jacob Fuchs als Vf., ohne der mir gegründeter scheinenden auf Friedr.
Fischer gehenden Vermuthung Hagens zu gedenken; die Erwähnung des Crotus
und einige Zweifel unserer Biographie S. 306 ff. heben sich hoffentlich auch
durch jene meine Abhandlung. Ans den I'uscniilluL c;xn1 und die „ganze Hecke
von Schriften ähnlicher Art," gehen auch wir hier nicht näher ein, darin nul
Ser. ganz übereinstimmend, daß Hütten deren Vf. nicht sei. Während dieses
Augsburger Aufenthaltes war Hütten kein müßiger Zuschauer des aus- und in¬
wendigen Getriebes der Fürsten, Prälaten und des Rcichstagswcsens, wie uns
noch einige Briefe bezeugen, (und wie viele mögen verkommen sein!) sondern
Pflegte auch Umgang mit manchen Freunden aus älterer und neuerer Zeit,
ließ seinen zweiten Nemo drucken und schrieb wahrscheinlich schon an der
Miiuu, gewiß aber auf das Drängen seines Freundes Strömer von
Aurbach (damals Leibarzt des Mainzer Cardinals), welcher kurz vorher des
Aeneas SrMus Büchlein vom Elend der Höflinge bei Schöffer (Juli 1517. 4.)
herausgegeben und seinen Freunden debitiert hatte, den Dialog ^uta oder
wie er ihn später nannte, nisu,ulu8, welchen er an Pückhcimcr sandte. Puck-
heimers Kritik nahm Hütten mit wahrster Bescheidenheit auf und erwiderte
sie mit bescheidenster Wahrheit in der biographisch so wichtigen I^ii8wi^ vidua;
8NÄL i^tivnem recKliMK, welche Ser. zu dem anziehendsten stellt, was aus Hut-
tens Feder gestoßen ist. Er schrieb diesen großen Brief, während er die Pein
der schweren Krankheit und zugleich einer noch viel schwereren Kur im warmen
Znnnicr zu ertragen hatte: er hätte sonst sicherlich auch Luthern, der vom
Oct. an vierzehn Tage gegen Silvester Prierias sich dort zu vertheidigen hatte,
in Augsburg persönlich und beßer kennen gelernt als er ihn kannte, oder viel¬
wehr nicht kannte, da er im Frühjahr an Neucnar schrieb.
Jene Krankheit und Kur ist der Gegenstand des vorletzten Kapitels des
1, Theils. Mit klarem Blick sieht der Biograph sich zunächst nach dem Ent¬
stehungsgrund der bis auf das Jahr 1503 zurückzuführenden Krankheit Hut-
tcns um. Dieser spricht an vielen Orten aufs unbefangenste von seinen Leiden,
deren Symptomen und Verlauf, auch von den nachtheiligen Einwirkungen,
welche unstäte, mühsalvolle und öfters mit Noth und Dürftigkeit ringende
Lebensweise auf seinen Körperzustand geübt habe, wie er auch gelegentlich sich
das Zeugniss giebt, nicht durch Unmäßigkeit oder Ausschweifung Verschlimme¬
rungen des Uebels verschuldet zu haben, dessen Entstehungsgrund er nicht sowol
verschweigt als vielmehr nirgend berührt, gleich als wäre es ihm angeboren.
Er sagt zwar selbst von der venerischen Krankheit, sie werde derzeit schwerlich
mehr ohne Ansteckung erzeugt; daß und wie er sie sich aber durch solche zu¬
gezogen habe, deutet er an keinem Orte an. Da nun Hütten und seine Zeit¬
genossen jenes Uebel für ebenso unehrenrührig ansahen, als wir etwa heutiges
Tags eine Lungenentzündung oder Unterleibsbeschwerden, und jener Zeit für
unanstößig galt was in gebildeten bürgerlichen Kreißen die unsrige mit sittli¬
chem Abscheu verwirft, so hält es Ser. für die moralische Beurtheilung uner¬
heblich, ob Hütten durch eine ihm nicht als solche erscheinende Ausschweifung
oder, „hiebei zwar zufällig frei ausgegangen, dafür aber ein ander Mal unschuldig
zu der Krankheit gekommen" sei. Die schmählichen Nachreden des von Hütten
in seiner Selbstsucht entblößten Erasmus, der wohl wußte, daß er die von ihm
abgelegten drei Gelübde selbst gebrochen habe, und (leider müßen wir es hin¬
zusetzen) Melcmchthons Beschimpfungen des todten Hütten machen mir noch
minder als unsrem Biographen eine Ausschweifung Huttens als Grund seiner
Krankheit wahrscheinlich; dagegen ist mir,von größerem Gewicht als die von
Ser. für Huttens Sinnlichkeit angeführten Stellen, die auch von ihm nicht
übergangene Thatsache, daß Hütten durchweg in seinen Schriften ungleich züch¬
tiger und Lascivitätcn abholder erscheint als viele seiner Zeitgenoßen, auf
deren Sittlichkeit kein Stein geworfen wird. Die ganz unhistorischen Jnvec-
tivcn materialistischer Geschichtschreiber der Medicin und die gleichartigen pfäf-
fischer Parteischriftstcllcr bleiben hier billig außer allem Betracht. Giebt man
auch zu, daß ein streng geregeltes Jugendleben mit Huttens geistiger Eigen¬
thümlichkeit schwerer als das Gegentheil zusammenzudenken ist, so scheint
doch der Schluß noch nicht gerechtfertigt, daß Hütten sich wirklich seine Krank¬
heit durch eine jugendliche Ausschweifung zugezogen habe, und wir müßen
bei einem Avr liyuet, beharren. Die Qualen der Krankheit und eilfmaliger
Kur, wie sie Ser. sehr geschickt Hütten nacherzählt, versuchen wir nicht zu
schildern, noch den Inhalt der zu Ende Mai 1518 verfaßten und dem Kur¬
fürsten Albert debitierten Schrift (Irmi-rei me;«ki«.in:>. zu bezeichnen, sondern
bewundern lieber mit dem Biographen den gemeßencn Schritt der didaktischen
Darstellung, in welchem Hütten sich doch bisheran noch nicht bewegt hatte,
und weit mehr noch die „Geistesstärke, welche dazu gehörte, um während
eines so schrecklichen, langwierigen und hoffnungslosen Siechthums Werke her¬
vorzubringen, an denen nichts matt, alles Gesundheit, Frische und Leben ist."
Die vollständige Ausgabe der Türkenrede war kein Geschenk sür seinen Cardinal;
schon von Augsburg aus hatte Hütten an Pirckheimer geschrieben, gute Carriere
zu machen könne er mit schlichtem Lebenswandel nicht vereinigen; das aber
hielt ihn nicht ab, jene Rede allen freien und wahrhaft Deutschen in feurigster
Ansprache zu widmen. Seiner Eminenz dagegen dediciert er, nach einem kurzen
Aufenthalt auf der heimischen Burg um Neujahr 15t» nach Mainz zurück¬
gekehrt, die Schrift über das Guajak und die französische Krankheit, die er dem
Salzburger Erzbischof zu debitieren vergebens gebeten worden war. Auch schrieb
er damals zu der von Carbach und Angst besorgten, in der schöfferschcn Of-
ficin gedruckten Ausgabe des Livius, welche für einige Stücke der 4. Dekade
prmciZW ist. auf Bitten jener und anderer Freunde die Zueignung an seinen
Erzbischof und ließ im Februar das zwar sehr zudringliche, aber doch sich ein¬
schmeichelnde „erste Fieber" ausgehen, das sicherlich den Cardinal Cajetan
etwas geschüttelt hat. Aber nun war Hütten auch des Hoflebens übersatt;
die Gewogenheit seines Herrn hatte ihm eine Pension, wo er sich auch hin¬
begeben möge, verheißen; er sollte sie nicht lange genießen.
Der Krieg gegen den Mörder seines Vetters zog auch miscrn Hütten gegen
ihn in das Heer des schwäbischen Bundes und zugleich in Bekanntschaft, die
alsbald wahre Freundschaft wurde, mit dem deutschen Ohnefurchtundtadel,
Franz von Sickingen. Diesem verdeutschte und widmete er (I. März 1519)
das erste Fieber. In denselben Tagen der Kriegszurüstung hatte er den Plm-
larismus wieder auflegen lassen und sich in einem Briese an Franz I. von
Frankreich bemüht, diesen zu überzeuge», daß er den Wirtemberger nicht un¬
terstützen dürfe. Auch aus Huttcns Briefen, deren uns grade aus dieser
Zeit verhältnissmäßig viele erhalten sind, erhellet, daß der Krieg gegen den
Herzog anfangs, bevor die Schweizer jenen verließen, bedenklicher erschien, als
er sich bald erwies; schon am 7. April war das Bundesheer auch in Stutt¬
gart, wo Sickingen und Hütten sür Reuchlins, des hochverehrten, Sicherheit
bestens sorgten. Auch für die endliche Beisetzung des (bei Berührung noch
blutenden) Leichnams des ermordeten Vetters wurde gesorgt. Das größte,
was Hütten in diesem Kriegszug erobert hatte, war des Sickingers Freundschaft.
Den Frühlings- und Heerzugsstaub wusch wol das Wildbad, wohin sich
Hütten Ende Aprils begeben hatte, ab, aber nicht den unseligen mordus
^UL. Nun entstand die letzte Rede gegen den Wirtemberger, noch einmal
dessen und seiner Helfer Verruchtheit und nun, auch dessen Fall schildernd; es
erschien im September die oben besprochene sogenannte Steckelberger Samm-
lung der huttenschen Schriften gegen den Wntenberger Herzog. Noch vor
beendigtem Feldzug hatte Hütten seine Absicht, zunächst wieder an den Hof
nach Mainz zurückzukehren, aber auch die. zu heiraten, vermeldet. Anfangs
Juni finden wir ihn wieder in Mainz, wo er unter Fortbezug seines Gehalts
freier Muße genoß. Ernstliche Heiratsplane und Bitte um Unterstützung
derselben spricht er nun (26. Juli) gegen seinen Freund Arnold von Glauberg
in Frankfurt a. M. aus' die gehoffte Braut muß aus eben dieser oder der
v. holtzhausenschen oder doch einer mit diesen vertrauten Familie gewesen sein;
und wie ernstlich die Bewerbung betrieben wurde, zeigt ein Brief des Cons-
tans vom 8. Februar 1520, Hütten habe Hoffnung nächstens eine reiche
Frau aus edlem Geschlechte heimzuführen.
Unter der Masse der an jedem Morgen die Straßen Roms durchziehenden Be¬
sucher gab es eine Classe, und zwar waren dies grade die regelmäßigsten
und beflissensten, zu der man in irgend einer modernen Gesellschaft (wenig¬
stens in dieser Ausdehnung) vergeblich die Analogie suchen würde. Es waren
die Erbschleicher. Daß die Erbschleichern sich zu einer Art von Profession
ausbilden konnte, geHort zu den bezeichnenden Erscheinungen dieser Periode:
sie hatte ihren Grund in der Zunahme der Ehe- und Kinderlosigkeit der höhern
Stände. Die Ehe hatte schon in der Republik für eine Last gegolten, der
sich zu unterziehen der Bürger nur durch die Pflicht gegen den Staat
bewogen werden könne. Die fortgesetzten Bürgerkriege untergruben die
schon gelockerten sittlichen und socialen Zustände vollends auf die Dauer
und die von August, versuchte Restauration konnte nicht anders als oberfläch¬
lich sein. Auch die Ehe hatte er durch Belohnungen und Auszeichnungen
der Verheirateten und Eltern, durch Strafen der Kinder- und Ehelosen zu
heben und zu stützen gesucht. Vergebens; weder die einen noch die andern
konnten die Bordseite aufwiegen, die jedem zuflössen, der eine Erbschaft'zu
vergeben hatte, ohne gesetzliche Erben zu haben. Hatte der Stand der Ehc-
und Kinderlosen von jeher für den gemächlichsten und sorgeufreiesten gegolten, so
wurde er nun immer mehr der einflußreichste und angenehmste; denn sie
konnten unbedingt über Vermögen, Einfluß und Hilfsquellen all derer verfügen,
die einst in ihrem Testament berücksichtigt zu werden hofften. Natürlich lag
es im Interesse der Reichen ohne Erven, möglichst zahlreiche Hoffnungen zu
nähren, da diese für sie eine Art Leibrente waren, wahrend andrerseits die
Erbschaftsjäger große Kunst anwendeten, um die schwer zu fassende Beute zu
sichern, ohne sich Blößen zu geben. Die mit der äußersten Uneigennützigkeit
und Herzlichkeit maskirten Angriffe, die jeder Theil ans alle schwachen Seiten
des andern machte und die oft ebenso sein parirt und erwidert wurden,
machen euren hochkomischcn Effect, wenn sie freilich auch den krassen Materia¬
lismus der damaligen Gesellschaft in widerwärtiger Nacktheit zeigen. Es
ist wol nicht überflüssig zu bemerken, daß eine andere Art, sich eine wünschens-
werthe Position zu geben, an die zu denken uns näher liegt, nämlich durch
Heirath, wenig beliebt war, weil sie selten zum Ziel führte. Bei der in der Kaiser-
zeit üblichen Form der Eheschließung behielten die Frauen die Disposition
über ihr Vermögen.
Es gibt kaum einen Schriftsteller oder Dichter aus der Zeit nach Christus,
der die sittlichen und geselligen Zustände berührt, ohne von diesem Gegenstand
zu sprechen. Wer dies Treiben aufmerksam beobachtete, dem schien es zuletzt,
als wenn ganz Rom in zwei Parteien getheilt sei, von denen die eine auf
die Testamente der andern speculirte, die andere aus diesen Spekulationen
Nutzen zu ziehen suchte. In dieser Stadt, sagt Perron, indem er das in
Rom heimische Treiben nach Kroton verlegt, werden weder wissenschaftliche
Studien getrieben, noch findet Beredtsamkeit einen Platz; weder Bravheit noch
Sittenreinheit kommen auf einen grünen Zweig, sondern alle Menschen, die ihr
sehn werdet, sie mögen sein welche sie wollen, sind in zwei Parteien getheilt.
Entweder angeln sie oder sie lassen nach sich angeln. In dieser Stadt zieht
niemand Kinder groß; denn wer Leibeserben hat, wird weder zu Gast gebeten
noch zu Lustbarkeiten zugelassen, sondern von allen Bortheilen ausgeschlossen
und führt ein obscures Leben unter denen, die der Ehre verlustig erklärt sind.
Die aber nie geheirathet und keine nahen Verwandten haben, gelangen zu
den höchsten Ehren, und werden für die einzigen vortrefflichen Menschen und
sogar für schuldlos gehalten. Ihr werdet eine Stadt sehn, die einem Ge¬
filde in einer Pest gleicht, auf dem es nichts gibt als Leichen und Raben,
die sie zerfleischen. Einige Aeußerungen gleichzeitiger Schriftsteller mögen
zeigen, daß diese Schilderung etwas mehr ist als ein bloßes Phantasiegemälde.
Seit die Kinderlosigkeit, schreist der ältere Plinius, angefangen hat zum
höchsten Ansehn und Einfluß zu führen und die Erbschleichern der. einträg¬
lichste Erwerb zu sein, seit es keinen Genuß gibt außer am Besitz, ist alles,
was dem Leben Werth verleiht, zu Grunde gegangen. Die Kinderlosen, sagt
Plutarch, laden die Reichen zu Gast, die Vornehmen machen ihnen den Hof,
sie sind die einzigen, denen die Anhalte ihren Beistand umsonst ertheilen.
Wird ihnen ein Kind geboren, so sind sie auf einmal fteund- und machtlos.
lind was soll man sagen, wenn der Philosoph Seneca an eine Mutter, die
ihren einzigen hoffnungsvollen Sohn verloren hatte, allen Ernstes folgende
Worte richten konnte: „Um einen sehr unwahrscheinlich klingenden, aber doch
wahren Trost anzuwenden, so gibt rü unserer Gesellschaft Verwaisung mehr
Einfluß als sie entreißt, und Einsamkeit führt das Alter, das sie seiner Stützen
zu berauben schien, vielmehr so sicher zur Macht, daß Viele Feindschaft gegen
ihre Söhne heucheln, ihre Kinder abschworen und sich eine künstliche Ver¬
waisung schaffen/' Beiläufig gesagt war auch ein guter Theil der kolossalen
Reichthümer Scnecas, wenigstens nach der Behauptung seiner Gegner, durch
Erbschlcicherei erworben. Eine reich gesegnete Ehe galt als Beweis eines
tugendhaften, selbstve,leugnenden Bürgersinns; der jüngere Plinius berichtet
von einem seiner Freunde, daß er mehre Kinder habe „in einem Zeitalter,
wo den Meisten schon ein Sohn durch die Vorzüge der Kinderlosigkeit zur
Last wird." Als charakteristisch für die primitiven Zustände Germaniens
unterläßt Tacitus nicht zu erwähnen, daß Kinderlosigkeit da keine Vorzüge ge¬
währt. Die Metaphern von Angel, Köder, Reusen, und wenn das Geschäft
auf großem Fuß betrieben wurde, von -Fischbehältern voll fetter Thüre, von
Geiern und Raben, die auf Aas lauern, haben Schriftstellern und Dichtern oft
genug Gelegenheit gegeben, Witz oder Pathos zu entfalten.
In einem der witzigsten Gedichte des Horaz befragt Ulyß,den Schatten
des Sehers Tiresias. wie er seine durch die Wirthschaft der Freier zerrütteten
Verhältnisse verbessern könne und erhält den Rath, sich auf Erbschleichern zu
legen, nebst den nöthigsten Anweisungen. Es gehörte keine geringe Kunst da¬
zu, um dies Geschäft mit Erfolg zu betreiben. Es war eine schwere Auf¬
gabe, nie aus der Rolle zu fallen, nie zu wenig zu thun, nie zu übertreiben.
Von angenehmen kleinen Aufmerksamkeiten und Galanterien bis zu den wichtig¬
sten und mit persönlicher Aufopferung verbundenen Dienstleistungen konnten
kinderlose.reiche alte Herrn und Damen von ihren ergebenen Freunden alles
verlangen und erwarten, Ihnen wurden die feinsten Leckerbissen zugeschickt,
Edelobst, feiner Honig, Gebäck und Wild liefen von allen Seiten in ihren
Küchen ein. Ihre Gedichte fanden die lebhafteste Bewunderung. Ihre
theure Gesundheit war der Gegenstand der zärtlichsten Sorgfalt. Lagen sie
zu Bett, so ließ.ihre Krankenpflege nichts zu wünschen übrig. Gelübde, Ge¬
bete und Opfer stiegen zu den Göttern auf, Weissager wurden befragt, man ver¬
maß sich, sagt Juvenal, im Fall ihrer Genesung Elephanten und Menschen
zu opfern. Das schönere Geschlecht zeigte ihren Vorzügen gegenüber eine
liebenswürdige Schwäche. Gefiel ihnen das Haus eines ihrer Freunde, so
wurde es ihnen unentgeltlich zur Wohnung eingeräumt. Waren sie in einen
schlimmen Rechtshändel verwickelt, so ^drängte man sich sie zu vertheidigen,
die Sache mußte verzweifelt stehn, wenn sie nicht gewannen. Ihre Atrien
waren an jedem Morgen von einem Schwarm von Besuchern aus den
besten Kreisen gefüllt. Martial zählt einmal unter den Diensten, die der
Patron von seinen Clienten verlangt, auch den auf, ihn täglich zu ungefähr
zehn Witwen begleiten zu müssen. Man sieht, sagt Juvenal, einen Prätor
am frühen Morgen den -vorausgehenden Victor zu größerer Eile treiben:
warum ist er so hastig? Er fürchtet, es möchte ihm bei Frau Modia oder
Albina ein College zuvorkommen.
Dieser lästige, kostspielige und entwürdigende Dienst wurde auch im besten
Fall auf sehr unsichere Aussichten hin geleistet; selbst dann, wenn die kinderlosen
Reichen die aufrichtige Absicht hatten, ihn entsprechend zu vergüten; denn wie oft
überlebten sie die. die sich geschmeichelt hatten sie zu beerben? Sehr häufig aber
hatten sie diese Absicht gar nicht. Ihr Interesse war es, wie gesagt, möglichst
viel Hoffnungen zu nähren, gleichviel ob sie nach ihrem Tode befriedigt
wurden. Es war ihnen nicht zu verdenken, wenn sie auf einen Schelmen
anderthalb spielten. Ihr Husten war oft nur fingirt. Sie machten ihr
Testament womöglich dreißigmal in einem Jahr, um ihre Freunde ebenso oft
zu den äußersten Anstrengungen zu treiben. Ja bisweilen mochte-es einem
Virtuosen gelingen, sich in den Besitz aller Vortheile der kinderlosen Reichen
zu setzen, ohne reich zu sein. Die ungeheuern Güter, in Afrika, die Kauffahrtei¬
schiffe, die von Karthago unterwegs waren, die Sklavenheere u. s. w., mit
denen er groß that, waren nichts als Puff.
Doch bei weitem das größte Contingent zu den Scharen der Morgenbcsucher
wurde von einer Menschengattung gestellt, die in Rom so zahlreich war wie
in allen Weltstädten, den beschäftigten Müßiggängern. Man nannte sie nut
einem Namen, der früher nicht vorkommt und vielleicht erst zu Anfang der
Monarchie, wo diese Classe sich sehr vermehrte, in Aufnahme gekommen ist,
Ardelionen. Es gibt, sagt ein Dichter des ersten Jahrhunderts, zu Rom eine
Nation von Ardelionen, die eilfertig umherrennt, voller Geschäftigkeit im
Müßiggang, um nichts in Athem, vieles betreibt und nichts zu Stande bringt,
sich selbst beschwerlich, andern aufs höchste widerlich ist. Seneca, der diese
Menschen nach dem Leben geschildert hat, vergleicht su mit Ameisen, die ohne
Plan und Zweck an Bäumen bis zum Gipfel hinauf und wieder zur Wurzel
herablaufen. Es sind die Leute, deren Leben eine ruhelose Unthätige'eit ist,
die nie etwas zu thun haben, aber immer so aussehen als hätten sie etwas
zu thun, die nicht ein bestimmtes Vorhaben, sondern der neue Morgen aus
dem Hause treibt, die nur ausgehn, um das Gedränge zu vermehren. Wenn
sie aus der Thür traten, gaben sie auf die Frage: Wo gehst -du hin?
Was hast du vor? zur Antwort: Ich weiß es in der That selbst
nicht; aber ich will einige Besuche machen, irgend etwas unternehmen.
Man fühlt Mitleiden mit ihnen, wenn man sie rennen !sieht wie zum Feuer-
löschen, so sehr stoßen sie jeden, der ihnen in den Weg kommt, und stürzen
sich und andere kopfüber; und wohin laufen sie? Sie machen einen Besuch,
der nie erwidert wird. Wenn sie aus den nichtigsten Veranlassungen in der
ganzen Stadt umhergerannt sind und endlich wieder nach Hause kommen, be-
theuern sie, sie wüßten gar nicht, weshalb sie ausgegangen, wo sie gewesen
seien, und — treten am nächsten Tage dieselben Wanderungen an. Dies Ge¬
schlecht führte dies Leben noch in hohen Jahren unverändert fort, und starb im
eigentlichsten Sinn in der Ausübung seines Berufs. Es gab Sechziger, die
an jeden: Morgen in Schweiß gebadet und „feucht von den Küssen des
ganzen Rom" umhcrkeuchtcn, in dem Empfangszimmer jeder Dame ihren
guten Morgen abstatteten, zehnmal am Tage nach dem kaiserlichen Palast
hinaufeilten und fortwährend die Namen der mächtigsten Männer un Mund,
führten: Dies sagt Martini, mögen allerdings junge Männer thun, aber
nichts ist häßlicher gls Ardclio in grauen Haaren.
Zum Glück für die hier geschilderte Classe gab es außer den Morgen-
besuchen noch eine Menge nicht minder wichtiger Veranlassungen, den ganzen
Tag außer dem Hause zuzubringen. Das hatten alle, die von ihrer Zeit
einen bessern Gebrauch zu machen wußten, oft schmerzlich zu empfinden. „Es
ist merkwürdig, sagt der jüngere Plinius, wie in^ Rom an jedem einzelnen
Tage die Rechnung stimmt oder doch zu stimmen scheint: im Ganzen aber und
wenn man mehre zusammennimmt, gar nicht. Denn wenn man jemanden
fragt: Was hast du heute gethan? so ist die Antwort: ich habe einer Anlegung
der Männertoga beigewohnt, eine Verlobung oder Hochzeit mitgemacht; jener
hat mich zur Mituntersieglung seines Testaments, dieser-zum Beistand vor
Gericht, ein dritter zu einer Berathschlagung eingeladen. Dergleichen Dinge er¬
scheinen an dem Tage, wo man sie gethan hat, nothwendig, wenn man
bedenkt, daß man sie täglich gethan, nichtig, und das um vieles mehr, wenn
man Rom im Rücken hat. Hier sind nur einige von den zahlreichen gesell¬
schaftlichen Verpflichtungen erwähnt, die eine ausgebreitete Bekanntschaft in
Rom mit sich brachte; andere waren zum Theil noch zeitraubender und lästiger,
wobei man in Anschlag bringen muß, daß die meisten einen festlichen Anzug
erforderten und es ohne weite Wege in der großen Stadt selten abging. Bei
allen bedeutenden festlichen oder schmerzlichen Anlässen forderte die Sitte, daß
die Freunde des Feiernden oder Trauernden sich in nwglichst großer Zahl ein¬
fanden, z. B. auch bei Leichenbegängnissen. Die Anlegung der Männer¬
toga war die Ceremonie, die den Eintritt des Knaben ins bürgerliche Leben
bezeichnete, gewöhnlich im fünfzehnten Jahr. Besonders zeitraubend müssen
Verlobungen und Hochzeiten gewesen sein, wenn mar Bekanntschaften unter
den Damen hatte, die sich schon wieder scheiden ließen, wenn das grüne Laub
noch nicht abgewelkt war, das bei»: Einzug der jungen Frau die Pfosten
der neuen Hausthür schmückte, und es so zu acht Männern in fünf Jahren
brachten. Außer der Abfassung des letzten Willens gab es noch eine große
Anzahl bürgerlicher Handlungen, die zu ihrer Nechtsgiltigteit die Anwesen¬
heit mehrer Zeugen erforderten; diese' untersiegelten das betreffende Docu-
ment genau in der Reihenfolge, die sich aus ihrem Rang und ihrer gesell¬
schaftlichen Stellung ergab. Dann waren Krankenbesuche zu machen, man
mußte einem Proceß beiwohnen, einen Kandidaten bei seiner Amtsbewerbung
unterstützen, das Gefolge eines Consuls oder Prätors bei dem feierlichen
Antritt seines Amts vermehren. Oder man hatte einem Rechtsanwalt zugesagt,
ihn plädiren, einem Lehrer der Beredsamkeit ihn vortragen zu hören, oder
(das schrecklichste der Schrecken) die Einladung des neuesten poetischen Genies
zu der Vorlesung des schon so lange sehnlich erwarteten Gedichts angenommen.
In diesem Strudel von geselligen Verpflichtungen war es schwer, sich selbst
zu leben. Es war kein Wunder, wenn tiefere Naturen, wie Hornz, sich aus
den „Fluten und Stürmen" des römischen Lebens in die Ruhe und Ein¬
samkeit des ländlichen Anfenthalts retteten. Dagegen waren die Ardelioncn
in ihrem Element; die Verhältnisse beförderten das Wachsthum dieser Men-
schenclasse ins Grenzenlose und ließen sie nie ausgehn.
Der gesellige Verkehr erhielt durch die Sitte, an öffentlichen Orten zur
Unterhaltung zusammenzukommen, (die für die beschäftigten Müßiggänger
und Pflastertreter wie geschaffen war) eine gewisse Aehnlichkeit mit dem
modernen italienischen; nur daß freilich die Zahl dieser Orte gegenwärtig
auf sehr wenige beschränkt ist, als CafM. Buchläden, u. dergl. in denen
immerhin noch ein guter Theil der Stadtbevöilerungen sich mehr oder minder
beständig aushält, Bekanntschaften anknüpft und cultivirt, Neuigkeiten
erfährt und erzählt, Konversation macht u. s. w.. so daß die Brennpunkte
des geselligen Lebens für ganze Classen des Mittelstandes im untern und zum
Theil schou im mittlern Italien außerhalb des Hauses liegen. Im alten Rom-
war dies in unendlich höherm Grade der Fall, theils infolge der antiken
Lebensweise, theils der Großartigkeit und Menge öffentlicher Anstalten, zu
denen der Zutritt' niemandem versagt war. Die Sitte des täglichen Bades
versammelte nach Beendigung der Tagesgeschäfte, unmittelbar vor der Haupt¬
mahlzeit viele tausende in den Thermen. "Diese wundervollsten Prachtbauten
der Kaiserstadt, deren Ueberreste den Ruinen ganzer Städte gleichen, enthielten
nicht nur Badeanstalten aller Art, sondern auch weite Säle und Hallen zu
gymnastischen Uebungen, zur Unterhaltung, zur Erfrischung, kurz alle nnr er¬
denklichen Comforts. Wie hier kamen auch auf dem Marsfeld nur Männer
zujamuieu, auf dessen auch im Winter grünen Rasenboden eine Menge sich in
Leibesübungen tummelte, wo man ritt, fuhr, Ball schlug, in Waffen und im
Ringkampf sich »urß, in den gelben Fluten der vorüberströmenden Tiber
schwamm und Gewandtheit und Kraft von den Bravos der Zuschauer belohnt
wurden. Dagegen auf den öffentlichen Spaziergängen zeigten sich auch Frauen.
Hier wandelte man zwischen Buxhecken oder im Schatten von Platanen- und
Lorbceralleen, um die sich Säulenhallen zogen, mit Statuen, Bildern und kost¬
baren Teppichen reich geschmückt. Hier sah man zierlich gekleidete Männer
neben Sänften von Frauen gehn, und den Sonnenschirm über sie halten.
Auch die Schauspiele wurden als Orte der geselligen Unterhaltung benutzt,
und wenigstens im Circus saßen Männer und Frauen zuscunmeu. Endlich
die Tempel waren als Orte der Verführung förmlich verrufen, am meisten
die der ägyptischen Gottheiten, und ein unter Tiberius in die Öffentlichkeit
gelangtes schandbares Ereigniß bewirkte damals scharfe Maßregeln gegen die¬
sen Gottesdienst. Ein römischer Ritter hatte im EinVerständniß mit den
Priestern eine angesehene Frau unter der Maske des hundsköpfigen Gottes
Anubis verführt, und sie war naiv genug gewesen, sich der ihr zu Theil gewor¬
denen Ehre gegen ihre Freundinnen zu rühmen.
Auch an den Gastmählern nahmen Frauen Theil. Neuvermählte mußten
oft gleich nach der Hochzeit eine Reihe von solchen ihnen zu Ehren veranstal¬
teten Festlichkeiten durchmachen. Hier hatten in der Stadt „wo man des
Lasters lachte und verführen und sich verführen lassen Zeitgeist hieß" (Tacitus),
die Bewerbungen der Männer um die Gunst der Frauen um so mehr Aussicht
aus Erfolg, als sie von so mancher aufregenden Unterhaltung unterstützt zu
sein pflegten; denn üppige spanische Ballete, frivole Scenen und Possen,
schmelzende Musiken wurden den Gästen zur Würze der Tafel, nur zu oft im
Uebermaß, geboten; falls nicht etwa der Hausherr seine eignen Gedichte vor¬
las. Eine von den Herolden Ovids schildert Paris Bemühungen um Helena
an der Tasel seines' Gastfreundes mit den Farben und im Costüm jener Zeit,
die Unsittlichkeit des damaligen Rom spiegelt sich in dein Gedicht aus eine
abschreckende Weise. Die freche Zuversicht des Verführers, der seiner Geliebten
versichert, sie könne nicht so bäurisch sein, eine Schönheit wie die ihre mit Tugend
vereinbar zu halten, und ließen sie die ihnen von Menelaus gebotene Gelegen¬
heit unbenutzt, so würden sie noch dümmer sein als er selbst; die graziöse
Unbefangenheit der schönen Frau, die ohne die mindeste Befremdung zu zeigen
zwar eine ausdrückliche Zusage ablehnt, aber andeutet, daß sie sich überraschen
zu lassen wünscht; endlich die grenzenlose Verachtung, mit der beide auf den
treuherzigen und vertrauensvollen Gemahl herabsetzn — alles dies sind aus'
dem Leben genommene Züge, und so ist es auch die folgende Schilderung der
gemeinsamen Mahlzeit. Die Schöne fühlt die kühnen unverwandten Blicke
ihres Bewundrers auf sich geheftet; er seufzt, er ergreift ihren. Becher und
berührt ihn an der Stelle mit seinen Lippen, an der sie ihn zum Trinken
angesetzt hat, er macht ihr Zeichen mit Augen und Fingern, er schreibt mit
Wein zärtliche Chiffern auf den Tisch, er erzählt Liebesgeschichten, die in durch¬
sichtiger Verhüllung seine eigne Leidenschaft verrathen, ja er stellt sich betrun¬
ken, um seine Kühnheit unverfänglich erscheinen zu lassen.
Es gibt leider keinen gleichzeitigen Schriftsteller, der uns Proben aus der
geselligen Conversation des kaiserlichen Rom in irgend einer Zeit aufbehalten
hätte, höchstens die Briefscnnmlung des jüngern Plinius kann uns dienen, um
den aus Herzlichkeit und Höflichkeit gemischten Ton der höhern Stände uns zu
vergegenwärtigen, in dem der gebildete Italiener, der Meister der Gentilezza,
auch heute so viel Angenehmes so ungezwungen bei jeder Gelegenheit zu sa¬
gen weiß. Unter dem Druck des schrankenlosesten Despotismus, in der unmit¬
telbaren Nähe des Hofes und bei einer in allen Ständen aufs umfassendste
laues mit provocirenden Agenten) organisirten Spionage konnte sich übrigens
auch das gleichgiltigste Gespräch nur mit tastender Behutsamkeit bewegen, und
völlig zwanglos war man auch unter den besten Regierungen nicht. Martial
sagt in einem Gedicht. worin er sechs Freunde zu einem frugalen Mahle
ladet, diesem Feste solle die Freimütlngkcit sern bleiben, die man am
andern Tage bereuen könnte Dies war freilich ein Gebot der natürlichsten
Klugheit. aber es mochte schwer genug sein, alle Gegenstände zu
vermeiden, deren Besprechung damals möglicherweise freimüthig gesunden wer¬
den konnte, wenn man nicht Martials Rath, „sich von den Blauen und Grü¬
nen im Circus zu unterhalten" ausschließlich befolgen wollte. Die gewaltsame
Ausschließung der Oeffentlichkeit in allem, was die innere und äußere Politik
betraf, hatte natürlich die Folge. Vermuthungen, Gerüchte und Combinationen
ins Grenzenlose zu vermehren (Tacitus neun Rom eine ..redclustige" Stadt)
und die Sehnsucht nach Neuigkeiten unaushörlich rege zu erhalten. Es fehlte
nicht an Leuten, die immer das Neueste wußten und dieser begehrten Eigen¬
schaft manche Ginladuug an wohlbesetzte Tafeln verdankten ; ihre Kunst war sehr
einfach; was sie nicht erfahren konnten, erfanden sie. Sie kannten die neuesten
Intentionen des parthischen Cabinets. wußten die augenblickliche Stärke der Be¬
satzungen am Rhein und Donau auf den Mann anzugeben, waren im Stande mit¬
zutheilen, was die eben Zugetroffene und noch nicht eröffnete Depesche von der
deutschen Armee enthielt, wie oft im Lauf des Jahres in Oberägypten Regen
gefallen, wie viel Schiffe aus den «Manischen Häfen ausgelaufen waren,
welcher Dichter bei der nächstem Preisvertheilung auf dem Capitol den Kranz
erhalten werde. „Spare deine Kunst," redet Martial einen solchen Fabrikanten
von Neuigkeiten an, „du sollst heute bei mir essen, aber nur unter der Be¬
dingung, daß du mir nichts Neues erzählst." Doch bei weitem schlimmer
und unheilvoller war die Aufspürung und Verbreitung von Geheimnissen,
durch die bedeutende Männer compromittirt und oft ganze Familien den,
Untergange geweiht wurden, nicht immer durch böse Absicht, sondern oft genug
nur dach die Sucht, mit wichtigen und interessanten Neuigkeiten groß zu
thun veranlaßt. Seneca leitet diese Umträgerei aus dem Bedürfniß des
beschäftigten Müßiggangs" ab. die Zeit zu füllen, „daher." sagt er. „rührt
jenes scheußlichste Laster, die Horcherei, und Aufspürung von öffentlichen und
geheimen Angelegenheiten und die Wissenschaft vieler Dinge, die weder sicher
angehört noch sicher mitgetheilt werden." Dieser Umträgerei leisteten die un¬
geheuern Dienerschaften der großen Häuser außerordentlichen Vorschub. Ein
Reicher, sagt Juvenal. hat nie ein Geheimniß. Wenn seine Sklaven schwei¬
gen, reden seine Pferde und Hunde, seine Thürpfosten und Marmorwäude.
Er schließe seine Fenster, verstopfe die Spalten, lösche das Licht, und wenn
niemand bei ihm schläft, weiß doch vor Tagesanbruch der nächste Schenkwirth,
was er um die Zeit des zweiten Hahnenschreis gethan hat. Die Sklaven
fanden noch größeres Vergnügen darin, die Geheimnisse ihrer Herrschaft aus¬
zuplaudern, als gestohlenen Falerner zu trinken, und rächten sich für empfangene
Prügel durch Geschichten, die zu erfinden sie keineswegs blöde waren, die
Zunge war an ihnen der schlimmste Theil. So ging denn nicht leicht etwas
in der Gesellschaft vor, das nicht in den zunüchststehenden Kreisen sogleich
Gegenstand des Gesprächs geworden wäre, und der Konversation floß immer
neuer, unerschöpflicher Stoff zu. Ein reicher Mann starb plötzlich an, einer
Indigestion ohne ein Testament zu machen, ein andrer baute ein großes Haus
in der Stadt oder aus einem Gute, jemand, der in beschränkten Verhältnissen war,
veranstaltete ein luxuriöses Gastmahl, dergleichen wurde bei allen Gastmählern,
in Thermen und Theatern besprochen, commentirt und kritisirt. Natürlich
war nichts willkommner als Verhältnisse aller Art zwischen beiden Geschlech¬
tern. Schon Properz wußte, , daß Cynthia nicht ungestraft schön sein durfte,
und daß der Schönheit die Nachrede als Buße beigesellt ist. Besonders unter
den Frauen fehlte es nicht an solchen, die alles wußten, was vorgegangen
war, und auch manches, was nicht vorgegangen war. Doch neben der Skan¬
dalchronik gab es im kaiserlichen Rom noch ein anderes, ebenso unerschöpfliches und
kaum minder beliebtes Thema der Unterhaltung, die Schauspiele. Die Bestre¬
bungen der Kaiser, das Volk durch Schauspiele zu beschäftigen und zu unter¬
halten, sind allbekannt, und wurden auch von den Zeitgenossen vollkommen
richtig beurtheilt. Schon dem Schöfffer des pantomimischen Ballets, das auf
der Bühne des kaiserlichen Rom in kurzem völlig dominirte. wird ein daraus
bezügliches kühnes Wort in den Mund gelegt. Als August ihm wegen seiner
Rivalität mit seinem Kunstgenossen Bathyll und der daraus im Publicum ent¬
standenen Spaltungen Vorwürfe machte, soll er geantwortet haben: „Es ist
dein Vortheil, Cäsar, wenn das Volk durch uns in Anspruch genommen wird.
Die kolossalen Anstrengungen der Cäsaren. die Interessen des Volks in diese
Bahn zu lenken, sind durch den Erfolg noch übertroffen wurden. Die Leiden-
schaft für die Bühne, die Arena und den Circus glich einer epidemischen
Krankheit, die sich von den untern Schichten der Gesellschaft auf die höhern
Stände verbreitete, die Leidenschaft für Gladiatoren* und Rennpferde, so wird
in einer um die Zeit von Titus Tod verfaßten Schrift geklagt, erfüllte die
Gemüther so völlig, daß sie keinen Raum für edlere Bildung ließ.
Noch ein charakteristisches Moment der geselligen Unterhaltung ist zu er¬
wähnen. Die beiden ersten Jahrhunderte waren Zeiten, in denen das Streben
nach encyklopädischer Bildung sehr verbreitet war, das, wie natürlich, häufig
genug in oberflächliche Viclwisserei ausartete. Daß diese nicht ermangelte, sich
in der Konversation gehörig zur Schau zu stellen, versteht sich von selbst. Die
Art, wieder petronische Trimalchio sich an seiner Tafel über alle Wissenschaften
und Künste vernehmen läßt, zeigt hinreichend, wie sehr dergleichen The¬
mas zur Unterhaltung beliebt waren, denn wenn schon ein reicher Freigelasse¬
ner in einer Handelsstadt dabei so lange verweilt, muß in dem bildungseifrigen
Rom bei weitem mehr Aufheben davon gemacht worden sein. In der That
fehlte es nicht an solchen, die philosophische und literarische Studien machten,
um ihre Gelehrsamkeit bei Tafel auszukramen und vielleicht- gar die Bewun¬
derung eines Senators zu erregen, den ein günstiges Geschick ihnen zum
Nachbar geben mochte.
Solche vereinzelte, zufällig erhaltene Züge geben von dem Ton und In¬
halt der geselligen Unterhaltung freilich nur ein sehr unvollkommnes Bild.
Manches würden wir uns denken können, auch wenn wir nicht im Stande
wären es mit Citaten zu belegen, wie wir z. B. auch ohne Senecas aus¬
drückliche Mittheilung wissen würden, daß Einleitungen von Gesprächen mit
Betrachtungen über das Wetter zwar gewöhnlich waren, aber keineswegs sür
geistreich galten. Zum Schluß möge hier die Schilderung eines Stutzers aus
Martials Feder stehn. Er trügt sein Haar in kunstvoller Ordnung, er duftet
stets nach den feinsten Gerüchen. Er trällert alexandrinische Melodien und
Ritornells spanischer Ballete, er bewegt seine glatten Arme in tänzerartiger
Manier. Er sitzt den ganzen Tag unter den Lehnsesseln der Frauen und hat
immer in irgend ein Ohr zu flüstern. Er schreibt Billetchen und liest die
Billetchen andrer, er nimmt sich vor einer Berührung mit dem Ellbogen sei¬
nes Nachbars in Acht. Er weiß von jedem, in welche Frau er verliebt ist,
er läuft von einem Gastmahl zum andern, er weiß den Stammbaum des
beliebtesten Renners im Circus auswendig. Der Dichter meint, es sei eine
sehr verwickelte Sache, alle diese Eigenschaften zu vereinigen.
Wir haben bei dein Erscheinen des ersten Bandes der Freseschen Ueber¬
setzung aus den Werth hingewiesen, den Lewes' Leben Goethes auch für
Deutschland hat (Grenzboten 1857, 1. Quartal S. 262 ff.); wir haben zu¬
gleich auseinandergesetzt, inwiefern grade ein Engländer geeignet ist, die man¬
nigfachen Schwierigkeiten zu ebnen, die' sich einem solchen Unternehmen in den
Weg stellen. Auf diesen Punft kommen wir daher nicht mehr zurück. Der
zweite Band hat sehr lange auf sich warten lassen! der Uebersetzer rechtfertigt
diese Verzögerung durch die Sorgfalt seiner Arbeit, die in der That volles
Lob verdient; auch die wenigen Anmerkungen, die er hinzusetzt (z. B. bei
Gelegenheit von Christiane Vulpius) sind vortrefflich. Ob nicht eine größere
Freiheit in der Behandlung des Textes für ein deutsches Publicum wünschens-
werther gewesen wäre, ist freilich eine andere Frage. Namentlich in zwei
Punkten hätte die Verschiedenheit der beiden Sprachen berücksichtigt werden
sollen. Einmal gebraucht Lewes mit großem Behagen Kraftnusdrücke, die
im Englischen nicht so schlimm klingen, die aber im Deutschen einen gradezu
injuriösen Charakter annehmen; zuweilen auch da, wo die Beleidigung
offenbar nicht beabsichtigt ist. So heißt es S. 183 von der Schlegelschen Ueber-
setzung des Shakespeare wörtlich! „sie sei keineswegs so getreu, wie man in
Deutschland meint, oft erbärmlich schwach und bisweilen sehr fehlerhaft
in der Auffassung des Sinns," und ohne allen Uebergang wird hinzugesetzt,
„im Ganzen habe sie in aller Literatur nicht ihres Gleichen." Eine solche
Zusammenstellung von entgegengesetzten Prädicaten hat in Deutschland keinen
Sinn, in England lernt man schon aus den parlamentarischen Debatten, über
„den ehrenwerthen Gentleman, dessen gaunerische und spitzbübische Ma߬
regeln das Land ruinirt haben, der aber sonst allgemeine Achtung verdient,"
sich nicht weiter zu verwundern. Ddß Lewes auch bei dieser Stelle von den
deutschen Gelehrten meint, ihre Kenntniß des Englischen reiche nicht so weit,
um zu beurtheilen, ob etwas richtig oder falsch übersetzt sei, gehört zu den
zahlreichen Höflichkeiten gegen das deutsche Volk. Hätte er sich etwas in der
Shatespe^arelitcratur seines Vaterlandes umgesehn, wo unter den 10 — 15 Gelehr¬
ten, welche die Höhe dieser Wissenschaft erstiegen haben, so ziemlich jeder den
andern für einen Ignoranten erklärt, so würde ihn das etwas gnädiger gegen
die deutsche Gelehrsamkeit gestimmt haben. — Eine zweite Eigenthümlichkeit
des Originals, die der Ueberscher hätte mildern können, liegt in dem gar zu
blütenreichen Stil, der nicht den Engländern irn^ Allgemeinen, sondern der
Schule Carlyles angehört. Zuweilen sind Lewes' Bilder wie die seines
Meisters von seltener Schönheit, aber noch häusiger verlieren sie sich in eine
Malerei, die vielleicht in der dcscriptiven Poesie ihre Stelle fände, in die
Prosa aber, nicht gehört, wo das Bild nur insofern Berechtigung hat, als es
dem Gegenstand einen deutlicheren Ausdruck gibt. Es soll kein Tadel gegen
den Uebersetzer sein, da er sein Princip, Lewes genau so reden zu lassen, als
er wirklich redet, klar ausgesprochen hat; doch glauben wir, daß eine schonende
Bearbeitung bei der Mehrzahl der Leser den Zweck besser erreicht hätte.
Da das Buch bei unserm Publicum bereits den Eingang gefunden hat, den
es in reichem Maße verdient, so wollen wir gleich hier alles zusammenstellen,
was sich dagegen sagen läßt,, weil eine übertriebene Anerkennung des eng¬
lischen Schriftstellers ein Unrecht gegen unsere Landsleute wäre, die in dem¬
selben Fach gearbeitet haben.
. Das ganze Buch ist nämlich von einer unangenehmen, weniger persön¬
lichen als nationalen Selbstgefälligkeit getränkt. Für unsern großen Dichter
empfindet Lewes eine ehrliche, warme, herzliche Verehrung, aber fortwährend
bricht bei ihm die Ansicht durch, daß er von seinem Volk ganz und gar nicht
verstanden sei. Am weimarscher Hofe eingeführt, hat er die sogenannte
Goethcliteratur, so weit es einem Fremden möglich ist, gründlich studirt, aber
das berechtigt ihn noch nicht, sich aus diesem sehr kleinen Kreise ein Bild von
der öffentlichen Meinung Deutschlands zu machen. Es ist mit jedem Special-
studium fast unzertrennlich verbunden, daß sich auch bei den ehrlichsten und
geistvollsten Männern gewisse Grillen einstellen, die sich nur aus dem zu nahen
Standpunkt und der dadurch verrückten Perspective erklären; so ists auch in
der Goetheliteratur gegangen. Wer sich von Goethe eine gründlichere Kennt¬
niß angeeignet hat, als die Menge besitzt, legt sich natürlich am liebsten auf
denjenigen Theil seiner Werke, zu dessen Verständniß ein tieferes Studium
gehört, z. B. auf den zweiten Theil des Faust, auf die Wanderjahre und
Aehnliches. Die wahrhaft classischen Schöpfungen Goethes bedürfen keines
Commentars, jedes gesunde Gefühl versteht sie ohne weitere Beihilfe; in den
genannten Schriften dagegen verlangt fast jede Seite einen eignen
Schlüssel, und wer sollte diesen anders geben, als diejenigen, denen die
Erklärung Goethes gewissermaßen ein Lebensberuf ist! Hätte Lewes dies
in Erwägung gezogen, so hätte er sich nicht darüber gewundert,
unter seinen Quellen so viele Commentare über den zweiten Theil des
Faust, die Wanderjahre, die Geheimnisse, den Triumph der Empfindsamkeit
u. s. w. zu finden, er hätte sich nicht darüber gewundert, wenn das detail-
lirte Studium dieser Werke, in denen trotz der schwachen Komposition sich
der tiefe Denker und die schöne Empfindung nie-verleugnet, den Ausleger
verführt, grade darauf einen übertriebenen Werth zu legen. Wenn er
aber daraus den Schluß ziehet, daß das deutsche Volt im Allgemeinen Goethe
hauptsächlich aus seinen Apokryphen kennen lernt, so möchte man die Hände
über dem Kopf zusammenschlagen. Die Zahl derer, welche den zweiten Theil
des Faust einmal durchgelesen haben, wird nicht viel größer sein als die
Zahl derer, die den ganzen Messias kennen, und was die zweite Lectüre be¬
trifft, so wird das Verhältniß sich noch ungünstiger herausstellen. Ueber
Dinge, die man nicht weiß, soll man aber kein Urtheil abgeben. Lewes be¬
stimmt den Werth der einzelnen Werke Goethes im Ganzen richtig, wie ihn
in Deutschland seit 70 Jahren jeder bestimmt hat, der Goethe liest, aus¬
genommen einen Theil derjenigen, die über Goethe schreiben, und die, um
nicht die alten Ideen immer zu wiederholen, zuweilen etwas behaupten, was
zwar neu, aber nicht wahr ist. — Neben jenen phantastischen Bewunderern
sieht Lewes nur die sogenannten Feinde Goethes, diejenigen, die seine Her¬
zensgüte in Abrede stellen, und namentlich sein vaterländisches Gefühl.be¬
zweifeln. Was das Erste betrifft, so war es in der That nöthig, thörichten
Angriffen durch eine ernste Widerlegung zu begegnen. Es ist in dieser Be¬
ziehung zwar in Deutschland schon viel geleistet, aber Lewes' Darstellung hat
den Vorzug einer schönen, hinreißenden Beredsamkeit, und muß jeden über¬
zeugen, der ihr nicht bösen Willen entgegensetzt. Was nun das vaterländische
Gefühl betrifft, so wiederholt Lewes die hohlen Redensarten, die wir schon
von anderer Seite her gewohnt sind, was denn Goethe hätte thun sollen, ob
Freiheitslieder dichten oder einen Landsturm organisiren, und ähnliche Fragen,
die wegen ihrer Einfalt keine Antwort verdienen. Ueber so etwas hat ein Eng¬
länder nicht mit zu reden, er versteht nichts von dem tiefen Schmerz, der uns
durch die Seele fährt, wenn wir sehen, wie Goethe, wie I. v. Müller, wie
Hegel und andere in jenen Jahren der Schmach und Noth empfunden haben.
Wer denkt denn daran, sie persönlich vor der Nachwelt verantwortlich zu
machen? Aber daß es möglich war, daß unsere ersten Geister in einer Zeit,
wo auch der stumpfsinnigste hätte ergriffen werden sollen, gnr kein Gefühl
hatten für ihr Vaterland, daß einige gute Worte des Eroberers sie zu seiney
Anhängern machen konnten, das ist ein Umstand, den wir uns immer wieder
von neuem in Erinnerung rufen müssen, um die ungesunde Gesinnung, auf
welcher zum Theil unsere classische - Literatur beruhte, auf immer zu ver¬
bannen.
Am wunderlichsten nimmt sich eine Form der Polemik aus, die leider
sehr um sich greift, und bei der doch jeder Sinn aufhört. Lewes zählt näm¬
lich gewisse Vorwürfe auf, die man dem Dichter gemacht, mißbilligt dieselben
auf das entschiedenste, ergeht sich über die Urheber derselben in den stärksten
Jnvectiven, und überrasche dann seine Leser nicht wenig, indem er ungefähr
dieselben Vorwürfe in seinem eigenen Namen, zuleiten in viel gröberer Form,
wiederholt. Es ist überhaupt schwer zu sagen, was diese ganze Polemik soll,
da das Buch zunächst doch für ein englisches Publicum geschrieben ist, welches
von Goethes Auslegern und Kritikern nicht das Mindeste weiß; im Gegen¬
theil erst über Goethe etwas Bestimmteres zu erfahren wünscht, und es sieht
beinah so aus, als ob Lewes der EitelkeK seines Volks habe schmeicheln
wollen: die Deutschen hätten zwar zufällig einen großen Dichter hervorgebracht,
aber sie seien nicht im Stande gewesen ihn zu verstehen.
Gegen ein solches Verfahren muß von deutscher Seite entschieden pro-
testirt werden. Unser Volk hat über seinen größten Dichter im Ganzen ein
vollkommen richtiges Urtheil, und es ist mit seinem Leben vertraut. Die
Extravaganzen einzelner Schriftsteller, denen doch zum Theil ein ursprünglich
richtiger Gesichtspunkt zu Grunde liegt, sind nicht in die Gesinnung der
Menge eingedrungen. Darum Hütte eben der Uebersetzer seinem Original
gegenüber die Freiheit des bessern Wissens in Anwendung bringen sollen, die
Vorzüge desselben wären dann viel reiner hervorgetreten.
Und diese Vorzüge sind groß; sie sind so groß, daß wir das Buch trotz
allem, was wir dagegen gesagt haben, doch immer noch für die beste Bio¬
graphie Goethes halten. Was die Feststellung der Thatsachen betrifft, so
haben wir zwar nicht gefunden, daß er etwas Wesentliches anführte, was
bei - seinem Vorgänger Schüfer nicht vorkäme : — da er diesen benutzt hat,
so Hütte er bei einzelnen Umstünden, die in diesem bereits festgestellt sind
z. B. bei dem Verhältniß Goethes zu Minna Herzlich, sich nicht das Ansehn
einer neuen Entdeckung geben sollen.
Aber er hat den großen Vorzug/gut zu erzählen. Die meisten Schrift¬
steller, die über Goethes Leben sich vernehmen lassen, vergessen, daß in solchen
Füllen der Leser mit Recht erwartet, wenigstens einen gewissen Abglanz von
Goethes Geist darin zu finden; sie ermüden entweder durch Trockenheit oder
durch Weitschweifigkeit. Wenn wir dagegen bei Lewes die einzelnen gezierten
oder zu weit verfolgten Bilder wegdenken, so haben wir fast durchweg eine
schöne, gebildete Darstellung; die Gruppirung ist sehr geschickt und in einzelnen
Abschnitten z. B, in der Darstellung der naturwissenschaftlichen Arbeiten Goe¬
thes sogar musterhaft; freilich nicht durchweg, wie denn die italienische Reise
aus zusammenhanglos aneinandergefüdelten einzelnen Sätzen Goethes be¬
steht. Das Urtheil ist zwar selten genügend motivirt, und mitunter, z. B.
in Tasso und Egmont. springt Lewes mit dem Dichter aus eine Weise um,
als ob er es mit einem Schüler zu thun Hütte, aber sast durchweg leitet ihn
tin richtiger Instinct, und wenn wir die Gründe veründern möchten, dem
Endurtheil können wir in den meisten Füllen beitreten. Am meisten erfrischt
uns die Wärme des Schriftstellers für seinen Gegenstand, sie erfrischt uns um'
so mehr, da er Goethe n^ehe thöricht vergöttert, ihn nicht über die Gesetze
erhebt, denen alle übrigen Menschen unterworfen sind, sondern ihn innerhalb
derselben rechtfertigt. Und wol konnte er das, denn wie viel wir auch, ge¬
wohnt, in Goethe unser höchstes Ideal zu suchen, in seinem Leben vermissen,
so erkennen wir immer mehr, je tieser wir in den Kern seines Wesens ein¬
dringen, daß die schöne Dichtung aus einer schönen Seele hervorging. Wir
möchten bei der Betrachtung seines Lebens ein Bild anwenden, welches in
der Zeit seines Zusammenlebens mit Schiller ihn häufig beschäftigte. Es
war eine griechische Sage, daß der überglückliche Mensch, um die Götter zu
versöhnen, dem Neid derselben das höchste Kleinod des Lebens opfern müsse-,
so scheint es Goethe, der gewiß der Liebe fähiger war, als ein anderer,
dunkel von der Liebe empfunden zu haben. sonst würde uns die Scheu, die
ihn in den entscheidenden Momenten überfällt, gradezu unverständlich sein.
Lewes bemüht sich zwar in wohlmeinender Absicht, die Ehe mit Christiane
bis zu einer gewissen Grenze als die wirkliche Erfüllung seines Ideals dar¬
zustellen, und er folgt darin den geistvollen Paradoxien Adolph Stahrs,
aber was darüber zu denken ist, hat bereits der Ueberseher in einer sehr be-
achtenswerthen Anmerkung ausgesprochen.
Im Ganzen mögen wir also das Buch auch für unsere Literatur als
einen Gewinn betrachten- es wird viele Leser finden, die sich von der trocke¬
nen Manier seiner Vorgänger nicht angezogen fühlten, und dazu beitragen,
den Cultus des Schönen in unserm Volk zu kräftigen, der durch die streng
sittliche Betrachtung zwar begrenzt, aber nicht aufgehoben werden soll. Das
Bewußtsein, daß der Inhalt des Lebens wenigstens ebenso wichtig ist, als
die Form, hat sich jetzt allgemein verbreitet, es kann nicht schaden, wenn
man den Materialismus unserer Tage auch an den entgegengesetzten Gesichts¬
punkt erinnert.
Das zweite Buch rührt gleichfalls von einem Biographen Goethes her;
es gehört zu einer größern Reihe von Schriften: Das deutsche Volk dar¬
gestellt in Vergangenheit und Gegenwart, zur Begründung der
Zukunft, der wir schon manche beachtenswerthe Mittheilung zu verdanken
haben, und bemüht sich, das literarische Leben des vorigen Jahrhunderts in
Biographien einzelner hervorragender Dichter zu charakterisiren. Das erste
Bündchen enthält Hagedorn, Haller, Klopstock, die leipziger und Halberstädter
Schule, Las zweite Bändchen Lessing, Wieland und die Göttinger, das dritte
Herder, Goethe und Schiller. Der Verfasser hat mit großem Geschick in dem
beschränkten Raum, der eine tiefer eingehende Untersuchung ausschloß, die¬
jenigen Momente in zweckmäßigen Gruppen zusammengestellt, welche dem
Volk ein deutliches Bild von dem Treiben seiner Lieblinge geben, und es
daran gewöhnen, ohne Abgötterei, aber mit warmer Verehrung zu der Zeit
zurückzublicken, auf welcher doch immer unsere heutige Bildung beruht.
Wir haben diese Schrift mit einer gewissen Ueberraschung und vielem Interesse
gelesen, erstens weil wir nach dem Verleger eine mehr oder minder verstekte russische
Tendenz erwarteten. Man errinnert sich, daß während des orientalischen Krieges
eine Reihe von Broschüren erschien, welche im Interesse des europäischen Gleich¬
gewichts die Erhaltung des ungeschwächten Machtbcstandes Rußlands empfahlen
und Deutschland zur freundlichen. Neutralität ernährten, weil in Petersburg der
Schwerpunkt des antirevolutionüren Systems liege; mehre dieser Pamphlete gingen
aus obiger Officin hervor und wir waren auf ein gleiches gefaßt, wir haben uns
angenehm enttäuscht gefunden, und den Ausführungen des unbekannten Herrn Ver¬
fassers zum großen Theil unsern Beifall nicht versagen können. Die Schrift ist das
entschiedenste Plaidoyer gegen russische oder französische Allianz und für die englisch-
östreichische, und schließt mit einem bedeutsamen Hinblicks auf die bevorstehende
Familienverbindung des preußischen und englischen Königshauses. Wir wollen ver¬
suchen eine kurze Analyse der vorgetragenen Ansichten zu geben und zu begründen,
bis wie weit wir mit dem Verfasser gehen können. Derselbe sucht in einem ein¬
leitenden Capitel „die Situation" die dermalige Stellung der europäischen Staaten
zueinander zu zeichnen und findet, daß die frühere Spannung zwischen Frankreich
und Nußland sich in den Explosionen von Scbastvpol vollständig entladen, daß diese
beiden großen Staaten sich nähern und dagegen die Allianz der Westmächte ihren
hauptsächlichen Kitt in der beiderseitigen Feindseligkeit gegen Nußland verloren.
Man wird Hiergegen wenig einwenden können. Selbst wenn man als gewiß annehmen
darf, daß beide Theile von der Stuttgarter Zusammenkunft wenig befriedigt waren,
und Weimar in Paris sehr üble Laune verursacht hat, so bleibt eine Annäherung
zwischen Frankreich und Rußland unleugbar, es ist auch nicht wol zu bestreikn,
daß die schönsten Tage der westmächtlichen Allianz vorüber sind und das Cabinet
von Se. James im Gegenscch zu dem der Tuilerien noch stets eine Gereiztheit
gegen Rußland zeigt. Wir glauben zwar, daß Louis Napoleon keineswegs aus einen
Bruch mit England ausgeht, sondern vielmehr überzeugt ist, daß derselbe sein
Untergang sein würde, aber wir möchten vor allem deswegen den ungetrübten Be¬
stand der Allianz mit England für problematisch halten, weil sie aus den zwei
Augen des Kaisers steht, von einer Verbündung der beiden Völker ist keine Rede,
die Antipathien und streitenden Interessen treten in höflichem Formen auf, aber be¬
stehen ungeschwächt. Auch darin wird man dem Verfasser Recht geben müssen, daß
eine geheime Furcht vor Frankreichs Absichten, namentlich in Italien, Oestreich
zu der Concession von Weimar bewogen hat. Ebendeshalb halten wir auch die
Enthüllungen des Spectatcur für Fabeln; wenn Oestreich Englands Allianz sicher
war, wie Hütte es sich dazu bequemt, mit Rußland eine Aussöhnung zu suchen, die
so wenig Chancen hatte und wie man jetzt sieht ganz fehlgeschlagen ist? Wir
glauben, daß die Diplomaten jenes französischen Blattes die Glocken haben läuten
hören, aber doch nicht genau wissen, wie die Sachen stehen. Ohne in die Geheimnisse
der Staatskanzlei eingeweiht zu sein, will es uns nämlich sehr wahrscheinlich be-
dünken, daß die östreichischen Staatsmänner, welche gewiß nicht mit der Kreuz-
zeitung den Untergang der britischen Macht in dem indischen Aufstand sehen, die
schlimmste Periode desselben benutzt, um England zu einer Allianz einzuladen, aber
wir zweifeln daran, daß letzteres große Verpflichtungen gegen das wiener Cabinet
übernommen. Es ist bekannt, daß gleiche Interesse» die beiden Staaten in der
Donaufürstcnthümcrfragc geleitet haben; über diesen Punkt, über Schutz der Türkei
und Aehnliches mögen Verabredungen getroffen sein, aber gewiß sind keine Garantien
des Besitzstandes, vie für Oesterreich wegen Italien vor allem wichtig waren,
gegeben, im Gegentheil wird die Niederlage, welche Lord Palmerston durch Disraeli
in Betreff jenes geheimen Vertrages erlitt, den englischen'Premier gewiß sehr vor¬
sichtig gemacht haben. — Alle die verschiedenen Annäherungen und Spannungen
sind provisorischer, einleitender, sondireuder Natur, mehr als je gilt von der euro¬
päischen Staatengruppc das Wort Napoleons I.- 1v vivux «Me-mo sse Ä, bout, 1v
uouvoau u'est xoint ^8sis, die heilige Allianz ist zu Ende und auch von H. von
Gerlach begraben, was danach kommen wird verbirgt sich noch hinter dem Schleier
der Zukunft. Der Verfasser wirft nun die Frage auf, welche Politik Preußen
fromme, das von allen großen Bewegungen immer mehr oder weniger unberührt
und durch seine Lage anderseits am meisten geeignet sei, eine gewisse Vermittlung
auszuüben und sucht aus der Betrachtung der wesentlichen Interessen der Gro߬
mächte eine Antwort auf das (Zuiä tacis-mus nos?
Er beginnt mit einer Erörterung der Donaupolitik, als derjenigen Frage, bei
der sich eine vorläufige Gruppirung der fünf Großstaaten gezeigt hat, um dann zu
sehen, ob sich dieselbe nach ihren tiefern Lebensbedingungen wird halten können.
Wir stimmen ganz mit diesem Capitel überein; wenn auch die Lebenskraft der
Türkei etwas überschätzt ist, wird man ihr doch einen erheblichen Fond von Zähig¬
keit zugestehen müssen und Konstantinopel bleibt der wichtigste Punkt des Ostens.
Wir haben so wenig als der Verfasser begreifen können, was Preußen zu so ent¬
schiedenen Schritten gegen die hohe Pforte bestimmte, welche es noch nie beleidigt,
sondern ihm wiederholt wichtig gewesen, zumal da es nicht leicht materielle Mittel
in Bewegung setzen kann wie England, Nußland, Frankreich oder Oestreich, um
Verlornen Einfluß wiederzugewinnen und zu welchem Zweck? für einen Numänenstaat,
den Frankreich und Rußland begünstigen, weil er ihnen eine Handhabe biete.t, ersterem
gegen Oestreich, letzterem gegen die Türkei und Oestreich, wo sich die beiden
absolutistischen Militärmächte plötzlich für Wahlfreiheit begeistern und für nationale
Institutionen schwärmen. Was konnte Preußen bestimmen, mit den beiden zu gehen,
etwa Dankbarkeit für die Vermittlung in der ncuenburgcr Angelegenheit, in deren
Folge auch das nucluin Ms (Zuiritium verschwunden, oder für die rücksichtsvolle
Weise, in der es in der Schleswig-holsteinischen Frage unterstützt war, oder war es
nicht vielmehr das Vergnügen, Oestreich entgcgcnscin zu können im Schutze von
Rußland und Frankreich? Es scheint in letzterer Zeit das Verhängniß Preußens
gewesen zu sein, seine gewiß berechtigte Nebenbuhlerschaft gegen Oestreich zur Unzeit
geltend zu machen, es fehlte der Entschluß und vielleicht auch die Kraft, die großen
Lebcnsstrcitfragen zum Austrag zu bringen,, man entschädigte sich dafür durch kleine
Seitenhiebe, welche reizten ohne zu schwächen. Preußen hatte an den Rumänen
und ihrem Streite kein Interesse, aber es hätte diese Frage, wo seine Stimme
für oder gegen in die Wagschale fiel, benutzen sollen, um Oestreich zu sagen: Zug
um Zug, ich mit dir an der Donau, du mit mir an der Eider. — Wir sagen
deshalb mit dem Verfasser, daß die Wendung der preußischen Politik gegen das
preußische Interesse war und hoffen, weil wir an eine große Zukunft Preußens
glauben, daß die Gruppirung Frankreich, Nußland, Preußen vorübergehend sein
werde und keine Einleitung zu einer dauernden Allianz. Denn was können wir
von einer solchen erwarten? Diese Frage bespricht Cap. III. Es wird voraus¬
geschickt, daß unter Allianz nicht ein bloßes freundnachbarliches Verhältniß, welches
mit jedem Staate wünschenswert!) sei, oder ein augenblickliches Zusammenwirken zu
gcwissrn Zwecken verstanden werde, sondern eine aus unbestimmte Dauer für die
nicht im Voraus zu übersehenden Chancen der Politik geschlossene Verbindung, welche
daher eine Harmonie der Interessen für die verbundnen Theile voraussetzt. Diese
im Allgemeinen gewiß richtige Definition wäre doch vielleicht auf die Verbindungen
zu beschränken, welche man natürliche Allianzen zu nennen Pflegt, die Vereinigung
Rußlands und Preußens 1813 war gewiß eine rechte Allianz, und doch war sie
nur aus einen bestimmten vorübergehenden Zweck, das Zurückdrängen der französischen
Uebermacht, gerichtet, eine dauernde Harmonie der Interessen beider Staaten fand
nicht statt, eine solche findet sich aber z. B. unsrer Ansicht nach zwischen England
und Preußen und deshalb nennen wir diese beiden Mächte natürliche Alliirte. —
Wir wollen nicht umständlich die bündige und klare Recapitulation der von
diesen Blättern so oft geltend gemachten Gründe wiederholen, weshalb Preußen eine
Allianz mit Rußland unter den meisten Verhältnissen ungünstig sein müsse. Der
Verfasser zeigt, daß die Ideen von Legitimität, heiliger Allianz :c, eben ein Werkzeug
in den Händen des Petersburger Cabinets waren, und daß eine Politik systemati¬
scher Eroberung', wie sie an Konsequenz nur ein Seitenstück im römischen Senate
und der Curie habe, allen Nachbarstaaten höchst gefährlich sei; wie die Römer die
Unterjochung eines Volkes dadurch begannen, daß sie es zu ihrem Bundesgenos¬
sen machten, so sucht Rußland seine Nachbarn unter sein Protectorat zu
bringen, die Konsequenz von Se. Petersburg als Hauptstadt und Sebastopol als
Hauptfestung waren Kopenhagen und Konstantinopel als Vorstädte. Die Geschichte
zeigt, was Preußen durch Rußland gewonnen hat oder umgekehrt.
Was Frankreich betrifft, so stimmen wir allerdings in der Hauptsache, nämlich
daß für eine preußische Allianz auch hier die Bedingungen nicht vorhanden seien,
mit dem Verfasser überein, aber nicht so ganz in der Beurtheilung der Pläne des
Kaisers. Er scheint uns auf die napoleonischen Traditionen nach einer Seite hin
zu großes Gewicht zu legen; es ist wahr, der Neffe steht ganz auf den Schultern des
Onkels, aber er ist darum doch nicht weniger sein voMommncs Gegenstück, er braucht
die Glorie des ersten Kaiserreichs, um das zweite damit zu verbrämen, aber er thut
fast stets das Gegentheil von dem, was der erste seines Namens that. Wenn der
Verfasser ihm bereitwillig große Müßigung neben großer Klugheit zugesteht, warum
legt er auf frühere Aeußerungen bei der boulogner Landung solchen Werth? Das
ist eben der Vorzug, welcher Louis Napoleon auszeichnet, daß er beständig lernt und
sich nicht durch frühere Meinungen gebunden glaubt, wenn-er einsieht, daß er Un¬
recht gehabt, oder daß die Umstände sich geändert. War nicht die Geschichte mit
dem Adler in Boulogne absurd? warum soll eine damalige Phrase desselben Mannes,
er repräsentire die Niederlage von Waterloo, mehr gelten? Es war eben damals
eine Zeit, wo das rsvemons pour ^g-tsrloo in aller Munde war und Louis Napo¬
leon, der sich durch Boulogne wie durch Straßburg nur in Erinnerung bringen
wollte, bediente sich in seinem Proceß solcher Schlagworte, welche, wie er wußte,
zünden würden. In den läse« Mpolvonisnnes sind gewiß für den jetzigen Kaiser
höchst charakteristische Sachen, aber kann man glauben, daß er alles davon noch ver¬
treten werde? Wir glauben es -nicht, und glauben deshalb auch nicht, daß er die
Nhcingrenzc beabsichtigt, weil er weiß, daß dies ein Bruch mit England ist, den er
nicht ertragen kann. Wenn auf der andern Seite der Verfasser es Napoleon als
Verdienst anrechnet, der Stagnation der heiligen Allianz ein Ende gemacht zu haben,
so wollen wir dem nicht widersprechen, aber es scheint uns zu weit gegangen, wenn
er im napoleonischen Princip sogar etwas Heilsames für ganz Europa sieht, weil
es ein wesentlich dynamisches Princip sei; ist es als ein Glück zu preisen, daß die
Lorbeern des Staatsstreiches so viele Fürsten und Minister nicht haben schlafen lassen?
Sehr richtig macht die Bemerkung den Schluß des Capitels, daß, wenn weder mit'
Nußland noch mit Frankreich eine Allianz für Preußen wünschenswert!) sei, eine
Verbündung mit beiden vollends verkehrt sein würde, der langgestreckte Staat würde
in der Umarmung seiner beiden gröber zusammengesetzten Freunde erdrückt werden.
Es bleibt also, das ist der Schluß, dem wir von ganzem Herzen beistimmen,
für Preußen nur die Allianz mit England. Beide Staaten haben keine großen
Interessen, die sich widerstreiten, wo das der Fall und positive gleichartige Bestre¬
bungen dazu kommen, sind die Grundlagen eines natürlichen Bundes gegeben. Eng¬
land kann kein Dorf von Preußen gebrauchen, es bedarf aber einer sichern militä¬
rischen Allianz auf dem Kontinent, und ist Preußen bereit dazu, dies zu werden,
so wird England sein Auswachsen nicht nur nicht hindern, sondern, fördern. Man
kann, wie uns bedünken will, hierauf nicht genug Nachdruck legen. So lange Preu¬
ßen von Nußland sich umgarnen ließ und wesentlich eine anticnglischc Politik befolgte,
durfte es England nicht begünstigen, es würde sich jedoch gewiß jeder Schmälerung
seines Besitzstandes widersetzt haben; der Frage aber, ob Preußen ein zuverlässiger
Alliirter werde, wird England alle andern Bedenken unterordnen. Preußen dagegen
ist es unendlich wichtig, einen secmächtigen Verbündeten zu haben. Sehr hübsch
wird in Cap. IV. die Geschichte der Beziehungen beider Staaten zueinander skizzirt,
aber besonders schlagend ist die Schilderung der Grundlagen der englischen Macht.
„Es ist das Eigenthümliche der britischen Handels- und Seeherrschaft, daß sie in der
That nicht die Basis der britischen Größe bildet, sondern nur den Hebel ihrer Ent¬
wicklung, während das Fundament in einer soliden Landmacht liegt. England
ist Rom und Karthago zugleich. Und wie es ursprünglich als Agriculturstaat
gegründet ward und die Grundbesitzverhältnisse noch bis heute den Kern seiner po-
litischcn Verfassung bilden, so bildet noch bis heute die Landmacht den Kern seiner
Wehrkraft." — ,
Bis hierher haben wir dem Verfasser in allen Hauptsachen folgen können; jetzt,
wo er im fünften Capitel zur Allianz mit Oestreich kommt, werden wir bedenklich.
Er folgert 'es zunächst daraus, daß England Oestreichs natürlicher Bundesgenosse
sei und wir nicht der Feind von unsers Freundes Freund sein dürften. Es ist
wahr, daß viele Bündnisse zwischen London und Wien gezeichnet sind, indeß schlecht¬
weg würden wir doch nicht Oestreich den natürlichen Alliirten Großbritanniens
nennen; ob letzteres z. B. in Italien zu seinen Gunsten einschreiten würde, ist fraglich,
fraglich auch, ob es seine Partei genommen hätte, wenn 1850 der Krieg mit Preu¬
ßen ausbrach. Andrerseits wissen wir zwar sehr wohl, daß in Bezug auf die Türkei, ^
auf Eroberungsgelüstc Frankreichs beide Länder zusammenstehen.'und leugnen auch
gar nicht, daß gegen das Ausland eine Allianz zwischen Oestreich und Preußen ge¬
boten sein wird, aber der Verfasser nimmt es zu leicht mit der Nebenbuhlerschaft
beider Staaten. Um Schlesien handelt es sich freilich nicht mehr, sondern um ein
größeres Subject, die Führerschaft in Deutschland ; es ist doch sehr fraglich, ob Friedrich
der Große, wenn er jetzt lebte, wie der Verfasser denkt, sagen würde: „Wir (Oestreich
und Preußen) haben uns jetzt genug durchgcbläut und wollen eine Politik ergreifen,
welche Zerwürfnisse unmöglich macht." Er würde nicht so sprechen, weil die tiefere
Verschiedenheit der Interessen, die sich Deutschland gegenüber gegenseitig ausschließen,
es unmöglich machen würde. Wenn die Augsburger Allgemeine Zeitung von Zeit
zu Zeit dafür schwärmt, Oestreich als das Haupt und Preußen als das Schwert
Deutschlands zu sehen, so ist das von diesem östreichischen Constilutiounel ganz
politisch, weil es daraus herauskommen würde, daß Preußen sich zu Oestreich schlüge,
aber es ist im preußischen Interesse eben doch unmöglich. Aber das wünschen wir
mit dem Verfasser, daß beide gegen das Ausland einig seien, und daß sie es auf¬
geben, sich mit kleinen Eifersüchteleien zu ärgern, mögen sie ihre Gegensätze zurück¬
treten lassen bis zum Tage, wo sie dieselben austragen können. Daß, wenn Preu¬
ßen und Oestreich einig sind, das übrige Deutschland mit muß, ist gewiß nicht zu,
bestreiten, aber sie können ihren Lebensbedingungen nach eben oft und in Haupt¬
sachen nicht einig sein. Die Betrachtungen über das deutsche StaatcnsystcM und
das germanische Princip sind die schwächsten Abschnitte der Schrift, letzteres mag
immerhin eine gewisse Bedeutung haben, aber dieselbe darf vom Gesichtspunkte der
praktischen Politik nicht überschätzt werden. Hiervon abgesehen glauben wir unsern
Lesern die Schrift angelegentlich empfehlen zu können, man wird sie selbst da gern
lesen, wo man ihr nicht folgen kann, der Sinn ist ehrenwerth, die Ansichten be¬
stimmt und verständig vorgetragen, nur wäre im Interesse des guten Geschmackes
zu wünschen gewesen, daß Ausdrücke wie „Wischiwaschi" oder Preußen möge seine
Rippen vcrassecurircn, weggeblieben wären.
— Daß diejenige Periode der französischen Literatur, welche
bald nach dem Sturz des Kaiserreichs beginnt, einige Jahre nach der Julirevolution
ihre höchste Blüte erreicht, und dann vermittelst einer unerhörten Massenwirkung
die Februarrevolution motivirt, seit dem Eintritts jener Katastrophe in schneller Ab¬
nahme begriffen ist, konnte man schon seit mehrern Jahren wahrnehmen. Am
auffallendsten ist es im vergangenen Jahr hervorgetreten, wo der Tod eine Menge
der alten Berühmtheiten hinwegraffte. Man würde aber ebenso unrecht thun,
daraus aus eine Abschwächung des Volksgeistes im Allgemeinen zu schließen, als
wenn man aus ähnlichen Symptomen in Deutschland denselben Schluß ziehen
wollte. Die Poesie, gleichviel ob in guter oder schlimmer Richtung, blüht nur in
einer Zeit, wo ein allgemeiner Glaube oder ein allgemeines Vorurtheil die Menge
beherrscht, auf das man sich ohne weiteres berufen kann, in einer Zeit, die von
Idealen gesättigt ist oder sich wenigstens nach Idealen sehnt. Nichts ist so geeignet,
diesen Idealismus niederzuschlagen, als eine große Krisis, die ihren Zweck verfehlt.
So war es bei der großen Erhebung von 1789, so bei der kleineren von 1848.
Die alten Ueberzeugungen und Hoffnungen haben'sich als nichtig erwiesen, ein all¬
gemeiner Zweifel umspinnt mit feinem düstern Netz die Gebilde des Glaubens und
die Regungen des öffentlichen Lebens. Es wird in Frankreich jetzt viel von
Christenthum und Kirche geredet, aber das ist nichts weiter, als die Furcht vor dem
Geist der Umwälzung, den man nur durch die alten Zauberformeln zu bannen ver¬
steht. Eine solche Zeit ist so recht für die kritische und historische Betrachtung der
Dinge geeignet. Da die schöpferische Kraft nur spärlich hervortritt, will man sich
wenigstens die frühern Schöpfungen vergegenwärtigen, und sich mit den alten Ideen,
denen man früher blindlings folgte, kritisch auseinandersetzen. Daß die Prosa
diesen Augenblick auch in Frankreich den Sieg davon trägt, davon überzeugt uns
am schnellsten ein Einblick in die Zeitschriften, die beide Zweige der Literatur mit¬
einander zu verbinden streben. Die poetischen Leistungen werden immer schwächer,
immer unbedeutender, immer farbloser, während die Prosa, und grade diejenige Prosa,
die sich für Kritik und Geschichtschreibung eignet, ganz ungeheure Fortschritte ge¬
macht hat. Es ist mitunter eine wahre Freude, in einer der beliebten Zeitschriften,
namentlich in der Revue de deux Mondes eine kritische Abhandlung zu lesen. Wenn
man ganz davon absieht, daß der Inhalt sich vertieft, die Gesichtspunkte sich er¬
weitert haben, so gewährt bereits die Form einen wirklichen Kunstgenuß. Wer sich
von der neuen französischen Prosa aus den classischen Schulreminiscenzen ein'Bild machen
wollte, würde im starken Irrthum sein; von der schnurgeraden Satzbildung und
den abstracten Formeln der alten Prosa ist keine Rede mehr, die Sprache hat etwas
Bildliches und so zu sagen Körperhaftes, während doch die Neigung zum Schwulst,
die durch Chatcaubricmds Vorbild auf bedenkliche Weise in der Sprache Voltaires
sich einbürgerte, fast ganz überwunden ist.
Wir haben einen bestimmten Werthmesscr, um das Steigen und Fallen der
verschiedenen literarischen Richtungen innerhalb der öffentlichen Meinung zu verfolgen,
die französische Akademie. Man beurtheilt das .Institut in Deutschland zu
sehr nach den satirischen Ausfällen derjenigen Schriftsteller, die noch nicht darin
aufgenommen sind; es hat noch immer für Frankreich eine hohe Bedeutung, und
ist trotz allem Materialismus für die hochgestellten Männer ein mächtiges Ziel des
Ehrgeizes. Der eigentliche Sinn derselben ist, diejenigen Männer zu vereinigen, die
am besten Französisch schreiben. Abgesehn von den vornehmen Herrn, die man
darin ausnimmt, um den aristokratischen Firniß des Instituts zu erhalten, und die
gute Gesellschaft für die Literatur zu interessiren, hat man dabei augenscheinlich am
meisten an die Dichter gedacht, namentlich an solche Dichter, die nicht wie E. Sue
um die Gunst der Menge buhlen, sondern für einen feinern Geschmack arbeitend
In neuster Zeit ist man aber in fortwährender Verlegenheit, wen man dazu nehmen
soll, und wenn schon in den Augen gebildeter Franzosen die Aufnahme von Pon¬
sard und Angler ein Armuthszeugniß ist, welches sich die französische Dichtung
ausstellt, so wird die Wahl voraussichtlich bald noch viel untergeordnetere Namen
treffen. Dagegen ist es merkwürdig, in einem wie großen Umfang die Litercttur-
geschichte und die Kritik in der Akademie vertreten sind. Der wissenschaftliche Werth
dieser Arbeiten allein macht es nicht, denn dafür ist die Akademie des Inscriptions
vorhanden: es ist das Gefühl, daß sich der gute gebildete Stil in diesem Augenblick
mehr in der Prosa als in der Poesie geltend macht.
Durch dieses Gefühl wird auch das Urtheil über ältere Erscheinungen wesent¬
lich verändert. Unter den zahlreichen Todesfällen des vergangenen Jahres wollen
wir nur auf zwei aufmerksam machen- auf Börangcr und Gustave Planche.
In der Bewunderung des Ersteren waren bisher, wenn nicht eine ganz bestimmte
Politische Partcirichtung ins Spiel kam, alle litemrischcn Schulen einig. Der Erste,
der an seiner Größe zu zweifeln wagte, war Ste. Beuve in den «na-usEriss an luiuli
1851, der in seiner Jugend einer der eifrigsten Verehrer des Dichters gewesen war.
Nun beginnt am 1. December vergangenen Jahres die Revue de deux Mondes eine
Reihe literarischer Porträts, deren erstes, Beranger, von Emile Montsgut aus¬
geführt ist, jenem geistvollen wenn auch paradoxen jungen Kritiker, auf den wir
unsre Leser schon bei .mehrern Gelegenheiten aufmerksam gemacht haben. Das Por¬
trät ist keineswegs ungerecht, es bekämpft nur die Vergötterung, die früher mit Büranger
getrieben wurde, es weist die Grenzen auf, welche dies schöne, aber einseitige Talent
nicht überschreiten konnte, und-die schädlichen Einwirkungen, die es auf den Gang
der öffentlichen Meinung ausgeübt hat. Wenn wir auch in einigen Punkten von
der Ansicht des Kritikers abweichen möchten, so glauben wir, daß er im Ganzen
das Nichtige getroffen hat. Aber es ist ein bemerkenswerthes Zeichen von dem
Uebergreifen der kritischen Richtung, daß grain jetzt, wo eine Größe nach 'der
andern sich als leeres Ideal erweist, die Franzosen trotz ihrer ausgesprochenen
Nationaleitelkeit geschäftig find, die Altäre einzurcißen, an denen sie bis dahin zu
beten gewohnt waren.
Ganz das umgekehrte Verhältniß findet mit Planche statt. Geb. 1808, hatte
er seit 1831 nach vorhergehender gründlicher Schulbildung in der Revue de deux
Mondes die literarischen und künstlerischen Erscheinungen jeden Jahres besprochen,
mit einer Unparteilichkeit, die ihm Ehre macht, die ihn aber in der literarischen
Gesellschaft isolirte. Es hatte an ernsthaften und scharfen Kritikern in Paris zu
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keiner Zeit gefehlt, aber sie haben sich stets bemüht, wenn nicht ihre Schlacht¬
opfer, so doch das Publicum für die Strenge ihres Urtheils durch anmuthige
gefällige Formen zu entschädigen. Dieses Mittel verschmähte Planche durchaus, er
suchte für sein Urtheil geflissentlich die schroffsten Formen, und so kann man sich
leicht erklären, daß er der hauptsächliche Gegenstand des Hasses war. Was ein
erboster Versmacher, dem man nachweist, daß er kein Dichter sei, an Injurien
zu Tage fördern kann, ist uns auch in Deutschland nicht unbekannt. Wenn die
bodenlose Gemeinheit, die sich in unsern Tages- und Wochenblättern hervordrängt,
wo die Literatur sich aus verkommenen Subjecten rccrutirt, die für jede Stellung,
welche ein Examen erfordert, zu schlecht sind, in Frankreich unmöglich ist, wo ein
gewisses Gefühl der Ehre und des Anstandes in den Formen doch bis zu den
untersten Classen hinabreicht, so fühlen sich dagegen die gefeierten Größen des
Tages, an einen betäubenden Weihrauch gewöhnt, weit mehr berechtigt, als bei
uns, wo fast jeder Dichter auch ein Kritiker ist, gegen die Kritik im Allgemeinen
eine gründliche Verachtung auszusprechen. Und so hat denn im Verlauf der
letzten 25 Jahre fast jeder Dichter sein Votum über Planche, den Repräsentanten
der absoluten Kritik, abgegeben, und man Hütte glauben sollen, daß er vollständig
vernichtet war. Jetzt nach feinem Tode erfolgt dagegen eine Anerkennung, die mit¬
unter wie eine Apotheose aussieht und in manchen Punkten über das richtige
Maß hinausgeht. Der Grund ist sehr begreiflich: er liegt einmal in der natür¬
lichen Reaction gegen eine frühere Ungerechtigkeit, dann aber in der instinctiven Ver¬
ehrung von etwas, das in Frankreich immer seltener wird: der Uneigennützigkeit.
Zwar übertreibt man bei uns sehr stark die Vorstellung von der Bestechlichkeit der
französischen Kritik, aber ziemlich arg ist es damit allerdings, die menschlichen Rück¬
sichten spielen im Urtheil wie im Leben eine übergroße Rolle, und ein Mann, der
lediglich seinem Gewissen folgt, wird zuerst wie eine seltene Erscheinung angestaunt,
dann verabscheut, endlich, sobald er aufhört lästig zu fallen, bewundert. So war
es zu den Zeiten des Cato, vielleicht wird es bald eine, grade des Ungewöhnlichen
wegen sichere Speculation sein, den Cato zu spielen.
Abonnementsanzeige zum neuen Jahr.
Mit dem Anfänge des neuen Jahres beginnen die Grenzboten
denXVRI. Jahrgang. Die unterzeichnete Verlagshandlung erlaubt
sich zur Pränumeration aus denselben einzuladen, und bemerkt, daß alle
Buchhandlungen und Postämter Bestellungen annehmen.
Leipzig, im December 1857. Fr. Ludw. Herbig.
In den letzten Jahren verfolgt die östreichische Regierung mit großer und
nachhaltiger Energie das Streben, der italienischen Bevölkerung ihres Reichs
die deutsche Bildung näher zu bringen. Der deutsche Sprachunterricht in den
Mittelschulen ist nicht mehr wie früher eine leere Formalität, von welcher
Lehrer und Schüler gleich gern absehen, und auch den beiden Universitäten
zu Padua und Pavia ist es nicht länger vergönnt, das nationale civile t'-ri'
ni(;»t.t; aus die Wissenschaft zu übertragen und in böotischer Ruhe zu beharren.
Widerwillig genug beobachten die Italiener das allmälige Vordringen deutscher
Gelehrsamkeit. Aber sie haben niemals den Ruhm „geschmackloser Vielwisse-
rei" den nordischen Barbaren verweigert und finden daher, so lange es sich
blos um einzelne Fachdisciplinen handelt, ihren Stolz nicht verletzt. Nun
hat die östreichische Regierung einen weiter» Schritt gewagt und durch die
Berufung deutscher Künstler an die Mailänder Akademie ihre Absicht, auch
die italienische Phantasie zu germanisiren, offen ausgesprochen. Ein härterer
Schlag konnte die durch vielhundertjährige Huldigungen genährte National¬
eitelkeit nicht treffen. Mußte auch der unbefangene Italiener zugeben, in
anderen wesentlichen Dingen sei sein Stamm hinter den übrigen Völkern
zurückgeblieben, so betrachtete er dennoch das feine Kunstgefühl als seine
eigentliche Domäne. Er leugnete den Kunstverfall im gegenwärtigen Geschlechte
nicht ab, aber hielt nur desto hartnäckiger an dem Ruhm seiner Vorfahren
fest und sah in der Rückkehr zur Weise derselben den ausschließlichen Weg
des Heiles. Ja. wenn er als Lehrer einen Mann zu begrüßen hätte, dessen
Geschmack und Phantasie sich vollständig italienisirt haben, der, wie so viele
deutsche Künstler am Anfange unseres Jahrhunderts, heißer für Italiens
Größe schwärmt, als der Eingeborene, und zu dem Grundsatze sich bekennt,
nur in Italien, nur in Rom könne man als Künstler leben und wirken —
er Hütte wenigstens eine mittelbare Huldigung darin erblickt. Der Mann
aber, in dessen Hände die Wiederbelebung der mailändischen Kunst wesentlich
gelegt wird, bekennt sich nicht zu solchen Anschauungen, seine Mission ist
keine andere, als alle hergebrachten Traditionen zu brechen und dies auf einem
Kunstgebiete, wo die italienische Anschauung sich bis jetzt am sprödesten er-
wies und vom nordischen Geschmacke am meisten abwich. Es gilt nämlich:
die gothische Architektur, die lang verpönte und als barbarisch verachtete, in
Italien wieder heimisch zu machen. Der Werkmeister am kölner Dome, Fr.
Schmidt aus Schwaben, wurde soeben als Lehrer der Architektur nach Mai¬
land berufen und ihm eine ausgedehnte praktische Wirksamkeit außerdem zu¬
gesichert. Hr. Schmidt ist ohne Zweifel der tüchtigste und gründlichste Go-
thiker, den Deutschland besitzt; vollständig Meister der Constructionsgesetze,
welche der Architektur des 13. Jahrhunderts zu Grunde liegen, hat er sich
auch in die decorativer Formen des Stiles mit bewunderungswürdiger Sicher¬
heit hineingelebt. Die älteren Architekten, welche sich der Gothik zugewen¬
det haben, müssen sämmtlich mit ihrer entgegengesetzten Schulbildung kämpfen;
Schmidt, schon als Knabe in einer gothischen Bauhütte untergebracht, hat
nichts zu vergessen und zu verlernen, er ist der erste, vielleicht der einzige
naive Goldner der Gegenwart, bei ihm ist nicht blos der Verstand, sondern
auch schon Auge und Hand gothisch gebildet. Aus diesem Grunde kann man
auch keine besondere Empfänglichkeit für antike oder Nenaissanc^formen bei ihm
voraussetzen. Wenn Einseitigkeit von ihm behauptet wird, so ist damit kein
Vorwurf ausgesprochen. Der Kritiker und Geschichtschreiber sollen einen
offenen Sinn für die Berechtigung verschiedener Auffassungsweiscn besitzen;
der schaffende Künstler kann nicht allen Gegensätzen gleichmäßig gerecht werden,
am wenigsten der Architekt, wie nun einmal Antike und Mittelalter einander
gegenüberstehen, für beide in demselben Maße sich begeistern.
Schmidt zieht nach Italien auf einen Eroberungszug. Wird es ihm
gelingen, zunächst die Oberitaliener von der ausschließlichen Schönheit der
Gothik zu überzeugen, so daß sie nicht mehr auf Palladio und Bramante
schwören, sondern vor Peter von Montereau. Meister Gerhard und anderen
bis dahin unbekannten Göttern sich neigen werden?
Der Erfolg seines Strebens hängt zumeist von dem Borhandensein go¬
thischer Traditionen, von der Summe des Lebens und der Kraft ab, welche
die gothische Architektur während ihrer mittelalterlichen Herrschaft in Italien
offenbarte. Die ersteren sind bekanntlich alle verloren gegangen und wurden
durch weit gehende Antipathien ersetzt.« In Bezug auf den anderen Punkt
herrschte und herrscht allgemein die Meinung, die alte italienische Gothik ent¬
behre aller inneren Beziehungen zur Nationalität, und habe stets nur ein
äußerliches Scheinleben gefristet. Erst in den letzten Jahren tauchte eine
andere Ansicht auf. Zwei Enthusiasten — oder Fanatiker, wenn man will
— für die Kunst des Mittelalters: Didron in Paris und sein gelehriger
Schüler, Alberdingk-Thijm, der Herausgeber der „Dietsche Warande" haben
von ihrem Standpunkte Italien näher betrachtet und als Resultat gewonnen :
„Kome plus AotKique Rouvu, 1'ltalis plus gotKiMv quo ig. I?rsnev."
Das klingt freilich so charlatanmäßig; die diesen paradoxen Sal? zuerst aus¬
gesprochen, sind überdies so häusig der Uebertreibung verdächtigt worden, daß
ihre Entdeckung spurlos verhallte. Wie viel sicherer und siegesbewußter wären
sie noch aufgetreten, wenn sie Gays Carteggio gekannt und daselbst die Ver¬
sicherung Palladios gelesen hätten: „Alle Städte Italiens sind erfüllt von
gothischen Bauwerken." ,
Noch Auffallenderes lehrt der Einblick in den von Gay veröffentlichten
italienischen Urkundenschatz. Zu einer Zeit, wo der Renaissancestil schon dem
Verfall sich näherte, wo wir in Deutschland und Frankreich bereits ganz un-.
bedingt der Antike huldigten, Sinn und Freude am Altheimischcn völlig ver-
loren hatten, loderte in einer italienischen, kunstreichen Stadt noch ein feuriger
Localenthusiasmus für die gothische Architektur auf. Diese zählte am Schluß
des 16. Jahrhunderts, also ein volles Jahrhundert noch nach ihrem Absterben
in Deutschland, in Bologna ebenso viele begeisterte Freunde, als ander¬
wärts die Renaissance Verehrer. Als die gelehrten Architekten einen gothisch
begonnenen Bau in römischen Formen vollenden wollten, gab es eine gar
gewaltige Aufregung in den städtischen Kreisen. Es fehlte nicht viel, und
„gothisch" oder „antik" wäre, im I. 1589 das Feldgeschrei zweier Parteien
geworden.
Ein enthusiastischer Schneider, Namens Carlo Cremona, hatte statt der
Elle den Zirkel zur Hand genommen, den Kopf mit Tncmgulirungen und
Quadraturen erfüllt, sich als Volkstribun erhoben und für die alte Gothik,
wie er sie verstand, Anhänger geworben. Es gelang ihm, seine Anschau¬
ungen volksthümlich zu machen, einen Stillstand im Baue, und eine neue
Prüfung der bis dahin entworfenen Pläne zu erzwingen. Schon dies konnte
er als Sieg sich anrechnen, daß die gelehrten Architekten den Handschuh auf¬
hoben und in weitläufigen Denkschriften ihre Entwürfe gegen seine Angriffe
vertheidigten. Und wenn auch schließlich des Schneiders Bemühungen keine
praktischen Folgen hatten, so blieb doch sein Ehrgeiz nicht ohne Befriedigung.
Er zog selbst den päpstlichen Hos in den Streit hinein und galt mehre Mo¬
nate bei seinen Mitbürgern als der populärste, bei den fremden gelehrten Ar¬
chitekten als der gehaßteste Mann.
Das Schauspiel, das in Bologna am Schlüsse des 16. Jahrhunderts
aufgeführt wurde, hat insofern auch heutzutage, wo es sich um die Wieder-
velebung der italienischen Gothik handelt, einen praktischen Werth, als es
das lange Vorhalten gothischer Sympathien an einzelnen Punkten Italiens
offenbart: abgesehen davon hat es noch einen großen culturgeschichtlichen
Reiz, so daß eine eingehendere Schilderung seines Verlaufes aus Grundlage
der von Gay mitgetheilten Urkunden (etwa 30 an der Zahl) vielleicht nicht
ohne Interesse befunden werden dürfte.
Wie in allen italienischen Städten, so war auch in Bologna die Bürger-
schaft bedacht, die Periode ihrer höchsten Macht und Blute nicht ohne eine
monumentale Stiftung, die ihr Andenken auf die Nachwelt bringen sollte,
vorübergehen zu lassen. Beinahe hundert Jahre später, als der florentiner
Dom, aber mit ähnlichen hochfligenden Tendenzen und auch in der innern
Anordnung verwandt, wurde die Kirche Se. Petronio begonnen. Gleich jenem
zeichnet sich Se. Petronio, dessen Mauern nicht weniger als acht Kirchen
weichen mußten, durch überaus weit gespannte Bogen aus, überragt ihn aber
durch die malerische Umgürtung der mittleren Kuppel mit vier schlanken Thür¬
men. Doch nein, er überragt und überstrahlt den florentiner Dom nicht, es
blieb bei der guten Absicht. Wie die meisten mittelalterlichen Kathedralen
hatte Se. Petronio das Schicksal, unvollendet, halb Fragment, halb Ruine
aus die folgenden Jahrhunderte zu gelangen. Das 16. Jahrhundert kam
heran, und schaute nur das dreischiffige Langhaus mit den Kapcllemeihen
zur Seite fortgeschritten, und auch hier Fährte und Wölbung fehlend. Der
Aufrichtung der ersteren wandte sich zunächst die Aufmerksamkeit zu. Aber
gleich der erste Baumeister, von dessen Plane im 16. Jahrhunderte (1514)
wir Kunde haben, ein gewisser, sonst wenig bekannter Arduino Arriguzzi, kommt
übel weg. Wie er selbst in einem Rechtfertigungsschreiben klagt, haben sich
in Bologna, seitdem man den Bau wieder aufgenommen, so viele Genies
und Baukünstler erhoben, als man deren kaum in der ganzen weiten Welt
vermuthet hätte. Alles, vom Pfaffen und Schulmeister bis zum Handwerker
und Bauer, ja selbst bis zum Last- und Wasserträger herab, spielt den Archi¬
tekten und kramt eine wohlfeile Weisheit aus. Sein Entwurf erleidet von
der Locailritik, die stets auf die Seite der alten Gothik sich stellt, heftige
Angriffe und wird — zurückgelegt, ein Schicksal, das er mit gar vielen spä¬
teren Bauplänen theilt, und welchem auch die Arbeiten der berühmtesten
Architekten jenes Zeitalters nicht entgingen. Der damalige löbliche Bauvor¬
stand von Se. Petronio gab unseren hochpreislichen Baubehörden an Schwäche
und Unklarheit, an Liebe zur Vielschreibern und Verschleppung der Geschäfte
nichts nach. Allen Parteien und allen Anforderungen will er genügen. Er
sieht wie nahe der alte gothische Bau von Se. Petronio der Bürgerschaft am
Herzen liegt und setzt daher als Bedingung fest, man möge bei den neuen
Entwürfen das schon Vorhandene nicht etwa als eine Ruine, eben nur gut,
abgebrochen zu werden, behandeln. Auf der anderen Seite prickelt ihn die
Eitelkeit, einen berühmten Namen sich dienstbar zu machen. Er vergißt, daß
die Modearchitekten verächtlich von der Gothik denken — es ist mir ein saures
Lob, das Pellegrini, der Mailänder Dombaumeister, 1582 dem gothischen
Stile ertheilt: die Regeln desselben seien viel verständiger, als die Meisten
glauben — und um keinen Preis ihre Originalität dem alten Werk unter-
ordne» wollen. Natürlich gelingt es keinem Plane, die allgemein, ^her,,-
Murg für sich zu gewinnen. Kaum ist ein solcher bekannt geworden, so erhebt
die Localkritik ihre tadelnde Stimme und raubt dem Bauvorstande den Muth
der Entscheidung. Dieser hilft sich, indem er über den vorgelegten Entwurf
einem dritten Architekten ein Gutachten abfordert. Damals wie heutzutage war
die Natur der Architekten dieselbe. Jeder dieser „uomini occ-plani" glaubt es
besser machen zu können und sendet statt des Gntachtens einen wesentlich ver¬
besserten Plan ein. Das Kirchenarchiv vou Se. Petronio wird bereichert —
es besitzt noch gegenwärtig mehr als dreißig Entwürfe — aber der Bau selbst
rückt nicht vorwärts.
Peruzzis Plan (I52t) erscheint wegen seiner geringen Uebereinstimmung
mit den alten Theilen unbrauchbar, ihm folgen Giulio Romano, dessen im
gothischen Stil entworfene Fährte wenigstens als Kuriosität die Veröffent¬
lichung, verdiente, Varignano, Vignola (1547) und Nanuzzi., Die beiden
letzteren standen in heftigem Gegensatze und wechselten Streitschriften. Der
Bauvorstand ließ sie kämpfen, sammelte, was sie als-Angriff und Verthei¬
digung vorbrachten, aber das Werk machte keinen Fortschritt. Endlich ermannte
er sich zu einer kühnen That, und knüpfte mit Andrea Pallndio Unterhand¬
lungen an (1572).
Francesco und Fabio aus dem Geschlechte der Pepoli, welches mit den
Bentivoglis im Mittelalter an der Spitze Bolognas gestanden, übernahmen
die Vermittlung. Anfangs scheint sich alles zum Besten zu gestalten. Nach¬
dem Fabio Pepoli in Venedig sich des guten Willens Palladios versichert, wird
dieser, von den Bauherrn nach Bologna berufen. Er kommt, besichtigt das
Werk, prüft die Pläne, entscheidet sich für den Entwurf Terribilias als den
verhältnißmüßig besten, ändert diesen in Einzelnheiten ab, und man beginnt
endlich zur eigentlichen Bauführung zu schreiten. Kaum aber- steigen die
Fa^ndenpfeiler empor, so erheben die Baumeister und Kunstbeflissenen von
Bologna wieder einen argen Lärm. Sie sehen durch die Mischung gothischer
und moderner Motives die Einheit undZ Harmonie des Baues gefährdet, und
bezweifeln selbst die Festigkeit und Tragkraft des Neubegonnenen. Während
man dem Ziele sich näher gerückt glaubte, wuchs nur, wie Conte Pepoli in
einem Bries an Palladio (1S77) versichert, die Confusion. Man kann von
dem großen Meister von Vicenza nicht erwarten, daß er die herbe Kritik seiner
Arbeit gleichmüthig ausnehme. Die Confusion, die er verursacht haben soll,
schleudert er den Freunden und Verehrern der Gothik auf den Kopf. „Die
deutsche Weise," ruft er ergrimmt aus, „könnte man eher eine Confusion als
eine Architektur nennen." Es ist wahr, er hat korinthische und römische For¬
men auf gothische gestützt. Aber haben denn die Alten nicht Aehnliches ge¬
than und die Natur nachahmend auf schwere dorische Säulen und massives
Rustik mich^ u^d zierliche korinthische Glieder folgen lassen? Hat er nicht
ulicv.in die Römer und Vitruv auf seiner Seite? Seine Frontispize, der von
ihm angeordnete flache Reliefschmuck, die Blumengewinde und Festons scheinen
allerdings nicht im Einklange mit dem Uebrigen. Sind aber nicht der Tempel
zu Jerusalem, die Tempel der Griechen und Aegypter würdigere Muster der
Nachahmung? Auch die ästhetische Theorie wird von Palladio in die Schran¬
ken geführt. „Die Architektur," bemerkt er, „ist nichts Anderes als die Pro¬
portion der Glieder in einem Körper, dieser muß mit jenen, die Glieder mit
dem Gesammtkörper in einem harmonischen Verhältnisse stehen, wodurch jene
Schönheit hervorgebracht wird, welche die Griechen mit dem Namen der Eu-
rythmie bezeichnen/' Dieses Gesetz hat er bei seinem Entwurf festgehalten,
und er mußte dafür gelobt werden, wenn die bologneser Kritiker andere als
gothische Werke gesehen hätten. Trotz seiner geharnischten Vertheidigung,
deren Schwächen sür uns Fernstehende offen zu Tage treten, war er nicht im
Stande, die öffentliche Meinung in Bologna umzustimmen. Auch sein Entwurf
wurde zu den übrigen in das Archiv begraben.
Wenn der Fa^adenbau solche Schwierigkeiten darbietet, könnte man nicht
von demselben ganz oder theilweise absehen? In der Verzweiflung griff man
endlich auch zu diesem Gedanken und hieß den Plan, welcher der Fa^abe einen
mächtigen Porticus vorbaute, herzlich willkommen. Aber auch dieser Ausweg
brachte nicht den Frieden. Denn auch jetzt bildeten -sich wieder zwei Parteien.
Die eine, mit Camillo Bvlognini als Sprecher, widerrieth die Porticusanlnge,
die andere empfahl dieselbe schon aus dem Grunde, daß dadurch das Ge¬
schwätz und der Marktverkehr, welcher bis jetzt' den Gottesdienst störte, in die
Vorhalle verwiesen würde. Palladio, der gleichfalls um Rath angegangen
wurde, schlug die sibyllinischen Bücher der modernen Architektur. Vitruv auf,
und da er hier den Portikus bei Tempelanlagen als Regel angegeben fand,
so erklärte er sich für den Porticusbau und sandte sofort (1579) den Entwurf
zu einer zehnsäuligcn Vorhalle ein. Die letzte Entscheidung mußte aber vom
päpstlichen Hofe geholt werden. Hier scheint sich das alte Schauspiel wider¬
streitender und unversöhnlicher Ansichten wiederholt zu haben. Die zur
rascheren Lösung der Bauaufgabe aufgeworfene Zwischenfrage brachte nur eine
neue Verschleppung.
Endlich im Jahre 1580 schreibt der Kardinal S. Sisto an den Conte
Pepoli. daß zu dem Bau geschritten werden könne und gibt Hie Bedin¬
gungen an. nnter Welchen dies gestattet wird. Die wichtigste und die Zu.
stände am schärfsten charakterisirend ist die Empfehlung der goldenen Mittelstraße.
Es soll der gothische Stil nicht streng eingehalten, aber auch nicht gänzlich verlassen
werden, ein Theil, der bessern Uebereinstimmung mit dem Alten zu Liebe, soll
gothische Formen zeigen, ein anderer in moderner Weise emporgeführt wer-
den. Darauf hin faßt die Regierung von Bologna den definitiven Beschluß,
den Bau nach Terribilias Plan, mit welchem Einzelnheiten des von Tibaldi
geschaffenen Entwurfes verbunden werden sollen in Angriff zu nehmen. Und
um den Muth noch mehr zu stählen, wird die zufällige Anwesenheit des Mailänder
Dombaumeisters Pellegrini in Bologna benutzt, um nachträglich auch noch die
Zustimmung einer Autorität zu gewinnen. Im Herzensgrunde wünscht dieser
freilich einen vollständigen Umbau nach antiken Grundsätzen. Da sich dies
aber als unthunlich erweist, so gibt er dem officiellen Plane schließlich seine
Billigung.
Es war jedoch das Verhängniß von Se. Petronio. daß jeder Schritt
zur Bauthätigkeit näher auch einen Schritt tiefer in die Verwirrung bedeuten
sollte. Trotz dem, daß alles officiell festgestellt war, begann doch erst jetzt im
vorletzten Jahrzehnte des sechzehnten Jahrhunderts der heftigste Parteien
kämpf. Die Fa<zade bildete zwar nicht mehr den Stein des Anstoßes. Ehe
an ihren Ausbau geschritten werden konnte, mußte das Mittelschiff seine Ge¬
wölbe erhalten. Auch hier traten die Meinungen scharf auseinander und von
nahe und fern kamen Pläne und Vorschläge, wie die Wölbung am besten zu
schaffen wäre. Zuerst kämpfen die Einheimischen gegen die Fremden. Diese
werden in einer Relation der Sachverständigen von Bologna (1586) mit
Aerzten verglichen, welche einem Kranken Arzneien verordnen, ohne ihm den
Puls gefühlt, ja ohne ihn auch nur mit dem Auge erblickt zu haben. Ihren
Worten zu folgen, würde dem Bau nur zum Schaden gereichen. Es verstehe
sich von selbst, daß spitzbogige Kreuzgewölbe angewendet und die von einer
Seite geforderte Belastung der Pfeiler mit Fries und Architrav beseitigt wer¬
den müsse. Eine ähnliche Ansicht sprechen fünf Architekten aus, welche am
25. August 1587 zu einer Berathung zusammentreten (unter ihnen auch
Ternbilia) und das Resultat derselben in sieben Punkten zusammenfassen.
In der hier festgestellten Weise wurde das Werk begonnen. Aber nun erst
brach der Hauptsturm los. Der Held desselben ist der Schneider Carlo
Er e molto..
Von jeher übte die Gothik auf die Handwerkskreise einen besonderen
Zauber. Wenn man dieselbe analysirt, wird man stets den Hauptnachdruck
auf die Wertarbeit gelegt, das technische Element in den Vordergrund gerückt
gewahren. Die Summe der Motive, in welchen sich die erfinderische Phantasie
des Architekten bewegen kann, erscheint ziemlich gering, auch geistreichen Ein¬
fällen, genialen Neuerungen eine enge Grenze gesetzt. Geistreiche und gelehrte
Künstler haben daher auch gewöhnlich erst einen geheimen Widerwillen zu
überwinden, ehe sie sich von der organischen Größe der gothischen Architektur
gefangen nehmen lassen, dem blos handwerksmäßig Gebildeten imponirt
hingegen die streng geometrische Grundlage sowol der constructiver wie der
decorativer Theile; in den einfachen Drei- und Vierecken, aus welchen doch
die seltsamsten und verwickeltsten Formen hervorgehn, wähnt er eine magische
Macht verborgen, unwillkürlich lebt er sich, weil ihm die mathematische Be¬
gründung dunkel bleibt, in eine mystische Gedankenreihe hinein und knüpft
an die Architektur die fremdartigsten Vorstellungen von Musik und Harmonie.
Unserem ehrenwerthen Schneider begegnete das Gleiche. Daß er sich um den Ban
von Se. Petronio vielfach kümmerte, kann nicht befremden. Wir haben ja
gesehen, wie seit Menschenaltern sich alle Gemüther mit der gleichen Angelegen¬
heit beschäftigten und das Interesse sür die Gothik in Bologna fortwährend
genährt wurde. Schneider sind bekanntlich nach den Schustern die größten
Grübler. Carlo begnügte sich nicht, wie die übrigen Bürger von Bologna,
im Allgemeinen Partei zu nehmen sür den alten Bau', er suchte sich ein
tieferes Verständniß von der Sache zu verschaffen und griff nach dem nächsten,
dein einzigen.Buche, welches das Wesen der Gothik den Italienern zugänglich
machte, nach Cesare Cesarianos Commentar zu Vitruv. Hier fand er den „vor¬
nehmsten und höchsten Sleinmetzengruud des Triangels" verzeichnet und alle
Proportionen auf die Grundlage des gleichseitigen Dreiecks zurückgeführt.
Natürlich glaubte er sich im Besitze des Steines der Weisen. Er begann zu
zeichnen und zu messen und zu vergleichen, und da er entdeckte, daß Terri-
bilias Gewölbe durchaus uicht nach dem System des gleichseitigen Dreiecks
entworfen sind, mit diesem verglichen niedrig und stumpf erscheinen. so trat
er öffentlich für seine verworfenen und verletzten Triangeln in die Schranken.
Er gewann großen Anhang zunächst unter den Handwerkern und Bauleuten,
dann aber auch unter den „^«zlitilumriiiri xrmeiMli ävUa eitta." Den Schnei¬
der allein hätte man ausgelacht und zum Schweigen gebracht, im Rücken
gedeckt von der gesammten Einwohnerschaft Bolognas wurde'er eine unab¬
weisbare Autorität. Gutachten von Sachverständigen wurden abgefordert,
dem Architekten Terrivilia eine Vertheidigung und Rechtfertigung ausgetragen,
nach Rom fragend berichtet, was in der Sache weiter geschehen solle. Gay in
seinem Carteggio theilt zwei solcher Gutachten mit. Beide schließe» gegen
den Schneider, das eine unbedingt, das andere mit einer kühlen Anerkennung
der Regel vom gleichseitigen Dreiecke und einem trockenen Lobe der „mathe¬
matischen und musikalischen Subtilitäten", welche die Gegner vorgebracht
haben. Auch Terribilias Vertheidigungsschrift wurde veröffentlicht. Und
wenn wir uns an sie halten, so erhalten wir von unseres Schneiders archi¬
tektonischen Anschauungen kein glänzendes Bild. Ihm scheint die Architektur
in eine geometrische Mystik sich verflüchtigt zu haben, er wird beschuldigt, in
der Baukunst eine geheimnißvalle Art von Musik und Philosophie zu erblicken
und die Logik mit einer groben Elle zu messen. Vitruv wird von ihm auf
der einen Seite als Autorität angerufen, und auf der nächsten doch wieder
und mit Recht behauptet, daß die Alten von den Gesehen der gothischen
Architektur nichts wußten. Wir müssen uns leider damit begnügen, die
Aesthetik des Schneiders aus den Angriffen des Gegners kennen zu lernen.
Weder Gay, noch sonst jemand, dem das Archiv von Se. Petronio zugäng¬
lich war, hat es der Mühe werth gesunden, Carlo Cremvnas Denkschriften
über den Bau zu veröffentlichen; Gay nennt sie absurd. Wir geben ihm
gern zu, daß des Schneiders Anschauungen nur ein culturgeschichtliches
Interesse in Anspruch nehmen können, aber auch Terribilins Vertheidigung,
die von dem Satze ausgeht, daß die Gothik aus der verdorbenen korinthischen
Säulenordnung hervorgegangen sei, erscheint nicht als die Quintessenz der
Weisheit. In Rom wenigstens war man von der Absurdität der Schneider-
gothik nicht vollkommen überzeugt. Der Cardinal Montalto, vor dessen
Foruni die Angelegenheit gelaugte, trug daraus an, den Bau einzustellen und
den Schneider wie den Architekten nach Rom zu senden. Hier sollten beide
vor einem Schiedsgerichte von Sachverständigen Rede stehen, ihre Gründe
und Gegengründe entwickeln und aus solche Art der ganze Streit endgiltig
aufgetragen worden.' Einen ärgeren Kontrast zu dem kavaliermäßigen Aus¬
treten der Künstler des siebzehnten Jahrhunderts, als in dieser Gleichstellung
des simpeln Schneiders und des gelehrten Künstlers liegt, kann man sich
nicht denken, auch den Aufruhr, den dieser Vorschlag in den Künstler¬
kreisen erregen mußte. wol versinnlichen. Der Schneider— genaue Nachrichten
fehlen zwar darüber — ging nicht nach Rom, dagegen kamen die Cavnliere
Fontana und Giacomo della Porta nach Bologna. Daß diese gegen den
Schneider entschieden, versteht sich von selbst. Fontana hatte schon einmal,
bei Gelegenheit der Ausrichtung des Obelisken auf dem Petersplatze, der rohen
Praxis Recht geben müssen. Es war nicht anzunehmen, daß er jetzt das
Handwerk auf Kosten der gelehrten Kunst begünstigen würde. Die Urkunden
schweigen über das fernere Schicksal Carlo Cremonas iber Streit über die
Wölbung dauerte übrigens bis zum I. 162«, in welchem Jahre der Wöl¬
bungsplan des Architekten Girolamo Rinaldi officiell bestätigt wurde), desto
mehr Grund haben wir anzunehmen, der Petition der bologneser Sachver-
ständigen v. I. 1589 sei Folge gegeben worden, welche da lautet: „der
Legat möge dem Schneider und seinen Anhängern befehlen, sich um ihre
Krambuden zu kümmern, nicht über Dinge den Mund zu offnen, über welche
zu urtheilen sie 'nicht berufen sind und nicht das Volk aufzuhetzen und Skandal
zu erregen." Mit andern Worten, ein bekanntes Sprichwort wurde leicht ab¬
geändert und dem letzten Bertheidiger und Märtyrer der Gothik in Italien
Von David Friedrich Strauß, Zwei Theile. Leipzig, Brockhaus. 1857.
Im neuen, dem zweiten Theile der Biographie tritt uns zunächst ein
neuer Kaiser entgegen: Karl V. war trotz der päpstlichen Gegenbemühungen
am 23. Juni 1510. auf seines Großvaters Thron erwählt worden ; Kurmainz und
Sickingen, Hs. Gönner, hatten dazu wesentlich mitgewirkt. Wer für das Wohl
der deutschen Nation und insbesondere deren Befreiung von dem römischen
Drucke seufzte oder strebte, hatte seine (es zeigte sich nur zu bald, vergebliche)
Hoffnung aus die beiden Jünglinge, Karl und Ferdinand, gesetzt, H., der
cholerische Sanguiniker, vor allen. Er begann nun seine unmittelbaren An¬
griffe gegen das Curtisanenwesen und die curialistische Verhöhnung und Be¬
drückung der deutschen Nation. Bon den im Apr. 1520 bei Scheffer erschie¬
nenen Dialogen bildet der erste, Fortuna, füglich den Schluß der zu Ende
des ersten Bandes geschilderten Richtung und Thätigkeit Hs. Dreses Ge-
spräch nennt Ser., was Anlage und Arbeit betreffe, das anmuthigste Hs.:
,,was er als Mensch, als Privatcharakter gewesen ist, wie Neigung und Beruf,
Größe und Schwachheit, Stoicismus und Lebenslust in ihm sich bekämpften,
kapitulierten und doch nicht ganz ins Reine kamen, dieses Ganze eines lebens¬
vollen, liebenswürdigen, ächt menschlichen Naturells hat er nirgends so wie in
dem Gespräche Fortuna dargelegt." Auch einige Ausflüge nach Fsurt und
ein mehrwöchentlicher Aufenthalt zu Steckelberg waren wol, wie auch Ser.
vermutet, noch im Zusammenhange mit der Brautwerbung. Aber schon im
Sommer des Jahres vorher hatte H. an dem Badiscus oder der römischen
Dreifaltigkeit gearbeitet: die Frucht des in Rom aufgelesenen Samens begann
nun zu reifen. Bon Stackelberg aus dcdiciert er (13. Febr. 1520.) dieses Ge¬
spräch seinem. Affinen Sebastian v. Notenhan (dessen Bild aus Notenhans
Ausg. des Negmo von Prüm bei Foppens als Porträt Reginas figuriert);
in jeuer Mainzer Dialogensammlung aber ist nebst dem wiederholten^ersten
anch ein zweites Fieber, gegen die concubinarischen Pfaffen, vorangestellt.
Wie sehr auch H. in seinem anticurialistischen Eifer durch die Wahrnehmung,
daß das Möuchsgczänk, wovon er in seinem Brief an Neuenar geschrieben
hatte, sich zu einer großartigen Umgestaltung der höchsten menschlichen Ein¬
heiten, Kirche und Staat, anließ, bestärkt und zugleich umgestimmt werden
muste, läßt sich leicht erachten. „H. würde, meint Ser., gern mit Luther in
Verbindung getreten sein, hätten nicht äußere Umstände vorerst im Wege ge¬
standen. Unmerklich schob sich in den Mittelpunkt von H.s Interesse statt
des Humanismus die Reformation." Er wollte vielmehr jenen in Gestalt
dieser: sie hatten in Hs. Richtung seuls ineinander gewirkt, nur daß seine
reformatorischen Absichten, ganz an die der s.g, Nesormationsconcilien gelohnt,
die kirchlichen Verfaßungsverhnltnisse, und auch diese nur von dein Stand¬
punkt eines patriotischen Deutschen aus, betrafen, wie ja auch erst nach H.s
Tod sich entschiedener hervorthat, daß der Kampf auch gegen die Dogmen
der römischen Kirche gekämpft werde. Wie zum Abschluß jener humani¬
stischen Richtung erzählt das 2. Kap. zunächst den Ausgang des reuchlini-
stischen Nechtshandels mit den Dominicanern, wie diese auf Sickingens Er-
forderung, doch zögernd und nicht ohne Winkelzüge, die si. 11 Kosten
erstatten, Hvchstraten sein Priorat und Jnquisitorat interimistisch niederlegt,
und die Mönche in einem Schreiben an den Papst unter ehrenvoller Erwähnung
Reuchlins um gänzliche Niederschlagung des Processes bitten, dann aber als¬
bald auch diesen wiederaufzunehmen suchen, und Leo X. in der That nun die
speiersche Sentenz kassiert, Reuchlins Augenspiegel verdammt, den .Ketzermeister
wieder einsetzt; wie die Kölner jubilieren, Sickingen, von Hs. Feder unter¬
stützt, sich noch einmal für Reuchlin ins Mittel legt, bis mit Nenchlins Tod
(»0. Juni 1521.) auch jener Streit abstarb. Aber während H. seinen Vadis-
cus vollends zur Bekanntmachung bereitete, ermunterte er auch brieflich seine
Freunde zum Kampfe gegen Rom; ihn selbst hielt nur sein Verhältniss zum
Kurfürsten von Mainz ab, sich sogleich ganz und offen zu Luthers Sache zu
bekennen. Diesen ermutigte er durch Gewinnung Sickingens, in dessen Namen
er jenem in Schreiben an Melanchthon Schutz verhieß und ihn auf die Ebern-
bürg einlud; auf der Reise dahin möge Luther auch auf Stackelberg einsprechen.
Da vollendete H. die römische Dreifaltigkeit, sein „Manifest gegen Rom".
(Die päpstlichen Monate waren noch zahlreicher und darum drückender, als
sie S. 33 Note 1 bezeichnet sind.) Sie ist auch auszugsweise sehr häufig,
in 4. und 8. gedruckt worden, und fand rasche und weite Verbreitung. Dieses
Gespräch mit dem folgenden, die Anschauenden, zusammenhaltend meint Ser.,
bei Abfaßung des erstren sei der volksthümliche Drang in H. stärker gewesen,
als daß derselbe von dem gebildeten Kunsttriebe in ihm völlig hätte bewältigt
werden können, während wir sie im letztren wieder im schönsten Gleichgewichte
finden. , Sollte hier der Urtheiler nicht zu viel im Künstler und zu wenig im
Stoffe gesucht haben? Der fast actenmäßige, den Beschwerden der deutschen
Nation füglich vergleichbare Stoff hätte sich wol eher in Form von Anklage¬
reden als in der eines Dialogs künstlerisch, behandeln laßen, während Sol
und Phaethon. sich genau das Getreibe des Augsburger Reichstags (1518.)
betrachtend nothwendig in ein Gespräch gerathen müßen, dessen reicher und
durchweg patriotisch deutscher Inhalt ebenso künstlerisch gerecht ist, wie das
nächtliche, acht deutsch gemütliche und abergläubig ahndungsvolle des Aceti
und des Buben zwischen Steinen und Brombach. Auch Gervinus schon ist
in seiner Litteraturgeschichte auf die Anschauenden um der Form willen näher
eingegangen. Wie zu historischer Ergänzung des Vadiscus gab nun H. die
im vorigen Jahre von ihm, als er nach Handschriften der Klassiker in der
fuldischen Bibliothek stöberte, aufgefundene (von Bisch. Waltram von Naum-
burg 1093. geschriebene, auch öfters in neueren Sammlungen wiederholte,
nicht vollständig erhaltene) Vertheidigung des deutschen Königthums gegen
den römischen seul heraus, und zwar mit einer Dedication an Karls V.
Bruder Ferdinand (ve uvjtatv ecclesiae eovservanäg.. Mainz, März 1520 4.)
In dieser Widmung treten zuerst uns Bibelstellen entgegen, wo nach Hs.
früherer Weise klassische stehen müsten: „sie stören statt zu fördern: man glaubt
stellenweise H. in Kutte und Kapuze sich vermummen zu sehen, den doch nur
Harnisch, und Lorber kleideten." Gewiß; aber o Macht der Mode! Wie man¬
cher deutsche Edelmann hat sich in der Kapuze begraben laßen, dem auch das
Gewand eines Reiters oder Buschkleppers wahrhaftiger geseßen hatte! Genug
daß H. seine Klassiker in guten Treuen sort liebte; und daß er das that, da-
von giebt uns auch Reuber in seiner Vorrede zu Cicero vom Alter (deutsch.
1522. fol.), wo er Hs. Beihilfe rühmt. Zeugniss: diese Beihilfe setzt Ser.
mit gröster Wahrscheinlichkeit in die Zeit von Hs. Zusammentreffen mit Cro-
tus zu Bamberg, im Frühjahr 1520. Vom 20. Mai ist aus Mainz der
Brief an den nachmaligen Erzbischof von Hort, Lee, datiert, den damals
kein Erasmianer wegen seiner Eitelkeit, mit dem großen Erasmus über dessen
neues Testament etwas Federkrieg zu führen, ungescholten laßen durfte. Am
4. Juni schreibt H. von Mainz aus an Luther „heute gehe ich ab zu Fer¬
dinand." Es war also eine frühere Nheinfahrt; auf welcher auch H., wie
2 Jahre früher Erasmus. von dem Zolleinnehmer Eschcnfeldcr in Boppart
aufs freundlichste bewirthet und mit einer Hdschr. der Briefe beschenkt wurde,
die er alsbald mit einer rittlings verfaßten Dedication „an alle Freien in
Deutschland" (dat. 27. Mai) herausgab, unter dem Titel vo »<Msmg.w vx-
tingusmlo cke. Die Wirksamkeit seiner Angriffe, in denen er nur Verthei¬
digungen der Wahrheit und seines Vaterlandes wollte, und welche ihm bei
Freund und Feind entsprechende Anerkennung verschafften, (auch in Rom hatte
man nun ein Augenmerk darauf, sich von einem gewissen Ulrich Hütten, einem
gar sehr unbescheidener Menschen, zu befreien), wollte er dadurch verstärken,
daß er den Erzherzog Ferdinand für seine Sache zu gewinnen suchte; durch¬
zubrechen war nun sein Sinn. Selbst der Kurfürst von Mainz scheint diese
Reise begünstigt, auch wol für sich selbst einiges von ihr erwartet zu haben;
aber während Hs. Abwesenheit gelangten um den Cardinal päpstliche Schrei¬
ben , welche Hs. Stellung nicht bloß in Mainz, sondern so weit ein Römling
reichen mochte, zu untergraben ganz geeignet waren. Auf der Reise nach
Brüssel traf H. mit Agrippa von Nettcsheim in Köln zusammen, — die
waren nicht sür einander gemacht —; in Löwen besuchte er den Erasmus
von welchem er sich Empfehlungsbriefe geben ließ: Erasmus klagt später, nach
seiner Verseindung mit H., dieser habe sich die Briefe von ihm geben laßen,
obgleich er sich damals schon gegen den Kaiser verschworen gehabt habe (was
eine erasmische Wahrheit, d, h, eine Verdrehung ist), „na vvxg,ni!ni> uxormn."
Diese Worte sind freilich selbst vexatorisch; Ser. deutet sie ohne Zweifel richtig
auf Hs. Heiratsplane; nicht uex-ura-un, sondern mese^näirili hatte Erasmus
geschrieben, der im „Ritter ohne Ross" ebenso witzig als feig auch ans diesen
Plan Hs. hinschielt. Er misslang: H. erhielt schwerlich Audienz, dagegen
desto dringendere Warnungen vor den Nachstellungen der Kurtisanen, und
Mönche. Den verfolgungssüchtigsten dieser, Hochstraten, hätte er bei Löwen,
der Ketzermeister hatte schon seinen Sterbensspruch gesagt, niederhauen können,
ließ ihn aber, weil er sein Schwert mit dem Blute des Elenden nicht besu¬
deln wollte, seines Weges ziehn. Er zog auch den seinigen, rheinaufwärts:
in Mainz freuten und wunderten sich seine Freunde, ihn noch am Leben zu
sehen, und riethen ihm zu dessen Erhaltung sich zu entfernen: über Frankfurt,
wo er Beweise der Gcgründetheit jener freundschaftlichen Befürchtungen ver¬
nahm, und Gelnhausen, von wo er an Capito seine Kunde von dem beim
Kurfürsten von Mainz eingelaufenen päpstlichen Verfolgungsschreiben meldet,
zog er auf seine heimische Burg und besuchte das benachbarte Fulda. wo ihm
ein stügiges Zusammensein mit seinem Crotus beschieden ward. Daß uns
nur ein päpstliches Schreiben an den Kurfürsten, das vom 12. Juli 1520.,
erhalten ist, während H. von zweien redet, erkläre ich abweichend von Ser.
daraus, daß H., welcher beide nicht selbst zu sehen bekam, außer jenem das
des Canonicus v. Tettleben (bei (Zeräe« Nonnen. -ni Irist. i'et'oren. ^.pp. g,<I
I. x. 147, verstümmelt bei Münch III. meinte. Der Papst forderte „aus
apostolischer Sanftmuth", daß der Cardinal an dem verwegenen Ritter ein
Exempel statuiere. Der Cardinal antwortet auf die ihm erst am 25. Oct.
zugekommenen päpstlichen Schreiben, er habe H. nicht mehr an seinem Hofe,
lerne erst jetzt dessen verabscheuungswürdige Schriften kennen, die ein Mainzer
Bürger (Schöffer) gedruckt, wofür er diesen in das härteste Gefängniss habe
werfen laßen; dem H. selbst aber könne er nicht zu Leibe kommen, der auf
festesten Burgen sitze und tapfere Neiterscharen zu Gebot habe; übrigens seien
alle Suppressionsmaßregeln gegen die bösen Büchlein, auch die lutherischen,
von ihm, dem Erzbischof, getroffen. Das muste wol ganz ernstlich oder
zweckmäßig nicht geschehen sein: die Erfurter Inklination von 1520 gegen die
ecksche Bulle, welches mir vorliegende Schriftchen Niederer, der es wieder her¬
ausgegeben hat, als ein Monstrum von Seltenheit behandelt, ist in der schöf-
serschcn Officin gedruckt, und ich müste sehr irren, oder Crotus hatte es an
H. geschickt und dieser, der keinen gutgeladencn Schuß verschmähte, feinern
stäts willigen Verleger übergeben.
Die nächsten Kapitel sind Hs. Aufenthalt und Thätigkeit in Franzens
von Sickingen Herbergen der Gerechtigkeit gewidmet, und zwar eröffnet sich
das 4, mit einer Vorstellung des Ebcrnburgers, aus welcher wir diesen, wie
er ungeschminkt aussah, als eine Hauptfigur in unsrem Drama kennenlernen,
und zugleich daß der Vorstellende ebensowenig für Ritter als für Pfaffen Vor¬
liebe hegt. Auch Aquila. Bucer, Oecolampadius und Schwebe! (Schwnblin)
waren Gäste in jener Herberge, die sich nun H. aufthat und welche dieser
längst auch für Luthern geöffnet erklärt hatte. Der Sickingcr verstand's seit
Jahren, mit grobem Geschütz zu arbeiten; auch H. fängt nun an, ohne
Pulver, mit solchem zu donnerin von der Ebernburg Sept. 1520. datiert sind
die feurigsten Schriften, die man lesen kann, die Conqnestioncn an Karl V.
den Kurfürsten von Sachsen, den von Mainz, und an alle Deutschen nebst
dem Brief an Rotcnhan, worin er noch Hoffnung auf den Kaiser seht. Aber
wie rasch auch patriotische Ergießungen hinbrausen mögen, sie sind nur Be¬
standtheilchen des seinen bedächtigen Gang hinschleichenden Stromes der Zeit:
Hs. Schriften verbreiteten sich mächtig, H. und Luther waren gefeierte patrio¬
tische Namen, aber die deutsche Nation ließ sich auch fortan von ihren Für¬
sten leiten, wie diese von ihren Interessen, man nannte sie des Reiches und
des Landes Wohl, in geistlichen Staaten Heil der Kirche. Unterdessen ward
doch der Kampf Roms und gegen Rom im eigentlichen Sinne brennend: die
Bannbulle Mgcn Luther verursachte in mehreren Städten, auch in Mainz, un¬
nützen Holzaufwand, dessen auch Luther sich schuldig machte. H. glossierte
jene Bulle und beleuchtete die finsteren Verbrennungsscenen in lateinischen und
deutschen Versen. Bei Beurtheilung dieser Schriften ist es ebenso nöthig als
schwer sich richtig in die Entstehungszeit zurückzuversetzen: uns erscheint noth¬
wendig manches matt, was für seine Zeit die richtige volle Färbung hatte.
In dem am Jahresschluß 1520 seinem Freund und Gönner Sickingen
gewidmeten Gesprächbüchlein, das außer der Fortuna alle Gespräche der Mainzer
Sammlung vom April desselben Jahrs enthält, erklärt H, das Vaterland
und deutsche Nation in ihrer Sprache anschreien zu wollen, daß sie sich wehre
„gegen den übermäßigen und unchristlichen Gewalt des Bapsts": das
Latein verstanden hauptsächlich nur die ihn, Hütten, nicht verstehen wollten
und ihm gehäßig waren; aber Adel, Städte und Volk sollten nun helsen,
und die wollten deutsch aufgerüttelt sein. Die Clag und Vormanung war
schon im Sommer, wie es scheint, gedruckt worden; was ihr an metrischer
lind symmetrischer Kunst abgehen mag, ersetzt sie reichlich durch Wahrhaftig¬
keit und Tiefe vaterländischer Gesinnung und Kraft der praktischen Beobach¬
tung: „in dringender, stürmender, mit immer neuen Stößen zusetzender Er¬
mahnung ist H. ein unvergleichlicher Meister." In diesem Gedichte wollte er,
wenn erlaubt ist seine Worte an Sickingen hier ins Gegentheil zu wenden,
„einmal seinem Hertzen, das gesteckt voll Abscheu und feindlicher Gesinnung,
die er gegen des Papstes, Wiedervergeltung herausfordernde, an den Deutschen
begangene Uebelthaten, die doch er noch täglich mehr und mehr überhäufte,
einen lufft geben." Diese „lebendige Abcontrafactur des gantzen Bapstthumbß"
oder „Auffweckcr der deutschen Nation" ist nicht bloß bei Hs. Leben öfters,
mindestens 4 mal, sondern auch in Kirchmaycrs Bäpst. Reich (1560), zu
,Ehren Gustav Adolfs (1632), und leider (weil ganz nachläßig) bei Meiners
und Münch. und „zeitgemäß" verhunzt bei Schreiber und Wolff wieder ab¬
gedruckt worden, und schwerlich wird diese Klage je ganz verhallen oder ganz
abgestellt werden. Etwas dürftig erscheint neben dieser Vermahnung die zur
Instruction des Kaisers bestimmte „Anzeige, wie höflich sich allwegen die Päpste
gegen die deutschen Kaiser gehalten", von Otto I. an bis auf den Karl V.
selbst umgarnenden Leo X.; aber trotz ihrer, auch von Ser. angemerkten
historischen Verstöße fand sie ungemeinen Beifall: ich kenne außer der von
Ser. gehörig gewürdigten Sudelei Münchs ein dutzend Ausgaben derselben.
Auch die Conquestionen übersetzte nun H. ins Deutsche, wobei kleine Aende¬
rungen nicht ausbleiben konnten, aber auch zu Vor- und Nachworten nament¬
lich die Gespräche Veranlaßung boten. Daß die „Entschuldigung" nicht richtig
zwischen jenen Gesprächen und dem erquicklichen Lied von 1521 „Ich hab's
gewagt mit Sinnen", dem auch Ser. die beiden Lieder Kunz Löffels auf H.
nachschickt, gestellt werde, ist schon bemerkt. Um so freudiger nehmen wir die
Schilderung des inneren Kampfes in dem Schriftsteller H. auf, daß er nicht
als deutscher Ritter mit dem Schwert drcinschlage: in Luther zerren sich
Mönch und Theologe, wenn in ihm der Teufel gegen Christus kämpft, aber
in Luther siegte der eine Kämpfer, wenn auch die Theologen unter sich noch
streiten, welcher; H. rüstete fortwährend mit der Feder kämpfend zugleich zum
Kampfe mit dem Schwert. Darüber schrieb er auch an Luther, der jedoch keinen
ritterlichen Aberglauben in sich zu bekämpfen hatte, sondern durch das Wort
überwinden wollte, — aber doch auch am 10. Dec. auf gut ketzermeisterisch
sein „Zum Feuer!" exequicrte. Unterdess gewann, wie Ser. in einem lieb¬
lichen Genrebildcheu ausmalt, H. vorlesend, schreibend und in traulichem Ge¬
spräch seinen Ebernburger Wirth immer entschiedener für Luthem, dessen Sache
in seuls wachsendem'Kreiß als die Christi und der Wahrheit galt. Außer
den ins Deutsche übersetzten Gesprächen erschienen nun auch lateinische Dialo^i
novi ixnPmm' t'Wtivi mit einer Dedication an den Pfalzgrafen Johann vom
13. Jan. 1521. ein satirisches, die mit der deutschen Freiheit hochmütig
hadernde, dann platzende Bulle (Blase), welcher also die Glossen nicht zu ver¬
stärkender Umhüllung gedient hatten; zwei Warner, deren erster sich von
Luthern nicht überführen laßen will, daß eine Reinigung der kirchlichen Ver¬
fassung und Lehre Noth thue, sondern als Geistlicher die bestehende Gestaltung
der kirchlichen und religiösen Dinge vortheilhafter und bequemer findet; deren
zweiter dagegen seine Vertheidigung des Papismus Franzen v. S. gegenüber
auf- und diesem Beifall giebt, daß er, und sollt es auch dem Kaiser zuwider
geschehen, für die Sache der Wahrheit und des Evangelii allenfalls auch, wie
H. wolle, das Schwert ziehe, ein zweiter, ein deutscher Ziska. Das letzte,
an Umfang und vielleicht auch an Bedeutung den drei ersten zusammen gleich¬
kommende Gespräch, das H., ein Kaufmann und Sickingen führen, die Räuber,
stuft diese nach ihrer Schädlichkeit und Bertilgungswürdigkeit aufsteigend also
ab: das Gesindel der Wegelagerer und Buschklepper; die Kaufleute, die
Deutschland um seine guten Sitten und seinen Reichthum bekriegen, die wol
geadelt sein können, wie die Fugger und die Medicäer, aber doch unedrtsind;
die Schreiber und Kanzler der Großen und die Juristen, deren Entscheidungen
seil sind. Schmeichler und Empordringlinge. die mit ihren Auslegungen, Ver¬
drehungen und Weiterungen aus Hochmut und Eigennutz das deutsche Volk
um sein gutes Recht, die deutschen Fürsten um ihre richtige Einsicht und guten
Willen für Land und Leute bekriegen; das schlimmste Gezücht aber ist das
der Pfaffen; zum Krieg gegen diese müßen sich Adel und Städte die Hand
reichen. Gervinus lit- 434) Wunsch. H, möchte doch seine juristischen Studien
wenigstens soweit wie seine theologischen zu führen die Geduld gehabt haben,
damit er auch die jurisRschen Freiheitsseiude in Deutschland mit jener ge¬
eigneten Waffe angegriffen hätte, mit der er die geistlichen in Gemeinschaft
mit Luther vertilgte, paßt nicht gut zu seiner schönen Darstellung Hs.: die ge¬
eigneten Waffen gegen die Ausartung der Jurisprudenz begannen damals
schon Alciat. Bude und Zasius zu schwingen, und hätte sich H., wie jener
Wunsch es fordert, durch die dürren Steppen der Commentatoren, welche
zwischen ihm und dem grünenden Gebiet der Glossatoren und den klaren
Quellen des ron, Rechts in der Mitte lagen, durchgeschleppt, so wär er,
sicherlich nicht als H. bei Sickingen eingekehrt. Er hatte mehr als genug an
seinem Kampfe gegen jene vierte Räuberklasse zu thun, und daß er dazu „Fuß
und Hand" redlich brauchte, beweist auch die im Sommer 1521 edierte Schrift
ans den letzten Zeiten des Baseler Concils über die Nothwendigkeit und Be¬
deutung der Concilien, welche er in der sickingischen Bibliothek gefunden,
und welcher er eine eben von Wittenberg ihm zugekommene Ermahnung zum
rechten Glauben von dein bambergischen Vicar Conrad Zärtlin, genannt
Playnbacher, zufügte.
Aber schon vorher waren Zeit und Umstände für die eigentlichst huttensche
Muse, die etwas von einer Meduse an sich hat, gekommen, der Wormser
Reichstag, die erfolgreiche cdictenerschleichende Umgarnung des undeutschen
deutschen Kaisers durch die schlauen Creaturen des üppigen Florentiners,
welcher „die Fabel von Christus so einträglich" fand tu«»c<in, I,ö<> X. <:ir. 24.),
und. was historisch beßer beglaubigt ist, der Wahrheit die lzuoiuz. eoiÄ vor¬
zog, und dagegen der durch Ueberzeugungstreue gestählte Muth des Manns¬
felder Bauernsohns, welche»! Christus und Wahrheit eins und alles waren,
die Verhöhnung der Deutschen und ihres Adels durch die wälschen Gold¬
sauger und den spanischen Uebermuth, die Haltlosigkeit und das eigensüchtig
dynastische Gebahren der deutschen Fürsten, und die ganze unbeschreibliche
Elendigkeit jener Zeit. Den Hauptschauplatz konnte H. in einem guten Ritt
von Ebernburg aus erreichen: er durste sich dort nicht sehen laßen, aber er
ließ sich hören wie in Gebirgen der Donner: die Jnvectiven gegen die Nuntien
und nachmaligen Cardinäle, Alcander, den im doppelten Sinne dreizüngigen,
den man ziemlich allgemein für einen Juden hielt, und den Neapolitaner
Marino Caracciolo, die gegen die ganze zu Worms versammelte Prülatcn-
schast, die Sendschreiben an den Mainzer Cardinal und die an den Kaiser,
deren das vom 27. März so heftig war, daß H. am 8. April ein begütigen¬
des nachzusenden für gerathen hielt, vermag ich nicht in Kürze zu charakteri¬
sieren, nicht den erhabenen Zorncsmuth des mit Kindestreue an seiner Mutter,
an Deutschland, Hangenden, deren Feinden feindselig, deren Verhöhncrn aber
mit vernichtenden Spott entgegentretenden Helden zu schildern. Man muß
diese Jnvectiven bewundern, auch wenn man vom Lesen der Vcrrinen und
Catilinarien kommt; Hs. Geist leuchtet überall d-urch. Si^e sind in nur
2 Onginalauflagen gedruckt, und nicht, wie der eine Bries an Karl V. und
der an Pirkheimer vom 1. Mai, gleichzeitig übersetzt worden, was beides
nicht ganz unerheblich scheint. Luther trat uun in den Vordergrund und vor
den Kaiser und die Fürsten in Worms. Von seiner Reise dorthin gedenkt
Ser. des Erfurter Einzugs, um an Eobans daraus bezügliche Elegien und die
von Crotus geleitete Empfangsfeierlichkeit zu erinnern, und an diese die mit
Recht noch sehr unsicher gehaltene Vermutung anzuknüpfen, daß letztrer die
dieser Zeit angehönge (auch von Sirobel 1784 und von Kapp 1728 wieder¬
holte) Parodie, I.i1lava (ivrirmnorum, verfaßt habe, worin viel für Deutsch¬
land, Luther und H., gegen den Papst, Alcander und die Curtiscmcn, um Er¬
leuchtung des Kaisers und Beßerung Glapions und der Mönchsthcologen
gebetet wird, aber, was ausdrücklich bemerkt zu werden verdient, nicht für
Sickingen oder den Kurfürsten von Sachsen. Fast wie eine Gespenstcrerschei-
nung lesen wir den Besuch des Graumönchs Glapion bei Sickingen und H.,-
er läuft auch ebenso ab, bei hellem Morgenlicht ists nichts: Sickingen lud
zwar wirklich durch den nach Oppenheim gesandten Bucer Luthern zu sich auf
die Eberuburg, aber der Vf. der babylonischen Gefangenschaft ließ die
Ebernburg rechts Uegen und zog geradeaus gen Worms. Während er hier
das erste Verhör bestand (17. Apr.), schrieb H.. wie er ihn früher durch
Spalatin zur Vorsicht gegen die Nachstellungen der Feinde angemahnt, nun
an ihn und seinen Gefährten Jonas Briefe tröstender Ermutigung, die Bucer
nach Worms brachte. Aus Luthers Schreiben von dem Verfahren der Reichs¬
versammlung, die nur verurtheilen, nicht erkennen wollte, antwortet (20. Mai)
H. knirschend, er werde ehestens hinausgelaßen werden und wolle ihn dann
die Werke des von Gott in ihm erregten Geistes sehen laßen. Als aber
Luther ihm gemeldet, wie -man ihn zu Worms verabschiedet, da war Hs.
Gemüt auf die äußerste Gränze, wo Thatbegier und Gefühl der Unmacht sich
scheiden, getrieben, er weinte;, wenn man den Brief (vom l. Mai) an Pirk-
heimer gelesen hat, begreift man wie Busch einige Tage darnach von Worms
aus H. sast höhnisch auftürmte, seine Drohungen würden nur zu Spott, das
Curtisanenpack müße mit Faust und Schwert ausgereutet werden. Auch Eoban
sandte an H. ein Exhortatorium elegischer Form, worauf H. ni gleicher Form er¬
widerte, Thaten wolle er thun nach Kräften und, hemme das Schicksal nicht, noch
die Hoffnung bewähren, die man in ihn gesetzt, er wolle durchbrechen oder kämpfend
fallen. Aber im Buche der Zeiten war H. ein andrer Lebenslauf und Ausgang vor¬
gezeichnet; der Wormser Reichstag bildet „einen Wendepunct in seinem Leben
und keinen glücklichen;" statt durchzubrechen muß er ins Elend wandern, statt
kämpfend stirbt er hingerafft von Krankheit, Schmerz über Sickingens Fall,
Verachtung der erasmischen Treulosigkeit. Jedoch ganz ohne Buschcns wildem
Rath oder seinem eigenen Haße gegen die Kurtisanen Folge zu leisten ist H.
doch wol nicht geschieden Ser. (S. 240) setzt die bisher nur aus des Erasmus
verdächtigenden Aeußerungen bekannten Wegelagerungen gegen 3 Aebte und
2 Predigermönche, denen er die Ohren abgeschnitten habe, in das Spüt-
jahr 1522, ich fürchte zu spät: es liegt ein Bericht vor mir von Caracciolis
und Aleanders Antrag beim Herzog Friedrich zu Sachsen (zu Köln am
4. Nov. 1520) wegen Vollzugs der Bulle gegen Luther, und des Kurfürsten
ablehnendem Bescheid; diesem Bericht ist ein Brief N. an N. zugefügt, worin
es heißt: „so wil ich euch nicht pergen, das solchs, Auß den geschickten des,
Bapst ainer als sy herauff an Rcynstram kämmen nach da bey Mentz von
amen von Hütten erstochen, vnd der ander sein gesell schwerlich daruon
kommen, wenn Doctor Martinus solcher gesellen vit het wurden die Roma¬
nisten wol da ham blenden, vnd jenen in disen landen zufriden lassen, . . .
Datum eylents zu Koburg am Erichtag nach Conccptiones virginis glorios,
dio. Dec.Z Anno 1521. I. V. W. Secretis. Meinem besonder gutten
freunde N. von N. Amptmcm zu N. :c." Auch die obberührte Erfurter In-
klination fordert zu Thätlichkeiten, wenn auch nur gegen Documente, auf.
(Nur weil es Ser. nicht gethan, muß ich hier bemerken, daß der in Nürnberg
für ächt huttenisch gehaltene Brief an einen gewissen Propst, den Burckhard
(II. 213. f.), dem Wagenseil und Münch gedankenlos folgen, sehr verkehrt H.
zuschreibt, und den Ghillany als Probe von des Ritters Hdschr. hat sacsimi-
lieren laßen, ohne ihn beßer als seine Vorgänger lesen zu können, ein Wisch
ist, welcher H, nichts angeht', die Handschrift ist von der mir wolbekannten
Hs. ebenso verschieden als der Stil und Inhalt des kindischen Zettels von
einem Briefe Ulrichs v. H.) Von Ebernburg aus besuchte H. im Mai 1521.
das Wildbad, wo Sickingen in seinem Beuteantheil aus dem wirkend. Feld¬
zuge saß; von da aus ist am 27. Mai ein Verweis an Bucer datiert, daß er
in die Dienste des-Pfalzgrafen Friedrich getreten sei. Vom Herbste 1521
aber bis zum Sommer 1522 weilt H. auf Franzens andern Burgen, meistens
zu Dirmstein und Wartenberg, von wo aus auch die Fehdecorrespondenzen
mit den Karthäusern bei Straßburg und gegen den Pfarrer Meyer zu Frank¬
furt a. M. datiert sind, während die Ermahnung an Worms wieder von
Landstuhl aus (27. Juli 1522) geschrieben ist. Jene 2 Burgen kennen bis¬
her alle unsre Biographen Hs. nicht, auch Ser. verwechselt (z. B. S. 197.
Note 3) das Durnstein Sickingens, wo H. saß, mit dem bischöflichen bei
Worms: jenes. H. schreibt Durm- Dyren- Drimstein, Dürenstat, lag etwa
3 Stunden von Kaiserslautern zwischen Hochspeier und Wcidenthal; es ist,
glaub' ich, das l^titulum, von wo aus H. am 4. Sept. 1521 an Bucer ge¬
schrieben hat; Wartenberg oder Wartenburg, nachmals Sitz der gleichnamigen
Grafen, lag ohngefähr in derselben Entfernung von Läutern zwischen. Lohns-
seld und Rohrbach, wie auch die Entfernung Landstuhls. (Landstall, Nan-
stall, Nannstcin) von da nach Homburg zu etwa ebenso groß ist. Von hier
aus zog Sickingen gen Trier und in ihr fand er nach dem verunglückten
Zuge (II. S. 228 .. . 37) seinen Tod. Den Feldzug mitzumachen, wie beab¬
sichtigt war, hinderte H. die Krankheit, die ihn seinem Sickingen bald nach¬
schickte, wie sie ihn auch gehindert zu haben scheint, diesen auf den Landauer
Tag (Aug. 1 522) zu begleite». Den Injurienhandel gegen die Karthäuser
(im letzten Drittel 1521) betrachtet Ser. wie ein Fastnachtsspiel, das H. sich
zur Erholung erlaubt habe; mir scheint er ganz jener Zeit gemäß und in H.s
psaffenseindlicher und überreizter Stimmung ein ihm ebenso regelmäßiges Ge¬
schäft, als die ins Frühjahr 1 522 fallende Eorrespondcnz gegen den I). Meyer,
welche zur Herausgabe bereit in meinem Pulte liegt, und die Verwendung
für den evangelischen Prediger Ulrich in der Ermahnung an Worms. ,H.
war nun durch des Vaters Tod (März 1522) als dessen Erstgeborner selbstän¬
diger geworden: er sollte die väterlichen Besitzungen übernehmen, aber sein
Pfad war ihm nach einer andren Richtung vorgezeichnet. In diesen Sommer
fällt mich die Absaßung des zur Verbündung des Adels mit den Städten g^egen
die Fürsten anmahnenden Gedichts „Beklagunge der Freistelle deutscher Nation"
und des in vielen Stellen mit den äürloU. novi (1521) parallel laufenden
Neu-Karsthans. welcher auch Volk und Bauerschaft in jene Verbindung zu
ziehen strebt: Huttens Autorschaft dieses Gesprächbüchleins erklärt Ser. aus
triftigen Gründen nur für wahrscheinlich, so wie die der angehängten 30 Artikel,
den 12 der Bauerschcrst im bald nachfolgenden Bauernkriege sehr ähnlich, aber
nur gegen die Klerisei gerichtet, für sehr unwahrscheinlich. Hierher aber ge¬
hört nun wol die „Entschuldigung wider etlicher unwahrhaftes Ausgeben von
ihm, als sollt er wider alle Geistlichkeit und Priesterschaft sein, mit Erklärung
etlicher seiner Geschristen". vorzüglich der Klag und Vermahnung; Panze
(Hütten S. 1K8 f.) hat diese in der Originalausgabe nicht gekannt und auch
bei Burckhard. Meiners.und Münch ist sie nur aus der zweiten schlechteren
Ausgabe abgedruckt. Im Herbst 1522 (genauere Angaben mangeln) verläßt
H. seines Freundes Burgen, nicht, wie Erasmus später zischelte, von Sickingen
zu Vermeidung der „iuvulis," fortgeschickt, sondern weil der verbannte Kranke
dem Kriegsgeschäft auf Franzens Burgen, selbst untauglich dazu, nur hinder¬
lich geworden wäre, wie auch Bucer und Oekolampad südwärts ins Elsaß
und nach Basel zogen. So auch H., wieder bettelarm, wie vor 13 Jahren.
als er nach Greifswald kam. seis daß Unterstützung der Brüder aus der
Heimat den Heimatlosen nicht fand, seis, wie Brunfels angiebt, daß er nach
der geliebten Mutter Tod ausdrücklich dem väterlichen Erbe ganz entsagt
hatte, um nicht auch die Brüder in seine eigene Bahn, deren jähe Abschüßig-
keit er nicht verkannte, hereinzuziehen i in Schletstadt muste er bei Freunden
Geld erborgen, und kam, sich nach Erholung sehnend, in Basel an. Längst
zwar hatte H. erkannt und es auch offen und klagend^ an Erasmus geschrieben,
daß dieser in achsclträgcrischer Selbstsucht der Sache des Evangelii nicht
aufrichtig zugethan sei und daß dessen Correspondenzofficiosität nur im
Dienste maßloser Eitelkeit stehe, wie denn auch Erasmus überall seinen
Erasmus verhätschelnd selten von sich, aber fast in jedem Satze seiner Briefe
und wo es sonst angeht, vom Erasmus spricht. Daß er mit H. nicht mehr
im Rufe vertrauter Bekanntschaft bleiben wollte, dem geächteten, kranken,
dürftigen und doch stolz sür Recht und Wahrheit streitenden, alles Kriechens
und Wade^ins, Schmeichelns und Zischelns unfähigen Habenichts, wer könnte
das an Erasmus verwunderlich finden, dem damals, abgesehen von seinen
steinbeschwerten und vorübergehendem Mangel an gutem, Rothwein, alles
zuflog was er zu schätzen wüste, reichlich verdienter Gelehrtenruhm und Büche¬
rei, Gunst, Geschenke und süße Wolgewogenheiten der Großen und Kleinen,
vom Papst und Kaiser bis zu den Weiberchen und Schülerchen, reichliches
Einkommen (er hatte früher auch betteln gelernt) und uuablnßigc Gelegenheit,
in Briefen und Büchern von dem vortrefflichen, nur mit gar zu vielen wich¬
tigen und verdienstlichsten Arbeiten und Geschäften allzugcplagten Erasmus,
und nebenbei über Andere allerhand Medisantes zu reden? Erasmus hatte nur
eines nicht, und das war gerade Hs. gröster Schatz. Charakter. Sogenannte
Nothlügen waren dem Erasmus zu eigenem Gebrauche so unanstößig und ge-
tausig als das Reden und Schreiben überhaupt: eine solche war es. daß und
wie er Hs. Besuch ablehnte; sie gab die äußere Veranlaßung zu dem Streite,
dessen Ende dieser nicht erlebte, den H., was auch bezeichnend ist, mit einer
exposwlatio, Herausforderung (zu litterarischer Vertheidigung und moralischer
Beßerung) zuerst in die Öffentlichkeit brachte, Erasmus dann mit einem
Schwämme, S^onAia, abzuwischen suchte, »vorauf für den beim Erscheinen
des Schwammes verstorbenen H, dessen ehemaliger Schützling Otto Brunsels und
nachmals Erasmus Albcrus auftraten, für Eursmns Erasmus, der sich dadurch
in einen neuen ihm ebenfalls wenig zur Ehre gereichenden Streit mit Heinrich
von Eppendorf verwickelte. Dieses alles berichtet unsere Biographie im 10.
Kap. gründlich und mit der Anmut, welche eine Darstellung haben mag, wo¬
rin Erasmus nicht als Litterator, sondern nach seinem Verhalten im und zum
Leben, eine Hauptfigur ist. Von diesen, Erasmus wende ich mich gern ab,
Hs. Grabe zu. Als H. am l'>. Jan. 1523. von Basel sich entfernen muste.
weil ihm der Rath der Stadt, worin man damals noch die Wirkungen der
eindringenden Reformation abzuhalten hoffte, den Aufenthalt nicht ferner ge¬
stattete, flüchtete er nach Mülhausen. wo die Wogen der Reformation eben¬
falls hoch giengen. Hier erfuhr H. Sickingens Ende (7. Mai 1523.); wie
er das getragen, können wir daraus entnehmen, daß er eine Schrift in t^rim-
no8, „d. h. ohne Zweifel gegen die verbündeten Fürsten, die seinen Freund
S. vernichtet", verfaßte: sie ist uns nicht erhalten: Ser. macht wahrscheinlich,
daß Eoban den Auftrag sie herauszugeben unvollzogen gelaßen habe, um es
nicht mit dem Landgrafen von Hessen zu verderben, in dessen Dienst er auch
bald darnach als Marburger Professor eintrat: ich hege noch immer einige
Hoffnung, daß sie dereinst aus irgend einem schweizerischen oder elsaßischcn
Winkel ans Licht kommen werde. Wie muß Hs. Leuchte noch einmal auf.
gelödert sein, bevor der Todesgenius sie am Fuße des Etzel in das Eiland
stieß, wo seine Wunden Heilung fanden, andere als er gehofft! Auch aus
Mülhausen trieben H. die kirchlichen Parteiungen hinweg: er muste Sicherheit
und Pflege suchen, die er sammt dem Verkehr mit Geistigebenbürtigen bei
dem ritterlichen Reformator in Zürich fand, Zwingli war kein Erasmus. In
Todeswehmut schreibt H. (am 21. Juli) von Zürich aus noch einmal an sei¬
nen Eoban, erkundigt sich nach seinem Crotus, beklagt des Erasmus Treu¬
losigkeit, und bittet unter Grüßen an die thüringischen Freunde um brieflichen
Zuspruch unter Zwinglis Adresse, oder der Oekolampads in Basel. Ende
Juli schon giebt er an Zwingli, es scheint schon auf der Rückreise zu dem¬
selben, Nachricht, daß ihm das Pfäfferser Bad nichts helfe, wie unfreundlich
das Wetter, wie freundlich dagegen der Abt (Rußingcr) ihn dort behandelt
habe, und bittet ihm sein Absteigequartier in Zürich bereit zu machen, von
wo aus (?) er am 1. Aug. nach Basel an Prugner schreibt, noch der For-
luna acht ganz misstrauend (Rodrichs Wehmut über dieses huttenschc Heiden-
thrim beleuchtet Ser. mit einem hübschen biographischen Schlaglichtchen)-, er
gedenke bei einem Arzt <es war der Pfarrer Schncgg auf Ufnau) 3 Meilen
von Zürich sich einige Tage in Stille aufzuhalten. Er blieb da bekanntlich
länger, aber den Frieden wollte ihm Erasmus nicht gönnen: dieser hatte am
ne. Aug. von Basel aus an teil Rath zu Zürich einen denuntiatorischen Brief
gegen H. geschrieben, den man ohne Uebertreibung eine Schcmdsäule nennen
kann, die der Holländer sich gesetzt hat. H. klagt von Nfnau aus (15. Aug.)
in einem Brief an denselben Nath, daß man ihm warnungsweise von Basel
aus berichte, wie Erasmus eine Schrift an den Nath verfaßt habe, dann er
ihn, H., fast unfreundlich, rühre, auch Ungunst und Widerwillen gegen ihn zu
erwecken unterstehe, das er sicherlich nicht verdient habe, und bittet ihm die
Gelegenheit zu seiner Rechtfertigung nicht abzuschneiden. Dieser milde, vom
edelsten Sclbstbewustsein getragene Brief ist das letzte litterarische Document,
das uns von H. übrig ist: er starb 14 Tage darauf. Ueber seinen Todestag
schwanken die Angaben zwischen 29. Aug. und l. Sept.: Stolzcns von Ser.
gebilligtes Argument für den 2». Aug., welchen Erasmus nennt, geht von
der Voraussetzung aus, diesem hätten die vier Tage als Hs. Stcrbezeit be¬
richtet vorgelegen, unter denen er sich den ihm bequemsten hätte auswählen
tonnen, was nicht unerasmisch wäre, wäre nur jenes nicht in sich unwahr¬
scheinlich. Uebrigens halte auch ich des Erasmus Angabe für die wahrschein¬
lichere: der 31. Aug. oder i. Sept. konnte der Tag, an dem die Bericht¬
erstatter Hs. Tod erfuhren, oder des letztren Begräbnisstag sein, der 31. Aug.
auch aus dem Bericht, H. sei Ende Augusts gestorben, entstanden sein, wäh¬
rend der 2ö. Aug. eine derartige Erklärungen ausschließende Zeitbestimmung
ist. Aus Hs. Nachlaß erschien 152!>. das Gespräch Arminins, dessen Ent¬
stehung zweifelsohne noch dem I. 1520. angehört, und welches füglich den
1521. erschienenen «lürlogi novi hätte zugefügt werden können. Eine Senten¬
zen- und Phrasen-Sammlung aus Sallust und Florus und ein Wortregister
zu erstren seien hier nur der Vollständigkeit wegen erwähnt.
Welchen Eindruck Hs. Tod aus seine Zeitgenvßen und zunächst seine ehe¬
maligen Freunde übte, und welche Ausgänge diese dann hatten, führt uns
das letzte Kap. in einer Reihe verschiedenartig ausgeführter, durchaus schön
und wahr gezeichneter kleiner Lebensbilder, welche sich um den Schatten des
verstorbenen Helden zu einer Gruppe von Männergestalten, deren jede bedeut¬
sam, manche heroisch groß ist, verbinden. Daß Erotns den Schluß bildet,
wie er beim ersten Auftreten unseres Telemachos als junger Mentor zuerst
an seiner Seite gestanden hatte, ist biographische Konsequenz! aber wie er
ihn bei Ser. bildet, .zeugt von künstlerischem Talent unsres Biographen, wie
es wenigen verliehen wird. Crotus hatte, zur römischen Kirche zurückgetreten,
1531. eine Vertheidigungsschrift der antireformatorischen Maßregeln, welche
Hs. ehemaliger Dienstherr Albrecht in seiner magdebnrgischen Diöcese und
insbesondere zu Halle a, S. ergriffen hatte, veröffentlicht; dieser Apologie hat
auf Luthers Aufforderung Justus Menius eine Erwiderung (1532, wieder
herausgegeben von Olearius 1720.. und jüngst von mir mit dem Nachweis,
daß nicht Justus Jonas, sondern Menius der Vf. sei) entgegengesetzt, worin
mit kaustischer Kunst gezeigt wird, wie des Crotus jetzige Stellung und schein¬
bare Lebensrichtung dem Crotus, wie er in Wahrheit innerlich beschaffen,
durchaus unentsprechend sei. Den Inhalt dieser i'WxouÄo legt Ser. vor und
schließt also: „Es ist die schlagendste Stelle, wo der Ungenannte (Menius)
den Schatten Ulrich Hs. gegen ihn heraufbeschwört. Er sührt den Neubekehrten
vor, wie er bei dem Hochamte das Rauchfaß schwingt; wie er, beide Arme
vorgestreckt, die Augbrcmncn ernsthaft zusammengezogen, die Insul des Weih¬
bischofs hält und ihm wohl gar die Schuhe küßt; wie er mit den Chor¬
sängern die Knie beugt: wenn da H. wieder auflebte und es sähe, ob er nicht,
feurig und heftig wie er war, und ein geschworener Feind aller Gleißnerei,
den frechen Heuchler mitten im Tempel zu Schanden machen würde? In dieser
zürnenden Stellung halten wir Hs. Schatten fest. In ihr möge er denen
erscheinen, welche die Schlüßel der Gewissen und der Geistesbildung deutscher
Stämme, durch die Kämpfe wackerer Vorfahren 'kaum zurückerobert, kampflos
aufs neue an Rom und eine römisch gesinnte Priesterschaft ausliefern; noch
zürnender wo möglich denen, welche im Schoße des Protestantismus selbst
ein neues Papstthum pflanzen möchte»; den Fürsten, die ihr Belieben zum
Gesetz erheben; den Gelehrten, denen Verhältnisse und Rücksichten über die
Wahrheit gehen. Er flamme als Haß in uns auf gegen alles Undeutsche,
Unfreie, Unwahre; aber glühe auch als Begeisterung in unsern Herzen für
die Ehre und Größe des Vaterlandes; er sei der Genius unsres Volks, we¬
nigstens so lange, als diesem ein zürnender, strafender, mahnender Schutzgeist
Noth thun wird."
'Wanderungen durch Texas von F. L. Olmsted. Leipzig, C. B. Lvrck.
Diese Schrift, die Uebersetzung des Werks eines Amerikaners, der Texas
uach den verschiedensten Richtungen durchstreift hat, beansprucht von uns
außer dem Lobe scharfer Beobachtung und ungewöhnlich guter Schilderung
vorzüglich Anerkennung und Interesse wegen der ehrenwerthen Gesinnung,
mit welcher der Verfasser die tüchtige Art der dortigen Deutschen und die viel¬
fachen Vorzüge derselben vor den Uankees hervorhebt. Ein so warmes Lob
unsrer Stammgenossen ist in amerikanischem Munde selten. Hier aber erhebt
es sich an einigen Stellen fast zur Poesie und wird in dieser liebenswürdigen
Form doppelt wohlthuend. Der Reisende hat mit richtigem Gefühl die
schönen Eigenschaften unsrer Natur herausgefunden und läßt sie in anmuthigster
Weise vor uns hintreten. Die Fülle des deutschen Gemüths, sein saubres,
lebensfrohes Wesen, seine gediegne Weise zu arbeiten, sein Gefallen am
Schonen und Behaglichen sind mit einem Wohlwollen und einer Liebe ge¬
schildert, welche uns stolz machen kann. Folgen wir ihm bei seinen Be¬
obachtungen. Wir können erquickende Bilder dieser Art brauchen.
Der Versasser kommt aus dem Wege von Seguin nach San Antonio in
eine Hütte, wo er gastfreundliche Aufnahme findet: „Wir fanden einen Mann
mit Frau und Sohn, und noch einen einzelnen Mann; sie alle waren vor
vier Jahren aus Deutschland gekommen, in Lavacca gelandet und gleich ins
Innere nach Neubraunseis gegangen. Der Junggesell hatte im ersten Jahre
bei einem Farmer gearbeitet, der andere in einer Spezereihandlung zu San
Antonio Unterkommen gefunden. Jetzt arbeitete jener, ein Schuhmacher, in
seinem Handwerk. Beide hatten das während jener zwei Jahre Erübrigte zu¬
sammengeschossen und vor einem Jahre die Hütte, hundert Acker Land und
ein paar Stück Vieh einem Amerikaner abgekauft. Der Acker war etwa zwei
Dollars werth, das Vieh konnte aber weiden wo es wollte; die Weide ist
sehr nahrhaft, der Boden sehr gut zum Feldbau. Im vorigen Sommer hatten
sie vollauf Mais für sich und ihr Vieh geerntet und allerlei Gemüse obendrein.
Jetzt besaßen sie zwanzig Stück Rindvieh; aus dem Erlös von Butter, Eiern,
Schuhen und Strümpfen hatten sie zwei jetzt eben trächtige Mutterpferde ge¬
kauft. Als sie einzogen, rissen sie den verfaulten Breterfußboden des Ameri¬
kaners aus und stampften ihn hart, besserten dann das Dach aus, bewarfen
die Wände und nun war das Haus wetterdicht; es erhielt Fensterscheiben
und neue Thüren mit hölzernen Klinker. Es ließ sich schön darin wohnen,
aber sie wollten sich im nächsten Jahr doch eine neue hübsche Wohnung
neben hübschen Bäumen bauen. Sie würden das alles mit eigenen Händen
thun, vorher aber erst all ihr Land recht hübsch einzäunen und möglichst viel
davon urbar machen.
Diese Leute lebten recht einsam und abgeschieden; das nächste Dorf lag
acht Wegstunden entfernt; im Umkreis von anderthalb Stunden wohnten zwei
andere deutsche Ansiedler und ein Amerikaner. Aber es gefiel den Leuten. Ich
fragte den jungen Mann, ob er Deutschland gern verlassen habe? Er meinte, es
sei hier tausendmal besser, obschon weniger behaglich. „Es ist hart für einen
jungen Mann, wenn er so wenig Vergnügungen und Zerstreuungen hat wie
hier zu Lande. Diese amerikanischen Gentlemen in Texas wissen gar nicht,
was Vergnügen ist. Was thun sie, wenn sie zusammenkommen? Sie setzen
sich ans Feuer und speien, trinken auch Branntwein oder spielen Karten
und machen großen Lärm. Vergnügen wie in Deutschland kennen sie gar
nicht." Er bemerkte, daß es ihm trotzdem in Texas besser gefalle, weil er
nun frei sei; in Deutschland könne er nicht sagen, wie er regiert werden
wollte, denn dort regiere man das Volk mit Soldaten; auch ihn habe man
zum Soldaten machen wollen, er sei aber fortgelaufen. In Texas müsse er
angestrengter arbeiten, aber allmälig werde es ihm auch leichter werden. Nach
drei Jahren wolle er aus Deutschland seinen Schatz abholen und heirathen.
Auf meine Einwendung, daß man ihn als Ausreißer festhalten werde, ent-
gegnete er: das könne nicht geschehen, weil er Bürger der Vereinigten Staaten
sei. Gleich nach seiner Ankunft im Lande habe er die erforderliche Erklärung
abgegeben, was ohnehin alle verständigen Deutschen thäten.
Der Sohn des Schuhmachers, ein Knabe von vierzehn Jahre», sprach
recht gut Englisch; er hatte es in einer Schule zu Vraunfels gelernt, welche
er zwei Jahre lang besucht hatte. Jetzt war er nicht dort, weil es zu Hause
alle Hände voll zu thun gab, aber im nächsten Winter sollte er eine ameri¬
kanische Akademie besuchen, wo er gewiß rasch viel lernen würde. Freilich sei
die Sache kostspielig, zwei Dollars monatlich für die unteren, vier Dollars
für die höheren Classen.
Alle waren wohl gekleidet, und die Frau ein wahres Muster von
Sauberkeit. Als sie uns das Abendessen bereitete, erschien sie uns wie
ein Prachtmodell für eine Hausfrau; sie hatte ein hübsches, gesundes
deutsches Gesicht mit freundlichem Ausdruck, und war fo zuthunlich, so sehr
bemüht uns alles bequem zu machen, daß wir von ihr wie von einer Freun-
din schieden. Das Haus war reichlich möblirt, Bettstellen, Koffer, Anrichte.
Simse, Küchengerät!), alles in bester Ordnung. Abends halten wir Weizen-
und Maisbrot, Buttermilch und Eier; dasselbe erhielten wir zum Frühstück
und dazu Pfannkuchen mit selbst raffinirtem Zucker. Dazu prächtige gelbe
Butter.
„Wie können Sie so gute Butter bereiten?" fragte ich erstaunt.
„O, recht gut; die amerikanischen Frauen sind nur zu träg und wirken
ihre Butter nicht tüchtig durch. In San Antonio bekommen wir einen halben
Dollar sür das Pfund, ja wol 50 Cents, aber wir wollen auch gute Butter
essen."
Und so war es. Ich habe früher gesagt, daß ich im Hause eines
amerikanischen Viehzüchters im östlichen Texas war; der Mann besaß gewiß
hundert Stück Kühe, hatte aber weder Milch noch Butter im Hause, denn,
„es machte zu viel Umstände." Einer meiner Freunde ist vierzehn Tage im
Hause eines Amerikaners gewesen, der mindestens fünfhundert Kühe besitzt,
und hat in der ganzen Zeit weder Milch noch Butter gesehen. Die Familie
wußte beide gute Sachen recht wohl zu schätzen, „aber es macht zu viel Um¬
stände." Hier trieb der Deutsche früh Morgens eine Kuh in die Verzüunung
und die Frau melkte." —
Auf der Weiterreise macht Olmsted die Bekanntschaft von Deutschen vor¬
nehmerer Classe. „Als wir durch einen kleinen Bach ritten, begegneten uns
zwei Reiter in rothen Kitteln und Klapphüten, die unsern Reisegefährten
herzlich begrüßten. Sie waren aus Sisterdale, und suchten Vieh, das sich
verlaufen hatte. Diese Ansiedelung besteht aus acht oder zehn Farmer und
liegt etwa vierzig englische Meilen von San Antonio am Guadalupe. da. wo
der Sisterdalebach in ihn mündet und die Straße nach Friedrichsburg hinüber
führt. Sämmtliche Farmer sind Leute von Erziehung; der erste kam durch
Zufall, die übrigen kamen durch freie Wahl in diese Gegend, und alle wohnen
so nahe bei einander, daß sie geselligen Verkehr unterhalten können. Weiter
aufwärts am Guadalupe leben noch etwa zwanzig Ansiedler vereinzelt in
Höhlen oder Hütten, die sich ihren Lebensunterhalt durch Verfertiger von
Schindeln erwerben. Auch sie sind gebildete Männer, entziehen sich aber allem
Umgange und leben in den Wäldern als politische Eremiten. Jene beiden,
welche wir am Bache trafen, gehörten zu diesen Einsiedlern. Der eine, vor¬
mals Student in Berlin, war Schulmeister, der andere, über dessen Domäne
wir eben ritten, ein Baron, der uns mit in sein Schloß nahm. Es war ein
neues, noch nicht ganz vollendetes Blockhaus, und die Familie wohnte deshalb
in einer anstoßenden Hütte. Die Baronesse empfing uns recht herzlich und zeigte
uns einen prallen Säugling, der sieben Tage alt war, und dreimal mehr wog
als die Kinder daheim; so sagte wenigstens die Mutter.
Wir saßen eben beim Frühstück, als ein Dutzend Männer, darunter einige
Amerikaner, heransprengten; sie kamen von .einer benachbarten Niederlassung
und wollten nach dem Date, wo Gericht abgehalten wurde. Wir schlössen
uns an. Das Haus des Richters war eine doppelte Blockhütte und stand
auf einem romantisch gelegenen Felsenvorsprung über dem Guadalupe. Er
trat heraus, um uns zu begrüße», wandelte rasch sein Speisezimmer in einen
Gerichtssaal um, nahm dann seine lange Tabakspfeife zur Hand und führte
uns in sein Zimmer, wo er eben meteorologische Tabellen verfaßt hatte. Die
Gerichtssitzung war nur kurz. Es handelte sich darum, den Schadenersatz für
einen erschossenen Hund auszumitteln und die Parteien auszusöhnen. Der
Richter genoß weit und breit so großes Ansehen, daß ihm das Friedenstifter
durchgängig gelang. Sein Haupt war theilweise kahl, aber sein Antlitz frisch;
es strahlte wie von ewiger Jugend, und man sah ihm den hochgebildeten
Mann aus den ersten Blick an. Er war daheim mit Humboldt und Goethes
Bettina befreundet gewesen und ein eifriger Naturfreund. Romane und wissen¬
schaftliche Bücher lagen haufenweis im Zimmer, und sein Haus in den
Hinterwäldern war ein Tempel der Wissenschaft. An der Wand hingen neben
einer Copie von Murillos Madonna ein Dutzend Flinten und Büchsen; auf
den Betten lagen Hirschfelle, die Kleider hingen an Hirsch- und Rehgeweihen,
an den Bettpfosten waren Schlangenhäute zum Trocknen ausgebreitet, da und
' dort hingen Barometer, an? einem Tische lagen und standen Spiritusflaschen,
Pulverhorn und Proben von sächsischer Electoralwolle. Zum Mittagessen
feste er uns Maisbrot und Bohnen vor; der Kaffee wurde in Zinngcschirr
aufgetragen, aber das Salz der Unterhaltung war attisch und goldener
Pokale würdig.
Otto vou Behr, denn er war der Richter, lebt nicht mehr. Er ging
im folgenden Jahre auf Besuch nach Deutschland, wurde während der Rück¬
reise unwohl und starb, nachdem das Schiff in den Missisippi eingelaufen war.
Sein Verlust ist für die Ansiedlung unersetzlich; die San-Antonio-Zeitung
vom März 1855 hat ihm einen rührenden Nekrolog nachgerufen." —
Ein ganz besonders reizendes Bild endlich ist die Schilderung des Wirths¬
hauses, in welchem der Reisende zu Ncubraunfcls wohnte. „Nie in meinem
Leben, außer etwa wenn ich ans einem Traume erwachte, habe ich einen so
raschen Gedankenübergang gehabt, als in jenem deutschen Gasthause. Ich
sah keine Wände von lose nebeneinandergefügten Bretern oder Baumstämmen,
mit Spalten und Löchern, die man mit Mörtel ausstopft oder mit Mörtel
verstreicht, fand nicht vier kahle Wände, wie ich sie in Texas ein paar Mal
bei aristokratischen Amerikanern gesehen hatte, sondern ich war leibhaftig in
Deutschland. Es fehlte auch gar nichts. Da war nichts zu viel und nichts
zu wenig; ich sah mich^in eines jener köstlichen kleinen Wirthshäuser versetzt,
an welche alle so gern und dankbar sich erinnern, welche jemals eine Fußreise
im Rheinland gemacht haben. Ein langes Zimmer nahm die ganze Vorder¬
seite des Hauses ein; die Wände waren hübsch und sauber mit gefälligem
Muster bemalt, auf allen Seiten hingen Steindruckbilder in Glas und Rahmen,
in der Mitte stand ein großer starker Tisch von dunklem Eichenholz mit ab¬
gerundeten Enden; an den Wänden liefen Bänke hin, die Stühle waren von
Eichenholz und mit Schnitzwerk versehen, das Sopha mit geblümtem Möbcl-
kattun überzogen; in einer Ecke stand ein Ofen, in einer andern eine kleine
Schenkanrichte von Mahagony mit Flaschen und Gläsern. Durch das Zimmer
wallte Tabaksrauch; am großen Tische saßen vier Männer mit starken Voll¬
bärten, rauchten und sagten uns einen freundlichen guten Morgen, als wir
Antraten und den Hut lüfteten.
Gleich tritt die Wirthin ins Zimmer; sie versteht unser Englisch nicht gut,
aber einer von den Rauchern steht auf und macht den Dolmetscher. Wir
sollten gleich ein Mittagsbrod haben. Sie nimmt ein Tischtuch und breitet
es an einem Ende der Tafel aus, und als wir eben die Oberröcke abgelegt
und uns die Hände am Ofen ein wenig gewärmt haben, ist die Frau schon
wieder da und ersucht uns Platz zu nehmen. Sie setzt uns eine ganz vor¬
treffliche Suppe vor, dann folgen zweierlei Gerichte Fleisch — ke in gebratenes
Salzfleisch vom Schwein! — zwei Schüsseln Gemüse, Salat, eingemachte
Früchte, Weizenbrod, Kaffee mit Milch, und dazu prächtige ungesalzene Butter, ,
Butter, wie ich sie niemals im Süden des Potomac gesunden habe, wo mir
die Leute immer sagten, es sei nicht möglich, in einem südlichen Klima gute
Butter zu bereiten. Aber worin liegt das Geheimniß? Im Fleiß, in der
Achtsamkeit und Sauberkeit.
Nach Tisch unterhielten wir uns ein Stündchen mit den Herren im Gast¬
hofe; alle waren unterrichtete, gebildete, wohlerzogene Männer, freundlich,
achtbar, gesprächig; sämmtlich in Deutschland geboren. Sie lebten erst seit
ein paar Jahren in Texas; einige waren auf der Reise und in andern deut¬
schen Niederlassungen ansässig, andere wohnten schon seit längerer Zeit in
Braunfels. Es war uns so äußerst angenehm mit solchen Leuten zusammen¬
zutreffen, und sie gaben uns so interessante und zufriedenstellende Nachrichen
über die Deutschen in Texas, daß wir hier zu bleiben beschlossen. Wir gingen
hinaus, um nach unsern Pferden zu sehen. Ein Mann in Kappe und runder
Jacke rieb sie ab. Es war das erste Mal, daß ihnen dergleichen ohne Wei¬
teres geschah; sonst hatten wir es selbst thun oder einen Neger theuer dasür
bezahlen müssen. In der Krippe lag das beste Mesquiteheu, — das erste,
welches sie in Texas zu'fressen bekamen, und es gefiel den Thieren so, daß
sie uns mit den Augen gleichsam zu bitten schienen, wir möchten sie über
Nacht da lassen. Aber war in dem kleinen Gasthofe^auch ein Schlafzimmer
für uns? Gäste waren schon da; indessen konnten wir nöthigenfalls auf der
platten Erde schlafen und waren dann immer noch besser daran, als seither.
Wir fragten, ob wir Nachtherberge haben könnten? — Ja wol, recht gern.
Ob wir nicht das Zimmer uns einmal ansehen wollten? — Wir dachten es
sei wol im Hahnenbalken, aber das war ein Irrthum. Im Hofe stand ein
Nebengebäude; darin war ein kleines Zimmer mit blaubemalten Wänden und
Möbeln von Eichenholz; wir fanden zwei Betten; jeder sollte ein eignes Bett
haben, also sich des Luxus erfreuen, allein zu schlafen! Das war uns in
Texas noch nicht vorgekommen. Die beiden Fenster hatten Vorhänge und
waren draußen mit einem immergrünen Rosenstrauch überzogen; keine Fenster¬
scheibe fehlte; — zum ersten Mal, seit wir uns in Texas befanden! Auch stand
ein Sopha da, ferner ein Seeretair und auf demselben ein vollständiges Con-
versationslexikon neben Kendalls Santa-F6-Expedition. eine Statuette von
Porzellan, Blumen in Töpfen, eine messingene Studirlampe; ein wohleinge-
richtetcr Waschtisch sammt derben sauberen Handtüchern fehlten auch nicht.
Wie uns das alles cmmuthcte; natürlich nahmen wir in einem solchen Hause
herzlich gern Nachtherberge.
Nachmittags besuchten wir den protestantischen Geistlichen, der uns sehr
freundlich aufnahm. Er sprach zwar das Englische nicht geläufig, gab uns
aber willig Aufschlüsse über die Verhältnisse seiner Landsleute in
Texas. Auch in einigen Werkstätten und Läden sprachen wir vor, und
unterhielten uns mit einem Kaufmann über die Beschaffenheit und Menge
der von Deutschen gebauten Baumwolle. Gegen Abend trafen wir etwa ein
Dutzend sehr intelligenter Männer im Gasthof, und brachten die letzten Stun¬
den jenes Tages im Hause eines unsrer neuen Bekannten zu. Alles, was ich
sah und hörte, bestätigte die erfreulichen Mittheilungen, welche der Fleischer
uns gemacht hatte. Als ich um 10 Uhr Nachts nach dem Gasthofe zurückkehrte,
blieb ich vor einem Hause stehen und lauschte dem Gesang; seit langer lieber
Zeit hatte ich nicht so gut singen hören und die Stimmen waren vortrefflich.
Am andern Morgen sah ich auf freier Straße unweit vom Schulhaus ein
zahmes Reh umherlaufen; es trug ein Bändchen am Halse, damit man es
von den wilden unterscheiden konnte, wenn es sich etwa verlies. Das aller¬
liebste Thier war so wenig scheu, daß es aus mich zukam und mir die Hand
leckte. In welcher andern texanischcn Stadt hätte dergleichen geschehen
können?" —
Der durchgreifende Erfolg eines neu erschienenen belletristischen Werks ist
in unsern Tagen so selten, daß man geneigt ist, wenn er einmal eintritt, ihn
aus allen Kräften zu fördern. Etwas Gutes, nimmt man an, muß doch
darin sein, da eine Wirkung nicht ohne Ursache gedacht werden kann. Von
den Bühnenstücken der letzten Zeit hat einzig Brachvogel's Narciß einen be¬
deutenden Erfolg gehabt; er ist jetzt im Druck erschienen (Leipzig, Costenoble),
und man hat Gelegenheit, an ihm den Geschmack des Theaterpublicums zu
controliren. Leider führt diese Betrachtung zu keinem günstigen Resultat.
An dem Drama ist weiter nichts zu loben, als ein gewisses rohes Geschick in
der Anwendung der theatralischen Effecte, und der Grund des Erfolges liegt
in einer Stimmung unseres Publicums, die uns nicht grade zur Freude
gereicht.
Wir pflegen unsere Nachbarn jenseit des Rheins mit einer gewissen
moralischen Geringschätzung zu betrachten, weil ihr Theater sich mit beson-
derer Vorliebe in der Dczilii-moral; bewegt, jener Region die zwischen den
verworfenen Spelunken des Lasters und der sogenannten guten Gesellschaft
in der Mitte liegt. Tugendhafte Freudenmädchen und tragische Bajazzos sind
freilich kein sehr erhebender Gegenstand, aber auch unser Theater hat seine
oval-monte, die an Häßlichkeit der andern nichts nachgiebt. Es ist. kurz
gesagt, das Tollhaus. Seit Holtei's Lorbeerbaum und Bettelstab hat
sich die Zahl der Verrückten auf unsern Bühnen auf eine Schrecken erre¬
gende Weise gesteigert, und auch da, wo der Gegenstand alle derartigen Aus¬
wüchse M verbannen scheint, werden sie künstlich eingeschmuggelt, wie z. B.
in Mosenthal's Bürger und Molly. Wir haben von unserm Publicum
eine viel zu gute Meinung, als daß wir den Grund des Wohlgefallens in
etwas Aehnlichem suchen würden, wie bei den Gladiatorspielen des römischen
Circus. Er liegt vielmehr bei uns wie den Franzosen in der Virtuosität
unserer Schauspieler in der Ausmalung greller Contraste. Diese Virtuosität
hat das Publicum daran gewöhnt, nur solche Rollen gelten zu lassen, in
denen der Schauspieler in schneller Folge lacht und weint, jubelt und heult, im
höchsten Entzücken schwelgt und sich die Haare ausrauft. Die Franzosen haben es
darin bequemer, sie sind als geborne Acteurs schon im gewöhnlichem Leben ge¬
neigt, sich zu montiren, und unvermittelt eine wilde leidenschaftliche Stimmung
eintreten zu lassen. Wir Deutsche haben auch in der Leidenschaft etwas Ge-
setztes, und so tritt die Poesie des Contrastes erst dann ein. wenn das Indi¬
viduum die Tramontane verloren hat.
Kann man sich nun für diesen Zweck einen dankbareren Stoff denken als
Nameaus Neffe? Dieser Cyniker, aus Goethes Uebersetzung hinlänglich
bekannt, bietet in seinem Charakter eine Mischung der entgegengesetztesten
Eigenschaften. Er hat Geist, anch ein gewisses Gefühl, aber das alles ist
in liederlichen Müsiggang untergegangen und er hat kein weiteres Geschäft
im Leben, als auf alle Welt zu lästern. Der Dialog ist so reizend geschrieben,
daß der Dichter, der ihn für seine Tragödie verwerthen will, auf die Erfin¬
dung keine große Mühe zu verwenden braucht, er kann Wort für Wort ganze
Stellen aufnehmen. Nun fehlt freilich noch der tragische Hautgout, denn
Diderots Dialog macht trotz aller Bitterkeiten einen vorwiegend possenhaften
Eindruck. Aber auch dieser Zusatz ist leicht gefunden! Rameau ist durch eine
unglückliche Liebe verrückt geworden, und in der Tiefe seiner Seele schlummert
trotz seines Lasterlebens der Trieb,,durch irgend eine große That die Mensch¬
heit zu beglücken. Welch herrlicher Kontrast der Accente! vom erhabensten
Pathos bis zum cynischen Grinsen herab die ganze Scala durch. Und um
die Tragik zu vervollständigen, muß seine Vergangenheit mit seiner Bestimmung
zusammenhängen: die Schlange, welche sein Leben vergiftet hat, ist dieselbe,
die auch Frankreichs Herzblut aussaugt, es ist die Pompadour. die all¬
mächtige Maitresse Ludwigs XV.
Nach diesen Voraussetzungen will die weitere Kühnheit der Erfindung
nicht mehr viel sagen. Die Pompadour war früher die Gemahlin d'es Cynikers,
sie hat ihn wirklich geliebt, aber ihn aus Ehrgeiz verlassen und einen Andern
geheirathet. Sie hat also das Verbrechen der Bigamie begangen, welches
damals doch noch mehr sagen wollte, als Maitresse eines Königs zu
sein. Obgleich äußerst gewissenlos in ihrem sonstigen Thun, denkt sie
doch nicht daran, diesen Mann, der sie ins Zuchthaus bringen könnte,
unschädlich zu machen; im Gegentheil verräth sie ihm durch das An¬
erbieten einer erheblichen Geldsumme ihre fortdauernde Anwesenheit in Paris.
Glücklicherweise hat diese Unbesonnenheit keine Folgen; obgleich er sich fort¬
während auf den Straßen umhertreibt, fügt es der Zufall doch so, daß sie
sich niemals begegnen, bis zu Anfang des Stücks, wo sie über seinen zufälligen
Anblick in einen tödtlichen Schreck verfällt.
Daß sie erschrickt, ist sehr natürlich, aber dem Dichter genügt das ein¬
fache Motiv noch nicht. Sie leidet an eurer Hypertrophie des Herzens
und die Aerzte haben ihr die Diagnose gestellt, daß ein neuer Schreck
sie todten müsse. An diese medicinische Voraussetzung wird das Publi¬
kum, so oft die Pompadour auftritt, durch bedenkliche Krankheits¬
symptome erinnert — der Dichter des Clavigo würde mit einigem Schreck er¬
fahren, was er mit seinem Beispiel angerichtet! Die zahlreichen Feinde der
Pompadour beschließen, auf das ärztliche Gutachten gestützt, sich ihrer durch
einen recht handgreiflichen Schreck zu entledigen, am liebsten . durch die
Wiederauffindung des Mannes, der sie zuerst erschreckt hat. von dem sie aber
noch nicht wissen, in welchem Verhältniß er zu ihr steht. Um die Sache
recht raffinirt zu machen, folgen sie dem Beispiel Hamlets und stellen ihr in
einer Komödie ihre eigene Vergangenheit dar^ Der Schauspieler ist Nameau
selbst. Die Scene ist nun wirklich höchst drastisch, sie stirbt in Flüchen, er
stirbt in Wahnsinn, der Moment der großen Ueberraschung ist gehörig vor¬
bereitet, kurz man kann sich keinen stärkern Effect denken.
Nun würde man sich diese melodramatischen Wirkungen gefallen lassen,
die ja auf der Bühne nichts Neues sind, wenn nicht in sittlicher Beziehung
ein höchst ungesunder Zug hervorträte. Es handelt sich um nichts Anderes,
als um eine Wiederholung des Experiments, welches Franz Moor mit seinem
Vater anstellt. Zu seig, ihn gradezu umzubringen, mordet er ihn durch den -
Schreck. Und hier ist es noch um so schlimmer, da die Anstifter dieser That
auf einer medicinischen Disposition süßen. Wenn die saubere Gesellschaft, die
Brachvogel unter den Pseudonymen Diderot. Grimm. Choiseul n, s. w.
vorführt, und von denen immer einer gemeiner ist als der andere, zu solchen
Mitteln greift, so ist dagegen nichts einzuwenden, aber die tugendhaften Per¬
sonen, die gewissermaßen des Dichters Gewissen versinnlichen, empfinden diese
Schandthat als eine edle Handlung. Die Schauspielerin Quinault, die
aus Liebe zu ihrer Königin die ganze Intrigue geleitet, sagt zum Schluß des
Stücks „voll rührender^ Hoheit"! „Und aus der Sündflut steigt in neuer
Schöne die geläuterte Menschheit und betet wieder zu ihrem versöhnten Vater
im Himmel, dann wirds keinen Narciß mehr geben!" - Die Sündflut scheint
noch nicht vorüber; denn Narciß ist über alle Bühnen Deutschlands ge¬
gangen. —
Die Hypertrophie des Herzens scheint eine Modekrankheit unserer Dichter
zu werden. Wir begegnen ihr in sämmtlichen Romanen Max Waldau's,
aries in den soeben erschienenen dramatischen Werken von Gisela von
Arnim (2. Bd. Bonn, Weber) treffen wir sie wieder an. Das Stück, welches
wir meinen, das Herz der Luis, ist für die Signora Ristori geschrie¬
ben, und müßte, von dieser gespielt, einen sehr großen Effect machen. Lais
ist Neros Tänzerin, sie hat aber ihren Beruf vorläufig aufgeben müssen, weil
bei der Hypertrophie des Herzens ihr jede geistige und physische Anstrengung
den Tod bringen müßte. Ein Sklave, von dem halb verrückten Tyrannen
zum Tode verurtheilt, weil er eine Vase zerbrochen, bittet sie um ihre Ver¬
wendung, und obgleich im Ganzen sehr gleichgiltig und blasirt, ist sie doch
gutmüthig genug, es ihm zu versprechen. Sie weiß auf Nero nicht anders
einzuwirken, als durch ein kunstreich,ausgeführtes Ballet; am Schluß desselben
springt ihr das Herz, und der erschrockene Nero läßt den Sklaven laufen.
Das Stück, von glänzenden Schauspielern aufgeführt, würde ebenso durch¬
greifen, wie Narciß, und es hat dabei den Vorzug einer gewissen Natur-
wcchrheit: Nero und die Sklaven reden wirklich so, wie man in jener Zeit
Hütte reden können. Freilich möchten wir der Bühne zu einer solchen Acqui-
sition doch nicht Glück wünschen. Was die beiden übrigen Stücke betrifft:
Ingeborg von Dänemark und Trost in Thränen (Michel Angelo),
zeigt Fräulein v. Arnim eine merkwürdige Verwandtschaft mit ihrem Vater;
während man Reminiscenzen an den Stil ihrer Mutter Bettine nur sehr selten
begegnet, könnte man ganze Scenen ihrem Vater zuschreiben. Der Mangel
an Form, Folge und Zusammenhang ist ebenso groß als in Arnims Dich¬
tungen; von der markigen Kraft, die dieser in Einzelheiten entwickelt, ist
freilich nur selten die Rede.
Von den übrigen neuen Erscheinungen heben wir eine neue Uebersetzung
von Tegn6rs Konfirmanden, von Christiani hervor (Lüneburg, He¬
rold); ferner das Album lyrischer Originalien aus Deutschland, Oest¬
reich, dem Elsaß und der Schweiz, zum Besten der Hinterlassenen der im
Hauenstein Verunglückten, herausgegeben von Friedrich Oser (Basel,
Schweighäuser). namhafte Dichter haben zu diesem Album beigesteuert und
vieles darin liest sich recht gut. — Ein weit größeres Interesse erregt aber die
Auswahl altchristlicher Lieder vom 2,—15, Jahrhundert, im Urtext und
in deutscher Uebersetzung mit lebensgeschichtlicher Skizzen und erläuternden An¬
merkungen vom Prediger Buß!er in Magdeburg. Die Sammlung dieser
schönen, historisch wie ästhetisch gleich wichtigen Kirchenlieder ist sehr voll¬
ständig; die Übersetzung macht keinen eigentlichen Anspruch auf poetischen
Werth, sie reicht aber aus, um demjenigen, der der Sprache weniger kundig
ist, das Verständniß zu erleichtern, und so sind auch die historischen Notizen
aus das Bedürfniß des allgemeinen Lesepublicums berechnet. Wir wünschen
dem vortrefflichen Unternehmen eine recht große Verbreitung.
Noch möge hier eine neue Anthologie erwähnt werden, die sich nament¬
lich für den Schulgebrauch empfiehlt: Auswahl aus der deutschen Dich¬
tung von der ältesten Zeit bis auf die Gegenwart in chronologischer Ordnung
mit kurzen Biographien der Autoren und Anführung ihrer vornehmsten Werke,
zum ersten Unterricht in der Geschichte der schönen Literatur der Deutschen;
und: Auswahl aus der deutschen Prosa der neuern und neuesten Zeit/
eine reichhaltige Sammlung von Aufsätzen aus den Werken der hcrvorra gerd
sten'Prosaiker der letzten hundert Jahre, von Carl Oltrogge (Lüneburg,
Die Adresse, durch welche der Präsident der Vereinigten Staaten die jährliche
Sitzung des Kongresses eim ersten Montag im December eröffnet, hat diesmal eine
ungebührliche Ausdehnung erhalten, die Botschaft Buchcinans nimmt nicht weniger
als 8-/2 engbedruckte Foliospalten der Washington Union ein. Indessen haben
wir sie, von ihrem Inhalte ganz abgesehen, gern gelesen, weil sie zum ersten Male
seit mehren Jahren wieder eine anständige Form trägt, es wird darin nicht ge¬
schimpft und geprahlt, sondern ruhig gesprochen, freilich hindert das nicht, daß sehr
bedenkliche Untiefen sich unter der ruhigen Oberfläche verbergen. Nach einem kur¬
zen, etwas geschäftsmäßigen Danke gegen den Schutz der Vorsehung, geht der
Präsident dazu über, die Fragen vorzulegen und zu beleuchten, welche der Erwägung
des Congresses unterbreitet werden sollen, er berichtet und rechtfertigt seine Auf¬
fassung und Behandlung derselben und empfiehlt Maßregeln, welche er nach Be-
rathung mit seinem Cabinet für zweckmäßig hält.
Die erste Angelegenheit, die er bespricht, ist die Finanzkrisis, welche trotz reicher
Ernten unsägliches Elend über die Bevölkerung des ganzen Bundesstaates gebracht,
und auch die Einkünfte der Ccntralregicrung durch das Sinken der Einfuhr sehr
vermindert habe. Die Quelle des Uebels sei das Uebermaß der Papiercirculativn,
und des Bankcredits, welche die Leute zu wilden Speculationen und zum Börsen-
spiel verleiteten. Diese Uebertreibung aber sei natürlich, wenn die Ausgabe von
Papiergeld, Darlehnc und Discvntirung 1.40V unverantwortlichen Bankanstalten
überlassen sei, welche stets nnr das augenblickliche Interesse ihrer Actionäre in Be¬
tracht ziehen würden. Wenn die Begründer der Bundesverfassung dem Congreß die
Macht gaben, „Geld zu münzen und dessen Werth zu regeln", und dies den einzelnen
Staaten verboten, auch untersagten, etwas Anderes als Metall an den öffentlichen
Kassen anzunehmen, so glaubten sie das Volk vor einer Ueberschwemmung mit Pa¬
pier bewahrt zu haben, und es sei nicht ihre Schuld, daß die Centralgewalt keine
Macht haben solle Mißbräuche zu verhüten. Leider habe sich das Urtheil des Con-
gresses mehrmals dagegen erklärt. Gegen eine Nationalbank sprächen unübersteig-
liche verfassungsmäßige Hindernisse, auch sei sie nicht mächtig genug, die 1400 andern
Banken zu controliren, wofür das Beispiel Englands in den zwanziger Jahren
angeführt wird. Das einzige directe Mittel, welches dem Kongresse bleibe und das
er ihm ernstlich empfehle, sei, el» allgemeines Bankcrvttgcsch zu erlassen, das auch
auf alle Banken anzuwenden sei, darnach würde jede Unterbrechung der Baar-
zahlung für dieselben bürgerlicher Tod sein und der Jnstinct der Selbsterhaltung
werde sie nöthigen ihre Verbindlichkeiten zu erfüllen. Der Vorschlag ist gewiß an¬
nehmbar, aber wie wenn die Actionäre einer zahlungsunfähigen und also todten
Bank morgen wieder zu einem neuen Geschäft zusammentreten? — Diese Umgehung
schwebt Bucharen vielleicht schon als möglich vor, wenn er nach einer langen
Schilderung des Unglückes, welches das jetzige System verursacht und nachdem er ge¬
rathen, wenigstens ein Drittel des Papiergeldes in Baarfonds zu repräsentiren, so
schließt: „Die Banken und Papiergeld sind so mit den Gewohnheiten unseres Volkes
verwachsen, daß sie nicht plötzlich abgeschafft werden können, aber, das sage ich nach
langer und reiflicher Ueberlegung, wenn die Erfahrung zeigen sollte, daß -es unmög
lich ist, der Erleichterungen theilhaftig zu werden, welche gut geleitete Banken für den
. Verkehr bieten, ohne zugleich das Unglück zu leiden, welches die Ausschreitungen der
Banken über das Land gebracht habe», so würde es ein weit geringeres Uebel sein,
ihnen ganz die Macht Papiergeld auszugeben zu nehmen und sie auf die Functionen
der Deposito- und Discontogeschäftc zu beschränken." — Mit dieser ernsten Warnung
scheint uns nun eine eigene Maßregel des Präsidenten wenig im Einklange zu stehen/
Um den Ausfall der Einkünfte zu decken, hatte er ein Aulchcn vorgeschlagen; die
letzte Post bringt uns nun die Nachricht, daß die Regierung für 20 Mill. Pf. Se.
Schatzscheinc ausgeben wird. Nun kann man allerdings sagen, daß dieselben, da sie
wie die englischen Exchcqner-Bills Zinsen bringen, kein Papiergeld sind, aber jeder¬
mann weiß, daß sie ganz so circuliren und die Zinsen so gering sind, daß sie wenig
in Betracht kommen. — Wie merkwürdig aber die Principien in Amerika durch-
einandcrlaufen, zeigt folgende Notiz, welche wir in einer deutschen Korrespondenz
aus Neuyork finden. Die demokratische Partei hat stets das Hartgcldsystcm ver¬
fochten und in zwei Staaten, wo sie absolute Herrschaft übt, Pensylvanien und
Missouri, haben die gesetzgebenden Versammlungen ausdrücklich die Zwangspapier¬
währung gut geheißen.
Die zweite Frage, sonst gewöhnlich die erste, welche der Präsident erörtert,
qctrifft die Beziehungen zum Ausland. Er kommt zuerst auf die langwierigen
Differenzen mit England über den Bulwer-Clayton-Vertrag, seine Bemerkungen
über dies schwierige Capitel sind weniger unfreundlich als man wol erwartet und
in England scheint man damit verhältnißmäßig zufrieden-, richtig ist es gewiß, wenn
gesagt wird, daß, wo zwei Staaten den wichtigsten Artikel eines abgeschlossenen Ver¬
trages in ganz entgegengesetztem Sinne auffassen, es das Beste ist den Vertrag füllen
zu lassen und einen neuen zu unterhandeln. Die Geschichte der Differenzen, welche
recapitulirt wird, wollen wir unsern Lesern ersparen, Buchanan sagt schließlich, daß
neue Eröffnungen in einem versöhnlichen Geiste von England gemacht seien, schweigt
aber darüber worin sie bestehen. Wir verdanken es einem günstigen Zufalle davon
unterrichtet zu sein, England hat die Alternative gestellt, entweder die Differenzen
der schiedsrichterlichen Entscheidung einer dritten Macht, selbst wenn das Nußland
wäre, zu unterwerfen, oder einen neue» Vertrag abzuschließen, durch den die
amerikanische Interpretation des Claytvn-Bulwer - Vertrages mit geringen Mo¬
difikationen angenommen würde. Letzteres ist selbstverständlich nicht direct aus¬
gesprochen, aber angedeutet, — Die Bemerkungen des Präsidenten über die Be¬
ziehungen zu Spanien und seine Beschwerden gegen dieselbe Macht gewinnen
noch an Bedeutung durch die Stellung, die ihnen unmittelbar nach den freund¬
lichen Bemerkungen über Frankreich und Nußland gegeben ist und werden wol
nicht mit Unrecht als Hinweisung auf die künftige Politik in der Cubasrage ge¬
deutet. Daß die vorige Regierung die Beilegung alter Differenzen mit Spanien
überall nicht wollte und letzteres gegen die ganze Welt und so anch gegen die
Vereinigten Staaten durch Saumseligkeit und wunderbares Benehmen fortwährend
grobe Verstöße begeht, ist nur zu gewiß. Die Sympathien für das madrider Ca-
binet sind daher, wenn man auch ganz von seiner sonstigen Wirthschaft absieht,
bei den übrigen Staaten gering/ — Noch wichtiger als der Passus über Spanien
sind einige sehr unschuldig klingende Zeilen, wodurch der Kongreß ersucht wird, dem
Präsidenten die Autorisation zu ertheilen, die Land- und Seemacht der Vereinigten
Staaten zur Sicherung der Transitroutcn durch Centralameril'a zu verwenden,
Früh'er hatten die amerikauischcir Staatsmänner die Ueberzeugung gehegt, daß
ein solches bewaffnetes Auftreten gleich zu einem bewaffneten Conflict mit Eng¬
land und Frankreich führe» werde, Rum ist am 1l>, November 1857 ein
Vertrag mit Nicaragua abgeschlossen, welcher der amerikanischen Regierung
das unerhörte Recht gibt, unaufgefordert Truppen zum Schutz der Tran¬
sitroutcn nach Nicaragua zu senden und dort zu lassen, so oft und so lange sie
es für nöthig befindet. Wenn nicht den Worten, so widerspricht dieser Vertrag
doch gewiß der Absicht der Claytvn-Bulwer-Convention, und sollten die Differenzen
mit England nicht bald beigelegt werden und die Nachrichten aus Indien ferner
gut lauten, so könne» wir vielleicht das interessante Schauspiel erleben, daß Lord
Palmerston, einerlei, ob er inzwischen einen ähnlichen Vertrag mit Nicaragua hat
abschließen lassen oder nicht, gleichfalls Truppen dort landen läßt, wenn die amerika¬
nische Regierung das thut. Wir würden eine solche Even.tnalität beklagen und
hoffen, daß sie nicht eintritt, aber die ccntralamcrikanische Frage ist durch die ver¬
schleppte« Unterhandlungen, durch deu Vertrag vom 16, November, die Kriegserklärung
Nikaraguas gegen Costa-Rica und die walkcrschc Expedition so verwickelt geworden,
daß man allerlei wunderbare Dinge dabei erleben kann. Vielleicht als Gegengewicht
der Truppenscndnng hält Buchanan ein strenges Gericht über die Flibustier, und
adoptirt die freilich sonnenklare Argumentation, daß man nicht leiden dürfe, wenn
Unternehmungen gegen die Regierungen anderer Staaten gemacht würden, während
man solche, falls sie gegen die Vereinigten Staaten gerichtet wären, als Act der
Feindseligkeit betrachten würde, wofür Genugthuung zu fordern sei. Ob diese Er¬
klärung übrigens aufrichtig ist, kann noch bezweifelt werden, es nimmt schon Wunder,
wenn der Präsident erzählt, die Marschälle und Staatsanwälte seien aufgefordert
jede ungesetzliche Expedition zu verhindern, nichts desto weniger sei sie von der Küste
entkommen, die Behörden sollten eine solche Unternehmung, welche ganz offen be¬
trieben ward, nicht haben hindern können? Noch befremdlicher aber ist die Nach¬
richt, welche uns die letzte Post gebracht, daß William Walker mit 180 Flibustiern
am 25. November in Grcytowne gelandet, ohne daß die dort liegende amerikanische
Schaluppe „Sarataga" einen Versuch gemacht, es zu verhindern. Der Capitän
dieses Schiffs erklärte, daß seine Jnstructionen zu allgemein gehalten seien, um ihn«
zu ernstlichem Einschreiten gegen Walker zu veranlassen. Welchen Werth kann man
auf die Zusicherungen des Präsidenten legen? ist er ein Heuchler oder spotten seine
Untergebenen der Befehle? ") —
Für die Vereinigten Staaten selbst ist in der ganzen Botschaft die Erörterung
der Kcmsnssragc die bedenklichste, Bucharen stellt sich durch seine geschickt politisch
gefärbte Darlegung auf die Seite der entschiedensten Prosklavereiparlei, und hat bei
seinen eignen bisherigen Genossen in Robert Walker und Senator Douglas lebhafte
Opposition gefunden. Man kennt die empörenden Vorgänge, durch welche Kansas,
nachdem der Congreß bestimmt hatte, es solle selbst entscheiden, ob es Sklaverei
wolle oder nicht, eine Convention aufgedrungen ward, gegen deren Beschlüsse die
ganze Bevölkerung sich erhob. Es kam endlich zu dem Compromiß, daß derselben
das Recht übertragen werden solle, selbst zu entscheiden, aber über den Gegenstand
der Entscheidung war neuer Zwiespalt, es fragte sich nämlich, ob dem Volke von
Kansas das Recht gewahrt bleiben solle, für oder gegen die ganze Verfassung, unter
der es in den Bund als Staat eintreten solle und nicht blos für oder gegen- die
Gestaltung der ferneren Sklavcncinfuhr zu stimmen. Buchcuian erklärt sich für das
Letztere und hat den neuesten Nachrichten zufolge den Antisklaverei-Territvrialsecretür,
Stentor, abgesetzt, aber schon vorher hatte die von Stentor berufne neue Legis¬
latur festgesetzt, daß am 2 l . December eine Volksabstimmung über die ganze Verfas¬
sung stattfinden solle. — Den Mormonen erklärt der Präsident offen den Krieg,
es zeigt sich, daß jede Toleranz ihre Grenze hat und daß die absoluteste Demokratie
keinen Raum für ein thcoträtischcs Gemeinwesen hat, man wird der Absicht Bucha-
nans, eine solche Streitmacht gegen sie zu senden, daß sie selbst den Widerstand als
unmöglich aufgeben, nur beipflichten können, aber die Ausführung entspricht der
Absicht nicht, die Expedition befand sich den letzten Nachrichten zufolge im trau¬
rigsten Zustande und die Mormonen führen einen erbitterten Krieg. — Angelegentlich
wird dem Kongreß die Förderung der Eisenbahn nach dem stillen Meer empfohlen,
die Interessen Kaliforniens und der westlichen Staaten würden dadurch ebenso sehr
befördert werden, als die des Ostens, ohne eine, solche Straße könne man Kalifor¬
nien nicht gegen fremde Angriffe schützen, denn die ccntralamerikanischcn Staaten
blieben immer unsicher. ^
, Die Botschaft schließt mit t.mein kurzen Bericht über jedes der verschiedenen
Ministerien. Die Ausgaben des letzten Jahres beliefen sich auf circa 71 Mill. Pfd. Se.,
die Einnahmen auf 69 Mill,, dazu ein Ueberschuß vom vorigen Jahre von 20 Mill.;
so ist immer noch kein Deficit da und die 20 Mill. Schatzschcinc werden hauptsäch¬
lich deshalb geschaffen sein, damit die großen Unternehmungen der Regierung nicht
unterbrochen zu werden brauchen. Die Schuld ward durch Rückkauf um 3,395.232 Pfd.
Se. vermindert und bleibt demzufolge noch 25,105,185 Pfd. Se. Die ganze finan¬
zielle Lage ist also auch trotz des Ausfalls günstig zu nennen.
Daniel Chodowieckis sämmtliche Kupferstiche beschrieben, mit histori¬
schen, literarischen und bibliographischen Nachweisungen, der Lebensbeschreibung des
Künstlers und Registern versehen von Wilhelm Engelmann. Leipzig, Engcl-
nicmn 1857. 8. Das Werk enthält auf 02 und 543 Seiten eine Einleitung des
Verfassers, die Biographie Chodowieckis von-Prof. A. Weise mit schätzenswerthen
Zusätzen des Herausgebers, worunter ein Verzeichnis; der Bildnisse des Künstlers
selbst. Darauf das Verzeichnis; seiner Werke, die Nummern ^V., IZ. und l —950,
darauf Nachträge, ein sehr sorgfältiges Register und 3 Kupfertafeln, welche saubere
Nachzeichnungen der seltensten Blätter des Meisters enthalten und daneben die un¬
echten Nachahmungen derselben. — Das Werk gehört zu den Arbeiten voll Detail
und Liebe, denen die Kritik besondere Anerkennung schuldig ist. Es ist das Resultat
langjährigen, eifrigen Sammelns, freudiger Beschäftigung mit den Arbeiten des Künst¬
lers, und einer nur dadurch zu gewinnenden Kenntniß der massenhaften Einzelheiten,
Die Arbeit selbst ist Muster eines wissenschaftlichen Verzeichnisses, sowol die Kunst-
bildung des Verfassers als seine Genauigkeit sind respektabel. Es wird den Deutschen
nicht selten Gelegenheit die Früchte zu genießen, welche stille Sammler mit Hingebung
und Opfern verständig und systematisch zusammengetragen haben. So war, um
nur naheliegendes'zu erwähnen, die Andrüschc Sammlung eine Hauptquelle für Mo¬
zarts Leben von Jahr, die Böckingsche Sannnlnng von Huttens Schriften für das
Werk von Strauß. So hat auch hier ganz Deutschland Gelegenheit, von der gro¬
ßen Sammlung des Herausgebers den besten Nutzen zu ziehen. Der Künstler aber,
deßen Thätigkeit hier so vollständig, als einem Menschenwerk möglich ist, verzeichnet wird,
hat besondere Ansprüche auf die Pietät >der Deutschen. Denn sein reiches; behendes und
zierliches Talent hat durch mehr als 3» Jahre von Friedrich dem Großen bis zum
Anfange dieses Jahrhunderts das deutsche Leben fast nach allen Richtungen durch
die Nadirnadcl illusirirt; nicht nur die Werke unserer Dichter, von der Karschin und
Gellert bis zu Goethe und Schiller, zu Nicolai und Kotzebue, auch die Kleider und
Kopfputze, Kalendcrbilder, historische PortrKts, wissenschaftliche Werke und Encyklo¬
pädien. Der unerreichte Meister des kleinen Formats war einst dem Publicum ver¬
traut, wie ein Hausfreund. Seine Genien, Kinder, kleinen Hunde und Katzen zeigten
'hre zierlichen Stellungen in jedem Bürgerhause und sind noch für uns so fest mit
vielen literarischen Erscheinungen der Vergangenheit verbunden, daß wir in den
neuen Ausgaben solcher Werke die alten Bilder oft unbehaglich vermissen. So steht
zu hofft», daß die vorliegende gute Arbeit nicht blos für die Wissenschaft unserer
bildenden Kunst von Nutze» sein, sondern auch für manchen Freund chvdvwicckischcr
Kupferstiche eine nicht versagende Quelle der Belehrung werden wird.
Daß der Zeichncnuntcrricht in neuerer Zeit eine größere Be¬
deutung in dem Bildungsgange der Jugend genommen hat, hat einestheils seinen
Grund in der größeren Ausdehnung der technischen und künstlerischen Berufssücher,
anderntheils aber i» der Ueberzeugung, daß nur durch praktische Uebung im bild¬
lichen Darstellen das wahre Verständniß und der wahre Genuß des Schönen er¬
reicht werden kann. Noch immer ist die Zahl derer gering, welche die Schönheiten'
eines Kunstwerkes, sei es Gebäude oder Bildwerk recht empfinden und recht würdigen
können, bei weitem die Mehrzahl wird noch immer, wenn sie aufrichtig sein will,
eingestehn, daß sie vor einem wahren Kunstwerke kalt vornbereilen, vor manchem
Schlechten stehen bleiben möchte, wenn sie auch aus Achtung vor dem Urtheile einzelner
Eingeweihter das Entgegengesetzte behauptet, wnd mit Sicherheit ist anzunehmen, daß
diese Mehrzahl der Irrenden entweder gar keine oder irregeleitete Studien in den
bildenden Künsten gemacht habe, wähnnd die besser Empfindenden und Urtheilenden
durch wohlgeleitete Beschäftigung mit denselben, ohne vielleicht die Hand bis zu
.einer erhebliche» technischen Fertigkeit ausgebildet zu haben, doch das Auge zur.Er¬
kenntniß der schönen Form und ihrer Bedeutung, des Gleichgewichts ihrer einzelnen
Theile untereinander und ihre Beziehung zum Ganzen, der Harmonie und der künst¬
lerischen Einheit und Wahrheit gewöhnten. Und mau wird auch nicht irren, wenn
man annimmt, daß diese letzteren nicht allein in den» Betrachten der Kunstwerke
höheren Genuß haben als jene, sonder» auch im Betrachten der Natur reichere
Freuden und dauernde Befriedigung finden und das Schöne und Edle in jeder Art
der Erscheinung zu erkennen n»d reiner zu würdige» wissen. — Daß bei einer
solchen Ueberzeugung das Bedürfniß nach verständigem Zeichncnuntcrricht und nach
den passenden Mitteln dazu ein dringendes ist, ist natürlich. Aber man braucht
nur an Schulen'aller Art, ja selbst an manchen Akademien die Unterrichtsmethoden
und die dabei verwandten Mittel kennen zu lernen, um einzusehen, daß dem Be¬
dürfnisse bisher noch fast gar nicht abgeholfen ist. Ohne das Unsinnige des Nach-
zeichncns von Landschüstchcn ». s. w. weiter einer Kritik zu. würdigen, ist z. B. zu
beklage», wie vielfältig i» dem Einzigen, was mit Erfolg zum Studium verwandt
werden kann- dem Or»amene und der menschlichen Figur, auf unverantwortliche
Weise gefehlt wird, wie geschmacklose nichtssagende Formen zum Nachahmen gegeben
und die Schwierigkeit eines reinen instructiven Contours umgangen wird durch
bestechende, alle Fehler übcrtüucheude Ausführung.—Um so erfreulicher ist es, unter
der Masse von Unbrauchbarem auf eine neue Erscheinung zu stoßen, die durch Ge¬
diegenheit in Auswahl und Ausführung eine rühmliche Ausnahme von der leider
zur Regel gewordenen Oberflächlichkeit möcht - wir meinen die ,,Zeichncnschulc für
Kopf- und Figurenzeichnen", herausgegeben von Georg Koch, Lehrer an der
Akademie d. b. K. zu Kassel, Heft 1—4 im Verlage von I. 2- Scheel.^ — Das
Werk beginnt mi! einzelnen Gesichtstheile» in einem Eontour, indem die für den
Ungeübten schwierig zu erkennenden Krümmungen und leisen Bewegungen zerlegt
sind in gerade Linien, die gleichsam das Gerüst zu der vollendeten Figur bilden.
Auf diese Weise ist nicht allein der noch ganz ungeübten Hand des Schülers eine
leicht nachzubildende Figur gegeben, sondern auch dem Ange die Art und Weise
gezeigt, wie es in der complicirten Form die einfachere, in dem Vielfältigen das
Wesentliche erkennen lernt. Durch die angegebene Eintheilung der Verhältnisse
wird außerdem, der Sinn für Maß und Gleichgewicht, durch die instructive Ueber-
tragung aus der Vorder- in die Seitenansicht der Begriff für körperliche Aus¬
dehnung erweckt und gebildet. Durch allmülige Verbindung der einzelnen Theile
untereinander wird bani fortgeschritten zu ganzen Köpfen in Umrissen und zuerst als
am leichtesten verständliche Form gegeben, aus der alle schwierigeren sich wie aus
einem Urtvpus menschlicher Gestalt entwickeln lassen, in Zeichnungen nach antiken
Sculpchrcn, dann nach und nach die schwierigeren Formen in Köpfen nach Gemäl¬
den und Zeichnungen der besten älteren und neueren Meister, zugleich aber unmerk-
lich vom bloßen Contour zum ausgeführten, in Strichen schattirter Bilde über¬
gegangen. Durch Zusammenstellung von antiken Formen mit denen der wirklichen
Natur wird hierbei aus das Wesen des Stils, ohne den keine wahre Kunst denkbar
ist, aufmerksam gemacht, und durch die strenge Auswahl der gegebenen Vorbilder
der Geschmack um dem wahrhaft Schönen und Ausdrucksvollen begründet und ge¬
läutert. — Wir wünschen, daß die Sammlung eine lebhafte thätliche Anerkennung
des Publicums finden und diese es dem Herausgeber und dein Verleger möglich machen
möge, das, was in dem Erschienenen noch nicht erledigt werden konnte, zu vervoll¬
ständigen und fortzuführen, hauptsächlich auch das Versprechen, was in der Vorrede
gegeben wird, späterhin ganze Figuren, mit besonderer Berücksichtigung der Gewan¬
dung zu bringen, in derselben gewissenhaften Weise zu erfüllen, die in dem bisher
Gelieferten gezeigt worden ist. — . M.
— Aus und über Italien. Briefe an eine Freundin von
N. Schlüter. Zweiter Band. Hannover, Nümplcr. — Wie der erste Theil ein recht
guter Führer durch Venedig war, so versetzt uns dieser zweite mit lobenswerther
Genauigkeit und Ausführlichkeit nach den übrigen bedeutenderen Städten Ober¬
italiens, nach Padua und Vicenza, nach Verona, Brescia und Mailand, dann über
Genua nach Florenz, dessen Betrachtung die größere Hälfte dieses Bandes gewid¬
met ist, zuletzt nach Turin und zu den Gegenden am Lag» maggiore. Auch hier
beschäftigen den Verfasser vorzüglich die Kunstgegenstände, über die er als Sach¬
kenner urtheilt und die er so anschaulich, als sichs in Worten thun läßt, zu schil¬
dern versteht. Land und Leute werden in diesem Theile nnr beiläufig erwähnt, wo
es aber geschieht, bekommen wir deutliche und wahrheitsgetreue Bilder und ver¬
stündige Urtheile. —
Hausschatz der Länder- und Völkerkunde. Von Or. Alexander Schöpp-
ner. Mit 24 Ansichten M Tondrnck. Leipzig, Verlagsbuchhandlung von I. I. Weber.
Der Titel Hnusschatz klingt etwas verdächtig. Wir sind gewohnt, uns darunter-
mehr oder minder planvolles oder planloses Sammelsurium von Abgedrucktem
zu denken. Dies ist bei dem vorliegenden Buche nicht der Fall. Der Verfasser
hat gegen dreihundert der vorzüglichsten Reisewerke vor sich gehabt und diese mit
Geschick aufgewogen, so daß sein Werk die Quintessenz des Besten gibt, was auf
diesem Gebiete in den letzten Jahrzehnten geleistet worden ist. Die in der Ein¬
leitung dargelegten Grundsätze, nach denen er seine Auswahl traf, sind durchweg
richtig. Er will ein Lesebuch tiefern, welches dem Leser ein anschauliches und blei¬
bendes Bild der einzelnen Theile der Erde gibt. Nicht blos Länder, sondern auch
Völker sollen beschrieben werden und zwar in lebensvollen, charakteristische» Ginzel-
schilderuugen. Das Ganze soll den ausfüllenden Stoff, gleichsam das Fleisch und
Blut zu dem statistischen Gerippe liefern, welches die gewöhnlichen geographischen
Lehrbücher geben. „Das Lehrbuch," sagt der Verfasser, „bleibe Anhalt und Leit¬
faden für den Schulunterricht; das Lesebuch dagegen diene zur Veranschaulichung
und Verarbeitung des aus dem Lehrbuche genommenen Materials, hauptsächlich
Mittelst hüuslichcr Lectüre." Mit Recht hat sich der Verfasser vorzugsweise an
deutsche Reisewerke gehalten, mit ebenso großem Rechte hat er solche Reisende, in
deren Schilderungen Dichtung sich mit Wahrheit mischt, wie Dickens, Gerstäcker
'u. a. unbenutzt gelassen. Ein Blick auf das Inhaltsverzeichnis; zeigt, wie gut er
es verstanden hat, aus einer Reihe von einzelnen Bildern Gesammtgemälde von,
Ländern und Nationen entstehen zu , lassen. Ueber die Auswahl der beigegebenen
Illustrationen läßt sich rechten, ihre Ausführung aber ist vortrefflich.
Erfahrungen, Reisen'und Studien von Julius Fröbel. 2 Bünde,
Leipzig, Verlagsbuchhandlung von I. I. Weber. — Was wir zum Lobe des ersten
Theiles gesagt haben, gilt in noch höheren Grade auch vou diesem. Verlor sich
der Verfasser dort an einigen Stellen in ein etwas wcitschwcifigcs Philosophiren über
Dinge, die sich einfacher darstellen ließen, so fällt dies hier ganz weg, und wir
erfahren einfach, was er bei seinen Reisen sah und erlebte. Die Gegenden, die wir
i/ier geschildert finden, sind von ganz besonderem Interesse, indem sie einerseits in
Europa noch verhältnißmäßig wenig bekannt, andrerseits für die 'Gegenwart und
die nächste Zukunft der Vereinigten Staaten vorzüglich bedeutsam sind. Mit großer
Anschaulichkeit werden uns die Eigenthümlichkeiten der großen Prairicwildniß am
obern Arkansas, am Gila und Colorado, die Komantsche», Apachen und Annas,
die Neumexikancr und Kalifornien geschildert. Daß der Verfasser geologische und
botanische Kenntnisse besitzt, gibt seinem Buche auch wissenschaftlichen Werth,
während es ihn auf der andern Seite in den Stand setzt, die gesehenen Gegenden
mehr im Detail zu beschreiben. An Abenteuern mit Räubern von rother und
weißer Haut mangelt es nicht, ebensowenig an humoristischen Bildern, so daß das
Werk auch als Unterhaltungslectüre zu empfehlen ist.
Abonnementsmizeige zum neuen Jahr.
Mit dem Anfange des neuen Jahres beginnen die Grenzboten
den I^VAL. Ialnqanq. Die unterzeichnete Verlagshandlung erlaubt
sich zur Pränumeratimr auf denselben einzuladen, und bemerkt, daß alle
Buchhandlungen und Postämter Bestellungen annehmen.
Leipzig, im December 18ö7. Fr. Ludw Herbig.
Der Na chsommer. Eine Erzühlnna von Ad. Stifter. Z Bände. Pesth, Heckenast. —
Je seltener die Kritik in die Lage kommt, bei einem Werk der modernen
Belletristik mit warmer Theilnahme zu verweilen, desto erfreulicher ist ihre
Aufgabe, wo sie einmal bei einem Dichter künstlerisches Gefühl, vielseitige
und eindringende Bildung und echte Herzensgüte antrifft, auch da. wo sie
nicht unbedingt billigen kann, auf die Spuren des dichterischen Lebens hin¬
zuweisen . die in der allgemeinen Erschlaffung noch nicht untergegangen sind.
So ist es mit dem neuen Roman von Stifter.
Freilich muß vorausgeschickt werden, daß von einem echten Roman nicht
die Rede ist; die aufmerksamen Leser der Studien und bunten Steine werden
es auch nicht erwartet haben. Wer so ganz in das Detail aufgeht, wie Stifter
in jenen ersten Werken, wird nicht im Stande sein, ein Gemälde von
großen Dimensionen so auszuführen, daß ein bestimmter Gesammteindruck
vorherrscht. Der Borwurf wird denjenigen sehr leicht erscheinen, die den Ge¬
nius über die Regel stellen, weil sie die letztere für das Werk müßiger Syste-
matiker halten, die sich aus frühern Schöpfungen einen willkürlichen Maßstab
abstrahiren und damit der Freiheit des genialen Künstlers hemmend entgegen¬
treten. Allein wenn es auch solche müßige Doctrinen wirklich gibt, so ist doch
der Beweis, daß die Regel aus dem Wesen der Sache hervorgeht, leicht zu
führen, indem man auf den Erfolg hinweist. Die Bewegung der Phantasie
folgt bestimmten Naturgeseyen, die bis zu einer gewissen Grenze erkannt wer¬
den können, und die Kunst wirkt nur diesen Gesetzen gemäß. Wenn man an
den epischen Dichter andere Anforderungen stellt, als an den Lyriker oder
Dramatiker, so ist das nicht eine eitle Systemsucht, sondern das einfache Re¬
sultat der Erfahrung, daß eine Erzählung, um uns anzuregen und dauernd
zu fesseln, anders eingerichtet sein muß als ein Drama, dem wir als Augen¬
zeugen beiwoh n. Ein Roman als solcher interessirt uns nur dann, wenn
uns zu Anfang die Personen und Zustände so bestimmt charakterisirt werden,
daß wir Theilnahme für sie empfinden und etwas Näheres von ihnen zu er.
fahren wünschen; wenn dann die Berührung derselben Conflicte nach sich zieht,
auf deren Lösung wir begierig sind, wenn wir dem Dichter mit der Empfin-
dung dessen, was kommen muß, vorauseilen, und doch durch den Eintritt des¬
selben angenehm überrascht werden, weil die Wirklichkeit, wie sie der Dichter
zu schaffen weiß, mit größerer Macht auf unsere Einbildungskrast eindringt,
als unser Vorgefühl. Die Erzählung wird uns um so mehr befriedigen,
wenn wir schon während der Lectüre bei jedem einzelnen Zug die bestimmte
Empfindung haben, daß er wesentlich zur Sache gehört und den Gesammt-
eindruck fördert*), und wenn nach der Lectüre, wo wir das Ganze vor unsrer
Seele zu einem Gemälde sammeln, jeder einzelne Zug als ein nothwendiges
Glied des Gesammtorganismus in unserer Erinnerung gegenwärtig wird, so
daß wir mit Behagen aus dem Gedächtniß heraus das Kunstwerk des Dich¬
ters gewissermaßen als ein Naturproduct nachschaffen können.
Von diesen Gesetzen, die man nur aussprechen darf, um sie sofort als
richtig zu empfinden, ist bei Stifter keines beobachtet. Ein gewisser Zusam¬
menhang der Handlung findet freilich statt, einiges von dem, was die darin
vorkommenden Personen thun und reden, hat Folge; gewisse Umstünde aus
ihrem Leben, die im Anfang unklar sind, werden später aufgehellt: aber
dieser Zusammenhang ist so dürftig und er wird durch so massenhaftes Bei-
werk unterbrochen, daß wir für die Geschichte nicht die geringste Theilnahme
empfinden. Der Grund liegt nicht blos darin, daß jenes Beiwerk sich als
die Hauptsache erweist, sondern hauptsächlich in dem Unvermögen Stifters,
uns bei seinen Charakteren das Gefühl harter Nothwendigkeit einzuflößen, so
daß wir in jedem Fall fest überzeugt sind, sie können nicht anders handeln,
als er sie handeln läßt. Höchst geistvoll und erfinderisch in der Ausmalung
kleiner individueller Züge, ist er nicht im Stande, eine ganze Individualität
in lebendige Gegenwart umzusetzen und das ist freilich die höchste Gabe des
Künstlers, die Gabe, die den echten Künstler von der künstlerischen Natur
unterscheidet.
Der Vorwurf ist ganz ernst gemeint, und soll durch das folgende Lob
nicht entkräftet werden. Wir sind reich an Romanen und Dramen, die zwar
als solche werthlos sind, die aber durch einzelne Schönheiten den Leser ver¬
söhnen oder besser gesagt bestechen, aber wenn es auch dem Dichter gelingt,
in der Form einer Erzählung, die als solche uns kalt läßt, die größte Fülle
tiefer Empfindungen und einen Schatz reichster Lebensweisheit zu entwickeln,
so verdient er doch Tadel, daß er die ungeschickte Form der Erzählung gewählt
hat; er hätte die Pflicht gehabt, für seinen Stoff eine angemessene Gestalt
zu suchen. Es wird dann darauf ankommen, ob das Positive, das er bietet,
so mächtig ist, daß wir seinen Fehler nicht ungeschehn wünschen. Das ist z. B.
''
bei vielen Werken Goethes der Fall, wo das Einzelne uns so gewaltig er¬
greift, daß wir an die Komposition gar nicht denken, oder uns den Gedanken
leicht aus dem Sinn schlagen.
Eine mächtige Natur ist Stifter nicht, er zwingt uns nicht, ihm zu solgen;
aber er ist eine seelenvolle und bedeutende Natur, und wenn wir dem Wider¬
streben unserer Einbildungskraft Gewalt anthun, und ihm wirklich folgen, so
werden wir reich belohnt. Seine Fehler sind so handgreiflich, und werden
durch die herrschende Richtung der Zeit so wenig motivirt, daß sie zuerst jeden
Leser als etwas Unerhörtes, Seltsames überraschen; bei einigem Nachdenken
aber findet man den Grund in einer an sich völlig gerechtfertigten Reaction
gegen gewisse Verkehrtheiten des Zeitalters, und so hat man schließlich das
beruhigende Gefühl, genetisch zu begreifen, was man künstlerisch nicht billi¬
gen kann.
Ein Anhaltpunkt für das Verständniß Stifters ergibt sich zunächst, wenn
man verwandte Erscheinungen aus der frühern Literatur damit vergleicht.
Solche sind Goethes Meister, namentlich die Wanderjahre, Novalis Ofterdingen
und Tiecks Novellen, hauptsächlich der junge Tischlermeister. Die Aufgabe
dieser Dichter, in der Stifter mit ihnen wetteifert, ist, das Leben in seiner
Totalität poetisch zu verklären, das Symbol des Ewigen nicht in einer ein¬
zelnen Geschichte, sondern in der Ausmalung der Zustände wie sie sein sollten
und sein könnten, zu realisiren. Die Sittlichkeit des Privatlebens, die Erzie¬
hung, die Anstalten zum angenehmem Genuß des Lebens und zu einer zweck¬
müßigen Ausfüllung desselben. Kunst. Wissenschaft und alles, was dazu gehört,
das ist der große Gegenstand, den Stifter zum Vorwurf seines Gemäldes macht,
und für den die Geschichte nur den gleichgiltigen Nahmen bildet.
Die Aufgabe ist so unbegrenzt, daß sie sich überhaupt nicht durchführen
läßt, am wenigsten auf künstlerischem Wege, allein wir sind durch die socialen
Romane unsrer vorwiegend kritischen Zeit bereits so daran gewöhnt, daß
sie uns nicht weiter befremdet. Das Auffallende liegt bei Stifter nicht in
der Kritik an sich, sondern in der Richtung der Kritik, die dem Zeitgeist
durchaus widerspricht. Man fragt nun vor allem, ob' der Dichter,
abgesehn von der künstlerischen Berechtigung des Problems, durch seine Bil¬
dung und Einsicht dazu berufen ist, über solche Dinge überhaupt eine Stimme
abzugeben. Es haben so viele Unberufene in diesem Geschäft gearbeitet, daß
man jeden neuen Versuch einer Reflexion über das Leben überhaupt,
mit dem Vorgefühl in die Hand nimmt, eine Sottise darin zu finden. Hier
^ird man nun bei Stifter sehr angenehm überrascht. Manche seiner Ideen
sind sehr anfechtbar, und es fehlt ihnen durchweg die jugendliche Frische, die
dem Leser den rechten Lebensmuth einflößt, aber er sagt nichts, worüber er
nicht reiflich nachgedacht hat, und seine Bildung ist nicht blos höchst vielseitig,
sondern vor allen Dingen ehrlich und gewissenhaft. Man labt sich an der
Rechtschaffenheit seines Denkens und Empfindens, auch da, wo man entschie¬
den von ihm abweicht.
Das Grundprincip seines gesammten Schaffens möchten wir in Folgen¬
dem suchen. Unser Zeitalter zehrt von einer überreichen Cultur, die es nicht
selbst mühsam erarbeitet, sondern durch die Anstrengung eines frühern Ge¬
schlechts zum bequemen Besitz überkommen hat. Schon auf den Knaben
drängen sich eine Masse Vorstellungen ein, die er bald als Scheidemünze von
anerkannten Gepräge auszugeben lernt, ohne sie vorher auf die Wagschale zu
legen. Nicht blos die Literatur, sondern selbst die Sprache, deren wir uns
im gewöhnliche» Umgang bedienen, ist von unzähligen Abstractionen gesättigt,
dem Resultat tausendjähriger metaphysischer Anstrengungen, die wir nun leicht¬
sinnig verwerthen. Wir wissen über Dinge zu reden, die im Zeitalter des
Aristoteles den gebildetsten Griechen außer Fassung würden gesetzt haben.
Wenn aber jeder mühelose Erwerb ein zweifelhaftes Glück zu nennen ist, so
gilt das auf dem geistigen Gebiet in noch'viel höherm Grade. Durch die
Vielseitigkeit unseres Blicks sind wir an Zerstreutheit gewöhnt, das Gefühl
der Ehrfurcht und Andacht ist schwach geworden, wir sind zur Ungründlich-
keit geneigt, und was damit nothwendig zusammenhängt, auch die Integrität
unsers Gewissens ist abgeschwächt: wir lassen die Sprache nicht blos für uns
denken, wir lassen sie auch für uns empfinden, und ohne ein klares Bewußt¬
sein darüber zu haben, kommt es uns auf eine kleine Lüge nicht an, bis wir
endlich mit Salomo ausrufen: alles ist eitel! Freilich hat diese Zerstreutheit
eine Grenze an den Berufsgeschäften der Einzelnen. Ungründlich in den all¬
gemeinen Beziehungen des Lebens, verstehn wir in dem Fach, für das wir
wirklich erzogen sind, es ernst zu nehmen. Der Jurist, der Techniker, der
Philolog ist in seinem Fach viel systematischer gebildet, viel mehr an strenge
Folge und Nothwendigkeit gewöhnt, als es zu andern Zeiten Sitte war. Dies
müssen wir immer im Auge halten, wenn man über die allgemeine Blasirt-
heit unserer Periode Klagelieder anstimme. Freilich reicht es noch nicht aus.
in dieser beschränkten Sphäre ehrlich zu sein, wenn man ein Dilettant ist in
allen übrigen, und es ist in unserm Volke so viel guter sittlicher Fond, daß
der Staatsmann wie der Dichter wol darauf kommen kann, ob nicht durch
dieselbe Methode, die den Menschen in seinem Beruf ehrlich macht, auch die'
Ehrlichkeit des ganzen Lebens wieder hergestellt werden kann.
Die Sicherheit des Technikers gründet sich auf seine systematische Erzie¬
hung, wir können sie im Kleinen an unserm Gymnasialunterricht verfolgen.
Der Vorzugddes lateinischen Sprächunterrichts liegt darin, daß der Knabe in
jedem Augenblick zur strengsten Aufmerksamkeit angehalten, und gezwungen
wird, sich jeden Augenblick über das, was er thut, Rechenschaft zu geben, und
den individuellen Fall auf Regeln zu beziehen. Würde die Strenge dieser
Methode auf alle Zweige des Wissens ausgedehnt, würde' der Schüler überall
streng darauf hingewiesen, zu unterscheiden zwischen dem, was er weiß, und
dem. was er nicht weiß, zwischen dem, was er begreift, und was er nicht be¬
greift, zwischen dem, was er durch Kunstfertigkeit in sichern Besitz ungewan-
delt hat, und dem. was ihm nur in dunklen Umrissen vorschwebt, so würde nichts
zu wünschen übrig bleiben. Dies ist in der That der Punkt, von dem Stif¬
ter ausgeht: ein richtiger Ausgang, nur daß freilich der Scharfsinn der Re¬
flexion noch nicht den Künstler macht.
Stifter beginnt damit, die Aufmerksamkeit nach allen Seiten hin zu
schärfen, ja sie zur Andacht zu steigern. Er wendet dazu zwei Mittel an.
Die Zerstreutheit unseres Denkens liegt zum Theil in den unklaren d. h.'un-
aufgelösten Begriffen, mit denen wir operiren. als hätten wir darin einen
sichern Besitz, mit andern Worten in der Gewohnheit der Abstraction und
Verallgemeinerung. Stifter bemüht sich nun zunächst, aus seiner Sprache wie
aus seiner Anschauung jede Abstraction zu verbannen, er gibt stets das sinn¬
liche Bild. Sodann zerlegt er die allgemeinen Vorstellungen in ihm bekannte
d. h. in einzelne sinnliche Anschauungen, die in einer bestimmten Folge neben¬
einandergestellt werden, während man in der gewöhnlichen Sprache nur das
dürftige Resultat derselben besitzt. Um dies in klarer Folge zu thun, wendet
er die genetische Methode an. und wie ein guter Lehrer der Mathematik Fi¬
gur nach Figur dem Schüler vor Augen bringt, ihn aus die Entstehung der¬
selben aufmerksam macht, und ihn nicht eher entläßt, als bis er das System
des Euklid in seinem Geist reproduciren kann, so macht es Stifter nicht blos
bei seinen Deductionen, sondern much bei seiner Erzählung. Unsere Sprach¬
verwirrung hat ihren Grund hauptsächlich darin, daß man überall eine Menge
Voraussetzungen macht, bei denen man annimmt, alle Welt sei einig darüber,
während doch die Einigkeit nur in den Worten liegt. Stifter stellt dagegen
an den Dichter wie an den Erzieher die Anforderung, gar keine Voraussetzung
zu machen, gewissermaßen so zu referiren, als wollte man auch einem Neusee¬
länder verständlich werden, der Deutsch versteht.
Hierin liegt nun freilich die Romantik in Stifters Borhaben: es gibt
keinen Neuseeländer, der Deutsch versteht, denn die deutsche Sprache, Wörter¬
buch und Syntax, ist das Resultat einer Culturcntwicklung, die man mit der
Sprache zugleich überkommt. Es ist nicht möglich, den Knaben in der deut¬
schen Sprache so zu erziehn, wie einen Wilden, dem man die deutsche Sprache
beibringen wollte, und es ist falsch, für ein deutsches Publicum so zu schrei¬
ben, mis lMtx es Schiller und Goethe noch^nicht gelesen. An einem bestimmten
Beispiel lußt ^r Irrthum deutlich machen.
Im ersten Band S. 2S7 ff. erzählt der Autvbiograph. wie er zum
ersten Mal (er ist in den ersten zwanziger Jahren) in das Schauspiel geht
und den König Lear sieht. Sein Vater hat ihn bis dahin verständigerweise
von dem Besuch des Schauspiels zurückgehalten, und der Eindruck ist ihm
daher ganz neu. Um nun die Wichtigkeit dieses Ereignisses deutlich zu machen,
schildert der Dichter das Unternehmen seines Helden als eine große Expedition.
Er beschreibt den Weg von Hause bis ins Theater in einer Stadt, wo er zwanzig
Jahre gelebt, während er doch schon ans Reisen gewöhnt ist, wie eine
Reise nach dem Nordpol. Er erzählt die Geschichte des König Lear bis ins
kleinste Detail, und ebenso sein Nachhausegehn. Hier ist nun die Zweck¬
widrigkeit so ungeheuer, daß man vor Erstaunen sprachlos wird. Um so mehr,
da dieser mit so vieler Emphase beschriebene Theaterbesuch gar keine Folge
hat. ' Der Autobiograph schreibt so, als wenn er im Augenblick des Schrei¬
bens noch auf derselben Bildungsstufe wäre, wie bei seinem ersten Theaterbesuch,
und der Dichter schreibt für das Publicum, als wenn es den König Lear noch
nicht kennte; aber trotz dem sonderbaren Eindruck, den es macht, ein nicht
grade geschicktes Jnhaltsverzeichniß der Tragödie zu lesen, die man aus eigner
Anschauung kennt; trotz dem Mangel an allein Verhältniß zwischen Zweck und
Mittel, trotz der unleugbaren Koketterie, die in dieser Einfachheit liegt <Stif-
ter vergißt z. B. nicht zu erzählen, wie er seinen Hut und Ueberrock dem
Logenschließer übergibt, nach dem Schluß des Theaters wieder abholt und
dafür ein Trinkgeld erlegt), trotz dieser unerhörten Seltsamkeit ahnt man doch,
was dem Dichter vorgeschwebt hat: er wollte nicht das Stück, nicht den Gang
ins Theater, sondern den Eindruck auf die Seele seines Helden schildern. Es
ist ihm nicht gelungen, weil man so etwas einem Neuseeländer überhaupt
nicht schildern kann; es läßt sich nicht in wahrnehmbare einzelne Thatsachen
übersetzen. Es konnte nur in der Form der Reflexion oder humoristisch ge¬
schehn. Von Humor zeigt sich aber bei Stifter nie auch nur die leiseste Spur,
und das ist bei der Dichtungsart. die er sich gewählt, das Charakteristische
seiner Schöpfung.
Den alten Grundsatz der Studien und bunten Steine: das Große
sei klein und das Kleine groß, schärft Stifter auch diesmal seinen Lesern theo¬
retisch und praktisch immer von Neuem ein. So heißt es bei Gelegenheit
einer sehr umständlich analysirten Wetterbeobachtung I. S. 182. „Viele Men¬
schen, welche gewohnt sind, sich und ihre Bestrebungen als den Mittelpunkt
der Weit zu betrachten, halten diese Dinge für klein; aber bei Gott ist es
nicht so; das ist nicht groß, an dem wir vielmal unsern'Maßstab anlegen
können, und das ist nicht klein, wofür wir keinen Maßstab mehr haben.
Das sehn wir daraus, weil er alles mit gleicher Sorgfalt behandelt. Oft
habe ich gedacht, daß die Erforschung des Menschen und seines Treibens, ja
sogar seiner Geschichte nur ein andrer Zweig der Naturwissenschaft sei" u. s. w.
Ferner in demselben Sinn S. 337. „Weil die Menschen nur ein Einziges
wollen und preisen, weil sie um sich zu sättigen, sich in das Einseitige
stürzen, machen sie sich unglücklich. Wenn wir nur in uns selbst in Ordnung
wären, dann würden wir viel mehr Freude an den Dingen dieser Erde haben.
Aber wenn ein Uebermaß von Wünschen und Begehrungen in uns ist, so
hören wir nur diese immer an, und vermögen nicht die Unschuld der Dinge
außer uns zu fassen. Leider heißen wir sie wichtig, wenn sie Gegenstände
unserer Leidenschaften sind, und unwichtig, wenn sie zu diesen in keinen Be-
Ziehungen stehen, während es doch oft umgekehrt sein kann."
Aehnliche Ideen leiten den Humoristen, aber er verfolgt damit einen ko¬
mischen Zweck. Daß die Dinge, in sich selbst betrachtet, einen andern Maßstab
haben, als vom subjectiven Standpunkt des Menschen, erregt ein Gefühl der
Ueberraschung, welches mit lustigem Behagen verbunden ist, sobald der eine
Standpunkt nicht durch den andern widerlegt werden soll. Stifter vergißt bei
seiner Deduction ganz und gar. daß Gott nicht das Publicum des Dichters
bildet. Wenn auch vor dem Auge Gottes alles gleich sein sollte, — der Umstand,
daß man vom Logenschließer für Hut und Ueberrock eine Marke empfängt,
gleich wichtig mit dem Inhalt des König Lear — so kann das doch dem Dich¬
ter nichts helfen, da er für Menschen schreibt, die nur durch ihre Subjectivität
die Dinge anschauen, weil sie kein anderes Medium der Anschauung haben.
Im Organismus des Universums mag jedes Atom gleich wichtig sein, der
Organismus des Kunstwerks hat einen beschränkten Rahmen, und in ihm ist
nur dasjenige wichtig, was zur Sache gehört. In dem Bemühn, andächtige
Aufmerksamkeit für das Jnsichsein der Dinge zu erregen, versetzt sich Stifter
fortwährend in eine andächtige feierliche Stimmung, die allen Scherz, allen
Humor ausschließt, und da man ein neues Princip in der Regel übertreibt,
so behandelt er nicht blos das Unbedeutende und Gleichgiltige mit derselben
Wichtigkeit wie das Große, sondern er stellt es zuweilen mit einer noch größern
Andacht dar. Rum kann mitunter das Detailliren künstlerisch von großer
Wichtigkeit sein, aber nur wenn es einem bestimmten psychologischen Zweck
dient, wenn es einer Stimmung den entsprechenden Ausdruck gibt; ohne die¬
sen Hintergrund macht es den entschiedenen Eindruck der Zweckwidrigkeit, in
der Kunst wie in der Wissenschaft, und dieser Eindruck wird durch Stifters
Darstellung nur zu häufig auf uns hervorgebracht.
Bei dem vorwiegenden Interesse für die Naturwissenschaft, bei der aus¬
gesprochenen Neigung, auch das Psychologische und Historische aus physische
besetze zurückzuführen, würden wir trotz der häufigen Anwendung des Namens
Gottes, die an sich nichts bewiese, Stifter einen Pantheisten nennen, wenn
nicht ein strenges und edles sittliches Gefühl den Grundzug seines Charakters
bildete. Das ist es, was ihn z. B. von L. Schefer unterscheidet. Wenn
man Gott nur als den Schöpfer der Dinge verehrt, und sich freut, daß er
Gräser und Sträuche, Frösche, Schlangen und Molche so schön gemacht, so
ist damit nicht viel gesagt, über diese Dinge kann auch der Atheist sich freu».
Das Gefühl des Göttlichen liegt im Herzen und namentlich im Gewissen,
und dieses ist bei unserm Dichter von einem Ernst und dabei von einer Zart¬
heit, daß man ihn lieben und sein sittliches Princip verehren muß, auch wo
man seine künstlerischen Grundsätze tadelt. In der Theorie verlangt er An¬
dacht für die Natur an sich, in der Praxis hat er aber sür diese Andacht
einen menschlichen Grund: sie ist ihm wichtig a)s Förderung des menschlichen
Geistes. „Die Naturwissenschaften sind uus viel greifbarer als die Wissen¬
schaften der Menschen, wenn ich ja Natur und Menschen gegenüberstellen soll,
weil man die Gegenstände der Natur außer sich hinstellen und betrachten kann,
die Gegenstände der Menschheit aber uns durch uus selbst verhüllt sind. Man
sollte glauben, daß das Gegentheil statthaben solle, daß man sich selbst besser
als Fremdes kennen sollte, viele glauben es auch; aber es ist nicht so. That¬
sachen der Menschheit, ja Thatsachen unseres eignen Innern werden uns
durch Leidenschaft und Eigensucht verborgen gehalten, oder mindestens getrübt"
u. s. w. (S. 342) Ueber die Sache selbst läßt sich streiten, aber das Motiv
geht auf der richtigen Fährte. Der Mensch hat das Recht, sich in seinen Stu¬
dien und seinen Vergnügungen, sich in Wissenschaft und Kunst durch sein
Interesse bestimmen zu lassen; aber freilich wird er nicht blos wie das Thier
durch physische Interessen, sondern durch andere z. B. ästhetische bestimmt,
und so ergibt sich aus einer unbefangene» Naturbeobachtung grade das Gegen¬
theil von dem, was Stifter mitunter in seinen Paradoxien verkündigen möchte,
daß der Mensch zwar nicht außer, aber über der Natur steht. Zum Theil
hängt dieser Grundsatz des Dichters mit seinem Talent zusamme». Er ist
am glänzendsten in der Ausmalung des Lebens in der scheinbar unbelebten
Natur und in der Ausmalung dieser sinnlich einfachen und doch seelenvoll
angeschauter Züge vielleicht in unserer ganzen Literatur unerreicht. Der neue
Roman enthält nicht weniger glückliche Erfindungen nach dieser Seite hin,
als die Studien und bunten Steine. Dazu kommt der schon erwähnte päda¬
gogische Grundsatz, in dem Bildungsgang des Einzelnen das System des
Wissens zu reproduciren, vom Einfachen und Sinnlichen zu beginnen und
zum Zusammengesetzten und Geistigen fortzuschreiten, so. daß, was im Sy¬
stem nebeneinandersteht, sich,in der menschlichen Seele genetisch oder historisch
entwickelt. Wenn Herder und nach seinem Vorgang Hegel mit der Entwick¬
lung des Naturlebens anfängt und die Geschichte darauf folgen läßt, so ist
das ein richtiger Proceß der Lebe»sweisheit, de» Stifter in seinen pädago¬
gischen Winken mit Recht ihnen nachbildet, wenn er ihn auch in Beziehung
auf den gege»würdigen Standpunkt der Bildung zu weit ausdehnt, da doch
aller Fortschritt der Cultur auf Anticipation und Abstraction beruht. Für den
Standpunkt- der Gegenwart und die augenblickliche Aufgabe der Wissenschaft
hat Stifter zuweilen einen sehr richtigen Instinkt, aber er hält sich nickt immer
alle Momente gleichmäßig vor Augen und komm? daher zuweilen zu einem
schiefen Resultat. „Ich glaube, „sagt er S. 189/' das: in der gegenwärtigen
Zeit der Standpunkt der Wissenschaft der des Sammelns ist. Entfernte Zeiten
werden aus dem Stoffe etwas bauen, das wir noch nicht kennen. Das
'Sammeln geht der Wissenschaft immer voraus; das ist nicht merkwürdig,
denn das Sammeln muß ja vor der Wissenschaft sein, aber das ist merkwür¬
dig, daß der Drang des Sammelns in die Geister kommt, wenn eine Wissen¬
schaft erscheinen soll, wenn sie auch noch nicht wissen, was die Wissenschaft
enthalten wird. Es geht gleichsam der Reiz der Ahnung in die Herzen, wo¬
zu etwas da sein könne, und wozu es Gott bestellt haben möge." — Es ist
wol eine gemisst Wahrheit in diesen Worten, aber eine halbe. Manche von
den größten Gelehrten unserer Zeit, ihnen allen voran geht Jakob Grimm,
zeichnen sich hauptsächlich durch das scharfe und sinnige Auge für alles
Seiende aus; aber nicht minder regt sich der Trieb, der methodischen Analyse,
und grade in der Wissenschaft, die Stifter mit besonderer Vorliebe behandelt,
ist es nicht der Sammelgeist, sondern der Trieb , in den Kern der Dinge ein¬
zudringen, was die gegenwärtige Forschung von dem Geist früherer Jahr
Hunderte scheidet.
Mit nicht mindern Ernst und nicht geringerer Einsicht als das wissen¬
schaftliche Leben, wird die Kunst behandelt. Namentlich in zwei Punkten
könnte der Aesthetiker aus diesem Roman viel lernen, in dem Bemühen, den
künstlerischen Eindruck auf Naturgesetze zurückzuführen, und in der Entwick-
lung des.ttunsttriebs in einer individuellen Menschenseele. Wir verweisen den
Leser nuf die Schilderung einer mehr recipirenden' als schaffenden Künstler¬
natur Band III. S. 216- 226, wo auch die Berechtigung des Dilettantismus
innerhalb gewisser Grenzen scharfsinnig nachgewiesen ist. Für den Vergleich
des Gothischen und Griechischen findet der Dichter, der sie beide gleichmäßig
ehrt, zuweilen sehr glückliche Wendungen, und auch bekannte Sätze weiß er
durch den schönen Ausdruck sinnig der Phantasie einzuprägen, z. B. den
bekannten Satz, daß in schönen Kunstwerken Ruhe in Bewegung sein müsse.
»Man versteht gewöhnlich unter Bewegung Bewegbarkeit. Bewegung kann
die bildende Kunst gar nicht darstellen. Da die Kunst in der Regel lebende
Wesen, Menschen. Thiere. Pflanzen — und selbst die Landschaft trotz der
starrenden Berge ist mit ihren beweglichen Wolken und ihrem Pflanzenschmucke ^
dem Künstler ein Athmendes; denn sonst wird sie ihm ein Erstarrendes —
darstellt, so muß sie diese Gegenstände so darstellen, daß es dem Beschauer
erscheint, sie könnten sich im nächsten Augenblicke bewegen."
Mit besondern, Eifer legt sich Stifter, der überall darauf ausgeht, die
Poesie in das gewöhnliche Leben einzuführen, auf die Darstellung derjenigen
Kunstzweige, die mit dem Handwerk verwandt sind. Wer sich darüber unter¬
richten will, wie man seine Privatwohnung, seine Bibliotheken, seine Gärten,
seine Werkstätten u, s. w, ebenso geschmackvoll als zweckmäßig ausstatten
kann, findet in diesem Roman die reichhaltigsten Notizen. Die Poesie des
Luxus ist selten so anschaulich und einsichtsvoll dargestellt worden. Was die
Möbel, den eigentlichen Schmuck> die Ausstattung der Zimmer betrifft, neigt
sich Stifter mehr zum Geschmack einer frühern Zeit, doch tadelt er dre todte
Nachbildung, so wie die Vermischung' verschiedener Perioden bei der Aus¬
stattung einer Wohnung und verlangt, daß man in der sinnigen Weise der
Alten den neuen Bedürfnissen und Gewohnheiten gerecht werden soll. Am
ausführlichsten ist das Capitel der Mosaik behandelt, namentlich die Zusam¬
mensetzung schöner und seltener Holzgattungen zu sinnreichen Getäfel, und
hier könnte selbst der ausübende Künstler viel lernen. Künstlerisch betrachtet,
nimmt diese Darstellung freilich einen viel zu großen Raum ein, und es macht
wiederum den Eindruck der Zweckwidrigkeit, wenn die Besucher dieser stattlichen
Räume stets Filzschuhe anlegen müssen, um das Getäfel nicht zu beschädigen,
welcher Umstand nie vergessen wird. Die Genauigkeit in der Ausmalung
der Baulichkeiten ist sehr instructiv. aber nicht eigentlich dichterisch, denn sie
beschränkt sich weder darauf, den Ort der Handlung klar dem Gedächtniß'
einzuprägen, noch bemüht sie sich gleich Dickens, durch diese Äußerlichkeiten
der Stimmung ein Relief zu geben. Der Ernst, mit dem diese Dinge be¬
handelt werden, macht in den meisten Fällen einen unfreiwillig komischen
Eindruck, und man muß von der Geschichte ganz abstrahiren, um dem gebil¬
deten Kunstfreund so weit zu folgen, daß man aus seinen Belehrungen wirt- '
liehen Nutzen schöpft. Es kommt dazu noch ein mißlicher Unistand. Stifter
ist ein Sohn des Volks, aber sein ästhetischer Sinn verleitet ihn zu einer un¬
gebührlichen Verehrung der isvcialen Aristokratie. Selbst in Augenblicken, wo
nur die Seele sprechen sollte, kann er sich nicht erwehren, auf schone und
kostbare Gewänder, glänzenden Schmuck und vornehme Bewegungen eine Auf-
merksamkeit zu richten, die der echten Leidenschaft fremd ist. In solchen Fällen
zeigt selbst die Gräfin Hahn-Hahn mehr Takt, was gewiß viel sagen will.
So ist in der Gegenüberstellung der vornehmen und bürgerlichen Welt
die erstere im Ganzen mit mehr Vorliebe als Einsicht behandelt. Stifters
sociales Ideal ist die höchste Vereinigung des Einfachen und des Vornehmen,
ein Ideal, dem gewiß jedes künstlerische Gefühl huldigen wird und dessen
Durchführung auch in gewissen glücklichen Fälle» möglich ist. Aber indem
hier die Ausnahme zur Regel gestempelt wird, indem alle Ecken abgeschliffen
werden, welche aus dem bestimmten Beruf, aus den Umgangskreisen, aus
der Gewohnheit des Befehlens und Dienens hervorgehn, kommt in die Zeich¬
nung etwas Verwaschenes, Grade wie in den Zeiten der Romantik isoliren
sich Stifters ideale Naturen von dem wirklichen Leben und führen ihre
künstlerischen Ansichten in der Einsamkeit durch. Man fühlt sich wie auf einer
Nohinsoninsel, zu der von dem bewegten Treiben der Menschen nur selten
eine Kunde gelangt. Es ist charakteristisch, daß die meisten dieser Personen
anonym sind, man erfährt ihren Namen in der Regel erst im letzten Bande.
Der Name gehört aber auch zur Physiognomie des Menschen und man
kommt sich unter diesen schönen, aber beziehungslosen Figuren wie in einer
Schattenwelt vor, kurz gesagt, wir haben es mit lauter Rentiers zu thun, die
zwar ihre Muße nützlich und schicklich ausfüllen, aber doch nach Gutdünken,
wie die Gesellschaft des Phantasus. Es fehlt die strenge.Nothwendigkeit des
Lebens, die allein greifbare Gestalten möglich macht. Gearbeitet wird viel
in diesem Roman, aber nur aus Neigung, aus Liebhaberei, und erst das ist
die wahre Arbeit, welche sich entäußert und dient. Selbst in dem bürgerlichen
Kaufmannshaus, in das wir zu Anfang eingeführt werden, sehn wir nur
den Sonntag, nur die Erziehung der Kinder und die ernsten Liebhabereien
des Baders. Sein eigentliches Geschäft hat mit seinem Gemüth nichts
zu thun, es ist ihm nur ein äußeres Mittel, Ideal und Leben fallen aus¬
einander. So fehlt sämmtlichen Figuren eine gewisse Körperlichkeit und
nur Eins ist es, was uns mit ihnen aussöhnt, die ganze Erzählung
ist vom Geist ernster und edler Pflicht durchhaucht, es waltet darin
eine Heiligkeit und Keuschheit der Empfindung, die uns' noch mehr ergreifen
würde, wenn der Dichter nicht blos mit Licht gemalt hätte. Der Schatten
fehlt gänzlich, und doch entwickelt sich die Kraft erst durch den Wider¬
stand, das Licht erst durch den Contrast gegen das Dunkel. Eine Spur starker
Leidenschaft würde uns in dieser Dämmerung glücklich' machen und wir sind
dem Dichter schon dankbar, wenn er sie uns nur.ahnen läßt. Diese bestän¬
dige Resignation, diese Abwesenheit aller heftigen und trotzige» Regung ver¬
räth doch einen Mangel an jugendlicher Dichterkraft und wenn wir in dem
Buch echte Lebensweisheit haben, so ist es doch nur die Weisheit des Alters.
Aber freilich ist es ein schöner, warmer, erfrischender Nachsommer, der
uns aus diesen Blättern entgegenweht. Hinter der Abendstille der Stimmung
verstecken sich zwar nicht starke energische Leidenschaften, aber einige seelen¬
volle Regungen, die den Leser noch mehr fesseln würden, wenn der Dichter
ihn darauf vorbereiten wollte. Da es nicht ganz leicht ist, den Roman
ununterbrochen fortzulescn, so halten wir es nicht sür überflüssig, den Leser
auf einige besonders schöne Stellen hinzuweisen. Man vergleiche die beiden
Stimmungen B. I. S. 395 und B. III. S. 4. In beiden sammelt der Held
sein aufgeregtes Gemüth im Anschaun der Natur, das erste Mal. nachdem er
seine künftige Braut zuerst gesehn, das zweite Mal, nachdem er sich ihr erklärt.
Das tiefe Gefühl der Trauer, das in dem ersten Fall unvorbereitet auf ihn
eindringt, ist fein und tief wiedergeben, und eben so durchbebt uns die un¬
endliche Lust, mit welcher die Natur ihm das Gefühl seiner eigenen Liebe ent¬
gegenstrahlt. Schwächer ist die eigentliche Ausführung der beiden Liebesgeschichten.
B. II. S. 405 u. ff. B. III. S. 289 u. ff. In der ersten ist. wie schon be¬
merkt, nur Linke ohne Schatten d. h. ohne Grenze, und man möchte hinzu-
setzen, man hat es nur mit körperlosen Seelen zu thun. Etwas mehr
Energie regt sich bei der zweiten Geschichte. Mathilde hat wenigstens die
Kraft des Zorns, als ihr Geliebter ihr die Resignation des Pflichtgefühls ent¬
gegenhält. Aber diese Ausbrüche des Gefühls haben zu wenig Folge, das
Ganze endet doch wieder in stiller Wehmuth und Entsagung. Schon in den
Beiwörtern, mit welchen der Dichter seine Figuren aufführt, findet sich häusig ein
glücklicher Zug z. B.'I. S. 408. „Die zwei Schwestern konnten bezaubern,
aber um Nathalie war etwas wie ein tiefes Glück verbreitet." — „Mathilde
war jetzt ein Bild der Ruhe und ich möchte sagen der Vergebung." Aber auch
das ist Abendstimmung und Nachsommer, und man möchte viel darum geben,
wenn sich durch diese sauften resignirten Gestalten einmal ein lustiger Kobold
drängte, wie Philine oder Luciane in den Wanderjahren.
Der Dichter hat aus dem schönen Stoff kein durchgreifendes Kunstwerk
machen können, weil ihm die Energie der Composition abging, aber durch
seine edle Gesinnung, sein warmes, echt poetisches Gefühl und seine reife
Lebensweisheit hebt sich das Buch sehr günstig gegen die meisten belletristischen
Erscheinungen unserer Tage ab, die aus den Augenblick ihre Wirkung be¬
^ ^eg>r ok I'övolution trou A ^ournsl Koye in ?s,ris in 1848 b)5 r.b.6 U^rhui»
izs Noi'Mead)'. Ivonäon, 1857. -5—
Die Memoiren, welche Lord Normanby soeben der Oeffentlichkeit über¬
geben, sind scharf getadelt worden, und in mancher Beziehung mit Recht. Die
Vorrede erklärt nur ungenügend, was den Marquis bewogen, der Welt Er¬
öffnungen über Ereignisse zu machen, die der jüngsten Vergangenheit ange¬
hören, und denen er in officieller und ofsiciöser Stellung beiwohnte. Er ver.
sichert zwar, daß er alles auslassen werde, was unmittelbar mit seinen ti-
plomatischen Geschäften zusammenhänge, er berührt allerdings die spanischen
Heirathen, die wichtigste Frage, in der er persönlich thätig war, nur obenhin,
und übergeht alles, was nach seiner Ansicht irgend Einfluß auf das jetzt
bestehende Verhältniß Englands und Frankreichs haben könnte; -- aber er
hat durch seine Darstellung doch nur bewiesen, daß es unmöglich ist, officielle
Kenntnißnahme und Privatanschauungen zu trennen; sagt er doch selbst in der
Einleitung, daß seine Stellung es ihm natürlich sehr erleichtert habe, zuverlässige
Materialien zu sammeln, und daß, wenn fortwährende Berichterstattung neben
einem fast täglich geführten Privatjournal hergeht, es nur natürlich ist, daß
dieselben Ereignisse oft in denselben Ausdrücken in beiden aufgezeichnet werden.
Indeß hierüber mag Sr. Herrlichkeit sich mit seiner Regierung abfinden', das
Amtsgeheimniß ist in England bekanntlich nicht übermäßig streng. Schärfer
kann es auf seinen Privatcharakter zurückfallen, wenn er Personen, von denen
er mit Auszeichnung und Zuvorkommenheit behandelt wurde, trotz seiner Ver¬
sicherung, das Persönliche vermeiden zu wollen, bitter l'ritifirt. Er sagt selbst
S. 183 in einer Note, daß Louis Philipp ihn stets mit vieler Güte empfan¬
gen und ihm gleich bei seiner Ankunft gesagt, er solle sich als Familien¬
botschafter betrachten, — und im Text derselben Seite spricht er auf das härteste
vom König. Gewiß der freundliche Empfang verpflichtete ihn nicht, die Hand-
lungen Louis Philipps zu, billigen, aber was nöthigte ihn, seine Ansichten
über denselben drucken zu lassen? —
Indessen die Person des Marquis soll uns nicht weiter kümmern, wir
nehmen das Buch als.die Erinnerungen eines Mannes, der durch seine hohe
Stellung in der Lage war, zuverlässige Beobachtungen anzustellen, und als
solches ist es ein werthvoller Beitrag zur Zeitgeschichte und verdient nähere
Besprechung.
Das Werk beginnt mit der Februarrevolution und schließt mit der Erwäh¬
lung Louis Napoleons zum Präsidenten, voran aber gehen einige Bemerkungen
und ein Journal über die Ursachen des Falls der Julimonarchie, die von
vielem Interesse sind und den Verfasser, wenn nicht grade als tiefen, doch als
einen richtig sehenden Beobachter zeigen. Indem wir ihm folgen, wollen wir
versuchen, ihn zu ergänzen und die Hauptsachen hervorheben, welche das
Königthum 1848 stürzten.
Das Journal des Debats, dessen frühere Protectoren allerdings bei Lord
Normanby in keinem günstigen Lichte erscheinen, wirft ihm vor, er habe hier¬
über wenig Neues gebracht, wir haben Manches gesunden, was uns neu er¬
schien, vor allem Aber mit Interesse gesehen, daß der englische Gesandte die
Lage der Dinge schon im Juli 1847 klar erkannte. Während gewisse andere
Diplomaten noch im Anfang Februar 1848 die Nachricht mit nach Hause
brachten, L. Philipps Thron sei auf einen Diamantfelsen gegründet., schreibt
er bei, der Jahresfeier der Julirevolution: „Ich wünschte, ich könnte zu
einem andern Schlüsse tourner, als daß das öffentliche Vertrauen auf die
Dauer dieser Regierung einen starken Stoß erlitten; nicht nur aus inter¬
nationalen Gründen würde man jede neue Verwirrung in Frankreich, deren Rück¬
schlag in allen civilisirten Ländern gefühlt werden müßte, zu bedauern haben,
sondern ich glaube auch, daß in dem gegenwärtigen Zustande dieses Landes,
und abgesehen !von den Gefahren eines solchen Kampfes, keine Aenderung
zum Bessern daraus hervorgehen könnte/' — „Was kann nun die Ursache
dieser Gefährdung einer Regierung sein, die äußerlich fester als je zu stehen
scheint? Das Erstaunen über einen solchen Widerspruch wird sich vermindern,
wenn man die Ursachen betrachtet, welche die sogenannte große conservative Ma¬
jorität von >K4<> zu Wege gebracht. Jeder Monat-hat meine Ueberzeugung
bestärkt, daß in dem gegenwärtigen Zustande Frankreichs keinerlei Anhäng¬
lichkeit an irgend eine Person, noch Ehrfurcht vor irgend einer Institution
enstirt, so daß das System nur aufrecht gehalten wird durch seine Jdenti-
ficirung mit den materiellen Interessen der mittlern Classen." — Guizot hat
heftig geleugnet, daß das famose-Wort lKmieKiWcx-vous über seine Lippen
gekommen, es war jedenfalls der Ausdruck des Systems, man lese in seinen
damaligen Reden die Punkte seiner Vertheidigung, nach, kein einziger der An¬
griffe wird mit sachlichen Gründen widerlegt, er bietet nur Phrasen — Ordnung,
Freiheit, Friede, Fortschritt — schöne Worte ohne Inhalt, sobald sie nicht
das Resultat der realen Zustände in sich fassen. Niemand wird aus der Be¬
förderung der Industrie einer Regierung einen Vorwurf machen, besonders
nicht der Julimonarchie, welche auf diese Interessen sich besonders stützte, aber
sie machte die Speculationssucht zum Werkzeug der politischen Corruption, der
Mißbrauch der ministeriellen Gewalt bei den öffentlichen Arbeiten und nament¬
lich den Eisenbahnen war scandalös. Frankreich war in den Verkehrsanstalten
hinter seinen Nachbarn zurückgeblieben, statt alle Kräfte zu vereinen, um das
Versäumte nachzuholen, sahen die Minister in den Concessionen, Anstellungen
u. s. w. nur ein Mittel, sich am Nuder zu erhalten, und in jedem Winkel
Frankreichs machten ihre Kandidaten den Wählern fabelhafte Versprechungen,
was für den Bezirk gethan werden sollte, wenn sie gewühlt würden." Die
Majorität, sagt der Vf., welche aus diesen Wahlen hervorging, war den
Ministern nicht sowol zugethan, weil sie ihre Vergangenheit billigte, als weil
sie persönliche Vortheile von ihnen erwartete. — Als dies geschrieben wurde,
war noch nicht Guizots Theilnahme um der Korruption bekannt, welche die
Debatten vom Januar 1848 offen darlegte, dies noch zd Beste, Cubiöres,
Prasum!
Man kann nicht schlechthin' sagen, daß Guizot die Julimonarchie gestürzt,
aber beigetragen hat er dazu gewiß mehr als ein anderer; man könnte ver-
muthen, daß Lord Normanby parteiisch gegen ihn sei, weil er. bekanntlich
Z847 einen Ausfall in der Kammer gegen den Gesandten machte, indeß tel)-
renn ward die volle Genugthuung einer Apologie, und es sind Thatsachen,
welche er gegen Guizot sprechen läßt. Wir würden auch seine Aeußerung
nicht für parteiisch halten, daß es nicht die englische Allianz lvuwuw wäre wol
richtiger) gewesen, welche den Münster unpopulär machte, sondern daß viel¬
mehr seine Unpopularität einen Schatten aus jene Allianz warf. Der Mar¬
quis bemerkt ferner, daß nach Angabe von Leuten, welche Guizot genau
kennen, derselbe verhältnißmäßig unwissend in den Einzelheiten der Verwal¬
tung und über die Tragweite einer handelspolitischen oder finanziellen Frage
sei, von deren klarer Beurtheilung im Friedenszeiten doch der Werth eines
Staatsmannes wesentlich abhänge; Mr glauben dies vollkommen, und ge¬
stehen, daß die Beurtheilung vollswirthschaftlicker Fragen in seiner Biographie
Peels uns keine besondere Ehrfurcht eingeflößt hat. Wie anders steht in
dieser Beziehung sein Nebenbuhler Thiers da! Welche Kenntnisse und welche
Darstellung! Aber weit merkwürdiger ist es, vom Verfasser zwei Beispiele
hervorgehoben zu sehen, wo der Mann, welcher Englands Geschichte und
Verfassung am besten in Frankreich kennen soll, grobe Irrthümer über eng¬
lische Verhältnisse vorbringt. Gegen die Bemerkung eines Redners sagte Gui¬
zot! „Der geehrte Herr mißdeutet mich, weil er die Thatsachen nicht kennt;
wäre er besser darüber unterrichtet, so wüßte er, daß niemals eine Entscheidung
in England über eine wichtige Frage getroffen wird, als wenn sie, nachdem
sie zuvor von den Ministern discutirt ist. vor die Königin gebracht und von
ihr in Gegenwart des Gehcimcnrathes genehmigt ist." —Guizot wußte nicht,
daß die Versammlung des Geheimenrathcs mit alleiniger Ausnahme von
Dingen, welche die Berufung oder Vertagung des Parlaments betreffen, blos
Fragen der Routine und Form behandelte! — Das zweite Mal fagte er.
wahrscheinlich um sich die Möglichkeit einer Reform zu erhalten: „Alle großen
Reformen, fast alle, die in England durchgeführt sind, wurden es durch die¬
selben Männer, welche sie bis zu dem Augenblicke bekämpft, wo es ihnen
Pflicht schien, sie auszuführen." Lord Normanby traf ihn Abends in einem
Salon und griff ihn halbscherzend wegen dieser Behauptung an, da mit Aus¬
nahme von Sir Robert Peel alle Minister abgetreten, wenn sich eine Ma߬
regel, welche sie bekämpft, nothwendig erwies. Ueber Peel aber habe die
Geschichte noch nicht gerichtet, das erste Mal habe er seine Partei erbittert,
das zweite Mal sie zerstört. Dieser Schluß kam Guizot, der sich vielleicht
mit der Idee beschäftigte, den französischen Peel zu spielen, sehr unangenehm,
wie er denn überhaupt, sagt Normanby, immer sehr unwillig, oder gar nicht
den anhört, der beweisen will, daß er sich geirrt. — Solche Irrthümer konnte
der Mann vorbringen, welcher eine englische Verfassungsgeschichte geschrieben
und Botschafter in London gewesen, und niemand war in der Kammer, der
ihn zurecht wies! — solche Vorgänge Volumen, wie'der Engländer
sagt, Er wollte jedes andere qunsiconservative Ministerium unmöglich machen
und strebte mit fast kindischem Ehrgeiz nach dem Titel des Conseilpräsidenten:
daß er, obwol er selbst kein Geld nahm, dabei doch nicht wählerisch in den
Mitteln war, zeigen die Korrespondenzen der Revue Netrospective. er war in
allen Praktiken zu Hause, durch welche Anhänger gewonnen und erhalten wer¬
den. So zog er sich das zermalmende Wort von L'herbctte zu: vu 1s
dei.i'tut'6 cle 1s, i'öliAioir Kur un autrs tMu-er-v, avimt ac voll' «ni- Is ttrsg-K-e
xoliti^us Is t^rente cle ig. xi-oditü", — und konnte den Reden von Barrot,
Thiers. Remusat in, nur eine affectirte Gleichgiltigkeit und Phrasen entgegen¬
sehen. Darauf wird auch die Antwort hinauslaufen, welche er. wie es heißt,
auf die normanbyschen Memoiren geben will.
Der Marquis übergeht, wie er zugesagt, die Einzelheiten der spanischen
Heirathen, aber bemerkt doch, was später die Enthüllungen der Revue Netro¬
spective bewiesen, daß Louis Philipp hier weniger schuldig als man glaubte;
er hatte keinen vorher festgestellten Plan, sondern Guizot kam den halbgebil¬
deter Absichten des Königs zuvor und Brcsson ging über seine Jnstructionen
hinaus. Die Unterstützung des Sonderbundes, der Wasfenschmuggel für den¬
selben, wobei der Minister seine eigne Zollbehörde betrog. Krakau -— alles
das waren schlimme Schläge für eine Regierung, die auf dem Felde der aus¬
wärtigen Politik überhaupt seit 1839 keine Lorbeeren geerntet.
Zu den großen Schwierigkeiten, welche Louis Philipp sein erster Minister
schuf, kamen noch die, welche er sich selbst bereitete. Man kann nachsichtig
über seine Thronbesteigung hinweggehen und annehmen, daß die Ereignisse
auf ihn eben solchen Druck ausübten als auf die, welche ihm die Krone boten;
der Verfasser bemerkt auch, er wolle nicht darauf Gewicht legen, daß er nicht
alle großen Hoffnungen erfüllt habe, welche seine Erhebung erweckte, aber sagt,
sein Benehmen gegen jeden Staatsmann, den seine Negierung hervorgebracht
habe, sei so gewesen, daß es zuletzt keinen einzigen mehr gab, der den leisesten
Glanben an seine Aufrichtigkeit bewahrte. Das wurde ihm vor allem bei
dem letzten Versuch, ein neues Ministerium zu bilden, so verderblich; als Du-
vergier de Haurannc das Volk durch die Nachricht von dem neuen Cabinet
beruhigen wollte, sagte man ihm an mehren Barrikaden: „Sie werden sehen,
der alte Mann wird Sie betrügen, wie er jeden betrogen, der mit ihm zu
thun gehabt hat." — Persönliche Würde zeigte er nie. am wenigsten bei sei¬
ner Abdankung und Flucht. Sein Geschick bestand in der Balancirung der
verschiednen Interessen; wie niemand verstand er es, feindliche Persönlichkeiten
und Parteien sich neutralisiren zu lassen. Er wollte die Institutionen nicht
erweitern, sondern dachte die Schwierigkeiten zu überwinden, indem er seine
Minister von Zeit zu Zeit wechselte und ihren Ehrgeiz zwischen Hoffnung und Furcht
schweben ließ. Was ihm das constitutionelle System versagte, selbst zu regie¬
ren, wollte er durch seine persönliche Überlegenheit erreichen, und wollte,
hierin Wilhelm III. ähnlich, alles unvermerkt leiten. Aber grade diese Klug¬
heit schien ihn in den letzten verhängnißvollen Monaten seiner Regierung
verlassen zu haben, er war blind und hartnäckig, der Passus in der Thron¬
rede, welcher die Opposition als seine Feinde bezeichnete, rief heftige Aufregung
hervor, noch als bei schon dringender Gefahr MM gerufen ward, ein Ministe¬
rium zu bilden, bestand der König darauf, von demselben Marschall Bugeaud
auszuschließen, nur weil die Armee für seine Söhne bewahrt werden solle.
Wenige Tage vor der Revolution sagte er noch einem vornehmen Engländer,
der sich von ihm verabschieden wollte, bleiben Sie Mylord, und sehen wie
eine Revolution scheitert. —
Alle diese Umstände — Verblendung des Regenten, systematisch falsche
Politik der Minister, Corruption, eine leidenschaftliche Opposition, die nur auf
ihren Sieg bedacht war — sind auch bei andern Regierungen zusammengetroffen
und haben dieselben nicht gestürzt. Sie wurden tödtlich für eine Regierung,
welche kein Princip hatte, sondern auf einem Schaukelsystcm beruhte. Man
hat die Julirevolution gern mit der englischen Staatsumwälzung von 1688
verglichen, nichts konnte falscher sein; darum daß beide den Charakter eines
Compromisses hatten, war unter ihnen noch nicht die geringste Aehnlichkeit
vorhanden. Die englische Bewegung war religiös-aristokratisch, sie wurde im
Namen und mit dem Beifall des Volkes, aber ohne seine Betheiligung voll¬
zogen, die Julirevolution ward durch zwei sich bitter hassende Parteien, die
Bourgeoisie und Republikaner durchgeführt, erstre begann sie, letztre vollendete
sie', und wurde> wieder von der Bourgeoisie zurückgehalten ihren Sieg ganz
zu verfolgen, im Grunde ging er für sie selbst zu weit und eine leisere Er¬
schütterung, ein bloßes Weichen des Königthums wäre ihr vortheilhafter
gewesen. Diesem Zwiespalt, der alles ungewiß »rächte, stand das Neue
gegenüber. Wenn eine Monarchie mit republikanischen Institutionen etwas
logisch schwer zu Erklärendes ist, so gab doch diese Formel den genauen Aus¬
druck für die Umstünde, welche die neue Zwitterregierung ins Leben gerufen
hatten. Man versicherte der ganzen Welt seine Friedensliebe und zog die
Tricolore auf. man verkündete Ordnung in der Freiheit und ließ überall die
Marseillaise singen, man -sandte Taleyrand als einen Diplomaten alter Tradi¬
tionen nach London, während noch die Blousen mit Jakobinermützen vor den
Tuilerien schilderten!
Das Lager der Partei, welche das Julikönigthum um sich sammelte, bot
nicht weniger Gegensätze dar, als seine Thaten und die Ereignisse, die es ins
Leben riefen. Legitimisten, die mit Karl X. unzufrieden gewesen, oder deren
Ehrgeiz vom Anschluß an die neue Monarchie etwas erwartete, Reste der
Bonapartisten, die voll von Verachtung für alle constiturionellen Ideen in der
Revolution nur eine Gelegenheit einer i'<zvq,neue xour ^Virtörloo sahen, Don->
erinnre und Gelehrte, weiche im Gegentheil den Frieden wünschten, da sie
voraushaben, baß der auswärtige Krieg ein militärisches Regiment schaffen
würde, das mit den Verfassungsformen, für deren Integrität sie gekämpft, un¬
verträglich sein würde, Industrielle, welche die gegenwärtige Ohnmacht des
Königthums als eine Abschlagszahlung annahmen — alle diese Farben grup-
pirten sich um die neue Fahne. Louis Philipp besiegte die enormen Hinder¬
nisse, welche seinen Thron umgaben, durch seine Klugheit und den Beistand
einiger hervorragender Männer, unter denen vor allem Casimir Pürier und
Gf. Mole zu nennen sind. Diese Minister suchten nach außen die Traditionen
der alten Monarchie auch unter den neuen und schwankenden Verhältnissen zu
erhalten, indem sie den belgischen Aufstand beschützten und das Einschreiten
andrer Mächte gegen denselben Hinderren, die französischen Truppen besetzten
Ancona. aber dieselben Männer widerstanden der Versuchung. Belgien mittel¬
bar oder unmittelbar zu incorporiren und die Revolution in Italien oder
Polen zu beschützen, sie riefen im Gegentheil alle niedlichen Interessen der
Nation gegen die Kriegerischen Gelüste auf, sie nahmen alle Bedingungen der
repräsentativen Negierung an, aber suchten die Unerfahrenheit und den Unbe-
stand ihrer Anhänger durch den persönlichen Einfluß der Krone aufzuwiegen.
Es gelang ihnen, die neue Regierung zu halten und bis zu einem gewissen
Grade zu befestigen, aber die Elemente, aus denen sie standen, blieben hetero¬
gen. Sie suchten sie durch neue Institutionen zu verbinden und hierin grade
scheiterten sie. Wir wollen uur die beiden Mißgriffe hervorheben, welche uns
die nachtheiligsten Folgen für den Bestand der repräsentativen Negierung ge¬
habt zu haben scheinen, das Wahlgesetz und die Zusammensetzung der Pairs-
kammer.
Die weisen Vorschläge, welche Graf Montalivet für das neue Wahlgesetz
in seinem Bericht vom 2. Febr. 1831 entwickelte, wurden verworfen und ein
trauriges Compromiß zum Gesetz erhoben. Statt die Uebelstände der directen
Wahlen zu vermindern, vermehrte man sie, man glaubte liberal zu handeln,
indem man den Census für Wahlfühigkeit aus die Hälfte und den Wahl¬
census von 300 auf 200 Fr. herabsetzte, aber man schuf Wahlbezirke von
150 Wählern, so daß Lord Normcmby nach den besten Quellen angibt, die
Zahl der Wähler sei in Frankreich nur 140,000, also weniger als die Zahl,
durch welche ein Zehntel der englischen Parlamentsmitglieder in den volkrei¬
chen Districten gewählt wird. Nun interessiren sich aber diese Wähler nicht
einmal alle für die Wahlen, und ein wohlunterrichteter Pair gab an, daß die
Abgeordnetenkammer in Wirklichkeit von 40,000 Wählern dclegirt worden.
So waren die Abgeordneten in einer fast persönlichen Abhängigkeit von
denen, die durch sie ihre kleinen Privatinteressen durchsetzen wollten, die Ab¬
geordneten ihrerseits bestürmten die Minister um die Fische und Brote des
Staates für ihre Wähler. Die Regierung hatte damit eine ungeheure Macht
in Händen und war doch grade dadurch in jedem Schritt gehemmt, denn je
mehr sie gab, desto stärker wuchs die'Zahl der Begehrlichen. Sie hatte aller¬
dings viel zu geben, denn Frankreich war trotz des. repräsentativen Ucberbaus
das am strengsten bureaukratisch regierte Land, für die wenigsten Stellen
wurden, wie z. B. in Preußen, ernste Prüfungen verlangt, die Minister ver¬
gaben sie nach Willkür, die Beamten aber waren wählbar und konnten durch
gute Dienste, welche sie der Regierung thaten, steigen, die, welche noch nicht
Beamte waren, konnten es werden. Die Kammer ward so ein Feld nicht für
die Parteikämpfe, sondern für die Privatinteressen, sie ward, besonders da der
große Grundbesitz, welcher in legitimistischen Händen war, sich fern hielt, eine
Pflanzschule der Beamten, welche Carriere machen wollten. Der schärfste
Ausdruck dieses Systems war die Kammer, welche die Februarrevolution über¬
raschte, die ganze Phalanx der Beamten, stimmte trotz alledem und alledem
unerschütterlich für Guizot. aber sie hielt ihn nicht, denn man stützt sich nur
auf das, was widersteht. In einem Lande/ dein die Idee der örtlichen
Selbstregierung bis auf die letzte Spur verloren gegangen ist. hat die reprä¬
sentative Regierung, keine Wurzel, nur auf der breiten Grundlage der freien
Gemeinde- und Provinzialverfassung steht das Gebäude der Reichsverfassung
fest und sicher, Louis Philipp ward bei Seite geschoben wie ein Bureauchef,
der Maschinist wechselte, die Maschine blieb dieselbe.
Die zweite Kammer war unglücklich zusammengesetzt, man hätte ihr we¬
nigstens ein Gegengewicht in der Pairskammer geben sollen, man schaffte aber
die Erblichkeit ab und wählte den unglücklichsten Mittelweg, eine lebensläng¬
liche Pair-le. vom König ernannt, der dabei indeß doch auf gewisse Katego¬
rien beschränkt war. welche meist aus hohen Beamten bestanden. So war
auch da die Bureaukratie, es war keine Aristokratie, sondern ein napoleonischer
Senat. Es mag sein, daß unter den Umständen die Aufrechthaltung^der Erb¬
lichkeit unmöglich war. weil sich grübe der grundbesitzende Adel ganz zurück-
zog. dann hätte man lieber das Princip einer comvinirten Wahl wie in Bel¬
gien. Spanien und den Vereinigten Staaten aufstellen sollen, denn Wahl gibt
doch immer eine Art von Macht, man machte aber in Frankreich den Körper,
der das Gleichgewicht gegen die fluctuirende Beweglichkeit der zweiten Kammer
bilden sollte, zu einer Versammlung emeritirter hoher Beamten, die nicht ein
einziges Mal würdig und bedeutend eingriff. Es saßen ausgezeichnete Leute
darin, die vor ihrer Ernennung zu Pairs bedeutende individuelle Autorität
hatten, die falsche Stellung der Kammer neutralisirte ihre Gaben. Villemain,
der ihr angehörte, ohne aufzuhören ein Mann vom Geist zu sein, sagte witzig
it ^ ii. alö vrais pair» vt as« pairs Z. xiu>apluie, nous anoch, nous sommes
alö? Mils Ä p^lApImo. Die Panstammer der Restauration war gewiß weit
entfernt gerechten Ansprüchen zu genügen, aber sie hat doch ein würdigeres
Dasein geführt, als ihre Nachfolgerin in Luxemburg, die spurlos und von
niemand bedauert verschwunden ist. Wenn aber die beiden parlamentarischen
Versammlungen, welche der Ausdruck des repräsentativen Systems sind, keine
Wurzel haben, worauf soll es sich stützen; wenn das Salz dumm wird, womit
soll man salzen? —
Wir haben bei der Juliregierung vielleicht zu lange verweilt, aber es
schien uns. daß es sür deutsche Leser grade von Wichtigkeit sein müsse, den
Ursachen näher zu treten, wodurch die Regierung gefallen, welche man uns
früher so oft als Muster aufstellte, es schien uns, daß, je wärmer unsre Wünsche
sür die Entwicklung und Befestigung des repräsentativen Systems in Preußen
sind, uns um so mehr am Herzen liegen muß, am Beispiel andrer Staaten
zusehen, welche Fehler zu vermeiden sind, daß aber dem System kein erbitter¬
ter Angriff der Demokratie oder des Absolutismus mehr schaden kann als
seine eigne lügnerische Lerkehrung, der Scheinconstitutionalismus, wovon die
Iulimonarchie das Beispiel gegeben, und das die Staaten zweiten und
dritten Ranges nachahmten.
Wir werden nach dieser längern Abschweifung in einem zweiten Artikel
auf die Erlebnisse Lord Normanbys während der ersten Epoche der Republik
kommen.
Als wir im Beginn der indischen Krisis unsere Ansicht über dieses gro߬
artige und jedenfalls für die innere Entwickelung Asiens einflußreiche Ereig¬
nis; aussprachen haben wir uns weder über die Natur des Auf¬
standes, noch über dessen Folgen getäuscht, wie bisher die Ereignisse unwider-
leglich gezeigt haben. Der Aufstand, so wiesen wir nach, sei kein eigentlich
nationaler, und noch weniger ein blos militärischer, sondern aus beiderlei
Elementen entsprungen, die durch die Gewalt der Umstände in denselben
Personen vereinigt waren. Grade die schließliche Eoncentration des Aufstandes
im Königreiche Audh ist ein Beweis mehr für diese unsere Ansicht. Audh
hat in neuerer Zeit den größten Theil der Sipoyarmce Bengalens geliefert,
da es von einer besonders kräftigen und auch kriegerischen Bevölkerung be¬
wohnt wird. Audh mit dessen in neuester Zeit so vielfach genannten Haupt-
stadt Lacknau war auch ganz besonders der Sitz des reinen Brahminenthums,
aber auch wie das nördlichere Bengalen einer mohammedanischen Herrschaft
unterworfen. Bekanntlich wurde das Königreich erst unter dem vorigen
Generalgouvemeur der directen britischen Herrschaft unterworfen, und ist in
und außer dem Parlamente diese Anneration als ein ganz besonderer Beweis
britischer Begehrlichkeit und Ungerechtigkeit aufgeführt worden. Möglicher¬
weise indeß, wäre sie nicht geschehen, daß diese Unterlassung der Sündenbock
für noch ganz andere und vielleicht mehr gerechtfertigte Rede- und Schreib¬
übungen gewesen wäre. Denn wessen Gedächtniß nicht allzu kurz ist, der wird
sich noch aus den Zeiten vor dem Ausbruche des Aufstands der mannigfachen
Schilderungen jenes wüsten, von einemversoffenen europäischen Barbier geleiteten
Lebens eines indischen Sultans erinnern, die damals durch fast alle deutsche Blätter
gingen. Dieser Sultan lebte zu Lacknau und das von ihm und seiner Um^-
gebung in taumelnden Vergnügungen mißhandelte Land war Audh. Diesem
Treiben hat die englische Negierung ein Ende gemacht, wie sie ihm ein Ende
machen mußte und hätte sie es nicht gethan, wie viel tugendhafte Federn sich
dann wol gegen sie in Bewegung gesetzt hätten!
Aber diese Befreiung Audhs aus einer tausendjährigen MißHerrschaft
hat dort alles gegen die Engländer aufgebracht, was aus den bisherigen Zu¬
ständen Nutzen zog. namentlich die großen und kleinen Gutsbesitzer im Lande,
kurz alles, was man nach europäischen Begriffen Adel nennen könnte. Einen
gewissen Schutz gegen die Sultanswillkür hatten die Gingebornen zudem in
einer Art militärischer Abschließung von Dorf und Gemeinde gefunden, wie
denn überhaupt der Gemeindeverband in Indien sehr stark ist. Die Engländer
haben mehrfach ihr Erstaunen über das Zusammenhalten der von ihnen ge¬
gebenen militärischen Organisation auch nach dem Abfall zu erkennen gegeben;
bedenkt man aber diesen Zusammenhalt der Gemeinde und bringt ihn mit
dem Umstände in Verbindung, daß die einzelnen Regimenter des bengalischen
Heeres sich gewohnheitsmäßig sast allein aus denselben Dörfern recrutirten,
so verschwindet mindestens ein Theil dieser Verwunderung. Es begreift sich
daraus aber auch leicht, wie der Aufstand, nachdem ihm der Schatten des
Großmoguls genommen war, sich in Audh concentriren mußte und dort zu
einer Art nationaler Erhebung wurde, wie sie sich sonst nirgend im weiten
Indien gestaltet hat. Dennoch bleibt der Aufstand so aussichtslos als vor¬
her, tropdem oder grade weil Campbell sich aus Lacknau zurückgezogen hat.
Nachdem die Weiber und Kinder von dort befreit waren, mußte er einen bessern
Stützpunkt für seine weiteren Operationen suchen und dieser scheint vor allen
w Cawnpur gegeben zu sein, wohin schon seit Wochen aller von England
anlangende Succurs gerichtet war. Lacknau und Cawnpur zugleich besetzt
halten, hieß offenbar die militärische Kraft der Engländer schwächen, wie sich
das bei dem durch General Windham erlittenen Unfall bereits gezeigt hat.
Auch das haben wir gleich damals ausgesprochen, daß die englische
Regierung im Drange der Noth selbst sich schwerlich zu durchgreifenden Ver¬
änderungen in der Verwaltung Ostindiens entschließen würde, weil das nur
neue Desorganisationen zu den aus allen Fugen weichenden Zuständen hinzu¬
fügen heißen müßte. Das Ende der jetzigen ostindischen Verwaltung sei viel¬
mehr mit dem des Aufstandes gegeben. Es ist bekannt, daß der ostindischen
Compagnie der in nächster Parlamentssitzung bereits bevorstehende Antrag der
Regierung auf deren Beseitigung mitgetheilt worden ist, und zwar hat die
englische Presse sich ziemlich einstimmig für die gleichfalls von uns früher
schon bezeichneten Ursachen der jetzigen Mißregierung (miizrulö, wie die Eng¬
länder diesen Zustand sehr scharf benennen) ausgesprochen. Nicht die ost¬
indische Compagnie ist es, welche die Schuld der Vergangenheit trügt, aber
auch nicht die Verwaltungsbehörde der Negierung; es ist vielmehr jener Zu¬
stand einer vielfältigen Verwaltung mit nebeneinander bestehenden-Voll¬
machten, die auf das Ganze lähmend einwirkte und schließlich so viel Unheil
herbeigeführt hat. Daß Regierung und Parlament von der öffentlichen
Meinung gestützt, die alten Behörden beseitigen und dafür eine neue direct
unter der Krone stehende Verwaltung einzuführen im Stande sein werden,
kann, wie wir zeigen werden, vorläufig keinem Zweifel unterworfen sein.
Nur von zwei Seiten ist bisher ein Widerstand gegen die bevorstehenden
Reorganisationen kund gegeben worden. Einmal inmitten des Directorialhofs;
natürlich, denn wer laßt sich gern begraben? Ein Director Namens Jones
hat bei der Ankündigung der bevorstehenden Aufhebung der ostindischen Gesell¬
schaft Einspruch gegen die Maßregel gethan; sei Regierung und Parlament
doch nicht einmal im Stande gewesen, die alte Gemeindeverfassung der Lon¬
doner umzustoßen, wie viel weniger werde sie gegenüber der mächtigen osi-
indischen Gesellschaft vermögen! Aussprüche dieser Art beweisen aber nur,
wie leicht sich die Hoffnung durch angebliche Analogien täuschen läßt. Die
londoner City hat ihren alten Unrath behalten, einmal weil sich daran sehr
greifbare und allezeit gegenwärtige Interessen knüpften; sodann aber vor¬
nehmlich, weil ihr Bestehen oder ihr Aufhören noch niemals den Rang einer
nationalen Frage eingenommen hat. Wenn die alte londoner City Wider¬
stand leisten konnte, die alten Korngesetze aber trotz des Widerstands der
Aristokratie aufgehoben wurden,-liegt das vielleicht daran, weil der Lord Mayor
von London mächtiger ist als das britische Oberhaus und die vielen damit
verknüpften Interessen? Der Trostgrund des Herrn Jones wird also bei der
ungeheuren Wucht der indischen Ereignisse nicht ausreichen, es müßte denn
nachgewiesen werden, daß das jetzige indische Vcrwaltungssystem für die Ver-'
gangenhcit tadelfrei und für die Zukunft zweckentsprechend sei. Das aber
wäre denn doch ein zu gewagtes Unternehmen.
Ernsthafter ist ein zweiter Einspruch gegen die in Aussicht stehende Ma߬
regel, wie er namentlich von der Daily News ausgegangen ist. Ein unmittel¬
bar unter die Regierung gestelltes Ostindien, heißt es dort, wird die Macht
derselben durch Aemtervergebung und Gewalt über ein großes Heer außer¬
ordentlich und zwar zum Nachtheil der öffentlichen Freiheiten Englands
steigern. Man wird sich wol mit einiger Sicherheit darauf verlassen können,
daß diese Parole auch von Andern aufgenommen und daß wieder ein¬
mal gründlich bewiesen werden wird, wie fein und sicher Palmersto»
das Netz um das schon halbwegs der Unterthänigkeit verfallene England ge¬
worfen hat. Allein in Wirklichkeit geht es mit dieser Frage wie mit vielen
andern. Das Verhängnis; und die Thatsachen sind mächtiger als die Menschen.
Das alte indische Vcrwaltungssystem war grade zu dem Zweck erfunden wor¬
den, um den Einfluß der Münster auf das indische Heer und die indische Verwal¬
tung zu schwächen; man hatte die vielfach getheilte und zersplitterte Ver¬
antwortlichkeit als das beste Mittel zur Erreichung eines solchen Zweckes er¬
dacht und den Directorialhof, nachdem ihm alle wirkliche Gewalt genommen
war, noch bestehen lassen, damit er, der politisch unmächtigste Körper, das in
englischen Augen so wichtige Amt der Stellenvergebung (Mronagö) behalte.
So weit war das System klug und sein ausgesonnen. aber auf einem andern
viel gefährlichern Gebiete hatte es sich als unhaltbar bewiesen. In den bevor¬
stehenden Parlamentsdebatten werden die Anhänger des Directorialhofs die
diesem gemachten Vorwürfe ohne Zweifel mit ebenso gerechten Angriffen auf
die indische Controlbehörde erwiedern können, und diese vielleicht wieder die
Schuld aus Generalgouvemeur und andere ausführende Beamte in Ostindien
schieben. Alle werden Recht haben, eben weil das ganze System fehlerhaft
war. Will England Ostindien behalten, so kann es gar nicht anders, als auf
diesen eigentlichen Grund des Uebels eingehen, es muß ein anderes System
an die Stelle des alten setzen. Ein anderes System bedeutet aber eben die Ein¬
setzung einer in sich kräftigen und wirksamen Behörde, mag es ein Minister
oder ein Kollegium sein. Die Daily News verkennt gradezu das Zwingende
der Sachlage, wenn sie die bevorstehenden Veränderungen vom Standpunkt
einer möglichen Gefährdung der öffentlichen Freiheit Englands angreift.
Weiß sie vielleicht einen Mittelweg anzugeben? etwa die Zuweisung der Er¬
nennungen an eine nicht mit der politischen Gewalt begleitete Behörde? Als
wenn das möglich wäre, als ob daraus nicht ein steter Kampf zwischen den
beiden Theilen entspringen müßte, zum sichern Nachtheil der von ihnen ver¬
tretenen Interessen.
Es ist gewiß gut, daß das deutsche Publicum, das die ostindischen Er-
eignisse mit so großer und gewiß gerechtfertigter Theilnahme verfolgt hat,
diese für die bevorstehenden Veränderungen leitenden Gesichtspunkte sich an¬
eigne. Es mag immerhin richtig sein, daß in weiterer Folge derselben Ver¬
änderungen im englischen Staatsleben eintreten tonnen, wenn auch nicht
nothwendig eintreten müssen; das lüge aber nur eben an der Gewalt der
Thatsachen. Ein Staat, der zu Behauptung eines von ihm eroberten weit-
läufigen Gebiets aus Jahre hinaus einer Art militärischer Dictatur für das¬
selbe bedarf, kann einmal nun -nicht allein mehr den alten Weg der parla¬
mentarischen Sicherheismaßregein gehen; England muß entweder Indien aus¬
geben oder den Schutz für seine Freiheiten anderswo als bisher finden. Auch
diese Rückwirkung auf die heimischen englischen Zustände haben wir bereits
vorausgesehen. Wir zweifeln übrigens sehr, daß eine solche Sicherheit durch
irgend eine blos äußerlich angebrachte Maßregel gewährt werden kann, sie
muß vielmehr in den Menschen selbst liegen. Das übersehen die, welche auf
den Trümmern des allen England sitzend die ganze neuere Entwicklung als
eine Art Mißgeburt behandeln und dafür ein etwas unklares Ideal von Ver¬
größerung der allgemeinen Freiheit durch verminderte Gewalt des Parlaments
nicht ohne einige Neigung zur Verstärkung der Königsmacht ersonnen haben,
ein englischer Bonapartismus, welcher auf breitester demokratischer Grund,
läge die Aristokratie und die Mittelclassen umwerfen soll. Die Zeiten, die
Ansichten und die Bestrebungen sind anders geworden und darum wirken die
alten Kräfte auch anders, aber gewiß nicht schlechter. Es wird in Zukunft
Sache des Parlaments. Sache der Presse und jedes Einzelnen sein, die durch
die indischen Ereignisse gelegten Keime zu einer der bisherigen fremden Ent¬
wicklung der englischen Zustünde sich nicht übermächtig entfalten zu .lassen,
weiter läßt sich für jetzt nichts sagen. Namentlich der Presse wird hierbei
ein großer Berus zufallen, und grade in ihr sehen wir auch für die Erfüllung
desselben das geeignetste Werkzeug.
Kann das Gewerbe überhaupt eine Kunstthütigkeit entwickeln, oder bleibt
es am sichersten in den engen Schranken seiner nächsten und ursprünglichen
Bestimmung, dem ^rein Zweckmäßiger und Praktischen zu dienen, eingeschlossen?
Ein beschränkter Sinn wird auf den ersten Theil jener Frage mit einem >
entschiedenen Nein antworten, nicht weil er über die Sachlage sich klar zu
werden versucht hat. sondern weil es ihm angenehm scheint, sobald er Pro¬
ducent ist, mit dem blos Handwerklichen und leicht Erlernbaren seines Ge-
werdes mühelos und noch dazu nieist durch fremde Hände sein Brot zu ver-
dienen, insofern er Consument ist. möglichst villig zu seinen Bedürfnissen zu
gelangen. Es ist ihm gleichgiltig, daß so das Handwerk von Jahr zu Jahr
in der öffentlichen Meinung mehr und mehr sinkt, weil es auf diesem Wege
zur bloßen Hand- und Tagearbeit wird. Er denkt nicht daran, daß so der
gearbeitete Gegenstand dem Schöpfer wie dem Empfänger bedeutungslos
bleibt, weil eben nichts an demselben sich vorfindet, was außer dem augen¬
blicklichen Zweck und Bedarf ein Interesse an der Sache einflößen könnte.
Wenn der Gegenstand deshalb kein Familienstück wird, so meint man, gewinnt
der Producent, weil mehr verbraucht wird, der Consument, weil er billiger
zum Ersatz kommen kann. Und doch ist die Rechnung ohne den Wirth
gemacht; denn in demselben Maße, in welchem der bleibende Werth eines
Productes sinkt, fällt ja auch naturgemäß der Arbeitslohn, und in demselben
Maße, in welchem der Berfertiger sich Arbeitszeit daran erspart, bezahlt der
Empfänger weniger.
Bewirke wird diese gewiß billige Ausgleichung durch die alles bewältigende
Concurrenz. — Somit ist der Einwurf. daß eine gewerbliche Kunstthätigkeit nicht
möglich sei, weil sie sich nicht bezahlt, zurückgewiesen.
Etwas Anderes aber ist es, ob auch das Verlangen danach im Publi-
cum vorhanden ist. Ich glaube ja! Mit der Steigerung der Bildung steigt
selbstverständlich auch der Sinn für die bildende Kunst: das Auge lernt sehen,
gewöhnt sich an die Schönheit der Linien und die dadurch bewirkte Schön¬
heit der Formen es empfindet zuletzt sogar einen unbewußten Ekel vor allem
Gleichgültigen und Häßlichen, ob ihm dasselbe in der Natur oder dem den
natürlichen Stoff blos verarbeitenden Handwerk, oder der denselben locali-
sirenden Kunst entgegentritt.
Die von Tag zu Tag sich mehrenden Schaufenster der großen Städte, in
welchen man eben nicht blos das den praktischen Zweck, sondern mehr das
den Schönheitssinn Befriedigende und das Auge Lockende aufzustellen pflegt,
sprechen deutlich genug für das Borhandensein dieses Sinnes im gewöhnlichen
Publicum; denn wenn sich die bedeutenden^. Herstellungskosten derselben nicht
deckten, würden sie ja von selbst wieder vom Markt verschwinden. Noch mehr
für denselben zeugen die Industrieausstellungen unserer Tage, auf welchen überall
diejenigen Aussteller bekanntermaßen den meisten Beifall und Vortheil er¬
rungen haben, welche in der Formvollendung ihrer Erzeugnisse zu genügen
verstanden. Der von Jahr zu Jahr sich steigernde Sinn für das sinnige
und Formschöne äußert sich ferner lebhaft in den massenhaft erscheinenden
illustrirten Werken, deren wahren Werth freilich ein mit derartigen Dingen
noch zu wenig Vertrauter gewöhnlich unterschätzt. Die Zahl des die Kunstaus¬
stellungen besuchenden Publicums ist in der letzten Zeit in kaum erwarteter Weise
gestiegen und auch in dem öffentlichen Kunstgalericn will man dieselbe Er¬
fahrung gemacht haben. Welche bedeutende Anzahl von bildenden Künstlern
München. Düsseldorf und Berlin im Verhältniß zum Anfang dieses Jahr¬
hunderts ernähren, brauche ich wol kaum zu berühren.
Alle diese Momente habe ich nur angeführt, um zu beweisen, daß unsrer
Zeit der Sinn für formelle Schönheit selbst in den niederen Schichten der
Bevölkerung nicht fehlt, wenn derselbe auch in seinen Erzeugnissen selbst in
der höheren und reineren Kunst noch keineswegs einen vollständigen, in der
gewerblichen Kunstthätigkeit aber, mit der wir es hier zu thun haben, noch
kaum einen annähernden Ausdruck gefunden hat.
Wie sollte er aber auch! In wie weit kann der Handwerker den Schönheit-
sinn des Publicums in seinen Hervorbringungen befriedigen oder gar seinen
Kunstsinn anziehen? — Diese Einwendung ist in gewissem Maße berechtigt;
aber nur für die augenblickliche Gegenwart, für die Zeit der Stillosigkeit und
des Eklekticismus im Leben wie in der Kunst. Auch der niedere Handwerker
arbeitet in einer Zeit, in welcher die höhere Kunst Stil hat, in seiner niederen
Sphäre für dieselbe.
Der Spitz- oder Schnabelschuh des Mittelalters ist aus dem gleichen Formen¬
sinn hervorgegangen, aus welchem der Spitzbogen derselben Zeit entstanden
ist; wiederum ist der abgestumpfte und gedrückte Klumpschuh von Ende des
15. und Anfang des 16. Jahrhunderts nur ein dem gedrückten oder geschweif¬
ten Spitzbogen jener Zeit, dem s. g. Eselsrücken oder Tudorbogen ebenbürtiges
Erzeugniß. Die wunderlichen, mit geschweift ausgeschnittenen Hängclnppen
versehenen Kleider desselben Jahrhunderts, in welchen die hohen Herrn Hof¬
fahrteten, wie ein gleichzeitiger Chronist sich ausdrückt, sind in ihrer Zeich- '
mung dem willkürlichen Schnörkelwesen der gothischen Zopfzeit vollkommen
adäquat. Nicht umsonst waren die Zöpfe des 18. Jahrhunderts das Lieblings¬
muster selbst für die Backwaaren der Rococoperiode.
Stil- und Charakterlosigkeit ist der fühlbare Mangel unserer heutigen
Architektur, ja zum Theil selbst der Sculptur und Malerei; darum sind auch
die Formen unserer modernen Kleidungsstücke Stil- und charakterlos, meist ein
Erzeugniß des alten, aus dem vorigen Jahrhundert herübergeschleppten Schlen¬
drians, wählerischer Rathlosigkeit und barocker Selbstsucht.
Noch einleuchtender und verständlicher wird uns der Einfluß der Kunst
und auch hier wieder vorzugsweise der bei allen Völkern zuerst, ja bei vielen
einzig und allein entwickelten Kunst, der Architektur, aus diejenigen Gewerbe,
welche sich mit der Herstellung von innerlich hohlen Gegenständen zu beschäf¬
tigen haben. Hierher gehören die Töpferei und Tischlerei, die Glas-, Metall-
und Porzellanwaarcnfabrikation, die Wagenbauerei und viele andere theils noch
für sich, theils nur noch in Verbindung mit anderen Gewerbszweigen bestehende.
..
Wie die Baukunst selbst zerfallen ihre Producte zunächst in einen Jnnen-
und einen Außenbau. Der Innenbau dient auch bei ihnen vorzugsweise dem
alltäglichen Bedürfnisse und ist deshalb im Verhältniß zur Außenseite wenig¬
stens schmucklos und ungegliedert. Das Aeußere dagegen ist für das Auge
und den Schönheitssinn geschaffen, es will anziehen und blenden, es will uns
die Bestimmung seines Innern zwar keineswegs verhüllen, aber doch auch
grade nicht ganz unverhüllt zeigen, mit einem Wort, es will, wie in der Bau¬
kunst, vornehmlich unser sinnliches Wohlgefallen erregen.
So wie in. jedem gebildeten architektonischen Werk eine strenge Drei¬
gliederung, im Sockel, im eigentlichen Körper und in der Bedachung hervor¬
tritt, oder, nehmen wir einen speciellen Theil desselben, die Säule, im Fuß, im
Schaft und im Capital sich zeigt, so enthält auch jeder Ofen, Schub oder
Schrank diese Theilung. Noch treuer ist der Zusammenhang dieser Handwerke
mit der Architektur in der speciellen Gliederung gewahrt geblieben.
Alle die in Rede stehenden Handwerke kennen nicht nur die einzelnen
Glieder der griechischen Baukunst, sondern führen sogar größten Theiles noch
deren Benennungen bis zu dieser Stunde sort. Der gewöhnlichste Tischler
spricht vom Karnieß und weiß vermöge seines Metiers, was Wulst (Echinus),
Pfühl (Torus) Hohlkehle (Trochilus). Welle. (Kyma). Rundstab, Riemen oder
Leistchen. Platte (Plinthus oder Abalus) bedeutet, selbst die romanische Lisene
oder Lesine ist ihm nicht nur der Form, sondern sogar auch noch dem Namen
nach bekannt.
Daß wir ferner nicht nur von romanischen, gothischen Renaissance-, und
Rococogebäuden. sondern ebenso gut von derartigen Kästchen, Kelchen, Mon¬
stranzen, Siegeln, Tischen und Stühlen und anderen Dingen reden, brauche
ich kaum erst zu erwähnen. Wer sich das königliche Bibliothekgebäude zu
Berlin auch nur flüchtig betrachtet, wird im Zweifel sein, ob der Architekt
dem Tischler oder umgekehrt dieser jenem das Muster dazu abgesehen hat.
Dies Beispiel mag für die Zopfzeit genügen; von der unsrigen gilt auch für
diese der Architektur verwandten Handwerke, was ich früher schon von unsrer
Kleidertracht bemerkt habe, sie sind ohne Typus.
Bei allen diesen Handwerken spricht also ihre Verschwisterung mit der
Kunst nicht nur aus der Ornamentik, die alle Handwerke mehr oder weniger
mit derselben gemein haben, sondern sogar aus ihren Grundbedingungen:
den Grundrissen, den Aufrissen, den speciellen Gliederungen, der ganzen
Zeichnung und dem Ausbau ihrer Erzeugnisse überhaupt.
Der Leser wird uns eine nähere Darlegung dieses verwandtschaftlichen
Verhältnisses zwischen Kunst und Handwerk bei denjenigen Gewerben, welche
der höheren bildenden Kunst gleichsam in die Hände arbeiten, gern er¬
lassen. Ich rechne hierher die gewöhnliche Maurerei, Steinmetzenarbeit,
Gießerei und Malerei. Der Stammbaum derselben steht kräftig und frisch,
von dein Wurm der Zeit unangenagt und von ihren Stürmen noch unberührt,
vor den Augen der Mitwelt. Wie die Kunst aus diesen Handwerken historisch
sich nach und nach entwickelt hat. so gingen auch als sie bereits Blüten und
Früchte getragen hatte, aus diesen Wurzeln ihr stets noch neue Kräfte zu.
Darum nennt noch heut jeder Mund mit Ehrfurcht den Namen Peter Vischers
und vergißt bei ihm über dem bewunderten Künstler späterer Tage den ein¬
fachen, schlickten nürnberger Gelbgießermeister. Auch unserer Zeit fehlt es noch
nicht an verwandten Naturen; ich nenne für viele nur den einen, den wackeren
Burgschmied, den Schöpfer der Melanchtonsstatue ^u Nürnberg.
Wie diese Handwerke gleichsam vor der bildenden Kunst liegen und wie
aus ihnen und durch sie vermöge einzelner von der Natur vorzugsweise be¬
gabter Individuen das holde Dreipaar der Künste, die Architektur. Malerei
und Sculptur, sich entwickelt hat, so liegen andere Gewerbe zeitlich und ihrem
Ursprünge nach gleichsam hinter ihnen, jene Handwerke nämlich, welche sich
mit der Vervielfältigung der Erzeugnisse der höheren Kunst beschäftigen und
diese zu ihrem eigenen und anderer Nutzen in sich selbst gleichsam reproduciern
die Kupferstechern, Lithographie, Holzschneiderei, Buchdruckerei, Galvanoplastik.
Wir sind gewöhnt, die Vertreter dieser Handwerke, sobald sie in ihrer
Art Gutes leisten, mit dem Namen Künstler im uneigentlichen Sinne zu be¬
zeichne». Es liegt nichts daran, sobald mit diesem Namen kein falscher Be¬
griff verbunden und die Würde der eigentlichen Kunst dadurch nicht in den
Staub des Alltaglebcns herabgezogen wird. Ich sehe aber nicht ein, warum
es nicht besser sein soll, selbst den unsterblichen Albrecht Dürer, sobald er
sich nur damit beschäftigt, seine eigene Erfindung im Holzschnitt oder Kupfer¬
stich wiederzugeben, als Handwerker anzusehen, und den Künstler in dem
Entwurf der zu diesem Behuf nöthigen Zeichnung zu suchen, eine Auslegung,
mit welcher freilich unsere Kupferstich- und Holzschnittsammler wenig überein¬
stimmen werden.
Bittender Künstler im eigentlichen und höheren Sinn ist nur derjenige,
welcher es versteht, ein Selbstgeschaffenes, in seinem Innern erschautes Bild in
irgend einem beliebigen unorganischen Stoffe so vor die Augen der Mit- und
Nachwelt zu stellen, daß dieselben über dem auf diesem Wege entstandenen
Kunstwerk den Stoff und den Künstler vergessen und in demselben zunächst nur
die Idee seines Schöpfers erschauen und das empfinden, was den Urheber
innerlich bewegt haben muß, als ihn der erste noch von der technischen Aus¬
führung freie Gedanke seiner Schöpfung durchzitterte.
In diesem Sinne also kann keines der Handwerke Kunst sein, können es auch
jene höchsten unter denselben nicht, welche wir deshalb zuletzt ins Auge gefaßt
haben. In diesem Sinne ist vielmehr jede Kunst auch Handwerk, insofern
sie es verstehen muß, den rohen Stoff durch Bearbeitung, Gliederung und
zweckmäßige Zusammenstellung zum Träger eines körperlich gewordenen gött¬
lichen Gedankens zu machen.
Somit sind wir auf dem Punkte angelangt, auf welchem selbst die
höchsten Künste dem niedrigsten Handwerk freundschaftlich die Hand reichen,
weil es das Organ ist, durch welches sie gemeinsam ihre Zwecke dem Geist
vermittelst des sinnlichen Eindrucks auf das Auge des Beschauenden mittheilen,
nur mit dem Unterschied, daß der Beschauer bei dem Kunstwerk über der
Wirkung zunächst die technischen Mittel, durch welche sie hervorgebracht wird,
vergißt, ganz so wie der Schöpfer desselben diese Mittel erst fand, als er
das Bild im Geiste bereits empfangen hatte. Ein Kunstwerk springt demnach
keineswegs gewappnet und gegliedert wie die jungfräuliche Tochter des Zeus.
Pallas Athene, aus dem Hanpte des Erzeugers, sondern derselbe gestaltet das
innerlich erstandene Bild aus dem Embrio des Motivs, indem er es zweck¬
mäßig groß zieht, es sich Glied um Glied nach dem Vorgang der Natur auf
organischem Wege entwickeln und entfalten läßt.
Jetzt kann es uns nicht mehr zweifelhaft sein, was das Handwerk von
der Kunst zu entlehnen hat: dies sind die äußeren Mittel der Kunst, zur Er¬
reichung ihres Zweckes, die sinnvolle Gliederung- der einzelnen Theile ihrer
Erzeugnisse, die geschmackvolle Zusammenfügung der Linien zu einem har¬
monischen Ganzen, mit einem Wort: es soll dem Kunstwerk in seinem zweiten
Stadium, in seiner realen Wirklichkeit auf seinem rein irdischen Wege nach¬
zufolgen versuchen und darin so weit gehen, als seine Zwecke und seine
Mittel ihm immer erlauben. Daß dieser ihm vorgezeichnete Weg kein neu
gebahnter, sondern ein historisch schon längst betretener ist. hoffe ich. leuchtet
aus unserer bisherigen Darstellung der Sachlage ein. indem ich nachgewiesen
habe, daß die Gewerbe jeder Zeit unter dem unmittelbaren Einfluß der
künstlerischen Stilentwicklung, die stets an das Technische der Kunst gebunden
ist, stehen.
In einer Zeit wie der unsrigen jedoch soll dieser Einfluß nicht mehr ein unbe¬
wußter sein, sondern er soll in das Bewußtsein wenigstens des höheren Hand¬
werks eintreten und demselben dadurch einen neuen Schwung verleihen, soll ihm
die Ehre, welche ihm eine verkehrte Entwicklung in neuester Zeit zu entziehen
strebte, wiedergeben. Auf welchem Wege soll dies geschehen? ist die nächste Frage.
Die Antwort liegt nahe: so gut wie der Staat die Verpflichtung anerkannt
hat. Kunstakademien zu errichten und aus seine Kosten zu erhalten, muß er
auch die Nothwendigkeit zur Errichtung von Gewerbschulen in einen um¬
fassenderen und höheren Sinne anerkennen, als dies bis jetzt geschehen ist.
Schon das 17. Jahrhundert sah sich gezwungen, wenn dem gänzlichen Ver¬
fall der Kunst vorgebeugt werden sollte, Akademien zur Ausbildung der
Künstler zu schaffen, das achtzehnte Jahrhundert führte dieselben auf Staats¬
kosten in allen größeren Staaten ein. — Der erwartete Erfolg für die
Hebung der Kunst blieb indeß aus, weil man den Gedanken der Urheber dieser
Anstalten falsch ausführte, und schon diese selbst demselben eine falsche Fassung
gegeben hatten. Man bildete sich ein, vollständige Künstler erziehen und dem
Leben beim Austritt aus jenen Anstalten zurechtgeschulte Meister übergeben
zu können. Erst unser Jahrhundert sah den Irrthum ein, beseitigte die
akademische Zwangsjacke, überließ dem Künstler durch Einrichtung ein¬
zelner Ateliers, in Beziehung auf die technische Bildung sich einzelnen Meistern
anzuvertrauen und nöthigte ihn nur, im Großen und Ganzen sich die für
seine Zeit nöthige allgemeine Bildung so wie die speciellere Durchschnitts¬
bildung zu verschaffen. Der segensreiche Einfluß dieser Reorganisation liegt
in den Leistungen der Münchner und düsseldorfer Schule zu Tage.
In dieser Weise und nach diesen Grundsätzen der modernen Zeit müssen
auch die bisherigen Gewerbschulen umgeschaffen und erweitert werden, wenn
die gewerbliche Kunstthätigkeit nicht von Tag zu Tag mehr sinken und zuletzt
ganz verfallen soll. Der Staat muß deshalb dasür Sorge tragen; daß In¬
stitute entstehen, in welchen der Lehrling, der Geselle, selbst noch der junge
Meister Gelegenheit haben, die ihm unentbehrliche Bildung im Gebiet der
Tektonik, wie neuere Gelehrte (Otsticd Müller und Theodor Bischer) diesen
Zweig der gewerblichen Kunstthätigkeit genannt haben, zu erlangen.
Man richte diese nkademienartig und möglichst frei ein und gebe ihnen
als gemeinsame Grundlage, als Zwangsunterricht, wenn man will, nur das
allen höheren Gewerben und Handwerken, welche in Zukunft noch die Ehre
haben werden als solche und nicht blos als Tage- und Fabrikarbeit zu
gelten, nöthige und gemeinsame Zeichnen, wobei man sich bei den Borlagen
natürlich nach dem jedesmaligen Beruf des Einzelnen zu richten hat. Im
klebrigen lasse man dein freien Willen und dem persönlichen Interesse unter
Anleitung und Anweisung eines vernünftigen Dirigenten Raum.
Eine zu große Zersplitterung ist kaum zu fürchten; denn dem praktischen
Zeichenunterricht müßte der theoretische Theil der übrigen Lehrcurse entsprechen.
So wird fast allen hier in Betracht kommenden Handwerken die Kunde
von der Gliederung gemeinsam und unentbehrlich sein: der Maurer, der
Zimmermann, der Töpfer, der Tischler, der Drechsler brauchen und beanspruchen
sie in gleicher Weise.
Nicht weniger groß würde die Zahl der Zuhörer sür die Formenkunde
der Gefäße von den prachtvollen griechischen Gebilden dieser Art bis herab
zu den Renaissance- und Zopfformen sein. Der Porzellan-, Glas-, Thon-, Gips-,
Silber- und Goldwaarenarbeiter bedürfen derselben.
Noch bedeutender und gemeinsamer ist das Interesse fast aller nur denk-
baren Handwerke an die Ornamentenkunde geknüpft. Sie ist keinem
einzigen Handwerk un höheren Sinne entbehrlich. So groß wie der Umfang
dieser Wissenschaft ist der Zuhörerkreis derselben. Welcher Unterschied zwischen
der einfachen verstandeskiarcn Ornamentik der griechisch-römischen Kunst und
gewerblichen Kunstthätigkeit und zwischen der idealen und conventionellen der
romanischen Periode, der realen und doch streng stilisirten der Gothik! Welche
Fülle von Gedanken und Motiven müßte die Kenntniß derselben den kahlen
und platten Erzeugnissen der Gegenwart aufdrücken! Bald würde das Hand¬
werk nicht mehr genöthigt sein, die wenigen Ornamente, welche es noch an¬
wendet, nur zu stehlen oder zu entlehnen, sondern der Schöpfergeist würde'
in ihm selbst wieder rege werden und Neues zu Tage fördern. Wie wenige
Handwerker und Gewerbtreibende wissen heutzutage noch, daß das Orna¬
ment keine Schöpfung der Willkür sein darf, sondern mit dem Gegenstand
und dem Zweck desselben in einem inneren Zusammenhang stehen muß! Hier
ist Raum für die Thätigkeit eines tüchtigen und gebildeten Lehrers.
Der lepte gemeinsame mehr wissenschaftliche Zweig des Unterrichts würde
sich mit der historischen Entwicklung der Kunst und zwar vorzugs¬
weise im Hinblick auf die gewerbliche Kunstthütigkeit zu entwickeln haben.
So. um einen Zweig herauszugreifen, würde es sich bei der Darstellung der
griechisch-römischen Kunstthütigkeit weniger um die hohen Gebilde der Sculp-
tur und Architektur, sondern um die Kenntniß der Töpferei, der Gemmenkunde,
der Terrakoten, des Metallgusses, der Bedürfnisse des häuslichen Leben.s, wie
sie zahlreich in den Antiquarier aufbewahrt werden, handeln; die Kunst¬
geschichte müßte stark in die Culturgeschichte hinüberspielen. Nicht Namen,
sondern Anschauungen der Gegenstände selbst, werden hier, wie in den übrigen
Zweigen, den Haupttheil des Unterrichts ausmachen. Wer Gelegenheit ge¬
habt hat, an Dienern öffentlicher Galerien, welche meist bald mit Nachah¬
mung und Herstellung der Gegenstände, welche sie zu überwachen haben,
beginnen, den Nachahmungstrieb des Menschen zu beobachten, wird die Macht -
der Anschauung zu würdigen wissen.
Durch eigene Sammlungen, so wie durch Bemchung der öffentlichen
Sammlungen von Originalen und Copien, die fast in allen größeren Städten
sich vorfinden, wird man Gelegenheit haben, die Begierde der Zöglinge nach
eigner Anschauung zu befriedigen und, wo dies unmöglich ist, wird wenigstens
eine Sammlung guter Kupferwerke dazu Gelegenheit geben. Eine Bibliothek
kunst- und culturgeschichtlicher Werke muß dem Selbsttrieb zur Belehrung ge¬
nügen. Diese theoretische Ausbildung muß selbstverständlich mit der prak¬
tischen bei dem einzelnen Meister Hand in Hand gehen.
Wer sich auch nur etwas in den Kreisen umgesehen hat, von denen wir
reden, wird wissen, wie peinlich denselben ihre geringe Formenkunde in ihrem
eigenen Geschäft ist, und wie viel Geld dieselben unnütz an besondere Zeichner
auszugeben haben, wenn bildnerischer Schmuck oder eine elegante Form be¬
sonders verlangt wird, um zuletzt oft nach Plänen arbeiten zu müssen, die
ihnen ebensowenig zusagen wie den Bestellern, weil sie mit den Forderungen
ihres Handwerks nicht in Einklang zu bringen sind-
Der Staat hat für gewisse Gewerbe schon für einen derartigen speciellen
Unterricht Sorge getragen, andere haben sich ihn durch eigene zu diesem
Zweck errichtete Institute zu verschaffen gesucht, warum steht man an. allen
Handwerken insgesammt diesen Vortheil zuzugestehen, da voraussichtlich der
Nutzen für die Allgemeinheit ein bedeutender sein wird? Hebung der gewerb¬
lichen Industrie ist die Losung unserer Zeit geworden, möge er es bleiben, nur
mit dem Unterschied, daß man in Zukunft nicht nur dem fabrikmäßigen Theil
derselben seine besondere Obhut zuwende, sondern auch den Theilen, welche
ihrem Untergang näher und näher kommen, wenn man sie dem alten Schien»
drian nicht bald entreiß?. Statt an eine Wiederbelebung des veralteten und
verrotteten Zunftwesens denke man an eine Umgestaltung der Gewerbe zu
gewerblicher Kunstthätigkeit und sie werden dadurch innerlich und äußerlich
Was bei den politischen Verbrechen, von denen wieder ein neues den ge¬
rechten Abscheu Europas hervorgerufen hat, den peinlichsten Eindruck macht, ist der
Umstand, daß es noch immer eine Classe von Irregeleiteter gibt, die etwas Heroisches
oder wol gar Tugendhaftes darin sehn, Missethäter der schlimmsten Art gibt es bei
uns in derselben Zahl, wie es deren zu allen Zeiten gegeben hat, aber in diesen
untergeordneten Regionen des Lasters weiß doch jeder, daß er sündigt, während in
der Politik der Wahn, der im 16, und 17. Jahrhundert der Kirche vorbehalten
blieb, daß der Zweck die Mittel heiligt, noch immer eine Menge unreifer Köpfe be¬
hängt. Der religiöse Fanatismus gab Element und Ravaillac die verruchten Dolche
in die Hand, der politische Fanatismus scheint in unserer Zeit den religiösen ersetzt
zu haben, und die Menge verabschenungswürdiger Mordversuche, die seit einem
Menschenalter in Paris vorgekommen sind, kann uns wol über die Festigkeit unserer
sittlichen Bildung in Zweifel setzen.
In der Regel hat man bei der Beurtheilung dieser Attentate einen wichtigen
Umstand übersehn. Fast immer ist der politische Zweck nur das Aushängeschild für
eine wilde verbrecherische Natur, um die bösen Gelüste des Herzens damit zu be¬
schönigen. Der wahre Inhalt der That ist nichts Anderes als was in den gemein¬
sten Verbrechen die Seele schlechter Menschen bestimmt; die Farbe erhält sie von dem
Vorurtheil. gewissermaßen von der Mode der Zeit. Die Predigten der Jesuiten
Zmo'/l^'l^u?tnczknuozttz^n?^ >s ^ckitZ-u/l. ^Il>et2S'nu
sagten dem 16. und 17. Jahrhundert, wo ein verwildertes Gemüth seine schlechten
Neigungen zu befriedigen habe, jetzt thun die republikanischen und socialistischen
Brandschristen dieselben Dienste. Neues ist zwar, se, viel wir wissen, in den letzten
Jahren der Art nicht gedruckt worden, aber die alten Katechismen sind noch immer
vorhanden, und die geschäftigen Agenten des Verbrechens, Mazzini an der Spitze,
sorgen dafür, sie immer wieder von Neuem in Erinnerung'zu bringen.
Wir kommen hier auf einen sehr bedenklichen Punkt, auf die Frage, wie weit
die extreme Partei sür die individuelle Unthat, die aus ihrer Mitte hervorgeht,
moralisch verantwortlich zu machen ist. Die Geschichte hat keinen Anstand ge¬
nommen, die moralische, freilich nicht die juristische Mitschuld der Jesuiten an den
Thaten Elements und Navaillacs auszusprechen, sie hat damit nicht sagen wollen,
daß der Orden direct seine Hand im Spiel gehabt, daß alle Mitglieder desselben
einer verbrecherischen That fähig gewesen seien, aber sie hat den Geist des Ordens
beschuldigt. Wer wollte die europäische Emigration, die sich in London versammelt
hat, in ihrer Gesammtheit mit den Unwürdigen in eine Classe werfen, die unter
andern Umständen vielleicht auf der Landstraße geraubt hätten, und die sich jetzt
darauf legen, auf Könige zu schieße«. In den wilden Zeiten von 1848 und
1349 war es zuweilen ein zufälliges Unglück, bei irgend einer neuen politischen
Entwicklung dem Gesetz zu verfallen, und aus dem Vaterland weichen zu müssen,
ja es waren damals nicht die Schlechtesten, die den Muth hatten, im offene» Kampf
für die Sache einzutreten, welche die Andern nur Predigren. Aber man hat ein
fast untrügliches Kriterium dafür, wie weit die Schuld in den Umständen, wie weit
sie in der Persönlichkeit lag, nämlich das Verhalten nach der Verbannung. Die
tüchtigen Männer, welche eine vorübergehende unglückliche Verblendung in den
Strudel der Ereignisse gerissen hatte, fanden nach der Entscheidung die Kraft der
Resignation, sie ^haben sich bemüht, im Ausland auf ehrliche Weise ihr Brot zu
verdienen und durch Erfüllung der gewöhnlichen Pflichten des Tags zu zeigen, daß
sie nicht im leeren Müßiggang auf die vcrhüngnißvollen Umstände harren durften,
um dem Leben gegenüber das Recht der Persönlichkeit geltend zu machen. Mit
einigem Stolz können wir sagen, daß die Mehrzahl der deutschen Auswanderer zu
dieser Elassc gehört; wir gründen darauf die Hoffnung, daß unsere Regierungen bei
der Fortdauer der friedlichen Entwicklung sich recht bald in der Lage finden wer¬
den, durch die Vergangenheit einen dicken Strich zu ziehen, und Kräfte, die theils
im Gefängniß, theils in'der Verbannung verloren gehn, dem Vaterland wiederzu¬
geben. Wir sind weit von der Ansicht entfernt, daß politische Verbrechen nicht in
die Classe der wirklichen Verbrechen gehören, aber es ist ein Unterschied zwischen
denen, welche in Zeiten allgemeiner Aufregung, wo bei dem vorübergehenden Auf¬
hören aller obrigkeitlichen Gewalt jeder Einzelne gewissermaßen die Verpflichtung
hat, Partei zu nehmen und sür seine Partei mit Gut und Blut einzustehn- — es
ist ein himmelweiter Unterschied zwischen denen, die unter solchen Umständen sich
auf die falsche Seite stellen, und denen, die aus der politischen Agitation das Ge-'
Schaft ihres Lehms machen.
Leider ist die Zahl der letzteren noch immer groß, und Mazzini und seines
Gleichen werden in der Geschichte mit einem ernsten Brandmal bezeichnet werden,
weil sie auf eine raffinirte Weise eine Menge von Personen dazu verführt haben,
innerhalb des wirklichen Lebens ein Traumleben zu führen, wo alle Begriffe des
Rechts, alle Ideen zweckmäßigen Handelns sich auf den Kopf stellen. Leider spukt
in den Köpfen der Menge noch immer so viel Romantik, daß sie an diesen un¬
heimlichen Erscheinungen ein gewisses Interesse nimmt. Die nächtlichen Wanderungen
dieses consequentesten aller Demagogen, seine fortwährenden Verkleidungen und sein
ganzes Theatcrcostnm erinnern an W, Scott oder an Rinaldo Rinaldini, und nun
die schöne Idee der Freiheit Italiens! das Alles hat vielen Leuten in Bezug auf
dies merkwürdige Individuum den Kopf verdreht. Aber abgesehen davon, daß die
Mittel, die er anwendet, im ärgsten Sinn machiavellistisch und verwerflich sind,
kann man ohne Uebertreibung behaupten, daß niemand auf die wahre Entwicklung
Italiens schädlicher eingewirkt hat als Mazzini. Man male sich die Existenz dieser
Verschwörer ans, die ihrem Zweck gegenüber alle andern Pflichten und Geschäfte
des Lebens für gleichgiltig halten, die lire Handlungen nach den Gesehen eines
Romans einrichten und in ihrem kläglichen gcschüft.igcn Müßiggang alle Begriffe
eines wahrhaft nationalen Lebens, einer vernünftigen Staatseinrichtung verlieren.
Wenn eine scheinbare Gährung eintritt, verführt Mazzini aus seiner sichern Ver¬
borgenheit seine leichtgläubigen Landsleute zu irgend einem unsinnigen Unternehme»,
und wenn gar keine Aussicht auf eine Eineute sich darbietet, wie nahe liegt diesen
Abenteurern die Idee, durch einen Versuch ihrer Pflicht zu genügen, bei dem es nur
auf eine sichere, geübte Hand und allenfalls ans die Fähigkeit ankommt, ein werth-
» »^>'>^''it^.. - .ljHiioy amM ni »5 ,»!»it»i(p)»M'2!- »ig loin oidmvÄ'er;?o<n d> sj
loses Leben wegzuwerfen.°°
-.„.> in r .'.'>M.,it,tUUllZ»<»'A.M
Selbst wenn man von der Verworfenheit absieht, die in jedem Morde liegt,
von der doppelten Verworfenheit, das Leben einer Menge von Unschuldigen muss
Spiel zu setzen, so muß man über die Verblendung erschrecke», die zu einem un¬
klar gedachten Zweck ein unsinniges Mittel wühlt. Was i» aller Welt hat das
Leben des Kaiser Napolcv» mit der Freiheit und Unabhängigkeit Italiens zu
schaffen? Wenn das Verbrechen wirklich gelingt, so wird entweder durch entschlossene
Generale und durch die Anhänglichkeit des Militärs das Kaiserreich erhalten und
somit nichts geändert, oder es tritt in Frankreich für den Augenblick eine republi¬
kanische Anarchie ein, die es nach außenhin wehrlos macht. Alle wahren Freunde
Italiens sollten für das Leben Napoleons täglich Gebete anstimmen, denn er ist
doch der Einzige, der in Italien den Oestreichern die Wage hält, und somit den
Italienern Gelegenheit gibt, was an realer Kraft in ihnen ist, ungestört zu ent¬
wickeln.
Aber grade diese seltsame Verblendung veranlaßt uns, die Kehrseite der Medaille
zu betrachten. Daß der Kaiser Napoleon, voll von dem Bewußtsein eines uner¬
hörten Geschicks, sich für den Mann hält, an dessen Leben der Friede Europas
hängt, finden wir sehr begreiflich: — auch Louis Philipp glaubte dasselbe. Aber
von seinen Anhängern ist es sehr unbesonnen, stets auf diese Idee hinzuweisen,
denn grade dieser Umstand ist es, der die Hand der Meuchelmörder, der Feinde des
Friedens gegen ihn waffnet. Es ist in diesen Tagen wieder viel ungesunde Speichel¬
leckerei zum Vorschein gekommen, und man wird nicht blos im Allgemeinen, son¬
dern durch bestimmte einzelne Züge an die Geschichten erinnert, welche Tacitus be¬
richtet. Auch dies Mal wird wieder von einem Wunder, von einem sichtbaren Ein¬
greifen der Vorsehung berichtet. Uns beschleicht bei solchen Versicherungen immer
ein unheimliches Gefühl. Es steht geschrieben- du sonst den Namen Gottes nicht
unnützlich führen, denn der Herr wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen
mißbraucht! Wir wissen, daß die Hand der Vorsehung in allem waltet, daß sie für
die Sperlinge auf dem Dache, für die Lilien auf dem Felde sorgt, daß sie-sich aber
grade in dem bestimmten Fall durch ein sichtbares Wunder geltend macht, zu dieser
Behauptung könnte nur eine specielle Offenbarung berechtigen.
Aber dieser asiatische Stil hat sich bei sämmtlichen Höfen so eingebürgert, daß
die Franzosen nichts Besonderes voraus haben. Schlimmer ist eil.e andere Art der
Schmeichelei. Tacitus erwähnt als die schlimmste Art, sich dem Kaiser gesüllig zu
machen, den scheinbar heftigen Tadel, den man ihm wegen seiner Milde ausspricht.
Das hat sich hier wiederholt. Man hat dem Kaiser ziemlich lebhafte Vorwürfe
gemacht, man hat sogar angedeutet, daß nur die Schicklichkeit verhindere, noch
stärkere Ausdrücke zu gebrauchen. Der Kaiser hat in der That versprochen, ins-
künstigc strenger zu sein.
Zunächst gilt diese Strenge dem freien Ausdruck des Willens in den Wahl¬
versammlungen. Bekanntlich stützt sich das Kaiserthum auf die Volkssouveränetät,
und da dem Volkswillen jeder andere in beschränkten Monarchien vorkommende Aus¬
druck abgeschnitten ist, so war seine einzige giltige Form die Abstimmung in den
Urversammlnngcn. Auch diese'Form wird jetzt untersagt, wenn sie sich nicht inner¬
halb der vom Kaiserthum aufgestellten Principien bewegt. So weit haben wir es
in Deutschland denn doch noch nicht gebracht.
Zweitens trifft die Strenge die Presse. Man wird schwerlich behaupten,, daß
ihr bisher Zügellosigkeit verstattet sei. Inzwischen kamen doch Meinungsäußerungen
vor, wenn auch selten, die mit der Ansicht des Hoff collidirten. Das wird jetzt
untersagt, und zunächst werden die constitutionellen Blätter verboten. Nun wollen
wir nicht untersuchen, ob im Allgemeinen die Existenz des Kaiserreichs mit der Exi¬
stenz constitutioneller Ansichten in einem Theil des Volks unvereinbar sei: aus alle
Fälle ist es unmöglich, das Mittelglied zu entdecken, welches von dem jetzt began¬
genen Verbrechen auf solche Maßregeln sührt. Man mag der constitutionellen Partei
alles Schlimme nachsagen, von einem weiß sie sich rein - sie hat nie den Mord be¬
schönigt, aus ihrer Reihe ist nie, so lange sie in der Geschichte besteht, ein Mord¬
versuch hervorgegangen.
Ob auch nach einer dritten Seite hin dem stürmischen Andrang „treuer Die¬
ner" wird gewillfahrt werden, ob man England veranlassen wird, seine Gesetze
behufs einer strengeren Aufsicht der Emigration zu ändern, steht noch dahin. Es
ist nicht abzuleugnen, daß das britische Asyl für die benachbarten Contincntal-
staatcn ein sehr unbequemer Umstand ist. Indessen hat man schon mit Recht von
allen Seiten darauf aufmerksam gemacht, daß die in so großem Maßstabe aus¬
gebildete französische Polizei, von der 28 Mitglieder bei dem Attentat verunglückt
sind, doch auch nicht genügt hat, das Verbrechen zu verhüten; daß es an italieni¬
schen Emigranten, die insgeheim gegen Oestreich conspiriren. in Frankreich nicht
fehlt, und daß daher die Vorwürfe gegen England keinen rechten Sinn haben. Zu
bedenken scheint noch, daß grade das Kaiserreich in der Lage sein möchte, über solche
Kollisionen milder zu denken. Das Verhalten der Eidgenossen nach dem Tag von
Straßburg, der Zug nach Boulogne, die Aufnahme des Gefangenen von Ham
bei der englischen Aristokratie — das alles sind doch Dinge, die sich nicht so leicht
aus dem Gedächtniß wischen,.
Noch ein Wort zum Schluß. W,ir sind der Entwicklung des Kaiserreichs mit
ununterbrochener Aufmerksamkeit gefolgt, wir haben die feste Ueberzeugung, daß
nicht blos im Interesse Frankreichs, sondern auch im Interesse Europas die Aufrecht-
haltung der napoleonischen Dynastie das Wünschenswerteste ist. Wir halten es
für möglich, daß das Kaiserreich allmälig seinen Ursprung vergessen macht, daß es
für die politische Bildung und für die wahren Bedürfnisse Frankreichs allmälig An- >
knüpsungspunktc findet. Jede neue Revolution, gleich viel ob orlcanistisch. oder
legitimistisch, oder republikanisch, würde die Zustände von Neuem in Verwirrung
setzen, würde eine neue Eroberung Frankreichs, die Herrschaft einer neuen Classe
constituiren. Der Kaiser hat bisher seine populäre Dictatur mit Geist, Geschick
und Entschlossenheit geführt, aber jede Dictatur ist nur als vorübergehender Zustand
denkbar, und zur Anknüpfung an die regelmäßigen, durch Sitten und Gesetze
firirten.Einrichtungen müßte doch einmal ein Anfang gemacht werden. Jede Ma߬
regel, welche diesen Anfang erschwert und weiter hinausschiebt, würde unsere Hoff¬
nung auf eine naturgemäße Entwicklung Frankreichs, vermindern.
.'-..>...,,«-..
— Eduard Dullcrs Vater,
ländische Geschichte von der ältesten Zeit bis zur Gegenwart, fortgesetzt von
Karl Hagen (Frankfurt a. M., Meidinger Sohn» bat mit dem 5. Bd. ihren Ab¬
schluß gesunden, ein sehr lesbares und zweckmäßiges Handbuch, wenn es auch keinen
Anspruch darauf macht, eine Arbeit aus den Quellen zu sein. — Von dem Kloster-
leben Karls V. von Stirling, das wir bereits früher besprochen haben, ist eine
neue Ausgabe erschienen, übersetzt von Lindau, unter Jugrundlegung der dritten
Auflage des englischen Originals (Dresden, Kuntze). Sie enthält einige nicht un¬
wichtige Zusätze, nach der von Bakhuizen mitgetheilten Schrift i'ötiÄitv als
(Zdarlss-tzuint, xar in> roli^ioiix <!« I'orclre as Le. .leromo ^ Lüste und nach
Migncts Aufsätzen im Journal des Savants. Bekanntlich hat sich durch diese Ur¬
kunden herausgestellt, daß Karl V. in seiner klösterlichen Einsamkeit immer tiefer in
Bigotterie versank und seinem Sohn über die Verfolgung der Ketzer die blutigsten
Rathschläge ertheilte. - Dieselbe Zeit behandelt ein Werk, auf das wir hier nur
vorläufig aufmerksam machen, indem wir uns vorbehalten, nach der Vollendung
desselben gründlicher darauf einzngehein Der Abfall der Niederlande und die
Entstehung des holländischen Freistaats, aus dem Englischen des John Lothrop
Motley. f. Bd. (Dresden, Kuntze). Schon vor dem 'Erscheinen dieser Schrift
(1856) war die gelehrte Welt durch die Empfehlung Prcscotts. der auf die Arbeit
seines gelehrten und geistvollen Landsmanns hinwies, darauf aufmerksam gemacht
worden; Studium und künstlerische Darstellung verdienen ein sehr großes Interesse.
Hier beschränken wir uns darauf, das große Verdienst des Uebersetzers hervorzu¬
heben; es ist eine wahre Freude, inmitten der gewöhnlichen Manufacturarbeit einmal
einen geschmackvollen Uebersetzer anzutreffen, dem es mit seiner Aufgabe ernst ist. —
Ueber das Schicksal des Don Carlos finden wir interessante Notizen in einem Bucli,
wo man es am wenigsten erwarten sollte: Aus vier Jahrhunderten. Mitthei¬
lungen aus dem Hauptstaatsarchiv zu Dresden, vom Director desselben, Ministerial-
rath v. Weber 1. Bd. (Leipzig, Ta'uchnih». Im 16. Jahrh., wo es noch keine
regelmäßig erscheinenden gedruckten Zeitungen gab, wo stehende Gesandtschaften,
deren Depeschen die Fürsten von mehr oder minder wichtigen Ereignissen in Kennt¬
niß hätten setzen können, nur ausnahmsweise stattfanden, mußten sich die Fürsten
nach andern Hilfsmitteln umsehen. Sie hielten .sich an verschiedenen Orten Korre¬
spondenten: wir finden darunter Leute in den mannigfachsten Lebensstellungen;
Kaufleute, Offiziere, Gelehrte, selbst ein Studiosus kommt unter denen vor, welche
dem Kurfürst August von Sachsen, in dessen Regierungszeit der Tod des Znfantcn
fällt, Mittheilungen sendeten. Viele dieser ,.Zeitungen" sind anonym, was vielleicht
die Sicherheit des Absenders erforderte. Von dem Schillerschen Don Carlos bleibt
in diesen Relationen freilich nicht viel übrig. — Aus den übrigen Ackerstücken heben
wir hervor: Ueber die Einnahme von Sigeth 1560, den Mord der Camnrgo im
Mailündischen 162», das Schloß Tetschen während des dreißigjährigen Krieges, und
eine Menge von Curivsitütcn, die sich namentlich auf die Culturzustände des 18. Jahr¬
hunderts beziehn. Der Beitrag zur Geschichte der 'Hcrenproccsse ist nicht unbedeutend.
Wir behalten uns vor, Einzelnes mitzutheilen. —
Von Schreibers Geschichte der Stadt und Universität Freiburg im Breis-
gau (Freiburg, Wnnglcr), über die wir bereits einen ausführlichen Bericht gegeben,
ist eine neue Lieferung erschienen. — Aus der ,,Zeitung für Stadt und Land"
(Altenburg, Pierer) ist eine interessante kleine Monographie abgedruckt: Ereignisse im
Herzogthum Sachsen: Altenburg während des Kricgsjahrs 1757. — Den Liebhabern
vaterländischer Alterthümer empfiehlt sich die Schrift: die römischen Stationsorte und
Straßen zwischen Colonia Agrippina und Burginatinm, nebst einem Excurs über
Spuren römischer Niederlassungen und Straßen, wie über germanische Alterthümer
zwischen Rhein und Maas, vom Rector Rein (Crefeld. Köhler.) —
Mit großem Vergnügen verfolgen wir die Arbeiten der Schweizer an ihrer
vaterländischen Geschichte. An der Staats- und Rechtsgeschichte der schwei¬
zerischen Demokratien vom Gerichtspräsidenten Blumcr in Glarus, wovon
soeben (Se. Gallen, Zollikofer) des zweiten Theils (seit 1531) erster Band erschienen
ist, rühmt R. Mohl nicht blos die Gelehrsamkeit und den unermüdlichen Fleiß des
Verfassers, welcher neben den gedruckten Quellen und Hilfsmitteln alle einschlägigen
Archive durchforscht hat, sondern auch die wissenschaftliche juristische Durchbildung und
die klare Auffassung desselben. Die behandelten Cantone sind Uri, Schwyz, Unterwalden,
Glarus, Zug und Appenzell. — In demselben Verlag erscheint das Schweizerische
Staatsrecht in drei Büchern, dargestellt von Simon Kaiser, Director der solo-
thurnischen Bank. Der bisher erschienene 1. Bd. behandelt die individuellen Rechte
(die Persönlichkeit, die Gleichheit, das Eigenthum, die Presse, das Vereinsrecht, das
Niederlassungsrecht, Garantie der individuellen Rechte.) —^ Ein sehr cmpfchlcnswcrthcs
Handbuch für das größere Publicum ist: die Schweiz in ihren bürgerlichen und
politischen Zuständen, ihren finanziellen, militärischen, Gewcrbs- und Handclsverhült-
nissen. (Zürich, Schabclitz). Wie wir hören, ist Heinrich Simon der Verfasser.
Es spricht sich eine sehr gesunde und unbefangene Anschauung der factischen Zu¬
stände darin aus, und wenn sie in etwas gar zu Hellem Licht erscheinen, so
mag eine gerechte Dankbarkeit darin erkannt werden— eine Eigenschaft, welche die
deutschen Flüchtlinge der Schweiz gegenüber 'nicht immer entwickelt haben.
Ueber die große Angelegenheit des Tages gibt Auskunft die Geschichte von
Indien, nach dem Englischen des Thomas Keigthley übersetzt und bis auf die
neueste Zeit fortgeführt von Z. Scybt, 2 B, (Leipzig, Lork.) -- Das Buch beginnt
nach einer kurzen Einleitung mit dem Reich der Mongolen in Indien; die erste
Hülste umfaßt die Zeit bis zum Tod des Lord Clive, am umständlichsten sind glsv
die Begebenheiten seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts behandelt, wo in der
That die riesenhafte» Dimensionen des britischen Reichs sich erst allmülig vorbereiten.
Die Darstellung zeichnet sich dnrch Lebhaftigkeit, übersichtliche Gruppirung und ein
verständiges Urtheil aus. Der Uebersetzer hat die Erzählung bis zur Einverleibung
von Orte fortgeführt — ein Unternehmen, das sich doch allmülig als ein verfehltes
herausstellt, soviel scheinbare Gründe man anch bisher dafür anzugeben wußte.
Wir haben vor einiger Zeit die Biographie Goethes von Lcwes besprochen;
seitdem ist eine neue erschienen, die in Bezug auf gründliche Kritik der Thatsachen
mit allen frühern wetteifern kann. Sie steht an einem Ort, der, wie es scheint,
sich nur zufällig für sie ergeben hat, in Gödcckes Grundriß der Geschichte
der deutschen Diesen n g, zweite Hälfte, 3. Abth. (Hannover Ehlcrmann). Offenbar
hatte der Verfasser bei diesem Grundriß zunächst hauptsächlich eine bibliographische,
chronologisch geordnete Uebersicht im Auge; über die Zweckmäßigkeit dieses Lehrbuchs,
das sich durch breite und tiefe Forschungen auszeichnet, köunen wir erst urtheilen,
wenn mit dem Schluß des Werks die Sorge für die Bequemlichkeit der Leser her¬
vortreten wird. Wenn aber diese ausführliche Lebensbeschreibung Goethes nicht in
den engen Nahmen gehört, so können wir sie nur als eine dankenswerthe Zugabe
begrüßen; sie ist vortrefflich, und nicht blos in Bezug auf das Factische. Das Ur¬
theil versteckt sich eher, als daß es hervortritt, aber es ist oft neu und kühn, zu¬
weilen sogar sehr schneidend, in den meisten Fällen kann man ihm beitreten. Dem
Freunde Goethes wird durch dieses Handbuch viel unnütze Mühe und das Studium
weitschweifiger Commentare erspart. Eine Ausstellung haben wir zu machen! der
Verfasser gibt, und zwar mit Recht so viel als möglich die Worte seiner Quellen,
aber er sollte stets citiren; die meisten Stellen sind zwar bekannt, aber bei mancher
weiß man doch nicht gleich, wo sie hingehört, und darauf kommt zuweilen das
Meiste an. — Bei seinen bibliographischen Notizen erwähnt der Verfasser mit ge¬
rechter Dankbarkeit der Gvcthcbibliothek von Salomon Hirzel, auf die er sich
hauptsächlich stützt- Hirzel hat, ohne viel von sich reden zu machen, mit Ansäglichcr
Mühe und der aufopfernden Ausdauer einer Lcbcnsncigung manche von den Quellen
gradezu entdeckt, auf die man sich jetzt freilich leicht beziehen kann.—
Lebende Bilder aus Amerika. Von Theodor Griesinger. Stuttgart,
Verlag vou W. Nitzschkc. 1858. — Der Verfasser hat „über das Leben in Ame¬
rika, besonders über das Leben und Treiben der Deutschen in Amerika noch nichts
Gedrucktes finden können" und will diesem Mangel abhelfen. Er thut dies mit
starker Hervorhebung der Schattenseite, die oft in Uebertreibung ausartet. Vieles
scheint/Übersetzung oder Ueberarbeitung zu sein, wenigstens entsinnen wir uns,
ähnliche Darstellungen des amerikanischen Lebens in englischer Sprache gesellen zu
haben, auch geht durch das Ganze der etwas forcirte Humor amerikanischer Feuille-
tonisten hindurch. Mit besonderer Vorliebe behandelt der Verfasser schmuzige
Dinge, und er scheint in diesem Gebiete fleißige Studien gemacht zu haben. Daß
es in Neuyork und andern großen Städten Amerikas viel Liederlichkeit gibt, wird
ihm kein Kenner der Verhältnisse bestreiten, wozu dies aber hier so ausführlich ge¬
schildert wird, begreift man nicht. Der Verfasser kann doch nicht meinen, daß
diese Liederlichkeit in Amerika allein in diesem Grade vorkomme. Er kann auch
nicht der Ansicht sein, daß sie hier eine von der europäischen verschiedene Art
Liederlichkeit sei. Hätte der Verfasser sein Buch als Caricaturen aus Amerika be¬
zeichnet, so möchte es mit Ausnahme des rohen Stiles zu loben sein.
»tnD in4 ,1i,W AMlmitMmd ,«n tuo. -»est'-in .n«,<>'k»!w!L >!-.->!,.-n-,>)!:«,?'
»mundi»!^, lUj ltthlilN>so^^ 7Mj ZÜMftliiilliÄ ^mit' zH^tH Hs) i g >i '' ''Altl'l
Zu München wird eine allgemeine Kunstausstellung vorbereitet, zu der ein Co¬
mite, an dessen Spitze Kaulbach steht, in'einem gedruckten Programm einladet. Wir
geben im Folgenden die Hauptpunkte desselben- .,Die Akademie der Künste in Mün¬
chen hat beschlossen, die Feier ihres funfzigjährigen Bestehens dadurch auf eine cha¬
rakteristische Weise zu begehen, daß sie ein Zeugniß ihres Wirkens ablege durch die
Vereinigung der bedeutendsten Leistungen ihrer Mitglieder und Schüler während der'
Periode ihrer Dauer; die Künstlcrvcrscunmlung in Bingen hatte eine allgemeine
deutsche Kunstausstellung in Aussicht genommen; es ward in Stuttgart eine Ver¬
bindung beider Plane zu einem gemeinsamen Werke erzielt, von dem wir hoffen,
daß es für die Ehre des deutschen Namens und für das Gedeihen der Kunst ein
bedeutendes sein werde: es soll im Sommer 1858 in München eine allgemeine
und historische deutsche Kunstausstellung veranstaltet werden, die so weit möglich
das Beste zusammenbringe, was seit Ecnstens im Vaterlande geschaffen worden, da¬
mit das gemeinsame Wesen, der Entwicklungsgang und der Zusammenhang der gegen¬
wärtigen Kunst mit den ihr vorhergehenden Bestrebungen erfaßt und eine Würdigung
beider, eine anschauliche Erkenntniß unserer Eigenthümlichkeit und unserer Aufgabe
erleichtert werde. Die Absicht kann nur erreicht werden, wenn alle Kreise des Vater¬
landes wetteifern, dies nationale Unternehmen zu fördern. Durch seine monumen¬
talen Werke wie durch seine Kunstsammlungen wird München das Bild vervoll¬
ständigen, das wir durch die Vereinigung so vieler und so weit zerstreuter Kunst-
gcgensiäncc hervorbringen möchten, damit zum allgemeinen Bewußtsein komme, wie
Deutschland siegreich mit den Nachbarstaaten sich messen kann, wenn es die Früchte
seines Schaffens zusammenträgt, und nicht umsonst glauben wir den Patriotismus
der Fürsten wie des Volkes aufzurufen, sich des Besitzes der hierhergehörigen Werke
für eine Zeitlang zu entäußern, und durch dies Opfer zum Wohl des Ganzen eine
Ausstellung möglich zu machen, die den Künstlern förderlich sein und durch den
Genuß, welchen sie dem Schönheitssinne bietet, einen veredelnden Einfluß auf die
...^,
Bildung des Volkes üben wird, Haben in Frankreich und England die Besitzer der
Bilder und Statuen mit den Künstlern gewetteifert. um das Herrlichste und Ge¬
lungenste jeder Art und jedes Meisters zu einer Gcsammtanschauung zu vereinigen,
so vertrauen wir dem deutschen Geiste, daß ein ähnliches und ihm eigenthümliches
Werk gleichfalls gelingen werde, und legen es hiermit allen denen ans Herz, welchen
die Liebe zur Kunst, der Ruhm des Vaterlandes, die Erhebung des Volksgemüthcs
theuer und werth sind.
Die deutsche allgemeine Kunstausstellung beginnt den 15, Juli, endigt den
15. October 1858 und umfaßt, Gemälde, Cartons, Zeichnungen, plastische Arbeiten,
architektonische Entwürfe, Kupferstiche, Lithographien, Photographien (insoweit diese
zur Ergänzung der kunstgeschichtlichen Seite der Ausstellung mitwirken können). Nur
Werke deutscher Künstler d. h. solcher, welche ihre künstlerische Ausbildung ausdeutschen
Kunstschulen empfangen haben, oder sonst thatsächlich solchen Schulen angehören,
werden aufgenommen. Nicht nur die Werke lebender Künstler werden aufgenommen,
sondern auch solche Verstorbener, welche auf eine charakteristische Weise den Ent¬
wicklungsgang der deutschen Kunst bezeichnen, und zwar soll dieser von dem Beginne
der künstlerischen Thätigkeit der A. Carstens, Schick und Wächter an gerechnet werden,
Die Kunstwerke werden schulcnwcise geordnet; die einzelnen Werke eines Autors
werden womöglich räumlich vereinigt. Die lebenden deutschen Künstler werden dahin
mitwirken, daß das Beste und Gelungenste ihrer Schöpfungen zur Ausstellung
gelange. Die Ausstellung und alles, was dazu gehört, wird unes den Beschlüssen
der allgemeinen deutschen Künstlcrvcrsammlung in Stuttgart von einem Gcschäfts-
comito. geleitet, welches zusammengesetzt ist aus den Abgeordneten der k, Akademie
in München, aus dem in Stuttgart gewühlten Centralcomitü und aus einer Anzahl
von Mitgliedern der Münchner Künstlerschaft, Dieses Gcschäftscomitv übernimmt
alle Vorarbeiten für die Ausstellung und leitet dieselbe ein; es beruft, sobald der
geeignete Zeitpunkt eingetreten ist, die Deputirten der sämmtlichen bekannten Künstler¬
vereine Deutschlands ein, um als Gcsammtcomitv die Schlußarbeitcn der Ausstellung
zu vollziehen; jedoch sind selbstverständlich die Künstlervereine berechtigt, zu jeder Zeit
einen oder mehre Deputirte nach München zu senden und Sitz und Stimme im
Gcschäftscomitö einnehmen zu lassen. Solche Künstlcrschaftcn, welche keine Depu¬
taten senden oder bevollmächtigen, werden als mit den Beschlüssen des Gcsammt-
comitös einverstanden betrachtet. An jedem Orte, wo Künstlervereine bestehen, werden
diese aus ihrer Mitte ein Schiedsgericht ernennen, welches über die einzusendenden
Werke zu entscheiden hat. Einzelne Künstler, welche an Orten wohnen, wo kein
Schiedsgericht besteht, haben ihre Arbeiten irgend einer solchen von einer Künstler¬
schaft gebildeten Jury zu unterstellen. Das Geschästsevmite; wird Einleitungen
treffen, daß den ausgezeichneten Werken ehrenvolle Anerkennungen in irgend einer
Form zu Theil werden. Die Namen der Besitzer der Kunstwerke werden im Kata¬
log verzeichnet. Es wird ein Eintrittsgeld für den Besuch der Ausstellung erhoben;
die Einnahme wird zur Deckung der Transportkosten, so wieder sonstigen Auslagen
verwendet; sollten sich Ueberschüsse ergeben, so wird die allgemeine deutsche Künstler¬
versammlung über diese verfügen; im Princip sollen sie nach dem Beschluß der
allgemeinen Versammlung der Künstler in Stuttgart zu wohlthätigen Zwecken ver¬
wendet werden."
Zweiter Band. Braunschweig, Schwetschke und Sohn.
Der zweite Band dieses Werks, das unter den neu erschienenen histo¬
rischen Schriften sine sehr bedeutende Stellung einnimmt, umfaßt die Regie¬
rungen Heinrich II., Conrad II. und Heinrich III., also diejenige Periode, in
welcher die Macht der deutschen Kaiser nicht blos in der Theorie, sondern
auch in der Praxis den größten Umfang und die größte Jntensivität erreichte.
Das ist der Unterschied gegen die Periode der Ottonen. Seitdem Otto I.
die Kaiserkrone Karl des Großen erneut hatte, war die Idee derselben so¬
gleich auf die höchste Spitze getrieben, aber namentlich die beiden jungem
Kaiser begnügten sich mit der Idee. Sie wollten als die Herrn des un¬
ermeßlichen Reich.s geehrt sein, viel weniger kam es ihnen darauf an, überall
unmittelbar durchzugreifen. Unter den drei folgenden Regierungen dagegen
wurde die Herrschermacht eine reale. Strenge Ordnungen wurden überall
eingeführt, und der kaiserliche Wille, von mächtigen Persönlichkeiten getragen,
in vielen Fällen sogar mit despotischer Strenge durchgesetzt. Die unterwor¬
fenen Nationen beugten sich dem Joch, wenn auch mit Widerwillen, und bei
der Schwäche der Nachbarn lag der Gedanke nicht fern, von dem Namen
zur That überzugehen, und eine Universalmonarchie nach Art des römischen
Reichs wieder in Angriff zu nehmen. Diese Verhältnisse hat der Verfasser
sehr gründlich auseinandergesetzt, und dabei Gelegenheit gefunden, zwei
Umstände, die von den frühern Geschichtschreibern meistens verkannt wurden,
näher aufzuhellen. Er hat nachgewiesen, daß Heinrich II., von dem man
bis dahin ziemlich geringschätzig zu sprechen pflegte, mit entschiedener Con-
sequenz einen zusammenhängenden und verständigen Pou verfolgte, einen
Plan, durch welchen die kühnem Bewegungen der beiden ersten Salier allein
möglich wurden. Im Gegensatz dazu weist er nach. daß man die Festigkeit
der Macht, welche Heinrich III. in feinen letzten Lebensjahren erworben hatte,
überschätzt, daß es sehr fraglich bleibt, ob auch der starke Wille dieses bedeu¬
tenden Mannes ausgereicht hätte, auf die Länge mit Glück den vereinigten
Widersachern zu begegnen, denen sein Sohn erlag. Ueberhaupt war es ein
Unglück, daß die Stärke des Kaisertums ausschließlich in den Persönlichkeiten
ruhte, daß die Regentschaft des minderjährigen Kaisers keine Institutionen
vorfand, auf die sie sich hätte stützen können. Es wäre vielleicht zweckmäßig
gewesen, noch schärfer darauf hinzuweisen, daß das Unternehmen an und für
sich ein unmögliches war. Eine innere Verwandtschaft der dem Kaiser unter¬
gebenen Völker fand wenigstens ir^dem Grade nicht statt, daß sie sich gleich¬
mäßig an demselben betheiligen, gleichmäßig darin befriedigen konnten, und
um die herrschende Nation zu bilden, ungefähr in der Weise der Normannen
in England, waren die Deutschen nicht stark genug. Für die Entwicklung
der allgemeinen Geschichte Europas ist das Band zwischen Italien und
Deutschland unstreitig segensreich gewesen, schon aus dem bisher viel zu
wenig hervorgehobenen Grund, daß die Kirche die Wiederauferstehung aus
ihrem tiefen unwürdigen Fall hauptsächlich der Einwirkung der deutschen
Kaiser verdankt. Daß die Kirche von der Mitte des 11. bis zur Mitte des
13. Jahrhunderts die hauptsächliche Trägerin der Cultur war, darüber wird
heute niemand mehr in Zweifel sein. Aber für Deutschland war jenes Band
ein unheilvolles, denn es gewöhnte die Herrscher, in dem Rausch des äußern
Glanzes die natürliche Grenze ihrer Macht zu verkennen und so den festen
Mittelpunkt zu verlieren, dessen jeder neu aufblühende Staat bedarf. Es ver¬
anlaßte ferner jenen unheilvollen Conflict zwischen dem Papstthum und Kaiser-
Ihum, der den Landesfürsten Gelegenheit gab. im Trüben ihre Macht sicher
zu stellen, und sich der Reichseinheit mehr und mehr zu entziehen. Die deutsche
Geschichte von 1056—1268 bietet das traurige Schauspiel einer ehrenwerthen,
aber illusorischen Anstrengung. Um sich in Italien zu vergrößern, und gegen
den Papst eine Stütze zu. finden/ machten die Kaiser sich von ihren Vasallen
abhängig, sie lebten mit ihren Gedanken mehr jenseit als diesseit der Alpen,
und während sich in dem benachbarten Frankreich die königliche Gewalt un¬
merklich, aber consequent mehr und mehr befestigte, hörte sie in Deutsch¬
land auf, ein integrirender Theil der Neichsinstitutionen zu sein. Als Rudolph
von Habsburg jene nüchtern verständige, auf die Natur des deutschen Ncichs-
verbcmdes begründete Politik begann, den Nest des kaiserlichen Ansehns zur
Vergrößerung des Familienbesitzes zu benutzen, um auf diesem Umwege all-
mälig wieder zur Staatseinheit vorzudringen, war es zu spät geworden.
Denn das römische Reich wär jetzt nicht blos gesetzlich, sondern auch praktisch
ein Wahlreich, und dem Beispiel der Habsburger folgten wetteifernd die Lu¬
xemburger, die Wittelsbacher und andere Dynastien. Während also das
französische Herrscherhaus eine einheitliche Idee verfolgen konnte, die in der
Hauptsache bis auf Ludwig XIV. ihren ununterbrochenen Fortgang hat, so
daß daraus eine wirkliche Nation hervorging, mißbrauchte man in Deutsch¬
land das Reich, um anderweitige Zwecke zu erreichen. Die modernen An-
Hänger der ghibellinischen Idee mögen nicht vergessen, daß die mächtigsten
Fürsten, welche dieselbe vertraten, daß Karl V. und Ferdinand II., sich gegen
den Geist der Nation empörten, daß die religiöse Bewegung, welche sie be¬
kämpften, zugleich eine nationale war, und daß dieser Irrthum nicht sowol
aus persönlicher Bigotterie, als aus der fortdauernden Illusion hervorging,
das römische Reich deutscher Nation sei eine Fortsetzung vom Reich der allen
Cäsaren. Es ist höchst lehrreich, bei einem gewissenhaften Schriftsteller sich
darüber zu unterrichten, wie selbst unter den günstigsten Umständen, die einen
kräftigen Willen gewissermaßen zum Irrthum verführten, diese Idee endlich
zum Verderben ausschlagen mußte.
Diesen Gedanken stellt Giesebrecht freilich nicht in den Mittelpunkt seines
Werks, und wir sind nicht gemeint, ihm daraus einen Vorwurf zu machen.
Der Geschichtschreiber hat nicht die Aufgabe, bei der Zeit, welche er schildert,
die spätern Erfahrungen zu Rathe zu ziehen, er hat sie im Licht ihres eignen
Lebens zu betrachten. Giesebrecht verfährt durchaus objectiv, er sucht bei
seinen Helden den innern Kern ihrer Absichten zu erforschen, mißt den Werth
derselben nach den unmittelbar vorliegenden Zeitumständen, und begnügt sich
dann, die Borzüge oder die Schwächen bei der Durchführung desselben im
Einzelnen ans Licht zu stellen.
Bei der Bearbeitung fernes Materials hat er zweierlei im Auge: Voll¬
ständigkeit des geschichtlichen Inhalts, und eine genaue kritische Basis. Die
Reinlichkeit der Form hat ihn bestimmt, die Untersuchung von der Erzählung
zu scheiden. Er berührt das Verhältniß dessen, was er berichtet, zu den
Quellen nur im Anhang, so daß der eigentliche Bericht nie unterbrochen
wird. „Dieser* Anhang verdient wol das unbedingteste Lob; er gewährt dem¬
jenigen, der bei dem Studium der Geschichte aus die Quellen zurückzugehen
wünscht, die beste Anleitung, er erschöpft, wenn auch nur in kurzen Resul¬
taten, die frühern monographischen Forschungen, und gibt von ihnen ein
correctes, bequem übersichtliches Bild.
So hoch wir nun den wissenschaftlichen Werth des Buchs stellen, so
haben wir schon bei unsern frühern Anzci-gen darauf hingewiesen, daß wir
in künstlerischer Hinsicht nicht ganz damit einverstanden sind. Es erfordert
das eine nähere Begründung.
Zunächst müssen wir uns deswegen rechtfertigen, daß wir überhaupt einen
künstlerischen Maßstab anlegen. Es gibt sehr bedeutende Werke der historischen
Literatur, die ausschließlich den Gelehrten im Auge haben. An diese wird,
wenn sie den wissenschaftlichen Anforderungen genügen, kein weiterer Anspruch
zu erheben sein. Es versteht sich ferner von selbst, daß wir von der frühern
akademischen Idee, welche die stilistische Vollendung gewissermaßen als etwas
Fertiges dem bestimmten Inhalt entgegenbrachte, und im Interesse eines
unklar umschriebenen Kunstbegriffs der Natur des Stoffes Gewalt anthat,
weit entfernt sind. Wir gehen nur von der Erfahrung aus, daß unsere neuen
Geschichtschreiber ein größeres Publicum wünschen, ein Publicum, welches
über die Kreise der eigentlichen Gelehrsamkeit hinausgeht. Um dieses zu
gewinnen, müssen sie es interessiren. Es ist ein ganz ungerechtfertigter An¬
spruch, wenn man es sür eine Pflicht des Patriotismus ausgibt, Werke zu
lesen, die über vaterländische Geschichte handeln. Das Publicum liest die¬
jenigen Bücher» die es interessiren, es liest den Macaulay und läßt die zahl¬
reichen Handbücher über deutsche Geschichte ungelesen, nicht wegen des Stof¬
fes, nicht weil die Händel der Engländer unter König Wilhelm ihm näher
liegen, als was sich unter den Hohenstaufen oder zur Zeit der Habsburger
begab, sondern weil der englische Geschichtschreiber geschickter und interessanter
erzählt. Es ist beim historischen Kunstwerk wie beim poetischen: der Stoff
und was damit zusammenhängt, die Gesinnung, gehört wesentlich zur Sache,
aber das Entscheidende ist die .Kunst des Geschichtschreibers. Warum greift
alle Welt zu Nantes Päpsten, zu Schlossers Geschichte des 18. Jahrhunderts,
zu Mommsens römischer Geschichte?, Den wissenschaftlichen Werth dieser Bücher
zu ermessen, ist das Publicum nicht im Stande; es liest sie aber, weil sie es
amüsiren — um diesen höchst trivialen, aber bezeichnenden Ausdruck zu
gebrauchen. Aus demselben Grund geht man ins Schauspiel, aus demselben
Grund liest man Romane. Wenn man durch sie noch außerdem sittlich ver¬
edelt wird, mit tieferer Einsicht bereichert, mit erhabenen Idealen erfüllt, so
ist es um so besser; aber zunächst verlangt man von dem Buch, und hat
Recht es zu verlangen, daß es anzieht und fesselt, ja wir wagen die Be¬
hauptung — es ist hier zunächst nur von historischen Werken «die Rxde —,
daß diejenigen Werke uns am meisten belehren, die uns am meisten unter¬
halten, und daß die Gesetze, wonach beides geschieht, in letzter Instanz zu¬
sammenfallen.
Denn was verlangen wir von dem Geschichtswerk, das uns unterhalten
soll? Wir verlangen eine deutliche, klare, in ihren Motiven und ihrem Zu¬
sammenhang vollständig verständliche Erzählung, in der wir nicht durch un¬
nützes Beiwerk gestört werden, in der die Personen und Zustände uns mit
sinnlicher Bestimmtheit entgegentreten. Wir verlangen von den Reflexionen,
die der Geschichtschreiber ausspricht, oder auch nur in uns anregt, daß wir
den Eindruck einer reifern Natur empfangen, von der wir etwas lernen können,
die uns zugleich überrascht und überzeugt, wir verlangen, daß durch geschickte
Anordnung des Materials die Idee des Zusainmengehörigcir eingeschärft,
daß jede allgemeine Regel durch bestimmte charakteristische Beispiele versinnlicht
wird. Das alles erwirbt man nicht durch das Studium der Rhetorik oder
des abstracten Stils, sondern durch vollständige Beherrschung des Gegenstandes
und durch die Kunst des Nachschaffens, die bei einem gegebenen Stoff sich
ebenso geltend macht, wie bei einem erfundenen. Nicht der geistreiche Dilet¬
tant ist im Stande, ein wahrhaft unterhaltendes Gcschichtbuch zu schreiben,
sondern nur der tiefere Kenner.
Es scheint uns nun, als ob die. echte Kunst der Geschichtschreibung zum
Theil dadurch verkümmert wird, daß wir uns noch immer zu sehr an die
Weise der Griechen und Römer halten. Am meisten fällt das bei mittelalter¬
lichen Stoffen auf. Die Griechen und Römer schrieben entweder als Augen¬
zeugen oder nach der Tradition. Die Vergangenheit, die sie darstellten, er¬
schien ihnen noch immer im Licht der Gegenwart, wie denn auch in jener
Zeit die Menschheit noch nicht so gewaltige Umwälzungen durchgemacht hatte.
So schrieben auch die Italiener, von denen die Kunst der modernen Geschicht¬
schreibung ausgeht, so die Schotten des vongen Jahrhunderts und ihre
Schüler. Sie haben mit mehr oder minder Eifer die mittelalterlichen Chro¬
niken durchforscht, aber nur um die Quintessenz der Thatsachen daraus kennen
zu lernen, und diese in der Weise unserer Zeit vorzutragen. Nun hat man
zwar neuerdings die früher so verachteten Mönchschroniken, auch in Beziehung
auf die Form besser würdigen gelernt, sie sind durch Uebersetzungen, wenn auch
lange noch nicht im hinreichenden Maß, im Publicum verbreitet, und man
findet an der Naivetät und Derbheit ihrer Sprache auch da Interesse, wo
der Stoff uns nicht nahe liegt. Die Geschichtschreibung selbst hat noch nicht
den nöthigen Nutzen daraus gezogen, und grade ein so bedeutendes und auch
in vaterländischer Beziehung nützliches Buch, wie das vorliegende, scheint
eine gute Gelegenheit, die Frage zu erörtern, wie man die Quellen, nament¬
lich des Mittelalters, dazu.benutzen soll, der Darstellung Farbe und künst¬
lerische Form zu geben? eine Frage, die ganz unabhängig ist von der zweiten,
wie man aus ihnen durch methodische Kritik den Cxtract der Wahrheit zieht.
Die letzte Frage ist in unsern Schulen in einer segensreichen Weise zum Ab¬
schluß gebracht worden, über die erstere läßt sich aber noch viel sagen.
Es ist vielleicht am zweckmäßigsten, bei einer Frage, in der so viele sich
durchkreuzende Gesichtspunkte ins Spiel kommen, mit einem bestimmten, in
gewissem Sinn classischen Beispiel zu beginnen. Das erste Werk der deutschen
Literatur, in welchem sich der Historiker mit Bewußtsein die Aufgabe eines
Kunstwerks stellt, ist Müllers Schweizergeschichte — Mösers osnabrückschc
Geschichte hat ihren Werth nach einer andern Seite hin.
Müller hat über die historische Kunstform vielfach nachgedacht, und eine
ernsthaftere Arbeit darauf verwendet, als er zugeben will, selbst in seinen
Briefen. Freilich influirte seine Methode, nach Excerpten zu arbeiten, stark
auf seinen Stil; er hatte die Hauptpunkte seiner Geschichte in den Worten
der Quelle und zum Theil auch mit den Reflexionen des Chronisten in seinen
Papieren, bevor er an die Ausarbeitung ging. Allein dieser äußerliche Um¬
stand kam nur der innern Ueberzeugung zu Hilfe. Er bemühte sich, seine
Geschichten in dem Ton seiner Quellen zu erzählen, nur so, daß sein aus
vielfachen Quellen gewonnenes Wissen und seine moderne Nildung dabei nicht
verloren ging. Es sollte gewissermaßen eine ideale Quelle hergestellt werden,
die das Wissen und die Einsicht aller Zeitgenossen in sich vereinigte. Man
kann nicht leugnen, daß er dadurch zum Theil sehr große Wirkungen hervor¬
brachte. Schilderungen, wie die von der Schlacht bei Sempach und Nancy,
auch von der Verschwörung im nulli, wird man noch heut mit Erbauung
lesen, die individuellen Fehler, die uns hier nichts angehn, bei Seite gelassen.
Es kam ihm dabei die eigenthümliche Concentration seines Stoffes zu Hilfe,
der sich innerhalb bestimmter localer Grenzen bewegt und bei der großen
Einheit der Zustände auch die Einheit des Tons verstattet; hätte er sein Ge¬
schichtswerk bis über die Reformation hinausgeführt, so würde ihm die Form
viel größere Schwierigkeiten gemacht haben, wie man das schon aus seinen
24 Büchern allgemeiner Geschichte entnehmen kann. Aber schon in der
Schweizergeschichte treten Uebelstände dieser Form deutlich hervor. Wenn zu
einzelnen großen Episoden, namentlich da, wo das Gemüth in Anspruch ge¬
nommen wird, der Chronikenstil vortrefflich paßt, so ermüdet er durch seine
Ausdehnung auf die ganze Geschichte, nicht blos wegen der Ausführlichkeit,
mit der auch unbedeutende Umstände dargestellt sind, sondern hauptsächlich
wegen der künstlich gesteigerten Stimmung. Diese Art von Naivetät ergibt
sich sehr leicht, um bei der Schillerschen Terminologie stehn zu bleiben, als
ein Product der Sentimentalität. Man merkt doch heraus, daß nicht ein
Schweizer des 14. oder 1,5. Jahrhunderts, sondern ein gebildeter Mann
unserer Zeit diese Chronik geschrieben hat, kurz daß man mit uns Komödie
spielt. Nichts widerspricht der wahren Einfachheit so sehr, als die studirte
Simplicität, welche sich künstlich in den Voraussetzungen ihrer Bildung
zurückschraubt. Das ist nicht blos ein individueller Fehler, er liegt in der
Gattung, wie man sich in Barantes Burgundischer Geschichte davon über¬
zeugen kann, die im Wesentlichen von demselben Princip ausgeht. Am
besten gelingt so etwas noch in kleinen populären Schriften, wie z. B. in
Scotts Erzählung eines Großvaters aus der schottischen Gesckichte. wo frei¬
lich die Geschichte ganz in die Legende aufgeht. Anderweitige Fehler gehn
aus der liebenswürdigen, jedem neuen Eindruck zugänglichen Natur Müllers
hervor. Die Mosaikarbeit aus den verschiedenen Excerpten verräth sich näm¬
lich auch dadurch, daß die Urtheile nach den Quellen wechseln. Dieser Uebel¬
stand wäre bis zu einem gewissen Grade zu vermeiden, der vorhcrgcnannte
aber nicht. Man hat immer das Gefühl, daß der Geschichtschreiber eine
Maske trägt, die ihm nicht ziemt, und dabei geht der Hauptreiz der Quellen
doch verloren, der eben darin liegt, daß man den Contrast der Bildung
empfindet, und durch diesen Contrast die Eigenthümlichkeit der geschilderten
Zeit deutlicher gewahr wird. Wir sprechen auch hier ausschließlich vom
Mittelalter, um die Frage nicht zu verwirren. Bei der Behandlung der
modernen Quellen, für welche z. B. Ranke. Macaulay und Thiers Muster
sind, wird sich ein anderer Gesichtspunkt herausstellen, der freilich in letzter
Instanz wieder auf dasselbe Princip zurückführt.
Was es mit dem Interesse an dem Wortlaut der Quellen für eine Be-
wandtniß hat. erkennt man in dem Werk, welches uns zu diesen Betrachtungen
veranlaßt, hauptsächlich an dem Bericht des Bischof Liutbrand über seine
Gesandtschaftsreise nach Konstantinopel, dem einzigen Excerpt von größerm
Umfang, welches Giesebrecht mittheilt. Freilich ist grade dieser Bericht von
ungewöhnlich anziehender Farbe, was auch Müller veranlaßt hat, ihn aus¬
zugsweise seiner allgemeinen Geschichte einzuverleiben, wo er in der That
nicht hingehört, aber blättert man dann weiter in den übrigen Schriften
des ehrlichen Bischofs, die jetzt durch die deutsche Uebersetzung dem gesammten
Publicum zugänglich sind, so entdeckt man gar vieles, was sür die Farbe der
deutschen Geschichte vortrefflich Hütte benutzt werden können, und was sich
Giesebrecht hat entgehn lassen. Und so ist es fast mit allen Chroniken des
Mittelalters: neben der Ausbeute an Thatsachen findet man bei ihnen auch
das reichhaltigste Material, um sich die Periode in sinnliche Gegenwart zu
übersetzen. Hätte Giesebrecht aus jenem Gesandtschaftsbericht ein bloßes
Referat gemacht, so würde man nicht viel davon haben; die Gesandtschaft
hatte keine Folge und der Berichterstatter ist in seiner Wuth gegen die
schlechten Mahlzeiten der Griechen, gegen ihr unanständiges Costüm und ihre
anscheinend sehr civilisirten, aber rohen Formen nicht einmal in den Angaben
ganz zuverlässig. Aber man lernt daraus mehr als aus einem umfangreichen
pragmatischen Referat, in welchem jeder einzelne Punkt kritisch beglaubigt wäre,
man erfährt im Detail, wie eine Menschenseele in jener Periode empfand,
und erst dadurch lernt man das wirkliche Leben einer Zeit, lernt man ihre
realen Zustände kennen.
Freilich darf man vom Geschichtschreiber nicht das Unmögliche verlangen;
so gut wie hier wird es ihm nur selten geboten, aber die Fortschritte unserer
Wissenschaft befähigen ihn, künstlerisch bis zu einem gewissen Grad das
Fehlende zu ergänzen. Wenn die Rechtsquellen des Mittelalters nicht so
reichlich fließen als zu unserer Zeit, wo,Tocqueville eine ganze Reihe von
Jahren damit zu thun hatte, aus einer Durchsicht der Präfecturregisicr sich
ein vollständiges Bild von dem innern Leben einer Zeit zu entwerfen, die
uns anscheinend in nächster Nähe liegt und von der wir doch durch eine so
tiefe Kluft getrennt sind, so befähigt uns unsere kritische Methode, aus den
spärlichen Quellen des Mittelalters ebenso überraschende Resultate zu ziehn.
Was Eichhorn, Grimm, Wcntz u. a. für Deutschland, was Kemble für
England, Guizot für Frankreich gefunden haben, gibt auch dem eigentlichen
Geschichtschreiber den Fingerzeig, was der Leser an ihn für Fragen stellt,
und worüber er sich klar machen muß. bevor er seine Darstellung beginnt.
Wenn seit einiger Zeit die Darstellung so geordnet wird, daß bei jedem
bestimmten Abschnitt auf das Referat der eigentlichen sogenannten Geschichte
eine Uebersicht der sittlichen Zustände folgt, so ist das ein wesentlicher Fort¬
schritt gegen früher, aber noch keineswegs das höchste Ideal der Geschicht¬
schreibung, das vielmehr darin bestände, beides zu einem organischen Ganzen
zu verweben.
Die Aufgabe hat unendliche Schwierigkeiten;- es scheint uns, als gäbe
es nur ein Mittel sie zu lösen. Freilich ist dies Mittel den herrschenden
Ueberzeugungen grade der besseren unserer Historiker entgegen, die mehr und
mehr darauf ausgehen, den Geschichtschreiber ganz hinter den Gegenstand
zurücktreten zu lassen, und diesen, wie man sich heut ausdrückt, ganz objectiv
darzustellen.
Es ist nämlich die Frage, ob nicht die höchste Stufe der Kunst diejenige
wäre, das natürliche Verhältniß rein und unbefangen hervortreten zu lassen.
Das geschieht bei unserer jetzigen Geschichtschreibung nicht. Der Geschicht¬
schreiber beginnt mit einer gründlichen, wiederholten Lectüre der Quellen, mit
einer gewissenhaften Prüfung ihrer Glaubwürdigkeit, mit ihrer Vergleichung
untereinander, mit einer Uebertragung einzelner Fälle auf die Regel, und
einer Anwendung der so gefundenen Regel auf unklare einzelne Fälle u. f. w.
Sobald er aber mit diesen Vorarbeiten fertig ist, hält er es für seine Pflicht,
sie dem Publicum zu verstecken, und die Resultate seiner Forschungen so zu
erzählen, als seien sie ihm gewissermaßen offenbart worden. Früher empfing
der Leser wenigstens aus zahlreichen Anmerkungen einige Ausklärung über
die Vorarbeiten des Geschichtschreibers, wobei freilich in der Regel der
Fehler begangen wurde, daß man alles erzählte, was man gelesen und ge¬
lernt hatte, gleichviel ob diese Lectüre zu den Resultaten in einem nothwen¬
digen Verhältniß stand. Jetzt gilt das für unschicklich. Ein reinlicher Schrift¬
steller macht gar keine Anmerkungen, sondern er gibt nur einen Anhang, in
welchem er theils ungedruckte Actenstücke in extenso mittheilt, damit sie auch
weiter benutzt werden können, theils dem Gelehrten gegenüber seine abweichenden
Ansichten motivirt. Derjenige Leser, für den eigentlich das Werk geschrieben
ist, hat in diesem Anhang nichts zu suchen. Der Text enthält, wenn auch'
mit viel tieferer Bildung als die Geschichten des vorigen Jahrhunderts, das
thatsächliche, pragmatisch reflectirte Resultat aus den Forschungen, die nun
das Ihrige gethan haben und beseitigt werden können.
Wäre es nicht für den Leser, auch für den Laien interessanter, und für .
die wahre Erkenntniß der Geschichte förderlicher, wenn statt dessen der Geschicht¬
schreiber ihn in seine Studien einführte und ihm Aufklärung/darüber gäbe,
wie man sich über die Beschaffenheit vergangener Zeiten unterrichtet? Freilich
ist diese Arbeit nicht leichter, sondern schwerer als die jetzt beliebte Form,
denn der Geschichtschreiber wird mit großer Umsicht aus seinen Studien die¬
jenigen Punkte auswählen' müssen, die charakteristisch und grade für denjenigen
belehrend sind, der aus der Geschichte kein eigentliches Studium macht. Wir
würden es nicht unternehmen, mit dieser Ansicht hervorzutreten, wenn uns
nicht ein bestimmtes Beispiel vorschwebte, in dem die Aufgabe annäherungs¬
weise glücklich gelöst ist. Wir meinen Thierrys Berichte aus dem Zeitalter
der Merovinger. Thierry führt den Leser in die Quellen ein, die er aber nicht
ausschreibt, sondern die er mit Verstand lesen lehrt, mit jenem Verstand,
den man nur durch vielseitige historische Studien und durch gründliche
Kenntniß aller historischen Hilfswissenschaften erlangt, Auf diese Weise
erfährt mau die Thatsachen grade so genau, wie in einer objectiven Ge¬
schichte, und außerdem erfährt mau/ wie sie sich in der Seele eines ver¬
ständigen Zeitgenossen spiegelten, und lernt das ideale Leben der Zeit
kennen. Trotz d'ieser doppelten Aufmerksamkeit, welche das Buch erfordert
und trotz des ziemlich undankbaren Gegenstandes sind wir sest über¬
zeugt, daß es den gebildeten Leser mehr interessiren. auch, um wieder den
bestimmten Ausdruck zu wählen, mehr unterhalten wird, als eine sogenannte
objective Darstellung.
Nun macht es sich Thierry in einer Beziehung freilich leicht, er gibt keine
fortlaufende Darstellung, sondern nur eine Reihe von Episoden, und diese
Methode wäre für ein Werk, wie das vorliegende, nicht anwendbar, aber
hier kommen wir auf den Punkt, den wir bei jedem Geschichtswerk von
größern Dimensionen für die Hauptsache halten.
Es ist weder nöthig noch wünschenswert!), alle Theile der Geschichte mit
gleicher Ausführlichkeit zu behandeln. Es ist nicht wünschenswert!), denn es
langweilt den Leser und es hat auch durchaus keinen Zweck, daß man erfährt,
was sich in jedem Jahr zugetragen hat. Das historische Gemälde verlangt,
wie jedes Gemälde, eine künstlerische Verkeilung von Licht und Schatten.
Es müssen sich feste massenhafte Gruppen bilden, die eine lebendige, ge¬
wissermaßen dramatische oder epische Spannung hervorbringen; für die Ver¬
bindung untereinander genügt ein Umriß, daß man nur den Faden nickt ver¬
liert. Im gewissen Sinn spiegelt jedes einzelne Ereigniß den Geist des
Ganzen wieder, und je eingehender man eine bestimmte hervorragende Be¬
gebenheit behandelt, desto leichter wird die Phantasie des Lesers die gleich-
giltigen Lücken ergänzen. Man wird dasjenige ins Licht stellen, was in sich
selbst wichtig ist, weil Grund und Folge sich deutlich verknüpfen; was die
allgemeinen Zustände deutlich charakterisirt, oder auch, da der Geschichtschreiber
seinen Stoff als einen gegebenen empfängt, dasjenige, wofür sich eine gründ¬
liche und geistvolle Quelle findet. Zwar nicht immer, aber doch in der
Regel fallen die innern und äußern Motive zusammen, denn meistens erregen
diejenigen Begebenheiten das Interesse verständiger Zeitgenossen, die es ver¬
dienen. Aber auch wo das nicht der Fall ist, wird das Verständniß einer
Periode weit mehr durch die quellenmäßige Darstellung einer Geschichte von
secundärem Interesse gefördert, als durch ein trockenes Register von Thatsachen
ohne Fleisch und Blut. Wenn man aber aus Gewissenspflichten alle That¬
sachen, die man erfahren hat, dein Leser mittheilen will, so findet sich dazu
der angemessene Ort in dem oben erwähnten Anhang. Bis zu einem gewissen
Grad ergänzt jeder Leser die Kunst des Geschichtschreibers dadurch, daß er
überschlägt, was ihn langweilt, es ist aber augenscheinlich, daß der Geschicht¬
schreiber selbst, dem sein Object nach allen Beziehungen gegenwärtig ,se, eine
bessere Auswahl zu treffen im Stande ist.
Indem nun der Geschichtschreiber kein Hehl daraus macht, daß er nur
dasjenige erzählt, was'er durch mühsame Forschungen entdeckt hat, indem er
den Leser gewissermaßen an denselben betheiligt, wird es i'hin nach einer an¬
dern Seite hin leichter, den richtigen Ton zu treffen. Wir erinnern an den
Anfang des macaulayschen Geschichtswerks, an die brillante Darstellung der
Zustände von 1685. Der hauptsächliche Reiz dieser Darstellung liegt darin,
daß Macaulay die Phantasie zum Vergleich nöthigt: er steht in der Mitte
der gegenwärtigen Zustände, und läßt das Bild der Vergangenheit dagegen
contrastiren. Das ist nun freilich gegen die Regel der sogenannten Objek¬
tivität, denn man soll ja die Gegenwart ganz und gar vergessen, aber ein¬
mal ist das Letztere nicht möglich, und dann verliert man dadurch den besten
Maßstab, das Vergangene zu würdigen. Durch diese Form des Vergleichs
werden auch anscheinend gleichgiltige Äußerlichkeiten, selbst das Costüm,
von Wichtigkeit, und Äußerlichkeiten, die an sich bedeutend find z. B. Land¬
schaften, Baulichkeiten u. s. w. gewinnen dadurch eine ' hellere Farbe..
Für das 17. Jahrhundert hat Ranke mit vollendeter Meisterschaft diesen
subjectiven Standpunkt benutzt, um uns in der Geschichte zu orientiren, für
das Mittelalter, wo es viel näher liegt, ist es fast nur von Dichtern ge¬
schehn, Chateaubriand, W. Scott, V. Hugo, jedesmal mit großem Er¬
folg. Ein junger Geschichtschreiber, Flvto, hat vor einigen Jahren in seiner
Biographie Heinrichs IV. den Versuch gemacht. Das Buch läßt sonst
Manches zu wünschen übrig, aber in dieser Beziehung verdient es Be¬
achtung.
Nun wird man gegen unsere ganze Kritik vielleicht einwerfen, daß man
eine historische Leistung nach ihrem eigenen Princip beurtheilen muß. daß
man ihr nicht ein fremdes Ideal entgegenhalten darf. Im Allgemeinen
ist der Grundsatz vollkommen richtig, wir hielten es aber doch aus folgendem
Grund für nöthig davon abzugehn. Gicsebrechts Kaisergeschichte ist ein
durchweg respektables Buch: gründliche Durcharbeitung des Materials,
warme ehrenwerthe Gesinnung, Sauberkeit in der Methode, ein vollendeter
Anstand in der Form; und doch haben die mei'sten Leser das unbehagliche
Gefühl, daß etwas fehlt. Wir hielten es für erlaubt und gerechtfertigt,
diesem dunkeln Gefühl eine bestimmte Fassung zu geben, und zugleich die
Frage aus der Beurtheilung des einzelnen Kunstwerks ins Allgemeine zu über¬
Wir wollen dem Verfasser nicht in die Einzelheiten seiner Erzählung des
Umsturzes der Monarchie folgen. Die, Reformbankette, der entscheidende Ab¬
fall der Nationalgarde, die Intriguen der Minister und derer, die es werden
wollten, der verhängnißvolle Schuß vor dem auswärtigen Ministerium, die
letzten Scenen in den Tuilerien, die Herzogin von Orleans in der Deputirten-
tanuner, die Proklamation der Republik durch Lamartine, der sich einige
Minuten besann, ob Republik oder Monarchie sein sollte, nachdem er kurz
vorher für die Regentschaft der Herzogin gesprochen — alles das sind trau¬
rige, bekannte Dinge. Wir wollen nur einigen der merkwürdigsten Beob¬
achtungen des Verfassers folgen, und zu dem Ende auch seine persönliche
Stellung ins Auge fassen.
Ein deutscher Korrespondent in London, aus dessen Briefen man viel
lernen kann, wenn man neben den interessanten Fingerzeigen, die er oft gibt,
nicht auch seine Marotten annimmt, hat das Erscheinen der normanbyschen
Memoiren zu einem neuen bittern Angriff auf die englische Aristokratie benutzt,
welche, wie er sich aus dem Buche selbst zu zeigen bemüht, alle andern Völker
tödtlich haßt und nur auf ihr Verderben sinnt. Wir haben die beiden Bände
aufmerksam gelesen und alle Citate des Korrespondenten daraus, mit Aus¬
nahme eines einzigen, richtig gefunden, kommen dabei aber doch zu wesentlich
andern Ergebnissen. Allerdings, wenn seine Bemerkungen gegen Leute gehen,
welche glauben, England würde aus purer Liebe sür andere Völker und das
abstracte Princip der constitutionellen Freiheit seine Flotten und Geldkräfte
in Bewegung setzen, so haben sie einen gewissen Sinn, allein wenn solche
Meinungen noch eristiren, so sind sie jedenfalls schwach vertreten. Kein ver¬
nünftiger Politiker wird erwarten, daß England etwas thue zu Gunsten
anderer Volker, was ihm Schaden bringe, man verlangt nur von ihm, wie
von jedem andern Lande, daß es die Rechte, welche es für sich zu wahren
sucht, auch bei andern achte. In den Aufzeichnungen des Marquis haben
wir nichts entdeckt, was gegen diesen Grundsatz verstößt, er handelt als Eng¬
länder und zwar als englischer Gesandter, im Interesse seines Landes, will
man ihm daraus etwa einen Borwurf machen? soll er, der britische Pair, der
geschulte Staatsmann, mit jenen republikanischen Thoren sür Freiheit und
Gleichheit schwärmen?'Er benutzte das Vertrauen, welches ihm Männer
wie Lamartine, Bastide, Cavaignac entgegenbrachten, um die Lage seiner
leidenden Landsleute zu mildern, und den Frieden nach außen zu erhalten,
letzteres gewiß weil es vor allem im Interesse Englands war, dessen commer-
zielle Interessen von jedem Krieg schwer gelitten hätten. Aber kann es etwas
Verkehrteres geben, als die Behauptung jenes Korrespondenten. England habe
den Kampf gegen die Revolution von l?8ö aufgenommen, um das Eindringen
der demokratischen Bewegung zu verhindern, aber nachher gefunden, daß grade
der auswärtige Krieg den Bürgerkrieg in Frankreich verhütet, deshalb habe
es dies Mal den Frieden nach außen zu erhalten gesucht, damit sich die
Kräfte des französischen Volkes gegeneinander aufrieben? — England unter¬
nahm am Ende des vorigen Jahrhunderts den Krieg gegen Frankreich aller¬
dings bis zu einem gewissen Grade wol aus dem principiellen Gesichtspunkt,
daß Dinge, wie sie in Paris vorgingen, für die gesellschaftlichen Zustände Eu¬
ropas und besonders Großbritanniens selbst bedrohlich und daher zu bekämpfen
seien; man hat allerdings nachher eingesehen, daß es besser gewesen, den
Krater in sich ausbrennen zu lassen, als der explodirenden Kraft einen Abzug
nach außen zu geben, aber die französische Revolution war ohne Beispiel und
Frankreich forderte durch sein Benehmen den Krieg so heraus, daß es bei
dem ernsten Willen ihn zu vermeiden, doch vielleicht nicht möglich gewesen.
Soll vielleicht jetzt England die gemachte Erfahrung in den Wind schlagen,
und dies Mal, wo> Frankreich nicht herausfordernd nach außen auftritt, einen
Streit vom Zaun brechen, damit es einige 100 Mill. Pfd. neue Schulden
sich auflade und Frankreich den Zwiespalt im Innern erspare, den dasselbe
doch ganz allein selbst verschuldet? Der Marquis hat aber nichts Anderes ge¬
than, als zum Frieden gemahnt und abgemahnt von aller Einmischung in
fremde Angelegenheiten, aus der richtigen Ueberzeugung, daß ein Krieg, der
von der französischen Republik unternommen werde, nothwendig zu der Zeit
ein Krieg revolutionärer Propaganda geworden. Ein solcher wäre England
gewiß sehr schädlich gewesen, hatten wir Deutsche aber bei den Zuständen
von 1848 vielleicht Grund denselben zu wünschen? -haben wir nicht vielmehr
dem Marquis zu danken, daß er bei Cavaignac gegen diejenigen gewirkt hat,
welche den auswärtigen Krieg und Gebietserweiterungen als die beste Sicher¬
heit für die Republik empfahlen? oder sollen wir statt dessen lieber in das
absurde Geschrei einstimmen, der .Juniaufstand sei von England angestiftet
— denn man habe bei einigen Insurgenten englisches Gold gesunden? —
Mit gleich viel Grund könnte man sagen, die englischen Minister hatten das
neueste Attentat gegen den Kaiser Napoleon angestiftet, weil man englische
Banknoten bei Pierri fand. Daß Lord Normanby sich erst nachdem Cavaig¬
nac an die Spitze der Regierung getreten war, accreditiren ließ, was ihm
der Korrespondent zum Vorwurf macht, ist sehr einfach, denn damals trat
zuerst etwas ins Leben, was einer Regierung ähnlich sah, und daß der Wunsch
Bastides, er möge sich bei der Republik im Allgemeinen accreditiren lassen,
absonderlich und gegen alles Herkommen war, wird niemand leugnen.
Wenn es überhaupt erlaubt ist in der Geschichte von Zufall zu reden,
so darf man wol Entstehung und Zusammensetzung der provisorischen Regie¬
rung — Lvi'ti ä'u.ec!lana.t.ioii vt ä'ni-gone«, wie das Decret sagte — zufällig
nennen. Lamartine besann sich einige Minuten auf die Frage einiger Jour¬
nalisten, ob die Republik erklärt werden solle, und antwortete ja! Als die
Namen der provisorischen Regierung verlesen werden sollten, konnte man den
Lesenden nicht verstehen, man gab die Liste an Crömicux, der seinen Namen
in aller Geschwindigkeit zu den andern hinzufügte, was aber in der Ver¬
wirrung nicht bemerkt ward; ebenso ging es später mit den Secretären der
Regierung, sie zeichneten deren Decrete am Fuße des Blattes, dann liefen
sie zuerst den Beinamen „Secretär" weg, stellten sich darauf unmittelbar unter
die andern und zeichneten zuletzt „Mitglieder der provisorischen Negierung".
Die Anarchie schildert der Verfasser mit lebhaften und doch gewiß nicht über¬
triebenen Zügen, denn er läßt die Thatsachen reden; uns ist vorzüglich
in seiner Erzählung aufgefallen, wie trotz alles Durcheinanders das Volk
doch französisch blieb, eitel, höflich, gutmüthig, witzig und doch wieder auf¬
brausend wild bis zum Extrem. Die Orgien in den Tuilerien und in Neuilly
sind bekannte Thatsachen, die Lord Normanby mit Wärme schildert, ein Zug
aus dieser Wirthschaft ist folgender. Ein Krämer hatte seinen Sohn vermißt;
und glaubte, derselbe sei bei den Barrikaden umgekommen. Als er an den
Tuilerien vorbeigeht, sieht er den Sohn plötzlich dort Schildwache stehen.
Lomnmnt, miükeul'lux cmkiwt,, c'est, toi, yue ne>u8 avons xlour6 comme mort.
— Uns oni mon poi'ö, tu n<z 8g.jg xg,8 pus äczxuiZ <zus t'al vu, ^'al
pris «I<z I^Jais; xcmrrai^e t'oll'rii' g, clkjöuimi'? ne clemancle M8 mieux."
— Viens avra Der Vater fand oben eine wunderbare Gruppe; Männer und
Weiber, die sich Kleider aus den sammtnen Gardinen und seidenen Ueberzügen
geschnitten, und Cashmirshawls um den Kopf gewunden hatten, ein Mann
lenkte Louis Philipps Hut auf. ein großes Feuer brannte im Kamin und
überall schmauste man. Vcmlex-vous du g'iMt, <ze emmncmt,? g.ux trutlss on
aux xotits pois? c'est Iricn- nous g.voll8 su des trukles pour Iiuit ^ours,
of. pour les xetits p»is!—-Nur ein Gemües entging der taumelnden Menge,
das des Herzogs von Orleans, das seit seinen, Todestage unverändert er¬
halten und verschlossen war, das beim Frühstück gebrochene Brot lag unbe¬
rührt da, der Hut und auf dessen Rand die Handschuhe, die Reitpeitsche, die
der Herzog genommen, dn es zuerst seine Absicht war, auszureiten und nicht
zu fahren — alles war geblieben, wie es am 13, Juli 1842 gewesen, der
sprechendste Gegensatz zu den andern Sälen, in denen der Pöbel sein großes
Fest feierte. Aber wenn solche Ausbrüche der untersten Volkshefe von der
Vorsehung als Mittel gewählt werden, die Mächtigen zu strafen, welche ihre
Gewalt mißbraucht, so kommt ihr Sturz doch nicht den schuldigen Werkzeugen
zu Gute, durch d?e derselbe vollzogen; aus die Orgien des souveränen Volkes
folgte rasch mit der Arbeitslosigkeit das Elend, und bald konnte man singen:
Werth as mourir do kaiin, «Zslitö en wisörv, tratsruitv do Valm; — so¬
lange es noch etwas zu demoliren gab, stürmte die blinde Menge gegen die
letzten Schranken an, bis Lcdru-Rollin für einen Reactionär erklärt ward
und der Aufstand nusbrach, den Cavaignac unter Beistand aller derer, die
etwas zu verlieren hatten, niederwarf. Es ist kein Zweifel, und diese Me¬
moiren bestätigen es. daß in den ersten Tagen der Revolution allein Lamar-
tines Einfluß und persönlicher Muth die rothe Republik verhinderte, aber wie
ward ihm unmittelbar nachher von seinen Kollegen mitgespielt! Ledru-Rollin
setzte als Minister des Innern blutdürstige Circulare, die theilweise aus
George Sands Feder hervorgegangen waren, in den Moniteur, wovon Lamar¬
tine nichts wußte, und doch wollte er sich nicht von demselben trennen. Blan-
qui'war durch die Revue Rütrospective überführt, von Louis Philipp bestochen
zu sein, und doch glaubte Lamartine ihm aufs Wort; in den auswärtigen
Angelegenheiten zeigte er dieselbe Unwissenheit, die sich in allen seinen histo¬
rischen Schriften breit macht, seine Beredtsamkeit riß zuerst hin, aber bald
rief man ihm zu: assex de lyre eomme en, und nach einer glänzenden Rede
schlug ein einfacher Mann, Berard, den Beifall mit den Worten nieder: „Was
haben uns die schönen Worte während der letzten sechs Monate genützt?"
Lord Normanby sagte ihm Mitte Mai, er fürchte, er habe seine (Lamartines)
Stellung verdorben, worauf er erwiedert, oui, xour t-rois seirmine« ^>o serai
Is ävrmor dos Komrnvs, mais aprüs .jo mo rolöverai plus gravä <zue ^.
mais! Statt dessen ist er in der Büchcrmacherei untergegangen. Am besten zeich¬
net seine ganze Persönlichkeit die Rede, die er am 8 October 48 über seine
Stellung zur Republik hielt, und worin er sein Urtheil selbst spricht. „Wenn
die Republik besteht, so habe ich meine Partie gegen das Schicksal gewon¬
nen, wenn sie scheitert, sei es durch Anarchie und Aufleben des Despotismus,
so gehen mit ihr mein Name, meine Verantwortlichkeit, mein Andenken unter
und werden aus ewig von meinen Zeitgenossen verstoßen sein. Bitten wir
die Vorsehung, daß sie das/Volk erleuchte; wenn es sich täuscht und zurück-
bebt vor der Größe des Gebäudes, das wir ihm in der Republik eröffnet
haben, und vor der Schwierigkeit der Institutionen derselben, wenn es seine
Sicherheit, Würde und Freiheit abdanken will in die Hände von kaiserlichen
oder legitimistischen Reminiscenzen und sich und uns so verleugnet, so ist es
nicht unsere Schuld. Was auch kommen möge, es wird groß in der Ge¬
schichte bleiben, die Republik versucht zu haben, wie wir sie entworfen und
verkündet vier Monate hindurch, die Republik der Begeisterung. der Mäßigung,
der Brüderlichkeit, des Friedens, des Schutzes der Gesellschaft, des Eigen¬
thums, der Religion, der Familie, die Republik Washingtons. Es mag ein
Traum sein, aber es wird ein schöner Traum sür Frankreich und die Mensch¬
heit sein!" — Kann es ein vernichtenderes Selbstgericht geben, als diese Rede
des schwachen, eiteln Idealisten, der seine Hände an das heiße Blei der re¬
volutionären Politik legt?
Wenn Lamartine manches Schlimme in den Tagen seines Einflusses
verhindert, so ist es ohne Zweifel Lcdru-Rollin, welcher das meiste Unheil
gestiftet, er erklärte offen, was er wolle sei toi^cur, moins guillotill«,
und bearbeitete dem entsprechend das Laud. „Glauben Sie," sagte er zu eine».
Freunde, „daß ich nicht weiß, daß Frankreich nicht republikanisch ist? es muß
deshalb dazu gemacht werden;" so sandte er Agenten mit unbeschränkter Voll¬
macht aus, die Wahlen zu organisiren d. h. zu fälschen, damit in die Volks¬
versammlung kein einziges Mitglied von zweifelhafter Moral und republi¬
kanischer Gesinnung komme, und bezahlte diese Leute aus der Staatskasse;
er erklärte, er habe schou als Kind einen Hcmnibaleid gegen die Gesellschaft
geschworen, als er aber auseinandersetzen wollte, was er denn Positives
wollte, stockte er und stimmte schließlich gegen den Antrag Proudhons auf
liciuidMon «ovialv, der einen Theil des Eigenthums consisciren wollte, um die
Steuern aufzuheben, obwol die Konsequenz seiner Ansicht Aufhebung alles
Eigenthums gewesen wäre.
Das Volk aber, d. h. der Pöbel, nimmt solche Losungen auf, ohne an
die Ausführbarkeit zu denken und schrie, als es in den Sitzungssaal der Ver¬
sammlung drang, „wir wollen die Reichen plündern, damit sie uns nicht mehr
aussaugen." Auf einer Fahne las man während des Juniaufstandes „v-üu-
yuvurs 1v MgKv, viuueus 1'illvLnäiv".— „Das nennen sie Gleichheit," hörte
Lord Normanby einen Arbeiter zum andern sagen,, „diese Volksvertreter geben
sich selbst täglich 25 Franken und uns 20 Sous." — Selbst Louis Blaue über-
zeugte sich von der Unausführbarkeit seiner Theorien in der Praxis; als ein^
Arbeiterdeputation zu ihm kam mit der Forderung des Rechtes auf Arbeit,
sagte er zu einem der Arbeiter: „Schreiben Sie doch nieder, wie das zu
machen ist, — Aber — ich kann nicht schreiben. — Gut, so werde ich Ihr
Secretär sein, dictiren Sie. — Jedem ist Arbeit gesichert. 2. Die Arbeit
wird bezahlt. — Wohl, und wie wollen Sie das machen? — Ja, das weiß
ich nicht." Allgemeines Gelächter seiner Genossen, worauf die Deputation in
bester Laune abzog. Das französische Volk ist ein großes Kind, es schreit
nach allem und begnügt sich schließlich mit seiner äsmi-wsss und etwas Spiel¬
zeug. Zwischen allem Blutvergießen und Geschrei laufen die Bonmots um¬
her. Bei dem ersten großen Fest, wodurch die Proclamirung der Republik
gefeiert werden sollte, ritten zwei Frauenzimmer von zweifelhaftem Ruf
wahrscheinlich in Reminiscenz an 1791, in fleischfarbenem Tricot als Göttinnen
der Vernunft einher, man trieb sie fort und einer sagte ihnen: I0 xr«mivi-
elevoir <zue 1a rörmdliciuv iinxose s,ux temines e'e.8t> llMre Mit!« se, von«
«t,<;8, toutes les Äeux, ämdlvmlmt. ig-iele,?. — Bei der Berathung des Club¬
gesetzes protestirte einer vom Berge gegen die Ausschließung der Frauen, man
dürfe sie nicht als minderjährig behandeln. Eine Stimme rief: „Sie werden
es vielmehr übel nehmen, wenn man sie als großjährig behandelt." —
Aehnliche Züge ließen sich noch viele beibringen.
Man muß indeß gestehen, daß, wenn das Volk im Rausche war, die
Regierung wenig mehr Besinnung hatte, und die meiste Zeit der verhältni߬
mäßig Vernünftigen, wie Lamartine und Bastide. wurde dadurch in Anspruch
genommen, die gröbsten Irrthümer ihrer Kollegen zu erklären und zu ent¬
schuldigen; in einer Proclamation ward gesagt, die Negierung nehme die Clubs
unter ihren Schutz und freue sich zu sehen, wie in verschiednen Punkten der
Stadt die Bürger sich versammeln, um sich über die tiefsten Fragen der
Politik zu besprechen, ein anderes Decret hob die Permanenz der Richter auf,
als unverträglich mit republikanischen Institutionen, und ließ dem Justizminister
Macht, jeden Richter nach Willkür abzusetzen. Derselbe verhängnißvolle Irr¬
thum hat sich in letzter Zeit in den Vereinigten Staaten geltend gemacht und
die Unabhängigkeit der Gerichte vernichtet, nur daß man dort wenigstens die
Ernennung der Richter nicht der Willkür eines Ministers, sondern der Wahl
überläßt. Nichts aber wirkte so verhängnißvoll, um die provisorische Regierung
unpopulär zu machen. als ihre verkehrten Finanzmaßregeln. Um dem un¬
geheuren Ausfall der Einnahmen einigermaßen zu begegnen, legten sie eine
Zuschlagsteuer von 45 Centimes aus, dies brachte so große Erbitterung hervor,
daß man den Fehler zu verbessern suchen mußte, man that es aber in der
falschesten Weise, man verminderte die Steuer nicht allgemein, sondern gab
den Ortsbehörden die Macht, dieselbe herabzusetzen oder ganz nachzulassen,
wo es ihnen angemessen schien, machte dadurch die Erleichterung zu einn
Gunst und erbitterte noch mehr durch die Willkür, mit der diese gewährt oder
verweigert wurde. Man schaffte d,e Salzsteucr und in Paris den Octroi auf
Fleisch ab, und setzte an die Stelle eine Wagmsteucr, die fast nichts ein¬
brachte, weil man die Wagen versteckte oder wegschickte.
So geschah es, das; schon im Juli, wie Lord Normanby bemerkt, die
große Masse des Volkes in den Provinzen heftig gegen die Republik erbittert
war, die Bourgeoisie in Paris, deren Gewerbe darniederlag, nicht minder.
„Gebt uns einen König," sagte man, „nur nicht den vorigen, der all dies Un¬
heil über uns gebracht hat." Was die Bauern betrifft, so hatten sie niemals
die leiseste'Sympathie für die Julimonarchie, sie wußten nicht was sie be¬
deuten sollte, da sie sich weder an die nationale Nuhmliebe, noch an die
Reste ihrer Traditionen, noch an die neuen verführerischen Lehren der Republi¬
kaner wendet. „Die Bauern." sagt der Mnrqnis schon Mitte August, „sind ihrem
Gefühl nach bonapartistisch, wenn nicht die Priester, wie es an manchen
Orten der Fall ist, sie ganz in ihrer Hand haben, bei dem allgemeinen Stimm¬
recht aber ist die Entscheidung in den Händen der Bauern." Wie sehr
haben die Ereignisse diese Worte gerechtfertigt!
Aus aller Verwirrung erhob sich endlich ein Name, der für kurze Zeit das
Symbol der Autorität und gesellschaftlichen Ordnung ward, Cavaignac. Es
ist sehr interessant, nach den Aufzeichnungen des Verfassers zu verfolgen, wie
er allmälig seine Popularität verlor und seine Erwählung verscherzte; die
Klippe, an der er scheiterte, war sein aufrichtiger Republikanismus, den er schon
1830 offen bekannt. Ueberall als Chef der executiven Commission betheuerte^
er seine Anhänglichkeit an die Republik, deshalb waren die stillen und offnen
Gegner der Republik —und das war 1848 im December die große Majorität
des Volkes — ihm feindlich und glaubten, er werde nie entschieden mit den
Socialisten brechen, um eine starke Regierung, das nach zeitweiliger Anarchie
immer wiederkehrende Ideal der Franzosen, aufzurichten. Die Arbeiter aber
verziehen ihm die Juuischlacht nicht.
Wer aber war außer Cavaignac da, um die Fahne der Ordnung festzu¬
halten? Man sah ausgezeichnete Männer, welche vortreffliche Minister des zu
erwählenden Präsidenten sein konnten, Barrot, Thiers, Molo, Tocqueville
u. a. in., aber niemand dachte daran, sie als Kandidaten zu nennen. Molo
war gewiß der bedeutendste unter ihnen, wie er vielleicht auch unter allen
Ministern von Louis Philipp der ausgezeichnetste war; trotzdem, daß er sich
sehr im Hintergrunde hielt, übte er - einen Einfluß in seinem Departement
und in der Versammlung, welcher alle überraschte, die ihn nicht näher
kannten. Aber er selbst machte Lord Normanby daraus aufmerksam, daß
nur ein Mann von militärischem Namen als Kandidat zur Präsidentschaft
auftreten könne/) Dieser Mann war der Erbe des größten Feldherrn dieses
Jahrhunderts.
Der Marquis macht keine Bemerkung über den Charakter Louis Napo¬
leons, aber er gibt seine Briefe und Reden des Jahres 1848, sie sind nicht
zahlreich, aber doch ein Stück Geschichte. Der Ekel vor den elenden bestehen¬
den Institutionen war der Hauptgrund, daß man sich der Hoffnung aus den
napoleonschen Namen ganz hingab; den letzten Schlag erhielten die republi¬
kanischen Institutionen durch die Verfassung Frankreichs, von der der Herzog
von Broglie sagte „olle a. r«<in16 1<!8 limitvs ac I«. kwzMit.6 Iiumniitt;." Für
den jetzigen Kaiser werden die sparsamen Aeußerungen des Volksvertreters
Bonaparte, der erklärte, er wünsche als der einfachste Bürger einer großen
und weisen Republik nach Frankreich zurückzukehren, immer von Interesse
bleiben. Mit der Rede vom 10. Oct.. wo er sagt — ^jo <16savouo evm-
Mtvmvnt co nom Ac prüwvüimt, pu'on mvMtv toHours ü>1a low— beginnt
die Reihe der Versicherungen, daß er nichts für sich wolle, die bekanntlich mit
dem 2. Dec- 1852 endete.
Die Zeit der zweiten Republik scheint uns eine merkwürdige Aehnlichkeit
mit der der Fronde zu haben, es mußten Jahre der tiefsten und doch un¬
fruchtbarsten Erschütterungen vorhergehen, um das Regiment Ludwigs XIV.
sowol wie Napoleons III. möglich zu machen. Die Nation warf sich in
einer Art Verzweiflung dem in die Arme, der sie ihrer politischen Rechte be¬
raubte, um nicht in der gesellschaftlichen Zerrüttung unterzugehen. Es sind
traurige Epochen, aber nicht minder als die erfreulichen des eingehenden Stu¬
diums werth, und wir danken Lord Normanby für die neuen Einblicke, die er
Es sind über italienische Musik seit langer Zeit umfassende Studien an¬
gestellt worden und wer seine Kenntnisse auf diesem Gebiete erweitern will,
findet reiches Material und Lehrmeister in Menge. Anders steht es mit dem
Volksgesänge. Der Nichtitaliener hat selten hinlängliche Muße und ausreichende
Vorkenntnisse, um seine Beobachtungen in Italien auf dieses wüst liegende
Feld auszudehnen; der Italiener selbst ist noch nicht zu der Ueberzeugung ge-
langt, daß Forschungen in so niederer und unakademischer Sphäre die immer
nicht unerhebliche Mühe lohnen können. Wie die Sage in Italien eine ver¬
schüttete Fundgrube ist, so der Volksgesang. Dialektschwierigkciten kommen
lMzu, um die Arbeit zu vergrößern, und zwar nicht allein für den Ausländer.
Auch der Römer, auch der Venezianer versteht eine Menge Ausdrücke nicht,
die im Golf von Salerno, auf Capri, in Mola ti Gasta mundgerecht sind.
Der Neapolitaner schüttelt seinerseits nicht minder verlegen den Kopf, wenn
er in die Sprachgeheimnisse der Mailänder, der genueser Plebs eindringen
soll. Was zur Hebung dieses Uebelstandes durch Wörterbücher und Gramma¬
tiker geschehen ist, weist sich bis jetzt als durchaus unzulänglich aus und be¬
lehrt höchstens über den großen Umfang der Abweichungen. Dabei hat jeder
Dialekt sich das Recht des schriftlichen Ausdrucks erobert. Während in den
meisten deutschen Gauen das Hochdeutsche die gewöhnliche Schriftsprache ist
und nur ausnahmsweise das Wort, wie es gesprochen wird, auss Papier
kommt, gibt sich das Volkslied in Italien auch im Druck als Dialektlied und
verwirrt das Auge noch mehr, als das gesprochene Wort das Ohr irre führt.
Eine Menge solcher Lieder werden um der Chiaja, an? Ponte Se. Angelo, an
der Riva bei Schiavoni feilgeboten, einige mit bcigcdrucktcr, andere nur mit
namentlich bezeichneter Singweise, wieder andere ohne allen derartigen Nach¬
weis. Aber die Physiognomie dieses Liedertrödels ist eine so bunte, durch so
massenhafte Kreuz- und Querzüge entstellte, daß es schwer hält, für das end¬
liche Ergebniß einer Nachforschung nach den wesentlichsten Bestandtheilen den.
richtigen Ausdruck zu treffen.
Der Gesang ist eins der Kennzeichen, welches die Natur mit sichtlicher
Parteilichkeit dem Italiener vor allen andern Nationen aufgeprägt hat. Wenn
es wahr ist, daß der Italiener ewig Kind bleibt, und daß nur diejenigen
Kinder, welche bei ihrer Geburt schon ihre Lungen gebrauchten, eine gesunde
Brust und Lebensdauer versprechen, so hat das italienische Volk Aussicht, den
letzten Athemzug später als irgend ein anderes zu thun. In der That gibt
es ^aum ein Alter, das nicht singt, kaum einen Stand, der auf den tönenden
Gebrauch der Stimme verzichtet, kaum einen Raum, der hierzu nicht für taug¬
lich gehalten wird, kaum eine Zeit, die zum Schweigen verurtheilt. Keiner
Mutter fällt es ein. ihrem Kinde Stille zu gebieten, weil das Singen sich
etwa im Zimmer nicht schicke oder weil Besuch da sei. Keine Herrschaft
nimmt es der dienenden Cattina oder Nenctta übel, wenn Trepp auf, Trepp
ab ihr Lied durchs ganze Haus klingt. Niemand findet Unziemliches in dem
lauten Gesang eines Mädchens, das vom Brunnen Wasser oder vom Markt
Gemüse holt. Und wenn der heimkehrende Bettler, nach kläglicher Tages-
vcrrichtung sein Lied singt, reut niemanden der Bajocco, den die trostlose
Bettlergeberde noch kurz zuvor der Tasche des Besitzenden entlockte. Auch das
Pfüfflein singt, wenn es auf seinem Grauthier über Land trabt; der Urahn,
dem man das noch nicht gehfähige Kind in die Amic gab, singt und bildet
sich nicht ein, die alte Stimme thue es nicht mehr. Ja, wir erinnern uns
einer armen Geistesirren, die unweit Castcllamare in den blauen Morgen
hineinsang, einen großen Blumenstrauß in der Hand und fröhlichen Auges,
als sei ihr recht von Herzen wohl zu Muth, wenn sie so aus voller Brust
singen könne.
Es ist bekannt, daß lautes Lesen als ein diätetisches Auskunftsmittel für
solche Leute empfohlen wird, die sich nicht durch Gehen Bewegung machen
können. Daß der Gesang in noch viel vollerem Maße für Körperbewegung Ersatz
bietet, ist jedem Singenden eine Eroberung eigner Erfahrung. Der Italiener,
ohne sich wie der Schweizer auszuarbeiten, besitzt durchschnittlich einen Brust¬
kasten, der das Entzücken und Erstaunen des nicht italischen Malers und
Bildhauers ausmacht. Es ist etwas Beneidcnswerthes in dieser Sangbevor¬
zugung und ihren gesunden, geistbcfreiendcn Folgen. Es ist nicht zu viel be¬
hauptet, wenn man auf Rechnung des Singens der ganzen Nation die Un¬
möglichkeit schreibt: aus Italien ein Kloster zu machen, wie es andern Län¬
dern begegnet ist.
Venedig steht unter den singenden Städten Italiens ziemlich in erster
Linie. Seine Geräuschlosigkeit ladet dazu ein. Der Venezianer hat das Be¬
dürfniß, das verzauberte Schweigen, weiches über seinen Straßen lagert, von
Zeit zu Zeit zu unterbrechen. Die hohen Häuser, welche seine Kanäle um¬
stehen, verstärken den Schall. Das Nachtwache Treiben der Lagunenstadt for¬
dert zu Serenaden heraus. Die Leichtigkeit der Bewegung von einem Punkte
zum andern gibt dem Sänger Gelegenheit, sein Auditorium nach Belieben zu
wechseln, wenn ers will, unerkannt zu bleiben, oder auch eine zahlreiche Hörer¬
schaft in Gondeln nach sich zu ziehen, wohin ihn die Laune treibt. Eine
Primadonna, welche sich zu dem Gondclsouper irgend eines Mäcens herbei¬
ließ, bringt mitten in der Nacht durch ihre Rouladen und Fioraturen ganz
Venedig aus den Betten und löst hundert Gondeln von den Eisenringen^der
marmornen Palasttreppen. Wer kann daheim bleiben, wenn plötzlich im
Canal Grande oder der Piazzetta ^gegenüber eine jener klangreichen, jugend¬
frischem Stimmen lockt, die nur Italien in Fülle groß zieht?
Aber auch dem vierstimmigen Männergesange, unserm heimischen Kunst¬
privilegium, begegnet man in Venedig. La compagnia dei Pittori, deren
Mitglieder dem kunstfertigen Theile der Beschäftigungen auf dem Staatswerst
obliegen, gibt häusig Abends den Venezianern einen Ohrenschmaus. Ihr
Leiter, Giacomo Bortolini, gilt für einen fähigen Meister und hält die vor¬
handenen tüchtigen Kräfte mit Geschick zusammen.
Das Quartett ist sonst keine italische Pflanze. Da eine Menge Solisten
ihr Lebtag nicht Noten lesen lernten, se, bewahrt jeder seine Selbständigkeit
und befindet sich um so besser dabei, als er auch die gemachten Eroberungen
nicht eben zu theilen liebt.
Auch Straßenmusik andrer Art — Geigen, Klarinetten, Contrabas,, wie sie
Abends der Marcusplah ausweist — erinnert an deutschen Einfluß. Man sucht
dergleichen vergebens in andern italischen Städten, In Rom herrscht die seit
einem halben Jahrhundert aus Frankreich eingedrungene Chitarra. hin und
wieder sieht man noch die Mnndoline. In Neapel und am ganzen Golf
führt erstere fast ausschließlich das Wort.
Wenn man nun Gesang als ein Gemeingut des ganzen italienischen
Volks betrachten darf, ein Geschenk, das Toscana. die Lombardei und Sar¬
dinien nur im mindun Grade zu verwerthen wissen als Venedig, die Umgebung
Roms und diejenige Neapels, so geht »och eine melodiöse Aehnlichleit. die
bis jeizt nicht genug beachtet ist, durch die ganze Halbinsel und tritt besonders
demjenigen Hörer nahe, der dem unbelauschten, nicht aufs Gehörtwerden be¬
rechneten Gesänge nachstellt. Es liegt eine sehr nahe Verwandtschaft zwischen
dem Gesang der venezianischen Gondolicrs, der Stanzen aus La Gerusalemme
Nbcrata abhinge, und der Singweise des Carretiere, welcher, mit leeren Wein¬
fässern von Rom nach Albano heimkehrend, in die Ecke seines mit Gardmen-
frnnzcn verzierten, mit bunter Tapete und klingender Glocke geschmückten be¬
deckten Sitzes geduckt, langsam und unermüdlich seine Nitornelli vor sich hin
singt. Und wieder erinnert man sich Beider, or'um man am Golf Neapels,
etwa in den Orangenmafserien Sorrcntos, dem gedehnten, endlosen, eintönigen
Gesänge lauscht, mit welchem der dort Beschäftigte seine Arbeiten begleitet.
Auch hier ist der Weckselgesang vorwiegend, wie dies überall da der Fall ist.
wo die Naturumgebung gemeinsame Wirkungen und verwandte Stimmungen
hervorbringt. Wie der Kanarienvogel durch seinen fernen Landsmann in
Athem gehalten wird, wie ein Frosch dem andern antwortet, wie die Cicade nur
in, Gesellschaft singt, so der Mensch im Garten der Natur. Unzählige Male
haben wir während eines langen Aufenthalts am Golf Neapels die Beobach¬
tung gemacht, daß ein singender den andern zum Antwortgesang hinriß, oft
in Entfernungen, welche es unmöglich erscheinen ließen, daß einer den an¬
dern verstand. Ein dritter aus noch weiterer Ferne mischt sich hinein, ein
vierter, ein fünfter, ein sechster gesellen sich hinzu, häufig ohne einander sehen
zu können, und am Ende klingen von allen Seiten verwandte Tonwciscn, bei
diesem stärker, bei jenem schwächer, bei diesem kunstvoller, bei dem andern
roher, aber immer einander ablösend und in Rhythmus und Tonfall auffallend
ähnlich. Eine Menge Bleistiftnoterl. die den melodiösen Inhalt dieser Sänge
festzuhalten suchen, liegen vor uns. In langsamen Triolen steigt und fällt
die Melodie im Umfange einer Quarte, vausirt, wiederholt sich und sinkt zum
Schluß drei bis vier Töne unter den tiefsten bisherigen Ton. Dieser wird
möglichst lange ausgehalten. Dabei erhält die Singweise ihren fremdartigen
Charakter wesentlich durch das Vermischen von Dur und Moll. Die erstere
Tonart wiegt vor bis ein Ruhepunkt naht; also, wenn wir die Triolenfvrm
durch «/8 Takte ausdrücken, etwa bis zum dritten Takt, welcher in müdestem
Moll die Stimme sinken laßt; die Wiederholung dann wieder in Dur und
zum Schluß abermals der tiefere Tonfall durch lauter Verminderungen ange¬
bahnt. Jeder Theil besteht etwa aus 3 «/g Takten, außer Auf- und Schlu߬
takt; das Tempo entspricht unserm Andcmtino, wird aber durchaus frei und
recitircnd genommen. Der letzte Ton ist meistentheils unbestimmbar und liegt
zwischen den ausdrückbaren Noten, etwa wie die Uebergangstöne der Geige.
Er gehört nicht in die Harmonie der Haupttakte. Dennoch beginnt der Ge¬
sang immer wieder unbeirrt auf dem richtigen Ton.
Einen Text unter vielen, die wir an Ort und Stelle sammelten:
Nach dem schönen Berge will ich gehen,
Wo die Wäscherinnen zu finden sind.
Dort such ich mir die Schönste aus.
Bei mir bleibt sie, ich lasse sie nicht wieder.
Jeder wird sie bewundern: (Zuestg, quanto o dvllg,!
Wo hast du die gefangen?
Auf dem, schönen Berge fing ich sie ein,
Wo der Schnee liegt und nimmer schmilzt.
Aehnlich sind die meisten Gesänge. Eine Schöne ist gewöhnlich der
Gegenstand, nach welchem das Lied sich sehnt. Schnee hat für den Süd¬
länder den eigenthümlichen Doppelreiz des Gaumens und der Augenweide.
Sein Lieblingskuhluugsmittel, Granito, ist Conditoreis, das aus veredelten
Schnee besteht. Seine Schilderungen entlehnen ihre Reize daher gern aus
den Regionen oberhalb der Schneelinie.
So zählt auch ein Lied mit dem Refrain 1>ixoli t-iÄpoli, come la nov»,
»uns eng-nnr nig.! zu den oft gesungenen. Weiß nämlich wie der Schnee ist
die darin gepriesene wilde Taube, weiß wie der Schnee, Rama mia,!
Die Melodie, nach welcher in Venedig die Tassostnnzen gesungen
werden, ist ebenfalls reich an Triolen, aber fast durchweg in Molltönen und
bereits im Eingange durch lang gehaltene Atoten von feierlicher Wirkung.
Die wesentlichste Aehnlichkeit zwischen ihr und der eben besprochenen Weise
liegt in dem lässig sinkenden Schluß und dem ungemessen verhallenden End¬
ton. Man wird in einzelnen Theilen an Palästrina erinnert. Es ist über¬
haupt zwischen der alten Kirchenmusik und dem Naturgesang der Italiener
viel Verwandtes.
Das römische Ritornell, obschon auch in keine unserer regelrechten Ton-
arten einfügbar und mehr im Charakter einer der altgriechischen Tonfolgen,
hat mit den oben angedeuteten Singweisen das Zerren des Schlusses, das
Trioleneinschieben und die schläfrige Unbestimmtheit gemein. Da es sehr
häusig komisch wirken soll, so erhöht der Sänger durch das lange Vorenthal¬
ten der Schlußsilbe die Wirkung, indem er die Spannung des Hörers ver¬
längert. Wo ihm niemand zuhört, faßt er sich um des eignen Genusses
willen nicht kürzer, da ihm das clolee to' ninno, zu dem der Ton langsam
hinabsinkt, lieber ist. als der kürzer gehaltene Theil des erzählenden Eingangs.
Hier eins dieser römischen Gassenproduete, wie es zur Chitarra gesungen
wird, langsam, gedehnt, zum Schluß meist in Moll und fast Note für Note
dem Gesänge in den Massarien Sorrcntos entsprechend!
Blüte des Oelbaums!
Wer ein Weib nahm, das nicht Frieden hält,
'Ist ein Mann zwischen Leben und Sterben.Nußblüte!
Willst du freien und keinen Krieg habe»,
So nimm eine Blinde, Taube oder Stumme.Pinicnblütc!
sichrer ist eine Terre im Lotto zu treffen,
Als eine Gattin ohne Mängel.Nelkenblüte!
Die Weiber haben Rosen aus Wangen und Busen, .
Aber pflücke sie — Du wirst Dich stechen!Melonenblüte!
Wer da den Frauen trauen möchte,
Denke bei Zeiten an Simson und Delila u. s. w.
Der Reim wird nicht immer festgehalten, Assonanzen, und oft nicht ein¬
mal diese, schließen die letzte Zeile. Eigentlich aber soll die willkürliche An¬
rufung einer Blüte ?loi' al Noloue, ?lor ä'Incliviu, u. s. w. den Anhalt für
den Endreim abgeben. Die immer rege Phantasie des Jtalieners hat dadurch
einen Zaum, der sie zum Aufsuchen einer Reimverwandtschaft nöthigt, und
da die Melodie nicht mehr erfunden zu werdeu braucht, die italienische Sprache sich
aber spielend reimt, so ist die unserm Volke abgehende Jmprovisationsgabe
hier kaum noch etwas Verwunderungswcrthes, Der ganze Zauber des Ritor-
nells besteht in der Schlußzeile, die der Sänger selbst zu finden hat, nachdem
er die Blüte im Eingang nannte. Hier spannt sich das Interesse. Jeder hat
einige Dutzend Reime in Bereitschaft und ist überrascht, wenn der Sänger
neue bringt. Im Lesen geht dem Ritornell jeder Reiz ab; die Willkür des
Eingangs verletzt als sinnlos.
Die Begleitung des Instruments ist unwesentlich und die meisten Ritor-
nelli fingt man ohne Instrument; steht eins zur Verfügung, so schließt gewöhn¬
lich ein saltarelloartiges Nachspiel jeden Vers ab. Von welcher Gemeinnützig¬
keit diese Sangform ist, davon wird man sich hiernach leicht überzeugt halten.
Zu den meisten Tagesstunden hat ein äußerungsbcdürftiges Volt wie das
italienische, etwas aus dem Herzen, was heraus möchte. Ein Mädchen, das
sich am Fenster zeigt, fordert die Necklust ihres ol» ü. vis heraus; sofort wird
irgend eine Blüte angerufen und ein schalkhafter Endreim dazu ersonnen.
Der Schuster, aus der Straße mit Sticfelbencigcln vollauf beschäftigt, macht
sich im Ritornell über die vorüberwandelndcn Schuhe und Stiefeln lustig, an
denen er Mängel aller Art entdeckt. Die Latugaverkäuferin verspottet ihre
gegenüberstehende Concurrentin. Der Campagnereiter nimmt mit einem Nitor-
uell von der Wirthin der einsamen Herberge an der Via Appia Abschied und
hat den Vorrath in seinem Neimköcher noch lange nicht verschossen, wenn er
in Arriccia eintrabt. Und nun gar wenn Abends das Geschäft ruht und
hier und dort Liebeseinleitungen gemacht werden, welche leicht zugängliche
und jedem geläufige Mittheilungsweise und wie unverfänglich zugleich, da alle
Welt singt!
Außer dieser Art Gesang nun, der sich über ganz Italien erstreckt und
den wir mit den Schifferliedern im Hafen des goldnen Horns vergleichen hör¬
ten. gibt.es eine unzählige Menge Lieder, welche im Munde des Volks leben,
durch Tradition oder auch durch gedruckte Ueberlieferung sich fort erhalten und
mit der französischen Chanson manche Aehnlichkeit haben. Wir geben einige
Beispiele aus Rom:
II Norlo non na deeoo, lirira. ig. ig. lorg ig,!
?ovoro Norlo, eoms tÄrd, s. e.xmrxü.?
Wie die Amsel hier im ersten Vers keinen Schnabel hat und der Chor,
dem die letzte Zeile zufällt, daher verwundert fragt: wie er nur sein Leben
fristen werde? so spricht ihm der zweite Vers die Augen, der dritte den
.Kopf, der vierte den Hals ub und immer bleibt die Verwunderung des Chors
die nämliche.
Ein anderes Beispiel:
Lus dolli (ZLeliictti! Ig. vitg, nig, tu tgi, oontontg,
L<z ti miro, ölig, non ti läse-ol'o eng.i-el»o bvlli
Oeelrietti atro luri tu!
Im zweiten V/rs werden die Zähne gepriesen, im dritten it I>c;I ,ur«in«>,
im vierten alle Wonne, welche die besungene Schöne zu bereiten vermag.
Aehnliche Huldigungsausdrücke bringt ein drittes Lied zu Gehör:
HusZIi oeelu son astri
Del viel xiü lueenti,
voralli 1e labbrg,
8011 xerle c^nei ahnte u. f. f.
und der Refrain versichert allemal
ni ssiribri Regina
Xon xiü ölig-irslla!
Wo die Liebe so glühend ist, hat der Schmerz natürlich auch eine Menge
Uebertreibungen bei der Hand.
^0 elrig-mo I», inerte! ode vuoi me inteliee! u. s. W.
Meistens schildert der trostlose Liebhaber seine bleichen Wangen, und wo
ein Wasser in der Nähe, da spricht er von Selbstertränken.
1^ SimrMg,, ein in Neapel sehr beliebtes Lied, gibt in sieben langen Ver¬
sen die Gefühle eines bis zur Raserei Verliebten wieder. „Ich bin ganz Feuer"
sagt er der Dame seines Herzens, „nicht das Meer genügt die Glut zu löschen.
Arme und Beine sind mir wie zerschlagen. Ich sckwitze kalt, verändre die Farbe,
mein Blut gefriert. O erhöre mich! Nächte lang lag ich auf der Lauer, weder
Schnee noch Regen fühlend. Nun, Reuma? sage, bvllg, ini^,
?ere:la lo core ig, siMxMg,,
'Quitte 'utatto te ka, miainmorü,!
Mit diesem nämlichen kurz und gut schließt jede Zeile.
Nicht minder gesunden Humor bewahrt sich der Anbeter der schönen Caro-
lina. Ihre Haare haben ihn vor allem verzaubert; er erklärt, närrisch ge¬
worden zu sein. „Betrachte ich diese Haare, da mein' ich in die Sonne zu
blicken. Küsse ich sie gar, da führen ihre Düfte mich zu Dir. Immer trage
ich das theure Pfand auf dem Herzen; selbst im Schlafe umgaukeln sie meine
Träume. Uebrigens habe ich schon halb die Miene eines traurigen Hundes,
und es ist hohe Zeit, daß du mich heirathest." Dies Lied ist in ganz Italien
heimisch und wird als
Vera (Äuiimm cle ki Oa.xe1i ac (üg-roliirg,
feil geboten.
Häufig gibt auch die Beschäftigung der Schönen Anlaß zu poetischen
Ergüssen. So z. B. in der Savannerella, wo der Schönsten aller Schönen,
dem Ausbund aller Nenellen, gesagt wird, sie sei lieblich wenn sie wasche,
lieblich wenn sie Zeug zum Trocknen aussauge, und die Sonne gehe nur des¬
halb auf, um ihr, der Wäscherin, beim Laugen und Trocknen zu helfen. Auch
hier wird schließlich die Ehe als einziges Rettungsmittel empfohlen. Dies Lied ist
echt neapolitanisch, und der Hörer erinnert sich dabei mancher Schönen dieses
Berufs, die er auf ihrem mit Wäschkörbcn beladnen Maulthier vom Vomero
herabtraben sah. ^
Nicht minder werden die Gemüschändlerinnen gefeiert, und zwar eben¬
falls mit Grund, denn es gibt sehr zierliche unter ihnen. Die ?aan1g.na ist
ein durchaus volksthümliches Lied.
Dazwischen gibts aber auch schmachtende Mädchenherzen. „0 l'resoro,
o VioMa, Ah Le'arms.1" seufzt eins derselben, „kehre zurück, ich bereue meine
Kälte. Nicht mehr tanzen noch singen kann ich. Der Signor und die Sig-
nora und die ganze Verwandtschaft haben schon bemerkt, was mir fehlt.
Komm und noch diese Woche soll Hochzeit sein! Alle Tavernen von Se. Lucia
wollen wir durchschwärmen und die Nachbarn mögen unsere Freude theilen."
Auch hier also ein durchaus praktisches Ende. Selbst der arme Teufel, der
das große Loos zu treffen meint, geht zu allererst mit Heirathspiänen um.
Vor der Hand will er seine Hose versetzen, um in Benevent drei Nummern zu
wagen. Er ist aber sicher, daß sie herauskommen, und so soll seine Nenne
sich schon auf alles einrichten, unter anderm auf eine leriZUÄ lurastera, eine
fremde Sprache, denn im Frühling will er mit ihr Japan und Indien berei¬
sen. Natürlich schließt das Lied mit einer Niete, und er macht sich von Nenne
ebenso rasch los, wie sie von dem Ohnehosen.
Ueberhaupt ist die Umgangssprache in diesen Liedern durchweg von jeder
Schranke frei. Die teils. Liaräeneru, nimmt die ihr gebrachten Huldigungen
sehr übel. Francisco, der Gärtner, habe schon ihr Herz. Was Teufel lasse
sich ein andrer einfallen ihr sein Leid zu klagen; noch überdies ein solcher
Affe (Melo eng.im0No)I Ob er nicht merke, daß sie wie eine frische Rose blühe,
daß sie Milch sei, die man nicht stehen lasse, bis sie sauer werde? Die nea¬
politanischen Lieder thun es in Grobheiten denen Roms und Venedigs zuvor.
Die meisten Lieder, sobald sie anfangen beliebt zu werden, rufen eine soge¬
nannte liisxostÄ hervor d. h. eine gewöhnlich derselben Melodie angepaßte
Antwort, zuweilen von dem nämlichen Dichter, häusig von einem andern und
nicht selten travestirenden Inhalts. So' z. B. die liisvosw Mg, LianMns.:
1e voZIio den assai! In diesem letztern poetischen Liede erweichen die Seuf¬
zer eines Verliebten endlich das Herz der schönen Angebeteten, und der letzte
Vers jubelt über den Triumph Amors, denn ihr Auge werde feucht, ihr Herz
rufe ihm Antwort zu! Diese Antwort auf das beliebte Lied des Improvisators
Raffaele Sacco gibt ein Ungenannter. Nachdem die Schöne alle möglichen
Schmähungen über den Liebhaber ergossen hat. schließt sie mit der Versicherung:
für so feines Brot, wie sie sei, habe er viel zu grobe Zähne, und sein ganzer
Singsang bereite ihr Uebelkeit.
Von ähnlichen Wirkungen auf den Magen redet die in dem Liede ?eeelr6
angesungene Nenella. Sie sendet ihren Bewunderer ins Tollhaus; Schönheit,
Geld und Lebensart besitze sie und wisse einen Bessern zu finden. L!in
eg-nenöi-o! — In einer Risposta auf die Vorwürfe MenneclM räumt die
Geschmähete ein, sie haben 100 Liebhaber, Sergeanten, Schneiderund andere
gute Leute, Mennech6 möge seiner Wege gehen. In einer dieser Canzonen
klagt ein Bräutigam, seine Braut esse zu viel, werde immer runder, spatziere,
und sei mit jedermann gut Freund, während alle Welt sage, eine Liebende
werde blaß, mager, melancholisch und verkehre nur noch mit den Sternen.
Auch hier klingts derb aus dem Walde zurück. Sie thue, was ihr anstehe,
werde essen, daß sie „rund und majestätisch bis zum Bersten" werde. Er sei
ein Naseweis, und sie sehe ihn mit dem Rücken an. — Die Angst, abzuma¬
gern vor lauter Liebesleid, sprechen die meisten Liebesklagen aus. In dem
römischen Liede II Noretto versichert das Mädchen, wenn sie ihren Mohren
nicht heirathen dürfe, gehe ihre Gesundheit zu Grunde. Vergebens stellt ihr
die Mutter die Armuth des Mohren vor, und verspricht ihr zu nächstem Jahr
marke eine schöne Schürze, — sie behauptet, die Gesundheit halte es nicht'
aus. — Erbauliche Selbstschau auch stellt ?in Agostino Clementis Canzone
„(Zu6 ins, vvßlio c> marito" eine Florentinerin über die Ehelosigkeit an. „Ich
halte dies einsame Leben nicht länger aus. Ng.ma nig,! Laß mich heirathen!
Schon vor drei Jahren verliebte ich mich und verlor die Farbe. Jetzt fange
ich an, wie eine alte Jungfer. sauer zu werden. Haut und Knochen trocknen
zusammen. Die Leber macht mit Gewalt den Geist krank. Warum durften
Teresa und Luisella heirathen und ich nicht? Liegt doch die Aussteuer bereit
und Ringe und Kleider dazu. Dabei verstehe ich mich auf Handarbeiten und
Antoniello ist ein braver Bursch. Himmel, welches Glück, wenn er Abends
an mein Fenster kommt und ich, mit sauber gerollten Haarlöckchen um den
Kopf, dasitze und mit ihm schwatzen kann. Aber immer genügt das nicht.
Wahrhaftig, ich vertrockne wie eine überjührige Schaflaus?"
Die schöne Markincia gesteht ihre Liebe mit dem Zusatz, aus einer Mai¬
rose sei sie allmälig zu einer Tvdtenblume geworden.
Wir sagten schon, daß ein Liebeslied selten ohne Bezug auf Hochzeits¬
festlichkeiten bleibt. Während der Werdende von diesen Dingen mehr ober¬
flächlich redet und sie nur anführt, um seine Werbung ernstlich erscheinen zu
lassen, geht das Mädchen gern ins Detail. In der poetischen Risposta des
Baron Zezza auf Agostino Clementis ?runo amore ruft sie dem Jugend¬
geliebten die ersten Kinderspiele, dann die Stelldicheins ins Gedächtniß und
verbreitet sich endlich mit Behagen über ihre Hochzeitsvorbereitungen: der
Kuchen sei schon gebacken, die Aussteuer liege bereit, der Hochzeitsbitter sei
bestellt. Wo ein längerer Brautstand nicht schon über die ehrbaren Absichten
des Liebhabers Beruhigung gibt, da heißes: das Weitere nach der Hochzeit!
oder auch: sprecht mit Mama, fraget Papa. Meist wird der kürzeste Heiraths-
termin gleich ausgesprochen. Es ist dieser Zug für italienische Volkssitte höchst
charakteristisch. Der Verkehr zwischen der Unverheiratheten und ihrem Ver¬
ehrer pflegt in Italien sehr beengt zusein, weit mehr als diesseits der Alpen.
Das Mädchen wird mit Aengstlichkeit bewacht, und bewacht sich selbst mit
nicht minderer Vorsicht. Erst der Priestersegen macht sie frei.
Einige Lieder lassen freilich durchblicken, daß solche Ehen häusig Ent¬
täuschungen im Gefolge haben. In folgender Weise unterhält sich ein Römer
mit seiner Gattin.
Sie: Ist das ein Fleißiger! Entweder muß er essen oder trinken. Mor¬
gens in die Aquavitaschenke, Abends berauscht zurück. All sein Gut hat er
aufgeschluckt. Mein Hochzeitsgut ging mit drauf! Nund wie eine Pomme-
ranze kam ich zu ihm, eine Sardelle läuft mir jetzt an Corpulenz den
Rang ab!
Er: Hochzeitsgut? Einen Seegraspfühl eben genug zum Pfeifenstopfer!
vier klägliche Stühle, ein Bettgestell kaum fähig allein zu stehen. Schon in
der ersten Nacht brachen wir damit zusammen. Die ganze Nachbarschaft fuhr
aus dem Schlaf!
Ein Liebhaber, den die Eltern beim Wort halten, sucht in der Canzone
Neso SeecAw einen guten Freund, der ihm seine Liebste abjage. Heute sei
des Mädchens Geburtstag, dann komme der Namenstag, dann Weihnacht,
Neujahr, Carneval und endlich gar der Mama Geburtstag. Da finde ein
Anderer Vergnügen daran, und dabei werfe die Mann ihm noch immer vor,
er komme nur zum Vergnügen! — „Die Pest über die Weiber!" ruft der im
Toledo durchgeprügelte Tortaniello, der sich einfallen ließ mit einer Schönen
anzubinden.
Diese Neigung zu komischer Ausfassung macht sich auch über den alten
Liebhaber her, der „kein Adonis, o nein, kein Adonis ist." Ihm wird ein
Spiegel vorgehalten, damit er sehe, was ihm sür Hörner angewachsen seien.
Ein Auge drückten heirathslustige Mädchen wol zu, bei ihm aber reiche ein
Augezudrücken nicht aus. — Ebenso geht es in der römischen Lirsea in ^el-ra,
über die alten Weiber her. „Warum schelten sie mich Kunkel? Weil ich 90
Jahr alt bin und keine Zähne mehr habe? He! mein Vetter ist ein Zahnarzt,
der wird schon Rath schaffen. Oder um meiner Haare willen? Der Perru-
chiere ist nah bei. Laßt mich nur machen. Oder um meiner Einäugigkeit
willen? Nun, da gibts jetzt Augen von Glas. Ich will" sie schon prellen."
Aus allen diesen Canzonen blickt die Physiognomie des niedern italie¬
nischen Volks. Die meisten Nenellen reden von ihrer Herrschaft, sind also
Dienende. Der Einfluß des Vaudevilles ist nicht zu verkennen. Man witzelt,
schwärmt, prügelt sich, ist über alle Gebühr grob und singt zur Chitarra das
tägliche Einerlei des italienischen Lebens. Die Sittenpolizei theilweise ist
Schuld daran, daß bei all diesem Singsang nichts Unsittliches durchbricht;
aber auch jeder lüsterne Anstrich fehlt, und diesen winde keine Polizei zu
verwischen im Stande sein, wenn er überhaupt im Volkscharakter läge.
Eins der wenigen Lieder, welches durch seine Melodie bedeutend zu nen¬
nen ist. hat dem Interdict der neapolitanischen Polizei weichen müssen. Wir
gelangten glücklich' noch zu einmaligem Anhören und fanden Gelegenheit, die
Weise durch Noten festzuhalten. Man sang es hauptsächlich an der Küste
von Amalfi und Salerno. wagt aber jetzt nicht mehr es anzustimmen. I^a,
Noriaea, xa.22g, heißes im Dialekt. Die tollgewordene Nonne singt bald von
hundert Liebhabern, die sie haben möchte, bald von einem Einzigen, nach
welchem ihr Sinn steht und den sie vom Glockenthurm aus sehen kann, bald
vom Santo Diavolo, der ihr helfen soll, und wie sie Lust habe ihre Tunica
in Brand zu stecken, wenn sie daran denke, daß sie Nonne sei. Zum Schluß
kommt immer, nach einer wild lustigen Melodie, der klägliche Wehruf
„Oiniö! Olav! I^g. Nonaoa sou' lo! ö!"
Das Lied hat noch viele, uns nicht bekannt gewordene Verse. Es wäre
schade, wenn es verloren gehen sollte, denn an poetischem Gehalt und mehr
noch an musikalischen ist die Ausbeute unter den Volksliedern Italiens un¬
gemein gering.
Zu den wenigen Ausnahmen zählt noch immer das echt südliche Schiffer-
lied II Lare^noto al Lemtg. I^ueia, das durch die Uebersetzung von Kopisch
dem Texte nach bekannt, auch um seiner lieblichen Melodie willen in Deutsch¬
land eingebürgert zu werden verdiente.
8u1 ins,rs luoiclg.
I/astro ;
?Ig.c.iäa s I'onäa,
?roiixöro ö it vento.
Vönito s,II'agi1ö
L^rLllöttg. mia! 8t. I^ucig,! 8t. I^ucig.!
Es liegt ganz der Zauber des neapolitanischen Meerufers in Wort und
Klang dieses zarten Liedes. Santa Lucia hat ein Kirchlein am Strande,
dort wo eben das meiste Schiffertreibcn ist; sie beschützt die Schiffer und steht
in dem Rufe, die Blindheit zu heilen, so daß auch Lieöeskranke an ihre All¬
macht glauben. Man hört das Lied häufig von Schiffern, welche am Ufer
in ihrer Barke auf Kundschaft warten.
Verwandter Stimmung ist das altvcnezianische Schifferlied I.g, HoMoI-ztw.
I^s, I?ion6ma. in Aonäoletta.
I^altra, fers, go inonü,,
Oal piaser 1a povörsttg,
I^asa, in botg, inäormouzÄ.
Ihr Schlummer in seinen Armen wird von Zeit zu Zeit durch das Wel¬
lengeräusch unterbrochen; das Schaukeln der Gondel aber wiegt sie immer
wieder ein. Während dessen tritt der Mond aus den Wolken und bescheint
ihre lieblichen Züge; ein leises Lüftchen hebt den Schleier von ihrem Busen.
Der arme Gondolier verliert seine letzte Fassung, und seine Leidenschaft weckt
sie aus. >
Zu den Schifferliedern zählt auch der ?<zö<!L>,t>or acti' Onäg.. Der Römer
singt den Refrain auf Dirindondella und hält die Hauptmelodie in Moll.
Der Neapolitaner hat dasselbe Lied, aber in Dur, wie unser deutsches „Mein
Schiff streicht durch die Wellen! Fridolin!" Sein Refrain ist Fidelin! ein
Zuruf, den die Rudrer zu ihrer Anspornung sich zu machen pflegen, wenn sie
andeuten wollen, der Fremde werde sie mit einem Gericht Nudeln regalnen.
Am Golf bittet man bekanntlich oft nicht um ein Trinkgeld, sondern um eine
Schüssel Macaro oder Fidelin. In beiden Liedern fällt einem Mädchen ihr
Ring ins Meer und der Schiffer, der ihn wieder holt, läßt sich, statt der an¬
gebotenen 100 Zechinen, einen Liebespreis gefallen.
so lo hö, wio xg.etre,
OKs oosa, vri äirk.?
Aber er beruhigt sie:
Leg, unda s non air nimeh,
<ÜKe xoi t,i sxosorü.
Weniger gut hats der Schiffer in dem sehr lieblichen Liede ig. bells. Lor-
i-Mting.. Beim Piedigrottafcst hat er sie zuerst erblickt:
^0 ti vieil A, piscligrottg,
tutt», gio,jg., tutet ksstg,,
Oallg, ins-ins. ori eonäolta,
I?in al üori e poris in tssts.
Goldverziert das Corpetto, seidenschillernd das Kleid, die Haarnadel mit
zitternden Silberähren — ma, tu ingiÄta. Loi-rentina. pooo ouri it mio xeng.1-.
Seitdem treibt er in seiner zerbrechlichen Barchetta unter ihrem Fenster, bis
ihn endlich ein Sturm als Schiffbrüchigen aus den Strand von Resina
wirft.
Auch das zierliche Voeg. Voea! ist ein sicilianisches Schifferlied, und
nicht minder ists ein Schiffer, welcher die Fee von Amalfi beweint. Dies
letzte melancholische Lied sangen unsere Schiffer, als wir von Salerno nach
Amalfi fuhren und wir hatten Muße Text und Melodie uns anzueignen.
Kehre doch zurück, Geliebte! du meine Fee, der nicht Blume noch Stern gleich
kommen.
Ach, zu wem rede ich! Wo ist meine Rose? Entblättert am Wege! Keine Düfte
spendet sie mehr.
Ein großer Herr hat sie mir abtrünnig gemacht; drei Monat schon ist sie fort,
und doch, ob sie gleich treulos, ich kann sie nicht vergessen!
Fahre ich Morgens in der Barke gen Neapel, da, mein ich, reicht sie mir die Hand
im Morgenwinde entgegen. Werfe ich die Netze ins Meer, da
blickt mich ihr Bild aus den Wellen an. Ich sehe sie im Geiste
und grüße sie, wenn ich bei der Kapelle vorübcrsahre. Aber
ach, sie ist eine entblätterte Rose und ich soll sie vergessen!
Nur wenige der gangbaren Lieder in Italien haben diese durchgehend
wehmüthige Stimmung, die unsern deutschen Volksliedern so eigenthümlich ist.
Auch naiv sind nicht viele. Zu letzter« zählt der neapolitanische Monnezza-
riello. Er möchte eine Schone erobern und bietet ihr, was ihm eben zu
bieten möglich ist: Zu Weihnacht eine große Menge Lorbeer und Broccoli. zu
Ostern das übliche El und ein Lämmlein, dann so oft die Jahreszeit es gestattet:
frisches Obst, und endlich, wenigste ihn lieben will, auch sein Herz. In der
Risposta dankt die Schone für Broccoli und bittet statt dessen sofort um das
Herz. El und Lamm sind ihr schon recht, sie bietet als Gegengeschenk ihren
Ring an. Auch Früchte werden dankbar acceptirt.
Zart endlich ist die Empfindung in dem neapolitanischen Gärtnerliede.
Er erzählt seine Morgencmpfindungen im Garten; Rose. Nelke. Lilie, Veilchen
habe er für sie, die Zauberin, die ihn berückte, zum Strauß gebunden, aber
eine Stimme habe er zu hören gemeint, die ihm zurief, die rechte Blume
fehle noch dem Strauße. Jetzt sei auch sie hineingebunden, ganz sotto sotto,
weil sie schamhaft sei, denn diese Blume, die in ihrem Gefühl nie welke, sei
sein Herz. In der Risposta gibt ihm die Schöne nichts an Sinnigkeit nach.
Sie habe auf den ersten Blick diese Wunderblume in dem Strauß entdeckt..
Wenn nur sie selbst, die Empfängerin der duftigen Gabe, ^ol-osa, treseg,
und hotta. genug sei, um seine Liebe zu verdienen! Viel schöner möchte sie
jetzt sein. Uebrigens sei sie Wäscherin, halte zum Trocknen und Bleichen einen
Garten und dahin trage sie den Strauß, um ihn immer vor Augen zu haben.
Komme nichts dazwischen, so könne schon in Monatsfrist Hochzeit sein. Er
habe keinen Herrn zu fragen, sie sei ohne 'Ig,ta, und Naus,. So solle denn
Treue die Blume sein, welche nimmer zwischen ihnen welke.
Aehnlich hält sich zwischen Poesie und Prosa das schon erwähnte Lied
Je> xrimm' amors. Der Refrain
Oaro v Je> xrimm' amoro
ü non Lo seorü^I
hat verwandte unter den französischen Chansons, wie auch unter englischen
und deutschen Liedern. Ob eins von dem andern borgte, ist schwer nach¬
zuweisen, dem Gefühl nach scheint es nicht ursprünglich italienisch.
Die Dichter der neapolitanischen Lieder neuern Datums sind theils Im¬
provisatoren, theils Straßensünger, hin und wieder auch wirkliche Berufene.
Man liest auf den bessern fliegenden Blättern Namen wie Baron Zezza,
Kavaliere Raffacle Sacco, Pietro Durelli, Battista Collajanni. auf den mehr
dem Gemeinkomischcn gewidmeten dagegen Namen wie Mariello Bonito,
E del Prelle, Agostino Elemente u. a. Auch ein Namensvetter des Dichters
der Gerusalemme liberata, der ja in Sorrent heimisch war, wird genannt:
Totonno Tasso. Die meisten Compositionen sind von Pietro Labriola; sie
haben viel Opernantlänge und gehen fast durchweg im Walzertakt. Die niedrig-
komischen Canzonen enden häufig mit einem Appell an die Börse des Hörers
und mit der Versicherung,, daß des Sängers Kehle der Anfeuchtung bedürfe.
Begreiflicherweise ist bei der zunehmenden Fülle dieser Volkspoesie das
Bedürfniß und der Geschmack für classische Stoffe immer mehr verschwunden.
Dante würde heute nicht mehr dem Schmied sein Geräth auf die Erde zu
werfen brauchen, zornig über die willkürlichen Auslassungen, die sich dieser
beim Singen der göttlichen Komödie erlaubte. Auch kein Eseltreiber würde
ihn mehr durch das den danteschen Terzinen angehängte ^.rrki, ^.i-rin! in
Verzweiflung bringen. Schmied und Eseltreiber, wenn sie nicht gar ünpro-
visiren, haben andere Lieder als die von Hölle und Fegefeuer. Die zärt¬
lichen Schilderungen aus Dantes 1^ Nortv av Lo^iieo sind weniger ver¬
gessen worden und ihnen wie denen Petrarcas entlehnt noch heute der un¬
glücklich Liebende seine poetischen Ausdrücke. Es ist noch immer Petrarcas
Olme it bei ol«o!
Oiinü it MÄVL sguiu'no!
it iLM^lro iiortÄinouto sAero!
was in einer italienischen Liebesklage durchklingt. Die Sprache dichtet schon
von selbst und mit diesem Klangzauber, dem sich ein melodischer Gesang
gesellt, begnügt sich das italienische Ohr. An eine Stimmungseinheit zwischen
Musik und Text wird dabei selten gedacht. Es gibt übersprudelnde Liebes¬
lieder mit der klagendsten Melodie und umgekehrt. Borwiegend heiter sind
die neapolitanischen Lieder, doch taugt das Wort heiter überhaupt nicht sür
italienisches Wesen, und so mag denn das Ueberwiegen der Durtonarten den
Sinn richtiger bezeichnen.
Interessant wäre ein Vergleich zwischen dein in Obigem angedeuteten
jetzigen Zustande der italienischen Volkspoesie und derjenigen anderer südlicher
Nationen, namentlich der spanischen, auch vielleicht, so weit die Sangweise
in Betracht kommt, der Bevölkerung jenseits des Mittelmeers. Das Material
zu einer solchen Arbeit ist leider noch zerstreut und überhaupt das vergleichende
Studium diesem Gebiet noch ziemlich fremd. Es würde eben hier zu größerer
Uebersichtlichkeit führen und namentlich Licht verbreiten über denjenigen musi¬
kalischen Theil, der nicht wie die Canzonen von der modischen Opernmelodik
angesteckt worden ist. Hierher gehören zumal die einfachen Weisen der Pife-
rari, der Ritornells, der venezianischen Stanzen. Auch das Wesen der Ris-
Pvsta käme dabei in Betracht. Es scheint uralt. Schon in einigen Idyllen
des Theokrit (z. B. in der 5.) antworten sich die Hirten in solchem Wechsel-
gesange. Birgils Idyllen bieten nähere Anhaltpunkte, und Horaz spricht in
seinen Buchen von Wechselgesängen der fescennischcn Landleute, die dem näm¬
lichen Gebiete angehören dürften und sehr wahrscheinlich die Melodie des
heutigen Ritornells schon festhielten, denn sie scheint ganz gemacht, von Jahr¬
Der Mordversuch auf das Leben des Kaisers Napoleon hat von neuem
alle Blicke auf die innern Zustände Frankreichs gerichtet und den Abgrund
gezeigt, an dem dies Land noch immer steht. Der Vulkan ist nicht aus¬
gebrannt, die Lava ist noch in glühendem Flusse und wartet der Gelegenheit
sich zu entladen. Es ist von der kaiserlichen Presse sogleich darauf auf¬
merksam gemacht, daß kein Franzose sich an dem Berbrcchen bethei¬
ligt; es mag sein, daß die Untersuchung dies bestätigt, aber es ist eben¬
so sicher, daß das Attentat von der Oper keine isolirte Thatsache war und
daß eine allgemeine Schildcrhebung in Italien und Frankreich damit zu¬
sammenfallen sollte. Während die Flüchtlinge einen Handstreich aus Ancona
vorbereiteten, waren die Socialisten im Dauphin« und den mittlern Departe¬
ments geschäftig, sprachen von einer baldigen Revolution und machten sich
fertig auf Paris zu marschiren, um den Aufstand mit Waffengewalt zu unter¬
stützen. Dies ist nicht nur durch amtliche Berichte, sondern auch durch Briefe
von Leuten festgestellt, die ebenso unabhängig von den Parteien als von der
Negierung sind; die Adresse des Senates sagt, der revolutionäre Geist, der
aus Frankreich vertrieben (?). habe im Ausland seinen Sitz aufgeschlagen und
sei kosmopolitisch geworden. Bis zu einem gewissen Grade ist das wahr,
es gibt eine Art Solidarität der revolutionären Propaganda, die den Sturz
aller Throne und die rothe Republik will, Italiener, Franzosen, Polen,
Spanier, Rumänen u. s. w., aber um» wird auch kaum einen Revolutionär
aus einem Lande finden, dessen Zustande nicht höchst bedenklich sind und
durch den Druck des Despotismus den Gegendruck des Aufstandes hervorrufen.
Weshalb machen denn nicht Engländer in Frankreich »der Deutsche in Belgien
Versuche, ihre Länder zu insurgiren? Mit wahrer Freude haben wir die Be¬
obachtung gewacht, daß kein einziger Deutscher auch nur entfernt mit dem
Attentat zusammenhängt, die meisten deutschen Flüchtlinge haben eingesehen,
daß unsere Zustände, wenn nicht erfreulich, doch golden gegen die vieler
anderer Länder sind und durch Verschwörungen der Fortschritt des Vaterlandes
nicht gefördert, sondern sehr wirksam gehindert wird. Das Conspiriren,
die Mordanschläge widerstreben der sittlichen Natur des Deutschen, selbst die
exaltirtesten Köpfe unter ihnen lassen sich nicht darauf ein. Dagegen will
uns bedünken, als ob die französischen, italienischen u. s. w. Flüchtlinge und Revo¬
lutionäre immer wilder und verzweifelter in ihren Plänen und Anschlägen
werden, sie scheuen kein no.es so uninenschliches Mittel für ihr Werk der
Zerstörung und wir fürchten, daß, wenn eines Tages sie ihr Ziel für den
Augenblick erreichten, wir Dinge sehen würden, die beweisen könnten, daß
es nicht nur unter den Sipvys Menschen gibt^ die sich kaum von wilden
Thieren unterscheiden.
Angesichts dieser so gefährlichen Lage müssen wir fragen, welches ist die
Stellung der Negierung zu derselben lind welches sind die Elemente, die ein
Gegengewicht gegen jene zerstörenden Kräfte bieten. — Wenn ein Fürst, an
dessen Leben für den Augenblick die gesellschaftliche Ordnu'ng mehr als eines
Landes hängt, einem Mordanschlag entgeht, so ist die natürliche Folge eine
große Popularität, man fühlt, in welcher Gefahr man schwebte, und man
umgibt die Person, auf deren Rettung es ankam, mit seinen Sympathien.
So zweifeln wir auch nicht im geringsten, daß die rauschenden Beifalls¬
bezeugungen, welche das kaiserliche Paar in der Oper, auf den Boulevards,
in den elysäischen Feldern empfingen, vollkommen freiwillig und herzlich waren,
man fühlte, daß, wenn der Mord gelungen, man am andern Morgen die Barri¬
kaden gehabt hätte. Dazu kam noch die Bewunderung für die unerschütterliche
Kaltblütigkeit, welche der Kaiser, des Muthes, den die Kaiserin gezeigt hatte.
Es wäre leicht gewesen diese günstige Stimmung auszubeuten, statt dessen zeigt
sich als unbezweifelte Thatsache, daß die Negierung durch ihre Handlungs¬
weise in kurzer Frist die Frucht des gerechten Abscheus und der begründeten Angst,
welche die Bosheit der Mörder eingeflößt, verloren haben wird; sie hat weder wür¬
dige Ruhe noch Takt gezeigt und mit großem Ungeschick gesprochen und sprechen
lassen. Gleich die erste Anrede des Präsidenten der gesetzgebenden Versamm¬
lung mußte einigermaßen befremden; während die kaiserliche Presse versicherte,
kein einziger Franzose habe Theil an der Missethat, betheuerte Graf Morny
in starkgefärbten Ausdrücken die Bereitwilligkeit seines Corps, alle Maßregeln
zu unterstützen, welche die Negierung sür den Schutz der Ordnung nothwendig
erachte und machte einen verdeckten, aber energischen Ausfall gegen Englands
.-
Asylrecht. Wenn das Attentat nur von einigen fremden Verbrechern aus¬
ging, weshalb denn Maßregeln gegen das ganze Volk nehmen? — Ohne
Zweifel war Mornys Rede dem Kaiser zur Censur vorher vorgelegt und derselbe
überließ es einem seiner Diener, weitgehende Wünsche zu äußern, deren Er¬
füllung er als unmöglich weiß, um nachher seine Mäßigung in einem um so
vortheilhaftern Lichte zu zeigen, indem er nichts oder wenig von dem Gefor¬
derten thut. Den eigentlichen Schlüssel zu den Anerbietungen des Grafen aber
gibt die Rede des Kaisers bei Eröffnung der Sitzung der gesetzgebenden
Körper. Ohne Zweifel wußte der vertraute Rath der Regierung um die
Vorschläge, mit welchen jene Versammlungen überrascht werden sollten, die
Mißstimmung in den höhern Kreisen, die Meinung, daß die Gefahr, was
man auch sage, nicht in übermäßiges Gewalt der Negierung, sondern in einen:
Mangel an niederhaltenden Gesetzen liege, ist älter als das Attentat, sie schreibt
sich von den Wahlen im Anfang des Sommers, von der Haltung der Presse
im letzten Jahre her.
Während die Ruhe und Befriedigung Frankreichs, die Anhänglichkeit an
die kaiserliche Dynastie Jahre lang verkündet war, zeigte sich, sobald nur die
geringste Möglichkeit einer Meinungsäußerung vorhanden war, ein Gegenstrom.
Grade in Paris wurden mehre Candidaten der demokratischen Partei erwählt,
man sah, daß dies so vielfach verhätschelte eiMnt toriM« doch mit wohl¬
feilen Brot. Bauten, Festen und Ruhm Frankreichs noch nicht zufrieden
war und den ersten Anlaß benutzte, der Regierung eine Faust zu machen.
Denn weiter war die Demonstration freilich nichts, der Ernst, mit dem viele
französische Blätter für jene demokratischen oder gar constitutionellen Candidaten >
kämpften und die Entwicklungsfähigkeit der Verfassung proclmnirten, war
naiv und zeugte nicht von großer politischer Einsicht. Die Parteien konnten
dadurch wenig oder gar nichts gewinnen, da sie sich doch einer überwäl¬
tigenden Majorität gegenüber befanden, aber für das Kaiserthum waren
jene Wahlen sehr unangenehme Kundgebungen, und es folgten sogleich schär¬
fere Maßregeln gegen die Presse. Gegen die Ansicht des Kaisers, die natür¬
lich Gesetz werden wird, daß künftig schon die Kandidaten den Eid auf die
Verfassung zu leisten haben, um die Verweigerung des Eides der Erwählten
zu verhüten, läßt sich wenig einwenden, eine ähnliche Vorschrift in England
oder Belgien würde der Freiheit jener Länder keine Gefahr bringen. Aber
was soll man außerdem unter den angekündigten repressiven Gesetzen ver¬
stehen? Man fragt sich unwillkürlich, was die Regierung noch fordern kann,
was sie nicht schon hat: thut sie nicht alles, so kann sie doch alles. Die
kaiserlichen Decrete, welche den Spectateur und die Revue de Paris unter¬
drücken, sind die erste Antwort auf diese Frage. Wir bekennen, für keins
dieser beiden Journale Vorliebe zu hegen, der Minister Billault hat Recht,
'
daß der Artikel des Spectatcur, welcher sagt, „früher hätten die Leidenschaften
ihre heilsame Grenze in dem heilsamen Gesetz der erblichen Monarchie ge¬
funden, welches dieselbe über allen Wechsel und Ehrgeiz gestellt" absurd ist,
weil Heinrich III., Heinrich IV. wie der Herzog von Berry ermordet sind und
das jetzige Kaiserthum die Erblichkeit der Krone in die Verfassung geschrieben
— aber unterdrückt man ein Blatt, weil es einen absurden Artikel enthält?
— Die Revue de Paris hat sich ausgezeichnet durch Veröffentlichung unsitt¬
licher Romane und extremer philosophischer Ansichten, aber sie hat fast nie die
Negierung angegriffen. Wie weit soll denn aber die Macht der Verwarnung
resp. Unterdrückung gehen? Die französischen Blätter halsen sich bisher dadurch,
daß, da sie die Grundsätze und Handlungen des Kaiserthums nicht angreifen
durften, sie das Gegentheil derselben in England, Belgien, Piemontzc. lobten,
aber auch das — och torines IrgMumviit, d^rise^s — will der Minister des
Innern, Billault, nicht mehr leiden, derselbe Mann, der 1847 fand, daß die
Charte von 1830 noch nicht genug Freiheit gebe und unter den Reformisten
war. Natürlich sind die Präfecten noch weit eifriger als ihr Haupt. Das
Blatt „I^o i>lieu'0 60 I-r I^vir«", berichtete über die Eröffnung der Session:
Der Kaiser hat die Rede gehalten, weiche wir mitgetheilt haben und welche
laut der Agentur Havas zu' wiederholten Malen die Zurufe „Es lebe der
Kaiser, es lebe die Kaiserin, es lebe der kaiserliche Prinz" hervorgelockt hat.
Hieraus verfügt der Präfect zu Nantes: — „In Anbetracht, daß diese zwei¬
felnde und unpassende Fassung gegenüber dem so glänzenden Enthusiasmus,
den die Worte des Kaisers den großen Staatskörperschaftcn und allen guten
Bürgern einflößten, unter den dermaligen Verhältnissen noch tadclhafter wird,
wird dem Journal „I.v xlmie alö 1^ Loiic;" eine Verwarnung ertheilt." — Was
will man noch mehr? Will man Villemain verbieten, -Memoiren zu schreiben,
oder Ampere untersagen, die Geschichte der römischen Kaiser zu behandeln,
und die Ansicht zu äußern, daß die Moral trotz der prächtigen' Bauten ge¬
sunken sei, will man der Akademie einen kaiserlichen Director setzen, der wie
im Corps Legislatif das Wort ertheilt, und sie reformiren, wie man das
College de France „reorganisirt" hat? — Die auswärtigen Blätter werden
mit Beschlag belegt, sobald sie einen der Negierung unangenehmen Artikel
bringen, selbst Leute vom Schlage Girardins und Voraus haben sich zurück¬
gezogen, weil ihnen die Luft zu sehr abgeschnitten ward, so bleibt die Ein¬
tönigkeit der Lohnschreiber Graner de Cassagnac, de la Guerronnicue, Neuve :c.
und die Frivolität von Alex. Dumas Vater und Sohn. Ist das genug, um
den Platz als Vorkämpfer der Civilisation zu behaupten, zumal die aus¬
wärtige Politik entsetzlich unfruchtbar geworden, und niemand mehr von
Donauschiffahrt und Fürstenthümern lesen will? — Was kaun aber die Folge
davon sein, daß jede Aeußerung einer selbstständigen Meinung untersagt wird,
als daß die ungesunden Säfte, welche sich sonst herausarbeiten, in das Blut
zurücktreten und es verderben? —
Während nun so die Presse vorläufig der Prügelknabe des Unwillens der
Negierung ist, sehen wir voraus, daß nach allem lautem Geschrei gegen das
englische Asylrecht wenig mehr kommen wird. Die englische Regierung hat
sich mehrfach erboten, gegen Individuen, welche verbrecherischer Handlungen
überführt werden können, einzuschreiten, sie wird sich auch vielleicht zu gewissen,
strengern Maßregeln entschließen, wenn man nicht sucht, einen äußern Druck
auf sie auszuüben, aber sie wird nicht die Institutionen des Landes ändern,
oder zu ändern versuchen, weil einzelne das Asylrecht mißbrauchen. Sehr wahr
sagt die Times- „Wenn unsere Nachbarn sich nicht selbst zu schützen wissen,
wir tonnen sie nicht beschützen, und wenn sie nur einen einzigen Blick auf
die Vergangenheit werfen, so werden sie keinen Grund sehen, zu bedauern,
daß wir nicht einmal den Versuch dazu gemacht haben." Wo lebten denn
Louis Napoleoir, Louis Philipp. Fürst Metternich. der Herzog von Berry
u. a. in. in der Zeit ihres Mißgeschickes? Das Attentat hat aber außerdem
bewiesen, welche mangelhafte und unzuverlässige Einrichtung die vielgerühmte
französische Polizei ist! Orsini lebte lange Zeit in Paris, ohne beunruhigt zu
werden, alle vier Verbrecher kamen mit ihren Mordwerkzeugeu uach Frank¬
reich und wurden nicht entdeckt. schlagender ist lange nicht gezeigt, daß nicht
Polizei, sondern allein Institutionen die Ruhe eines Landes sichern. Frankreich
aber hat keine Institutionen, denn seine Beamtenhierarchie, seine jeweilige Ver¬
fassung verdienen diesen Namen nicht. Wo aber keine Institutionen sind und dem
Material mehr vorhanden sie aufzurichten, da ist der einzige Schutz der Au¬
torität in der bewaffneten Macht, das kaiserliche Rom ist das große Beispiel
dieser Wahrheit, das kaiserliche Frankreich das zweite, und verspricht nicht
weniger traurig und lehrreich zu werdeu. Wie sehr betont Napoleon die
Armee als Stütze seiner Macht; sie ist aber auch, und das ist ein gefährlicher
Schritt werter auf der abschüssigen Bahn des Prätorianismus, aufgefordert, sich
mit der Politik zu befassen. — Es ist merkwürdig zu sehen, wie ähnlich
Situationen ähnliche Jncidenzfälle bringen; als im October 1312 der Gene¬
ral Makel den Versuch machte, Napoleon für todt zu erklären, was ihm be¬
kanntlich während einiger Stunden geglaubt ward, rief der Kaiser, als ihm
die Nachricht in Nußland überbracht ward, „und wenn man an meinen Tod
glaubte, hat man nicht an meinen Sohn, meine Gemahlin, die Institutionen
des Kaiserreichs gedacht?" — (Thiers Kaiserreich Cap. -15). In den über-
schwänglichen Adressen, welche von den verschiedensten Trägern nach den Tuilerien
überbracht waren, hatte man auch diesmal den kaiserlichen Prinzen fast ganz
Übergängen, nur die Staatsridrcsse erwähnte seiner kurz. Der Kaiser war
heftig erzürnt darüber und auf seine Ordre ward die Adresse von der Armee
gebracht, welche denn an Enthusiasmus für Napoleon IV. nichts zu wünschen
läßt. Bisher hielt man es mit der Disciplin für einigermaßen unvereinbar, daß
die Armee der Dynastie ein Vertrauensvotum gebe, jetzt erklärt der General Gras
Elerambault, „die Armee sei fortan berufen, eine politische Rolle in Zeiten der
Krisis zu spielen," ein General überbietet den andern in Schwüren der Er¬
gebenheit, jede Truppenart hat neue Kraftausdrücke, ihre Treue bis in den
Tod und darüber hinaus, zu betheuern. Und der Moniteur schiebt die Adressen
der bürgerlichen Corporationen für mehre Tage bei Seite und macht daraus
aufmerksam, es sei wichtiger, den Geist kennen zu lernen, der die Armee erfülle
— vidv Tacitus Annalen und Historien. — Der Kaiser hatte in der Thron¬
rede das Heer als seine Stütze genannt, die Rede ist überhaupt persönlicher als wol
irgend eine, welche kürzlich bei ähnlicher Gelegenheit gehalten wurde, wir wollen
leinen ausführlichen Eommentar dazu schreiben, er könnte Bände füllen, wir
übergehen Se. Helenamedaille, die Herzogtümer, die Besprechung der kaiser¬
lichen Grundsätze, um nur eines hervorzuheben. Napoleon selbst, wie H. Billaült
und mehre Adressen haben eine Parallele zwischen England und Frankreich
gezogen und die jetzige Zeit in letzterem Lande mit der Negierung Wilhelms III.
verglichen. Dieser Vergleich ist nicht stichhaltig; wol waren beide Regierungen,
wie der Minister sagt, in einem Zustand der Vertheidigung, aber die Frage
ist hier, wie, mit welchen Mitteln haben sie sich vertheidigt. Nicht nur unter
Wilhelm, sondern sogar unter den beiden ersten Georgs erhob sich die jako-
bitische Partei im offnen Aufstand, ward deshalb die parlamentarische Regie¬
rung einen Augenblick in Frage gestellt? Wilhelm- ward von der Presse auf
das heftigste angegriffen und doch fiel mit seiner Ankunft die Censur, um nicht
wieder hergestellt zu werden. Unter Napoleon III. war kein Zeichen eines
Aufstandes, und doch erklärt seine Negierung die Wahl einiger unliebsamen
Leute für einen Act der Feindschaft, die französische Presse greift ihn nicht an
und sie wird dafür bestraft, dass sie ihn nicht allgemein feiert. In England
konnte sich trift der Institutionen die ursprünglich dynastische Opposition in
eine politische verwandeln, die Iakobiten wurden Tones, in Frankreich ist das
nicht möglich. Die Bestandtheile seines Staatswesens fallen auseinander und
werden nur durch ein mechanisches Band zusammengehalten, seine Verwaltung
ist eine kunstreiche Maschine, kein Organismus. Man theilt Frankreich in
Militärcommandos, wovon jedes einem bewährten General untergeben sein
söll, aber der Spruch behält doch seine Wahrheit, daß man sich wol auf
Bajonette lehnen, doch nicht setzen könne.
Blicken wir von diesen traurigen Zuständen über den Kanal, so finden
wir ein heiteres, herzerfreuendcs Gegenbild. Eine Königin, geliebt und ver¬
ehrt von ihren freien und treuen Unterthanen, vermählt unter dem Zujauchzen
des Volkes ihre älteste Tochter dein ^rde» der ersten deutschen Königskrone;
möge das Gestirn, dos dieser glücklichen Verbindung geleuchtet, sich nicht ver¬
dunkeln.
— Von allen Beiträgen über
' die Geschichte der Freiheitskriege, welche uns in der letzten Zeit zu Gesicht gekommen
sind, verdienen das lebhafteste Interesse die Memoiren des ton, prcuß, Generals
der Infanterie o, Reiche, herausgegeben von seinem Neffen, Major v. Weltzin»,
2 Bde,, Leipzig, Brockhaus — Der hochgebildete General, der seit 1783, wo er als
Junker in den Dienst trat, mit seinem Vater in ununterbrochener Korrespondenz stand,
und darin einen Anhalt für seine spätern Erinnerungen besaß, gibt zunächst für
die Kriegsgeschichte die wichtigsten Bereicherungen, Ihn von dieser Seite zu beur¬
theilen, muß den Fachschriftstell.ern überlassen bleiben. Wir machen hier hauptsäch¬
lich auf die menschliche Seite aufmerksam, Die Aufzeichnungen sind nämlich auch
in Bezug auf den Ton von einer seltenen Wahrheitsliebe und Unbefangenheit, Die
Eindrücke sind nicht dnrch die spätern Reflexionen des Alters abgeschwächt, sonder».
in ihrer ganzen Frische wiedergegeben. Durch und durch Militär und ohne be¬
sondere Hochachtung für den Civilisten ist Gi, v, Reiche doch nichts weniger als ein
Gamaschcnhcld. er hat ein warmes Herz für die Geschickt seines Vaterlandes und
für die Ehre und Sittlichkeit in den öffentlichen Handlungen einen richtigen Jnstinct,
Die Charakteristik der hauptsächlichen Führer in den großen Actioncn von 18V6
ist musterhaft, und er versteht auch die kleinen Aeußerlichkeiten sehr licbcnsmürdig
hervortreten zu lassen. So hat es uns namentlich gefreut, daß er auch König Fried¬
rich Wilhelm III., den er übrigens hochverehrt, immer in der Redeweise auftreten
läßt, die diesem eigenthümlich war, Die kleinen persönlichen Abenteuer sind nicht
blos^ anschaulich, sondern selbst mit einem gewissen Humor geschildert, und wir wer-
den lebhaft alt die Scenen erinnert, die uus durch Goethes Campagne in Frankreich
so gegenwärtig geworden sind, Mitunter ist von paradoxen Geschichtschreibern ans
die Anekdote ein zu großer Werth, gelegt worden, aber sic gehört doch auch wesent-
lich zur Geschichte und grade die vielen lebendigen Einzelheiten dieses Buchs zeige»
uns deutlicher die Stimmung der Zeit als so manche allgemeine Darstellung, die
aus rhetorischen Gründen die Localfarbc verwischt, — Als weitere Beiträge für die
große Periode unsers Freiheitskampfs erwähnen wir noch- Die Geschichte der
Jnsurrectio n en wider das westphälische Gouv erneuert, von K, Lynkcr
(Kassel. Bertram), und Die .KurHessen im Feldzug von 1811, nach hand-
schriftlichen Originalien und andern Quellen bearbeitet von Hauptmann Rcnouard
(Gotha, Schande). —'
Dec christlichen Sekten der verschiedensten Art erregen jetzt, wo auch nachdie¬
ser Seite hin die productive Kraft ausgestorben scheint, ebenso das Interesse, der
Kulturgeschichte, wie aus einem ähnlichen Grund die in Stagnation begriffene Dich¬
tung. Ein mit vieler Liebe geschriebenes, unterrichtendes Buch ist! Der Gras
Zinzcn dors und Herrnhut, oder Geschichte derBrüdcrunität bis auf die neueste
Zeit und Schilderung ihrer Institute und Gebräuche. Für Gebildete aller Stände be¬
arbeitet von Rector Schröder in Hildesheim (Nordhausen, Büchting.) Damit vergleiche
man: Leben und Wirten des Grafen N, L. v, Zinzendorf, betrachtet aus katholischen
Glaubcnsprincipicn von Fr. Pilgram (Leipzig, Ncclcuu). — Verfolgen wir hier
den deutschen, stillen Pietismus in einer individuell interessanten Erscheinung, welche
die ästhetische Bildung abstößt, aber als ein Beleg für die Culturentwicklung des
protestantischen Glanbcnsprincips Beachtung verdient, so wird uns eine andere,
wildere Richtung dieses Princips aufgehellt in der Geschichte der Congregatio-
nalistcn in Ncrrcngland bis zu den Erweckungen um das Jahr 1740; ein
Beitrag zur Kirchengeschichte Nordamerikas, von Uhden, 2. Auflage (Berlin, Schind¬
ler). — Man begreift aus dieser Darstellung die hohe Bedeutung Nordamerikas für
die organische Entwicklung Europas, das seine gefährlichsten Krankhcitsstvffc in jenen
ungemessenen Räumen ablagern durste, wo sie sich unschädlich verzehrten. — Wie
in dem jüngsten der fünf Mittheile der Protestantismus sich gestaltet, lehrt: Die
deutsch - evangelische Kirche in Australien (Berlin, M. Schultze). —
Ein unentbehrliches Handbuch für das Studium Oestreichs ist die Biblio¬
graphie zur Geschichte des östreichischen Kaiscrsiaats, von Dr. Carl
Schmid Ritter v. Taveou (Wien, Seidel). — Das 1 Heft enthält die Quellen
für die Geschichte des Hauses Habsburg bis zum Tode Maximilians; wir hoffen auf
eine baldige Fortsetzung des dankenswerthen Unternehmens. — Dabei erwähnen wir
eine gut gearbeitete Monographie: Herr Walther von Geroldseck, Bischof
von Straßburg (1261 — 3), vom Frh. v. Schrcckenstcin (Tübingen, Laupp).—
Eine polemische Schrift: Joseph von Hammer -Purgstall, ein kritischer Beitrag
zur Geschichte neuerer deutscher Wissenschaft von Const. Schlottmann (Zürich,
Meyer und Zeller), empfehlen wir auch denjenigen, denen die gelehrten Fragen über
die Erklärung und Uebersetzung orientalischer Dichtungen fern liegen; sie werden
daraus lernen, wie gemein zuweilen im 19. Jahrhundert gelehrte Männer bei ihren
literarischen Handlungen sich da benehmen, wo der schlichteste Bürger den schicklichen
Anstand zu bewahren wüßte. —
Die deutschen Volksfeste, Volksgebräuche und deutscher Volks¬
glaube in Sagen, Märlein und Volksliedern. Ein Beitrag zur vaterländischen
Sittengeschichte von Montcmus. 2. Bündchen. Iserlohn, Julius Bädeker. 1858.
— Der Werth dieses Buchs besteht nicht sowol in den culturgeschichtlichen Er¬
örterungen, die der Verfasser anstellt; denn hier verräth er nur zu oft, daß es ihm
an den erforderlichen sprachwissenschaftlichen und historischen Kenntnissen mangelt;
sondern in den Beispielen, die er gesammelt hat und welche, besonders aus dem
niederrheinischen Volksleben genommen, großentheils Neues bieten. Dahin gehört
gleich das erste Capitel, welches den Gebrauch der Dicrjagd schildert. Dahin serner
sind die Abschnitte: „Der Hehihakcn", „der Schnntgang", „Zauberei", „Liebes-
zauber", dahin endlich viele Mittheilungen über den Aberglauben zu rechnen, der
sich als Nachhall heidnischen (altgermanischen oder römischen) Glaubens an Kräuter
und Bäume, vierfüßige Thiere und Vögel und andere Gegenstände der belebten und
unbelebten Natur knüpft. Möchte sich nun bald ein eigentlicher Gelehrter finden,
der die seit Grimms ersten Arbeiten aus diesem Felde von den Sammlern zusammen¬
gebrachten Sagen, Sitten und Gebräuche mit kundiger Hand und vorurtheilsfreien
Blick vergliche, schiebe und ordnete. Stoff ist genug vorhanden, und das Er¬
gebniß würde für die Kunde unsrer Vorzeit sicher schon jetzt bedeutend sein.'
Eine große Zahl neuer Zeitschriften, hauptsächlich literarisch-kritischen
Inhalts, ist mit dem Anfang dieses Jahres ins Leben getreten. So erscheint
in Leipzig ein Jahrbuch der Literatur und Kunst, herausgegeben von Mar-
bach und Schmiedt, in Jena hat die früher so bedeutende Minerva,
redigirt von Bran, in ihrem 202. Band neben dem bisherigen historisch¬
politischer Inhalt auch der Aesthetik und Literaturgeschichte Raum gegeben,
ebendaselbst erscheint eine Zeitschrift für wissenschaftliche Theologie, heraus¬
gegeben, von Hilgenfeld, welche der freisinnigen Richtung Bahn zu brechen
sucht. Aus diese und andere Zeitschriften werden wir vielleicht später Ge¬
legenheit haben einzugehen, sür heute begnügen wir uns, ein Unternehmen
hervorzuheben, aus welches wir die Aufmerksamkeit aller unserer Leser hinzu¬
lenken wünschen. Es sind die Preußischen Jahrbücher, herausgegeben
von Haym (Berlin, Georg Reimer).
Schon lauge hatte man es als einen Uebelstand empfunden, daß die
konstitutionelle Partei Preußens in der Presse kein eigentliches Organ besaß,
und es tauchte von Zeit zu Zeit die Idee auf, eine neue constitutionelle
Zeitung zu begründen, die an das-früher voreilig aufgegebene Blatt wieder
anknüpfen sollte. Die alten Blätter, die früher für die gute Sache mit so
viel Eifer gekämpft, darunter vorzüglich die Kölnische Zeitung, waren durch
locale Verhältnisse schwer bedrückt und konnten außerdem ihrer Lage wegen
zur Centralisation ihrer Partei nicht dienen, denn eine große politische Zeitung,
die sich als Parteiorgan darstellen will, gehört an den Mittelpunkt des po¬
litischen Lebens. Indessen macht sich im gegenwärtigen Augenblick das Be¬
dürfniß weniger fühlbar, da für alle besonnenen und einsichtsvollen Freunde
einer freisinnigen preußischen Entwickelung die Nationalzeitung mehr und
mehr die Dienste leistet, die man lieber von einem specifisch constitutionellen
Blatt erwartet hätte. Wir sind ihr diese Anerkennung schuldig, da wir früher
öfters in der Lage waren, gegen sie zu polcmisiren. Freilich kann man über
die Zukunft nicht urtheilen, da die Nationalzeitung auf wesentlich andern
historischen Voraussetzungen beruht als wir; sür jetzt wüßten wir aber kaum
irgend eine Frage von größerem Belang, in der wir von ihr abwichen. Es
ist das um so erfreulicher, je dringender es jedem Vaterlandsfreunde am
Herzen liegen muß, die alten Parteiunterschiede vergessen zu machen.
Dagegen hat sich ein anderes Bedürfniß herausgestellt, das durch eine
Zeitung überhaupt nicht befriedigt werden kann. Schon bei verschiedenen
Gelegenheiten haben wir aus das Aufblühen einer jungen historischen Literatur
hingewiesen, welche dazu bestimmt scheint, unsere frühere vorwiegend ästhetisch¬
philosophische Bildung, die in Stagnation zu gerathen drohte, zu ergänzen.
Durchweg empfinden jetzt auch die Gelehrten das Bedürfniß, in derselben
Weise wie ihre Collegen in England und Frankreich sich dem großem Publi-
cum verständlich zu machen, und auf dasselbe einzuwirken, Anmuth der Form
mit Wissenschaftlichkeit des Inhalts zu verbinden. und indem sie die Er¬
kenntniß fördern, zugleich das Gemüth des Volks zu veredlen und den vater¬
ländischen Sinn zu befestigen. Es sind bereits sehr große Erfolge nach dieser
Richtung hin errungen, und der Gedanke liegt nahe, die Bemühung der ein¬
zelnen Schriftsteller in der Weise zu concentriren, daß in einer gewissen Voll¬
ständigkeit alle wichtigen Fragen der Zeit historisch analvsirt und vom vater¬
ländischen Standpunkt beleuchtet werden. , Diese Ausgabe stellen sich die
preußischen Jahrbücher.
Es ist zuvörderst, um jedem Mißverständniß vorzubeugen, daran zu er¬
innern, daß der Begriff der Centralisation nicht zu strenge genommen werden
darf. Von einer erschöpfenden Darstellung des deutschen Culturlebens der
Gegenwart mit Hinblick auf die Vergangenheit kann in einer Zeitschrift, die
im Jahr beiläufig 72 Bogen gibt, ohnehin nicht die Rede sein. Die Jahr¬
bücher werden ihre schöne Aufgabe um so gründlicher bewältigen, je klarer
sie es sich machen, daß dieselbe nur approximativ gelöst werden kann, und
daß ihr schönster Erfolg darin besteht, alle Kräfte gleicher Richtung zum
lebendigen Wettkampf anzuregen.
Was die Bezeichnung Preußische Jahrbücher betrifft, so drückt sie in
weiterer Entfernung freilich auch ein Ziel, zunächst aber eine Thatsache aus:
die Thatsache, daß für das deutsche Kulturleben, welches enge mit der pro¬
testantischen Bildung einerseits, mit der humanistischen andererseits zusammen¬
hängt, der preußische Staat der Mittelpunkt ist, und daß seine Entwickelung
für die allgemeine deutsche Entwickelung gewissermaßen den Wärmemesser
bildet. Es ist nicht immer möglich, gegen unsinnige Mißverständnisse anzu¬
kämpfen, wir wollen wenigstens zwei hervorheben, die man, so thöricht sie
sind, doch schon von gewissen Seiten gehört hat. Es ist einmal nicht davon
die Rede, daß das preußische Volk an Bildung und Tugend seinen deutschen
Brüdern überlegen sei. Was Schwaben, was Sachsen, was das nordwestliche
Deutschland, was der Rhein sür die Entwicklung der deutschen Literatur ge¬
leistet, bleibt unvergessen; Preußen ist nur dadurch groß geworden, daß es
stets verstanden, hat. die Kräfte der verwandten Nachbarstaaten in seinen
Dienst zu ziehen. Welche Namen klingen preußischer als Scharnhorst, Stein,
Fichte, Nork u. s. w., keiner von ihnen war geborner Preuße, aber daß
Preußen die Fähigkeit hat. diese ihm ursprünglich nicht angehörenden Kräfte
mit dem vollen Inhalt ihrer Gesinnung und Bildung zu den seinigen zu
machen, und ihnen für ihre Ideen und ihren Charakter den angemessenen
Schauplatz zu gewähren, darin liegt die Zukunft dieses Staats.
Ein ferneres Mißverständnis) liegt darin, daß mit der Behauptung, jenes
oben bezeichnete deutsche Culturleben habe in Preußen seinen Mittelpunkt, die
zweite Behauptung verbunden sein sollte, Oestreich habe entweder gar kein
Culturleben, oder es sei kein deutsches. Oestreich hat ein starkes Leben, aber
es hat ein anderes Leben als wir. Wir würden ein ähnliches Unternehmen
östreichischer Jahrbücher, welches mit dein Selbstgefühl innerer Kraft das
eigene Culturleben darstellte, und die unnützen Ausfälle auf die norddeutsche
Bildung vermiede, die man in den sogenannten östreichisch gesinnten Blättern
nur zu häusig antrifft, mit Freude begrüßen. Wir würden um so mehr
daraus lernen, je fremder uns sein Inhalt vorkäme. Wie fremd erscheint uns
z. B. in mancher Beziehung schon die Allgemeine Zeitung, die doch
räumlich betrachtet nicht blos das erste deutsche, sondern vielleicht das erste
europäische Blatt ist: und doch finden wir in ihr noch viel von unserer Bil¬
dung und sie stellt sich durchweg auf den Standpunkt der Vermittelung; frei¬
lich einer Vermittelung, die sich mehr und mehr als unmöglich erweist.
Dies sind die Thatsachen, aus welche der Titel der preußischen Jahr¬
bücher hinweist. Wenn man es vom Standpunkt der Diplomatie vielleicht
für zweckmäßiger gehalten hätte, das Stichwort seines Glaubens" zu ver¬
schweigen, so ist es nach unserer Ansicht im Gegentheil ehrenwerth, mit seiner
Fahne offen und männlich hervorzutreten. Unsern Lesern dürfen wir nicht
erst erzählen, daß es auch die unsrige ist.
Für die Leitung dieses Unternehmens konnte kaum eine passendere Per¬
sönlichkeit gewonnen werden, als diejenige, deren Namen wir an der Spitze
des Blattes erblicken. Haym hat zunächst durch seine Thätigkeit in der
Paulskirche, dann durch seine Leitung der constitutionellen Zeitung seine Ge¬
sinnung und seinen Charakter deutlich an den Tag gelegt, noch erfreulicher
aber hat er seine Einsicht und Bildung in seinen spätern Werken, den bio¬
graphischen Versuchen über Gentz, Hegel und Humboldt entwickelt. Was
vom wissenschaftlichen Standpunkt darüber zu sagen ist. haben wir in diesen
Blättern bereits erörtert; hier kommt es uns nur auf die leitende Tendenz
dieser Werke an. Haym sucht die Erscheinungen, die er darstellt, nicht an
einem einseitigen abstracten Ideal zu messen, sondern sie historisch zu con-
struiren, sie in dem innern Organismus ihres Lebens, in ihrem Zusammen-
sang mit der Bildung der Zeit zu begreifen. Aber er bleibt nicht dabei
stehen, den Mittelpunkt ihres Wesens und den Ort ihres culturhistorischen
Einflusses zu constatiren, er weist zugleich nach, inwiefern ihre Ideen heil¬
sam sür ihre Uebereinstimmung mit sich selbst, heilsam für den Fortgang der
deutschen Cultur gewesen seien und weist so aus der Vergangenheit in die
Zukunft hin, indem er zeigt, was wir aus dem Beispiel so großer Er¬
scheinungen zu lernen, wovor wir uns zu hüten haben. So nur wird die
Geschichte für die Gegenwart fruchtbar.
Ueber die Mitarbeiter, die er zur vielseitigen Durchführung des Princips,
das er sür das richtige halt, gewonnen hat, gibt bereits das erste Heft ein
sehr günstiges Zeugniß; es enthält fast lauter gediegene Aufsätze, und so
können wir denn, die wir mit ihm die gleiche Gesinnung theilen, sein Unter¬
nehmen freudig willkommen heißen, um mit ihm in regem Wetteifer für die
gute Sache zu wirken. Wir haben um so mehr Grund, einem so ernsten
Unternehmen unsere Theilnahme zu schenken, da sich gleichzeitig in der deutschen
Presse eine Richtung verbreitet, die, gleichviel ob man sie billigt oder ver¬
dammt, stark genug nach der entgegengesetzten Seite geht, als daß wir nicht
die Verpflichtung haben sollten, die Aufmerksamkeit unserer Leser auf sie zu
ziehen. Um sie richtig zu würdigen, müssen wir einmal von der idealen
Seite der Literatur absehen, und ihre geschäftliche Grundlage betrachten.
Es ist noch nicht lange her, daß in England und Frankreich der Durch¬
schnittspreis der Bücher den unsrigen bei weitem übertraf. In Folge dessen
war zuerst bei den belgischen, dann bei den deutschen Officirer der Nachdruck
englischer und französischer Bücher ein ziemlich umfangreiches Geschäft, welches
auch dann noch fortdauerte, als die anständigen deutschen Buchhandlungen
den fremden Autoren eine Entschädigung zahlten. Seit den internationalen
Verträgen über den Nachdruck und das Recht der Uebersetzungen scheint sich
die Sache umgekehrt zu haben, namentlich seit dem Aufkommen der so¬
genannten Eisenbahnbibliotheken. In England wie in Frankreich erscheinen
jetzt eine Reihe von Büchern, zum Theil sehr werthvoller Art, zu einem so
fabelhaft billigen Preise, daß man selbst in Deutschland davon keine Vor¬
stellung hatte. Als Beispiel wollen wir nur das neueste Werk der Buch¬
handlung Hachette in Paris anführen, welche sich vorzugsweise mit dieser
Literatur zu thun macht: I.'g.luce seienM<zene et imlnktrielle, on expos6
aimuel ach tra.v»,ux scivntiü<zuoL, clef inventions et Ach prineixales srpxli-
eg-lions ac 1a science s, 1'inäv.tttrie et lux arts, <mi «ut attirs 1'g.ttention
xubli<zue en I'iÄnee et Z. I'sei'MMr Mr I^ouis signier. Das Buch, auch
äußerlich vortrefflich ausgestattet, hat über 500 enggedruckte Seiten, außerdem
noch einen großen Plan des projectirten submarinen Tunnels zwischen Eng¬
land und Frankreich, das Material ist sehr verständig geordnet, die Erklärung
läßt nichts zu wünschen übrig, und das Ganze kostet auf den deutschen
Märkten einen Thaler, kurz es ist der Preis, den wir nur an unserm Kon¬
versationslexikon kennen. Nun ist es freilich bis jetzt noch ein kleiner Theil
der Literatur, der zu diesem Preise ausgeboten wird, aber es läßt sich mit
Bestimmtheit voraussehn, daß die Rückwirkung auf den übrigen Theil der
Literatur nicht ausbleiben kann. In Deutschland zeigt es sich zunächst in der
Masse der unerhört wohlfeilen Journale, die ein Vierteljahr um das andere
hervortreten und von denen einige bereits einen glänzenden Absatz gefunden
haben. Fassen wir nun die Folgen dieses veränderten Geschäftsbetriebs ins
Auge, so drängen sich zwei entgegengesetzte Seiten hervor.
Es ist augenscheinlich, daß dieser Preis, da die Herstellungskosten sich
nicht verändert haben, nur durch die Erwartung eines sehr gesteigerten Ab¬
satzes möglich wird. Nun stimmt die Rechnung zwar nicht immer, daß ein Buch,
welches man für einen Thaler verkauft, fünf oder sechsmal so viel Abnehmer
findet, als dasselbe wenn es fünfThaler kostet; aber von dieser Voraussetzung
geht man doch aus, und da in einzelnen Fällen sich das Verhältniß noch viel
günstiger herausstellt, so kann man sie im Durchschnitt als richtig anneh¬
men. Die'Folge ist, daß der Kreis der Lesenden sich sehr bedeutend erweitert;
dadurch wird dann wieder das Bedürfniß des Lesens gesteigert, und dadurch
neue Unternehmungen ins Werk gerufen, die dann wieder eine rückwirkende
Kraft ausüben. Freilich geht dieser Progreß nicht ins Unendliche fort, es tritt
gelegentlich eine Krisis ein, wie bei den verwandten Creditanstalten bereits
geschehn ist. Aber die geistigen Einflüsse hören damit doch nicht auf. Zunächst
kann man die Erweiterung des Leserkreises unzweifelhaft als einen Fortschritt
der Cultur bezeichnen, und es ist ganz im Sinn unsrer Zeit, daß auch in
dieser Beziehung die Bildung sich mehr und mehr nivellirt. Freilich wird
dieser Gewinn durch ein theures Opfer erkauft.
Um mit einiger Wahrscheinlichkeit auf einen großen Leserkreis zu rechnen,
muß mau auf die Bedürfnisse der Menge speculiren. Dagegen wäre nichts
zu sagen, wenn man die wahren Bedürfnisse berechnen wollte. Die frühere
Sitte, daß die Autoren nur für sich Monologe hinsummten und es dann ei¬
ner unbestimmten Zukunft überließen, die tiefen Ideen herauszufühlen, die
der Gegenwart unverständlich waren, hat die Literatur nicht gefördert. Die
Größe eines Schriftstellers zeigt sich zwar nicht ausschließlich, aber auch in
der Größe seines Einflusses. Aber es ist ein himmelweiter Unterschied, ob es
einem Schriftsteller gelingt, durch den Zauber seines Genius die Menge zu
sich zu erheben, oder ob er sich zu ihr herabläßt und ihren niedrigen Instincten
schmeichelt. Das Letztere wird die Regel sein, sobald die Literatur mehr und
mehr zur Industrie herabsinkt.
Am unschädlichsten ist die Wirkung noch insofern, als sie eine Menge
unnützer Bücher und Zeitschriften hervorbringt. Bei vielen Producten der so¬
genannten populären Literatur unsrer Tage bekennen die Verfasser in der Vor¬
rede ganz naiv, sie hätten zwar über den Gegenstand nichts Neues zu sagen,
sie wollten sich vielmehr vor jeder paradoxen Wendung hüten, da alles Nöthige
bereits gesagt sei, aber u. s. w, — Durch diese Gattung wird zwar die Ober¬
flächlichkeit gefördert und es wird dein Publicum selbst erschwert, in der Ueber¬
fülle des Mittelmäßigen das Gute herauszufinden, aber es wird doch kein
positiver Schaden angerichtet.
Schlimmer ist eine andere Seite der sogenannten populären Literatur.
Für den ruhigen Beobachter, der sich dnrch den äußern Anschein nicht täuschen
läßt, liegt in den Instinkten der Menge stets etwas Gemeines. Wohl gemerkt
wir verstehen unter Menge oder um den bestimmtem Ausdruck zu gebrauchen,
unter Pöbel, nicht eine besondere Klasse des Volks. Die Nichtigkeit jener Beob¬
achtung zeigt sich sofort in aufgeregten Zeiten, und- so brachte das Jahr 1848
eine überwiegend gemeine Literatur hervor, gleichviel ob sie auf den Pöbel
der niedern oder auf den Pöbel der höhern Stände berechnet war. In Zei¬
ten der Aufregung, wo man alles nach einem andern Maßstabe mißt, läßt
sich so etwas entschuldigen, aber es gibt Länder, wo diese Pöbelhaftigkeit der
Presse permanent wird, wo sie nur vom Skandal, nur von den gemeinsten
Persönlichkeiten lebt, wie z. B. in Amerika. Leider sind manche Symptome
vorhanden, als ob wir uns- einem solchen Zustand näherten.
Zwar muß man in Anschlag bringen, daß der Deutsche, in allen Dingen
schwerfällig, auch in seiner Polemik stets das Massive liebte. Mit großem
Behagen haben wir einen Brief Schlözers, des eigentlichen Begründers der
deutschen Journalistik, an I. v. Müller gelesen, der über eine böswillige
Recension untröstlich war. Schlözer schreibt ihm 1,781: „Statt Sie zu trösten
lache ich Sie aus; eine Recension! eine Recension! . .Mann, Schweizer¬
mann, seien Sie größer! Sie kennen die Welt, also auch die literarische, hoffent¬
lich auch noch die literarische deutsche Welt. Wenn mir einer mündlich sagt,
ich wäre ein Dummkopf, so gebe ich ihm eine Ohrfeige. Sagt mir aber
einer in einem Epigramm oder in einer Recension, ich wäre ein Rindvieh,
ich hätte gestohlen, ich hätte einen falschen Eid gethan: so mache ich kein
mvuvömmit," — (Müllers Werke B. 16 S. 108.) - In der That kann sich
der Einzelne, auf den ein solcher Ton angewendet wird, leicht beruhigen. Es
ist nicht angenehm, sich beim Vorübergehn ans dem Fischmarkt das Mißfallen
einer der Damen zuzuzichn, aber es ist auch kein Unglück. Viel mehr leidet
darunter der Stand der Journalisten überhaupt, da das unbetheiligte Publi¬
cum, das sich mit stiller Geringschätzung amüsirt, sich leicht versucht fühlt, aus
dem einzelnen Fall auf das Allgemeine zu schließen. Grade in dieser Beziehung.
zur Hebung des Journalismus im Allgemeinen, ist die Gründung eines Blat¬
tes wie die preußischen Jahrbücher ein unberechenbarer Gewinn.
Da wir aber über die populäre Literatur manches Nachtheilige gesagt
haben, so fühlen wir uns verpflichtet, auf einen sehr nützlichen und respectabeln
Zweig derselben hinzuweisen. Wir meinen die encyklopädischen Sammlungen,
die sich an das brockhausische Conversatio n slexikon anknüpfen. Es
wäre im höchsten Grad unbillig, von allen Artikeln gleiche Vortrefflichkeit zu
erwarten, aber sowol die Gegenwart, die nun mit dem 12 Bande beendigt
ist, als die neue Zeit, die mehr auf die encyklopädischen Bedürfnisse Rück¬
sicht nimmt, und von welcher der erste Band jetzt fertig vorliegt, enthalten
nicht blos eine Reihe zweckmäßiger und nützlicher Uebersichten, sondern auch
einzelne eingehende Abhandlungen, die in den ersten Rang der wissenschaft¬
lichen Literatur gehören. Wir erinnern nur an die Arbeiten von Röscher
über Nationalökonomie und von Springer über neuere Kunstgeschichte. Der
Stand der Gelehrten hat gegen diese Gattung von Werken trotz Jöcher immer
ein ungerechtfertigtes Vorurtheil gehabt. Bei der massenhaften Ansammlung
des wissenschaftlichen Materials ist aber jede Vorarbeit dankenswert!), welche
die Arbeit wesentlich abkürzt, sobald man sich nur aus ihre wissenschaftliche
Correctheit verlassen kann, und es ist nicht zu bestreiten, daß sich die brock-
Zwar war der Dienst des heilenden Gottes Aesculap bereits während
des dritten samnitischen Krieges auf Befehl der sybillinischcn Bücher von
Epidaurus nach Rom verpflanzt worden, um einer damals herrschenden Epi¬
demie Einhalt zu thun; und gewiß wurden auch seitdem im Tempel des Got¬
tes auf der Tiberinsel die von den griechischen Asklepiospricstern allenthalben
geübten religiösen Wunderkuren nicht unterlassen. Allein an ein wohlein¬
gerichtetes Tempelhospital läßt sich dabei schwerlich denken, und wenn Sue-
ton erzählt, daß der Kaiser Claudius das Verfahren der Herrn, welche ihre
kranken Sklaven auf der Tiberinsel aussetzten, als eine arge Grausamkeit
dadurch bestrafte, daß er solche Sklaven für frei erklärte, so spricht dies
eben für das geringe Ansehen und für die wenig allgemeine Be¬
nutzung dieser größtentheils auf Priesterbctrug (vermittelst divinato-
rischer Träume und der abgerichteten cpidaurischen Tempelschlange) basir-
ten Lazarctheinrichtung. Eigentliche Aerzte hat Rom vor dem 6. Jahrhun¬
dert seiner Zeitrechnung nicht gehabt. Der Pcloponnesier Archagathus,
ein Wundarzt, soll der erste gewesen sein, und ihm kaufte man auf öffentliche
Kosten eine Taverne, in welcher, wie in den Buden der Barbiere, die Kunden
sich einfanden und vielleicht schon die Müßiggänger ihre Zeit verschwatzten.
Das ungewohnte Schneiden und Brennen verdarb den Chirurgen aber bald
den Credit und verschaffte ihnen den Beinamen „Henkersknechte". Zudem
konnte der Ernst und die fest eingewurzelte Scheu der Römer vor allen aus
Gelderwerb hinauslaufenden Künsten den Leichtsinn und die gewinnsüchtige
Rührigkeit der Griechen überhaupt nicht vertragen. Daher schreibt schon un¬
gefähr fünzig Jahre nach Ankunft des Archagathus der ältere Cato aus
Athen an seinen Sohn: „Nimm meine Worte für eine Weissagung: Wenn
uns dieses Volk einst seine Wissenschaften mittheilen wird, so wird alles in
Verderbniß gerathen und besonders dann, wenn es uns seine Aerzte schicken
wird. Diese haben sich verschworen, alle Barbaren durch ihre Medicin zu
tödten. Und selbst dieses thun sie für Lohn, damit man ihnen glaube und
sie desto leichter ins Unglück stürzen können. Ich untersage dir den Gebrauch
der Aerzte!" Ist dieses Urtheil aus Widerwillen gegen den griechischen Volks¬
charakter im Allgemeinen entstanden, so zogen die Nachfolger des Archagathus
Spott und Verachtung in Rom selbst noch dadurch sich zu, daß sie ihre eigne
Unwissenheit und den Mangel an persönlichem Vertrauen durch marktschreierische
Ostentation und Charlatanerie zu verdecken suchten. „Ein jeder Grieche, der
zu uns kommt," sagt Juvenal, „bringt in sich einen Redekünstler, einen
Feldmesser, einen Maler, einen Seiltänzer, einen Arzt, einen Apotheker, einen
Wahrsager, einen Zauberer mit; alles versteht ein hungriger Grieche; sprich:
fahre gen Himmel! — er wird" es thun." So verspottet auch schon der
Komiker Plautus die Prahlerei der Jünger Aesculaps, die sich am Abe^d,
wenn sie von den Patienten kämen, rühmten, diesem Gotte ein Bein, jenem
einen Arm eingerichtet zu haben, so daß man nicht wisse, ob man einen Arzt
oder einen Schmied vor. sich habe; und der Arzt, den er in seinen „Zwillings¬
brüdern" auftreten läßt, ist ein tölpelhafter Ignorant. Doch ersieht man aus
demselben Stücke, daß die damaligen Aerzte schon Kranke zu sich ins Haus
nahmen, um sie unter jorgfältigerer Aufsicht zu haben. Trotz des Mißtrauens
gegen die Griechen blieb jedoch die Medicin in den Händen derselben bis tief
in die Kaiserzeit hinein. Wenigstens sagt der ältere Plinius, daß bis zu
seiner Zeit sehr wenige Römer .sich dieser einträglichen Wissenschaft zugewendet
hätten. Und auch diese Wenigen mußten womöglich sich vollkommen gräcisiren,
weil „auch solche Leute, welche des Griechischen unkundig find, Aerzten, die
ihre Kunst nicht griechisch betreiben, kein Vertrauen schenken; ja sie haben
weniger Zuversicht, wenn sie das verstehen, was zu ihrem Heile dient!" Blieb
man also in Hinsicht auf körperliches Wohl einerseits in Abhängigkeit von
Ausländern, so konnte die Ausbildung und der Werth der Arzneikunde selbst
nur verlieren, als römische Sklaven und Freigelassene ansingen, die ärztliche
Praxis zu üben und von den Vornehmen zu ihren Hausärzten verwendet wur¬
den. Und doch stieg seit dem Höhepunkte der römischen Allmacht und Welt¬
herrschaft mit der einbrechenden Entnervung und Verweichlichung der Geschlech¬
ter das Bedürfniß und die Nothwendigkeit der Heilkunde mit jedem Jahre!
Für das Heer der Krankheiten, welche sich nach und nach eingebürgert hatten,
reichten die einfachen Hausmittel, welche in der alten, guten Zeit verständige
Familienväter sich notirt hatten, bei weitem nicht mehr aus. „Hippokrates,
der Fürst der Aerzte," sagt Seneca, „hat behauptet, daß das weibliche Ge¬
schlecht weder den Haarschmuck verlieren, noch am Podagra leiden könne.
Unsere Zeit straft den großen Arzt und Naturforscher Lügen, den Vorzug des
Geschlechts haben die Frauen längst durch ihr Leben verloren;" und an einer
andern Stelle: „Die vielen Krankheiten sind ein Erzeugniß der vielen Gerichte;
zähle die Köche in der Stadt und du wirst dich über die Unzahl der Krank¬
heiten nicht wundern." Besonders gehörten Fieber jeder Art und die auch
durch klimatische Einflüsse begünstigten Augenkrankheiten (für welche bald eigne
Augenärzte sich etablirten) zu den gewöhnlichsten Folgen der sinnlichen Ueber-
feinerung und Schwelgerei. Die Furcht vor dem Tode stieg, und zuletzt ließ
man sogar den Sklaven, welchen man zur Erkundigung nach dem Befinden
des kranken Freundes abgeschickt hatte, nicht eher wieder ins Haus, als bis
er sich durch ein Bad gereinigt hatte! Kein Wunder also, wenn man für die
Erhaltung des lieben Lebens enorme Summen verausgabte; 14,000 Thlr. war
anfangs der gewöhnliche Jahrgehalt der kaiserlichen Leibarzte; der berühmte
Stertinius verlangte aber unter Claudius das Doppelte dieser Summe, in¬
dem er vorrechnete, daß ihm seine Privatpraxis in den reichen Familien Roms
früher über 30,000 Thlr. eingetragen habe! Er hinterließ anderthalb Millio¬
nen Thaler, nachdem er seine Vaterstadt Neapel mit Bauwerken geschmückt
und dadurch sein Vermögen bedeutend geschwächt hatte. Einem Chirurgen
Namens Akkon, der wegen Verbrechen verurtheilt worden war, entriß Clau¬
dius eine halbe Million, und doch erwarb sich derselbe binnen weniger Jahre
während seiner Verbannung in Gallien sein Vermögen wieder. Die Preise
scheinen, wo kein jährliches Honorar festgesetzt war, auch ost nach der heutigen
amerikanischen Manier für jeden einzelnen Krankheitsfall vorausbedungen
worden zu sein; so erwähnt wenigstens Plinius, daß von einem Arzte ein
Kranker in der Provinz für 10,000 Thlr. in Cur genommen worden sei. Die
Zahl der kaiserlichen Hofärzte stieg übrigens später bis aus sieben; von ihnen
erhielt aber unter sparsamen Kaisern, wie z. B. Alexander Severus, nur
ein einziger sein Honorar in klingender Münze, die übrigen bekamen ein De¬
putat in Naturalien.
Die Wissenschaft selbst lag noch halb in ihrer Kindheit und
durch den Mangel aller Bildungsanstalten für tüchtige Aerzte blieb es
natürlich entweder bei dem bloßen Umlernen der Dogmen und Ersahrungen
irgend eines berühmten Meisters oder bei einem auf Kosten der Kranken ge¬
machten autodidaktischen Experimentalverfahren. Wer aber irgend sich einen
Namen machen wollte, suchte an der alten Schulweisheit des Hippokrates,
Asklepiades oder Themison etwas zu mäkeln und zu ändern und die
entgegengesetztesten Methoden folgten sich in raschem Wechsel. Antonius
Musa, ein Freigelassener, curirte deu Kaiser Augustus, welcher schon sein
Haus bestellt hatte/ auf pricsnitzsche Art durch kalte Wasserbäder und Tränke,
und erhielt dafür eine Bildsäule neben Aesculap, den goldnen Ring und die
Censussumme der Ritter. Abgabenfreiheit für sich und für seine Kunstgenossen
auf alle Zeiten — alles gewiß reellere Geschenke als mancher spätere Titel.
Aber sein Credit sank etwas, als der geliebte Schwestersohn Augusts, Mar-
cellus, bei derselben BeHandlungsweise starb, und bald daraus empfahl man
statt der erkältenden brennend heiße Bäder oder.verordnete Speisen und Arz->
melen nach der Stunde der Geburt und dem Stande der Gestirne. Dabei
wurden eine Unmasse abergläubischer und magischer Mittel, Besprechungen und
Amulete auch von den Aerzten anerkannt und angewendet, z. B. Müusegehirn
gegen Kopfschmerzen, verbrannter Hundszahn gegen Zahnschmerzen, eine in
Mandelöl gekochte Seetrompete gegen Harthörigkeit, ein Spänchen oder Stein¬
chen heimlich auf den Kopf gelegt gegen Schlucken, Einreibung mit Blut aus
der großen Zeh des Kranken oder der Genuß des (heute noch in demselben
Falle vom Volke angewendeten) Blutes eines Gladiators oder Verbrechers
gegen die Epilepsie. Außerdem gab es eine Menge geheimer Mittel und sol¬
cher, die nach dem Entdecker oder der Wirkung bestimmte Namen führten, so
daß in dieser Hinsicht das Alterthum dem Zeitalter der Revalenta Arabica
an blindem Glauben nicht nachstand. Die Bereitung der Recepte hatten früher
die Aerzte selbst besorgt, und wenn auch hier arge Mißgriffe unausbleiblich
gewesen sein mögen, so war es doch eine heillose Verschlimmerung des Ver¬
hältnisses, daß die Aerzte der Kaiserzeit aus Bequemlichkeit und Sorglosigkeit
dies unterließen und fertige Salben, Pflaster u. s. w. aus den Buden der
Seplasiarii oder Kräuter- und Salbenhündlcr entnahmen, welche mehr Aehn-
lichkeit mit unsern Droguisten als Apothekern hatten und theils aus Ignoranz
sündigten (Plinius erzählt, daß sie häusig anstatt des indischen Drachenbluts
Zinnober unter die Salben mischten), theils ihre sprichwörtlich gewordenen
Betrügereien übten und entweder verlegene oder verfälschte Waaren verkauften.
Es kam dadurch der Ausdruck Medicamentarius so in Verruf, daß er im
Gesetzbuche des Kaisers Theodosius gradezu „Giftmischer" bedeutet. Frei¬
lich mußte auch in einer Zeit, wo die Giftmischerei so vielfach benutzt wurde,
jeder Seplasianus auf einige acute Mittelchen für seine vornehmen Kunden
halten, so wie daneben auf die betreffenden Gegenliste, unter welchen das
berühmte Mithrid aliena aus 54 Ingredienzien zusammengesetzt werden
mußte.. Und ebenso übel bestellt blieb es mit den quacksalbernden Droguisten
auch später unter den Byzantinern. Nicht einmal der kaiserliche Hof in Kon¬
stantinopel besaß einen zuverlässigen Apotheker, sondern ein Garderobier be¬
sorgte die seiner Aufsicht unterstellte Sammlung von- Salben, Pflastern,
Giften und Gegengiften für Menschen und Vieh. Bei solchen Uebelständen
finden wir die Klagen römischer Schriftsteller über die Ungcstraftheit und
UnVerantwortlichkeit der Aerzte völlig begründet, wenn sie auch bei der Un¬
sicherheit der schwierigen Wissenschaft auf alle Zeiten Anwendung finden.
„Jedem, der sich Doctor nennt," sagt Plinius, „schenkt man sogleich Glauben,
während doch mit keiner Lüge eine größere Gefahr verbunden ist. Wer unter
den Aerzten nur ein gutes Mundwerk besitzt, wird sogleich unser unumschränk¬
ter Herr über Leben und Tod. Das beachten wir aber nicht; so schmeichelnd
ist sür jeden Kranken die Süßigkeit der Hoffnung. Außerdem gibt es kein
Gesetz, das die Unwissenheit unschädlich mache und kein Beispiel der Todesstrafe.
Sie lernen durch unsere Gefahren und werden an Erfahrung reicher durch
Todesfälle, und nur dem Arzte bleibt es völlig ungeahndet, einen Menschen
getödtet zu haben." Auch Martial verschont den Stand nicht mit seinem
Spotte:
Neulich noch war er ein Arzt, jetzt Leichenträger, Diaulos,
Was er als Träger betreibt, that er als Doctor schon längst.Bist Gladiator geworden und sendest doch früher die Augen?
Als Mediciner bereits erlebst du dieselbige Kunst!
Ebenso braucht auch Juvenal, um den Begriff einer hohen Zahl zu
geben die Ausrede:
Lieber noch nenn' ich die Zahl von Hippias vielen Geliebten
Oder die Kranken, die stets zur Herbstzeit Thcmison würgte.
Sogar über die Sucht, die Krankheiten zu vergrößern, um höhern Nuhm
durch die Heilung zu ernten, klagt schon Seneca mit den Worten: „Viele
Aerzte können die Krankheiten, wenn sie dieselben ihres Ruhmes wegen ver¬
mehrt und gesteigert haben, gar nicht mehr verscheuchen oder bezwingen sie
endlich nur unter großen Leiden der Patienten.
Die große Masse der Armen blieb unter diesen Umständen natürlich von
ärztlicher Hilfe ausgeschlossen und nur der Hefe erbärmlicher Quacksalber über¬
lassen. Nur die Gladiatoren und Circussactioncn hatten ihre eignen Aerzte
und seit dem ersten Jahrhundert christlicher Zeitrechnung auch die Legionen,
deren Aerzte doppelten Sold erhielten, Rüstung trugen und ihre Kranken schon
in Feldlazarethen behandelten. Desto erfreulicher war die Anstellung wirklicher
Armenarzte, welche durch ein Gesetz des Kaisers Valentin! an II. im Jahre
386 erfolgte. Nach der Zahl der städtischen Distrikte wurden 14 Oberärzte
mit Besoldung aus der Staatskasse eingesetzt und ihnen zur Pflicht gemacht,
nicht, wie bisher die Mehrzahl der Aerzte gethan hatte, blos ihrem Vortheil
im Dienste des Reichthums nachzugehen, sondern dem Nothrufe der ärmern
Classe zu folgen. Honorar anzunehmen war ihnen nicht verboten, aber aus¬
drücklich nur so viel, als ihnen die Genesenen freiwillig anboten, nicht aber
Summen, welche ihnen in der Todesangst für die Rettung etwa versprochen wür¬
den. Das Kollegium erhielt ferner das Recht, sich selbst zu ergänzen, und zwar
sollte nach einer sorgfältigen Prüfung der Concurrenten die Majorität der
Oberärzte den Ausschlag geben. Die übrigen rückten dann nach der Anciennc-
tät auf und der Neuangestellte bekam den untersten Platz. Diese städtischen
Aerzte waren wie die Professoren aller Wissenschaften nebst ihren Weibern
und Söhnen von allen Abgaben, auch der Recrutirung und Einquartirung
frei und wer ihre Ruhe durch Beleidigungen störte, sollte 4000 Thlr. Strafe
erlegen, war er ein Sklave, in Gegenwart des Beleidigten mit Ruthen gezüch¬
tigt werden. Diese Privilegien galten noch unter den ostgothischen Königen
und wurden auch für Konstantinopel von mehren Kaisern bestätigt.
Preußen verwendete 1817 auf seine Kriegsbereitschaft etwa 15 Millionen
Thaler jährlich, in den dreißiger Jahren über 20 Millionen, im Laufe der
vierziger über 25 und jetzt nahezu 30 Millionen. Die Größe der Armee,
welche anfangs etwas die Kräfte des Staats überstieg, wurde zwar nicht
bedeutend vermehrt, um so mehr aber für ihre Ausbildung und Ausrüstung
gethan. Einen neuen Impuls gab der Regierungsantritt des jetzt regierenden
Königs. Er brachte die Neubewaffnung der Infanterie init dem damals ent¬
sprechenden Percussionsgewehr in Gang, dccretirte im Februar 1841 die Be¬
schaffung eines neuen Artillcriematerials (System Radowitz-Strotha) und gab
dem Heere eine neue Bekleidung, die seitdem mustergiltig für viele Staaten
geworden ist. Schon vor 1850 wurde mit einer abermaligen Neubewaffnung
der Infanterie (Zündnadelgewehr) der Anfang gemacht, und vor zwei Jahren
als Normalwaffe ein neues, der Mimi6buesse ähnelndes Gewehr für das Gros
des Fußvolks adoptirt. Hierzu rechne man die vielfachen Verbesserungen,
welche in der Artillerie eingeführt worden. Worauf wir indeß den meisten
Werth legen, was am folgenreichsten werden mag, das ist die seit dem zweiten
pariser Frieden begonnene Herstellung eines im allergroßartigsten Sinne ent¬
worfenen und nunmehr nahezu seiner Vollendung entgegengeführten Landes-
befestigungsfystcms.
Preußen hatte bis zu 1800, wie die meisten damaligen Staaten
und wie Oestreich noch bis zum Ausbruch des orientalischen Kriegs, ohne
ein Landesbefestigungssystem existirt. Die einzige Macht in Europa, welche,
ein solches im strengen Wortsinne besaß, war Frankreich. Friedrich des Großen
Monarchie beruhte auf den beweglichen Massen und suchte ihren Halt in '
ihnen. Zwar verfügte man über Plätze ersten Ranges wie Magdeburg, man
hatte deren mehre zweiten Ranges, wie Stettin und Glogau, und eine
große Anzahl von untergeordneter Classe, wie Graudenz, Kolberg, Spandau,
Neisse, Schwcidnitz u. s. w., aber diese zum Theil nicht im besten Zustande
erhaltenen Festungen machten kein Ganzes aus, lagen da, wo sie sich be¬
fanden, mehr aus Zufall, wie infolge einer strategischen Combination, und
standen, namentlich zur räumlichen Gestalt des Staates und zu seinen
verschiedenen Kriegstheatern, dein westlichen, dem südlichen und östlichen, in
keiner berechneten Beziehung. Es mangelte aber auch an einer verständigen
Theorie, nach welcher derartige Anlagen hätten geordnet werden können. Die
höheren militärischen Wissenschaften waren noch weit zurück. Wenn man
einen recht drastischen Eindruck von der damals herrschenden Unklarheit über
solche Dinge empfangen will, kann man nichts Besseres thun, als die, wenn^
ich nicht irre im Jahr 180g erschienenen Memoiren von Massenbach
nachzulesen. Und Massenbach war nicht etwa ein unbedeutender und unklarer
Kopf, sondern einer der hellsten Geister, welche dem damaligen preußischen
Generalquartiermeisterstabe angehörten. Dennoch urtheilt er über die Frage,
wie das neugewonnene Südpreußen durch ein Befestigungssystem zu sichern
sei, wie ein Kind. Dieselbe Unmündigkeit herrscht in dem sonst so classischen
Werke des in preußischem Dienst (1807) gefallenen ehemaligen französischen
Ingenieuroffiziers Boucmard, da, wo er darin die Landesbcfcstigungsfrage
behandelt, vor; und die Ansichten von Jomini und Rogniat über denselben
Gegenstand müssen mindestens sehr verwirrt genannt. werden. Für dieses
.Wissen waren recht eigentlich erst die großen Kriege Napoleons I. die hohe
Schule gewesen, und den preußischen Militärs gebührt das nicht, hoch
genug anzuschlagende Verdienst: sie am besten benutzt zu haben. Wie man
weiß, stand bis zum Jahre 1813 Scharnhorst dem preußischen Jngenicurcorps
als Chef vor. Es hatte nur der vergleichsweise kurzen Erfahrungen der
Kriege von 1806—7 bedurft, um ihm vollkommen klar zu machen, was ein
Landesbefestigungssystem und was es nicht sei. Seine Anordnungen in
sortificatorischer Beziehung, mit denen er den großen Erhebungskampf unter-
stützen wollte, legen dies genugsam an den Tag. Es war kein Wunder,
wenn diese Traditionen im preußischen Jngenieurcorps sich erhielten und wenn
auf sie wissenschaftlich weiter gebaut wurde. Als die Kriege wider Napoleon
zum Schluß gebracht worden waren, und man sich entschied, Hand an die
Befestigung der großen norddeutschen Tiefebene zu legen, wußte man genau,
was man wollte, man hatte einen leitenden Gedanken, einen festen Plan —
man wußte wohin man ging — das war die Hauptsache!
Die in Wien geschlossenen Verträge hatten Preußen ein Gebiet ange¬
wiesen, welches sich von Saarlouis bis Memel in einer Länge von etwa
zweihundert Meilen ausdehnt. Das ist etwa ebenso viel wie die ganze
Längenevstrcckung des östreichischen Kaiserstaats vom oberen Po bis zum
Dniester. Aber abgesehen von der großen Schmalheit des Leibes und von
seiner Zerrissenheit in zwei Hälften wohnt auch in Hinsicht aus einen Stoß
von Westen oder Osten her der preußischen Ländermasse von Natur nicht
dieselbe Widerstandskraft inne, wie etwa der östreichischen. , Das macht
namentlich die Lage der Monarchie in der Ebene, die nirgend, ausgenommen
in ihren Strömen, von denen nur der Rhein und die Weichsel bedeutend sind,
ein Hinderniß bietet. Diese Schwäche auszugleichen gab es kein anderes
Mittel, als die Durchführung eines großartigen Befcstigungssystems, welches
da Schranken errichtete, wo die Natur nicht ausreichend vorgesorgt hatte,
oder, um treffender und wahrheitsgemäßer es auszudrücken: welches auf den
entscheidenden Punkten seine eigenen Mittel des Widerstandes den natür¬
lichen hinzufügte. ^
Im damaligen Preußen, wie es aus den napoleonischen Kriegen hervor¬
gegangen, war das Gefühl vorherrschend, daß der Staat von Westen her oder
Seitens Frankreich die nächste und ernsteste Gefahr zu fürchten habe, und wir
wollen über diesen Glauben, der ein irrthümlicher gewesen, heute mit unseren
Vätern nicht rechten. An eine Sicherung der heute in jeder Hinsicht wichtigsten
und am meisten in Gefahr stehenden Ostgrenze wurde kaum gedacht, und was
eine Gefährdung von östreichischer Seite anlangt, hegte man nicht nur den
Glauben, daß dawider der deutsche Bund eine sichere Garantie sei, sondern
die Männer, welche unter Blücher und Gneisenau gefochten, waren sich auch,
um es rund herauszusagen, ihrer Ueberlegenheit über den südlichen deutschen
Nachbar in einem hohen Maße und mit vollster Entschiedenheit bewußt.
Es ist das heute wesentlich anders. Oestreich hat nicht nur politisch, sondern
insbesondere auch militärisch eine Regeneration erlebt, und sein Schwert ist
heute eines der gefürchtetsten und schärfsten in ganz Europa. Dazu kommt,
daß das Jahr 1850 die Illusionen in Hinsicht auf die Unmöglichkeit eines
Krieges zwischen deutschen Bundesgliedern gründlich zerstört hat. Doch
hierüber später.
Wem das Verdienst des Entwurfs zum Befestigungssystem der west¬
lichen preußischen Landesfronte zukommt, dürfte sehr schwer zu'ermitteln sein.
In der Zeit, wo darüber endgiltige Feststellungen gemacht wurden, hatten
Gneisenau, Boyen und andere bedeutende Ccipacitätcn oberste militärische
Stellungen inne; das Ingenieurwesen lag in den Händen des Generals von
Rauch, und Stimmen wie die von Grolmann und Clausewitz waren wol
nicht ohne Einfluß und wurden gehört und beachtet. Am nächsten mochte
man der Wahrheit mit der Annahme kommen, daß die Entscheidung über
die wichtige Frage Sache vielfacher Berathungen war, und man dabei in
einem hohen Maße überlegt, gewissenhaft und mit vollster Rechnungtragung
aller bedingenden und Rücksicht verdienenden Umstände zu Werke gegangen
ist. Das Eine stand im Voraus fest: daß der Rheinstrom im Sinne einer
defensiven Frvntlmie zu fassen und zugleich für Angriffszwecke als mächtige
Basis einzurichten sei. Er bot sich den preußischen Entwürfen in seiner
ganzen Ausdehnung von Mainz bis zur niederländischen Grenze dar, aber
mit dein Bedingniß, daß südwärts von Koblenz nur eines seiner Ufer dem
Staate direct angehört und mithin auf eine beide Stromseiten in ihr Bereich
ziehende Festungsanlage hier verzichtet werden mußte. Westwärts vom Rheine
als vorgeschobene Punkte fanden sich nur die Festungen Saarlouis und Jülich
vor; am Strome selber war Wesel als ein Platz anzusehen, indeß in einem
für diesen Zweck ziemlich desolaten Zustand. Köln hatte Napoleon im Jahre
1811 zur Vertheidigung einrichten wollen und es fand sich später ein von
ihm einem seiner Secretäre in die Feder dictirtcs Memoire darüber vor, aber
die Sache war nicht zur Ausführung gekommen; die Werke von Koblenz
endlich waren schon während der Kriege der französischen Republik gesprengt
und seitdem nicht wieder hergestellt worden. Rückwärts dem Rhein war von
der Geographie des Landes kein näherer Halt geboten als die Weser;
dieselbe siel indeß nur innerhalb einer sehr kurzen Strecke auf preußisches
Gebiet und hier fand sich Minden mehr als Rest einer alten Festung, wie
als ein wohlerhaltencr Platz vor.
Wenn sonach die sich bietenden Elemente, an welche man anknüpfen und
auf welche man weiter gründen konnte, nur gering waren, hatte man doch
andererseits, aus Rücksichten einer weisen Oekonomie, sie wohl wahrzunehmen
und zu benutzen. Die Widerstaudsmittel jenseits des Rheins im Westen zu
vermehren, schien ungerathen, indem einem so starken und überlegenen Gegner
wie Frankreich gegenüber eine weit vorgeschobene Defensive immerhin ihr Mi߬
liches hat, und man in einer derartigen Situation nur unter besonders gün¬
stigen Umständen einen befriedigenden Erfolg erwarten darf. Aber man be¬
hielt Jülich und Saarlouis bei; zunächst, wie es scheint, nur provisorisch, um
nicht, bevor die Befestigungen der Rheinlinie beendet wären, seine Fronte
zu entblößen und darnach infolge einer nicht durchaus zu rechtfertigenden
Vorliebe, die man für eine möglichst große Anzahl von Befestigungen gewon¬
nen hatte.
Am wichtigsten war die Entscheidung über die Zahl der Befestigungs¬
punkte am Rhein selber. In dem obenerwähnten Memoire Napoleons war
ein bedeutendes Gewicht auf Bonn gelegt worden. Aber dieser Punkt war
offenbar Köln, welches unter allen Umständen ein Platz ersten Ranges werden
mußte, zu nahe gelegen, ließ zwischen sich und Mainz einen viel zu weiten
Raum, und entsprach darum dem fraglichen Zweck nicht. In dieser Hinsicht
war Koblenz viel günstiger gelegen, nämlich mehr, wenn auch nicht völlig
in der Mitte des Stromlauses zwischen Mainz und Köln, außerdem am Zu¬
sammenfluß der Mosel mit dem Hauptstrome, und nicht weit von der Mün¬
dung der Lahn in diesen entfernt. Wenn seiner Wahl ein Bedenken entgegen¬
stand, so floß dies aus seiner Situation mitten im coupirten Terrain. Das¬
selbe mag einer kleinen Festung günstig sein; ein großer Platz aber sucht die
Ebene, weil er hier freier wirken kann, denn es ist bei ihm nicht sowol das
taktische wie das strategische Element, welches ins Gewicht fällt, mit anderen
Worten: seine Defenfivkraft beruht weniger auf dem Widerstand seiner Walle
an sich, als vielmehr auf der unbehinderten Action seiner Besatzung nach
außen hin. Inmitten dieser einander widerstreitenden Interessen war eine
Entscheidung der Frage nicht leicht. Wie jedermann weiß, ist sie für Koblenz
ausgefallen, und man kann sie im Allgemeinen nur billigen. Die Beibehal¬
tung Wesels und seine möglichste Verstärkung war eine gebieterische Pflicht,
die sich ebenso sehr aus Gründen der Oekonomie wie auf Grund der Lage
der Straßcnlinien empfahl. In Hinsicht auf die Weser konnte man nicht füg¬
lich anders als für Beibehaltung und Nehabilitirung von Minden sich entschei¬
den. Demnach waren zwei neue Hauptfestungen zu erbauen: Koblenz und
Köln und zwei vorhandene Plätze in einer umfassenden Weise zu verstärken,
nämlich Wesel und Minden.
Man kann den preußischen leitenden militärischen Behörden, also im Be¬
sonderen dem Knegsministcrium und dem Generalcommanöo des Ingenieur-
corps die Anerkennung nicht versagen, daß sie die Ausführung der betreffen¬
den Bauten in einer durchaus zweckgemäßen, den örtlichen wie politischen
Verhältnissen in einem hohen Maße entsprechenden Art angeordnet haben.
Koblenz und Köln wurden ziemlich gleichzeitig in baulichen Angriff genom¬
men und dabei nach einem durchaus neuen System verfahren, denn wenn
auch die Principien der modernen preußischen Befestigungen im Wesentlichen
mit denen Montcilemberts übereinstimmen, unterscheidet sich die Methode im
Einzelnen dennoch wesentlich von des Letzteren Entwürfen und hat vor ihnen
nicht nur den Vorzug eines zweckgemäßeren, namentlich den Anforderungen
des Ausfallkrieges im weitesten Sinne Rechnung tragenden Arrangements,
sondern auch der größeren Wohlfeilheit voraus. Im Wesentlichen beruht dieses
neue preußische Befestigungssystem, wie vielleicht manchem Leser noch aus
einem in diesem Blatte enthaltenen Aufsatz aus dem Jahre 1855 erinnerlich
sein wird, auf dein Grundsatz, die Bestreichung (Flankirung) des Grabens
nicht durch eine Brechung der Umzugslinie (Enceinte) zu erreichen (Bastionär-
system), sondern durch ein im Graben und zwar entweder vor der Mitte der
Fronten oder vor deren Winkeln gelegenes Blockhaus (Caponniöre) zu erreichen
(daher Caponniersystem).
Auch in weiteren Kreisen ist es bekannt, daß der Bau von Koblenz in
die Hände des damaligen Obersten Aster, der aus sächsischen Diensten in
preußische übergegangen war, gelegt wurde, und nachträglich unter dessen
unmittelbarer Leitung bis nahe zum Schluß geführt worden ist. Man hat
den Entwurf, der zum großen Theil eigenes Werk des Genannten ist. wenn
auch unter Mitwirkung vieler anderer Kapacitäten entstanden, vorzugsweise ge¬
nial genannt, und das mit Recht, denn in ihm ist bereits ein klares Erkennen
des erst durch die neuesten Kriegserfahrungen unumstößlich gemachten Prin¬
cips documentirt, daß die moderne Festung ihre Stärke nicht in der Umfas¬
sung (Enceinte), sondern vielmehr in den vorgeschobenen (dctachirten) Werken
zu suchen hat, und es sich bei Feststellung der fortisicatorischcn Balance darum
handelt, den letzteren mit allen Mitteln der Kunst eine möglichst große Wi¬
derstandskraft zu verleihen, während die Umfassung viel einfacher und schwä¬
cher ausgeführt werden darf, und selbst muß, wenn man sich nicht einer Ver¬
geudung der Mittel schuldig machen will. Dieser Grundsatz ist in seiner
Reinheit leider später nicht aufrecht erhalten geblieben. Ich werde im wei¬
teren Verlauf dieser Blätter erörtern: inwiefern nicht, und warum nicht.
Bei Köln, ivv die Bedingungen des Terrains durchaus andere waren, wie
bei Koblenz, ist zwar ebenfalls nach dem vorgenannten Grundsatz verfahren
worden, nämlich der Accent der Vertheidigung, im Gegensatz zur Umfassung
selbst, auf eine doppelte Reihe von schachbrctförmig geordneten vorgeschobenen
Forts übertragen worden; weil indeß diese selbst wegen ihrer Kleinheit
und namentlich der Lage und zum Theil unzweckmäßigen Situirung ihrer
Neduits viel zu wünschen übrig lassen, kann man das Ganze nicht in dem¬
selben Maße für vollkommen erachten wie Koblenz. Ein Weiteres über die
Details der beiden Festungen hier zu sagen, verbieten Rücksichten, die kein
Patriot außer Augen setzen darf, wenn auch im Allgemeinen nichts dadurch
gefährdet werden würde.
Im Jahre 1317 waren die Arbeiten am Rhein im vollen Gange.
Während das Vorhandensein der alten Mauer der Befestigung in Köln treff¬
lich zu statten kam, hatte sie dagegen in Koblenz von Grund aus neu zu be-
girren. Dennoch war auf beiden Punkten beim Ausbruch der französischen
Revolution von 1830 das Meiste beendet, und zwar befand sich damals
Koblenz in einem noch weiter vorgeschrittenen Vertheidigungszustand wie
Köln. Wenn es damals zwischen Preußen und Frankreich zum Kriege ge¬
kommen wäre, würde ersteres, abgesehen von Mainz, drei wichtige rheinische
Deboucheepunkte in seinen Händen gehalten und damit ein schweres Gewicht
in die Wagschale jeder in diese Gegenden verlegten militärischen Entschei¬
dung geworfen haben. Köln, Koblenz und Wesel würden ebenso viele feste
Pforten gewesen sein, durch welche unser Vaterland seine Heere, je nach Be¬
lieben, hätte vorschieben oder hinter die große Rheinbarrivre zurücknehmen
können. Mit anderen Worten: diese Festungen würden als ungeheure, so zu
sagen strategische Brückentopfe gewirkt haben, und es ist eine wohl begründete
Ansicht, daß ein Nheinübcrgang der Franzosen unmöglich gewesen wäre,
wenn sie nicht mindestens zwei zuvor genommen hätten. Die Theorie, auf
welche sich diese Annahme gründet, ist in dem mit Meisterhand geschriebenen
Werke des Generals von Willisen, Theorie des großen Krieges, in einer
ebenso geistreichen wie erschöpfenden Weise entwickelt worden, und ich muß
mich um so mehr darauf beschränken, hier nur darauf hinzudeuten, als ich
ohnehin in Betreff der Ausdehnung dieser Arbeit den Raum Ihrer geehrten
Blätter stark in Anspruch nehme.
Rücksichtlich Mindens ist hier anzumerken, daß die Hauptsache zur Ver¬
stärkung und Erweiterung der dortigen Festungswerke in den dreißiger Jahren
zur Ausführung gekommen ist. Der Punkt bezeichnet eine schwache Region
des preußischen Vertheidigungsgebiets. Man kann sich nicht der Befürchtung
entschlagen, daß, wenn am Rhein eine große Entscheidung gegeben und zu
unserem Nachtheil ausgefallen sein sollte, der Angriff muthmaßlich gleich an
die Elbe gelangen würde, weil dazwischen nichts ist, was ihm ein ernstes
Hinderniß entgegenzustellen vermöchte. Um in diesen weiten Raum ein neues
starkes Element des Widerstandes zu legen, konnte Preußen, bei der Abgren¬
zung seines Territoriums, nicht zugleich ein anderes Mittel ergreifen, als
Erfurt zu erweitern und zu verstärken. Dieser Festung Lage richtig zu er¬
fassen ist nicht ohne Werth, weil darauf das Verständniß des preußischen
Landesvcrtheidigungssystems zu einem großen Theile mildernde. Wie man
weiß liegt Erfurt an keinem Fluß von Bedeutung, und wenn es auch mit
einem guten Schleusenspiel versehen ist, fehlt ihm aus jenem Grunde dennoch
die Bedeutung eines Platzes, der einen Strom hütet. Auch seine Beziehungen
zu den verschiedenen Hauptdcfileen des thüringer Waldes kann man wol
derzeit nur noch als illusorisch bezeichnen. Wie man weiß hat Thüringen
nach Westen hin eine große Pforte: das Debouchee von Eisenach, und nach
Süden hin eine andere, nicht minder wichtige, das von Hof. Erfurt liegt
central zu beiden d. h. eine unter den Mauern der Festung concentrirte
Armee kann sich radial nach der einen oder anderen Richtung hinwerfen;
aber, wenn es auch gerathen wäre, eine derartige Centralstellung einzunehmen,
was nicht der Fall ist, wie uns die Erfahrungen des Krieges von 1806 be¬
lehrten, weil der Gegner, wenn er überraschend bei Hof debouchirt, die bei
Erfurt stehende Armee umgehen, zunächst von der Saale und damit vom
Gros der Monarchie abschneiden kann, so ist bei der trefflichen Beschaffenheit
der vielen über den Kamm des Gebirges führenden Nebenstraßen ein Verschluß
bei Hof und Eisenach. wenn er auch hermetisch wäre, im hohen Maße unwirk¬
sam. Nichts desto weniger ist Erfurt von einer großen Bedeutung. Es ist nach
Minden die zweite zwischen dem Rhein und der Elbe gelegene fort^ificatorische
Staffel, der einzige Platz ferner auf der Linie von dem letzteren Strome bis
Mainz, und ein unentbehrlicher Haltpunkt für den in diesen Regionen zu füh¬
renden Krieg. Mehr noch: auf Erfurt beruht der militärische Zusammenhang
der politisch in eine West- und Osthälfte zerrissenen preußischen Monarchie.
Nähme man diesen Platz aus dem System heraus, so würde Preußen auch
in strategischer Hinsicht dem Körper einer Wespe gleichen, welcher da seine
schmalste Taille hat und eine trennende Einschnürung erleidet, wo seine Mitte
und sein Herz unter anderen und normalen Umständen liegen müßte.
Man kann Erfurt den Schlußstein und die unvermißbare Ergänzung des
preußischen, nach Westen (Frankreich entgegen) gewendeten Vertheidignngssystems
nennen. Aber seine Lage ist der Art, daß sie einer Doppelbestimmung entspricht,
und demselben Platz zugleich eine strategische Frontrichtung nach Süden
anweiset. Auf dieses sein Verhalten zum süddeutschen oder Oestreich zu¬
gewendeten Kriegstheater näher einzugehen, muß ich mir an einer anderen
Stelle des Aussatzes vorbehalten. Mit dem zuletzt Gesagten ist derselbe zu
einem Abschnittspunkte gelangt. In dem nachfolgenden Theile werde ich
Preußens Landesbefestigungssystem im Osten zu besprechen haben, und end¬
lich den dritten einer Erörterung seiner sortificatorischen Widerstandsmittel auf
der Südfronte widmen.
Die im vorausgegangenen Abschnitte dargelegte fortificatorische Sicherung
der großen westlichen Landesfronte Preußens war gewiß wichtig, und im
hohen Maße nothwendig. Aber nur wenn man mit der damals ein¬
gehaltenen Politik der Regierung einverstanden ist, kann man es entschuld
tigem, daß eine lange Reihe von Jahren hindurch alle im Budget des Jn-
genicurwesens ^disponiblen Mittel auf ihre Herstellung allein verwendet wurden
und zur Sicherung des Staates nach der entgegengesetzten Richtung hin, d. h.
gegenüber von Rußland, beinahe nichts geschah. Es hat keinen rechten Halt,
und ist nicht ganz logisch, wenn man zur Entschuldigung dieser Vernachlässi¬
gung anführt, daß es vorerst darauf angekommen sei, die Landesbefestigung
überhaupt, nach allen Seiten hin, in ein annäherndes Gleichgewicht zu stellen,
und dieses Bestreben anfangs von den Ostgrcnzen absehen ließ,, weil sich hier
bereits ältere Festungen vorfanden, während der Westen von solchen ganz
entblößt war. Denn in Wahrheit hatte unter diesen Plätzen aus einer frühern
Zeit nur Danzig Bedeutung; die andern Befestigungspunkte: Pillau, Grau-
denz, Kösel kamen ihrer geringen Größe wegen wenig in Betracht, und Kol¬
berg, Stettin, Küstrin und Glogau liegen der eigentlichen Frontlinie zu fern,
um in unmittelbare Beziehung zur Vertheidigung derselben gestellt zu werden.
Das angestrebte Gleichgewicht war aber ganz sicher nicht mehr vorhanden,
als die großen Festungen am Rhein so weit vorgeschritten waren, daß sie
für sähig erachtet werden konnten, Stützpunkte des Widerstandes zu sein, und
Preußen war zu jener Zeit ein Staat mit durchaus abnorm arrangirten Ver¬
theidigungsvorkehrungen, indem er ungeachtet seiner Zwischenstellung zwischen
drei gewaltigen Groß- und Militärmächten eigentlich nur eine einzige bewehrte
Fronte bot und seinen ihm zunächst gestellten Nachbarn unter jenen Rücken
und Flanke ziemlich offen und ungedeckt zuwendete. Es mochte diese Lage
der Dinge mit den Maximen, die im System der „heiligen Allianz" lagen,
vollkommen stimmen, aber mit Preußens ererbter Politik und mit den Grund¬
sätzen, deren energischer Handhabung es seine Machtstellung auf' verhältni߬
mäßig so schmaler Basis zu verdanken hatte, war sie vorerst nicht zu verein¬
baren.
Preußens strategische Stellung gegen Osten, namentlich in Hinsicht auf
die Defensive, ist an und für sich schwächer als die Frankreich gegenüber.
Voraus vor dieser hat der Staat in ersterer Richtung nur den Umstand, daß
seine Hauptmasse hier concentrirt bciscnnmcnliegt, und seine Rußland cntgcgcn-
gckehrte Frontlinic eine darum ausgedehntere — darum aber auch zugleich
schwerer zu deckende — ist. Unter die ungünstigen Umstände gehört zunächst
des russischen Polens vorgreifende Lage; wodurch Ostpreußen bis zur Weich¬
sel und darüber hinaus in die Flanke genommen und sein Zusammenhang
mit dem Gros der preußischen Monarchie bedroht wird. Man erinnert sich
wol aus der Geschichte des wiener Kongresses der Denkschriften des wackern
Generals von Knesebeck, in welchen ausgesprochen wird, daß die damals
festgestellten und leider definitiv angenommenen Grenzverhältnisse, zumal in
Ansehung der zunehmenden inneren Machtentwicklung Rußlands, eine Kala¬
mität für Preußen ausmachen, und daß 500,000 Mann Nüssen, die in der
Spitze des den Leib der Monarchie spaltenden polnischen Landeskeils ver¬
sammelt würden, jenen nothwendig sprengen müßten. Es ist hier nicht der
Ort des Näheren darauf einzugehen, was durch eine determinirte Haltung auf
dem besagten Kongresse (1817) zu erreichen gewesen wäre; aber so viel sei
hier bemerkt, daß Preußen heute mit ungleich geringerer Unruhe seine Blicke
zur Zukunft wenden könnte, wenn es mindestens den Weichselstrom von der
See bis Krakau als sein eigen besäße.
Es war etwa um die Mitte der zwanziger Jahre, als man in Preußen zu¬
erst daran dachte, etwas Größeres als bloße Neparaturbauten zum vermehrten
Schutz der ostwärtigen Grenze zu unternehmen. Den Punkt, aus welchen man
als den ersten seine Aufmerksamkeit zu richten habe, glaubte man in Thorn
zu erkennen. Wie bekannt kam diese Stadt als eine geschleifte oder mindestens
tief verfallene Festung an Preußen. Die Bedeutung, welche es als strategische
Oertlichkeit hat, ist nirgend und von niemandem klarer auseinandergesetzt
worden, als durch den preußischen General von Willisen in seinem als classisch
anerkannten, bedeutenden und namentlich dem Laien im Kriegswesen als beste
Einführung in dasselbe zu empfehlenden Werke: „Theorie des großen
Krieges". Der verehrte Autor sagt darüber etwa Folgendes: „Der gefähr¬
lichste Angriff ist von Warschau und vom linken Weichselufer her.
Nun hat aber glücklicherweise die Stellung bei Thorn die Weichsel bis zum
Meere im Rücken; außerdem hat diese Stellung eine durch die starke Netzelinie
gedeckte Verbindung mit dein Centro in ihrer Flanke. Gegen einen Angriff
von Ostpreußen her, nachdem etwa die Vertheidigung, wäre sie nicht gleich
durch einen ersten Schritt, wie es leicht geschehen könnte, an den Riemen ver¬
legt worden, am Pregel aufgegeben worden, hätte die Vertheidigung bei Thorn
die freieste und gesichertste Verbindung nach Südwesten und Westen. Thorn
hat somit eine allgemein günstige strategische Lage. Weder auf der einen noch
auf der andern Linie dürfte der Feind den strategischen Meridian der Auf¬
stellung von Thorn überschreiten, ohne sich strategisch blos zugeben. Er müßte
sich gegen Thorn wenden, um die Vertheidigung von dort zu vertreiben. Die
Lage von Thorn vertheidigt aber, und grade für den schlimmsten Angriff, für
den von Warschau her, Ostpreußen mit. Wenn der Feind nur mit einer
Armee, und auf dieser Richtung allein operirt, so ist Preußen sogar durch die
Stellung von Thorn mehr geschützt, als etwa Posen oder Schlesien. Operirt
er aher mit einer zweiten Armee zugleich auf der Linie von Wilna, so dürfte
auch ein zweites partielles Vertheidigungssystem für Preußen am Pregel eta-
blirt werden, und es hatte zugleich die centrale Stellung bei' Thorn die Ge¬
legenheit zu einem partiellen Angriff, zu einen Act aus dem offensiven Theile
der Vertheidigung."
So weit General von Willisen. Seine.über die Bedeutung von Thorn
ausgesprochenen Ansichten haben grade darum einen vorwiegenden Werth, weil
sie, abgesehen von der Feder, aus welcher sie kommen, zugleich das Urtheil
ausdrücken dürsten, welches im großen Generalstabe zu Berlin Geltung hatte,
und im Kriegsministerium letztlich den Ausschlag sür die Wahl gegeben hat.
Inzwischen waren in Ansehung dieses großen ihm zugeschriebenen strategischen
Werthes die fortificatorischen Anlagen, zu denen man sich entschloß, immerhin
nur knapp bemessen. Sticht wie bei Köln und Koblenz ist hier auf die Her¬
stellung eines großen verschanzten Lagers Hauptrücksicht genommen, wie es
doch sein müßte, wenn man den Punkt zum Halt einer defensiven Massenauf¬
stellung bestimmte und der Umstand» daß keine feste Brücke über den im Win¬
ter oft wochenlang mit Eis treibenden Strom besteht, gibt zu bedenken: in
welcher bedenklichen Lage sich eine auf dem rechten Weichsclufer stehende preu¬
ßische Armee befinden würde, wenn der Feind links agirt, und elementare
Verhältnisse ihr ein Hinübergehen verwehren. Außerdem ist klar, daß Thorn
eben nur in Bezug auf Ostpreußen und Posen die Bedeutung eines strategi¬
schen Centrums hat, nicht aber in Bezug auf die ganze vstwärtige Frontlinie,
und daß namentlich Schlesien sich etwas weit aus seiner Sphäre hinausgerückt
befindet. Dieser gesuchte wichtige Mittelpunkt der großen östlichen Frontlinie
zwischen Kösel und Memel würde, wenn Preußen seine naturgemäßen Grenzen
besäße, in Motum. am Einfluß des Bug-Narew in die Weichsel gesunden sein;
unter den obwaltenden Verhältnissen aber ist er nirgend anders als in der
Stadt Posen zu finden.
Die unendlich bedeutungsvolle strategische Centralität Posens beruht nicht
allein darauf, daß es zwischen den beiden am weitesten auseinandergelegenen
Partialthcatem des ostwürtigen Kriegs, Preußen und Schlesien, als verbinden¬
des Glied sich eingeschoben findet, sondern auch auf seiner Zwischenlage in¬
mitten der Ostsee und der Sudeten, jener beiden unüberschreitbaren Flügel¬
schranken, und zugleich nahe der Wasserscheide, welche Oder und Weichsel tren¬
nen. Sodann ans dem Umstand, daß jeder directe Stoß von Warschau her
auf die Hauptstadt der Monarchie dicht an ihm vorübergeführt werden muß,
daß jeder Uebergang über die mittlere Oder von ihm unmittelbar, und jeder über
die untere oder obere, schräg im Rücken bedroht wird; daß aber ein Rückstoß
wider Polen und die Mittelwcichscl von hier seinen bestgclcgencn Ausgang
nehmen wird und nehmen muß, weil er auf keinem andern Wege directer,
also mit vollerer Kraft und größerem Nachdruck geführt werden kann.'
Diese Beziehungen Posens zum Ostkriege springen zu klar hervor, und
sind zu gebietender Art, als daß man sich der Ausforderung hätte entziehen
können, sie zum leitenden Motiv beim Entwurf des preußischen Befestigungs¬
systems an der russischen Grenze zu machen. Es war wol schon 1326 oder 27,
als man sich für deu Punkt, um ihn zum eigentlichen Hort der preußischen De¬
fensive im Osten zu machen, entschieden hatte; im Jahre 1828 aber wurde
die erste Hand an die Ausführung gelegt, und dermaßen groß WM die gestellte
fortisicatorische Aufgabe, daß man länger als zwanzig Jahre darauf verwen¬
dete, um sie durchzuführen.
Heute, wo Posen vollendet ist, gilt es, und zwar mit Recht, als das Meister-
werk neuprcußischcr Befestigungskunst, und als der stärkste Kricgsplatz der ost-
wärtigen Hälfte der preußischen Monarchie, was um so mehr bedeuten will,
wenn man in Rücksicht zieht, daß die Natur durch besondere Gunst verhält¬
nißmäßig äußerst wenig gethan hat. daß im Besondern große Stromverhältnisse
hier fehlen, daß es ebenfalls der Kunst anheim gegeben war, durch SchleußeN-
anlagen, mit den Mitteln, die ein kleiner Fluß dazu bot, eine fluviale Basis
herzustellen, und selbst die Beschaffung der Baustoffe — Posen ist im Gegensatz
zu den rheinischen Festungen, die meistens aus Bruchsteinen aufgeführt wur¬
den, aus Ziegeln erbaut — außerordentliche Schwierigkeiten machte. Es ist
hier nicht in Absicht, noch ist es zulässig, auf die Ausführung des Platzes in
fortificatorischer Hinsicht näher einzugehen. Zwei Namen, Brese und
Prittwitz, sind mit ihm untrennbar verbunden und werden fortleben, fo lange
die gewaltigen Mauern dauern. — Die Ausgaben, welche der Bau von Po¬
sen veranlaßte, habe ich verschieden, einerseits aus sieben bis acht Millionen,
andrerseits auf zwölf Millionen Thaler angeben hören. Auch die größere
Summe ist für das, was man dadurch für die Monarchie gewonnen hat,
nicht zu hoch; für alle Zeiten ist damit eine förmliche Ueberraschung Preußens
durch einen plötzlichen Angriff Rußlands unmöglich gemacht; denn diese Festung
gebietet dem Marsch gegen den Herzpunkt der Monarchie Stand, er mag ge¬
schehen, aus welcher Richtung der gegebenen Grenze er immerhin wolle.
Der Bau von Posen nahm während der letzten zehn Regierungsjahre
des Königs Friedrich Wilhelm III. nahezu die volle Summe des Jngenieur-
budgcts des Staats in Anspruch. Bei den damals noch ungleich spärlicher
wie jetzt entwickelten finanziellen Hilfsmitteln des Staates konnte man nicht
füglich mehr thun. Aber Friedrich Wilhelm IV. hatte kaum den Thron be¬
stiegen, als es feststand, daß man in den entscheidenden Regionen den
Augenblick für gekommen erachtete, um eine neue Festung von mock größerem
Umfang wie Posen und unter zu Grundelegung derselben Bcfcstignngsmanier
in Angriff zu nehmen; es war dies Königsberg. Zugleich entschied man sich
für die Fortificirung von Lötzcn.
Die Umwandlung der Hauptstadt von Altpreußen in einen Platz ersten
Ranges will nach Maßgabe anderer Verhältnisse und Beziehungen gewürdigt
sein, wie der Bau von Posen. Wenn die Anlage der letzteren Festung ankün¬
digte, wie Preußen einer überraschenden Offensive entgegenzutreten gesonnen
sei, so kündete die Auswahl Königsbergs zum Hauptwaffenplatz an, daß man
dabei auf den Gedanken nicht verzichte, seinerseits eine angriffsweise Ver¬
theidigung zu führen und in keinem Falle geneigt sei, auch für den Fall
einer Ueberraschung, blos aus Grund derselben eine ganze Provinz zu räumen.
Insofern war Königsberg die kühnere strategische Anlage, entsprechend dem
kühnerem politischen Geist, der mit dem Regierungswechsel in der Monarchie
lebendig geworden war. Sie trug zugleich allen großen und mannhaften
Plänen der Zukunft Rechnung, schuf für einen etwaigen Offensivkrieg wider
Rußland, der selbstredend nicht von Posen her eingeleitet werden kann, wenn
man große Resultate in der ersten einleitenden Periode erstrebt, die best¬
gelegene Ausgangsbasis, und deutete an, daß Preußen nicht nur des Pregels eben¬
so gewiß sei wie der Warthe, sondern zugleich, daß es auf einen Widerstand
längs dem Riemen ebensowenig verzichten werde, wie auf den an der
Weichsel. Mit andern Worten die strategische Sphäre Preußens im Osten wurde
durch den Bau von Königsberg, wie mittelst eines überraschenden Vorgriffs
mindestens um die Hälfte erweitert. Zugleich hatte die Anlage die Bedeutung
eines wohlberechneten Contrecoups wider die großen fortificatorischen Arbeiten
Rußlands im Königreich Polen, wodurch es seit Niederwerfung des polnischen
Aufstandes im Jahre 1831 die Mittelwcichsel zu einer großen gegen Preußen
gewendeten Angriffsbasis einzurichten begonnen hatte. In dieser Hinsicht
bedeutete Königsberg als Festung so viel als, daß Preußen unter Umständen
von, den Möglichkeiten der strategischen Lage seiner Ostprovinz Nutzen ziehen,
und dem wider es aufgerichteten Drohniß dadurch Macht und Bedeutung
nehmen werde, daß es dasselbe in den Rücken fasse.
Der Bau von Königsberg dauert jetzt nahezu 15 Jahre, und seine
Kosten wurden auf Grund eines allgemeinen Voranschlages, der von dem ge¬
wissenhaften und gewandten General von Prese herrührt, auf 10 Millionen
Thaler festgestellt.
Es ist hier der Ort, wo auch der Befestigung von Lötzen gedacht werden
muß, einer Art strategisch-fortisicatorischen Schraube, die ihren Urheber in dem
verstorbenen, sonst sehr hoch zu schützenden Kriegsminister Boyen her. Da
keine bedeutende Straße den Punkt schneidet, oder auch nur in seiner Nähe
vorübergeht, außerdem kein anderweitiger Umstand ihn wichtig macht, so ist
nicht zu errathen, was die Anlage bezweckt, es sei denn daß man sie für den
Fall ausführte, um dereinst, zwischen den großen'Seen'manöorirend, dem
Feind im Bewegungskriege durch Verschluß eines Desilees in seinem Rücken
eine große und vernichtende Katastrophe zu bereiten. Ich trete hier nicht mit
dem Anspruch auf, meine Meinung in diesen Dingen für unantastbar zu halten,
aber wenn ich behaupte, daß es für Preußen unendlich vortheilhafter wäre,
wenn die Bastionen von Lötzen anstatt in der Einöde an den masurischen
Seen bei Wehlau oder Jnsterburg oder am Niemen gelegen wären, so denke
ich, daß sich dagegen wenig wird einwenden lassen.
Aus dem bis dahin Gesagten erhellt, daß Preußen große Anstrengungen
gemacht hat, um sich gegen einen überraschenden Einbruch wider die Herz¬
gegend seiner Staaten zu decken und die weit vorgeschobene transvistulrsche
Ostprovinz zu schützen, daß aber für den rechten Flügel der Nußland entgegen-
gewendeten Fronte verhältnißmäßig nur äußerst wenig geschehen ist. Friedrich
der Große sah Schlesien militärisch nur als eine Oestreich zugewendete Grenz¬
provinz an und demgemäß hatte er im Besondern seine fortisiccitorischen
Arrangements getroffen, die alle darauf hinzielten, das Riesengebirge und die
Sudeten zur Basis zu nehmen und mehr offensiver wie defensiver Natur
waren. Seine Festungen waren Schweidnitz, Glatz, Silberberg, Neisse und
Kösel; Glogau fand er um der Oder vor (wie die genannten Plätze) und
verstärkte es, aber für Breslau, welches nur halb als Festung gelten konnte,
und nachher geschleift wurde, that er nichts. Heute ist die Hauptbedeutung
Schlesiens in militärischer Beziehung, daß es preußische Grenzprovinz wider
Rußland und Oestreich zugleich ist. Ein Landestheil, der dermaßen strategisch
in die Klammer gefaßt werden kann, bedarf augenscheinlich eines festen und
starken Kerns, damit der Widerstand einen Haltpunkt besitze und nicht sofort
das Feld räumen müsse. In Breslau wäre dieser Punkt gesunden; es ist
anerkannt, und zwar in den entscheidenden Kreisen, daß diese Capitale als
Festung unentbehrlich ist, aber bis heute mangelten noch die Mittel,
um den längst gefaßten und sicher in Hinsicht auf den Kostenpunkt bereits
genau überrechneten Plan zur Ausführung zu bringen. Wir müssen ab¬
warten, ob die nächste bevorstehende Vermehrung der Staatseinnahmen
für den großen Zweck einen Ausweg bietet. So lange Breslau
in das hier besprochene Landcsbefestigungssystem als mächtige Mitte des
rechten Flügels der Ostfronte nicht einbegriffen ist, wird die preußische Dcfensiv-
etablirung nicht als vollendet angesehen werden dürfen. Wir halten heute
einen gemeinsamen Krieg Rußlands und Oestreichs wider uns, wie die Dinge
glücklicherweise liegen, kaum für möglich; aber erinnern müssen wir hier
dennoch daran, wie dieser Krieg im Herbst 1850 nahe vor die Thür gerückt
war, und ihm von Preußen nur durch eine ziemlich weit gehende Nachgiebig¬
keit ausgewichen werden konnte.
Mit dem westlichen Besestigungssystem in seinem jetzigen Zustande ver¬
glichen erweist sich das östliche insofern von ihm verschieden, als es ein noch
unvollendetes ist. Danzig und Posen müssen unter den fertigen Festungen
heute als die wahren Strebepfeiler der Vertheidigung angesehen werden/
Wenn Königsberg vollendet sein wird, mag es von bedeutendem Gewicht
werden, daß alsdann dieser Platz, in Verbindung mit Pillau. mit Danzig
und dessen Dependenzien (Weichsclmünde und Neufähr, 'so wie das Fort am
Durchbruch) ein System im Kleinen ausmachen wird, welches durch die See.
das frische Haff und die Nehrung dreifach untereinander verbunden, nur
durch Einnahme eines der beiden Hauptpunkte gesprengt werden dürfte. Lager
die Bastionen von Lötzen bei Wehlau. so würde dadurch das kleine Netz eine
noch weitere Ausdehnung erhalten und stärker noch sein als jetzt in Aussicht
steht. So viel ist indeß gewiß, daß die Befestigung von Königsberg durch
ihren Anschluß an die von Danzig (letztere rührt aus alter Zeit her) die Ost¬
provinz zum unantastbarsten Punkt der preußischen Monarchie machen wird,
und es in Anbetracht der Lage einem russischen Angriff unmöglich gelingen
wird, die diesseitige Vertheidigung von der Ostsee, also von dem zuverlässigsten
Verbündeten, den Preußen in solcher Lage finden kann, von England zu
trennen. Ein befestigtes Breslau würde ziemlich dieselbe Bedeutung für
einen Bundeskrieg an der Seite von Oestreich haben; denn auch wenn
Rußland durch seine innere Entwickelung gekräftigt und vielleicht im Stande
sein wird, die 500,000 Mann aufzubringen, von denen General von Knese-
beck in seiner Denkschrift redete, wird es dennoch die beiden deutschen Gro߬
mächte unmöglich damit auseinanderwerfen können, falls ein Platz erster
Große den heute leider offenstehenden Raum zwischen Kalisch und dem
Riesengebirge verschließt, oder richtiger zu sagen ihn im defensiven» Sinne
ausfüllbar und haltbar macht.
Innerhalb der letzten hundert Jahre ist die politische Situation Preu¬
ßens nach außen hin in einer überraschenden Weise eine andere geworden.
Friedrichs II. Hauptstaatsgedanke war der, daß seine Monarchie ein wider
Oestreich errichtetes Gegenreich sei, und vornehmlich in diesem Widerstreit sich
wachsende Größe zu erringen habe. Von Nußland schied seine Besitzungen,
einen kurzen Grenzstrich ausgenommen, der Rest des Königreichs (der Republik)
Polen, und von Frankreich trennten ihn die geistlichen Kurfürstenthümer; beide
Reiche kamen für ihn insofern wenig in Betracht. Heute liegen die Dinge grade
umgekehrt: ein Krieg mit Oestreich ist aus vielen Gründen sehr unwahr¬
scheinlich; aber des Verhältnisses zu Frankreich sind wir nicht sicher, und ein
letzter entscheidender Kampf mit Nußland, in welchem es sich um Preußens
Existenz handeln wird, scheint mit der Zukunft uns näher und näher zu
rücken. Bei dem allen darf man aber von der Möglichkeit eines Krieges
zwischen Preußen und Oestreich nicht durchaus Abstand nehmen. Es wurde
schon einmal in diesem Aussatze auf den Herbst 1850, als auf einen bedeu¬
tungsvollen und warnenden Moment hingewiesen. Solche Momente können
wiederkehren, und wie sehr wir auch immerhin wünschen mögen, daß sie
fern bleiben, müssen wir dennoch die Nothwendigkeit anerkennen, bei unsern
militärischen Vorkehrungen aus jene Möglichkeit Rücksicht zu nehmen.
Erörtern wir hier zunächst die Situation, in welcher sich Preußen bei
jedem Einzelkricge mit Oestreich befinden wird. Hierbei müssen wir gleich
eines Hauptverhültnisses der gegenseitigen Lage gedenken, weil dasselbe von
großer, viel bedingender Wichtigkeit ist. Oestreich und Preußen sind nicht als
parallel zueinander gestellte Staaten anzusehen, sondern ihre räumliche
Nebcnlage entspricht einer Stellung ein e>er<zia>n. In demselben Maße, wie
Oestreich weiter nach Osten greift, greift Preußen weiter nach Westen. Aber
der Unterschied waltet zwischen beiden Ucberflügelungen ob, daß die östrei¬
chische im Grunde genommen keine ist, indem Rußlands Zwischenlage bei
einem Einzelkriege die Ausnutzung verbietet, die preußische hingegen bei der
Schwäche der deutschen Kleinstaaten leicht zu einem Anfall Wider Oestreich,
von zwei Seiten her, die Hand bieten kann, wenn anders die beweglichen
Mittel dazu vorhanden sind. Das heißt so viel als: Preußen bedroht, ver¬
möge seiner Rheinstcllung, in deren Folge es westwärts basirt ist, Oestreich,
außer von Schlesien und Sachsen her, auch von Baiern aus, wogegen Oest-
reich nur von der böhmischen Ecke bei Eger her den Zusammenhalt der preu¬
ßischen Monarchie bedrohen könnte, aber nicht im Stande wäre, von dort
aus nach Westphalen oder den Rheinlanden vorzudringen. Um dieser Gründe
willen ist die wider Oestreich zur Vertheidigung verwendete Fronte auf die Aus¬
dehnung beschränkt, welche die beiden Festungen Erfurt und Kösel bezeichnen.
Beim ersten Ueberschauen der innerhalb dieses Raumes waltenden Verhältnisse
wird man gewahr, daß ein Naturschutz oder eine natürliche Basis hier noch
weit weniger vorhanden ist, wie irgend sonst wo, und daß. wenn nicht die
politischen Verhältnisse hier günstigere wären, wie im Westen und namentlich
im Osten, Preußen von Süden her die größten Gefahren zu gewärtigen hätte.
Das zwischen Brandenburg und Böhmen eingeschobene Sachsen ist weit ent¬
fernt, eine Schutzwehr zu sein, weil ein so kleiner Staat, wie dieser, seine
Neutralität in keinem Falle zu wahren vermag; im Gegentheil wird seine
Existenz stets demjenigen zum Vortheil gereichen, der die Offensive ergreift,
welche Stelle wir hier, wo von Preußens Vertheidigung die Rede ist. Oest¬
reich zuzuschreiben haben. Es ist klar, daß eine aus Böhmen hervorbrechende
östreichische Armee es in ihrem freien Belieben hat, die Elbe auf beiden
Ufern zu beherrschen, daß Gründe sehr entscheidender Art sie mit ihren Haupt-
Operationen auf die rechte Stromseite hinweisen, und daß die Festungen Tor¬
gau und Wittenberg, zumal sie klein sind, und darum keine strategische An¬
ziehungskraft ausüben, eigentlich nur vorhanden zu sein scheinen, um um¬
gangen und von kleinen Beobachtungscorps im Schach gehalten zu werden,
hat man aber Wittenberg und Torgau passirt, so steht man mitten in den
Marken und hart am Weichbilde von Berlin, welches einem rasch geführten
Offensivstoß Preis gegeben zu sein scheint.
In diesen Möglichkeiten ist die Hnuptgefahr enthalten, welche uns von
Oestreich aus bedroht, und sie ist in jeder Hinsicht eine außerordentlich ernste
zu nennen. Daß Breslau noch unbefestigt ist. ist neben der Calamität, welche
aus dem offenen Berlin entspringt, um eine Gefahr zweiter Ordnung, auch
wenn man, wie oben bereits geschehen, auf die Eventualität eines Doppel¬
angriffs, von Süden und Osten her (durch die verbündeten Großmächte Oest¬
reich und Rußland), Rücksicht nimmt. Auch diese Schwäche ist in dem be¬
deutungsvollen Jahre 1817, wo die Verhältnisse der Welt auf so lange Zeit
hinaus geordnet wurden, von den preußischen Staatsmännern klar heraus¬
erkannt worden, und wesentlich in dieser Rücksicht drangen sie auf eine Ent¬
schädigung Sachsens am Rhein und auf die Einverleibung des ganzen jetzi¬
gen Königreichs. Die „Festung" Dresden wäre dann das große Bollwerk
Berlins und der Mitte des preußischen Staats geworden; aber es sollte nicht
so sein.
Um so mehr muß man erstaunen, daß man nicht eifriger bemüht ge¬
wesen ist, dem schweren und sehr beunruhigenden Uebelstande durch eine un¬
mittelbare fortisicatorische Sicherstellung Berlins abzuhelfen. Beinahe will
es in dieser Hinsicht scheinen, als wenn nur in den sonst so erleuchteten
militärischen Kreisen daselbst, und am entscheidenden Orte, nur allmälig über
diesen Punkt (und zwar erst seit der Zeit, wo Paris befestigt wurde) zu den
heute allgemeine Geltung habenden Ansichten gelangt sei.
Die Verfahrungsweise, welche man auf der weiten Vertheidigungsfronte
zwischen Kösel und .Erfurt seit dem Jahre 1815 innegehalten, ist mit
wenigen Worten zu charakterisiren. Man wollte hier zunächst auf jeden aus¬
gedehnteren Neubau verzichten, die vorhandenen Plätze ausbessern, im
brauchbaren Zustande erhalten, allenfalls durch einzelne neue Werke verstärken
und erst wenn man vollkommen im Westen und Osten zur localen Defensive
eingerichtet wäre, Breslau als eine Hauptfestung in Angriff nehmen. Wie
man hieraus ersehen wird, legte man den Hauptaccent auf den linken Flügel,
und sah von einer Deckung des Centrums und Herzpunktes des Staates
(Berlin) ab. Ein Umschwung in diesen Vornahmen trat erst im Herbst 1850
ein, grade als ein Krieg mit Oestreich in das Bereich der Möglichkeit und
sogar der Wahrscheinlichkeit gerückt war. Wie man weiß, liefen damals die
Hauptanstrcngungen der preußischen Heeresleitung darauf hin, zwischen der
sächsischen Grenze und Berlin einen deckenden Schutz aus beweglichen Massen
zu formiren. Der östreichische Plan schien, nach dem was darüber später
laut geworden ist, und nach Maßgabe der verschiedenen Vorkehrungen, die
jenseits der Grenzen getroffen wurden, darauf hinauszulaufen, durch eine
Scitwärtsschiebung der Streitkräfte aus Mähren nach Böhmen, den Angriffs¬
stoß auf die Mittelmarken fallen zu lassen, und nach einer e.kwa in der Um¬
gegend von Torgau zu gebenden Entscheidung- Berlin gleichsam durch -einen
strategischen „coup av main" zu nehmen. Als die Gefahr beschworen war.
salto sie inzwischen das Gute bewirkt, daß gegen die Nothwendigkeit einer
Befestigung von Berlin auch die letzten Stimmen der militärischen Opposition
verstummt waren. Aber das Werk war dennoch zu groß, um sofort in An¬
griff genommen zu werden; mindestens meinte man, daß die dazu noth¬
wendigen Mittel schwer zu beschaffen sein würden , und in jenem Geiste der
halben Maßregeln, die man am meisten bei Entscheidungen über wichtige
Fragen zu fürchten hat, verzichtete man zunächst auf eine Sicherstellung des
Herzpunktes des Staats durch unmittelbare Anlagen, und beschränkte sich da¬
rauf, ein Project dafür ausarbeiten und die Kosten überschlagen zu lassen.
Inzwischen sollte Torgau eine Art von Schild gegen den Stoß des Feindes
sein, und man votirte zu dem Ende in den Kammern eine entsprechende
Summe für den Herstellungsbau des Forts Zinna.
Wie heute die Angelegenheiten stehen, ist eines gewiß, nämlich dies, daß
man eher die Befestigung von Berlin, wie die von Breslau beginnen wird.
Mit jedem Jahre rückt man vorbereitend dem Anfang des großen Unter¬
nehmens näher. Bereits ist neben den sechs bestehenden Festungsinspectionen
eine siebente, ausschließlich für Berlin bestimmte errichtet worden, der es zu¬
nächst obliegen dürste, alle über den Plan aufgestellten Ansichten genau zu
erörtern und zu erwägen, und darnach unter Mitzuziehung der höchsten mili¬
tärischen Behörden in einer Schlußconferenz zu entscheiden. Wann die Stunde
schlagen wird, wo man den ersten Spatenstich thut, ist schwer zu sagen, aber,
wie schon bemerkt, rückt sie näher und näher, und schon diese Gewißheit hat
viel Beruhigendes. Die Festung Berlin wird den Schlußstein des ganzen
großen Systems ausmachen; sie wird nicht allein, zur Südsroute des Staates,
sondern zugleich zu den beiden zuerst besprochenen, der westlichen und östlichen,
in enger Beziehung stehen, indem sie für alle drei ein gemeinsames Centrum
und die Lebensmitte des Ganzen bezeichnet. Zugleich wird dadurch ein Ge¬
danke renlisirt werden, der bis jetzt nur sein Dasein in der Theorie hatte, der
nämlich, daß der Kern eines Staates durch eine möglichst dicht gelegene
Festungsgruppe, mit inliegenden starken Centrum, zu einer nach allen Seiten
hin Front machenden Basis zu gestalten sei, die eben um deswillen allen
Kriegszwecken dienen wird. Aus keiner Stelle des Erdenrundes werden nämlich
später mehr Festungen zusammengelegen sein, wie ans dem verhältnißmäßig
schmalen Raume, den Elbe und Oder in ihrer Annäherung bezeichnen. Berlin
und Spandau machen das Centrum einer Art von Kreis aus, dessen Peripherie
durch Stettin. Küstrin, Glogau. Torgau. Wittenberg und Magdeburg bezeich¬
net wird, welche Zusammenlage von großen fortisicatorischen Mitteln noch
dadurch eine erhöhete Bedeutung gewinnt, daß fast alle diese Punkte direct
oder indirect durch Schienenwege mit der Hauptstadt verbunden sind.
Der Machtspruch, welcher den letzten Rest von Unabhängigkeit der fran¬
zösischen Presse vernichtete und der Adressenschwall, welcher seit Wochen die
Spalten des Moniteur füllt, waren nur die Vorläufer der Sicherheitsma߬
regeln, welche die kaiserliche Negierung für ihren unerschütterten Bestand für
nöthig hält. Nesures av sürvt6 g6n6rath werden sie von der officiellen
Presse genannt, indeß der Name wird wenige über den Charakter dieser Ge¬
setze täuschen, die Franzosen lieben die Euphemismen, die eiserne Faust muß
sich mit dein Sammethandschuh bedecken, un Zouvkrnkineirt. kort heißt auf
deutsch eine absolutistische Regierung, heißt polizeilich-militärische Über¬
wachung n. s. w,, man könnte ein kleines Wörterbuch von solchen verschlei¬
erten Begriffen anlegen. Die Franzosen selbst wissen auch meist sehr wohl,
was hinter den Worten steckt, es soll nur eine angenehme Form haben, und
so glauben wir trotz allen Lärms der officiellen Presse, daß jene Sicherheits-
maßregcln bei allen Gemäßigten nur das Gefühl des Unbehagens und der
Unruhe hervorrufen werden. Betrachten wir diese Maßregeln näher, es sind
!) die Errichtung des Regentschaftsrathes, 2) die Eintheilung Frankreichs in
fünf militärische Bezirke, 3) das Verdächtigcngesetz, 4) Reclamationen wegen
der Flüchtlinge, 5) allgemeinere Maßnahmen gegen Presse und Protestan¬
tismus.
Das Edict über d.en geheimen und Regentschaftsrath vervollständigt das
Gesetz vom 17. Juli 1856; letzteres hatte der Kaiserin oder eventuell den
kaiserlichen Prinzen die Regentschaft nur für den Fall übertragen, daß der
Kaiser durch öffentlichen oder geheimen Act nicht anders darüber verfügt.
Durch das gegenwärtige Edict vom 1. Febr. 1853 wird der Kaiserin der
Titel einer Regentin gegeben, von dem Tage an, wo der minderjährige. Kaiser
Thronfolger wird, ihr zur Seite wird ein schon jetzt ernannter Geheimerath
stehen, welcher künftig als Negentschastsrath fungirt. Er ist gebildet aus den
beiden nächsten französischen Prinzen, 5em Cardinal Morlot, dem Herzog von
Malakoff, Fould, Troplong. Morny, Baroche und Persigny. Graf Walewski
ist nicht Mitglied. Dieser Rath soll schon jetzt über die großen Staatsange¬
legenheiten berathen und sich so auf die wichtige Rolle vorbereiten, welche
er künftig spielen kann. Es steht dahin, ob der Geheimerath schon jetzt eine
bestimmtere Stellung in dem Mechanismus der bestehenden Verwaltung
erhalten wird; wir glauben es kaum, er ist aus hochstehenden Personen
zusammengesetzt, welche der Kaiser schon immer zu Rathe zog, und die jetzt nur
officiell zu einer Autorität vereinigt sind. Gegen dies Gesetz wird man nichts
einwenden können, die Ereignisse werden zeigen, ob es zur Anwendung kommt.
Auch gegen das zweite Gesetz, das Frankreich in fünf Marschallate theilt,
läßt sich nichts sagen, wir halten dasselbe sogar für eine kluge Maßregel.
Es war gewiß ein Fehler, daß Ludwig XVIII. nicht die alten französischen
Provinzen wiederherstellte, innerhalb deren die Departements als Unterabthei-
lung bleiben konnten, ein Präfect ist ein ohnmächtiges Geschöpf, das sich
jedem von Paris decretirten Wechsel fügt, Gouverneure einer Provinz aus
Leuten gewählt, welche der Dynastie ergeben sind, bieten eine andere Wider¬
standskraft. Ein Bonaparte kann die bourbonischen Provinzen nicht wieder¬
herstellen; so ist der Weg, den Napoleon eingeschlagen, sehr weise, eine Decen-
tralisation wird vorgenommen, und außer Paris die vier wichtigsten Plätze,
Nancy, Lyon, Toulouse und Tours zu Mittelpunkten der militärischen Orga-
nisation gemacht; ist der Aufstand also selbst in Paris siegreich, so widerstehen
noch die anderen Centren. An die militärische Organisation soll sich eine
polizeiliche schließen.
Je weniger sich gegen diese beiden ersten Maßregeln sagen läßt, desto
unerhörter erscheint die dritte: das Verdächtigengesetz; die aufrichtigen Freunde
des Kaiserthums, die, welche die Ansicht hegen, daß außer ihm Frankreich
nur die Anarchie zu erwarten hat, beklagen es tief, daß Grundsätze aufgestellt
werden, welche aus den schlimmsten Zeiten der Revolution, denen des
Convents stammen. Der Staatsrath, dem niemand nachsagen wird, daß er
ein Sitz der Parteileidenschaften sei, hat das Gesetz mit einer Majorität von
nur 4 Stimmen, 31 gegen 27, votirt, Perieu, Vitry, Chaix d'Est-Ange spra¬
chen dagegen. Die Bestimmung, welche dem gesetzgebenden Körper selbst als
die wichtigste bezeichnet wurde, ist der Art. 7, wonach jeder, der verurtheilt,
ausgewiesen, exilirt oder internirt ist infolge der Ereignisse vom Mai und
Juni 1843, Juni 1849, December 1851, intemirt oder verbannt werden kann,
wenn ihn gewichtige Umstände als der öffentlichen Sicherheit gefährlich bezeich¬
nen. Was aber solche Umstände sind, ist natürlich der Beurtheilung der Re¬
gierung überlassen; der Aufstand vom Juni 1848 war allerdings ein Kampf
gegen alle gesellschaftliche Ordnung, Ausnabmsmaßregeln gegen seine Urheber
waren vielleicht in einem zerrütteten Lande nöthig, will man dasselbe aber
auch von den Gegnern des Staatsstreiches behaupten? will man leugnen, daß
sich darunter.Männer finden, die ebenso durch ihre Ehrenhaftigkeit als dnrch
Talente hervorragen? — sieht man nicht in ihren Reihen den Geschichtschreiber
des Kaiserreichs, den Napoleon III. selbst in einer Thronrede gepriesen?
Man wird zwar gewiß nicht H. Thiers interniren, aber das ist eme Sache
des guten Willens, das Gesetz verhindert es nicht. Man hat berechnet,
daß mehr als 30,000 Personen auf diese Weise compromittirt sind;
denn da jede Verurteilung verdächtig macht, so ist eine Strafe von
1 Fr, oder 8 Tagen Gefängniß, welche bei Gelegenheit jener Er¬
eignisse gegen jemand verhängt wurde, genügend, um ihn beliebig von der
Polizei interniren oder verbannen zu lassen. Es mag sein, daß das Gesetz
noch einige schüchterne Aenderungen, einige eouxs ne une erfährt, die Wahlen
zur Commission im Corps legislativ zeigen, daß es jedenfalls durchgehen wird.
Es will auch wenig sagen, wenn vielleicht noch erklärt wird, daß es nur den
Charakter einer vorübergehenden Maßregel haben soll, denn niemand kann
glauben, daß so geschraubte Zustände sich auf die Länge halten können, die
Bedeutung des Gesetzes liegt in der Gegenwart, für die es bestimmt ist. Es
reißt die noch nicht verharschten Wunden der letzten socialen Kämpfe aus; war
es nicht genug, daß man nach dem zweiten December aus bloßen Parteigründen
Hunderte tmnsvortirte und auswies? — Als Consequenz dieses Verdachtsgrund-
satzcs kommen in dieselbe Rubrik alle, die künstig wegen ähnlicher Vergehen be¬
straft werden. Art. 6 zählt dieselben auf. Außerdem ist der Art. 2 der be-
mcrkenswcrthestc, er setzt Gefängnisstrafe von 1 Monat bis 2 Jahre oder Geld¬
buße von 500—2000 Franken fest für jeden, der um die öffentliche Ruhe zu
stören oder zum Haß oder zur Verachtung der kaiserlichen Regierung anzurei¬
zen im In« oder Auslande intriguirt hat (a, xrg.t,i<zu6 clef rnanoeuvrös on
öirtr-Llenn clef mtelliMircW.) Darunter fällt auch die Presse und neben den
Revolutionären auch die Royalisten, wenn aber jene Aufreizung stattgefunden,
unterliegt wieder der discretionären Beurtheilung der Behörden. Das Organ
Mornys klagt das Journal des Debats der Miturheberschaft des Attentats an,
weil es seine Entrüstung darüber nicht stark genug kund gegeben. unZus
iLOULIU.
Der Kaiser hat sich wohl gehütet, eine grobe oder drohende Note an Eng¬
land wegen der Flüchtlinge zu richten, oder auch nur einen Collectivschritt der
continentalen Mächte herbeizuführen, Graf Persigny hat eine verhältnißinüßig
gemäßigte Rede gehalten und man hat das englische Cabinet durch offiziöse
Einflüsse dem Anscheine nach bewogen, ein strengeres Gesetz über die Flüchtlinge
vorzulegen. Wir sagen dem Anschein nach, denn Lord Palmerston hat zwar eine
Bill angekündigt, welche die Verbesserung der bestehenden Gesetze gegen Ver¬
schwörung zum Mord fremder Souveräne bezweckt, aber von dem Inhalt der¬
selben und von den Veränderungen, welche sie in der Parlamentsberathung
erfahren kann, wissen wir noch nichts. Doch läßt sich mit aller. Ruhe prophe-
zeihen, daß die übrigens von Konservativen Malmesbury, Derby und Broug-
ham) wie von Liberalen (Campbell, und Roebuck) angegriffene Bill, wenn
sie durchgeht, jedenfalls weit entfernt sein wird, den Wünschen der französischen
Regierung oder auch nur Persignys zu genügen. Man wird es nicht an
gutem Willen fehlen lassen, den politischen Mord zu hindern, aber man wird
deshalb nicht die Grundsätze des englischen Rechts ändern. Der Gesandte
sagt, in Frankreich würde die öffentliche Nuchbarkeit einer solchen strafbaren
Absicht genügen, um das Gesetz in Bewegung zu setzen, er kann nicht hoffen,
dieser Rechtsanschauung in England Eingang zu verschaffen, der Verdacht
eines Verbrechens constituirt kein Verbrechen, es müssen Beweise da sein, sind
sie da, so können die Gerichte urtheilen. Der französischen Negierung liegt
vor allem daran, daß überhaupt etwas von Englands Seite in dieser Sache
geschehe, sie wird sich mit jeder, auch mit einer unbedeutenden Maßregel als Genug¬
thuung zufrieden geben, und die englische Regierung wird das Geschrei der
Prütorianer gegen die „Mörderhöhle" zwar wol beachten, aber auch verachten.
Der augenblickliche Zustand der französischen Presse'ist ein erschreckendes Bei¬
spiel, wie tief die Blätter unter dem System sinken müssen, welches die
öffentliche Meinung drückt und verfälscht; das Journal des Debats schreibt
über Literatur und Antiquitäten, die Revue des deux Mondes denkt daran
nach Genf auszuwandern, die mißliebigen fremden Schriften werden mit Be¬
schlag belegt, so bleiben die Soldschreiber, welche kaiserlicher sind als der
Kaiser, um der „cwilisirtesten Nation" die tägliche Speise zu reichen. Welche
Ironie der Ereignisse!
Unter den Artikeln, mit denen der Moniteur die Welt in der letzten Zeit
überrascht, ist einer der merkwürdigsten der gegen die protestantischen Klagen
gerichtete vom 28. Januar. Es'ist seit lange Zeit in Frankreich und im
Auslande über die Beschränkungen geklagt, welche den französischen Protestan¬
ten auferlegt werden; noch auf der evangelischen Allianz zu Berlin haben diese
Klagen einen beredten Ausdruck gefunden. Sie haben auch ihren sehr natür¬
lichen Grund; der katholische Bischof ist die Hauptperson im französischen Bis-
thum, er bleibt Ms seinem Platze unberührt von den politischen Ereignissen,
der Prüfect hängt von denselben ganz ab, er sucht Anhalt und findet ihn
beim Bischof, der dasür Begünstigung seiner Interessen verlangt und am häu¬
figsten grade Bedrückung der Nichtkatholiken, welche der Regierung dann als
Proselytenmacher und unruhige Köpfe bezeichnet werden. Grade so verfährt
auch der Moniteur, er sagt, die revolutionäre Gottlosigkeit bediene sich der
religiösen Streitigkeiten als Deckmantel; die Weise, wie er diese Frage zur
Discussion zieht, erstaunt um so mehr, als in der letzten Zeit gar nicht davon
die Rede war. Wer sich entschuldigt verklagt sich. Die Freiheit ist eine Kette,
wird die politische unterdrückt, so kann auch die religiöse nicht mehr be¬
stehen. —.
In der Sitzung des pariser Congresses vom 8. April 1856 äußerte Graf
Walcwski seine Mißbilligung über die Weise, wie in Neapel regiert werde,
schrieb bald darauf Depeschen, um den Commandeur Cnrafa zurechtzuweisen
und berief den französischen Gesandten ab, damals fühlte man sich stark und
stand an der Spitze der Civilisation. Heute zieht die außerordentliche Ge¬
sandtschaft des Fürsten Ottojano in Paris ein, um den Kaiser zu beglückwün¬
schen. Neapel kann unbesorgt wieder mit dem Tuilerienhofe anknüpfen. Frank¬
reich ist kein gefährliches, liberalisirendes Land mehr, das Kaiserthum steht mit
dem Königreich beider Sicilien auf einem Boden. Die vernichtendste Kritik ist
stets die der Ereignisse. Die Ereignisse werden auch den auswärtigen Bewun¬
derern des Imperialismus die Augen geöffnet haben, namentlich in England.
Während des Krimkrieges war der Ruf nach einem Dictator allgemein, der
Unwille über den Mangel -an Leitung fiel auf das entgegengesetzte Extrem,
das sich ja, wie man sah, in Frankreich vortrefflich bewährte. Und dies
war nicht blos etwa die Ansicht einiger Journalisten, man hörte sie von
Parlamentsmitgliedern und bedeutenden Leuten. Indeß es geht hiemit wie
mit dem Tadel der Engländer über ihre Institutionen überhaupt, wenn je¬
mand irgend etwas nicht ganz in Ordnung bei einer Sache findet, so spricht
er in solchen Ausdrücken von derselben, als ob an ihr kein gutes Haar
wäre; wenn der Engländer wunderlich wird, so wird er es auch gleich in
ganz absonderlicher Weise. Ein schlagendes Beispiel dafür ist Thomas Car-
lyle, der den Despotismus unter dem Namen lroro-vorslrix predigt; weil der
moderne Parlamentarismus seiner Phantasie widersteht, so schwärmt er sür
intelligente Autokraten, und behauptet, seit England den letzten dieses Schla¬
ges gehabt, Cromwell, gehe es fortwährend bergab, es geht jedenfalls damit
langsam. Man liest seine Schriften, bewundert oder belächelt sie, handelt aber
jedenfalls nach entgegengesetzten Principien; wenn irgend etwas nicht vor¬
wärts will, so ruft man: warum ist nicht ein großer Mann da, der die Sache
durchführe? Kommt nun aber ein solcher und will sich über die Rechte und
Gerechtsame der betreffenden britischen Unterthanen hinwegsetzen, so kann er
sicher sein, den hartnäckigsten Widerstand bei ihnen zu finden, sie wissen in-
stinctmäßig sehr wohl,, daß den Despotismus um eines vorübergehenden Be¬
dürfnisses willen einsetzen, heißt, den Baum umhauen, um eine Frucht er¬
reichen zu können, sie wissen, daß wenn andre Länder ihre Freiheit verspielt
haben, England es noch nicht gethan, daß, wenn Frankreich eine starke Re¬
gierung will, England eine hat, welche stark und frei zugleich ist. Die grel¬
len Contraste aus beiden Seiten des Kanals werden, wie wir hoffen, vielen
die Augen öffnen, welche noch vom Glanz des Imperialismus geblendet
waren; hier Attentat, Sicherhcitsmaßregeln, Prätorianeradrcssen, Soldpresse,
allgemeines Unbehagen, — dort eine verehrte und geliebte Königsfamilie, ein
loyales Volk, das sich selbst regiert, sreie Presse, Mhe und Befriedigung, —
wo weilt man lieber? —
— Die Schrcckcnstagc sind vorüber, die Tage,
wo der unheimliche Geist des Bankcrotts an unsrer Börse herumging, um seine
Opfer zu suchen. Es ist zwar noch nicht ganz vorbei mit den Zahlungseinstellungen
und den Bankerotten, aber es ist nicht mehr der Rede werth, denkt man zurück an
die ersten Tage des December, als an einem einzigen Tage dreißig oder vierzig der
ersten Hamburger Firmen sich unter „Administration" stellten, wie man die neue
scheuerte Form des Cvucurses jetzt hier nennt, als Tag für Tag weitere Firmen
folgten, bis deren Zahl über hundert gestiegen war; jetzt sinds deren grade 140.
Und dabei eine ganz erkleckliche Zahl von Zahlungseinstellungen ohne gerichtlichen
Beistand und nicht wenige ganz ungeschminkte Fallissements! Dahin wars mit Ham¬
burg gekommen, diesem in Reichthum und Glanz schimmernden Hamburg, dessen
Flagge aus allen Meeren wehte, so daß — es ist das keine Uebertreibung — in
fernen Zonen Deutschland häufig nur als ein Appendix Hamburgs gedacht wurde.
Wie ich Ihnen damals schrieb, es waren Tage und Wochen, an denen in der gan¬
zen zahlreichen Börscnvcrsnmmlung kaum ein einziger sagen konnte, er werde noch
in nächster Zeit vollkommen zahlungsfähig bleiben. Kein Wunder, daß es in jenen
Tagen an „Vertrauen" fehlte, und daß dieser Mangel neue Verluste herbeizog; kein
Wunder aber auch, daß die Ermahnung, doch wieder Vertrauen zu fassen, gar nichts
half, denn wer baut ein Haus da, wo die Erde zittert und diese klaffende Wunden
zeigt, welche schon so manches Hab und Gut verschlungen haben!'Vielleicht ist nichts
bezeichnender für deu damaligen Zustand unsrer Börse, als die folgende Anekdote,
welche die hiesigen Tagesblätter brachten! Ein reicher Börsenmann war kurz vor
Ausbruch der Krisis schwer erkrankt, so daß er Wochen hindurch vou allem, was
draußen geschah, nichts erfahren durste. Ju der zweiten Hälfte des December wie¬
der genesen, war nun seine Frau bemüht, ihm einige Begriffe von den veränderten
Börscnzuständcn zu geben und fing dann auch an, ihm von den stattgehabten Zah¬
lungseinstellungen zu berichten. Als sie dabei nun bereits mehre Namen vom rein¬
sten Bankoklangc, wie er sie bisher gekannt hatte, aufzählte und fortfuhr, denselben
neue hinzuzusetzen, sprang er plötzlich mit einem entsetzlichen Schrei vom Sopha aus
dem Zimmer hinaus, so daß die Kinder und die ganze Hausgenossenschaft eiligst her¬
beilief. „Kinder, die Mutter ist verrückt geworden," das war alles, was der Un¬
glückliche sagen konnte. Die Mutter mußte verrückt geworden sein, weil ihm,
dkr die ungeheure Umwandlung nicht mit erlebt hatte, dieselbe gradezu für un¬
möglich galt.
Es war eine wirkliche Schreckenszeit. Wohin man kam, wohin man horte, die Krisis
und alles was dazu gehörte, bildete den alleinigen Stoff aller Unterhaltung, man
konnte ihr gar nicht entgehen. Wer ist heute gefallen und wer wird morgen fallen
und werden A und B es noch lange gut machen? Dergleichen wurde offen discutirt,
während man zu andern Zeiten die gemessenste Scheu auch vor nur leiser Antastung
eines kaufmännischen Namens hatte. Man mochte welchem Stande und welcher
Beschäftigung es auch sei angehören, vor der geistigen Berührung mit der Krisis
war man'' nicht geschützt; wie konnte das auch anders in einer Stadt sein, deren
Lebenslust der Handel ist. Der Prediger durste nun reichlich Buße predigen; der
Arzt seine Taschen Mit Recepten zu Nervcnbcsänstigungsmittcln anfüllen; die Kinder
konnten ihren Lehrern frohlockend erzählen, daß nun aller Extrauntcrricht aufhöre,
weil der Vater feine Zahlungen eingestellt; der Advocat war freilich für den Augen¬
blick beschäftigungslos, aber er wußte, daß in Kurzem eine nur um so reichere
Ernte seiner harre; die Notare wußten sich vor Protestzumuthungen nicht zu retten
und erklärten öffentlich, nicht mehr sür alles verantwortlich sein zu wollen, was sie
thäten; die Gerichtsboten waren in steter Bewegung. Aber die Theater waren leer
wie die Kassen und die Equipagen nebst Pferden und gallonirten Dienern wurden
als Ueberflüssigkcitcn aufgegeben. Dagegen dachte niemand an Geschäfte und Geld¬
verdienen, und nur daran, wie man in dem allgemeinen sauve gut xsut sein Bis¬
chen Hab und Gut wahre. Unsere „crbgescsscne" Weisheit wurde innerhalb weniger
Tage vier- oder fünfmal vom Senate berufen, um rettende Thaten zu vollbringen nicht
nach dem sonst beliebten und approbirtcn Mittel durch Bajonette und Kartätschen,
denn die können eine fallende Börse am wenigsten aufrecht erhalten, sondern um
ihr durch Vorschüsse aus Waaren und Wechsel und endlich gar durch Gewährung
reicher Geldmittel unter die Arme zu greifen. Hatte doch die Börse sich in ihrer gren¬
zenlosen Verzweiflung so sehr aufgegeben, daß sie in solcher Staatshilsc ihren letzten
rettenden Anker finden wollte. Jenes wilde wogende Treiben an der Börse in jenen
Schreckcnstagen wird jedem, der sie erlebt, ewig in schaudernder Erinnerung unver¬
geßlich bleiben. War es doch an einem Frcitagmorgcn so weit gekommen, daß
mehre hundert Kaufleute nahe dabei waren, eine Sturmvetition gegen einige Mit¬
glieder des Senats zu unternehmen, um dieselben zu Gunsten verschiedener Ma߬
regeln umzustimmen. Eine Börse und Sturmpetitioncn! Das hätte man vor
nun bald zehn Jahren ahnen sollen, als es auch in unserm kleinen Gemeinwesen
Staatsveründerungen galt, gegen deren stürmisches Andrängen dieselbe Börse so eif¬
rig opponirte, daß endlich alles beim Alten geblieben ist. „Wenn ein Kaufmann
einen Pfcffersack verliert, soll man das ganze Reich aufnahmen; und wenn Händel
vorhanden sind, daran kaiserlicher Majestät und dem Reich viel gelegen ist, daß es
Königreich, Fürstentum, Herzogthum und anders betrifft, so kann auch kein Mensch
zusammenbringen," so läßt Goethe schon den Kaiser Maximilian im Götz von Ber-
lichingen klagen. Aus der Sturmvetition wurde freilich nichts, aber an andern
außergewöhnlichen Maßregeln hat es nicht gefehlt, ich habe sie bereits oben angedeu¬
tet. Diese ganze, vom Staate eifrig geforderte und dann auch gewährte Hilfe wider¬
spricht so sehr allen nicht blos in Hamburg bisher geltenden Grundsätzen, sondern
auch den durch die Wissenschaft bestätigten Erfahrungen, daß Hamburg, wenn gleich
in etwas wieder hergestellt, doch nicht als wesentlich gebessert betrachtet werden kann.
Der „Staat" ist eingeschritten, um Vorschüsse zu gewähren, um Wechsel leichter bc-
gcbbar zu machen und um mittelst durch Anleihe beschaffter Millionen eine Reihe
Firmen vor dem Sinken zu wahren. Wer aber hatte den durch die Krisis gefähr¬
deten Kaufleuten geheißen, ihren Credit und ihre Unternehmungen so zu überspannen,
daß sie eine den ganzen Hamburger Handelsverkehr gefährdende Erschütterung herbei¬
führen mußten, und welche Lehre soll man daraus ziehen, daß die, welche dies am
meisten und am bedenklichsten gethan hatten, auch am eifrigsten unterstützt werden?
Ganz gewiß nicht die eiiier Mahnung zu größerer Lorsicht und Selbstbeherrschung
für die Zukunft. Die vom Staate gewährten Hilfen haben es ferner gradezu mög¬
lich gemacht, einen Theil des Treibens, das zur Krisis führte, fortzusetzen, die Auf¬
speicherung nämlich und die daraus entspringende Preiserhöhung von begehrten
Cvnsumtionsartikeln. Ich kann nicht umhin die Befürchtung auszusprechen, daß
diese Verkehrtheit sich noch an Hamburg rächen wird, denn Ernten, Handclsconjunc-
turen, oder was unter obwaltenden Verhältnissen am nächsten liegt, der Geldbedarf
der Producenten jenseit des Meers kann mehr Waaren auf den Markt werfen, als
jetzt Mittel da sind, sie anzukaufen, und dann ist eine starke Preisherabsetzung ganz
unvermeidlich. Was in einem solchen gar nicht unmöglichen Falle aus den massen¬
haft aufgespeicherten hiesigen Vorräthen und noch mehr aus deren Besitzern werden
soll, läßt sich leicht denken. Zu hoffen ist, daß mindestens unser reichlich verschul¬
deter Staat, zumal bei dem Umfange, den seine Bedürfnisse in den letzten Jahren
angenommen haben, nicht Verluste dabei erleide-, erzählt wird übrigens, daß er für
seine Vorschüsse die reichlichsten Garantien erhalten habe. Ein Fehler bleibt die
Maßregel darum doch, und zwar aus noch einem andern Grunde. Wenngleich Ham¬
burg ein so reiner Handelsstaat ist, daß jedes andsre Interesse neben dem Handel
verschwindet, so läßt sich auch hier denken, daß zu andern Zeiten andere nothlcidcndc
Stände oder Gewerbe gleichfalls in ihrer äußersten Bedrängnis) sich hilfeflehend an
den Staat wenden. Wie will er solche Ansprüche mit einigem Schein von Gerech¬
tigkeit abwehren, und noch mehr, wie will er sie befriedigen, ohne sich gründlich zu
beschädigen und diejenige moralische Kraft seiner Bürger, die im Selbstvertrauen und
in der eignen Hilfe liegt? Leider geht die Tragweite des Hamburger Verfahrens noch
weiter. Hamburgs Bedeutung für nahe und ferne Handelskrisen ist so groß, daß
sein Beispiel reiche Nachahmung gefunden hat. In Dänemark, in Schweden und
Norwegen, selbst in einzelnen Theilen des deutschen Vaterlandes ist dem leiden-
den Verkehr Hilfe vom Staate gewährt worden. Daß diese Nachahmung
keine allgemeine geworden, verdankt man gewiß vor allem der Festigkeit der
Preußischen Regierung. Ich darf wol bei dieser Gelegenheit einige Bemerkungen
über den Zwischenfall der Hamburger Anleihe zufügen. Mir scheint, daß man in
Wien und theilweise auch in Hamburg zu viel von der östreichischen Großmuth ge¬
sprochen hat, da, von manchen andern Verhältnissen abgesehen, das hierher geliehene
Silber wegen des dortigen Zwangspapicrgeldcs in den Koffern der wiener Bank
ganz unbenutzt lag. Auf der andern Seite war man in Berlin, weil in einer an¬
dern Lage, auch vollkommen berechtigt, die Anleihe abzulehnen, und auch die Gründe,
aus denen das geschah, waren nach meiner Ansicht vollkommen stichhaltig; unglück-
licherwcise wählte man dabei aber eine so schroffe Form, daß man hier Veranlassung
fand, dem Unmuth über jene Gründe in nicht grade taktvoller Weise freien Lauf
zu lassen. Warum will denn Hamburg mit ein Keil sein in dieser Deutschland so
schmerzlich berührenden Zerklüftung zwischen Preußen und Oestreich, und noch mehr,
warum bei diesem einzelnen Anlaß so stolz sich an Oestreich gegen Preußen anlehnen,
Preußen, die deutsche Schutzmacht im Norden! Damals gingen hier die Wogen der Leiden¬
schaft sehr hoch! ich denke,^ gar Mancher wird heutigen Tags sich darüber wundern,
wie er alle so nahe liegenden Beziehungen zu Preußen vergessen konnte. Wie tief
aufgewühlt jene Zeit war und wie man in der allgemeinen Hilflosigkeit nach jedem
Strohhalm griff, das zeigte das allgemeine Verlangen der Börse und der Beschluß
unsrer Bürgerschaft auf Einführung eines Zwangspapicrgcldes; hätte der Staat nicht
noch den letzten Nest von Muth und Besonnenheit zusammengenommen, der ehrliche
Name und die Zukunft Hamburgs wären auf Jahrzehnte hinaus verloren gegangen.
ZwamMapicrgcld einführen, heißt seine Gläubiger mit einem Stück Papier statt mit
einer Zahlung abfüttern, und hcnnbnrger Kaufleute haben damals allen Ernstes
geglaubt, solche Abmachungen ließen sich auf Hamburg selbst beschränken. Woher
hätte aber ein hiesiger Gläubiger, der nach Außen Schuldner ist, seine Mittel zum
Zahlen finden sollen, wenn er hier nur Papiergeld erhalten hatte? Und noch nie¬
mals hat ein Staat sich aus dem Zwangspapiergcld retten können, außer durch
erneute Vcrkchrseonvulsioncn, wie es denn überhaupt leichter ist, Geister heraufzu¬
beschwören alö sie zu bannen. Die Verhältnisse haben sich allmälig dem Zwangs-
papicrgeld anbequemt und es heißt sie ganz neu zurechtlegen, will man es entfernen.
Wir sind damals mit genauer Noth einem großen Unheil entgangen.
Wer jetzt nach Hamburg kommt, wird äußerlich vielleicht wenig von der noch
nicht völlig überstandenen Krisis bemerken, man macht wieder Geschäfte, man amü-
sirt sich wieder, man fährt wieder in Equipagen und man pflegt des Leibes Noth¬
durft wieder mit dem alten Epituräerthum. Aber hinter diesem äußerlichen Schein
steckt mancher schwer oder gar nicht überwundene Jammer, manche geknickte Hoff¬
nung und vernichtete Znkunftsaussicht. Die kostspieligen Gewohnheiten der letzten
Jahre waren sür Viele eine Art Lebensbedürfnis; geworden, und jetzt soll größere
Bescheidenheit eintreten. Es sind Leute hier, die durch Jahrzehnte hindurch ein nettes
Vermögen zu erwerben und zu erhalten gewußt haben, und welche nun, weil sie
vielleicht in einem einzigen Moment des allgemeinen Taumels nach raschem Gewinn
sich vergessen hatten, mit dem Verlust ihrer ganzen Vergangenheit büßen.- Es sind
auch andere, und die Mehrzahl der suspendirten, die nur ihr Schicksal verdient
haben, weil der Erwerbssinn bei ihnen den Zaum der Verminst oder gar der Moral
verloren hatte, Leute, deren Alles ein künstlich unterhaltener Credit war und die
dennoch die gewagtesten Unternehmungen machten. Viele freilich tragen nur die
Schuld der Zeit. Wer aber mag einen Blick in die Zerrüttung von Familien-und
persönlichen Verhältnissen aller Art thun, die nothwendig die Folge von so vielfach
veränderten Vermögensverhältnissen sein müssen. Der Leser, welcher einmal den
ganzen Jammer einer zurückgckommncn Familie mit angesehen hat, dieses Mißver¬
hältnis zwischen socialen Ansprüchen und ost noch mehr socialer Stellung und den
Mitteln sie zu erhalten, wird sich dies Gemälde mühseligen Harrens, wehmüthigen
Hoffens und stiller Verzweiflung ohne Mühe ausmalen können. Die böse Zeit! sie
Vom Musikalisch S chönen. Ein Beitrag zur Revision der Aesthetik der Ton¬
künste. Von Eduard Hanslick. Zweite verbesserte Auflage. — Leipzig, N. Weigel. —
Ueber den Inhalt und die Bedeutung dieser kleinen geistvollen Schrift haben wir uns
bereits bei Gelegenheit der ersten Auflage eingehend ausgesprochen. Der Verfasser
hat an der zweiten nichts Wesentliches geändert. „Die Hinzufügung mancher erläu¬
ternder, die Abänderung einiger mißverständlicher Sätze war das Einzige, was ich
an dem Büchlein vornehmen konnte, sollte es nicht eben ein ganz anderes werden . . .
Dergleichen gcdnnkcnmäßigc Entwicklungen, welche organisch aus der Ueberzeugung
ihres Verfassers herauswuchsen, lassen sich späterhin äußerst schwer umarbeiten." —
Demnach bleibt auch unser Urtheil dasselbe: im Einzelnen ist die Aesthetik durch dies
Büchlein wesentlich gefördert, in Bezug auf die Polemik gegen eine Schule, welche
die Musik zum Mittel anderweitiger Zwecke herabsetzen will, treten wir ihm unbe¬
dingt bei; das Princip aber, in natürlicher Reaction gegen diesen schreienden Mi߬
brauch, ist in Paradoxie verfallen. Die Stimmung, die Empfindung ist bei der
Musik nicht blos etwas Accidcntelles, sie ist die Substanz der Kunst. Der Einwand,
daß man aus diesem Satz keine Regeln für die Kunst herleiten kann, ist nicht stich¬
haltig, die Regeln werden bei aller Kunst nicht nach der Substanz, sondern nach
dem Material (hier der Ton, in der Malerei die Farbe u. s. w.) gemessen, aber des¬
halb ist die Musik ebensowenig eine Arabeske aus Tönen, wie die Malerei eine Ara¬
beske aus Farben ist. —
— Kenner und Freunde der Geschichte werden den soeben
erschienenen vierten Band vonPalackys Geschichte von Böhmen (größtentheils
nach Urkunden und Handschriften, Prag, Tempsku) mit Freude begrüßen. Die zu¬
nächst vorliegende erste Abtheilung desselben umfaßt die Jahre 1439 bis 1457, das
-Zeitalter des großen Podicbrad bis zum Tode Königs Ladiölav,: eine Periode, die
von den meisten Historikern sehr stiefmütterlich behandelt ist, und auf welche durch
die gelehrten Forschungen des berühmten Erneuerers der czcchischen Literatur ein
neues Licht fällt. Für Böhmen war dieser Zeitraum einer, der wichtigsten; er um¬
saßt den letzten bedeutenden Versuch, ein eignes nationales Leben herzustellen. Palackh
hat zwischen dem 3. Bd., der 1845 erschien, und dem 4. eine lange Pause eintreten
lassen; seine vielfachen Nebenbeschäftigungen haben ihn aber nicht abgehalten, dem Haupt¬
werk seines Lebens, welches in den Vorbereitungen schon 1823, in der Ausarbeitung
1836 begonnen wurde, seine besten Kräfte zu widmen und so seinem Volk ein un¬
vergängliches Denkmal zu stiften. Daß man in manchen Punkten von seinen An-
sichten abweicht, hat in diesem Fall nicht viel zu sagen, wo es hauptsächlich auf die
Feststellung der Thatsachen ankommt. —
Vor einiger Zeit zeigten wir die Geschichte Indiens von Knigthley an, es ist
seitdem ein neues Werk erschienen - I.'1nah ^.nglaiss g-paire, et s.xrss 1'iusurrsetioii
as 1857 Mr Is poure Däouarä as Darren, g-neisn oknoier as 8. N. Lri-
tÄnniqus ä^us 1'Inäs. I'roisisms säition, revus se oonsiäsrÄdlsmsnt ÄUginsutse.
2 La., ?Aris, H^elistts. Neu ist in demselben nur der 2 Bd., der nicht blos ein
Referat, sondern auch eine geistvolle Beurtheilung der indischen Verwicklungen aus
den letzten Jahren gibt; von dem I.Bd. erschien bereits 1843 die 2. Auflage: er ist
in der Form einer Reisebeschreibung gehalten. Was die Beschreibung der gegen¬
wärtigen Jnsurrection betrifft, so werden seit den neuesten Enthüllungen die That¬
sachen zuweilen in anderm Licht erscheinen; so arge Dinge sich zugetragen haben,
so ist doch vieles stark, übertrieben worden. —
. Noch möge hier die 2. Auflage der geographischen Landschaftsbilder
vom Director Vogel erwähnt werden, welche den 3 Bd. des Handbuchs zur
Belebung geographischer Wissenschaft ausfüllen (Leipzig, Hinrichs). Die Auswahl ist
durchweg aus classischen Schriftstellern genommen. —
Eine Biographie von James Augustus N. John: Louis Napoleon, Kai¬
ser der Franzosen (Leipzig, Thenau) wird in »diesem Augenblick, wo der Kaiser
sich mit so großem Erfolg beeifert, das Urtheil Europas über den neuen Cäsaris¬
mus umzustimmen, viel gelesen werden; sie ist pikant und unterhaltend geschrieben,
und es fehlt namentlich an Klatschgeschichten nicht. Ernstcrc Anforderungen zu befrie¬
digen ist sie dagegen kaum geeignet; der Verfasser hat nur allgemein zugängliche
Quellen benutzen können, und seine Kritik ist ohne alle Methode. —
Griechische Reisen und Studien von F. L. Ussing. Mit 3 Tafeln,
Kopenhagen, Gyldendcilsche Buchhandlung. Der erste Theil des Buchs ist die Be¬
schreibung einer Reise durch Thessalien, die im Jahre 1846 unternommen wurde
und deren Ergebnisse in sehr anschaulicher Weise erzählt sind. Der zweite Theil
„Attische Studien" bringt eine Abhandlung, welche den Beweis unternimmt, daß
einige Bildhauerarbeiten an den Propyläen (ein Hermes und die Chariten), von
denen man Neste gefunden, Werke des Philosophen Sokrates seien, darauf folgt ein
zweiter Aufsatz, welcher unter starker Polemik gegen Bötticher, Curtius und Overbeck
die Meinung des Verfassers von der ursprünglichen Gestalt des Parthenons versieht,
nach welcher der größte Theil des Hckatompcdvs sich unter freiem Himmel befunden
haben soll. ' '
Die Schlacht bei Mühlberg war dem Kaiser gewonnen, der schmalkaldischc
Bund ruhmlos zerfallen. Die protestantischen Fürsten und Städte beeilten
sich, ihren Frieden mit dem Herrn von halb Europa zu machen, dem sie in
unheilvoller Stunde, die Herrschaft über ihre Häupter entgegengetragen hatten.
Karl V. stand auf der Höhe seiner Macht. Von der Saale zog er, den ge¬
fangenen Kurfürsten von Sachsen und den verhafteten Landgrafen von Hessen
mit sich führend, im Triumphzuge, geleitet von seinem Kriegsheer, spanischen
und niederländischen Söldnern und deutschen Landsknechten, nach Augsburg.
Dort strömte zum Reichstag fast alles zusammen, was Deutschland an Gewal¬
tigen besaß, um Verzeihung oder Belohnung zu erwerben, dem mächtigsten Ge¬
bieter, den Deutschland seit Jahrhunderten gefühllosen Hof zu machen, die
eigne und des Landes Zukunft zu entscheiden, Abenteuer und Vergnügen zu
finden. In diesem Gewühl von Souveränen und Dynasten. Höflingen, Gau¬
nern, Kriegsleuten und Bürgerdcputationen war auch ein Bürgersohn'aus Greifs-
wald thätig, Bartholomäus Sastrow, Agent der Herzöge von Pommern, welche,
durch ihre protestantische Verbindung stark compromittirt, vorzogen, nicht selbst
vor den Augen des Kaisers zu erscheinen. Bartholomäus Sastrow hat in
seinem Lebenslauf (herausgegeben von Mohnike, Greifswald. 1323 ff.
3 Theile) einige lebhafte Schilderungen hinterlassen von dem, was er nach
der Schlacht bei Mühlberg, auf dem Siegeszuge des Kaisers nach Augsburg
und auf dem Reichstage sah. Der historische Werth seiner Erzählung ist nicht
unbedeutend. Zwar sah und hörte er in seiner untergeordneten Stellung von
den großen politischen Actionen nicht viel mehr, als was durch fliegende Blät¬
ter und voluminöse Druckwerke dem gesammten Deutschland bekannt wurde,
und seine Kenntniß der Hauptspicler in der großen deutschen Tragödie beruht
fast nur auf dem, was damals in Augsburg Stadtgespräch war/ aber für
die Geschichte der Sitten, der gesellschaftlichen Zustände und der öffentlichen Mei¬
nung ist doch viel aus ihm zu lernen. Er sah gut, urtheilte nüchtern, und
hatte Verbindungen genug, um ein richtiges' Bild von dem Charakter
der großen Herren zu erhalten. Und wie unbedeutend einzelne seiner Anek¬
doten sein mögen, sie helfen im Ganzen dazu, Menschen und große Ereignisse
in einem neuen Licht zu zeigen. Das Folgende ist eine getreue Übertragung
seiner Worte in unsere Redeweise, doch mußte aus seinem weitläufigen, oft
durch Mittheilung von Ackerstücken unterbrochenen Bericht Einzelnes aus der
Reihenfolge herausgenommen werden. Nicht Weniges wurde weggelassen, weil
es an dieser Stelle zu verletzend in die Ohren der Leser geklungen hätte.
Vorher einige Bemerkungen. Noch immer fehlt, so scheint uns, den popu¬
lären Geschichtswerken über die Reformationszeit zu sehr das entschlossene Urtheil
über Zustände und Personen. Nur zu lange hat einseitige Benutzung der Quellen,
confessionelle Befangenheit und das kindliche Bedürfniß der Deutschen,zu ver¬
ehren, den Blick des Historikers beschränkt. Selbst in dem geistvollen Ge¬
schichtswerk eines großen Gelehrten vermißt man zuweilen die ehrliche Rück¬
sichtslosigkeit im Verurtheilen, welche die höchste Pflicht des Geschichtschreibers
werden kann. Unter den Ursachen, welche bewirkten, daß dem glänzenden
Sonnenaufgang des 16. Jahrhunderts ein lichtarmer Tag und ein Unheil
verkündender Abend folgte, ist die Kläglichkeit der deutschen Fürsten die vcr-
hängnißvollstc gewesen. Vergebens sucht jetzt unser Blick, wie damals der
des Volkes, nach einer kräftigen Männergestalt, die mehr war als ein rücksichts¬
loser Jäger, ein anspruchsvoller Rvsscbäudiger, im besten, nicht sehr häu¬
figen Falle, ein ehrlicher Hausvater. Der Spanier Karl ist gegenüber den
Repräsentanten des hohen deutschen Adels in der That ein scharfblickender
und großartiger Staatsmann, Prädicate, auf die er in anderer Umgebung nur
bedingten Anspruch hätte. Die deutschen Fürsten standen aber in der Refor¬
mationszeit.in ungünstigeren Verhältniß zu der Bildung und der theoretischen
Sittlichkeit ihrer Zeit, als etwa in der Gegenwart. Die charakteristische»
Fehler und Laster des letzten Mittelalters, rohe Willkür, Völlerei, Mangel an ge¬
schäftlicher und gesellschaftlicher Gewandtheit, vereinigten sich in ihnen mit den
Fehlern der neuern Zeit, Behagen an polizeilichem Despotismus, abschließen¬
dem Kastenstolz, gewissenlosen Jntriguiren und Servilität gegen Stärkere.
Wol hatte Luther Recht, wenn er mehr als einmal in bitteren Schmerz
über die Unwürdigkeit der hohen Häupter klagte, denen der Schutz Deutsch¬
lands oblag, denen auch er mit trüben Ahnungen die Schutzhcrrschaft der neuen
Kirche übergeben hatte. Friedrich von Sachsen, den die protestantischen Geist¬
lichen als den Weisen rühmten, weil selbst ihre Schmeichelei nicht wagte, ihn den
Großen zu nennen, galt im Anfänge der neuen Zeit für die größte politische
Kapacität unter den Fürsten. Und wie in der Regel die Nemesis tüchtige
Naturen am stärksten für das Unrecht straft, das sie begangen, so hat sein
Geschlecht und mit seinem Geschlecht das ganze Deutschland schwer da-
für gebüßt, daß er nicht die Einsicht, den Muth und den Ehrgeiz hatte, das
neue Leben das auch in seinem Lande aufblühte, mit großem Sinn zu benutzen,
und von Sachsen aus unter der Kaiserkrone ein neues, sächsisches Kaiserhaus
zu versuchen. Daß er sich zu schwach fühlte und den Spanier mit seinen
Banden und seiner undeutschen Staatskunst in das Land rief, diese unglück¬
selige That hat seinen Nachkommen die Kurwürde genommen, das Haus
Sachsen feindlich zerrissen und schwach gemacht, hat ein ausländisches Kaiser¬
geschlecht mit undeutschen Interessen in Deutschland festgesetzt, hat die Refor¬
mation der Kirch^ verkümmert und noch im nächsten Jahrhundert den ab¬
sterbenden Körper des Reichs mit den Greueln des 30jährigen Krieges an-
gefüllt. Daß es so in Deutschland wurde, war auch eine Schuld Friedrichs. Denn
wer in der Politik in eine große Situation geworfen wird, und ihr nicht ge¬
wachsen ist, der wird schuldig. Sein zweiter Nachfolger, der Gefangene von Mühl¬
berg, ist unter dem kraftlosen und begehrlichen Fürstengeschlecht. welches sich in
Deutschland zur Zeit des schmalkaldischen Bundes tummelte, immer -noch die
hellste Gestalt. Er bewies wenigstens den Muth mit Würde zu dulden. Und
es ist interessant, wie treu das deutsche Volk diesen Charakter zu achten ver¬
stand. Dagegen ist die Gestalt Moritz des Sachsen eine der ruchlosesten
in der ganzen öden Zeit, ein doppelter Bcrräther. an seinem Hause, dessen
Interessen er aus den gemeinsten Gründen untreu wurde, und an seinem
Herrn, dem Kaiser, der ihn groß gemacht hatte, in seinem Wesen ein frevel¬
hafter, leichtsinniger, übermüthiger Junker. Und auch ihn haben deutsche
Historiker zu einem Helden gemacht!
Es wird aus der folgenden Erzählung aber auch deutlich werden, wie
es möglich war, daß ein solcher Gesell den erfahrenen Meister in welscher
Politik, den Kaiser selbst, wenige Jahre darauf in plötzlichem Kriegszuge wie
im Fluge bewältigen konnte. Weder der Kaiser noch ein anderer Fürst unter¬
hielt ein größeres stehendes Heer, auch die größte Macht stand deshalb bei einem
plötzlichen Ueberfall auf thönernen Füßen, und Kaiser Karl war dem Kriegsvolke
gegenüber in einer besonders schwierigen Lage. Wie weit auch das Gewissen
der deutschen Landsknechte war, und wie bereitwillig sie sich um gutes Geld
verkauften, sie waren doch nicht ganz ohne politische Farbe. Die große Mehr¬
zahl derselben war protestantisch gesinnt, auch die in der Schlacht bei Mühl-
berg dem Kaiser geholfen hatten, ihre Kameraden im sächsischen Dienst nieder¬
zuwerfen, empfanden mit Aerger nach der Schlacht, daß sie der protestanti¬
schen Sache einen tödtlichen Stoß gegeben hatten. Das Andenken an Luther'
war ihnen werth, aber weit stärker war ihr Haß gegen die spanischen
Soldaten Karls, das treue «»bezwungene Fußvolk, welches auf den Fel¬
dern vom Tajo bis zur Elbe, von der Tiber bis zur Nordsee für seinen König
geblutet hatte. Aus diesen Gefühlen entstand ein tiefer Groll der Lands-
knechte gegen den Kaiser, ein Groll, der durch seine hinterlistige Rache an den Wider¬
setzlichen nicht verringert wurde. Ihre Banden marschirten im Dienste deut¬
scher Fürsten mit wilder Freude gegen ihn. Aber es war nicht das Lands-
knechthecr allein, es war nicht einmal das Bündniß der Verräther mit Frank¬
reich, welches den mächtigen Kaiser nach wenigen Jahren so klein machen sollte,
daß der unbedeutende und intriguante Ferdinand durch seinen Kopf das kai¬
serliche Haus stützen mußte, es war eine andere Nemesis. welche die Kraft des
erfahrenen Staatsmannes zerbrach. Der demüthigende Gedanke that es, daß
er, der schlaue, mächtige, alles übersehende Politiker von'den zwei nichts¬
würdigsten Schelmen des deutschen Fürstenstandes, gegen die er die tiefste,
innerste Verachtung empfinden mußte, durch dieselben Künste überlistet worden
war, die sie von ihm gelernt hatten. Der Verräther Moritz und der Böse-
wicht Albrecht von Brandenburg sollten ihn lehren, wie unsicher und haltlos
alle irdischen Dinge seien, und wie sehr der wüste Zufall Meister der klügsten
Berechnung werden könne. Von da wurde Karl fromm, von den beiden
Spießgesellen schlug der tollste den andern todt. Es folgten die Grumbachsche
Fehde, die jülichschen Händel, die böhmischen Wirren, ein Streit rühmloser
als der andere, die Führer einer Partei so wenig werth als die der andern.
Das Ende war der 30jährige Krieg.
Bartholomäus Sastrow, nach der Schlacht bei Mühlberg 1547 in das
kaiserliche Lager nach Halle geschickt, beginnt folgendermaßen:
Die pommerschen Räthe beschlossen, daß ich im kaiserlichen Lager bleiben
und bei Georg von Wedell meinen Schutz haben sollte. Dieser hiuterpom-
mcrsche Edelmann hatte seinen eigenen Vetter erstochen, war in Ungnade bei
Herzog Barnim, diente aber jetzt dem Kaiser mit 29 Pferden. Durch meine
Beschützung machte er sich bei den pommerschen Herzogen so verdient, daß
Herzog Barnim auf mein fleißiges Schreiben die gefaßte Ungnade fallen ließ
und ihn in seinem Eigenthum wieder herstellte. Bin also mit meinem Leib¬
hengst im kaiserlichen Hose bis Augsburg geblieben. Wie es mir auf diesem
Zuge gegangen und was ich gesehn und mit angehört folgt hier genau ver¬
zeichnet.
Es soll im Kriege gewöhnlich, und ungestraft sein, daß ein Kamerad
dem andern ein Pferd stiehlt, und der Prozeß ist folgender: Wenn einem
'eines andern Pferd gefällt, erkauft er einen verschlagenen Neiterknaben mit
etwa sechs oder sieben Thalern, daß er ihm das Pferd in die Hand liefere, dann
schickt er es fünf oder sechs Wochen von bannen, damit es ein wenig ver¬
gessen werde, verändert es an Schwanz. Mähne, Zopf und andern Abzeichen
und läßt es sich dann wieder ins Lager bringen. Das that (im kaiserlichen
Heer vor Halle) auch ein deutscher Edelmann, ließ sich durch einen Knaben
einen spanischen Hengst stehlen, und als er ihn einige Wochen in seiner Hei¬
mat!) gehalten hatte, und meinte das Gerücht sei nunmehr kalt geworden,
wurde der Gaul wieder ins Lager gebracht. Nun lagen die deutschen Reiter,
wol acht oder mehr Schwadronen, auf einer schönen Wiese, einem lusti¬
gen Ort an der Saale; die Spanier aber lagen auf der Höhe um das Schloß.
Der gestohlene Hengst wurde gegen Abend zum Tränken in die Saale gerit¬
ten; ein spanischer Junge erkennt den Gaul, spricht, er gehöre seinem Herrn
und will mit ihm davon. Der deutsche Junge will sich ihn nicht nehmen
lassen, er bekommt 3—4 deutsche Reiter zum Beistande, der Spanier 10—12;
der deutsche 20—30. die beiden Haufen wachsen je länger je mehr und be¬
ginnen in einander zu schießen. Die Spanier hatten der Höhe wegen großen
Vortheil vor den Deutschen, die fast unter ihnen lagen, sie schössen durch die
Zelte der Deutschen etliche vom Adel um Tische zu Tode, die Deutschen schon¬
ten die Spanier ihrerseits auch nicht. Der Kaiser schickte einen spanischen
Herrn heraus, der hatte einen wohlgestalteten spanischen Gaul unter sich, den
Hals voll prangender goldener Ketten, er sollte die deutschen Reiter zufrie¬
den sprechen und den Alarm stillen. Da schrien die Deutschen einander zu:
schieß in den spanischen.Bösewicht! Als er nun auf die Brücke kommt, um
über die Saale zu reiten, erschießt einer den Gaul unter ihm, daß der Be-
kettete von der Brücke in die Saale stürzt und darin ersaufen muß. Da
schickt der Kaiser den Sohn König Ferdinands, den Erzherzog Maximilian,
der nachmals römischer Kaiser wurde, hinaus, für gewiß haltend, daß sie
diesem Gehör geben und sich beschwichtigen lassen würden. Aber sie schrieen
gleichfalls: man schlage auf den spanischen Bösewicht. Da schlägt ihn einer
auf den rechten Arm und ich habe gesehn, daß er den Arm einige Wochen
in einer schwarzen Binde trug. Zuletzt kam der Kaiser selbst hinaus und
sagte: „Liebe Deutsche, ich weiß ihr habt keine Schuld, gebt euch zufrieden,
ich will euch euern erlittenen Schaden erstatten und bei meiner kaiserlichen
Ehre morgen am Tage vor euern Augen die Spanier henken lassen." Damit
wurde der Alarm gestillt. Am andern Tage ließ der Kaiser den Schaden
in beiden Lagern, dem deutschen und spanischen, besichtigen und schätzen, und
da sich befand, daß den Deutschen 18 Junker und Knechte und 17 Pferde er¬
schossen waren, den Spaniern aber 70 Personen, so ließ der Kaiser den
deutschen Reitern ansagen, Seine Majestät wollte die Summe erstatten, zu
welcher die Pferde geschätzt worden seien, /wäre auch nicht abgeneigt gewesen,
wie er den Tag zuvor versprochen, die Spanier henken zu lassen, da die
Deutschem aber selbst gesehn, daß die Spanier den vierfachen Schaden erlitten
Hütten und sie also genug gerochen wären, wollte der Kaiser hoffen und aller-
gnädigst befinden, die Deutschen würden daran ersättigt und zufrieden sein,
Am 18, Juni gegen Abend haben die beiden Kurfürsten, Sachsen und Bran¬
denburg, den Landgrafen Philipp von Hessen zwischen sich nach Halle geführt.
Dort hat er am andern Tag gegen Abend um 6 Uhr auf dem großen Saal
in des Kaisers Wohnung im Beisein vieler Herren, Kurfürsten, Fürsten, frem¬
der Potentaten, Botschafter, Grafen, Obersten, Befehlshaber und einer großen
Anzahl Zuschauer, so viele ins Gemach gehn und von außen durch die Fenster
hereinschcn konnten, mit seinem Kanzler, der neben ihm auf den Knieen lag.
den Fußfall gethan. Aber als der Kanzler demüthig genug die Abbitte that,
kniete der Landgraf, der ein spöttischer Herr war und lachte ganz schimpflich.
Da winkte ihm der Kaiser mit dem Finger, sah zornig und sagte: „Wohl,
ich will dich lachen lehren." Was nachfolgend auch geschah.
Der Kaiser rückte von Halle nach Naumburg und blieb dort 3 Tage.
Als die Kaiserlichen sich vor Naumburg gesammelt und die Kais. Majestät
draußen vor dem Thor ceo.as wartete, hatte er einen sammetnen Hut auf
und einen schwarzen Mantel um, zwei Finger breit mit Sammt besetzt.
Als aber ein Schlagregen einfiel, schickte er in die Stadt und ließ sich seinen
grauen Filzmantcl und Filzhut herausholen; mittlerweile drehte er seinen
Mantel um. hielt den Hut unter den Mantel, ließ sich auf den bloßen Kopf
regnen. Armer Mann! der etliche Tonnen Goldes. verwenden könnte, das
sammtcne Hütlein aber und den Mantel nicht vom Regen verderben, sondern
lieber das bloße Haupt naß werden läßt. — Der Landgraf wurde von den
Spaniern allerwegen einen Tag vor dem.Kaiser geführt. Die Spanier hielten
allenthalben übel Haus. Denn am andern Tage lagen längs dem Wege,
den doch der Kaiser zog, der todten Körper nicht wenige; sie wirthschafteten
auch übel mit Weibern, Jungfrauen und Männern, verschonten keine Weibs¬
person. --*)
'Hinter Koburg wurden wir in ein Dorf an einer schonen, lustigen Wiese
einquartiert. Dort sattelte ich mein Pferd ab und ließ es auf der Wiese bis
zum andern Tage laufen. In dem Dorfe war ein schönes Haus eines Edel¬
mannes, der Hof stand sperrweit offen, darin ein Wagen mit vier starken
Pferden, darauf lagen zwei Fässer mit köstlichem Wein und viele Kapaune.
Kraniche, Fasane liefen umher. Wir schlugen sie flugs todt, brachten sie
in unser Zelt, rupften sie, brieten und sollen sie am Feuer; wir hatten ganz
unsern Willen, füllten unsere Futtersäcke aus dem vollen Haferboden und
nahmen den Wein, die Pferde und den Wagen mit, bis nach Nürnberg, doch
unterweges tranken wir den Wein aus. Wagen und Pferde verkauften wir
zu Nürnberg, was sie gelten wollten, denn wir hatten sie billig gekauft. Herzog
Friedrich von Liegnitz*), der seines Vaters wegen auch dem kaiserlichen Lager
nachzog, kam zu uns, da er sah, daß wir so gute Schnabelwcide hatten. Den
behielten wir bei uns zu Gast. Wir hatten zwei Hurer in köstlichen seidenen
Kleidern bei uns sitzen, — — — saßen so die ganze Nacht, die ohne dies
nicht lang währte. Am Morgen wollte ich meinen Hengst wieder satteln
und zäumen, da war er mir in der Nacht gestohlen, ich nahm wiederum den
nächsten, den ich ergreisen konnte, putzte thu, legte den Sattel darauf und
ritt meine Straße. —
Nach Bamberg kamen wir am 1. Juli. Der Kaiser zog gegen Mittag
mit starkem Volke ein, er aber saß auf einem kleinen Maulthier. In der
Vorstadt war eine Straßenbiegung im rechten Winkel, grade in die Ecke
ward der gefangene Kurfürst von Sachsen logirt, daß er seitwärts aus der
Vorstadt hinaus und längs der Vorstadt in die eigentliche Stadt sehn konnte.
Er stand oben am Fenster, um den Einzug anzusehn. Als nun der Kaiser
in der Ecke um den Kurfürsten kam, neigte dieser sich vor ihm gar tief, aber
der Kaiser verließ ihn nicht mit den Augen, so lange er auf ihn sehen konnte
und lachte gar spöttisch.
Am 3. Juli schrieb der Kaiser den Reichstag zum 1. September nach
Augsburg aus. Im Stift Bamberg haben die Spanier an die 400 Frauen,
Jungfrauen und Mägde bis nach Nürnberg mit sich genommen. Dort haben
sie dieselben wieder zurücklaufen lassen; die Eltern, Männer und Brüder sind
ihnen gefolgt, der Vater suchte seine Tochter, der Mann seine Ehefrau, der
Bruder seine Schwester bis nach Nürnberg, da bekam ein jeder die Seine
wieder. Ist das nicht eine unartige Nation? Nach geendigtem Kriege, in
Freundcsland, in Beisein de? kaiserlichen Majestät, da doch der Kaiser gar
strenges Regiment hielt. Alle Abend, wenn er sein Zelt aufschlug, ließ er
auch einen Galgen aufrichten, ließ sie auch tapfer anbinden. Das half jedoch
nichts.
Der Kaiser zog mit seinem Kriegszeuge gemächlich vorwärts, denn es
war eine große Hitze in den Hundstagen. Unterdeß ritt ich mit Georg von
Wedell spazieren, die Kriegsleute entlang, was gar lustig anzusehn war.
Eines jeden Rüstung und Wehr in der Schlachtorduüg. Bald waren wir
bei den spanischen Knegsleutcn, bald bei den deutschen und konnten doch
am Abend wieder bei unsern Reitern sein. Die Marschirenden hielten nicht
den rechten Fahrweg, sondern gingen in gerader Linie, sie machten eine an¬
sehnliche Straße, viermal breiter als die Landstraße, was ihnen entgegen war,
mußte weichen, die Zäune wurden niedergerissen, die Gräben wurden zuge¬
schüttet.
Zu Nürnberg, wo ich den Schutz Georg von Wedells oder eines andern
nicht nöthig hatte, bin ich in ein Wirthshaus geritten, in welchem der obge-
meldetc Herzog von Liegnitz auch Herberge genommen. Auch Kais. Majestät
ist mit großem Comitat herangekommen und so lange zu Nürnberg geblie¬
ben, daß er zu Augsburg bequem um den 1. September ankommen konnte.
Der Herzog von Liegnitz hat sich seines Saufens beflissen, ist stets voll ge¬
wesen und um dazu in Nürnberg Gesellschaft zu haben, da ihm seine zuge¬
ordneten Räthe bei dem Schwärmen keine Gesellschaft leisten wollten, hat
er die Hofleute des Markgrafen Johann gerne bei sich gehabt, die denn
'mit ihm ein unbändiges Trinken verführt haben. Als sie einst sehr bezecht
waren, hat der Herzog mit sechs Markgräfiichen sich den rechten Aermel von
Wamms und Hemde schneiden lassen, so daß der Arm ganz nackend
war, hat die Hosen aufgelöst und das Hemde zwischen den Hosen und dem
Wamms rund herum etwas ausgezogen. So sind sie ohne Schuhe auf den
Socken in bloßem Haupte, vor ihnen das große Spiel, die Spielleute der
Stadt Nürnberg, welche aus aller Macht so laut blasen mußten als sie konn¬
ten, die Gasse entlang vorwärts gezogen, einer nach dem andern, bald nach
dem Mittagessen, aus der Herberge nach dem Logement des Herzogs Heinrich
von Braunschweig. In der einen Hand hatte der Herzog ein paar Würfel,
in der andern Hand etliche Goldstücke. Da kam eine Welt von Leuten Her-
zugelaufen, zumal von den fremden Nationen, Spanier und Italiener und
sahen diesen deutschen Ebnaken zu. Der Wein überwand sie; als sie zum
Braunschweiger hinaufkamen, schlug der Liegnitzer mit beiden Händen vor
dem Braunschweiger auf den Tisch, aus der einen Hand hatte er das Gold
verloren, in der andern Hand hatte er nur einen Würfel, konnte nicht lallen,
sondern stürzte an dem Tische nieder. Der Braunschweiger ließ ihn durch
vier seiner Edelleute aufheben, eine Stiege hinaustragen und in ein Bett
legen. Der Kaiser soll übel damit zufrieden gewesen sein, daß den Deutschen
vor andern Nationen solch ein grausamer Spott widerfuhr.
Nun waren aber bei dem Herzog von Liegnitz Anzeichen genug, daß^ er
nicht übel erzogen war. Denn ich hatte etliche Tage vorher über Tisch, als
er ziemlich bezecht war, gehört, wie er ganze Geschichten des alten Testaments,
nicht wie sie in der Bibel stehn, sondern mit seinen eigenen Worten, nicht
nur recitirte, sondern auch auf seines Vaters Geschäfte, die er beim Kaiser
verrichten sollte, so geschickt applicirte, daß ich mich verwundert habe—darum
sieht man hier die Frucht des Volltrinkens, daß man aus einer Sünde in die
andere fällt. Denn als er keine andere Saufgesellschaft mehr bekommen
konnte, kam er in der Nacht vor meine Kammer, klopfte und rief so lange,
daß er mich erweckte und ich ihm antworten mußte, erbat um Gottes Willen,
ich möchte ausstehn und mit ihm saufen. Ich sagte aber, da5 wäre meine
Art nicht und bat unterthänig, er möchte mich, besonders aber sich selbst mit
solchem verschonen, bis ich ihn von der Kammer, die ich nicht öffnen wollte,
los wurde.
Als der Kaiser 16 Tage zu Nürnberg still gelegen hatte und am Mor¬
gen früh nach Augsburg vorrücken wollte, stand dieser Herzog doch einmal
so früh auf, daß er schon um 6 Uhr nach des Kaisers Logis ritt, aber der
Kaiser war schon zwei Stunden zuvor zum Thore hinaus. Da schämte sich der
Herzog, nach Augsburg zu folgen und schickte zwei seiner Räthe gen Augs¬
burg nach. Er aber blieb bei seinem unordentlichen Leben, ritt zwar mit
seinem Hofgesind zurück in sein Land, aber in dem unordentlichen Saufen
ließ er nicht nach. Zu Liegnitz in seinem Lande saß er einst beim Trunk,
da führte der Weg zwei Studiosen, welche ihre Eltern und Freunde besuchen
wollten, durch Liegnitz. Die essen allda zum Morgen, machen sich auch mit
Singen etwas fröhlich, daß es der Herzog hörte. Da schickte er zu ihnen,
ließ sie greifen, stracks zum Thore hinausfahren und ihnen die Köpfe ab¬
hauen. Den andern Morgen, ehe er wieder zu trinken anfing, ritten etliche
seiner Räthe mit ihm spazieren, und führten ihn grade auf den Platz, wo
die zwei Studenten decollirt waren. Als er das Blut sah und fragte, was
das wäre, und sie ihm vermeldeten, es wäre Blut von den beiden Studiosen,
die er den Tag zuvor hätte abhauen lassen, da wunderte er sich und fragte,
was sie gethan hätten? Als er nun wieder stark bezecht war, befahl er
seinen Räthen bei Strafe ihres Lebens, ihn in den Thurm zu setzen und mit
Wasser und Brot zu speisen, und wenn sie anders mit ihm machen würden,
wollte er ihnen die Köpfe von dem Rumpf hauen lassen. Sie gingen mit
ihm hin zum Thurm, worin bereits Gefangene saßen, zu denen wurde er
hinabgelassen und dem Thurmhüter befohlen, ihn nicht wieder herauszulassen
und mit nichts Anderem, als Wasser und Brot zu speisen. Als er nun den
Trunk ausgeschlafen hatte und sich etwas ermuntern konnte, unterhielt er sich
mit den Gefangenen und rief dem Kerkermeister zu, daß er ihn wieder heraus¬
bringen sollte. Der jedoch sagte, es wäre ihm zu hart verboten, zeigte es
aber den Räthen an. Diese temporisirten bis auf den dritten Tag. Er hörte
nicht auf, dem Kerkermeister zu befehlen, daß er die Räthe bitte, sie möchten
nachgeben und ihn loslassen. Da gingen sie zu ihm in das Gefängniß und
hörten ihn selbst flehn und bitten. Sie aber sagten, er hätte es ihnen bei
Kopfabhauen verboten und sie wüßten, daß er damit nicht scherze, deshalb
dürften sie ihn nicht herauskommen lassen. Er versprach es aber so hoch und
theuer, sie niHt zu beschweren, daß sie ihn aus dem Thurm kommen ließen.
Ungefähr drei Jahre daraus wollte er nach Stettin reiten, alles nur um
mit den Hofleuten dort zu trinken"). Als solches Herzog Barnim erfuhr, zog
er mit seinem ganzen Hofgesinde fort nach dem Kloster Cvlbitz, ließ nur das
fürstliche Frauenzimmer zurück. Der Liegnitzer kommt nach Stettin, auf dem
Schlosse wird ihm gesagt, daß weder der Herzog noch jemand von den Hof¬
junkern zur Stelle sei. und er wird nach der Stadt in ein Haus eingewiesen,
worin grade ein alter Mann zu nett im Todeskampfe lag, weil man ver¬
meinte, daß er deshalb um so eher von dannen rücken würde. Aber er blieb
nicht nur, sondern ging auch zu dem Kranken ans Bett und'sagte ihm etwas
aus Gottes Wort vor, so lange bis er verschied, und drückte nur die Augen
zu. Valentin, der mit der Armenbüchse umging, kam zu ihm ins Haus,,
dem steckte er etliche Thaler in die Büchse und ließ schwarzes Tuch holen,
sich und dem Valentin zu Mänteln, und wollte dem Todten mit Valentin
auch zum Begrübniß folgen. Das wollte doch die Herzogin nicht gestatten,
sondern ließ ihn aufs Schloß laden in das Gemach über der Kanzlei, da¬
mit sie miteinander reden könnten. Ich war damals auch zu Stettin auf
dem Hofe in der Küche und wollte über den Hof hinuntergehn, da stand
dieser Herzog an dem Fenster, stieß den Kopf zum Fenster hinaus, sperrte
mit beiden Händen den Mund gegen mich voneinander und schrie mich laut
an: „Bui!" Da ich zu Nürnberg gelernt hatte, wie mit ihm zu verhandeln
war, antwortete ich: „Bah!" Darauf sagte er: „El, das ist ein rechtschaf¬
fener Kerl! ich bitte euch um Gottes Willen, kommt zu mir herauf, wir wollen
einander gute Gesellschaft leisten, fröhlich und guter Dinge sein." Ich aber
sagte Sr. Fürstlichen Gnaden unterthänig Dank, und ging meine Straße.
Als er zuletzt auch von Stettin abzog, — denn Herzog Barnims Heimkehr
verzögerte sich zu lange, — gab ihm die Herzogin eine fürstliche Verehrung,
so daß er noch eine Weile unordentlich zehren konnte. Er blieb aber bei
seinem angenommenen tollen, wilden Leben, wodurch er sich um alles, Land
und Leute, Gesundheit und fürstlichen Wohlstand brachte. Er soff sich zu
Tode, so daß er seine Gemahlin, eine geborne Herzogin von Mecklenburg
und ihre beiderseitigen Kinder in äußerster Armuth verließ. Denn seine Ge¬
mahlin beklagte sich als Witwe, nicht allein bei ihren Standesgenossen, son¬
dern auch gegen den Rath mancher Städte, daß sie große Noth litte, sie
wüßte keinen Rath, wie sie ihre Söhnlein fürstlich erziehen sollte, sondern bat,
ihr dazu etwas zu Hilfe zu kommen und sie in solcher Armuth mit einem
Almosen zu trösten; wie denn auch der Rath zu Stcalsund ihr durch ihren
hierher geschickten laufenden Boten etliche Thaler sandte^). —
Zu Augsburg bin ich in eine öffentliche Herberge am Weinmarkt einge¬
ritten, dort habe ich zwei Stuben und bei jeder eine Schlafkammer bestellt,
die eine für die pommerschen Gesandten, die andere für ihre Kanzlei, welche
der Kanzler Jacob Citzcwitz einnahm und mit den Secretären Herzogs Bar-
nim und mir benutzte. Am Ende des Heumonats ist die Kais. Majestät mit
dem ganzen Heer herangekommen. Den Landgrafen hat er mit einem Haufen
Spanier zu Donauwörth gelassen, aber den gefangenen Kurfürsten hat er
mit nach Augsburg gebracht und in dem Haus der Welser einquartirt, am
Weinmarkt, durch zwei Häuser und ein kleines Gäßlein von des Kaisers Pa¬
last getrennt, hart an meiner Herberge. Durch die Nebenhäuser hatte der
Kaiser durchbrechen und über das Güßlein ein hölzern Gerüst legen lassen,
so daß man ans des Kaisers Logis in das des Kurfürsten gehn konnte.
Der Kurfürst hat seine eigene Küche gehalten, auch seinen Kanzler Minkwitz
und sein aufwartendes Gesinde bei sich gehabt, so daß die Spanier nicht in
seine Stube und Schlafkammer haben kommen dürfen. Der Herzog von Alba
und andere große Herrn am Knif. Hofe sind bei ihm aus- und eingegangen
und haben ihm mit freundlichem Gespräch, auch allerlei Kurzweil, Gesellschaft
geleistet. Er hatte im Hofe seiner Herberge, die recht herrlich und fürstlich
gebaut und eingerichtet ist, einen Rennplatz, wo sie über die Stange stachen,
ihm wurde erlaubt, in der Stadt an lustige Orte und zierlich mit besonderer
Kunst eingerichtete Gärten, deren zu Augsburg etliche sind, zu reiten;
und, weil er von Jugend auf Lust zum Fechten gehabt, und als er
jung und rühriger war, mit allen Wehren gern gefochten hat, wurden ihm
zu Gefallen Fechtschulen eingerichtet; jedoch sind die spanischen Soldaten vor
und hinter ihm gegangen; ihm war fast bis zum Ende des Reichstags, wo
er sich weigerte das Interim anzunehmen, nicht verwehrt, Bücher zu lesen u. s. w.
Aber bei dem Landgrafen zu Donauwörth sind die Spanier bei Tage in der
Stube gewesen. Wenn er im Fenster gelegen und auf den Platz gesehn, so
haben auch ein oder zwei Spanier neben ihm am Fenster gelegen, welche die
Köpfe ebenso lang heraussteckten; Tag und Nacht haben sie mit Pfeifen
und Trommeln die spanische Besatzung aus- und abgeführt. Die bewaffneten
Spanier haben des Nachts bei ihm in der Kaminer gelegen und wenn die
Wache abgewechselt wurde und die frische mit Trommeln und Pfeifen in
die Kammer kam, haben die, welche ihn die halbe Nacht bewacht hatten,
in Bette aufgedeckt und gesagt: „Sieh da, wir wollen ihn euch geliefert
haben, hinfort mögt ihr ihn bewahren." Ich meine, das heißt die Worte
von Halle bei dem Fußfall: „Wohl, ich will euch lachen lehren!" redlich
gehalten.
Die Kais. Majestät hat, so bald sie «zu Augsburg ankam, mitten in der
Stadt hart am Rathhause zu mehrerem Schrecken einen Galgen aufrichten
lassen, dabei einen halben Galgen, woran man die Chorda gab und grade
gegenüber ein Gerüst, in Höhe eines nüttelmäßigen Mannes, worauf man
räderte, köpfte, stranguliren, vertheilte und dergleichen Arbeit verrichtete.
Es war wol ein geharnischter Reichstag, denn außer den spanischen
Soldaten und deutscheu .Knechten, die der Kaiser mit nach Augsburg brachte,
lagen bereits in der Besatzung daselbst 10 Fähnlein Landsknechte, auf dem
Lande und um Augsburg herum lag hispanisches und italienisches Kriegs¬
volk. Aber es war auch ein ansehnlicher, pompöser Reichstag, denn es waren
die Kais, und die Königl. Majestät zur Stelle, alle Kurfürsten in Person mit
sehr starkem Gefolge, der Kurfürst von Brandenburg mit seinem Gemahl, der
Cardinal von Trient, Herzog Heinrich von Braunschweig mit seinen beiden
Söhnen Karl Victor und Philipp, Markgraf Albrecht von Kulmbach, Herzog
Wolfgang, Pfalzgraf bei Rhein, Herzog Augustus v. Sachsen, Herzog Albrecht
v. Baien u. s. w. Frau Maria, des Kaisers Schwester und die Tochter
seiner Schwester, die Witfrau von Lothringen, das markgräfliche Frauenzim¬
mer, das baiersche Frauenzimmer, item Gesandte fremder Potentaten, sonst
viel Bischöfe, Aebte. unzählig viel Grafen. Freiherrn, Reichsstädter, ansehn¬
liche Gesandte, vortreffliche Männer. Daß ich auch den Juden Michael
nicht vergesse, der sich auch als ein großer Herr hielt, und auf der Gasse
stattlich gekleidet, den Hals voll goldener Ketten auf wohlstaffirtem Pferde
ritt; 10—12 seiner Diener, alles Juden, immer als reisige Knechte ange¬
than, liefen um ihn her; von Person war er ansehnlich, wie man auch sagte,
sein wirklicher Vater wäre ein Graf von Rheinfelden. Der Erbmarschall von
Pappenheim. ein alter Herr, der nicht scharf sehn konnte, begegnete ihm ein¬
mal auf der Gasse und zog vor ihm nicht allein den Hut ab, sondern bog
auch die Knie, wie vor einem größern Herrn als er selbst war. Darnach
sah er, daß es Michael Jud gewesen, und bereute die dem Juden erzeigte
Ehre mit diesen Worten: „Daß dich Gottes Element Schande, alter schel¬
mischer Jude! "
Da so viele Königl. und Fürstl. Frauenzimmer zur Stelle waren, die
auch viele Fürstl. und Gräfl. Fräulein bei sich hatten, von den Frauen statt¬
lichen rittermäßigen Standes ganz zu geschweige», so bnnketirten die Herrn
auf dem Reichstage vortrefflich und hielten fast alle Abende Tänze, welsche
und deutsche. Besonders König Ferdincmdus war selten ohne Gäste, sie
wurden stets herrlich mit allerlei Kurzweil und prächtigen Tänzen tractirt. er
hatte eine überaus stattliche, wohlgeordnete Musika. nicht allein Instrumente.
sondern auch Gesang. Außer anderer Kurzweil stand allwege hinter ihm
ein beredter Stocknarr, den wußte er frei herauszufordern und mit gleichem
lächerlichem Gespräch zu begegnen; gemeiniglich hatte er König!.- Kur- und
Fürstl. Personen beiderlei Geschlechts zur Gesellschaft bei Tische sitzen, mit
denen er ohne Aufhören heiteres Gespräch hielt, denn der Mund stand ihm
nimmermehr stille. Ich habe des Abends bei ihm einen Tanz gesehn, in dem
ein spanischer Herr, der ein langes, geschlossenes Kleid bis auf die Erde an¬
hatte, daß man von den Füßen nichts sehn konnte, ein Fräulein aufforderte
und mit derselben eine Algarde oder Passionesa (wie sie es nennen, ich vcr-
stehs nicht) tctnzte, er that ab und zu gewaltige Sprünge, sie auch und
wußte ihm von allen Seiten so zu begegnen, daß es eine Lust einzusehn war;
und wenn der Tanz zu Ende war, fing ein ander Paar einen welschen Tanz
an. Dagegen sein Herr Bruder, der römische Kaiser, hielt gar kein Banket,
ja er behielt keinen bei sich; wenn sie auf den Dienst warteten und ihn aus
der Kirche in sein Gemach, wo er sich zu Tische setzte, begleiteten, gab er
ihnen einem nach dem andern die Hand, ließ sie gehn und setzte sich allein
an den Tisch. Er redete auch nichts, nur ein Mal, als er aus der Kirche in
sein Gemach kam, sich umsah und Carlowitz") nicht gewahr wurde, sagte
er zu Herzog Moritz: udi est nostor Lai'Iovitius? und als dieser antwortete:
„Gnädigster Kaiser, er ist etwas schwach," rief er seinem Medicus auf hol¬
ländisch: „Vesali, ihr sollt zum Carlowitz gehn, er soll etwas siech sein. seht,
daß ihr ihm helfet." Ich habe den Kaiser auf etlichen Reichstagen oft essen
sehn, aber er hat seinen Bruder, König Ferdinandus, nie zu sich gebeten.
Wenn die Speisen von jungen Fürsten und Grafen aufgetragen wurden, wur¬
den jedesmal vier Trachten, in einer jeden sechs Gerichte, vor ihm auf den Tisch
gesetzt und die Oberschüssel nach einander abgenommen; gegen die, we-lebe er
nicht begehrte, schüttelte er den Kopf, wenn er von etwas essen wollte, winkte
er mit dem Kopf und zog die Schüssel vor sich hin. Es wurden stattliche
Pasteten, Wildpret und wohlzugerichtete Leckerspeisen weggetragen, er behielt
ein Bratferkcl, einen Kalbskopf u. tgi., ließ sich nichts vorschneiden, brauchte
auch das Messer nicht viel, sondern schnitt so viele Stücklein Brot, so groß,
wie er sie zu jedem Bissen in den Mund stecken konnte. Das Gericht, von
dem er essen wollte, löste er an der Ecke, wo es ihm am besten gefiel, mit
dem Messer, sein Stück brach er mit den Fingern auseinander, zog die
Schüssel unter das Kinn, und aß so natürlich, jedoch reinlich und sauber,
daß mein seine Lust daran sah. Wenn er trinken wollte — und er that nur
drei Trun? während der Mahlzeit — so winkte er seinen Doctoribus Medi-
cinä, die vor dem Tisch standen; die gingen zum Tresor, worauf zwei silberne
Flaschen standen und ein kristallnes Glas, das wol 1'/.^ Seidel hielt, und
gössen das Glas aus beiden Flaschen voll; das tränk er rein aus, daß nichts
darin blieb, wußte er auch zwei- oder mehrmal Athem holen, bevor ers vom
Munde zog. Sonst redete er nichts über Tisch; es standen wol Schalks¬
narren hinter ihm, die allerlei Possen reißen konnten, er kehrte sich aber nicht
daran, höchstens verzog er den Mund zu einem halben Lächeln, wenn sie et¬
was recht Kurzweiliges sagten. Er ließ sich auch das nicht anfechten, daß
viele dastanden, die den Kaiser essen sehn wollten, Er hatte ein stattliches
Sängerchor, auch Instrumentalmusik, die sich in den Kirchen sehn ließen, aber
in seinem Gemach erklangen sie nicht. Die Mahlzeit währte nicht eine
Stunde, dann wurde alles weggeräumt, Sessel und Tische zusammengeschla¬
gen, daß nichts übrig blieb als die vier Wände, allenthalben mit köstlichen
Tapeten behängen. Wenn ihm das Gratias vorgcbetet war, reichte man
ihm ein Fedcrtielchen als Zahnstocher, dann wusch er sich und stellte sich in
eine Ecke des Gemachs an das Fenster, dahin konnte jedermann kommen,
Bittschriften überreichen, oder mündlich berichten. Dem sagte er aus der
Stelle, wo er Bescheid bekommen sollte.
Herzog Moritz von Sachsen machte Bekanntschaft mit dem bairischen
Frauenzimmer, hatte auch seine Kurzweile in seiner Herberge, dein Haus
eines Doctoris Medicinä. Der hatte eine erwachsene Tochter, eine schöne
Metze. sie hieß Jungfrau Jacobina. mit der badete er, spielte auch nebst
Markgraf Albrecht von Kulmbach täglich mit ihrKartcn.---Sie hielten so Haus,
daß der Teufel darüber lachen mochte, und viel Gerede in der ganzen Stadt
war. Andere Fürsten und Herrn von geistlichem und weltlichem Stande trie-
bens auch artig. So hab ich einst mit angesehn, als Markgraf Albrecht
und andere junge Fürsten mit jungen Bischöfen, die nicht Igeborne Fürsten
waren, soffen und auf der Peilketafel schössen, daß der eine dem andern
keinen Ehrentitel gab. sondern gar höhnisch rief: „Pfaff schieß hin, was
gilts, Du wirst nichts Ordentliches treffen," und der Bischof wiederum mit
einer gemeinen Redensart erwiederte. Junge Fürsten legten sich wol zu
fürstlichen und gräflichen Damen, sonderlich von hohem adligen Stande, auf
den Boden, denn sie sitzen nicht auf Bänken oder Sesseln, sondern es werden
köstliche Tapeten mitten ins Gemach gebreitet» worauf sie sich bequemlich
setzen und sich strecken können, dort umhalsen, küssen und betasten sie sich.
Es verthaten auch Fürsten und Herrn von beiderlei Geschlecht mit vielem
übermäßigen Banketiren nicht allein, was in ihrer Kammer vorhanden und
was sie mit sich auf den Reichstag genommen, was sich auf viele tausend
Thaler belief, sondern sie haben auch mit großer Mühe, unersetzlichen Schaden
und Verdruß so viel aufnehmen müssen, daß sie mit Anstand von Augsburg
scheiden konnten. Die Unterthanen etlicher Fürsten, namentlich des Her¬
zogs von Baiern, dessen Gemahl des römischen Königs Tochter war, brach¬
ten nur an Geld zum Spiel etliche tausend Gulden zusammen, die sie ih¬
rem Herrn zum Geschenk machten, es wurde ihnen aber im Spiel alles
abgenommen.
Unsere Gesandten hielten sich still, luden keine Gesellschaft, wurden auch von
andern nicht geladen. — Sie hielten aber täglich an, den einen Tag an dem
Hofe des einen Fürsten, den andern Tag bei dem andern, die Gesandten
blieben immer zwei beieinander, Jacob Citzcwitz, der Kanzler aber ging allein,
er meinte, daß er es allein wol prästiren könnte, wie er es denn auch wol
konnte, nnr daß er stets vom Anfang bis zu Ende alles repetirte; das war
deu Herren verdrießlich. Denn als zwei von den andern Gesandten in den
Hof des Kurfürsten von Köln kamen, darin Citzewitz den Tag zuvor gewesen
war, sagte der kölnische Kanzler: „Was gedenkt Euer Kanzler, daß er, so oft
er zu mir kommt, alles wiederholt, was er früher in verdrießlicher Länge bereits
berichtet hat? meint er, daß ich von so geringem Gedächtniß sei, oder daß ich in
Sachen meines gnädigen Herrn, des Kurfürsten, so wenig zu thun habe, daß
ich sein langes unnöthiges Reden ohne Verdruß abwarten kann? Mir ist da¬
bei grade so. als wenn eine Henne ein El legen will, so fliegt sie auf das
Hackelwerk und gackert: ein El. ein El! vom Hackelwerk aus die Hilde: ein El
ein El, ich lege ein El; von der Hilde auf den Balken: ein El, ein El, liebe
Leute gucket, ich lege ein El! Wenn sie denn genug gegackert und viel Wesens
gemacht hat, so fliegt sie aufs Nest und legt ein kleines El. Ich aber halte
es mit der Gans, die setzet sich fein still auf den Misthaufen und legt ein
El so groß als ein Kindskopf." — Ich selbst habe oft den Bischof von Arras,
Doctor Marquardt und andere Räthe angesprochen, gefleht und gebeten. Da
ich aber von mir selbst nicht auf das kam, was jetzt allenthalben bei Höfen,
bei Herrn und in großen Städten im Schwange geht, wenn man Wohlwollen
erwerben will, so gab mir Doctor Jolmnn Marquardt geschickt zu verstehn,
daß ihm eine besondere Freude sein würde, wenn er ein artiges, kleines Röß-
lein hätte, woraus er, wie es am kaiserlichen Hofe gebräuchlich, zum Rath reiten
könnte. Ich schrieb deshalb »ach Pommern, und bekam ein gar wohlgestal¬
tetes geschickt mit dem besonderen Befehl, daß ich passendes Reitzeug dazu
machen lassen und alsdann dem Herrn Doctor mit drei großen portugiesischen
Goldstücken anbieten sollte, was der Herr Doctor ohne Weigern gar gern
und mit gutem Willen annahm. Citzewitz und ich ließen doppelte Dukaten
und rheinische Gulden untereinanderlansen, bis es gutes Krvncngoid wurde.
Davon ließen wir zwei Trinkgeschirre machen, ein jedes sieben Mark schwer; die
wollten die Räthe dem Herrn von Granvella verehren/*) Citzewitz ist mit
denselben etlichemal bei ihm in seinem Logis gewesen, hat aber zu Augsburg
die Gelegenheit nicht ersehn, sie ihm beizubringen. Aber das große Bedenken,
die Subtilität und Sorge wäre gar nicht nöthig gewesen, und hätte er der
Kleinodien noch so viele gehabt, er hätte sie ohne Gesahr in aller Güte jetzt
ebenso angebracht, wie später zu Brüssel in den Niederlanden. Denn dem
Herrn von Granvella.war ein großer Schatz von Silber, Gold, Geld und
Geldeswerth, von köstlichen seltenen Waaren verehrt worden, wodurch Kur¬
fürsten, Fürsten und Städte seine Verwendung bei kaiserlicher Majestät zu ge¬
winnen vermeinten. Die führte er auf Ccntnerwagen und etlichen starken
Mauleseln bei seinem Heimzuge mit sich fort, und wenn er gefragt wurde,
was aufdie Wagen gelegt und die Esel gehängt wäre, antwortete er: „?eeeata
(zrörmÄlliau."
Im December setzte der Kaiser den beiden Kurfürsten von Sachsen und
Brandenburg auf ihr fleißiges Bitten und Anhalten einen Tag für den Land¬
grafen von Hessen an, um über seine Sache zu entscheide«. Nun hatte der
Kurfürst Herzog Moritz mit dem baierschen Frauenzimmer, wie schon gesagt.
Kundschaft gemacht. Und am Sonntag Morgen, vor dem Montag, an welchem
der lange erbetene Bescheid ergehn sollte, setzte sich Herzog Moritz in einen
Schlitten, denn es war stark gefroren und Schneebahn. Carlowitz kommt von
der Kanzlei hcruutergclcmfen und spricht: wohin wollen Ew. Kurs. Gnaden
fahren? Der Kurfürst antwortete: ich will gen München fahren (ich stand grade
vor dem Thor, so daß ich mit andern, die auf und niedergingen und stehn
blieben, alles anhörte.) Darauf Carlowitz: „Haben Ew. Kurs. Gnaden ver¬
gessen, daß morgen in der hochwichtigen. Ew. Kurs. Gnaden wie dem Kur¬
fürsten von Brandenburg angelegener Sache, Kais. Majestät Bescheid angesetzt
worden ist?" Der Kurfürst: „Ich will gen München fahren." Darauf Carlowitz:
„Ich habe zu Wege gebracht, daß Ihr zum angesehenen Kurfürsten geworden
seid, Ihr habt Euch aber auf diesem Reichstage so leichtfertig verhalten, daß
Ihr bei den vornehmen Leuten aller Nationen, wie auch bei der Kais, und König!.
Majestät in höchste Verachtung gekommen seid." Während des schlägt Herzog
Moritz die Pferde mit der Peitsche und fährt zum Thore hinaus. Carlowitz
rief ihm überlaut nach: „Nun fahret immer hin, in aller Teufel Namen,
daß Euch Gottes Element schänden müsse, mit Fahren, mit allein." Als der
Kurfürst von München zurückkam, rüstete sich Carlowitz zur Abreise nach Leipzig,
denn, so sagte er, der Neujahrsmarkt wäre vor der Thüre und er müßte dort
sein, oder er würde einige tausend Thaler Schaden haben. Wollte nun der
.Kurfürst ihn bei sich behalten, so mußte er ihm so viel tausend Thaler ver-
ehren. Keiner der beiden Kurfürsten erschien am angesetzten Tage vor der
Kais. Majestät, noch ist ein Bescheid in Sachen des gefangenen Landgrafen
ergangen. Denn da das Spazierenfahren nach München und die Unter¬
redung zwischen Herzog Moritz und Carlowitz, die am hellen Tage und auf
der Gasse von Vielen angehört wurde, der Kais. Majestät nicht verschwiegen
geblieben, und dieselbe das vielfältige Anhalten mehr für Gespött als Ernst
erachtete, so ist auch kein fernerer Tag angesetzt worden, den Bescheid zu
hören.
Die deutschen Landsknechte, die in der .Besatzung zu Augsburg lagen
waren etliche Monate nicht bezahlt worden, und es wurde erzählt, daß die
Strafgelder des Landgrafen und der Städte, von denen sie hätten bezahlt wer¬
den können, wol vorhanden gewesen seien, aber der Herzog von Alba habe die¬
selben bei dem gefangenen Kurfürsten verspielt. So wurden sie mit der Bezah¬
lung länger aufgehalten. Da sind etliche von ihnen in der Fähnriche Quar¬
tier gefallen, haben drei Fähnlein herausgerissen und sind so mit aufgerichteten
Fähnlein in Schlachtordnung nach dem Weinmarkt gezogen. Als nun die
Fahnenträger in der Ordnung dahinziehn. ist ein hoffärriger Spanier, in der
Meinung Ehre zu erlangen, große Gnade bei der Kais. Majestät zu verdienen
und sich einen ewigen Namen zu machen, zu den Fähnrichen ins Glied ge¬
sprungen und hat dem einen das Fähnlein aus der Hand reißen wollen.
Dem Fähnrich folgten drei Schlachtschwerter, von diesen haut einer diesen
Schubiak mitten voneinander wie eine Rübe, nach dem Spruche: wer sich
in Gefahr begibt, kommt darin um. Als die Landsknechte den Weinmarkt
erreichten, war ein starkes Nennen und Laufen von den spanischen Sol¬
daten, sie besetzten alle Gassen, die aus den Weinmarkt führten, der ge¬
fangene Kurfürst wurde hinüber in den Palast des Kaisers geführt, denn
sie besorgten der Kurfürst möchte ihnen genommen werden; alle Einwohner,
zumal Kaufleute, Krämer, die für den Reichstag köstliche Waare, seidenes
Gewand, silberne und goldene Kleinodien, Perlen und Edelsteine angeschafft
hatten, trugen Sorge, die Stadt möchte geplündert werden, was auch
wol geschehen wäre, wenn die Landsknechte ihre Bezahlung selbst hätten suchen
müssen. Deswegen entstand dort ein wildes Rufen, Zusammenlaufen und
Getümmel, jeder rüstete sich zum Ernst. Bürger und Fremde lagen aus ihren
Häusern und in den Gemächern geharnischt, die Röhre und halben Haken zum
Feuern bereit, wie es ein jeder zur Beschirmung des Seinen durchsetzen konnte,
so daß wol ein geharnischter Reichstag daraus hätte werden können.
Der Kaiser aber schickte zu den Landsknechten und ließ fragen, was sie
wollten. Die Schützen hatten ihre Röhre auf dem linken Arm, in der rechten
Hand die brennende Lunte nicht weit vom Zündloch und sagten: entweder
Geld oder Blut. Darauf ließ der Kaiser ihnen antworten, sie sollten sich zu-
frieden geben, sie würden am nächsten Tage sicher bezahlt werden. Sie aber
wollten nicht abziehn, wenn sie nicht versichert würden, daß sie ungestraft
bleiben sollten, weil sie dein Kaiser vor sein Logis gerückt wären. Das ver¬
sprach ihnen der Kaiser, so zogen sie ab, wurden den nächsten Tag bezahlt und
entlassen. Aber was geschah? Es wurden einige Späher abgefertigt, die soll¬
ten sich unvermerkt zu den Führern der Fähnlein ein, zwei, drei Tagereisen
gesellen und hören, ob diese auch der Kais. Majestät ungünstig oder spöttisch
gedenken würden; wenn das geschehe, sollten sie sich Beistand nehmen und
die Männer gefangen zu Augsburg wieder einbringen. Am andern oder
dritten Abend im Wirthshaus thaten die Landsknechte einen fröhlichen Trunk,
denn sie hatten Geld im Säckel und vermeinten, sie wären jetzt sicher, wie in
Priester Johanns Land, und glaubten nicht, daß sie ihren Berräther bei sich
sitzen hätten, da gedachten sie der Kais. Majestät in solcher Weise: „O weh,
ja! das sollte man Karl von Gent erlauben, Kriegsleute annehmen und sie nicht
bezahlen!" Sie schworen dem Kaiser Se. Vettius Krankheit an den Hals*) und:
„wir wolltens ihm schon gelehrt und auf den Kopf gegeben haben, Gotts Ele¬
ment sollte ihn geschändet haben." Auf solche Worte ^wurden sie ergriffen,
wieder zurück nach Augsburg geführt, am Verlans an den Galgen gehenkt
und einem jeden ein kleines Fähnlein in den Latz gesteckt.
Des Grafen I. I. Siepers Denkwürdigkeiten zur Geschichte Rußlands von K. L.
Blum. Bd. 1. 2. ö. Leipzig, Winter. —
Das Buch gehört zu den interessantesten, die uus in der neuesten Zeit
vorgekommen sind, und ist namentlich im treten Band für die Geschichte eine
wichtige Quelle. Auch aus den beiden ersten Bänden lernt man sehr viel
über den innern Mechanismus jenes kolossalen Reichs, dessen Stärke doch
hauptsächlich auf der Schwäche und Kläglichkeit seiner Nachbarn beruhte,
aber hier bleiben in den Papieren, die dem Herausgeber vorlagen, viele Lücken,
die er selbst auszufüllen nicht im Stande war, und die nur eine detaillirte
Kenntniß der russischen Geschichte vollständig ergänzen könnte. Im dritten Band
dagegen stehen wir aus festem historischen Boden. Die Hauptfacta über die
Theilung Polens sind hinlänglich bekannt, und es wird uns hier ein über¬
raschender Blick hinter die Coulissen eröffnet; die einzelnen Betheiligten ge-
wirren für unsere Anschauung Fleisch und Blut, wir lernen ihre Motive ver-
sichn und der Zusammenhang der ganzen Tragikomödie tritt lebhast vor unsere
Seele.
Noch ein Wort über das Verhältniß des Herausgebers zu seinem Stoff.
Er hat seine Papiere von der Familie des Grafen Siepers erhalten, das
Buch ist ,,der Frau Geheimräthin Baronin Uexküll, der erlauchten Tochter
des großen Staatsmanns, der würdigen Erbin seines Geistes und seiner Tugen¬
den" gewidmet. Hr. Blum selbst berichtet im Vorwort, er habe sich ein Menschen-
alter in Deutschrußiand ausgehalten, dort die ausgezeichnetsten Ersahrungen
gemacht und Siepers sei immer sein Vorbild gewesen. Es ist also ganz in
der Ordnung, daß Siepers nicht blos als ein großer Staatsmann, sondern
als ein Tugendspiegel im Allgemeinen dargestellt wird. Die Art und Weise,
wie das geschieht, ist von einer wahrhaft bezaubernden Naivetät, und erhöht
um so mehr den Reiz des.Buchs, da die mitgetheilten Actenstücke hinlänglich
dafür sorgen, daß kein Leser, der sich gesunder Augen erfreut, getäuscht wer¬
den kann. Nur eins hätten wir auszusehen: wahrscheinlich um Raum zu
sparen, theilt der Verfasser seine Actenstücke nicht vollständig mit. Er Hütte
statt dessen seine Reflexionen weglassen sollen, da in den Papieren jeder Zug
von Interesse ist.
Siepers, früher einer der bedeutendsten Beamten der großen Katharine,
war in Ungnade gefallen, und lebte seit 10 Jahren in der Verbannung auf
seinein Landgut. Wie das zusammenhängt, ist zwar sehr interessant zu ver¬
folgen, es würde aber hier zu weit führen. Nach dem Tode seines Gegners
Potemtin, den er in seinen Briefen immer als den Fürsten der Hölle bezeich¬
net, erinnerte man sich wieder um ihn und machte ihm Anerbietungen, die er
aber „wegen seiner geschwächten Gesundheit" zurückwies, bis ihm zu Ende
des Jahres t7U2 die Botschafterstelle in Warschau angetragen wurde'. Freu¬
dig ging er darauf ein,,denn er fühlte, daß jetzt die Zeit gekommen sei, sich
einen historischen Namen zu erwerben. Es war der Vorabend der zweiten
Theilung Polens.
Man hatte sich sein Werkzeug mit großer Sorgfalt ausgewählt. Daß
er rücksichtslos war in der Durchführung seiner Befehle, daß er vor keinem
Mittel zurückbebte, sei es Bestechung oder brutale Gewalt, diplomatische Lüge
oder Einschüchterung, dadurch zeichnete er sich vor seinen Collegen nicht aus¬
fallend aus; die Repnin, die Jgc.lström u-. f. w. verstanden das ebenso
gut. Aber er hatte andere sehr erhebliche Vorzüge. Die andern betrachteten
ihr Geschäft, wenn nicht ausschließlich doch in der Hauptsache, als ein Mittel
zu rauben und zu plündern. Siepers nahm zwar auch so viel er konnte,
aber er versäumte darüber weder die Geschäfte noch die Repräsentation seines
Amts, er war in dieser Beziehung von einer Ausdauer und Arbeitskraft ohne
Gleichen. Die andern plünderten als rohe Barbaren, und indem sie die
innere Gemeinheit ihrer Natur offen an den Tag legten, erregten sie bei denen,
die sie ausplünderten, nicht blos Haß. sondern auch Verachtung, die denn doch
bei aller Furcht mitunter zum Vorschein kam, Siepers dagegen war stets der
feine, gebildete, selbst vornehme Manu, der sich nur herabließ, wenn er
Tribut nahm. Für seine Kollegen war brutale Gewalt das erste und letzte
Wort, sie wußten nur zu schelten, zu drohen und zu fluchen. Siepers war
nicht blos der liebenswürdige Gesellschafter, der alle Damen bezauberte und
der die traurige Verpflichtung, täglich die glänzendste Gesellschaft um sich zu
sehn — er klagt fast in jedem seiner Briefe darüber — mit vollendeter Mei¬
sterschaft ausübte, sein Mund strömte über von Tugend und Menschenliebe, er
dachte nur daran die Welt zu beglücken, er unterhielt mit seinen Töchtern die
zärtlichste Korrespondenz und las diese Korrespondenz dem König von Polen
und den andern Großen vor. in demselben Augenblick, wo er ihnen seinen
Fuß mit dem ganzen Gewicht des russischen Reichs aus den Nacken setzte.
Wie gerührt waren sie über diesen edlen Familienvater! wie fest überzeugt,
daß aus einem so empfindsamen Gemüth nur edle Handlungen hervorgehn
könnten! das Jnteressanteste ist, daß er diesen Ton auch in den Briefen an
seine Töchter beibehält. Freilich schildert er zuweilen mit nicht geringem Selbst¬
gefühl, wie alles sich vor ihm beugt, alles vor ihm zittert, wie er laut seiner
Instruction den König von Polen schlimmer behandelt als einen ehrlosen
Knecht, er vergleicht sich gern mit dem römischen Abgeordneten, der um den
König von Syrien einen Kreis zog und ihn nöthigte sich zu unterwerfen, be¬
vor er aus diesem Kreise trat, aber er versäumt nie hinzuzusetzen, das alles
geschehe nur zum Besten der Menschheit, und sein Gemüth, das in diesem
Glanz und dieser Herrlichkeit sich einsam fühle, sehne sich nach den stillen
Freuden seines Landguts. Kurz wenn es erlaubt ist, diese feine aristokratische
Physiognomie mit einem plumpen Holzschnitt zu vergleichen, so haben wir
den vollendeten Pecksniff vor uns. Dieser Mann war seinen Standesgenossen
und seiner Gebieterin keineswegs bequem, denn es kommt dnn Despotismus
nicht blos auf gefügige und brauchbare Werkzeuge an, sondern auf solche,
die man gelegentlich mit Fußtritten behandeln, denen man die gründlichste
Verachtung offen an den Tag legen kann. So lange man aber überhaupt
mit Siepers verkehrte, mußte man auf seinen Ton eingehn und in der ganzen
Korrespondenz finden wir nur den einen Brief des braven Jgelström, der einen
Augenblick aus der Rolle fällt. Siepers behandelt einen der polnischen Hal-
lunken, welche den Ruin ihres Landes benutzen, um sich zu mästen, etwas
unhöflich, weil er zu unverschämt stiehlt. Was in aller Welt, fragt Jgel¬
ström, können Sie nur gegen diefen Mann haben? da er uns doch immer
den Löwenantheil läßt! — das sind nicht genau die Worte, aber das ist der
Sinn des interessanten Briefes! Anthcmy Chupplewit wundert sich über
Pecksniff,
Siepers war also im Grunde den Machthabern unbequem. Warum
gaben sie ihm nnn diesen wichtigen Posten? da es sich doch nur um einen
Act brutaler Gewalt handelte, den ein einfacher General, den z. B. Jgel-
ström ebenso gut hätte ausführen können. — Die Gründe waren folgende:
Der Schülerin Voltaires war doch an der öffentlichen Meinung Europas
etwas gelegen. In ihrer ersten Instruction hebt sie als Motive der neuen
Gewaltthat zweierlei hervor. Es gilt, den königsmördcrischen Jakobinismus
zu bekämpfen, der in Frankreich zu so entsetzlichen Greuelthaten geführt hat.
der nun auch in Polen eindringt. Es gilt, 'den guten König Stanislaus
dem Einfluß dieser Rotte zu entziehen, die doch im Grunde nur darauf aus¬
geht, ihn zu ermorden. Rußland ist in Polen der Vorfechter des monar¬
chischen Princips und der Religion. Daran knüpft sich aber noch ein Zweites.
Der König von Preußen sührt gegen die französischen Jakobiner einen Krieg,
der seinem Herzen Ehre macht, der ihm aber schwere Opfer kostet. Er ist in
der Nothwendigkeit, sich dafür zu entschädigen, und kann das nur in Polen.
In dieser Ueberzeugung, gegen die man billigerweise nichts einwenden
kann, thut er nun dein russischen Hofe Gewalt an, und zwingt ihn, sich
gleichfalls zu entschädigen, damit das europäische Gleichgewicht nicht gestört
werde. Siepers hatte also folgende Aufgabe. Den Polen gegenüber stellt
er seine Kaiserin als die Beschützerin gegen die preußische Habgier dar: nur
wenn sie sich unbedingt ihrem Willen unterwerfen, können sie hoffen, einiges
zu retten. Der preußische Gesandte darf selbstständig gnr nicht hervortreten,
er muß sich unbedingt dem Willen seines russischen Collegen fügen — wohl¬
gemerkt aber zu all den außerordentlichen Ausgaben, die Siepers im Namen
seiner Kaiserin macht, die Hälfte zahlen und dafür keinen Dank haben; nur
einige Ausgaben abgerechnet, von denen er nichts wissen darf/ Nußland er¬
halt also seinen Beuteantheil, und aller Haß fällt dafür auf Preußen, welches
zugleich als Schleppträger Rußlands in Verachtung geräth. Damit ist schon viel
erreicht, aber die Kaiserin hat noch mehr im Auge. Wenn man seinen Beute¬
antheil in Sicherheit gebracht, wie wäre es, wenn man Preußen um den
seinigen verkürzte? wenigstens die Möglichkeit muß man sich offen halten,
wenn die Kriegsereignisse am Rhein eine günstige Chance geben. Die Kai¬
serin und ihr Botschafter denken einige Zeit ganz ernsthaft daran. Rußland
hat seine Beute gepackt, der Preuße hat sein Geld und seinen'Einfluß dazu
gegeben, Siepers hat den Polen merken lassen, wenn man -selbst befriedigt
sei. werde man sie gegen die preußischen Anmaßungen schützen. Nun meldet
sich endlich der preußische Minister mit seinen Forderungen, die ihm von Ruß-
land contractlich stipulirt waren. Siepers' beschwert sich gegen seine Kaiserin
bitter über die preußische Unbilligkeit, Habsucht und Inhumanität, und die
Kaiserin gibt ihm in diesen Gefühlen vollkommen recht. Indeß war dies
Mal der Bogen doch zu straff gespannt. Die Kriegsereignisse am Rhein geben
nicht die gewünschte Chance und auf eine Anweisung von Se. Petersburg
zieht der Botschafter ein anderes Gesicht auf. Mit äußerster Strenge weist
er die Polen an, die preußischen Forderungen zu befriedigen und rohe Gewalt
bringt endlich die Sache glücklich zu Ende.
Bis dahin hatte Katharina in ihren Briefen fortwährend die unbedingte
Billigung und die größte Dankbarkeit ausgesprochen, das Ganze ist jetzt glück¬
lich vollendet, und der Botschafter erwartet seinen Lohn. Dieser Lohn erfolgt
in folgendem kaiserlichen Rescript-. „Herr Botschafter von Siepers! Wir haben
nur mit äußerstem Mißfallen erfahren tonnen, daß der Reichstag von Grodno
in seiner letzten Sitzung, ohne Sie zu befragen, oder besser gesagt, aus Arg¬
list den nämlichen Orden wieder hergestellt hat, der vom König von Polen
zur Zeit der Revolution und der Feindseligkeit gegen Nußland errichtet und
aus Unser ausdrückliches Verlangen aufgehoben worden ist. Es ist der Leicht¬
sinn nicht allein und der Blödsinn, wie Sie es nennen, sondern sogar der Geist
der Ränke, der Nach- und Herrschsucht, welche der neuen Revolution zu Grunde
liegen, die Wir in diesem unverschämten und verwegenen Schritt erblicken.
Daher durften Wir es nicht gut heißen, daß Sie ihn nicht aus dem wahren
Gesichtspunkt angesehen, und den Reichstag ohne die Genugthuung, welche
die Sache forderte, geschlossen haben, da Sie doch ein unbestrittenes Recht
dazu besaßen, vermöge des zuletzt geschlossenen Vertrages, wo unter andern
die polnische Negierung sich verpflichtet, keine innere Einrichtung zu treffen,
ohne zuvor Uns darüber zu befragen. Sie haben gefehlt, daß Sie sich eines
solchen Schrittes enthielten, Ihrer Angabe nach aus Furcht, die Früchte
Ihrer Arbeiten einem widerwärtigen Ende Preis zu geben. Diese Früchte
gehn in der That verloren, sobald einerseits der Buncesvertrag gebrochen
wird, indeß es andererseits erhellt, daß Sie keinen besondern Erfolg gehabt,
in einem der Hauptgegenstände, dle Ihrer Sorge anvertraut sind, nämlich
dem, in den Nathsverjammlungen der Nation die Zahl der wohlwollenden
und.Rußland anhängigen Männer zu vermehren; denn es sand sich niemand,
der nicht allein die Sache hätte aufhalten, sondern Ihnen auch nur einen
Wink geben können. Was den Vertrag betrifft, durch den die polnischen
Provinzen mit Unserm Reiche verbunden worden sind, so war es nur das
Erge dniß Unserer Waffen und wäre durch sie vor jedem Angriff in Sicher¬
heit gewesen. Was hatten Sie also zu fürchten? Aber wie solch Gerede nicht
hinreicht, was geschehen ist wieder gut zu machen, müssen Wir zu wirksamen
Mitteln greifen, unter die Wir als erstes das rechnen, aufs nachdrücklichste
dem König und der polnischen Nation Unser gerechtes Mißfallen bei dieser
Gelegenheit auszusprechen. Deshalb befehlen wir Ihnen, Ihre gegenwärtige
Amtsvcrrichtung einzustellen, Warschau zu verlassen und an unser H.'slager
zurückzukehren, indem Sie bei Ihrer Abschiedszusammenkiinft mir dem König,
dem Ministerium, dein Präsidenten und den Hauptgliedern des beständigen
Raths die wahren Gründe Ihrer Entfernung eröffnen mit dem Beifüge»,
daß Wir es nicht Unserer Würde für angemessen erachten, Ihren Aufent¬
halt in Ihrer gegenwärtigen Stellung zu verlängern, nach der wenigen Rück¬
sicht, die man Ihnen erwiesen hat, was genau angesehen nur ein unan¬
ständiger Hohn zu nennen wäre; daß Wir sogar bei dieser Gelegenheit, zufolge
der uns angebornen Großmuth und Gerechtigkeit, die Verfechter dieses Schrittes
unterscheidend von der gesammten Nation, welche Wir ganz neuerdings mit
so viel Großmuth und Freigebigkeit unter den Schatten Unseres Schuhes und
Schirmes aufgenommen^ in nichts das Band, das sich eben mit ihr anknüpft,
lockern oder gar zerreißen wollen, Wir im Gegentheil zur Erhaltung dieses
Bandes sowol, als zu seiner Festerkuüpfung, Ihnen einen Nachfolger mit dem
Charakter eines bevollmächtigten Ministers bestimmt haben, dein Wir ein¬
schärfen werden, alles aufzubieten, nur Uns eine angemessene Genugthuung für
die Schmach zu verschaffen, die man uns angethan." — Da die lächerliche
Geschichte mit dem Orden offenbar nnr ein Bvrwand war, so wird man dar¬
aus die Stärke des unerwarteten Schlages ermessen können. Aber es kam
noch schlimmer. Die russischen Beamten waren überhaupt gewöhnt, in Bezug
aus die Staatskasse nicht genau zu sein und in diesem Fall, wo sämmtliche
polnische Landboten bestochen werden mußten, hatte man noch viel weniger
an eine nachträgliche Controle der Ausgaben gedacht. Der in Ungnade ge¬
fallene Botschafter wird nun aber angewiesen, seinem Nachfolger strenge
Rechnung abzulegen- „Wir fordern mit um so mehr Grund die Zusendung jener
Rechnungen an Uns, als wegen Ihrer Unterlassung des alten Herkommens und
des Beispiels Ihrer Borgänger Wir dergleichen Ihrerseits während der ganzen
Zeit, da Sie Ihren Posten bekleideten, durchaus nicht erhielten, und" Sie
außer den Summen, die Wir Ihnen von hier geschickt hatten, sehr starke Wechsel
aus Unsern Schatz zogen, ohne sich über deren wahre Anwendung zu erklären.
Wir hoffen, daß Sie mit aller Genauigkeit alles oben Gesagte erfüllen und Ihre
Abreise unter keinem Vorwnnd aufschieben, selbst nicht unter dem, daß der
König und die polnische Negierung, sei es von selbst oder durch den Schritt
genöthigt, der Ihnen vorgezeichnet ist, Ihnen volle Geneigtheit bezeugten, ihr
Vergehen gegen Sie wieder gut zu machen. Uebrigens sind Wir mit Unserer
kaiserlichen Huld und Gnade Katharina." —
Ein russischer Botschafter, der, von einer wichtigen Mission zurückberufen,
gezwungen wird, Rechnung abzulegen, ist ruinirt. Der Streich, der den
armen Siepers traf, nachdem wenige Tage vorher die Kaiserin in den Aus-
drücken höchster Huld mit ihm correspondirt, war so raffinirt berechnet, daß man
ihn aus blos äußerlichen Zwecken nicht erklären kann. Indem sie ihn aus¬
übte, fühlte sich Katharina gewissermaßen als Künstlerin, sie hatte das Be¬
wußtsein einer großen dramatischen Action. Unumschränkte Monarchen haben
das Bedürfniß, sich ihrer Allmacht von Zeit zu Zeit durch eine in die Augen
fallende Handlung bewußt zu werden. Nur in den Blitzen, mit welchen er
die Titanen zerschmettert, fühlt sich Zeus als den König der Götter. Es ist
zu allen Zeiten so gewesen, und da es auch heute noch nicht überflüssig ist,
die Physiologie des Despotismus zu studiren, so machen wir auf das Bild
aufmerksam, welches ein großer Geschichtschreiber von dem eigentlichen Be¬
gründer der Despotie im modernen Europa, von Philipp II. von Spanien
entwirft. Er litt, erzählt Ranke (Fürsten und Volker S. 154.), daß sich
entrüstete Feinde bis in sein Cabinet verfolgten; er nahm die Schriften des
einen gegen den andern an. Weil man wußte, wie geheim er alles zu
halten pflegte, so hatte man keine Scheu, ihm auch das Geheimste anzu¬
vertrauen, Sachen, die man nie einem anderen gesagt haben würde. Solche
Eingaben hatten vielleicht nicht alle die Wirkung, welche sie beabsichtigten,
aber einige hatten sie doch, und dieser Fürst war immer mit Verdacht an¬
gefüllt. Nun ward es niemandem leichter, das gewohnte Vertrauen zurücke
zuziehn, die alte Gunst zu beschränken, als ihm. Eine Zeit lang verbarg er
wol seine geheime Unzufriedenheit. ' Vielleicht hatte der Minister noch
wichtige Sachen in den Händen, vielleicht war seine Persönlichkeit noth¬
wendig, um irgend eine Absicht durchzusetzen. So lange ging er mit ihm
klüglich um, wie mit einer fremden Macht. Ost will er ihm dann, was er
wünscht, weder gewähren noch versagen. Endlich aber erfolgt der Ausbruch
seines Unwillens mit einem Mal. Cabrera merkt von nicht Wenigen an, daß
seine Ungnade sie getödtet. Das mochte e-s sagen wollen, wenn man am
Hofe den Spruch halte: von seinem Lächeln sei nicht weit bis zu seinem
Dolch. Das ganze Glück der Günstlinge hing an seinem Wohlgefallen;
ohne dieses sank ihr Dasein in nichts. —
Nun trifft freilich der Blitz des Monarchen nicht jeden ohne Unterschied,
er wählt am liebsten solche aus, die, wenn auch im treuen Dienst des
Herrschers, sich vermessen, an Einsicht und Thatkraft mit ihm zu wetteifern,
die ihn in unbequemer Stunde an ihre Wichtigkeit erinnern und sich wol
gar für unentbehrlich halten. Nach dieser Seite hui hatte Siepers vielfach
gefehlt. Weit entfernt, den Absichten seiner Gebieterin auf Polen zu wider¬
streben, hatte er fortwährend angefragt, ob sie nicht mehr haben wolle, er
hatte merken lassen, daß es ganz in seiner Disposition stehe. Sehr häufig
hatte er bei einzelnen dringenden Fällen die Instruction nicht abgewartet
und nach eigenem Ermessen ziemlich willkürlich entschieden. Katharina war
klug genug ihn gewähren zu lassen, so lange es sich um die Durchführung
ihrer Absichten handelte, war aber alles in Ordnung, so mußte er wol
merken, daß man sich nicht ungestraft überhebt. Die Hauptsache hatte er er¬
reicht, aber in nicht unwichtigen Nebendingen hatte er die Absicht seiner Herrin
nicht ganz getroffen. Es kam ihr acht blos daraus an, die Polen zu be¬
rauben, die polnischen Zustände sollten auch in ihrer ganzen Erbärmlichkeit
dargestellt werden, grade darum hatte sie Siepers gewählt. So entartet die
Nation war, gegen die einsacke rohe Gewalt Hütte sie sich doch aufgelehnt,
ein Jgelstrvm hätte eine laute, anscheinend chevalereske Opposition hervor¬
gerufen. Der Wechsel zwischen Drohung und Schmeichelei, zwischen verächt¬
licher Bestechung und höflichen Geschenken, mit dem Siepers zu Werke ging,
war ganz geeignet, die bodenlose Gemeinheit dieses hochmüthigen und sitten¬
losen Adels an den Tag zu bringen und das romantische Mitgefühl für die
Polen wird durch diese actenmäßige Darstellung wahrlich nicht gefördert.
Aber Siepers war nicht weit genug gegangen. Als sich in der letzten
Krisis selbst unter den erkauften und besoldeten Landboten ein Murren
erhob, war er nicht schnell und streng genug eingeschritten, hauptsächlich hatte
er aber in einem Punkt Katharinas Ideen mißverstanden. Wenn er in der Haupt¬
sache durch offene Gewalt oder durch-Bestechung seinen Zweck erreicht hatte, so ließ
er es zu, daß die Gedemüthigten sich durch einzelne, unbedeutende Kleinigkeiten
entschädigten, und er sah ihnen durch die Finger, wenn sie das sogar mit einer
gewissen Ruhmredigkeit thaten. Nichts lag den Absichten Katharinas ferner.
Der Nacken des Bote's sollte nicht blos den eisernen Fuß suhlen, er sollte von
ihm beschmuzt werden. Es kommt in der Geschichte nie oder wenigstens sehr
selten vor. daß ein Despot sich streng an die Regeln Macchiavellis hält
d. h. nur so viel Böses thut, als zur Erreichung seiner Zwecke unbedingt
nothwendig ist; erst wenn er mit seiner Willkür über diesen Zweck
hinausgeht, empfindet er seine Allmacht. Daraus erklärt sich die wunderliche
Ordensgeschichte.
Aber bei der Ungnade des russischen Staatsmanns kommt noch ein an¬
derer Umstand in Betracht. Trotz aller Reclamationen gegen den Despotis¬
mus pflegt man auf seine schlimmste Seite nicht die gebührende Aufmerksam¬
keit zu wenden. Man faßt ihn in der Negel nur im Großen, nur in seinen
politischen Folgen auf, läßt aber die sittliche» unberücksichtigt. Die schlimmste
Seite des Despotismus ist, daß er seine Helfershelfer sittlich corrumpirt, und
daß er diese Wirkungen sehr weit ausdehnt. Es ist ein häufig gehörtes, aber
unbegründetes Borurtheil, daß mau in einer Despotie ruhig leben könne,
wenn man sich von allen politischen Dingen fernhalte. In den Günstlingen
lebt das Gefühl, daß ihre Stellung vergänglich ist und daß sie sich beeilen
müssen, für die Zukunft etwas Sicheres bei Seite zu bringen. Da es in
einer Despotie nur materiellen Genuß gibt, so denkt man auch nur an ma¬
terielle Sicherheit d. h. man sucht so schnell und so viel als möglich zu
stehlen. Am nächsten liegt die Staatskasse, aber hier hat die Plünderung
eine Grenze und die augenblicklichen Günstlinge des Hoff wenden sich daher sehr
bald an das einträglichere Geschäft, durch Drohungen oder Versprechungen von
den Schwächern, die ihrer Willkühr ausgesetzt sind, Geld zu erpressen. So
drängt sich der Despotismus mit seinen Folgen auch in den Kreis des Pri¬
vatlebens. Am Hof der großen Katharina wurde damals das Erprefsungs-
system mit einer seltenen Virtuosität ausgeübt. Bekanntlich gingen die regie¬
renden Minister dieser Frau, die damals doch schon ziemlich bei Jahren war,
aus dem Kreise ihrer Liebhaber hervor. Der allmächtige Liebhaber jener
Periode war Graf Suboff. der nicht allein für sich unermeßliche Summen
erpreßte, sondern auch seinen zahlreichen Günstlingen verstattete, ungescheut
in die Taschen der andern zu'greisen. Eins der bequemsten Opfer ihrer Hab¬
sucht war der Herzog von Kurland, den man nur fortregieren ließ, um durch
ihn das Land bis zum letzten Blutstropfen auszusaugen. Die Thatsachen,
die ans diesen Ackerstücken hervorgehn, klingen wie ein Märchen. Als Sie¬
pers nach Warschau geschickt wurde, hatte er nebenbei den Auftrag, gegen
den Herzog von Kurland ein neues Erpressungssystem in Anwendung zu
bringen, den er auch ausführte. Es ist schon vorher bemerkt, daß Siepers
kein Fabricius war; gegen die Erpressungen an sich hatte er nichts einzuwen¬
den, nur hielt er es als tüchtiger Beamter für nöthig, auch darin eine ge¬
wisse Regel und Ordnung eintreten zu lassen. Er hatte mit dem Herzog von
Kurland, dem er natürlich ebenso wie dein König von Polen die zärtlichen
Briefe seiner Töchter vorlas, den Tribut, den er zu zahlen hatte, geschäftlich
regulirt und es verletzte seinen Ordnungssinn, als gleich darauf die Günstlinge
des Grafen von Suboff sich von Neuem meldeten und neue unerhörte Con-
tributionen verlangten, die in jener Regulirung nicht einbegriffen waren. In
seinem Verdruß schrieb er seinem Schützling, er solle nichts zahlen, er über¬
nahm dafür die Verantwortung und beklagte sich bei der Kaiserin. Aber
so hatte es diese nicht verstanden. Wozu war der Herzog von Kurland in
der Welt, wenn sich ihre Günstlinge an ihm nicht bereichern sollten! Leider
fehlt ihre Antwort in diesen Papieren, über den Inhalt derselben ist aber
kein Zweifel. Natürlich kostete es dem treuen Diener keine Aufopferung, den
Herzog von Kurland anders zu berichten und ihm zu erklären, er müsse dock
zahlen; aber jenes Attentat wurde ihm nicht vergessen und die Anweisung,
seinem Nachfolger Rechnung abzulegen, war die Strafe dafür.
Wir behalten uns vor, nach Vollendung des Buchs noch einmal darauf
zurückzukommen. Im nächsten Heft werden wir aus den Denkwürdigkeiten des Her¬
zogs von Ragusa das Bild eines andern Despotismus entwerfen, der in
vielen Punkten dein russischen entgegengesetzt, doch ins Auge gefaßt werden
Wir beginnen mit einem Werk, das in den ersten Rang der wissenschaft¬
lichen Literatur gehört: Geschichte der Botanik, Studien von Ernst
Meyer. Vierter Band. (Königsberg, Bornträger). Eine zusammenhängende
Darstellung desselben behalten wir uns vor, hier machen wir nur darauf auf¬
merksam, eine wie reiche Ausbeute auch die allgemeine Culturgeschichte daraus
gewinnt. — Der vierte Band geht von dem Zeitalter Albert des Großen aus,
in welchem die Werke des Aristoteles einen immer durchgreifenderen Einfluß
ausübten. Trotz der kirchlichen Verbote legten sich Albert der Große und sein
Schüler Thomas Aquinas mit Eifer auf die Auslegung des großen Philoso¬
phen: ich sehe keinen Ausweg, sagt der Verfasser, diese und andre Theologen
jener Zeit vor dem Vorwurf des Ungehorsams gegen das Kirchenregiment zu
schützen, und finde ihre einzige Entschuldigung in der unwiderstehlichen Macht
des aristotelischen Geistes, der ich es zugleich zuschreibe, daß die, Kirche auf
ihr eignes Gebot nicht nachdrücklicher hielt. — Nun leuchtet ein, welchen Ein¬
fluß die aristotelischen Werke auf die damals allgemein verbreitete verächtliche
Vorstellung von der Natur ausüben .mußten. Nur die frühern, dem classischen
Alterthum noch näher stehenden Kirchenväter hatten die Natur als einen Spie¬
gel göttlicher Weisheit angesehn und in ihren homiletischen Schriften darge¬
stellt; den spätern erschien sie mehr und mehr im trüben Wiederschein ihrer
Teufelslehre als ein Zerrbild ihres phantastisch aufgeschmückten Paradieses,
nur geeignet, die lediglich für eine höhere Welt erschaffenen Menschen durch
Sinnenlust zu umstricken und in Verdammnis; zu stürzen. Bei ihnen stand
daher jeder Arzt, Philosoph oder einfache Freund der Natur im Verdacht der
Zauberei. Wie dagegen Aristoteles die Welt darstellte, so war sie ein wunder¬
voll harmonisches Geflecht vernünftiger Mittel und Zwecke, und die Erforschung
derselben erschien als des denkenden Menschen würdigste Aufgabe. Gar selt¬
sam mußte der plötzliche Uebergang von jener zu dieser Ansicht edlere Gemüther
aufregen; er Hütte sie vielleicht in das entgegengesetzte Extrem getrieben, wäre
ihnen nicht die lange Gewohnheit geistiger Zucht zu Hilfe gekommen, sie vor.
Ueberstürzung zu bewahren. Weit entfernt, sich an der Hand'des Aristoteles
von der Fessel des strengen Kirchcnglaubens loszumachen, setzte man sich selbst
in ihm einen zweiten Zuchtmeister, dein man sich freiwillig unterwarf. Zeig¬
ten sich auch unverkennbare Verschiedenheiten zwischen seiner Lehre und der der
Kirche, so zweifelte man doch nicht, daß sie nur auf Mißverständnissen beruh¬
ten, welche aufzuklären nun die Aufgabe der Wissenschaft sei. — Auf diese
Periode folgt vom Ende des 13. bis zur zweiten Hälfte des 15. Jahrhun¬
derts ein noch völlig rüthselhaftcr Zeitraum, in welchem es an Anregungen
nicht fehlte — so gaben namentlich die zahlreichen Reisen Gelegenheit, sich auch
in der Botanik umzusehn — in welchem aber für diese Wissenschaft nichts
geschah. — Ganz anders wurde es in der Renaissance, als sich in dem wieder-
aufgefundenen Griechenthum den Abendländern, wie nach langen schweren
Träumen, eine Verlorne Welt ausschloß. Von den Dichtern, Philosophen,
Historikern und Rednern wandte man sich in rastloser Thätigkeit bald auch zu
den stets hochgeehrten, doch kaum weiter als den Namen nach bekannten alten
Meistern der Naturwissenschaft, zu Aristoteles, Theophrast, Diostoridcs. Pli-
nius. Aber weit entfernt, sich jedem ihrer falsch oder richtig verstandenen
Aussprüche wie früher sklavisch zu unterwerfen, suchte man vielmehr ihre ver¬
dorbenen Texte durch Vergleichung der Handschriften zu berichtigen, verglich
einen Schriftsteller mit dem andern, stieß auf Widersprüche, unterzog sich im¬
mer kühner und sicherer.der Such- wie der Wortkritik, und thatvendlich den
entscheidenden Schritt: man kehrte von der überlieferten Naturwissenschaft zur
Natur selbst zurück. — So war denn die Zeit vorbereitet, wo die Naturkunde
sich in den Rang der freien Wissenschaft erheben konnte: sie beginnt um 1530
mit Otto Braunfels, und mit der Darstellung dieser Übergangsperiode schließt
der 4. Bd. — Auch in diesem Wendepunkt der Cultur fehlt es nicht an den¬
selben Erscheinungen, die uns zu Anfang dieses Jahrhunderts begegnen. „An
Obscuranten," sagt der Verfasser, „hat es nie gefehlt, so wie ihnen nie an gläu-
bigen Verehrern; die Wissenschaft schreitet achtlos an ihnen vorüber. Aber
auch wahrhaft geniale Männer verirren sich bisweilen in die dunkeln Regio¬
nen der Mystik und selbst des Aberglaubens, und wühlten im Gefühl ihrer
Überlegenheit über das gewöhnliche Maß unsrer Einsicht und Thatkraft die
ewigen Grenzen der Menschheit überschreiten zu können. Von ihnen gehn in
der Wissenschaft wie im Leben oft große Wirkungen aus. Schwache Köpfe
verwirren sie wol gar bis zur Verrücktheit, begabtere Naturen rütteln sie aus
aus dem Schlendrian ausgetretener Bahnen, durchbrechen verjährte Vorurtheile,
und erreichen oft glücklich, was den Vorgängern für unerreichbar galt." —
Man darf keineswegs annehmen, die Naturphilosophie sei bereits aus¬
gestorben; fortwährend machen uns neue Erscheinungen aufmerksam, wie noth¬
wendig es noch immer ist, die willkürliche Combination auf dem Gebiet der
Wissenschaft zu bekämpfen. Von einem der geistvollsten unter den Veteranen
dieser Schule, Geheimerath v. Schubert zu München, ist das Lehrbuch
der Sternkunde für Schulen und zum Selbstunterricht in dritter, großen-
theils ganz umgearbeiteter Auflage erschienen (Frankfurt a. M., Heyder und
Zimmer). Wenn in diesem Lehrbuch, seiner Bestimmung nach, der Mysticis¬
mus in den Hintergrund tritt, so haben wir ihn dagegen'in dem Werk: das
magische Geistesleben, ein Beitrag zur Psychologie von Sanitätsrath
Dr. Bruno Schindler zu Greiffenberg (Breslau, Korn), in vollster Blüte.
Der Verfasser stellt, wie alle Apologeten des Aberglaubens, die scheinbar un¬
schuldige Frage: „wer mag der Natur, der unendlichen, die Grenzen des
Möglichen bestimmen wollen? wer behaupten, die Natur besitze kein größeres
Feld der Möglichkeiten, als der Verstand des Einzelnen? wer mag einem Men¬
schen das Recht einräumen, uns die Fülle des Glaubens abzuwägen, wer die
Befugniß, uns die Grenzen des Wissens zu bestimmen?" und findet „in dem
polaren Wirken des Mensch engeistes den Grund alles Dämonischen,
aller Divination." Auf diese „Polarität des Geistes" gestützt, rehabilitirt er
Hexen und Zauberer, Seher und Propheten, Wunderthäter und Exorcisten.
Wie in dieser anscheinenden Ueberschwenglichkeit die schlimmste Sorte des Ma¬
terialismus die Hauptrolle spielt, zeigt schon die Bedeutung, die dem Tisch-
rücken für die Erforschung der Geisterwelt beigelegt wird, um von dem rei-
chenbachschen Ob ganz zu schweigen. Die christliche Kirche wird übrigens von
dieser Dämonologie nicht sehr erbaut sein, denn das Wunder und die Offen¬
barung Gottes reducirt sich hier auf. verborgene Kräfte der Natur, aus Teufels-
werk, wie der Katechismus sich ausdrücken würde, und den Priestern aller
Religionen, auch der christlichen, wird viel Schlimmes nachgesagt. — Einen
ganz andern Charakter hat die Symbolik der menschlichen Gestalt;
ein Handbuch zur Menschenkenntniß von C. G. Carus, zweite vielfach ver¬
mehrte Auflage, mit 16. Holzschnitten. (Leipzig, Brockhaus). Wir haben uns
über die Richtung des geistvollen Verfassers bereits bei Gelegenheit der ersten
Ausgabe ausführlich ausgesprochen. Wäre der Zweck der Wissenschaft aus¬
schließlich, anzuregen und auf bedeutende Combinationen aufmerksam zu machen,
so verdiente das Buch eine hohe Stelle: eine interessante Erscheinung bleibt
es immer.
Schon mehrfach haben wir darauf aufmerksam gemacht, daß man in dem
sogenannten Materialismus zwei ganz verschiedene Momente unterscheiden
müsse. Wenn die Naturwissenschaft, die einzig und allein mit der Materie
und ihren Wandlungen zu thun hat, alle Einflüsse der Theologie und Moral
von sich weist, so ist sie in ihrem vollsten Recht; die Theologie und Moral
haben mit der Naturwissenschaft ebenso wenig zu schaffen, als mit der Mathe¬
matik, und jede Einwirkung religiöser und moralischer Ideen kann den wissen¬
schaftlichen Fortschritt nur beeinträchtigen. Sobald aber die Wissenschaft der
Materie in das sittliche Gebiet übergreift, wiederholt sich dieselbe Erscheinung,
welche schon das Alterthum als Cynismus d. h. als Hundephilvsophie brand¬
markte, und für die wir noch heute keinen fassenden Ausdruck besitzen. Auch
unter den griechischen Cynikern gab es wohlgesinnte Männer, aber die Grie¬
chen fanden sich nicht veranlaßt, die Bezeichnung ihrer Lehre, deshalb zu än¬
dern.— Der lauteste und geschäftigste Apostel dieses erneuten Cynismus, der
Verfasser von „Kraft und Stoff," öl-. Louis Büchner, hat in einer neuen
Schrift: Natur und Geist, Gespräche zweier Freunde über den Materialis¬
mus und über die rcalphilosophischcn Fragen der Gegenwart, in allgemein
verständlicher Form (1. Bd., Makrokosmos; Frankfurt a. M., Meidinger)
seine alten Ansichten breiter, aber nicht geistvoller ausgeführt. „Mit einem
Gefühl der Verzagtheit, aber gestärkt durch das Bewußtsein, daß er nur von
einem redlichen Streben nach Wahrheit geleitet wurde, übergibt der Verfasser
die nachfolgenden Blätter in die Hände des gebildeten Publicums." Gehören
sie denn in diese Hände? Ist denn das „gebildete Publicum" der souveräne
Richter über Fragen von tiefstem speculativem Gehalt? Dem „gebildeten
Publicum" lassen sich ohne viel Kunst Gründe beibringen, die Moral nach
dem Maßstab des (geistlosen) Naturgesetzes zu behandeln d. h. die Menschen
auch in ihrer moralischen Function mit den Thieren auf eine Stufe zu stellen,
aber hier sind auch materielle Gegengründe um Ort, d. h. die Hinweisung
auf die Folgen solcher Lehren, was auf dem Boden der Wissenschaft nicht
statthaft wäre. Es ist genug darüber gesagt, zum Ueberfluß weisen wir auf
einige Gegenschichten hin: Kritik des Materialismus von Robert
Schellw im (Berlin, Müller), der, ohne die angeblichen Thatsachen zu bestrei-
ten, die logischen Folgerungen in ihrer Nullität darstellt; Tttgesfragen ans
der Naturgeschichte, vorurteilsfrei beleuchtet von C. G. Geibel (Ber¬
lin, Bosselmann), der die Thatsachen kritisirt und die unvollständige Begrün¬
dung derselben auf dem Geöiet der Naturbeobachtung nachzuweisen sucht;
endlich die Prätension der exacten Naturwissenschaft beleuchtet und
mit polemischen Glossen wider Hrn. Prof. Schleiden begleitet vom Super¬
intendenten Dr. Frantz zu Sangerhausen (Nordhausen, Büchting), der den
theologischen Gesichtspunkt geltend macht.
Es wird einem wohl, wenn man aus dieser Dürre der Abstraktion in
das concrete Leben der Natur eintritt. Der Verfasser des Werks: Das Wasser;
eine Darstellung für gebildete Leser und Leserinnen von Roßmäßler, (mit
8 Lithographien in Tondruck und 47 Illustrationen in Holzschnitt (Leipzig,
Brandstetter) gehört nach seiner eignen Erklärung in Bezug auf seine wissen¬
schaftliche Stellung zu der materialistischen Schule; sein Buch ist aber in sei¬
ner sittlich ästhetischen Haltung durchweg das Gegentheil des Cynismus, den
wir bei jener Schule so oft zu bekämpfen haben. Es genügt, unter den neun
Abschnitten (das Wasser in seinen chemischen und physikalischen Eigenschaften;
als Bestandtheil des Luftmeers; als Regulator des Klimas; als neugestaltende
Macht; das Meer und die Gewässer des Festlandes; das Wasser als Ernährer;
als Wohnplah für Thiere und Pflanzen; als Vermittler des Verkehrs und
als Gehilfe der Gewerbe; als künstlerisches und als poetisches Element) auf
den letzten aufmerksam zu machen, um zu zeigen, wie weit entfernt der Ver¬
fasser davon ist, die Natur mit den Augen eines bloßen Anatomen zu betrach¬
ten. „Es war manchmal sogar nicht zu vermeiden, daß bei unsern Wande¬
rungen durch das große Gebiet des Wassers eine poetische Wallung über uns
kam, denn darin liegt eben die Macht des Erhabenen, daß wir uns ihr nicht
entwinden können, und bei aller Verpflichtung, die wir haben, die Natur zu
kennen, sollen wir sie auch empfinden. Leider artet dies bei vielen leicht in
Empsindeln aus, was nur eine bleichsüchtige Naturanschauung gibt."
„Manche Aeußerungen scheinen anzudeuten, daß man den Zwiespalt zwi¬
schen dichterischer Auffassung und wissenschaftlicher Lehre aufrecht zu erhalten
wünschte oder dessen Ausgleichung mindestens sehr unbequem finde; denn was
Anderes kann dem Vorwurf zu Grunde liegen, daß die immer tiefer dringende
Naturforschung die Natur des poetischen Reizes entkleide?" Wie falsch das ist,
lehrt hauptsächlich der Hinblick auf die bildende Kunst. „Die Landschafts-
malerei hat sich immer mehr gedrungen gefühlt, in ihre» Darstellungen die
Wahrheit und Wirklichkeit der Natur ins Auge zu fassen, und manche Land¬
schaftsmaler haben den Weg glücklich gefunden, der zwischen der phantastischen
und der starr naturwissenschaftlichen Auffassung liegt." „Der einigermaßen
kunstgelünterte Geschmack verfehlt nicht, am Wolkenhimmel kritische Studien zu
machen, denn es gibt vielleicht kein Gebiet der darstellbaren Natur, auf dem
man so bestimmt lernen könnte, daß die Natur nicht überall malerisch schön
ist, daß zu einem schönen Bild mehr als blos die treue Nachahmung der
Natur gehört." „Die Wolke ist in der Hand des geistvollen Malers ein wirk¬
sames Mittel, seinen Landschaften dichterische Stimmung zu geben. Leider
aber begegnet^man nicht eben vielen Landschaften weder der altern noch der
neuern Zeit, in denen die Wolken mit dem Charakter der dargestellten Ansicht
in einem nothwendigen harmonischen Zusammenhang stehn." „Für den rei¬
senden Naturfreund haben die Wolken noch eine ganz besondere Bedeutung
durch ihre Schatten, die sie ans die Gegend werfen, mögen sie über die hoch¬
stehende Sonne wegziehn, oder diese beim Unter- oder Aufgang zwischen sich
hindurchblilzen lassen. Die Ansicht einer weiten, h-ügeligen Landschaft von
einem hohen Standpunkt ist bei voller Tagesbeleuchtung und wolken¬
losem Himmel oft leblos und gewissermaßen unverständlich, weil das volle
Licht das Relief nicht hervortreten läßt. Ziehende Wolkenschatten bringen
Verständniß und Bewegung in das Bild." — Wie die Natur als .Kunstobject
in seiner Seele gegenwärtig ist, so möchte der Verf. in diesem Buch den bestimmten
Theil derselben, den er darstellt, künstlerisch abrunden. Er faßt den Gesammt-
eindruck zum Schluß zusammen. „Wenn der Gedanke den mächtigen Gletscher-
rörpcr durchschaut bis hinunter auf seine ewig unsichtbare Bahn und man,
ohne es zu sehn und zu fühlen, doch weiß, das; der starre Riesenleib mit uns
abwärts gleitet und dabei in ewiger Verjüngung keinen Augenblick derselbe
bleibt, wenn man daran denkt, daß das Eis der unreinen Oberfläche, auf der
man steht, vor Jahrzehnten als lauteres Hochcis in stundenweiter Entfernung
in dem Kessel des Schneefeldes strahlte, — wenn man so den Gletscher geistig
durchdringt, so erscheint uns in ihm das Wasser, der muntere Wanderer, in
den Banden einer Verzauberung. Nicht weit haben wir zu gehn, um die
Tropfen, von denen die Sonnenstrahlen den Bann lösten, als muntern Bach
zu finden, der sich von tausend Hindernissen nicht abhalten läßt, weiter, immer
weiter zu dringen, bis er, an hoher Felsenkante angekommen, in kühnem
Sprunge hinunterstürze in das Thal, daß die auf kurzem Laufe verbundenen
sich wieder in tosenden Gewimmel in der Lust entzweien, als erinnerten
sie sich der Zeit, wo sie auf hoher Alpenzinne als tanzende Flocken nieder¬
fielen. Doch unten sammeln sie sich wieder und prüfen ihre junge Kraft am
Mühlradc, das ihnen der Mensch auf ihren müßigen Weg hingestellt hat.
Und weiter geht ihr Lauf durch das blühende Thal; sie halten treu und innig
zusammen als starker Bach und plaudern unterwegs mit den Blumen am
User, denen sie von ihren Alpensehwcstern Grüße bringen. Bald aus jener,
bald aus dieser Felsenschlucht kommt ein junger Reisegenosse herzugelaufen,
und in Eins verbunden geht es vorwärts. Plötzlich sehen sich die Verbrüder¬
ten getrennt, denn der grüne Alpensee nahm den ankommenden Bach auf,
daß sich dessen Tropfen darin verlieren. Doch nein, sie erkennen einander
noch an ihrem unsaubern Reisekleid, durch das sie von den klaren Wellen des
Sees so sehr abstechen,' daß sie sich schämen und sich säubern. Die alten
Neisespuren lassen sie eilig fallen und kaum ein Viertelstündchen dauerts,, so
unterscheidet man sie kaum noch, und wo bald nachher links der sicbenfußige
Giesbach hereinschäumt, da kann man schon errathen, daß unten bei Unter¬
seen die Gäste des Sees an Lauterkeit alle Eins von ihm Abschied nehmen
werden." —
An dies ausgezeichnete Werk knüpfen sich einige leichtere Schriften von
populärem Charakter, die aber ihrer entsprechenden Form wegen auf den Bei¬
fall der Menge rechnen können- Der Kalender der Natur, mit zahlreich.er
Holzschnitten von I. Schmorr (erster Jahrgang, Stuttgart, Ad. Becher), und
das Buch der Pflanzenwelt: Botanische Reise um die Welt von Karl
Müller. Mit sechs Ansichten in Tondruck von L. Hofmann und 90 Holz¬
schnitten (Leipzig, Spamer). — Auch einige wissenschaftliche Werke specialer
Richtung wollen wir hier wenigstens erwähnen, obgleich durch die Natur un¬
serer Blätter ein näheres Eingehn auf diesen Gegenstand ausgeschlossen ist:
Die Chemie und Industrie unserer Zeit, oder die wichtigsten chemischen
Fabrikationszweige nach dem Standpunkt der heutigen Wissenschaft, in popu¬
lären Vorträgen von H. Schwarz, Director der sächsisch-thüringischen Actien-
gesellschaft für Braunlohlenverwerthung; mit vielen in den Text eingedruckten
Holzschnitten. Erster Band, die Verarbeitung unorganischer Körper (Breslau.
Kern). Ferner eine Sannnluug, der wir schon viele nützliche Belehrungen
verdanken: Aus der Natur; die neuesten Entdeckungen auf dem Gebiet der
Naturwissenschaften (Leipzig,. Ambr. Abel). Der 10. Bd. dieser Sammlung
enthält die Abhandlungen: Cement und hydraulischer Kalk; über die Sinne:
4) das Hören; Ursachen der Wärme; der Wein.
Zum Schluß die Notiz, daß von Kiöbenh Handbuch der Erdkunde
(Berlin, Weidmann), das auf die wissenschaftliche Bildung eine höchst günstige
Wirkung ausüben wird, bereits vier Lieferungen erschienen sind; sie umfassen
die Abschnitte: astronomische Geographie; die Erdoberfläche; Vulkanismus
und die Erdrinde.
Die Festwoche ist dahin, die Aufzüge. Deputationen und Adressen sind
vorbei, die Geschenke sind übergeben, die Musik ist verklungen, alles kehrt
allmälig in das gewohnte Geleise zurück und mit dem Aschermittwoch hüllt
man sich wieder in das Grau des Alltagslebens. Aber es war eine schöne
Woche, in der die Herzen höher schlugen und man von Herzen ein Ereigniß
feierte, das allen Patrioten als ein glückliches gilt. Daher war der Charakter
der Februarfcste die Freiwilligkeit, es war nichts Gemachtes dabei, nichts
obrigkeitlich Befohlenes, alles drängte sich aus freiem Triebe das junge fürst¬
liche Paar zu bewillkommnen und zu ehren, das eine glückliche Zukunft und
ruhmreiche Zeiten zu verheißen scheint. Und war dazu nicht etwa Grund
vorhanden? Wie anders mußten Deutsche und Preußen den Einzug der
königlichen Tochter, des freien England begrüßen, als etwa eine russische
Großfürstin, die mit ihren Popen angezogen kommt! Die Theilnahme an
allem, was das angestammte Fürstenhaus betrifft und namentlich an allem,
was ihm eine neue Bahn zu eröffnen scheint, muß besonders lebhaft in
Preußen sein; denn, wenn in jedem Lande die Geschicke der Dynastie und
des Volkes innig verbunden sind, so ist dies in Preußen noch in besonderm
Maße der Fall, wo Krone und Nation nicht getrennt zu denken sind und
eins durch das andere groß geworden ist. Und so lebhaft unsere Wünsche
für die Entwicklung freier Institutionen sind, so fühlen wir doch durchweg,
daß sie der monarchischen Ordnung angegliedert sein müssen, daß, so thöricht
die Theorien der Legitinütätspolititer sind, es doch ein unschätzbarer Segen
für ein Volk ist, wenn es mit seinem Fürstenhause so eng verwachsen ist. daß
an den Ursprung der Verbindung nie mehr gedacht wird, sondern jeder nur
der Gewißheit lebt, so müsse es sein. Der große Einfluß, den Familien¬
verbindungen auf die Geschicke der Dynastien und somit mittelbar auf die der
Völker haben, wird deshalb um so mehr in Preußen empfunden, und diesmal
begrüßte das Land in' der Prinzessin von Großbritannien und Irland nicht
nur eine glückliche persönliche Wahl des dereinstigen Erben der Krone, son¬
dern erblickte darin mit Hoffnung und Befriedigung die Wiederanknüpfung einer
Verbindung, die mehr als alle andere Preußens Größe befördert, ja einen
Grundstein zu ihr gelegt hatte. Jede Allianz mit England hat das Land
einen Schritt weiter aus seiner Bahn geführt, jeder Zwist mit England hat
es mehr als einen Schritt zurückgeworfen. Der große Kurfürst von Branden¬
burg war der Vertraute Königs Wilhelm III., des Wiedcrherstellers der
politischen und religiösen Freiheit Englands, unter ihm stritten ein branden-
burgischcr Marschall und brandenburgische Truppen. Die Stammmutter des
neuen englischen Königshauses, die Herzogin Sophie, war auch die Mutter
der ersten Königin von Preußen, der Gemahlin Friedrich I.. der Freundin
Leibnitzens, Sophie Charlottens. Ihr Sohn,- der die Elemente des neuen
Staates consolidirte und die Werkzeuge für des großen Friedrich Erfolge schuf,
die Armee und die Finanzen, hatte die Tochter Georg I. Sophie Dorothea
heimgeführt; sie wünschte, wie man weiß, eine Doppelheirath ihres ältesten
Sohnes und ihrer ältesten Tochter mit den Kindern ihres Bruders; die Ränke
der kaiserlichen Partei und ihrer treulosen Helfershelfer Grumbkow und Evers-
mann vereitelten diese hoffnungsvolle Verbindung. Aber Friedrich, den keine
dynastischen Bande mit Großbritannien vereinigen sollten, schloß einen
festen politischen Bund mit dem großen Staatsmann, dessen scharfer Blick sah,
daß Amerika in Deutschland erobert werden müsse, England und Preußen standen
damals allein gegen eine Welt in Waffen. Der Verrath Lord Butes war
es, der Friedrich zu dem ersten verhängnißvollen russischen Bündniß nöthigte.
Die französische Revolution trennte beide Länder, der Annahme des Danaer¬
geschenkes, Hannover, folgte Jena, aber vereint sahen die Befreiungskriege
beide Völker in Waffen und gemeinsam war der Sieg von Waterloo. Die
traurige Politik der heiligem Allianz, mit Englands Gesetzen unverträglich, trieb
Preußen wieder in russische Netze, in denen es nur Demüthigungen und Ver¬
luste gefunden, welche vorläufig mit dem londoner Protokoll endigen. Ist
es da nicht natürlich, daß man mit Jubel die Wiederanknüpfung der alten
Familienverbindung mit dem protestantischen Königshause eines freien Volkes
begrüßt? Solche Gedanken mußten wol an einem tiefer blickenden Beobachter
vorübergehen, der die alterthümliche Prachtkarosse mit den beiden Königs-
lindern in das brandenburger Thor einziehen sah. während die Kanonen
donnerten und die Lebehochs ertönten.
Die ältesten Berliner erinnerten sich eines solchen Aufschwunges der Be¬
geisterung seit 1815 nicht mehr, aber allerdings Berlin mußte sich auch anstrengen,
wenn es nach dem Triumphzug, den das junge Paar durch das Land gemacht,
nach den Huldigungen, welche Aachen, Köln, Magdeburg, Potsdam geboten,
würdig den Rang als Residenz behaupten wollte. Die Prinzessin Friedrich Wil¬
helm sagte dem Lord Mayor auf seine Glückwünsche, sie hoffe für den schwe¬
ren Abschied von der Heimath einen Trost in einem freundlichen Empfange in ihrer
neuen Heimath zu finden, sie hat sich nicht getäuscht und wird sich befriedigt fühlen,
denn mehr als Ehrenpforten, Böller, Festgedichte wird ihr der Willkomm des Vol¬
kes zu Herzen gegangen sein. Gestehen wir es auch offen, daß wir den äußern Arran¬
gements der berliner Stadtbehörden keinen rechten Geschmack abgewinnen konnten,
(die Linden bieten ein ausgezeichnetes Feld für Festdecorationen, und hätte man
die Bäume mit grünen Guirlanden verbunden, so wäre ein sehr schöner
Effect erzielt, die Obelisken mit Flaggenstangen dagegen boten einen ziemlich
dürftigen Anblick) so war das bei dem Einzug ganz Nebensache. Die Haupt¬
sache war neben dem Festzug die bunte Volksmasse; die dichtbesevten Tri¬
bunen, Fenster, ja Dächer, müssen für die Einziehenden ein nicht weniger
anziehendes Schauspiel geboten haben, als sie selbst den Berlinern gewährten.
Das Wetter begünstigte die Festlichkeit, ein klarer, kalter Wintertag ging über
der Stadt aus, in die von frühem Morgen an Scharen von Schaulustigen
strömten, die Läden waren geschlossen, von allen Querstraßen der Linden
zogen die Processionen der Gewerke mit flatternden Bannern und klingendem
Spiele auf und reihten sich längs der mittlern großen Ausfahrt. Das Gedränge
ward stärker und stärker, nach 11 Uhr war es schon schwer, von einer Seite
der Linden auf die andere zu kommen, indeß nicht der geringste Exceß kam
vor, geduldig wartete die Menge und belustigte sich an den Sprüngen einiger
Clowns, die ihr Wesen allein in der Mittelallec treiben durften, und an der
Musik, die nicht aufhörte. Mittlerweile war das prinzliche Paar über Schöne¬
berg den Kanal entlang nach Schloß Bellevue gefahren, wo der König und
die Königin dasselbe erwarteten. Der König, der sich in diesen Tagen besser
befand, umarmte die Prinzessin aufs herzlichste und sprach sein Bedauern aus,
sie nicht besser empfangen zu können. Von Bellevue aus fand der Einzug in
der Residenz statt, am kleinen Stern, wo die Schloßallee in die Charlotten¬
burger Straße mündet, waren die 40 Postillons, welche aus den verschiedenen
Theilen der Monarchie berufen und hier eingeübt wurden, unter Anführung
des Oberpostmcisters Bälde ausgestellt, neben ihnen die berittenen Corps des
Schlächtergcwerks und der Kaufleute unter der Oberleitung des Stadtrathes
Riedel. Das Musikcorps der Kaufleute trug die gelbe und schwarze Uniform
der Lifeguardsmusik. Durch eine Linie in Berlin garnisonirender Fu߬
regimenter bewegte sich der Zug dem Thore zu. voran ein Piket Gardedra¬
goner, drei sechsspännige Hofwagen, die Schlächterinnung, dann der mehr
alterthümlich interessante als schöne, vergoldete Galawagen, der für die Krö¬
nung Friedr. Wilhelm IV. gebaut wurde, mit dem erlauchten Ehepaar und
der Obersthofmeisterin der Prinzessin, Gräfin Perporcher, acht prächtige Rappen
geführt von reich gekleideten Stallmeistern zogen die Karosse im Schritt, dar¬
auf folgten Hofwagen und Gardedragoner. Um 1V2 Uhr verkündeten die
Kanonen und Glocken die Ankunft des Zuges am brandenburger Thore, nach
kurzer Begrüßung durch den Polizeipräsidenten und den Feldmarschall von Man¬
gel, hielt der Bürgermeister der Stadt Berlin H. Krausnick eine längere Begrü¬
ßungsrede an das erlauchte junge Paar, die mit den Worten schloß: „Gnä¬
digste Fürstin und Frau, Englands Volk wird in seiner Erwartung von
Preußens ihm ebenbürtigen Volke jetzt so wenig getäuscht werden, als es in
jenen Tagen getäuscht ward, wo einst zum ernsten Kampf festverbündet beide
Völker treu zusammenstanden." Dadurch, daß dem Bürgermeister es vorbehalten
blieb, den eigentlichen Willkomm an die Prinzessin zu richten, ward der Feier
der städtische und bürgerliche Charakter auch officiell vorbehalten. Wir konn¬
ten während der Wagen bei dieser Rede hielt, das junge Paar von der
Estrade aus betrachten, der Prinz trug Generalsuniform mit dem Band des
schwarzen Adlerordens, die Prinzessin ein diamantnes Diadem und einen Her-
melinmantel. Langsam bewegte sich daraus der Zug über den pariser Platz
die Linden hinauf, an ihn schlossen sich die Schützengilde und der Reihe nach
die übrigen Gewerke. Zu nennen waren unter letztem besonders die Klempner
welche zwei prächtige geharnischte Ritter aufgeputzt Hatten, und die Fischer,
von denen einige, als englische Matrosen gekleidet, ein zierliches kork-
behcmgcnes Netz mit Silberfischen trugen. Jedes GeWerk hatte übrigens seine
Embleme, welche auf hohen Stangen neben den Fahnen einhergetragen
wurden, die Kürschner hatten sich mit großen Pelzen, die Zimmerleute
theilweise als englische Sappeurs mit Bärenmützen costumirt, die Arbeiter der
großen Maschinenfabriken von Borsig, Egells u. s. w. kamen mit kunstvoll
gearbeiteten Locomotiven und Pumpen angezogen. Von der Tribune am
Opernhause hatte man einen herrlichen Anblick, die Menschenmasse, die ele¬
ganten Toiletten, die Ausschmückung der Privathäuser mit Fahnen. Teppichen
und Inschriften bildeten ein schönes Schauspiel. Am Friedrichsdenkmal erwar¬
teten die 40 Postillone den etwas zurückgebliebenen Zug und setzten sich mit
dem schmetternden „Wohlauf Kameraden, aufs Pferd, aufs Pferd" an die
Spitze desselben, über den Opernplatz und die Schloßbrücke, an der reich¬
beflaggte Schiffe lagen, dem Schloßthore zustrebend, die Hochs und Hurrahs
wollten nicht enden. Darauf defilirten sämmtliche Aufzüge über den Schloß-
Hof vor dein jungen Paare vorbei, das vom ersten Stock aus zuschaute; erst
um 5 Uhr war die Procession beendet. Am Abend entfaltete sich eine glän¬
zende Illumination, wie Berlin sie seit langer Zeit nicht gesehen hat,
leider war, theils wol durch den Wind, die Beleuchtung des Friedrichdenkmals
ebenso sehr verfehlt, als die elektrische Verklärung des brandenburger Thores,
wo grade die Victoria ganz im Dunkel blieb, ein Dutzend bengalische Flam¬
men hätten besser gewirkt. Sonst aber strahlten die Linden und die Wilhelm¬
straße in reichem Glänze, die Hütels der französischen, sächsischen, östreichi¬
schen, und namentlich der englischen und türkischen Gesandtschaft, das Marine¬
ministerium, das Rathhaus, und vorzüglich die Hoflieferanten hatten sich
selbst überboten. Unter letztern zeigten der Hoftapezier Hiltl und der neu¬
ernannte Hofjuwelier der Prinzeß Friedrich Wilhelm eine, süperbe Geschmack¬
losigkeit; letzterer hatte, um seine Dankbarkeit zur Schau zu stellen, seine ganze
Fayade mit rosa Kattun drapirt. Gegen 10 Uhr machte das prinzliche Paar
eine Rundfahrt durch die Stadt, die Erleuchtung in Augenschein zu nehmen.
Wir erwähnen von diesem ersten Tage nur noch, daß an der königlichen Tafel
im weißen Saale der Prinz von Preußen zwei Toaste ausbrachte, den ersten
auf die Majestäten von England und Preußen, den zweiten auf das hohe
neuvermählte Paar, und auf die glückliche Allianz zwischen Preußen
und Großbritannien.
Am Dienstag, den 9. Febr., fand im Schlosse die Beglückwünschung der
Stadt und die Uebergabe ihrer Geschenke statt. Nach alter Sitte sollten weih¬
gekleidete Jungfrauen das fürstliche Paar mit eurem Gedichte beim Einzug
begrüßen, aber in Rücksicht ans die Ungunst der Jahreszeit hatte der Prinz
Friedrich Wilhelm selbst gebeten, diese Begrüßung in das Schloß zu verlegen,
die Schar der Jungfrauen, geleitet von Ehrenmüttern und Cavalieren, erschien
demnach um 11 Uhr vor dem jungen Paare, gleichzeitig eine Deputation der
Stadt aus Mitgliedern des Magistrats und der Stadtverordneten bestehend;
nachdem Fräulein Krausnick mit einigen Versen das kalligraphisch und male¬
risch prächtig verzierte Festgedicht übergeben und Fräulein Naunyn eine poetische
Ansprache an den Prinzen gehalten, welche schloß:
Und alles sage dir dies eine Wort:
Laß reisen, Herr, was deine Väter sa'den;
führte der Oberbürgermeister Krausnick das Festpaar zu den Geschenken, welche im
Hintergrunde des Saales aufgestellt waren, und, man muß es gestehen, einer gro¬
ßen Residenzstadt würdig sind. Das Mittelstück bildet eine Vase mit Plateau auf
einem Tische, an beiden Seiten steht ein großer Kandelaber, das Ganze ist aus
gediegnem Silber im reichen Renaissancestil gearbeitet. Das Untergestell des
Tisches, »4 Zoll hoch, bietet das Motiv des antiken Dreifußes mit prächtigen und
geschmackvollen Verzierungen, die Platte, 30 Zoll im Durchmesser, zeigt in der
Mitte den Grundriß Berlins, aus dem etwas erhabenen Rande die Wappen
der verschiedenen Stadttheile in mattem Goldgrunde. Die Vase selbst, etwa
vier Fuß hoch, ist mit allegorischen und auf den Einzug bezüglichen Reliefs reich
verziert, man erblickt darin zahlreiche Porträts wissenschaftlicher und künstleri¬
scher Notabilitäten, wie Humboldt. Grimm, Rauch, Cornelius, Böckh :c., auf
dem Deckel steht eine Bcrolina mit dem Bären im Wappenschild, die
Schlüssel der Stadt haltend. Die Kandelaber sind an neun Fuß hoch mit
einem Säulenschaft von entsprechender Stärke, der auf drei Löwenklauen ruht,
vielfache allegorische Verzierungen fehlen auch hier nicht. Zu dem Ganzen
sollen fünf Centner Silber verwendet sein; ähnliche Silbergeschenke sind von an¬
dern Städten, wie Stettin und Magdeburg überreicht, Breslau schenkte einen
kunstvollen Teppich, Minden brachte Westphalens drei vorzüglichste Erzeugnisse
dar, ein Stück feinster Leinwand, Schinken und Roggenbrod, den sogenannten
Pumpernickel. Am Dienstag Abend fand eine große Cour bei dem fürstlichen
Paare, im Schlosse statt, das diplomatische Corps war vollzählig vertreten
und ward der Prinzessin durch den Obersttruchscß, Grafen Redern vorgestellt,
der weiße Saal strahlte im höchsten Glänze der Kerzen und Toiletten, deren
Pracht alles hier Gesehene übertraf. „Welch reicher Himmel! Stern bei Stern!
wer kennet ihre Namen," konnte man wol rufen, wenn man von der Galerie
auf das glänzende Gewimmel, die goldgestickten Uniformen und Schleppen,
die Ordenssterne und Juwelendiadcme herabschaute. Die Prinzessin Friedrich
Wilhelm trug ein Kleid von Silbcrmoor mit Schleppe vom selben Stoffe in
Rosa mit Blumen besehe, die von zwei Ehrcnpagen getragen ward, ihren
Hals zierte das kostbare Brautgeschenk ihres Gemahls, eine Schnur von 32
dunkeln Perlen, deren Schloß gleichfalls durch eine Perle gebildet wird, der
Busen war ebenfalls mit Perlen geschmückt, auf dem Haupte trug sie ein
diamantnes Diadem, das Hochzeitsgeschenk des Königs und der Königin. Die
Prinzessin ist nicht regelmäßig schön, aber im höchsten Grade anziehend. Man
hat gesagt, der Geist liege in den Augen, die Seele gebe sich in der Stimme
und im Mienenspiel, des Mundes kund, dies trifft auf das vollkommenste bei
der Prinzessin zu, ihre klugen tiefen Augen zeigen untrügbar, daß sie einem
intelligenten Köpfchen angehören, und die weiche, klare Stimme, ein unbcschreib-
licherZug von Anmuth, derumden Mund spielt, zeugenvon einem liebevollen.weib-
lichen Herzen. Es ward allgemein bemerkt, daß sie ihre Cour mit sehr vie¬
lem Geschick abzuhalten wußte. Wir bedauerten, in dem Kreise der Fürstlich¬
keiten die anmuthige Großherzogin von Baden zu vermissen, sicher eine der
reizendsten Prinzessinnen unsrer Zeit; die Mutter darf wol auf Tochter und
Schwiegertochter stolz sein. Gegen halb neun Uhr. verkündete der Stab des
Oberccremonienmeisters die Ankunft des Hofes im weißen Saale, und unter
den prächtigen Tonwellen des mendelsohnschen Marsches aus dem Sommer-
nachtstraum zog die fürstliche Polonaise auf. es tanzten diesmal nur Prinzen
und Prinzessinnen von Geblüt, unter ihnen sah man die Großherzoge von
Weimar und Mecklenburg-Schwerin, die liebliche Erbprinzessin von Augusten¬
burg und die Prinzessin Stephanie von Hohenzollern, die künftige Königin
von Portugal. Gegen 9VsUhr war das Fest beendet. —
Am Mittwoch dem zehnten, so wie an den folgenden Tagen empfing das
fürstliche Paar noch zahlreiche Adressen und Deputationen, der Akademie der
Wissenschaften und schonen Künste, der Universitäten so wie der Hänser des
Landtags. Wir erwähnen darunter nur der sinnigen Rede, mit der Prof.
Trendelenburg als Secretär der Akademie auf die Forderung, die das deutsche
Geistesleben durch Preußens erste Königin, eine welfische Fürstin, welche die
Akademie gegründet, erfahren, und wie andrerseits die Bedeutung des an>-
terlichen weimarscher Fürstenhauses hervorgehoben ward. Auch der Prinz
und die Prinzessin von Preußen empfingen eine Reihe von Beglückwünschungs-
deputationen, unter denen die der Landesuniversitäten die bemerkenswertheste
war. Prof. Rudorff sagte in seiner Rede unter andernn „Es ist nicht unsere,'
Aufgabe, die hohe politische Bedeutung zu würdigen, welche die Verbindung
Preußens und Großbritanniens nach dem Gedanken König Friedrichs des
Zweiten anspricht; die dankbare Hoffnung aber dürfen wir aussprechen, daß
die größesten und ernstesten Bestrebungen unserer Nation für die Freiheit des
Glaubens und die Tiefe > des Erkennens durch die innige Verbindung des
durchlauchtigsten preußischen, weimarscher und britischen Fürstenhauses eine
neue Bürgschaft gewonnen haben." Der Deputation ward der huldvollste
Empfang zu Theil.
Am Abend des zehnten versammelte sich die ganze hoffähige Welt zur
Galaoper, wozu Spontinis Bestalln gewählt war. Der dccorative Theil der
Vorstellung war sehr schön, der musikalische äußerst schwach, indeß die we¬
nigsten Augen der Geladenen waren wol auf die Bühne gerichtet, es war
eine Borstellung, die man selbst sich selbst gab; in eminenten Sinne durfte
man sagen:
Die Damen geben ihren Putz zum Besten
Und spielen ohne Gage mit.
In den Zwischenacten hielten die höchsten Herrschaften im Foyer Cercle, die
Prinzeß Friedrich Wilhelm war sehr einfach gekleidet, sie trug im Haar einen
Kranz von sammtnen Epheublättern mit diamantnen Rosetten, neben ihr be¬
merkte man unter einem strahlenden Diadem auch das liebliche Gesicht der
Prinzeß Friedrich Karl, die auf der gestrigen Cour nicht zugegen war. Don¬
nerstag Abend versammelten der Prinz und die Prinzeß von Preußen die
Gesellschaft zu einem glänzenden Balle in den schönen Gemächern ihres weiten
Palastes, am Freitag ward die Uniform und mit ihr die Ezclusivität abge¬
legt, in den Räumen der Oper, wo am Mittwoch nur Geladne eindringen
konnten, fand ein «ubscriplionsball statt, in dem der bürgerliche schwarze
Frack sein Recht wieder bekam. Bühne und Parquet waren in einen großen
Saal verwandelt, wo sich in engbeschricbnen Kreisen die tanzenden Paare be¬
wegten, das Haus, sinnreich mit Blumen ausgeschmückt und strahlend von
Tausenden von Gasflammen, bot einen prächtigen Anblick. Paris kaun nichts
Aehnliches in diesem Stile aufweisen, es gibt dort auch Opernbälle, aber das
Publicum derselben ist bekanntlich äonri-annis. Der Hof war sehr zahlreich
vertreten, er machte unter Bortritt des Hrn. v. Hülsen einen Rundgang durch
das Haus und sah dann dem Tanzen und Treiben aus den königlichen Pro-
sccniumslogcn zu, die gegenüberliegenden waren für das diplomatische Corps
reservirt, die Prinzessinnen tanzten nur die erste Polonaise mit, den Prinzen
Friedrich Wilhelm sah man auch später vielfach in dein bunten Gewühl,
gegen elf Uhr zog der Hof sich zurück. Der Sonnabend Abend brachte noch
eine ganz deutsch eigenthümliche Feier, einen Fackelzug der gesammten
Studentenschaft. Nach manchem Zwist zwischen Corps und Nichtcorps war
die Sache endlich zu Stande gekommen bald nach sechs Uhr begann der
Zug vom pariser Platz die rechte Seite der Linden hinaus. Es mochten
wol 7—800 Fackeln sein, die Chargirten mit Schärpen und blanken Schlägern,
theilweise zu Pferde an der Spitze der Abtheilungen, Musik vorauf, der Ein-
'druck der so hervorgebrachten Beleuchtung war düster-prächtig. Die Fackeln
wurden später auf dem Platz beim Lustgarten unter Absingen des (^uäcürinuL
verbrannt. Nach neun Uhr erschien der Hof auf dem großen Balle, welchen
der Ministerpräsident gab, ein glänzendes Fest bei dem englischen Gesandten
Lord Bloomfield schloß am Montag Abend die Reihe, vor dem Hotel glänz¬
ten die Namenszüge der Neuvermählten zwischen Gassonnen. Das junge
Paar wird Ende der Woche nach Weimar reisen, wo der Prinz seine Gemah¬
lin der Größt)erzi5gilt Mutter vorzustellen gedenkt, wir wolle» wünschen, daß
Cnglands Tochter'nicht zu ermüdet von den Feste» ist, welche sie durchzu¬
machen gehabt hat. sie hat jedenfalls gesehn, daß ihr alle Herzen entgegen¬
schlagen. So viel menschliche Voraussicht urtheilen kann, scheint ihr und ihrem
Gemahl ein glückliches Loos beschicken, möge der Schwung des Enthusias¬
mus, der beide begrüßt hat, sich mir läutern und abklären zu jener herzlichen
Anhänglichkeit, die das schönste Band zwischen Boll und Fürsten ist und
bleibt. ' Die letzte Woche wird allen, die sie in Berlin erlebten, unvergeßlich
bleiben, der Druck, die Niedergeschlagenheit, die Berstimmtheit., die in den
legten Jahren auf allen lasteten, schien abgenommen, das hämische Geschrei der
Kreuzzeitungspartei verstuniinte, und die Russeufreunde schwärmten plötzlich für
germanische Freiheit — redete doch selbst Strudelwitz und Prudelwitz im Klad¬
deradatsch englisch. Daß der Junkerpartei die Berbindung mit England lieb
ist, kann niemand glauben; sie macht gute Miene zum Spiele, das sie nicht
mehr ändern kann.' Möge uns die Hoffnung nicht täuschen, daß ihr Treiben
der Vergangenheit angehört und daß sie zu ohnmächtig sein wird, um Preußen
abzuhalten, in die neue Bahn einzulenken, die sich vor ihm aufthut. Gott
schütze Land und Königshaus!
Memoiren des Marschalls Marmont, Herzogs von Ragusa. Herausgegeben nach
dessen hinterlassenen Original-Manuscript, Aus dem Französischen übersetzt
und mit einer Einleitung von C, Goldbeck. > Vollständige Ausgabe in
4 Bd. — Bd. 1. 2. (Potsdam, Stein).
Marmonts Memoiren, seit der Veröffentlichung der Korrespondenz Napo¬
leons mit seinem Bruder Joseph vielleicht der wichtigste Beitrag für die Ge¬
schichte des großen Kaisers, haben in der jetzt in Frankreich herrschenden
Partei einen ungewöhnlichen Zorn hervorgerufen, und bereits eine ganze Flut
von Gegenschriften veranlasst. Man kann nicht leugnen, daß Marmont in
seinen persönlichen Angriffen sehr bitter ist. und namentlich in seiner Polemik
gegen den Vicekönig von Italien das Maß überschreitet. Zudem spricht er
von Napoleon 1. nicht wie von einem übermenschlichen Wesen, sondern wie
von einem Menschen voll großer Gaben und Leidenschaften, der. wie er an
Kraft seine Umgebungen überragte, so durch seine Schwächen und Verirrun-
gen ihre Kritik herausforderte. Zu den Zeiten der Restauration war es nicht
erlaubt, von Napoleon anders zu reden als von einem menschenfeindlichen
Tyrannen, heute gilt es für eine Majestätsbeleidigung gegen das souveraine
französische Volk, wenn man den Oheim des Neffen nicht vergöttert. Dazu
kommt die Persönlichkeit, von der diese Beleidigungen ausgehn. Marmont
gehörte zu den vorzüglichsten Generalen des Kaiserreichs, und er besaß auch
in seiner Erscheinung jenen Zauber, der uns bei vielen Helden jener Periode
selbst wider unsern Willen besticht, aber trotz seiner großen Erfolge in solchen
Actionen, wo er nicht die Hauptrolle spielte, hatte er das Unglück, in den
entscheidenden Momenten seines Lebens seiner Sache mehr zu schaden als zu
nützen. Zuerst verlor er die Schlacht bei Salamanka, welche gewissermaßen
der Wendepunkt in dem Schicksal des Imperators war. Dann war er ge¬
nöthigt, mit den Alliirten jene Capitulation abzuschließen, welche Napoleon,
obgleich mit Unrecht, als den eigentlichen Grund seines Falls bezeichnete.
Infolge dessen proscribirte Napoleon während der hundert Tage seinen
Marschall, und dieser folgte den Bourbons in ihr erstes Exil, was ihm nach¬
her von ihrer Seite hohe Ehrenstellen eintrug. Damals geschah es, daß sich
im Haß gegen den gemeinschaftlichen Gegner der Liberalismus mit dein Bo-
napartismus verband, daß die Freunde der Freiheit, ja selbst die Republi¬
kaner, sich mit der Popularität des Namens Napoleon deckten, der doch wahr¬
lich nicht als das Sinnbild ihrer Sache gelten konnte. Man vergaß die
Unterdrückung, in welcher Frankreich während des Kaiserreichs geschmachtet
hatte, und feierte in Napoleon den Helden der Nation. Schon damals wurde
Marmont wegen seines Verhaltens während der hundert Tage als Verräther
gebrandmarkt, und der Kaiser sorgte noch von Se. Helena aus dafür, daß
diese Auffassung sich bei seinen Getreuen immer fester stellte. Nun folgte die
Julirevolution, und Marmont. der die Vertheidigung der Hauptstadt zu leiten
hatte, verllZr, man kann es nicht, leugnen, ebenso den Kopf wie die gesammte
Restauration. Bei den Franzosen verhaßt, weil er das Blut des Volks ver¬
gossen hatte, von den Bourbons nicht geachtet, weil er auch diesmal unglück¬
lich gewesen war, folgte er ihnen zum zweiten Mal ins Exil, aus dem er
nicht wieder zurückkehren sollte. Noch bis an seinen Tod 1352 eure schöne,
stattliche Erscheinung, ein heiterer, lebensfroher Greis, entbehrte er doch, wie
alle Franzosen in der Fremde, mit tiefem Unmuth das Vaterland, und der
schlimme Ruf, der ihm auch in die Verbannung folgte, trug nicht dazu bei,
die Stimmung gegen seinen früheren Herrn versöhnlicher zu machen. So ist
in seiner Darstellung Napoleons eine gewisse Bitterkeit nicht abzuleugnen.
aber man thut ihm schreiendes Unrecht, wenn man ihn der Verleumdung
zeiht. Obgleich wiederholt schwer von ihm gekränkt, hebt er doch die glän¬
zenden Seiten seines Wesens sehr anschaulich hervor, und wenn er ebenso
stark darauf hinweist, daß er selber die Ursache seines Falls war. so wird
ihm die unbefangene Geschichte Recht geben. Folgen wir ihm znerst in das
Gemälde der italienischen Feldzüge.
Vom Augenblick an. wo Bonaparte an die Spitze der- Armee trat, hatte
er in seiner Person eine Autorität, die aller Welt imponirte. Obgleich ihm
eine gewisse natürliche Würde abging (Marmont ist gechorner Edelmann) und
er selbst linkisch war in Haltung und Geberden, lag doch der Gebieter in
seiner- Attitüde, in seinem Blick, in seiner Art zu sprechen, und jeder fühlte
das und fand sich bewogen, ihm zu gehorchen. Im Oeffentlichen vernach¬
lässigte er nichts, um dieses Wesen aufrecht zu erhalten, aber zu Hause, in¬
mitten der Personen seines Stabs, entwickelte er große Ungezwungenheit und
eine Bonhomie, die bis zur gemüthlichen Familiarität ging. Er liebte zu
scherzen und seine Scherze hatten nie etwas Bitteres, sie waren gutmüthig
und von gutem Geschmack. Es geschah oft, daß er sich in unsere Spiele
mischte, und sein Beispiel hat mehr als einmal die ernsten östreichischen Be¬
vollmächtigten mit ins Spiel gerissen. Bonaparte arbeitete leicht, seine Senn-»
den waren nicht geregelt; er war immer zugänglich mitten in der Ruhe:
Hatte er sich aber einmal in sein Cabinet zurückgezogen, so war jeder nicht
durch den Dienst gerechtfertigte Eintritt untersagt. Wenn er sich mit der Be¬
wegung der Truppen beschäftigte und an Berthier seine Befehle ertheilte,
ebenso wenn er wichtige Berichte empfing, die lange Prüfung und Durch¬
sprechung erfordern konnten, dann hielt er nur die bei sich zurück, welche an
der Discussion Theil zu nehmen hatten- alle andern Personen, welche Dienst¬
grade sie auch einnehmen mochten, schickte er fort. Man hat gesagt, daß
Bonaparte wenig geschlafen, das ist ungenau: im Gegentheil, er schlief viel
und hatte selbst ein großes Bedürfniß nach Schlaf, wie es allen nervösen
Menschen ergeht, deren Geist sehr thätig ist. Ich habe ihn oft 10 —I I Stun¬
den in seinem Bett zubringen sehen. Aber wenn das Wachen nothwendig
war, so wußte er es auch zu ertragen: er entschädigte sich dann später oder
pflegte auch wol im Voraus der Ruhe, um die bevorstehenden Anstrengungen
zu ertragen. Bonaparte besaß das kostbare Vermögen, zu schlafen wenn er
wollte. Hatte er einmal seine Pflichten abgeworfen, so gab er sich gern der
Konversation hin und war sicher, darin zu glänzen. Niemand entfaltete hierin
mehr Reiz, vermochte mit Leichtigkeit mehr Reichthum oder Ueberfluß an
Ideen zu entwickeln als er. Er wählte seine Gegenstände mehr auf dem
Gebiete der Moral und der Politik, als in den Wissenschaften, wo. obwol
man das Gegentheil behauptet, seine Kenntnisse nicht tief waren. Er liebte
die heftigen Leibesübungen, stieg oft zu Pferde, ritt schlecht, aber häufig mit
verhängtem Zügel. In dieser glücklichen, schon so fern liegenden Zeit, besaß
sein Wesen einen Reiz, den jedermann empfinden mußte. So war Bona-
parte während des merkwürdigen Feldzugs in Italien.
Auch die gemüthliche!? Seiten Napoleons werden nicht verschwiegen. Alle
Namen, erzählt Marmont B. I. S. !>8, die sich auf den Anfang seiner Lauf¬
bahn bezogen und die an ihm geleistete Dienste oder erwiesene Zuneigung
erinnerten, hat Bonaparte stets treu im Gedächtniß bewahrt. Die Natur hat
ihm ein erkenntliches und wohlwollendes, ich könnte selbst sagen gefühlvolles
Herz gegeben. Diese Behauptung steht im Widerspruch mit den über ihn an¬
genommenen, aber unrichtigen Meinungen. Freilich hat sich sein Gefühl mit
der Zeit» abgestumpft. — Bei einer anderen Gelegenheit erzählt Marmont
von einem scharfen Streit und seht hinzu: Bonaparte hatte im Grunde viel
Gefühl für Gerechtigkeit^ er liebte anspruchsvolle Leute nicht, und durch eine
Empfindlichkeit zur unrechten Zeit verscherzte man sein Wohlwollen; bei ge¬
gründeten Beschwerden aber entschuldigte er leicht einen unpassenden Ausdruck
und eine zu heftige Leidenschaft, wohl verstanden, wenn alles ohne Zeugen zu¬
ging- Dann beschäftigte er sich selbst mit den Mitteln, die begangene Unge¬
rechtigkeit wieder gut zu machen, und kam den Wünschen des Betheiligten
ohne Erinnerung zuvor. Er kannte die Schwächen der Menschheit, hatte
Mitleid damit und hat niemals dem Anblick der begründeten Traurigkeit
desjenigen widerstanden, den er achtete, und das in allen Stellungen seines
Lebens und seiner erstaunenswürdigen Laufbahn: kurz man konnte, wenn man
Ort und Zeit wühlte, ihm alles sagen; niemals hat er sich geweigert die
Wahrheit zu hören und wenn es bisweilen ohne Wirkung war, so war es
doch immer ohne Gefahr. — Man wird zugeben, daß in diesen und ähn¬
lichen Stellen der Groll den Erzähler nicht verblendet hat. Ebenso interessant
ist seine Darstellung der Thätigkeit Napoleons im Staatsrath, welchem Mar-
mont bei der Berathung des Gesetzbuches beiwohnte. Zwar ist bereits aus
Röderers Tagebüchern ein ziemlich vollständiges Bild dieser Thätigkeit zu ent¬
nehmen, aber auch die neuen Beiträge werden nicht unerwünscht sein. —
Der erste Konsul war immer zugegen und betheiligte sich oft bei der Dis-
cussion; zuerst schwieg er gewöhnlich, bis die Cambacörcs, die Portalis, Tron-
chet u. s. w. ihre Doctrinen aufgestellt und ihre Meinung entwickelt hatten;
dann ergriff er das Wort und stellte oft den Gegenstand mit bewundernswerthem
Scharfsinn und Tiefe von einem ganz neuen Gesichtspunkt dar; er überzeugte
die Gemüther und ließ die Entwürfe oft auf die verständigste Weise modificiren.
Bonaparte hatte keine Beredtsamkeit, aber einen fließenden Vortrag, eine
mächtige Dialektik und eine große Stärke im Raisonnement. Sein Kopf war
überschwenglich productiv; in seinen Worten lag eine Fülle des Ausdrucks,
in seinen Gedanken eine Tiefe, die ich sonst bei niemandem gesunden habe;
sein wunderbarer Geist strahlte bei dieser Berathung, bei der ihm doch so
viele Fragen bisher fremd gewesen waren, in dem lebhaftesten Glänze. —
Freilich finden wir schon in den ersten Jahren seiner ruhmvollen Lauf¬
bahn bei Napoleon Spuren von jener seltsamen, mit einem gewissen Aber¬
glauben verbundenen Unruhe, der sich dämonische Naturen selten entziehn.
Eine charakteristische Anekdote ist das Gespräch, welches er am Tage nach seiner
Krönung mit dem Marineminister Decrvs hatte. „Ich bin zu spät gekom¬
men, die Menschen sind zu aufgeklärt, man kann nichts Großes mehr unter¬
nehmen!" — „Wie Sire! Ihre Laufbahn scheint mir Glanz genug zu haben;
was gibt es Größeres, als den ersten Thron der Welt einzunehmen, wenn
man mit dem Grade eines einfachen Artillerieoffiziers angefangen h^t?" —
„Ja meine Laufbahn ist schön, ich gebe es zu. ich habe einen großen Weg
zurückgelegt; doch welcher Unterschied gegen das Alterthum! Sehen Sie
Alexander; nachdem er Asien erobert hat, verkündigt er den Völkern, daß er der
Sohn Jupiters sei, und mit Ausnahme der Olympias, welche wußte, woran
sie sich zu halten hatte, .mit Ausnahme von Aristoteles und einiger Pedanten
zu Athen, glaubt es ihm der ganze Orient. Wohlan, wenn ich mich heute
zum Sohn des ewigen Vaters erklären wollte, und mich auf den Weg machte,
um ihm in dieser Eigenschaft meine Huldigung darzubringen, so würde mich
selbst jedes Fischweih auf meinem Zuge auspfeifen. Die Völker sind jetzt zu
aufgeklärt, man kann nichts Großes mehr unternehmen!" — Nun sind diese
Aeußerungen freilich nicht so ernst zu nehmen, als der Erzähler sie auffaßt;
Napoleon hat offenbar einen Scherz machen wollen, aber im Scherz verräth
sich zuweilen mehr von dem, was in den Tiefen der Seele vorgeht, als man
selber ahnt. Napoleon glaubte in der That an seinen Dämon, wie Cäsar,
wie Wallenstein; die Zeiten ändern darin nichts, sie geben nur dem Aber¬
glauben eine andere Farbe. Die vorstehende Anekdote wird durch ein spä¬
teres Gespräch mit dem Cardinal Fesch ergänzt, der sich seit seiner Standes¬
erhöhung als ein eifriger Verfechter der Kirche zeigte. Eines Tages stritt
Fesch zu Fvntaineblenu mit Bitterkeit, wie er dies hinlänglich gewohnt war;
der Kaiser ärgerte sich und sagte ihm, daß es ihm wohl anstände, diesen
gleißnerischen Ton anzustimmen, ihm dem Freigeist, Ungläubigen u. s. w.
„Das ist möglich, das ist möglich," erwiderte Fesch, „aber das hindert nicht,
daß Sie eine Ungerechtigkeit begehn; Sie sind ohne Vernunft, ohne Rechte, ohne
Ausflucht; Sie sind der ungerechteste Mann." Endlich nimmt ihn der Kaiser
an der Hand, öffnet sein Fenster und sührt ihn auf den Balcon. „Blicken
Sie nach oben," sagt er ihm, „sehen Sie etwas?" — „Nein," erwidert Fesch,
„ich sehe nichts." —„Nun lernen Sie dann schweigen," entgegnet der Kaiser,
„ich sehe meinen Stern; er ist es, der mich leitet. Vergleichen Sie nicht mehr
Ihre schwachen und unvollkommenen Fähigkeiten mit meiner höhern Orga¬
nisation." — Vielleicht ist auch hier eine Reminiszenz mit im Spiel, denn
Napoleon hatte die Geschichten seiner Vorgänger wohl im Gedächtniß, all?r
es ist auch innere Verwandtschaft. Ohne einen solchen Glauben an die Ge¬
stirne unternimmt man nicht so Ungeheures wie die vom Schicksal bezeich¬
neten Männer, deren abenteuerlichen Irrfahrten die Welt eine andere' Ge¬
stalt verdankt. Freilich rächt sich dann das Schicksal, indem es die Menschen
in trügliche Sicherheit einwiegt.
Als Marmont 1809 von seinem Aufenthalt in Illyrien zurückkam, voll
von der Größe des Kaiserreichs, das jetzt in seinem vollsten Glanz strahlte,
sprach er mit seinem Freunde, dem Marineminister Decres, demselben, dem
wir jene erste Anekdote verdanken. „Er fand mich sehr befriedigt, sehr
feurig in meinen Berichten. Er ließ mich sprechen, hörte zu und sagte
dann: Nun, Marmont, Sie sind sehr zufrieden, weil Sie Marschall ge¬
worden sind. Sie sehen alles in schönem Lichte. Wollen Sie, daß ich
Ihnen die Wahrheit sage, daß ich Ihnen die Zukunft enthülle? Der Kai¬
ser ist toll, vollständig toll und wird uns alle, so viel wir sind, Hals
über Kops stürzen und dies alles wird mit einer entsetzlichen Katastrophe
enden. — Ich trat zwei Schritte zurück und sagte: Sind Sie selbst toll, so
zu sprechen oder wollen Sie mich auf die Probe stellen? — Weder das eine
noch das ändert, lieber Freund; ich sage Ihnen nur die Wahrheit. Ich
werde sie nicht auf offener Straße verkünden, aber unsere alte Freundschaft
und das zwischen uns bestehende Vertrauen berechtigen mich, ahne Rückhalt
zu Ihnen zu spreche». Was ich sage ist nur zu wahr, und ich nehme Sie
zum Zeugen meiner Prophezeihung. Und darauf entwickelte er mir seine Ideen,
indem er von der Wunderlichkeit der Projecte des Kaisers, von ihrer Unbe¬
ständigkeit und Unvereinbarkeit, von ihrer riesigen Ausdehnung u, s, w. sprach;
er entwarf ein Bild, welches die Ereignisse nur zu sehr gerechtfertigt. Mehr
als einengt seit der Restauration habe ich Dec«;s an unser Gespräch und
seine überraschende, aber sehr traurige Prophezeihung erinnert,"
Zur Zeit dieses Gesprächs hatte Marmont schou einige Mal sehr ernst¬
hafte Zurechtweisungen empfangen. Napoleon, der seinen Generalen inner¬
halb ihrer Sphäre einen sehr großen Spielraum selbstständiger Action ver¬
stattete, verlangte nicht blos einen pünktlichen Gehorsam, sondern auch eine
schnelle, durchgreifende Entschlossenheit, die nothwendig war, wenn die höchst
verwickelten Operationen seiner Armeen, die zum großen Theil auf die Pünkt¬
lichkeit der Bewegungen berechnet waren, Erfolg haben sollten. Wenn er
mit dem Gehorsam oder auch mit der Einsicht eines seiner Untergebenen un¬
zufrieden war, so ersparte er ihm niemals eine scharfe Zurechtweisung, und
da wir die Art und Weise kennen gelernt haben, wie Katharina II. mit
ihren Werkzeugen umging, so möge hier eins der zahlreichen Billets Platz
finden, in welchen dem Marschall Marmont in Erinnerung gebracht wird,
d5ß das Auge des Herrn auf ihm ruht. (16. Mai 1808.) „Herr General
Marmont, in der Verwaltung meiner Armee von Dalmatien kommen viele
Unordnungen vor. Sie haben einen Eingriff in die Kasse von beinah
400,000 Fr. autorisire. Dennoch betrug der Ihnen zur Disposition gestellte
Credit für die Arbeiten des Geniecorps und der Artillerie 400,000 Fr. Dies
ist eine beträchtliche Summe, wie ,kommt es, daß sie nicht zugereicht hat?
Dalmatien kostet mich eine ungeheure Summe; es ist gar keine Regelmäßig¬
keit befolgt und das alles bringt eine Unordnung in die Finanzen, an die
man nicht mehr gewöhnt ist. Der Zahlmeister ist sür alle diese Summen
verantwortlich; ich habe seine Abberufung befohlen, und es müssen schnell
alle Papiere eingesandt werden, die zur Controle seiner Rechnungen dienen
können. Doch, rechtfertigt alles dies die Ausgabe nicht. Sie haben nicht
das Recht, über einen Sou zu disponiren. den Ihnen, der Minister nicht zur
Verfügung gestellt hat. Wenn Sie einen Credit brauchen, so müssen Sie
darum nachsuchen," — Der Brief erinnert stark um das Abberusungsschreiben.
welches Siepers empfing, aber grade in ihm stellt sich auch der Gegeusab
zwischen den beiden unumschränkten Monarchien deutlich aus Licht. Zunächst
ist Napoleons Horn nie ohne hinreichenden Grund. Wenn er auch im Aus-
druck desselben absichtlich oder unabsichtlich zuweilen weiter geht, als es die
Sache grade erfordern würde, so fühlt der Getroffene sehr wohl, daß er ent¬
weder schuldig ist, oder daß eine klare Rechtfertigung die Sache wieder ins
Gleiche bringen wird. Die ungeheuren Erfolge Napoleons waren nur da¬
durch möglich, daß er in allen seinen Feldlagern zugleich gegenwärtig war,
daß alle seine Untergebenen, ohnehin zu willkürlichem Handeln geneigt, seine
Gegenwart gewahr wurden. Sodann zeigt sich Napoleon überall als strengen
Herrn, der, wie er Großes gibt auch Großes verlangt und dieses unerbittlich
verlangt, aber nicht wie der Gott, der den Wurm in den Staub zurückstoßt,
aus dem er ihn hervorgezogen hat. Nur in den seltensten Fällen ist es vor¬
gekommen, daß, er die Werkzeuge, denen er viel schuldig war, ganz verstieß,
und in diesen Fällen wußte er sie, wie es -mit Talleyrand geschah, fürstlich
zu entschädigen. Da der Bonapartismus durch die neuesten Ereignisse wie¬
der hie große Frage des Tages geworden zu sein scheint, so ist es nicht
müßig, auf seine ältere, mächtigere Erscheinung einen Blick zu werfen.
Wenn man Napoleon I. in Beziehung auf Staatenbildung ein schöpfe¬
risches Princip zugesteht, so thut man ihm zu viel Ehre an. In den schon
häufig angeführten Tagebüchern von Röderer gesteht er ganz unumwunden
ein, sein eigentliches Metier sei der Krieg, dieses verstehe er aus dem Grunde
und er kenne keine Lectüre, die ihn stärker und dauernder beschäftige als die
seiner Regimentslisten. Seine Staatsverwaltung ni Frankreich selbst und
das Lehrsystem, welches er in den eroberten Provinzen aufrichtete, hatte als
letzten Zweck immer das Bedürfniß im Auge, die Armee auf eine zweckmäßige
Art zu recrutiren. Die centralisirte Staatsmaschine hat er nicht erfunden, er
überkam sie als eiR Erbtheil der alten Monarchie und der Revolution; aber,
freilich wußte er sie mit seinem genialen Blick und seinem durchgreifenden
Willen ganz anders anzuwenden, als es früher geschehen war. Welchen
Zweig der Staatsverwaltung er auch in Angriff nahm, er hatte von all sei¬
nen Umgebungen immer den klarsten Blick. Nur daß er in der Gesetzgebung
wie in der Anordnung der Verwaltung immer mit dein Hintergedanken ans
Werk ging. Frankreich so zu organisiren, daß es tüchtige Offiziere, zahlreiche
Neunten und die zu den Armeen nöthigen Geldmittel liefern konnte. Er
hatte Frankreich anch in bürgerlicher Beziehung besser verwaltet, als die zu-
nächst vorhergegangenen sinnlosen Regierungen, aber das bürgerliche Frank-"
reich war ihm nur Mittel, nicht Zweck, währen!) seine Armee ihm wirklich
ans Herz gewachsen war. Er hörte am liebsten, wenn man ihn den Bater
der Soldaten nannte, und das war auch in der That die richtigste Bezeich¬
nung für ihn.
Noch ist ein zweiter Umstand zu bemerken. Er hat das neue Frankreich
nicht aus dem Nichts geschaffen, er hat es in seine» wesentlichsten Momen-
ten bereits vorgefunden und ihm nur den angemessnen Ausdruck gegeben.
Seine Marschälle, seine Senatoren, seine Gesetzgeber, so entschieden er sie zu
seinem Dienst verpflichtete, waren doch nicht blos seine Crenturen; sie waren
groß, schon bevor er ans Nuder kam; er hatte sich über sie erhoben und sie
dienten ihm freudig und mit Stolz, weil ihre Principien und ihre Zwecke
keinen bessern Vertreter, keinen glorreicheru Mittelpunkt finden konnten; aber
sie verloren in diesem Dienst doch nicht ihr eignes Selbst; sie nahmen auch
von seiner Seite eine gewisse Achtung in Anspruch.
Und doch stand auch bei ihm wie bei Alexander und bei Cäsar die Mon¬
archie nur auf zwei Augen, sie war an seine Persönlichkeit gebunden. Es
ist der Uebelstand der rein militärischen Monarchie, daß auf den großen Er¬
oberer die Diadvchen folgen. Es war kein Unglück für das Frankreich von
1815, daß ihm damals durch die Wiederaufrichtung der traditionellen Mon¬
archie das Diadochenzeitalter erspart wurde.
Wenden wir uns jetzt zu dem Bonapartismus von 1853, so haben wir
insofern leichtes Spiel, als seit den neuesten Verordnungen alle Weit einig ist.
was man darüber zu denken habe, gleichviel welcher Partei man sonst ange¬
hört. Uns Deutsche namentlich, die wir noch vor wenigen Monaten von
unsrer Freiheit kein großes Rühmen zu machen wußten, ist jetzt zu Muth, als
lebten wir in Nordamerika in vollständigster Unbändigkeit und Zügellosigkeit.
Wir hatten früher gemeint, die Ordnung sei in Frankreich grade straff genug
angespannte mit einiger Verwunderung haben wir gesehn, daß man die Zü¬
gel doch noch weit schärfer anziehn konnte, und das Beste ist, daß man dabei
noch immer auf dem Boden der Volkssouveränetät steht. Das Volk will
nicht, daß andere Meinungen ausgesprochen werden als vie patentirter der
Negierung, es will nicht, daß sich Böswillige im Lande aufhalten, es ertheilt
daher der Negierung die Vollmacht, 'Personen, die wegen übelgesinnter Reden
zu einigen Monaten Gefängniß verurtheilt werden, nach Ablauf dieser Strafe
ohne weiteres zu deportiren. Wer dieses Volk ist, das lehren dem Zweifler
die Adressen des Moniteur. Die souveräne Armee, die den Decemberthron
aufgerichtet, erklärt ihren Willen für die Erhaltung der Dynastie auch über
das Leben des gegenwärtigen Herrschers hinaus, und damit sie diesem Willen
Nachdruck geben kann, wird ganz Frankreich militärisch organisirt, fünf Marschälle
führen die Provinziairegierung, ein General commandirt als Minister des Innern
mit echt militärischem Lakonismus den Präfecten, ein militärischer Regentschafts¬
rath erwägt die großen politischen Fragen. Das Verhältniß ist so unumwunden
und klar herausgestellt, daß jeder Commentar überflüssig erscheint.
Indeß dürste es doch nicht unnütz sein, bei dieser Gelegenheit darauf
aufmerksam zu machen, daß wir in Deutschland, nicht blos in Oestreich, auf
dem veste>, Wege zu ähnlichen Institutionen waren. Unsere deutschen Mon-
cnchien sind gewiß nicht durch das Militär aufgerichtet, sie sind organisch aus
den sittlichen Institutionen des Volks hervorgegangen, sie wurzeln in dem
Herzen des Volks: und doch wurde eine Zeit lang nicht anders geredet, als
ob das Militär ihre einzige Stütze sei. „Wider Demokraten helfen nur Sol¬
daten!" war ein beliebtes Sprichwort. Unsere angestammten Könige wurden
in officiellen Erlassen immer als die Kriegsherren bezeichnet, man sprach von
nichts als von den herrlichen Kriegsheeren und das in einer Zeit, wo man
mit großer Behutsamkeit jeden Krieg vermied, wo man sich beeilte, selbst mit
dem kleinen Dänemark Friede zu machen und wo demnach im Ausland die
Meinung von unsrer Kriegsmacht nicht sonderlich hoch stand. Glücklicherweise
ist darin eine Umkehr erfolgt, man hat sich besonnen, daß unser Volkscharak¬
ter ein vorwiegend rechtlicher ist, und daß auch unsere Monarchien am besten
gedeihn, wenn sämmtliche Volksclassen an ihrer Erhaltung betheiligt werden,
sämmtliche Volksclassen in ihnen ihre Befriedigung finden. Deutschland ist
nichts weniger als revolutionär, das hat sich jetzt wieder in dem aufrichtigen
Enthusiasmus des gestimmten preußischen Volks für das Glück seines Herr¬
scherhauses recht schlagend gezeigt; aber in seiner sittlichen Entwicklung geht
neben dem monarchischen und aristokratischen Element, die beide mit ihrem
traditionellen Charakter gepflegt und in ihrer historischen Berechtigung aner¬
kannt werden sollen, das demokratische, oder wenn man will, das bürgerliche
gleichen Schritt, und es ist die Ausgabe des Staats, diesem historisch jüngern
Element in den politischen Einrichtungen diejenige Stelle zu geben, auf der es
für das Gedeihn des Ganzen thätig mitwirkt und vor gefährlichen Auswüch¬
sen bewahrt wird, die niemals ausbleiben, wenn einem factisch mächtigen
Princip die legale Geltung versagt wird. Wir freuen uns, wenn auch die
Aristokratie auf dem Boden des constitutionellen d. h. des die Einseitigkeiten
einzelner Stände ausgleichenden Rechtsstaats mehr und mehr festen Fuß faßt;
neben ihr wird ebenbürtig die Demokratie ihren Platz behaupten. Es war
einseitig, die Monarchie blos „auf breitester demokratischer Grundlage" auf¬
richten zu wollen; noch einseitiger wäre es, ihr blos die Aristokratie zur Stütze
zugeben: völlig unmöglich, ein Prätorianerthum aufzurichten, grade weil das
deutsche Volk mit der Revolution nichts zu thun hat.
Wenige Patrioten werden von de-r jetzigen Thätigkeit des Bundestages
etwas Ersprießliches für die Schleswig-holsteinische Angelegenheit erwarten.
Zwar sind in der Sitzung vom 11. Februar die bekannten Ausschußanträge zum
Beschluß erhoben, aber der hannoversche Antrag, der zu Weiteren hätte führen
können, ist vorläufig bei Seite geschoben, und der herzogliche Bundestags¬
gesandte hat die Beschwerden Lauenburgs für unbegründet erklärt; man sieht
eine Reihe neuer unerquicklicher und unersprießlicher Hin- und Herverhandlungen
voraus, in denen Dänemark nicht nachgeben wird, weil doch die ultirrm ratio,
die nöthigen Zwangsmaßregeln fehlen werden. Dennoch haben die Bundes-
tagssitzungcn, in denen über die Angelegenheit der Herzogthümer berathen
wird, ihre große Bedeutung, sie halten das Interesse sür die Sache wach oder
tragen doch wenigstens dazu bei, und sie gewöhnen das Ausland daran, die
Frage als rein deutsche von der obersten deutschen Behörde behandelt zu sehen.
Außerdem, wenn die Erklärungen des Bundestages auch Dänemarks Trotz
nicht brechen, so vermehren sie doch seine Verlegenheiten in hohem Grade,
je mehr der Bund in seinen Aeußerungen eine übergroße Milde und Sanft¬
muth zeigt, desto weniger Vorwand findet das kopenhagner Cabinet, die Ein¬
mischung nichtdeutscher Großmächte anzurufen. Hat man doch sogar das
Erstaunliche gesehen, daß die officielle Petersburger Zeitung viel weiter in
ihren Vorwürfen gegen Dänemark ging als das Organ der deutschen Nation,
und während letzteres ängstlich vermied, den Namen Schleswigs auszusprechen,
den Dänen ernstlich die Ungesetzlichkeit der Versuche, dies Herzogthum einzu¬
verleiben, vorhielt. Das russische Cabinet hat durch den merkwürdigen
Art. dieses Blattes vom 29. Januar Deutschland den Weg gezeigt, den es
vorläufig einschlagen kann, ohne ein«; Einmischung des Auslandes zu befürchten,
und dieser Weg geht über das bisher in Frankfurt verfolgte Ziel hinaus.
Nachdem die Petersburger Zeitung anerkannt hat, daß das londoner Protokoll
nur die Erbfolge und damit lediglich das personelle Verhältniß des Regenten¬
hauses zu den Herzogthümern. ohne die Realverhältnisse zu berühren, festgesetzt
habe, zeigt sie, daß obwol die administrative und gerichtliche Vereinigung
Schleswigs und Holsteins aufgehört habe, die beiden Lande nichts desto
weniger gemeinsame Beziehungen erhalten und ihre Selbstständigkeit und
Gleichberechtigung mit den andern Theilen der Monarchie auch durch die
neuesten Verträge unangetastet geblieben ist. Der Zusammenhang der beiden
Herzogthümer findet aber vorläufig seinen wesentlichen positiven Ausdruck in
gewissen gemeinsamen, nichtpolitischen Institutionen wovon, die kieler Universität
die bedeutendste ist. Die Gerechtsame desselben aber sind von Dünemark gröb¬
lich verletzt, diese Privilegien wurden, wie das russische Blatt hervorhebt, völker¬
rechtlich festgesetzt durch den Vertrag vom 11. (23.) April 1767 zwischen der
kaiserlich russischen Krone einerseits und der königlich dänischen Krone andrer¬
seits, betreffend die Abtretung des vormals großfürstlichen Antheils von Hol¬
stein. Darin verpflichtet sich die dänische Regierung „die Akademie zu Kiel
zu conserviren, auch bei ihren habenden xrivilvZiis zu schützen." Zu diesen
Privilegien gehört um aber auch die gesetzliche Bestimmung, „daß alle sich
den Studien widmenden Unterthanen zwei volle J'ahre in Kiel studiren oder
gewärtigen sollen, daß sie zu keiner Beförderung weder in civilibus noch in
oedosiastieiZ Hoffnung haben." — Die Dänen haben dieser Vorschrift zu¬
wider bekanntlich eine Menge Stellen mit Dänen, die nie in Kiel studirt
haben, besetzt; auch dadurch hat noch eine Umgehung jener Privilegien im
Sinne einer Danisirung des Herzogthums stattgefunden, daß die Abgangszeit
für die Schüler der Gymnasien in Hadersleben, Flensburg und Schleswig
so eingerichtet ist, daß sie nicht mit der Semestereintheilung der kieler,
wol aber mit der der topenhagner Universität übereinstimmt. Die
Vertragsbrüchigkeit, welche die dänische Regierung sich durch ihre Sprach-
maßregclungen hat zu Schulden kommen lassen, kann gleichfalls mit dem
vollkommensten Recht vor das Forum der Bundesversammlung gezogen werden;
denn in der Proclamation vom 28. Jan. 1852 heißt es „der für das Her-
zogthum Schleswig auszuarbeitende Gesetzentwurf'wird insbesondere die er¬
forderlichen Bestimmungen enthalten, um der dänischen und deutschen Natio¬
nalität in dem gedachten Herzogthum völlig gleiche Berechtigung und
kräftigen Schutz zu verschaffen und zu sichern." Wie diese Versprechungen
gehalten sind, darüber geben Moritz Buschs Schleswig-holsteinische Briefe und
die Verhandlungen der schleswigschen Ständeversammlung mit ihren 8000 Peti¬
tionen, Kunde. Ein andrer Punkt, dessen die Petersburger Zeitung nicht ge¬
denkt, der aber in noch viel höherm Maße zur Compcrenz des Bundes gehört,
ist die Grenzregulirung zwischen Holstein und Schleswig, welche noch immer
nicht von Dänemark vollzogen ist. Sie wurde in dem ersten Abkommen mit
Oestreich und Preußen festgestellt, als Folge des berliner Friedens vom
2. Juli 1850; wenn man an die Regelung dieser Frage geht, so würde sich
bald zeigen, daß ein bedeutender Theil des Landes jenseits der Eider zu Hol¬
stein gehört. In einem dänischen Werke, welches von dem Chef des General¬
stabs der dünischen Armee, Hr. A. Baggesen verfaßt, als Lehrbuch für die
militärische Hochschule in Kopenhagen dient, heißt es: Die Grenze zwischen
Schleswig und Holstein wird gebildet durch den Schleswig-holsteinischen Kanal
und die Eider, doch nur im Allgemeinen; denn es sind Ausnahmen wie folgt:
1) Osterade. 2) Ramnort mit 6 Dörfern, 1V4 Meile Areal. 3) Außer der
Altstadt oder dem Theile Rendsburgs, welcher von der Eider umflossen
wird, gehört auch das „Kronwerk" oder der nördlich der Eider belegene
Theil der Festung zugleich mit dem übrigen Theile der Stadt Rendsburg zu
Holstein." — Die Bevölkerung dieser Districte zahlte Steuern zur Bundes¬
matrikel des deutschen Bundes und wählte nach dem dänischen Gesetz von
1834 zu den holsteinischen, nicht zu den schleswigschen Ständen. Durch Ab¬
tragung des Kronenwerkes haben die Dänen also eine deutsche Festung zer-
stört. Dies muß vom Bunde geltend gemacht und von Dänemark restitutio
in inteßrnm gefordert werden. Eine fernere Maßregel, wozu der Bund voll¬
kommen berechtigt ist, und die der kopenhagner Partei höchst unbequem sein
müßte, wäre die Anordnung einer Inspektion des 10. Armeecorps, das be¬
kanntlich aus Hannover, Oldenburg, Braunschweig, Mecklenburg, Hansestädten
und Holstein besteht; die Dänen haben die holsteinischen Truppen nach den
Inseln geschickt und Jnseldänen nach Holstein, zur Inspektion müßten die
deutschen Truppen wieder zurückkehren.
Man sieht, der Bund hat Handhaben genug, auch ohne zur Execution
zu schreiten, um den Dänen Verlegenheiten zu bereiten, es kommt auf den
Willen und die Geschicklichkeit an. Leider sind die Regierungen, welche sich
augenblicklich besonders für die Herzogthümer interessiren, nicht geeignet, die
Popularität der Bundesmaßregeln zu fördern. Der holstein-lauenburgische Ge¬
sandte konnte in der eschenheimcr Gasse wol mit Ironie bemerken, die königl.
hannoversche Negierung sei ohne Zweifel am besten im Stande, über die Un-
statthaftigkeit von Verfassungsverletzungen zu urtheilen. Was soll man aus¬
wärtigen Staatsmännern erwiedern, die sagen, es sei ein schlechter Scherz,
daß eine Versammlung, in der die Vertreter von Hessen, Hannover, Oestreich,
Mecklenburg u. s. w. sitzen, über Verkümmerung der Rechte deutscher Stände
klagen wolle? — Wir kommen damit zu unserm cptoium consev, daß die
Schleswig-holsteinische Frage erst dann in ein hoffnungsvolleres Stadium treten
kann, wenn Preußen sich entschließt, sie in ihrem wahren Sinne aufzunehmen
und allein oder im Verein mit deutschen Bundesgenossen durchzuführen. Suchen
wir uns noch darüber klar zu werden, welche Chancen dafür unter gegen¬
wärtigen Umständen vorhanden sind, und sehen zuerst, wie die Dinge in
Dänemark selbst stehen. Kein aufmerksamer Beobachter kann leugnen, daß
die Verhältnisse in Kopenhagen in immer wachsender Zerrüttung begriffen
sind, so daß selbst den Ultradänen bei der Sache nach und nach unheimlich und
hie und da ein versöhnlicherer Ton gegen Deutschland angeschlagen wird.
Der Gesammtstaat, dies große Ziel der dänischen Staatsweisheit, ist in voller
Auflösung begriffen, nur die Form wird noch mühsam zusammengehalten,
materiell weicht der Grund überall unter den Füßen. Das gibt ein merk¬
würdiger Artikel des Fädrelandet selbst zu, das seine Landsleute auffordert,
doch ein für allemal die zum größten Theile schon gebrochenen Illusionen
aufzugeben und einzusehen, daß der londoner Tractat, den man als das
Universalrettungsmittel preise, durchaus nichts Anderes garantire, als die Ein¬
heit der Erbfolge in der Monarchie. Wenn das Blatt dann seinen Freunden
den Rath gibt, die Ohren steif zu halten, so ist das leichter gerathen als
gethan. Worauf es uns ankommt, das ist, neben dem oben angeführten
Passus, das Bekenntniß, daß das londoner Protokoll durchaus nicht ein
Schleswig-Holstein in der dänischen Monarchie unmöglich mache. Grade das
aber fürchten die Dänen wie den leibhaftigen Teufel. Sie würden eher Schles¬
wig aufgeben als in eine Union mit Schleswig-Holstein treten, denn sie sehen
voraus, daß die beiden Herzogthümer, die ihnen schon jetzt in ihrer Ge¬
bundenheit so viel zu schaffen machen, bei einer Sclbststündigkeit alle freie
Bewegung der dänischen Politik vernichten und . sich schließlich doch wol von
Dänemark losreißen würden. Schon sind die kopenhagener Staatsmänner
bereit, Holstein und Lauenburg ganz auszuscheiden, wenn man dafür die
Einverleibung Schleswigs zugäbe. Sie müssen dazu gebracht werden, uns auch
die südliche Hälfte Schleswigs zu lassen. Die Theilung nach den Nationalitäten
ist die einzige Lösung. Wenn Deutschland darüber klagt, daß die Deutschen
in Schleswig von Dänemark absorbirt werden sollen, so darf es selbst nicht
verlangen, die Nordschleswiger, die keine rechten Deutschen sind, zu absorbiren.
Wir sind uns vollkommen bewußt, daß diese Lösung nicht dem alten Rechte
entspricht, „daß diese Lande sollen bleiben zusammen, ungetheilt, zu ewigen
Zeiten", aber wir schätzen die Sache, auf die es uns ankommt, die Erhaltung
eines der edelsten deutschen Stämme, für höher, als das Rcchtsprincip. Es
ist sicher die Bestimmung der cimbrischen Halbinsel, allmälig ganz deutsch zu
werden, aber wir dürfen dem stillen Werk der Geschichte nicht erobernd vor¬
greifen, so sehr deutsche Bildung schon bis zum Sk'agerrack herrscht, so sehr
Hamburg und Lübeck die ökonomischen Hauptstädte Jütlands sind, noch ist
der nördliche Theil Schleswigs nicht deutsch, die Volkssprache ist das Platt¬
dänische. Die Ausrichtung Holsteins, Laucnburgs und Südschleswigs in einen
selbständigen, von Dänemark ganz getrennten deutschen Bundesstaat, das ist
das Ziel, worauf wir und vor allem die preußische Staatskunst hinarbeiten
müssen. Wäre im orientalischen Krieg Preußen auf die Seite der Wcstmächte
getreten, so hätte es für die großen Opfer, die eine Kooperation ihm auferlegt
hätte, eine materielle Entschädigung fordern können und solche vielleicht an
der Eider gesunden. Es ist nicht geschehen, die große Conjunctur ist vorüber¬
gegangen. Inzwischen ist die Schleswig-holsteinische Sache reifer geworden.
Wenn Preußen sie jetzt in die Hand nimmt, so muß es das um ihrer selbst
willen ohne Vergrößerungsabsichten für sich thun, um als der deutschen
Nation natürlicher Vertreter dazustehen. In diesem Augenblick ist die Lage
noch nicht so, daß man ein entscheidendes Ereignis; wünschen könnte, aber
der Zustand Europas ist kritisch und kann jeder Zeit das entschlossene Ein¬
greifen möglich und nöthig machen; vorläufig ist es uns geboten, die Ver¬
legenheiten Dänemarks nach allen Seiten hin zu mehren und die Theilnahme
für unsere Schleswig-holsteinischen Brüder wach zu halten.
Des Flavius Josephus Geschichte des jüdischen Krieges, übersetzt von Heinrich Parce,
Diakonus zu Bmckenhcim 1856. Stuttgart, I, E. Metzler.
Wenn Spiegclberg Karl Moor aufforderte den Josephus zu lesen, so
hatte er allerdings dazu seine ganz besondern Gründe; aber auch für andere
Leser ist es eine sehr interessante Lectüre. Die obengenannte treffliche neue
Uebersetzung seiner Geschichte des jüdischen Krieges bietet NichtPhilologen Ge¬
legenheit, sich mit dem besten Buch dieses merkwürdigen Schriftstellers bekannt
zu machen; sie ist übrigens auch für Philologen nicht ohne Werth. Josephus
beschrieb den Untergang seines Vaterlandes in Rom als Pensionär der sieg¬
reichen Ueberwinder, zuerst in seiner Muttersprache, dann in der griechischen
Umarbeitung, die wir noch haben. In welchem Sinne, erhellt daraus, daß
Titus die Veröffentlichung ausdrücklich autorisirte. Ein kurzer Abriß der jü¬
dischen Geschichte von den Makkabäern an leitet die ausführliche Erzählung
ein, in welcher die Empörung der aufs Aeußerste getriebenen Nation, ihr vier¬
jähriger Verzweiflungskampf gegen eine erdrückende Uebermacht und dessen
tragisches Ende geschildert werden. Für die äußerliche Wahrheit d. h. die
Nichtigkeit und Genauigkeit in der Darstellung der Begebenheiten bürgt, daß
Josephus als Augenzeuge und für Augenzeugen schrieb. Innere Wahrheit
d. h. richtige Darstellung der Motive und Einflüsse, die auf die Entwickelung dieser
großen Katastrophe einwirkten und die Führer der Bewegung leiteten, dürfen
wir hier natürlich nicht suchen. Für Josephus sind die heroischen Vertheidi¬
ger der Sache, von der er abgefallen war, um sein kostbares Leben zu retten,
„Räuber oder Unsinnige".
Das zweite größere Werk des Josephus „die jüdischen Alterthümer" (eine
jüdische Geschichte von Erschaffung der Welt bis auf das Jahr 66 nach Chr.)
ist in seiner zweiten Hälfte eine wichtige Quelle auch für römische Geschichte,
zum größern Theil hat es ein vorwiegend theologisches Interesse. Die Er¬
zählung folgt im Ganzen dem alten Testament, aber auch nationalen Tradi¬
tionen und Sagen. Seine kurze Autobiographie ist eine Vertheidigung gegen
die Angriffe der jüdischen Patriotenpartei, der man die unbehagliche Stimmung
des Verfassers trotz des überschwenglichen Selbstlobes anfühlt. Viel erquick¬
licher ist seine Vertheidigung des Judenthums gegen den alexandrinischen Ge¬
lehrten Apior, in der die Vortheile, welche die monotheistische Religion und
ihr Moralgesetz ihrem Verfechter gegen die heidnischen Angriffe bietet, geschickt
benutzt und die Darstellung würdig gehalten ist. Zugleich erhalten wir
hier interessante Einblicke in die antike judenfeindliche Literatur, für welche
z. B. auch Ciceros Lehrer Apollonius Molo thätig war. Auch diese Schrift
verdiente eine Uebersetzung von so kundiger Hand, als sie dem jüdischen Kriege
zu Theil geworden ist.
Josephus war einer von den Männern, die durch reiche Begabung be¬
fähigt sind, selbst unter schwierigen Verhältnissen eine ehrenvolle Stellung zu
behaupten, aber nicht Größe und Festigkeit des Charakters genug besitzen,
um aus gewaltigen sittlichen Coiiflicten unbefleckt hervorzugehen. Er war
nichts weniger als ein Held, aber ein reicher und glänzender Geist, und wenn
auch keine edle, doch keine gemeine Natur. Im Jahre 37 nach Chr. geboren,
stammte er aus einer angesehenen priesterlichen, mit dem hasmonäischen Fürsten¬
hause verwandten Familie, erhielt eine sorgfältige religiöse Erziehung, studirte
nacheinander die Doctrinen der drei jüdischen Haupthelden, brachte sogar drei
Jahre bei einem ascetischen Einsiedler in der Wüste zu, und entschied sich
schließlich für den Pharisäismus. In der einseitigen Bornirtheit seiner Nation,
die alle nichtjüdische Cultur voll Verachtung ignorirte, war er so wenig be¬
fangen, daß er sich mit griechischer Sprache. Literatur und Bildung eifrigst
beschäftigte. Eine in seinem 26. Jahre unternommene Reise nach Rom er¬
weiterte seinen Gesichtskreis unermeßlich und war für sein ganzes Leben ent¬
scheidend; denn ohne Zweifel legte sie den Grund zu seiner aufrichtigen
Ueberzeugung von der unwiderstehlichen Größe des römischen Weltreiches; bei¬
läufig gesagt wurde er durch Vermittlung eines jüdischen Schauspielers der
Kaiserin Poppäa, Neros Gemahlin, vorgestellt, die sich, wie damals viele
Römerinnen in den höhern Ständen, entschieden zum Judenthum neigte.
Beim Ausbruch der jüdischen Empörung (66 nach Chr.) wurde Josephus
trotzdem von der patriotischen oder Kriegspartei ohne das entfernteste Mi߬
trauen zu den Ihrigen gezählt, sei es daß er von der Begeisterung bez nationa¬
len Erhebung mit ergriffen war, oder auch damals sich nur den Umständen
fügte; denn er wurde an die Spitze der wichtigsten Provinz Galiläa gestellt/
Im Anfänge des Krieges entfaltete er die ganze Energie seines thätigen
Wesens, um die Widerstandskraft dieser Provinz auf jede Weise zu verstärken;
bald aber scheinen in seinem verhallten Geist die sehr natürlichen Bedenken
über den Ausgang des Krieges und die alten Vorstellungen von der Unüber¬
windlichkeit der Römer die Oberhand gewonnen zu haben, und er suchte durch
laue Kriegführung, halbe und selbst mehr als zweideutige Maßregeln sich den
Uebergang ins römische Lager zu decken. Der dadurch erweckte, nur zu ge¬
rechte Verdacht führte zu den härtesten Conflicten mit den Häuptern der Kriegs¬
partei, aus denen Josephus sein Leben nur durch Gewandtheit und Geistes-
gegenwart rettete. Im Jahre 67 übernahm der damals 58 jährige Vespasian,
ein in Thracien, Germanien, Britannien und Afrika erprobter General, das
Commando der römischen Armee, und diese Aenderung des Oberbefehls machte
sich bald durch rasche, energische, wohl vorbereitete Schläge fühlbar. Josephus
ward in die durch Natur und Kunst außerordentlich starke Festung Jotapata
eingeschlossen. An der Spitze einer zum Aeußersten entschlossenen Besatzung
konnte er weder an Uebergabe noch an Desertion denken, er sah sich gezwungen,
die heroische Vertheidigung zu leiten. Er that es mit großer Energie. Um¬
sicht und Kühnheit. Zoll für Zoll sieben Wochen lang vertheidigt, fiel die
Festung endlich. Vierzigtausend Juden kamen bei der Belagerung und im Sturm
ums Leben; Gefangene machten die Römer nur zwölfhundert, Weiber und
unmündige Kinder. Josephus war es „unter göttlichem Beistande" gelungen,
durch einen unterirdischen Gang mit 40 angesehenen Männern in eine tiefe
Cisterne zu entschlüpfen. Sie hatten Lebensmittel auf mehre Tage, aber
die Römer hatten alle Ausgänge besetzt und Flucht war unmöglich. Vespasian
ließ Josephus mit dem Versprechen ihn zu schonen, zur Uebergehung auffor¬
dern. Ohne Zweifel bedürfte Josephus zu. dem Entschluß, sich auf Kosten sei¬
ner Gefährten zu retten, keiner Ueberlegung. doch versichert er durch die Erinne¬
rung an gewisse vorbedeutcnde Träume dazu bewogen worden zu sein, und in
einem Gebet Jehovah zum Zeugen angerufen zu haben, daß er diesen Schritt nicht
als Verräther, sondern als sein Diener thue! Die vierzig, sobald sie seine Ab¬
sicht argwöhnten, drohten ihm den Tod. Aber auch aus dieser verzweifelten
Lage rettete ihn seine Geistesgegenwart und die Rücksichtslosigkeit in der
Wahl seiner Mittel, wo es sich um sein eigenes Heil handelte. Die schauder¬
volle Scene, deren Schauplatz jetzt die düstere unterirdische Höhle ward, wollen
wir in seiner eigenen Erzählung geben.
„Auch in dieser verzweifelten Lage verließ den Josephus seine Besonnen¬
heit nicht, sondern er setzte im Vertrauen auf Gottes Fürsorge sein Leben aufs
Spiel. Er sprach: ..„da der Entschluß zu sterben feststeht, so wollen wir dem
Loose überlassen, wer jedesmal den andern niederstoßen soll; der durch das
Loos Bezeichnete falle durch die Hand des nach ihm Getroffenen; so wird das
Todesloos alle der Reihe nach treffen, ohne daß der Einzelne auf seine eigne
Faust angewiesen ist. und es wäre doch Unrecht, wenn, nachdem die andern
dahinsind, einer es sich reuen ließe und sein Leben rettete."" (!) Durch diesen
Vorschlag gewann er sich wieder das Zutrauen, und nachdem er die andern
überredet, koofte auch er mjt. Jeder durch das Loos Getroffene ließ sich
willig von seinem Nachfolger hinschlachten, da ja gleich darauf auch der Feld¬
herr sterben sollte, denn der Tod mit Josephus däuchte ihnen besser als das
Leben. Uebrig blieb aber Josephus. sage man nun durch glückliches Ungefähr
oder durch göttliche Vorsehung (!) mit noch einem andern, und da er weder
vom Loose getroffen werden, noch wenn er als der letzte übrig geblieben
wäre, seine Hand mit dem Blute eines Landsmanns beflecken wollte, über¬
redete er auch jenen sich den Römern zu ergeben, und sich das Leben zu erhalten."
- So einem fast gewissen Tode entronnen, ging Josephus einer kaum we¬
niger furchtbaren Gefahr entgegen. Vespasian wollte ihn anfangs an Nero
schicken, aber der gewandte Mann wußte Titus für sich einzunehmen und
Vespasian zu imponiren, indem er sich mit dem Nimbus des Prophetenthums
umgab, und ihm die künftige Kaiserwürde weissagte. Sogleich in einer an¬
ständigen Gefangenschaft gehalten, wurde er mit immer größerer Auszeichnung
behandelt, je mehr seine Prophezeihung sich ihrer Erfüllung näherte. Nach'
dem er im römischen Lager der Belagerung und Einnahme Jerusalems bei¬
gewohnt hatte, begab er sich mit Titus nach Rom, wo ihm Vespasian sein
eignes früheres Haus zur Wohnung anwies, ihm das römische Bürgerrecht,
em Jahrgehnlt und große Güter in Judäa schenkte. In seiner nunmehrigen
Muße verfaßte er seine Werke. Sein Todesjahr ist unbekannt. Es verdient
Bemerkung, daß er des Christenthums und seines Stifters so gut wie nirgend
gedenkt. Schwerlich hatte er einen Grund es absichtlich zu ignoriren, ver¬
muthlich ahnte er nichts von seiner welthistorischen Bedeutung und legte ihm
ebenso wenig Gewicht bei. wie den zahlreichen pseudomessianischen Bewegungen,
die sich damals in Iudüa kundgaben, und deren er auch zuweilen gedenkt.
Daß der Mann, der es vermochte den Vennchtungskampf und Untergang
seines Vaterlandes aus dem Lager der Feinde mit anzusehen, in seiner Dar¬
stellung dieser furchtbaren Katastrophe nur sehr bedingten Glauben verdient,
versteht sich von selbst. Glücklicherweise gibt er thatsächliches Material genug,
um seine eigne Erzählung zu controliren und vielfach auch zu widerlegen.
Man braucht bei Josephus nicht einmal zwischen den Zeilen zu lesen, um sich
zu überzeugen, daß die Juden zum Aufstande so gut wie gezwungen wurden,
daß selbst der Untergang ihnen als Erlösung vus unerträglichen Zuständen
willkommen sein mußte, und dieser Untergang war keineswegs so gewiß, die
Empörung keineswegs ein so völlig hoffnungsloses und verrücktes Unternehmen,
als Josephus es darstellt.
In einer Beziehung haben wir die vollste Sicherheit, daß Josephus uicht
zu viel gesagt hat: in allem Schlimmen nämlich, was er der römischen Ver¬
waltung von Judäa nachsagt. Zustände, über welche ein solcher Bericht mit
Titus ausdrücklicher Genehmigung veröffentlicht werden konnte, müssen in der
That himmelschreiend gewesen sein. Im Allgemeinen haben wir Grund zu
glauben, daß die Provinzen sich in den ersten Jahrhunderten der Kaiserzeit
leidlicher befanden als während der Republik, wenigstens scheint der Grund¬
satz Tibers im Ganzen befolgt worden zu sein, daß man die Schafe zwar
scheeren, aber nicht schinden müsse. Das unglückliche Judäa aber siel in die
Hände einer Reihe von nichtswürdigen Landpflegern (Procuratorem), deren
schamlose Erpressungen und brutale Gewaltthaten selbst.orientalische Geduld
erschöpfen mußten. Und doch hätte das beklagenswerthe Volk auch diese
furchtbare Knechtschaft wenigstens länger ertragen, wäre nicht sein theueres
Gut, der Glaube und das Gesetz seiner Väter, mit Rohheit verhöhnt und an¬
getastet worden. Aber hier war die Grenze der Geduld, hier stieß die römische
Gewaltherrschaft auf einen Widerstand, den sie weder zu biegen noch zu
brechen vermochte. Als Pontius Pilatus (Procurator seit 25 nach Chr.) zuerst die
Bilder des Kaisers Tiber nach Jerusalem bringen lassen wollte (was das jüdische
Gesetz verbot), strömte eine zahllose Volksmenge nach seiner Residenz Cäsarea,
um ihn zur'Zurücknahme des Befehls zu bewegen. „Da Pilatus die Bitte
abschlug, warfen sie sich zu Boden und, blieben fünf Tage und ebenso viel
Nächte liegen, ohne sich zu rühren." Der Herr Uebersetzer erinnert hier sehr
passend an ein ähnliches Verfahren, womit das gemeine Volk in Indien zu¬
weilen die Behörden zur Gewährung von Bitten zu bewegen sucht, das so¬
genannte Sthirnasitzen. „Am folgenden sechsten Tage setzte sich Pilatus in
der großen Rennbahn auf den Richterstuhl. und ließ das Volk zu sich rufen,
wie um ihm Bescheid zu geben, hatte jedoch zuvor den Soldaten den Befehl
ertheilt, auf ein gegebenes Zeichen die Juden mit den Waffen in der Hand
zu umringen. Plötzlich von einer dreifachen Linie Bewaffneter eingeschlossen,
gaben die Juden in der Bestürzung über diesen Anblick keinen Laut von sich;
als aber Pilatus erklärte, er werde sie niederhauen lassen, wenn sie nicht die
Bilder des Kaisers aufnahmen, und demgemäß den Soldaten den Befehl gab,
ihre Schwerter zu entblößen, da sielen die Juden wie auf geschehene Verab¬
redung sämmtlich nieder, streckten ihre Hälse dar und riefen laut, lieber woll¬
ten sie sich umbringen lassen, als das Gesetz übertreten. Erstaunt über diesen
religiösen Heldenmuth gab Pilatus Befehl, die Bilder sogleich aus Jerusalem
zu entfernen." Ein Versuch, den Caligula machte, seine Standbilder im Tem¬
pel aufrichten zu lassen, scheiterte an demselben einmüthigen todesverachtenden
Widerstande. Der römische Feldherr Petroninus, den Caligula mit einer bedeu¬
tenden Truppenabtheilung nach Judäa schickte, um seinem Willen Gehorsam
zu erzwingen, überzeugte sich, daß er durch Anwendung von Gewalt ebenso
wenig ausrichten würde, als durch Bitten und Drohungen. Es war in der
Saatzeit; in der allgemeinen Aufregung des Landes blieben die Felder un¬
bestellt, schon fünfzig Tage waren mit fruchtlosen Verhandlungen vergangen,
da entschloß sich Petroninus. um die drohende Hungersnoth abzuwenden, von
der Erzwingung des kaiserlichen Befehls aus eigne Gefahr abzustehen. Cali-
gulas Ermordung beendete bald darauf diese Krisis.
Noch eine Reihe von Jahren ließ sich die aufs Aeußerste gereizte Stim¬
mung der Nation beschwichtigen. Endlich brachte die brutale Gemeinheit des
Procurators Cassius Florus (64 nach Chr.) die Empörung zum Ausbruch.
Ohne Mitleid und ohne Scham mißhandelte er das unglückliche Land aufs
furchtbarste. Ganze Städte, sagt Josephus, verarmten, ganze Gemeinden
gingen durch seine Erpressungen zu Grunde; ganze Bezirke wurden durch seine
Habsucht entvölkert; viele verließen ihre väterlichen Wohnsitze und flohen in
andere Provinzen. Als Cassius Gallus, der Statthalter von Syrien (welchem der
Procurator von Judäa untergeben war) um die Zeit des Passahfestes nach
Jerusalem kam, umringte ihn das ganze zu dieser Feier zusammengeströmte
Volk (nach Josephus nicht weniger als drei Millionen) mit flehentlichen Bit¬
ten um Erbarmen und Abhilfe. Aber diese hatten keinen andern Erfolg, als
daß Florus nur um seine Sicherheit besorgt zu werden anfing und den Druck
bis zum Unerträglichen steigerte, um einen Aufstand herbeizuführen, weil er
dann hoffen konnte, die Juden in Rom als den schuldigen Theil erscheinen
zu lassen.
Die nächste Veranlassung des Aufstandes war ein Raub, den Florus am
Tempelschatz verübte. Diese freche Gewaltthat erregte lautes. Murren. Der
Procurator, ohne Zweifel sehr froh einen Conflict herbeigeführt zu haben, er¬
schien mit Truppen in Jerusalem. Vergebens baten die Hohenpriester und
Vornehmen, nicht das ganze Volk die Aeußerungen einiger Unzufriedenen ent¬
gelten zu lassen. Florus gab die wehrlose Stadt seinen Soldaten Preis, die
nun wie in einer eroberten Festung plünderten und mordeten. Juden, die
römische Ritter waren, wurden gegeißelt und ans Kreuz geschlagen; die Ge-
sammtzahl der an diesem Tage Angekommenen betrug mit Einschluß der
Weiber und Kinder 3600, und doch gelang es nach diesem furchtbaren Ge¬
metzel den Hohenpriestern, das Volk zu besänftigen; so tief war die Furcht
vor der römischen Macht eingewurzelt. Aber Florus, seinem System getreu,
fachte den Aufruhr durch eine neue Gewaltthat wieder an. Jetzt endlich setzte
sich das Volk zur Wehr, und Florus verließ Jerusalem. Cassius Gallus
überzog nun mit einer Armee von 30,0000 Mann Judäa, um die Empörung
zu unterdrücken. Die offenen Städte und Dörfer wurden niedergebrannt, die
Einwohner zu Tausenden geschlachtet; aber gegen Jerusalem einen entscheiden¬
den Schlag zu führen, war der römische Feldherr nicht im Stande. Er trat
den Rückzug an, und auf diesem Rückzüge gelang es den Juden, ihm in'
mehren Gefechten bedeutenden Schaden zuzufügen, so daß er im Ganzen
Legen 6000 Mann verlor. Dieses war der Anfang des Endes. Der Bruch
mit Rom war nun unwiderruflich, die Kriegspartei fand kaum noch Wider¬
spruch, die Stimmung des Landes ging in hohen Wogen. Der Gott Israels,
der sein Volk aus Aegypten. von den Assyrern und aus der babylonischen
Knechtschaft erlöst hatte, schien ihm jetzt wieder sichtbar die Hand zu seiner
Befreiung zu bieten. Bis aus den letzten Augenblick blieb die Ueberzeugung
der Gläubigen unerschütterlich, Jerusalem könne nicht in Feindes Hand fallen,
der Tempel nicht untergehn. Gott werde ein Wunder thun. Diese begeisterte
Zuversicht nährten falsche Messiasse. mehr Schwärmer als Betrüger, die Be-
freiung vom römischen Joch verhießen und Tausende von Anhängern fanden.
Eine Weissagung, daß um diese Zeit einer aus Judäa die Weltherrschaft er¬
langen würde, bestärkte die messianischen Hoffnungen. Auch die Römer er¬
wähnen sie. sie ist nachher auf Vespasian bezogen worden. Es war also
mehr als hinreichender Zündstoff vorhanden, um die leidenschaftliche Auf¬
regung und den religiösen Fanatismus zum lodernden Brande anzufachen;
aber auch eine ruhigere Erwägung der Situation konnte das Gelingen der
Erhebung kalten als unmöglich erscheinen lassen. Daß es nicht unmöglich
sein werde, den Römern Widerstand zu leisten, hatten die eben über Cassius
errungenen Vortheile gezeigt. Die Kriegsbereitschaft des Volkes konnte man
, sehr hoch anschlagen, ebenso die materiellen Hilfsquellen des Landes. Von
dem benachbarten Königreiche Adiabcne. dessen Regentenfamilie dem Juden¬
tum eifrig ergeben war, durfte man nachdrückliche Unterstützung erwarten,
und vielleicht ließ sich das mächtige parthische Reich zur Bundesgenossenschaft
oder doch zu Demonstrationen bewegen. Von den in Vorderasien, Aegypten
und Kyrene und auf den Inseln des Archipels zahlreich angesiedelten Glau¬
bensgenossen hatte man Zuzug und Beiträge zur Vertheidigung des National-
heiligthums zu hoffen. In Aegypten allein wohnte eine Million Juden (un¬
gefähr der achte Theil der ganzen Bevölkerung). Gelang es. in dieser hochwich¬
tigen Provinz einen Aufstand herbeizuführen, so sonnte dadurch sür Rom eine
sehr ernste Verlegenheit entstehen.
Alle diese Hoffnungen waren freilich chimärisch, wenn es der Empörung
an militärischer Organisation und einheitlicher Leitung gebrach-, und beides
fehlte gänzlich. Vielleicht wäre Josephus im Stande gewesen, die militärische
Leitung zu übernehmen. Die Führer der Patnotcnvartei aber scheinen reine
Naturalisten gewesen zu sein, denen außer einer wilden Tapferkeit zu Feldherrn
nichts weniger als alles abging. Die kämpfende Mannschaft war zahlreich und
kühn bis zur Verwegenheit, aber mangelhaft bewaffnet, undisciplinirt bis zur
Zügellosigkeit. ungeschult und ungeübt. In Anerkennung ihres todesver¬
achtenden Muthes sind Tacitus und Josephus einstimmig. Der Tod, sagt der
letztere, schien ihnen ein geringfügiges Uebel, wenn es ihnen nur zugleich ge¬
lang, einen Feind mitzutödten. Der Ungestüm ihrer Angriffe war so groß,
daß sie oft die Feinde durch die Last ihrer Leiber umwarfen, mit denen sie
sich in die vorgehaltenen Speere stürzten. Aber diese tollkühne Wuth vermochte
die festen Colonnen der vortrefflich disciplinirten und angeführten römischen
Legionen nicht zu brechen, und Tausende opferten sich in nutzlosen Heroismus.
Dagegen vermochten sie den Römern, denen sie im offenen Felde niemals ge¬
wachsen waren, im Festungskriege die Spitze zu bieten, ja sogar die Ober¬
hand zu behalten: also dieselbe Erscheinung, die sich in allen orientalischen
Kriegen wiederholt hat. Josephus leitet sie bei den Juden aus der ihnen
eigenen Ausdauer im Unglück her. Nur waren sie bei Belagerungen inso¬
fern sehr im Nachtheil, als sie nicht verstanden mit Belagerungsgeschütz um¬
zugehen, welche Waffe die Römer zu einer hohen Vollkommenheit entwickelt
hatten. Sie lernten es erst während der letzten Belagerung von Jerusalem.
Wenn unter diesen Umständen das Gelingen des Aufstandes schon mehr
als zweifelhaft war, so wurde es durch das Uebel gradezu unmöglich, an
dem die jüdische Nation von jeher gekränkt hatte, durch das sie in die Gewalt
Roms gerathen war und das ihr nun für immer den Untergang bereitete:
innere Zwietracht und Anarchie infolge politischer und religiöser Spaltungen,
Zeloten'und Gemäßigte, Kriegs- und Friedenspartei führten auch seit-dem
Ausbruch der Empörung im ganzen Lande einen Bürgerkrieg bis aufs Messer.
Die Gährung dieser wie jeder Revolution hatte natürlich die unlautersten
Elemente nach oben gebracht. Die sogenannten Sicarier d. i. Mörder, der
Auswurf der Zelotenpartei, wüthete mit Mord und Plünderung gegen alle
wirklichen oder angeblichen Römerfreunde. In Jerusalem hausten, die Ge¬
mäßigten abgerechnet, vier verschiedene Parteien, die sich in verschiedenen
Quartieren verschanzten, sich förmliche Schlachten lieferten, die Stadt mit Zer¬
störung und Brand verwüsteten und in selbstmörderischen Wahnsinn ihre
kolossalen Getreidevorräthe vernichteten. Josephus Schilderungen sind hier
natürlich am wenigsten zuverlässig; denn abgesehen davon, daß er die Vor¬
gänge im Innern der belagerten Stadt nur von Hörensagen berichtet, hatte
er ein nur zu dringendes Interesse, die Vertheidiger Jerusalems als fanatisirte
Räuberbanden darzustellen. Tacitus Darstellung (feine Historien sind leider
nur bis zum Anfang der Belagerung erhalten) würde hier von unschätzbarem
Werthe sein; doch so viel wissen wir auch durch ihn, daß die Vertheidigung
nicht etwa durch eine Minorität geführt wurde, während die Majorität in
ohnmächtiger Theilnahmlosigkeit zuschaute: sondern daß alle Waffenfähigen
mit beispielloser Todesverachtung kämpften, und daß auch Frauen und
Kinder an dem Kampfe Theil nahmen. Wie viel auf Josephus tugendhafte
Entrüstung über die Schändlichkeit der Zeloten zu geben ist, können wir
gelegentlich beurtheilen. Als ein ungeheures Verbrechen berichtet er, daß
Johannes von Gischala goldene Tempelgeschenke einschmclzen ließ, ja daß er
sogar (man denke!) nicht einmal die von August und seiner Gemahlin ge¬
stifteten Weinkammer schonte, und daß er heiliges Oel und Wein unter das
hungrige Volk vertheilen ließ. Hiermit, fügt der Pharisäer mit frommem
Augenverdrehen hinzu, habe die gottlose Frevlerhrut mehr als Sodoms
Schicksal verdient. Doch das ist freilich unzweifelhaft, daß erst zu Anfang
der Belagerung in Jerusalem zwischen den fechtenden Parteien eine noth¬
dürftige Eintracht hergestellt wurde und daß vor und während der Belagerung
in der unglücklichen Stadt ein furchtbarer Terrorismus herrschte.
Die Belagerung begann im April des Jaures 70 n. Chr. Von den
drei Mauern, die die Stadt umgaben, nahmen die Römer nach funfzehn-
tägiger Arbeit trotz verzweifelter Gegenwehr die äußerste ein und machten sich
dann in vier Tagen zu Herren der dahinter aufgerichteten Zwischenmauer und
der Vorstadt Bezetha. Zur Erstürmung der zweiten Mauer und der (von
Herodes zu Ehren Marc Antons so genannten) Burg Antonia an der Nordwest¬
seite des Tempels warfen die Römer vier Dämme auf, die nach siebzehn¬
tägiger Arbeit vollendet waren. Aber die Belagerten waren nicht müßig ge¬
wesen, sie hatten von der Antonia aus die römischen Dämme unterminirt
und mit Pfählen gestützt, die nun plötzlich angezündet wurden, worauf die
Dämme in Qualm, Rauch und aufschlagenden Flammen einstürzten. Bei
einem Ausfall, zwei Tage darauf, steckten die Juden auch die Maschinen
in Brand.
Titus verzweifelte nun an dem Erfolg einer Bestürmung und entschloß
sich zur Blockade. Mit einer allen Glauben übersteigenden Schnelligkeit stieg
die Mauer in die Höhe, die Jerusalem von allen Seiten einschloß. Wenn
sich in der Stadt der Mangel an Lebensmitteln schon längst fühlbar ge¬
macht hatte, so begann nun der Hunger aufs furchtbarste zu wüthen. Das
Maß Weizen, erzählten Ueberläufer, sei zuletzt um ein Talent (1500 Thlr.)
verkauft worden. Die ekelhaftesten Dinge wurden gierig verschlungen; Cloaken
nach Resten von Eßbarem durchstöbert. Eine Frau aus dem transjordanischen
Lande, aus reichem und angesehenen Geschlecht, Namens Mirjam, schlachtete
und briet ihr eigenes Kind sich zur Speise. Häuser und Straßen füllten sich
mit Leichen, zu deren Begrabung es bald an Händen fehlte. Der Befehls¬
haber einer Thorwache, der zu den Römern überging, erzählte, aus diesem
einzigen Thor seien von April bis Juni 115,880 Todte humusgetragen wor¬
den. Natürlich fehlte es nicht an Ueberläufern. Viele derselben hatten Gold¬
stücke verschluckt. Sobald dies bemerkt wurde, fingen die arabischen und
syrischen Soldaten die Flüchtlinge und schlitzten ihnen die Bäuche auf, um
sie nach dem Golde zu durchsuchen. Nach Josephus wären in einer Nacht
2000 auf diese Weise umgekommen. Titus Strafandrohung bewirkte weiter
nichts, als daß diese Greuel heimlich verübt wurden.
Unter all diesen Schrecken des Todes, furchtbarer als die kühnste Phan¬
tasie sie erfinden könnte, ließ die Energie der Vertheidigung um kein Haar ^
breit nach. Schon fing sich nach Josephus im römischen Lager die Besorgniß
an zu regen, Jerusalem sei uneinnehmbar. Im Juni oder Juli siel endlich die
Burg Antonia, aber hinter ihr war eine neue Mauer aufgerichtet worden.
Die Hallen, welche die Antonia mit dem Tempel verbanden, brannten die
Juden selbst nieder, andere gingen bei den Stürmen der Römer in Feuer
auf. Der nächste Angriff galt dem Tempel selbst. Sechs Tage lang ver-
suchten die Römer vergebens seine Außenwerke zu erschüttern. Titus hätte
dieses in der ganzen alten Welt verehrte und berühmte Gotteshaus gern ge¬
schont. Aber bei einem Handgemenge (am 5. August), wo die Römer den
Juden bis in den Tempel nachdrängen, schleuderte ein Soldat, von einem
Kameraden emporgehoben, einen Brand durch das sogenannte goldene Fenster.
Die Flamme griff um sich, zu spät eilte Titus herbei, seine Befehle verhallten
ungehört im Getümmel und der Tempel ging in Feuer auf.
Auch nach dem Brande des Nationalheiligthums dauerte die Vertheidi¬
gung der obern Stadt mit unverminderter Hartnäckigkeit fort. Auch jetzt, wo
alle Hoffnung geschwunden war, mußten die Römer noch jeden Zollbreit
Boden mit Strömen von Blut erkaufen. Erst am zweiten September des
Jahres 70 ging die Sonne über den rauchenden Trümmern Jerusalems auf.
Mehr als eine Million Juden war nach Josephus bei der Belagerung um¬
gekommen. An 100,000 wurden gefangen. Von diesen ward eine große
Zahl hingerichtet, eine andere Menge verschmachtete aus Mangel an Nahrung,
Tausende wurden in Gladiatorenspielen und Thierkämpfen geschlachtet, Tausende
in die ägyptischen Bergwerke gesendet, die übrigen, namentlich alle unter
17 Jahren, als Sklaven verkauft. Mit der Zerstörung Jerusalems war der
eigentliche Herd des Aufruhrs erloschen. Der Krieg konnte als beendet an¬
gesehen werden. Vespasian und Titus ließen die Denkmünze der ^na^Ä eaM
schlagen, die als trauerndes Weib vor einem aufrecht stehenden Krieger unter
einer Palme sitzt, und hielten einen der prachtvollsten und eigenthümlichsten
Triumphe, die Rom je gesehen hatte. Ueber der heiligen Straße, nicht weit
vom Aufgange zum Capitol erhob sich der Triumphbogen, an dessen Reliefs
die Opfertische und der siebenarmige Leuchter, von Soldaten getragen, noch
heute zu sehen sind. Die römischen Juden sollen lange diesen Weg ver¬
mieden haben.
An einigen Punkten Judüas glimmten die Reste des großen Brandes
noch fort. Erst am Passahfest 73 n. Chr. siel die letzte Festung Maseda und
ihr Fall war ein schauerliches Nachspiel der großen Katastrophe. Die dort
Eingeschlossenen wählten zehn aus ihrer Mitte, die alle übrigen tödteten und
zuletzt einander. Die Zahl der Todten, Weiber und Kinder mitgerechnet, be-
lief sich aus neunhundertsechzig.
Es ist ohne Zweifel sehr zu bedauern, daß wir die Geschichte des jüdi¬
schen Krieges nur in einer innerlich so unwahren und gefärbten Erzählung
besitzen: aber selbst in dieser verfehlt der hochtragische Gegenstand nicht seinen
ergreifenden Eindruck, der freilich anderer Art ist als der Verfasser beabsichtigte.
Um so mehr, da Josephus ein in der That sehr großes Darstcllungstalent
besitzt, und in anschaulicher Lebendigkeit der Schilderung nichts zu wünschen
übrig läßt. Für ihn wäre es freilich ehrenvoller gewesen, in der Vertheidi-
gnug seines Vaterlandes den Tod zu finden, aber wir würden dann um ein
sehr interessantes Buch ärmer sein.
Mit der Productivität unsers Theaters steht es so schwach, daß wir wie¬
der in der Lage sind, zu den ersten besten pariser Fabrikaten zu greisen, um
nur überhaupt etwas Neues zu haben. Es war schon einmal so, und man
hat sehr lebhafte .Magen darüber gehört, daß sich das deutsche Publicum mehr
an Scribes Lustspielen ergötzte als an den einheimischen Producten. Damals
aber hatte die Klage keinen rechten Grund, denn so viel man an Scribe aus¬
setzen mochte, seine Stücke waren immer noch viel besser gearbeitet, als was
bei uns geschrieben wurde, und er führte seine Zuhörer in die gebildete Ge¬
sellschaft ein, aus der sich unser Theater mehr und mehr entfernte. Was uns
aber heut aus Paris geliefert wird, ist in doppelter Beziehung verwerflich:
es schildert uns die ekelhaftesten Zustünde und es ist im schlechtesten Sinn des
Worts gemacht; es hat durchaus keinen Grund seiner Existenz, als daß es den
heimlichen Gelüsten des Pöbels schmeichelt. In diese Gattung gehört die
Fiammina. die, so viel wir wissen, über alle deutsche Theater gegangen ist.
obgleich sie nichts Anderes enthält, als eine verschlechterte Auflage von Men¬
schenhaß und Reue; in diese gehört ebensalls der natürliche Sohn von dem
jüngern Dumas, dem eifrigen Nachfolger seines Vaters, der jetzt der eigent¬
liche Beherrscher der pariser Bühne geworden zu sein' scheint.
Die Ähnlichkeit zwischen den beiden Dumas, namentlich wenn man die
ersten Dramen des ältern ins Auge faßt, liegt hauptsächlich im Stoff. Beide
behandeln das Laster, beide stellen es in einer Nacktheit dar, die wenig zu
wünschen übrig läßt. Stellen wir die Werke des jüngern Dumas zusammen:
Die Cameliendcune, Diane de Lys, die äöiiü-invnckiz, die Geldfrage und den
natürlichen Sohn, so kann man nicht sagen, daß der Sohn hinter seinem
Vater zurückbleibt. Der Vater schilderte in Anthony, Angele u. s. w. das
Laster, aber er schilderte es als einen individuellen Angriff gegen die bürger¬
liche Gesellschaft, die in ihren Gewohnheiten, Sitten und Gesetzen immer noch
dem alten Begriff von Recht und Unrecht folgte. Der Sohn dagegen führt
uns in eine Welt ein. in welcher das Laster Gewohnheit, ja Sitte geworden
ist. In der angeblichen Intention ist er tugendhafter als sein Vater, er
warnt vor den schlechten Gewohnheiten der (Jenen-nouae;, während der ältere
Dumas nicht selten sich auf die Sette des Lasters stellt. Wer wäre über¬
haupt in Frankreich heut nicht tugendhaft! Die Regierung, voran und mit
ihr im Bunde alle gut gesinnten Gegner des Socialismus. Aber man weiß.
was diese Tugend sagen will — ging doch auch der Verfasser der „I^iaisons
cliMAtZreusös" von moralischen Absichten aus.
In der Sprache, überhaupt in der äußern Form, scheint ein Fortschritt
stattzufinden. Der ältere Dumas plauderte mit höchster Ungenirtheit. wie
man in seinen Gesellschaften zu plaudern gewöhnt war, und sein Stil verrieth
fast in jeder Zeile den schlechten Umgang. Bei dem Sohn zeigt sich dagegen
das offenbare Streben, elegant und distinguirt zu sprechen, er wählt seine
Ausdrücke, er sucht so viel Feinheiten als möglich darin anzubringen, wobei
es ihm doch nicht gelingt, die angeborne Nüchternheit und Trockenheit zu
überwinden. Aber wir ziehn noch immer die freilich nicht selten brutale, ja
man-kann zuweilen gradezu sagen bestialische Form des ältern Dumas bei
weitem vor; denn in ihr hörte man wenigstens bis zu einer gewissen Grenze
die Stimme der Natur, er sprach wie es ihm ums Herz war, er war im
Stande die Leidenschaft zu schildern, weil er nur der Leidenschaftlichkeit seiner
eignen Natur Worte lieh. Von dieser Leidenschaft ist bei seinem Sohn keine
Spur. Es ist alles die kälteste raffinirte Berechnung, er weiß, was sein Pu-
blicum verlangt, und macht es ihm zurecht, theils durch gute Beobachtung,
theils durch frühere Lectüre dazu befähigt. Wie sehr er von den Reminiscenzen
älterer Dichter abhängig ist, zeigt am deutlichsten sein erstes Stück, die Camelien-
dame. Er hatte den Stoff früher in einer Novelle behandelt, die nichts
Anderes war, als eine Variation auf das Thema der Manon Lescaut, aber
eine Variation, die sich hauptsächlich an eure neuere Novelle von M6rim6e,
Arsvne Guillot, anlehnte. Wie Arsönc Guillot verband die Cmneliendame mit
der herkömmlichen Gemeinheit ihres Handwerks viel Gutherzigkeit und Liebens¬
würdigkeit, gleich ihr erregte sie die Theilnahme der Leser dadurch, daß sie
schwindsüchtig war, was sehr realistisch dargestellt wird, aber man muß diese
beiden Novellen miteinander vergleichen, um zu ermessen, wie tief die Kunst
gesunken ist. Mörimöes Darstellung war nicht blos von einer wunderbaren
Naturtreue, sondern auch wahrhaft poetisch, während in der Cameliendame die
häßliche, abschreckende Wirklichkeit mit einer nicht grade angenehmen falschen
Sentimentalität überkleidet ist. In jedem seiner Stücke sucht Alexander Du¬
mas die Neugier des Publicums dadurch zu reizen, daß er es in einen ver¬
steckten Winkel jenes von der sittlichen Welt geschiedenen, aus den gemeinsten
Motiven beruhenden Lebens einführt. Nähme man aber seinen Stücken die¬
sen Hautgout, so bliebe nichts übrig, als die gewöhnlichste Intrigue auf jene
rohe Weise skizzirt, wie die Franzosen es in ihren sogenannten Melodramen
gewöhnt sind.
Freilich hat der Dichter die Gabe der Beobachtung, er hat über seinen
Gegenstand viele Realstudien gemach-t und weiß das ganz Gemeine des
Lebens zuweilen mit einer erschreckenden Anschaulichkeit auszumalen. Aber er
hat nicht die Gabe des echten Dichters, in der Charakteristik das Zufällige
vom Nothwendigen zu sondern, seine Charaktere sind keine Typen, deren innere
Wahrheit und Nothwendigkeit jedem Unbefangenen einleuchtet, sondern Genre¬
bilder, denen das Einzige fehlt, was dieser Gattung Berechtigung verleiht, der
Humor. Vollständige Trockenheit des Herzens, eine trostlose Altklugheit, die
über alle Illusionen und allen Glauben hinaus ist, und das Ganze nicht sel¬
ten in einer weinerlichen Form vorgetragen: das ist der Inhalt, den seine
Stücke uns bieten. Die bloße Copie der sogenannten Natur d. h. der zu¬
fälligen Erscheinung reicht niemals aus, wo es gilt den Menschen in seiner
Kraft, gleichviel ob im Guten oder im Bösen darzustellen; denn die Beob¬
achtung gibt nur Bruchstücke; den innern Zusammenhang, das Princip und
die leitende Kraft muß die Kunst des Dichters hinzufügen. Wir haben uns
über das Mißverständniß in Bezug aus den Begriff des Realismus, in wel¬
ches die meisten unserer jüngern Dichter verfallen, bereits mehrfach ausge¬
sprochen, wir freuen uns, dieselben Ansichten von dem geistvollen Kritiker der
Revue des deux Mondes, Emile MoMgut, vertreten zu sehn, der sich jetzt auf
eine höchst erfolgreiche Weise bemüht, den Posten des verstorbenen Planche
würdig auszufüllen.
Zu Anfang dieses Jahrhunderts, als das Interesse an literarhistorischen
Studien seinen Anfang nahm, beschränkte man sich fast ausschließlich darauf,
die höchsten Gipfel der Poesie miteinander zu verbinden und nach ihnen die
Perspective auf den allgemeinen Entwickelungsgang derselben zu bestimmen.
Bei den großen Fortschritten dieser Wissenschaft bemüht man sich jetzt im
Gegentheil, die minder bekannten Gebiete der Literatur zu durchforschen, und
mit mehr oder minder Bewußtsein darauf aufmerksam zu machen, wie viel
die eigentlich genialen schöpferischen Naturen der fertigen Bildung und den
sittlichen Anschauungen' ihrer Zeit verdanken. Durch dies gründlichere Ein¬
gehn auf den stillen Bildungsproceß, auf das unmerkliche Werden und Wach¬
sen des Geistes wird der historische Sinn ungemein gefördert, sobald man
nur über diesen mikroskopischen Untersuchungen den großen Blick für das All-'
gemeine nicht verliert, sobald man sich nur daran erinnert, daß durch die
Aufzählung der chemischen Elemente, aus denen eine schöpferische That her¬
vorging, diese That selbst lange noch nicht erklärt ist. So überzeugen uns
z. B., um vorzugreifen, grade die gründlichern Untersuchungen über die Bil¬
dungselemente der shakespeareschen Zeit immer mehr davon, wie hoch Shake-
speare über seiner Zeit stand, nicht blos durch die geniale Kraft der Dar¬
stellung sondern auch durch seinen freien, echt menschlichen Blick.
In der Reihe literarhistorischer Monographien, durch welche unsere
Wissenschaft in neuster Zeit bereichert ist, heben wir zunächst die Entwicke¬
lungsgeschichte der französischen Tragödie vornehmlich im 16. Jahr¬
hundert von Adolph Ebert hervor (Gotha, Perthes). Grade hier liegt
unsere Kenntniß noch sehr im Argen, weil das Zeitalter Ludwigs XIV. mit
seinem scharf ausgesprochenen künstlerischen Charakter die Erinnerung an dje
frühere französische Entwickelung ganz aus unserm Gesichtskreis gedrängt hat.
Herr Ebert hat sich die doppelte Aufgabe gestellt, den Zusammenhang zwischen
der mittelalterlichen gewissermaßen elementarischen Volksbühne und dem mo¬
dernen Kunstdrama, und den Zusammenhang dieser Uebergangszeit mit dem
allgemeinen großen Umschwung, den die Menschheit dem Humanismus ver¬
dankt, nachzuweisen. Es ist ihm im Allgemeinen vortrefflich gelungen, und
das Buch nimmt in unserer literarhistorischen Wissenschaft eine nicht unbedeu¬
tende Stelle ein.
Von der Schrift! Shakespeares Zeitgenossen und ihre Werke,
in Charakteristiken und Übersetzungen, von Friedrich Bodenstedt (Berlin,
Decker) ist bis jetzt der erste Band erschienen, der die Werke John Web¬
st ers enthält. Das bedeutendste seiner Dramen, die Herzogin von Amalfi,
1623, also sieben Jahre nach Shakespeares Tod gedruckt, ist ganz mitgetheilt, so
vortrefflich übersetzt, wie wir es von der Kunst des Herausgebers zu erwarten
berechtigt sind. Von den übrigen Stücken: Vittoria Accorombona, des Teu¬
fels Rechtshändel, Appius und Virginia u. f. w. sind sehr zweckmäßige
charakteristische Auszüge gegeben, und durch kurze literarische und biographische
Notizen wird dem Leser das Verständniß erleichtert. Das Unternehmen ist
dankenswert!), und recht für das Bedürfniß eines größeren Lesekreises ein¬
gerichtet. Nur beiläufig bemerken wir, daß wir mit dem Urtheil des Ver¬
fassers nicht ganz übereinstimmen: daß wir auch die Herzogin von Amalfi an
Werth höchstens neben Titus Andronicus stellen können. Dagegen schließen
wir uns unbedingt der Auffassung des shakcspeareschen Zeitalters im Allge¬
meinen an. Dycc, der englische Herausgeber Websters, macht eine Bemer¬
kung, die man von unsern Verehrern des Mittelalters zu häufig hört, als
daß man sie nicht berücksichtigen sollte. „Vielleicht hat sich die Bühnenspra'che
nur in demselben Maße veredelt, als unsere Sitten sich verschlimmert haben,
und wir fürchten die Erwähnung von Lastern, welche wir uns nicht scheuen
M üben, während unsere Vorfahren weniger zimperlich als wir, aber desto
energischer in Grundsätzen, sorglos in Worten und vorsichtig nur im Handeln
waren." Herr Bodenstedt erwidert darauf mit vollem Recht: Ich kann mit
dieser Ansicht des Herrn Dyce nicht übereinstimmen; ich glaube, daß unsere
Sitten in demselben Maße sich verfeinert haben wie unsere Ausdrucksweise,
und daß die in den altenglischen Dramen vorkommenden Rohheiten der
Sprache ganz den Sitten der damaligen Zeit gemäß waren. Es war das
eine Zeit, wo England sich aus dem Rohen herausarbeitete zu leiblicher
Wohlfahrt und geistiger Große, eine Zeit mächtigen Wachsens und Werdens,
wo demselben Boden, der so herrliche Früchte trieb, auch viel Unkraut und
Wuchergewächs entsproßte — eine Zeit unvermittelter Elemente, und scharf
ausgeprägter Gegensätze in den Eigenschaften der Menschen, wie in ihrer ge¬
sellschaftlichen Stellung. Auf der einen Seite hohes Streben, männlicher
Ernst, die strengste sittliche Zucht und Würde; auf der andern Seite Ueppig¬
keit, wüstes Wohlleben, Hang zu den wunderlichsten Abenteuern und unerhör¬
testen Ausschweifungen. Doch diese Rohheit war keine zersetzende, raffinirte,
wie sie der Ueberfeincrung, Fäulnis; und Schwäche entspringt, sondern eine
gesunde, frische, von übersprudelnder Kraft zeugende, des edelsten Aufschwungs
und der mächtigsten Leidenschaften fähig.
Eine seht fleißige und gründlich durchgeführte Arbeit ist Ludwig Hol¬
berg, sein Leben und seine Schriften, nebst einer Auswahl seiner Komödien
von Robert Prutz (Stuttgart und Augsburg, Eotta). Der Herausgeber
hat sich seit einer Reihe von Jahren mit dem dänischen Dichter beschäftigt
und bereits 1842 einen ersten Versuch über denselben veröffentlicht. Wenn
er in dem Vorwort die Befürchtung ausspricht, man könnte sein Bestreben
mißverstehen, da bei der gegenwärtigen Spannung zwischen Deutschland und
Dänemark die Pcuteiung sich leicht vom politischen auf das literarische Gebiet
übertragen möchte, so ist das wol eine ungegründete Besorgniß. Um der
dänischen Unverschämtheit entgegenzutreten, die sich doch im Grund nur auf
das Ausland stützt, haben ok' nicht nöthig, ihren Poeten den Werth, der
ihnen in der That zukommt, zu bestreiten. Uebrigens liegen politische Be¬
trachtungen auch bei den Stücken, die Prutz mittheilt, nahe genug. Wenn
wir den politischen Kannengießer auch nicht Holbergs bestes Stück nennen
möchten, so ist es jedenfalls dasjenige, weiches den handgreiflichsten Eindruck
macht und für Deutschland selbst sprichwörtlich geworden ist. Mit so komi¬
scher Kraft nun die Satire sich geltend macht, so sind wir doch jetzt, hundert
Jahre später, geneigt, über manche Punkte anders zu denken als Holberg.
Daß sich die Zünfte um das Gemeinwohl kümmern und über die Gelder, die
sie zahlen, Rechenschaft von den Behörden verlangen, erscheint uns nicht mehr
als eine so exorbitante Forderung, und wenn der wackere Zinngießer von Bre¬
men sich dadurch lächerlich macht, daß er sür Deutschland eine Flotte fordert,
so werden es jetzt grade die Dänen recht gut wissen, daß vieles anders ge¬
kommen wäre, wenn man solche Forderungen nicht mit einem einfachen Ge¬
lächter abgefertigt hätte. Die Satire beruht eigentlich einfach darauf, daß
der Handwerker des Ceremoniels nicht mächtig ist^ mit dem ein gnädiger
Bürgermeister sich umgeben muß. Auch in dieser Beziehung sind wir geneigt,
milder zu urtheilen, und nebenbei bleibt es sehr zweifelhaft, wer sich lächer¬
licher macht, die gefoppte Frau Zinngießerin oder die vornehmen Damen, die,
um die Neckerei durchzuführen, gezwungen sind, ihren Kaffee mit Syrup zu
trinken und ihr die Schürze zu küssen. Doch soll damit nichts gegen das
Stück gesagt sein, dessen komische Kraft nicht genug zu rühmen ist. Ueber¬
haupt hat Prutz eine glückliche Auswahl getroffen, auch die anderen Stücke:
Hans Franzen, Jeppe vom Berge, die Wochenstube, der eilfte Juni, und
Ulysses von Jtacia. gehören in der That zu Holbcrgs besten Lustspielen. Die
Uebersetzung ist der oehleuschlägerschen durchaus vorzuziehen, und wenn sie
uns hin und wieder in Bezug aus die treue Nachbildung zu ängstlich gearbei¬
tet zu sein scheint, so hängt das mit dem hohen Werth zusammen, den Prutz
dem Original beilegt. Gern wollen wir zugeben, daß für die dänische Lite¬
ratur Holberg eine Größe ersten Ranges ist und daß auch die Deutschen ihm
vor Minna v. Barnhelm nichts, nach derselben sehr wenig an die Seite zu
stellen haben, wenn man aber seine Stellung in der Weltliteratur siziren will,
muß man nicht vergessen, daß er nach Moliöre kommt^ den er nicht unbedeu¬
tend benutzt hat, und der ihn nicht blos an Bildung und Geschmack, sondern
auch an wahrhaft komischer Kraft unendlich überragt. Das Verhältniß des
Dichters zu den dänischen Culturzuständen, aus denen er hervorging, hat
Prutz vortrefflich auseinandergesetzt. Ebenso anerkennenswert!) ist seine Be¬
mühung, Holberg nach dem ganzen Umfang seiner schriftstellerischen Leistungen
gerecht zu werden. Daß die Darstellung etwas breiter ist als wünschenswert!),
ist ein Tadel, den wir gegen Prutz schon häufig haben aussprechen müssen.
In der Schrift: B. Hugo, Lamartine und die französische Lyrik
des 19. Jahrhunderts historisch-kritisch zusammengestellt von Honegger,
(Zürich, Meyer und Zeller) finden wir einige treffende Bemerkungen; im
Ganzen ist es aber dem Verfasser nicht hinreichend gelungen, seine wohl¬
gemeinten Empfindungen in klare Begriffe zu übersetzen.
Ein höchst schätzbares Material ist in der Schrift: Die deutsche Kunst
in unserm Jahrhundert. Eine Reihe von Vorlesungen mit erläuternder
Beischrift von Professor Hagen zu Königsberg, 2 Bände (Berlin, Schindler).
Leider müssen wir hinzusetzen, daß der Verfasser, den wir im Uebrigen wahr¬
haft hochachten, das Buch mit einer Nachlässigkeit ausgearbeitet hat. von der
wir in der gesammten Weltliteratur kein Beispiel kennen. Das Buch macht
den Eindruck, als ob der Verfasser alle alten Papierschnitzeln, wie sie zufällig
in seiner Schublade lagen, in die Druckerei geschickt habe, ohne sie vorher
wieder anzusehn. Wenn er einmal die Semiten zu Mongolen macht, so mag
das rein der Feder Schuld gegeben werden, aber wie er componirt, davon
könnten wir fast auf jeder Seite ganz erstaunliche Proben mittheilen: „Goethe
ist in der Gesellschaft nicht einer von den Vielen, sondern ihr unbestrittenes
Haupt, der Polarstern in dem nie untergehenden Sternbilde. Ungeachtet
eines freundschaftlich innigen Zusammenlebens ist es weniger das geflügelte
als das durch den Brief gefesselte Wort, durch welches er weit umher und in
nächster Nähe wirkt; ungeachtet der Tiefurter Festlichkeiten, wo keine Gezwun¬
genheit dem Freudenrausch wehrte, ungeachtet des von ihm gestifteten Kränz¬
chens, bedingt seine Selbständigkeit das Gemessene und eine sich nichts ver¬
gehende Gegenüberstellung u. s. w." oder S. 13: „Hübner ist unter den
Deutschen derjenige zuerst, der das Genre in großartiger Entfaltung unsern
Augen vorführt. Seine Bilder sind bedeutsam, vielleicht etwas zu gewaltsam,
der sein Jagdrecht in der Zeit malte, als der bekannte Meyerheim in Berlin
ein friedliches, ländliches Stillleben mit seinem Kätzchen darstellte und in
dieser Weise zu componiren fortfährt u. f. w." Die Satzverbindung in die¬
sen Stellen gibt eine ungefähre, aber nur schwache Vorstellung von der Art
und Weise, wie die Paragraphen und Capitel aneinandergeflickt sind. Und
es ist doch sehr schade, denn in dieser wüsten Formlosigkeit gehn nicht blos
viele lehrreiche Notizen, sondern auch viele gesunde Urtheile zu Grunde.
Ludwig Schwanes alers Reu qui en für alle, die des Meisters Namen
ehren, erzählt von Franz Trautmann (München. Fleischmann) ist eine lie¬
benswürdige Humoreske, die auf wissenschaftlichen Werth keinen Anspruch
macht.
Es pflegt jede Zeit ein Inschrifteninventar auf kommende Geschlechter
zu vererben. Zunächst hat es seinen Zweck für die jedesmalige Gegenwart
zu erfüllen, dann erbaut sich das Geschlecht der Kinder, der Enkel an dem
nach und nach veraltenden Schatz. Es wird durch die Wandelbarkeit des
schriftlichen Ausdrucks überholt, wird halb unverständlich, endlich Metapher.
Nun erhält es für das Auge des rückwärts blickenden Forschers Interesse.
Verschollene Zeiten werden bei dem Licht entzifferter Inschriften wieder deut¬
licher erkennbar. Es gilt zu vergleichen, zu verknüpfen, Beziehungen aufzu¬
suchen und endlich die gefundene wissenschaftliche Perle in herkömmlicher
Fassung dem allgemeinen Interesse zugänglich zu machen. Seit die Menschheit
sich des schriftlichen Ausdrucks bemächtigte, hat sie den Nachlebenden Aufgaben
dieser Art hinterlassen und es haben sich immer Forscher gefunden, welche die
verdämmernden Spuren untergegangener Zeiten zu retten suchten, während die
noch deutlich erkennbaren Stapfen in der Zwischenzeit vom Sturm der Zeit
weiter verwehten, späteren Geschlechtern nur noch als hieroglyphische Räthsel
vorbehalten.
In folgenden Zeilen seien einige Proben zusammengestellt, wie sie ein
nichtsentimentaler Wandersmann aus einigen seiner Streifzüge ins Taschenbuch
schrieb, Gegenwart und Vergangenheit im bunten Durcheinander.
An einem Hause im südlichen Schwarzwald, nächst Herrischried:
„Ich As steh da und gas.
.Und weil ich gas und steh,
So könnt ich weiter geh."
Eine andere im berner Oberland.gebräuchliche Inschrift:
„Was stehst und lügst mich an?
Mach's besser, war's kann."
An einem Landhause bei Thun:
„Dies Haus steht in Gottes Gewalt,
Ist vorne neu und hinten alt.
Hütte den Meister das -Geld nicht g'reut,
Da hatt' er's nach hinten auch erneut."
An einem Bauerhause in Zschachwitz:
„Mit Gott erbaute ich dies Haus,
Mit Gott geh' ich drin ein und aus,
So lang es Gott, du Herr der Welt,
Mir hier zu wandeln noch gefällt."
In Steiermark an einem neu erbauten Hause, unter dem Bilde des
heiligen Florian, der ein brennendes Haus durch den Inhalt einer Gießkanne
vom Untergange rettet:
„Dies Haus stellt' ich in Gottes Hand,
Da ist es drei Mal abgebrannt.
Nun hab' ich's dem heiligen Florian vertraut
Und hoffe, daß er besser danach schaut."
Auf den Heiligenbildern und an den s. g. Leidensstationen finden sich
in katholischen Landen mancherlei für Volkssitte und Volksgeschmack bezeich¬
nende Inschriften. Sie sind aber meist so verfänglichen Inhalts, daß sie
sich, um mit Goethe zu reden, besser mündlich als schriftlich überliefern lassen.
Der Anfang einer derselben, über welcher die Verspottung Christi dargestellt
ist. lautet:
He-rre- KottL, vnd an intact bau?
worauf eine derbbüunsche Abweisung im Geschmack des Simplicissimus er¬
folgt. Das Bild steht in Einsiedeln.
Der Marktbrunnen in Brück trägt folgende Inschriften:
„Im 1826er ^lahr leb von gemeiner Ltaüt erbauet ^var.
Umb ^vegsn liebellions-Lsekabr
Die StaÄt liinzi Lelagert Zar,
Der Lartelmäo Linker Narelcb tuer gebaltsn var.Dsstvegsn bin ich vorclen Zrab'n,
Dass man sin Kielen IruneK Kau baben.
Ana mag mich vrineblcen Ohne Lorgsn
Hat man Kain Llelt so thue ich borgen.leb Hanns krasser
^rinelcb lieber ^Vellt als Nasser.
Irünelib ich Das Nasser so gern als ^Vsin,
Lo Kumae ich ein rsieberör ?rasser sein."
Im Steirer Wirthshause auf der Wacht steht eine von Pius V. erlassene
Verordnung, nach welcher wer beim Ein- und Ausgehen „Gelobt sei Jesus
Christus" sagt, für jedes Mal. das es geschieht, sich 100 Tage Ablaß
erwirbt.
Aehnliche Verheißungen findet man in guter Auswahl jenseits der Alpen,
wogegen die in deutschen Landen so gebräuchlichen Hüuserinschriften verschwin¬
den. In Sachsen sind dieselben noch in Schwung. Es gibt Dörfer, wo die
Poesie über jeder Thüre stammelt, ähnlich wie auf den Grabsteinen der
Kirchhöfe. In Holstein und Mecklenburg liest man meistens einen Bibelspruch
an dem Thürbalken der Bauerhäuser; darunter die Namen des Mannes und
der Frau. Die Häuser bleiben gewöhnlich in der'nämlichen Familie und so
ersetzt der Thürbalken gewissermaßen den Stammbaum.
Hier noch einige Inschriften aus Italien. In Venedig tragen alle Kir¬
chen Segenswünsche für irgend einen neuen Pfarrer. Solche Herzensergüsse
werden mittelst Schablonen in großen bunten Lettern an die Mauern gemalt.
Sie sprechen in überschwänglichen Ausdrücken die Dankbarkeit der Gemeinde
aus über das ihr in der Person eines so begabten, beredten, menschenfreund¬
lichen Seelsorgers gewordene Geschenk. Eine derselben lautet:
^.1' novella xastore in Le. Nartino I). I'omrnaso ualli osimio beneüeo
religioso i xaroeebiani per uri tanto äono esultano.
Dem nämlichen Prediger wird von andrer Seite an einer Mauer der
Nachbarschaft folgende Huldigung:
^1 novello parroeo in Martina I). I'ommaso Kalli xio-datto-bsnsüeo
i ?arr«ieebiani esultanti tanto bene aä esso äesiäerano «zuanto bene
della religiös», solerisia (Eifer) all lui asxettano.
Nur in Venedig scheinen Inschriften dieser Art gebräuchlich.
In Rom liest man über restaurirten Straßenheiligenbildern mach dem
Datum der Nestaminmg den Zusatz viva ^Sön e Naria!
In einer kleinen Kirche unweit des Capitals findet sich der Segen des
Weihwassergebrauchs in großer Ausführlichkeit inschriftlich festgestellt. Zuerst
die geistigen Wirkungen, worunter wesentlich das Verjagen der Dämonen aus
örtlichen und körperlichen Verstecken; Schutz gegen teuflische Gespenster (Mi-
tÄsmö äiiz.dvliclr<z); Tilgung der läßlichen Sünden (peeeirti voniali); Vertreiben
böser Gedanken; Kräftigung gegen Versuchungen; Hilfe gegen des Dämons
geheime Anschläge und Nachstellungen u s. w.; die andre Abtheilung beschäf¬
tigt sich mit der UMts, corzM'uIt!.
Körperliche und geistige Gebrechen werden durch das Weihwasser geheilt,
schlechte Luft wird gereinigt, Pest und Ansteckung fern gehalten. Schließlich
werden Aussprüche der heiligen Theresia als Erfahrungsbeweise angeführt.
Verfluchungen, wie sie am Schlüsse von päpstlichen Bullen Sitte sind
und ehemals auch auf der ersten Seite der Bücher in Klosterbibliotheken
Sitte waren, finden sich noch hie und da, tragen indessen keine neuen Daten.
Eine solche Verfluchung steht an dem großen venetianischen Findelhause: - ,
I^ulmillg, it LiFnor lääio!
Ng-Ioclitioni e «eoinunielrö
gegen alle diejenigen, welche Kinder Hieher geben, ohne durch Noth dazu
gezwungen zu sein :c. x. Alles nach dem Wortlaut der Vulle api iwLti»
LiKiwi- I>g.xiZ, ?iZ,o1o III. Ä«t,0 aäi 12. Mo. 1548.
Auch das Verhalten in der Kirche, wie es eine Verordnung Leos XII.
regelte, wird in einigen Kirchen Roms durch Inschriften den Kirchgängern ins
Gedächtniß gerufen. Besonders scheinen die Weiber Aergerniß gegeben zu
haben, denn ihrer wird zuerst gedacht und zwar wie keine Beterin zugelassen
wird, die nicht illväostamöntL gekleidet sei und ihren Kopf nicht verschleiert
trage. Die Weiber ack bu-sse» I'opolo sollen ein Tuch oder ein andres Mino
äöceitw über dem Kopfe tragen. Unterhaltung jeder Art wird verpönt und
ebenso it coinmiMtZrv iimzlumiuv ^loue cui nur t-in. clognu. nisi luvM
harte» öde.
Wir schließen mit einem sogenannten Frittisonett. Nach Ablauf der
Fastenzeit wachsen nämlich auf allen Plätzen Roms Fritturaküchen aus der
Erde, jahrmarktartige Buden oder offne Stände, wo man in Fett gebacken«
Fische. Gemüse, Fleischarten und sonstige gute Dinge heiß" aus dem Kessel
verspeist. Die schönsten dieser Buden entwickeln eine solche Fülle von Orangen-,
Myrrhen- und Lorbeergrün, daß sie Abends bei Lampen- und Herdfeucrbelcuch-
tung etwas Feenartiges haben. Die Köche und Verkäufer, gewöhnlich Männer,
tragen sich womöglich ganz in Weiß; mit ihren hohen weißen Nachtmützen suchen sie
die berühmtesten Kochkünstler der römischen Aristokratie an Sauberkeit und impo»
nircnder Grandezza zu überbieten. Wo diese Vorbedingungen erfüllt sind,
thut nun die Dichtkunst noch das Ihrige hinzu. Überschwengliche Sonette
hängen auf Papptafeln zwischen den grünen Guirlanden und tanzen im
Frühlingswinde hin und her. Wir geben nachstehend die wörtliche Abschrift
eines dieser originellen Kunstprodukte, das wir an der dem Pantheon zunächst
errichteten Frittibude fanden. Die heidnische Nachbarschaft klingt in ihm
durch. Sämmtliche Götter des Olymps erheben sich mit großem Donnerwetter
von ihren Wolkensitzen, um der Menschheit zu versichern, daß es keine Götter¬
speise gebe gleich derjenigen — der römischen Friedl.
61ope Ikseia, act ciel I'alto column.ne1o
1^ xoss, it ZUÄi'av «vors, 11 suol roms.no;
Nsrte lo souclo elnM e Imxugna 11 br^nac
Actis. ZuvrrlLiÄ sus. invinolbil of.no;
I^e subaltörne DeitÄdö 11 bsnäo
O^uno al LLWio nöt viel «inirsl In g.res>no
D Venere Zentll In s.fre aan^^naiv
81 es. Unkel^ na lor', cluee e sovrsno.(ZulnÄI seonvolto 1'orälue celeste
I plsneti, 1 s^teilet, 1s stelle
Ognun Ä'Mio xenslsr Zoäe s s'lnvsste
^eilf. ourauäo 11 wibo e 1s xrooelle
k'ÄNiro solenne giri'Äinsute ^ueste
Lono nettars äst viel äolee ?r1telle!
Unter dem Titel „Deutsche Weihnachtsspiele aus Ungarn" hat
Karl Julius Schröer (Wien 1858, Verlag von Keck und Comp.) sehr inter¬
essante Proben einer Gattung von Volksschauspielen mitgetheilt, auf welche
vor einigen Jahren Weinhold die Aufmerksamkeit lenkte, und welche in den
überraschend eigenthümlichen Sitten und Gebräuchen, in ihrer Darstellungs¬
weise, in der von gelehrtem Einflüsse fast völlig freigebliebenen Einfalt ihrer
Sprache, die an das geistliche und weltliche Lied des 16. Jahrhunderts und
in einzelnen Stellen an Hans Sachs erinnert, einen Blick in die naive Volks¬
seele früherer Zeiten eröffnen.
Bis auf die letzten fünf Jahrzehnte blieb alles Volksmäßige ziemlich ganz
unbeachtet. Was sich im Innern Deutschlands in abgelegenen Gegenden er-
hielt, wurde durch die Einflüsse der modernen Bildung und Denkart sehr
wesentlich und selten zu seinem Vortheil umgestaltet. Den deutschen Ansied-
lungen in fremden Ländern in ihrer Abgeschiedenheit scheint es vorbehalten,
solche Alterthümer treuer zu bewahren, und sehen wir in den Mittheilungen
Schröers volksmäßige Schauspiele vor uns, die in ihrer gegenwärtigen Gestalt
schon drei Jahrhunderte zurückgelegt haben, so gereicht es ihnen zu--besonderer
Empfehlung, daß auch die Methode, in der sie zur Zeit Hans Sachsens auf¬
geführt wurden, nach den Angaben des Berichterstatters sich erhalten hat.
Die wichtigsten der hier mitgetheilten Volksdramen stammen aus dem
Dorfe Oberufer bei Preßburg, wo ein Bauer sie als Tradition der Väter auf¬
bewahrt und wo sie gelegentlich noch aufgeführt werden. „Die Religion macht
dabei keinen Unterschied. Katholiken und Protestanten nehmen gleichen Antheil,
bei der Darstellung sowol als auch auf den Zuschauerplätzen. Es gehören die
Spiele jedoch demselben Stamm an, der unter dem Namen der Haiddauern
bekannt ist, im 14. oder zu Anfang des 15. Jahrhunderts aus der Gegend
am Bodensee (?) eingewandert und noch 1659 ganz protestantisch gewesen sein
soll. — Die Oberuferer sind nämlich, so wie die Weingärtner von Preßburg,
mit den Haidbauern in Straßlommerein (Se. Mareicn), Nikolsdorf. Deutsch-
Jahrendorf. Ragendorf und Zurndorf nahe verwandt. Dieselben Namen, die¬
selbe Mundart und stete Heirathen herüber und hinüber verbinden diese Kolo¬
nien auf das engste. Dazu kommt noch, daß dieselben Weihnachtsspicle bei
den Weingärtnern in Preßburg noch bis ans Ende des vorigen Jahrhunderts in
Besitz der Familie Wiebauer waren und aufgeführt wurden." Leider hat man
bis jetzt das Manuskript Noch nicht auffinden können. „Ebenso waren sie ehedem
in Zurndorf und Jahrendorf in Besitz der „Schmelzerischen Freundschaft".
Auch dort weiß man gegenwärtig nicht mehr, wohin die Spiele gekommen sind.
In Oberufer ist, wie bemerkt, der Besitzer der Spiele seit 1857 ein Bauer, er
hatte schon als Knabe den Engel Gabriel gespielt, dann von seinem Vater, der
damals „Lehrmaister" der Spiele war. die Kunst geerbt. Von ihm hatte er
die Schriften, die auf Kosten der Spieler angeschafften und in Stand erhal-
tenen Kleidungen und andern Apparat geerbt, und so ging denn auch auf ihn
die Lehrmeisterwürde über. Er glaubt, daß seine Familie „aus dem Reich"
stamme, obwol sein Name, David Malatitsch, slawisch aussieht und keiner von
den auf dem Haidboden üblichen deutschen Namen ist. In seiner Familie ist
das Lehrmeisteramt erst seit seinem Vater.
Er spricht sich über die Spiele ohngefähr in folgender Weise aus. —
Wenn die mehrste Arbeit im Herbst zu Ende geht, da kommen die Alten zu
mir und sagen: es wär jetzt wieder die Zeit, solltet doch wieder schaun ob
ihr nicht ein Spiel zusammenbrächtet. Schaden könnts den Burschen nicht,
wenn sie sich einmal wieder ein Bischen in der Schrift befleißigen möchten
und füraus die heiligen Gesänge einübeten. Was sie in der Schule gelernt haben,
habn sie eh (d. i. ohnehin) vergessen! — Da schau ich mich um, und wann
es sich trifft, daß accurat die richtigen Burschen genug vorhanden seint"), da
ruf ich sie halt zu mir. Ein jeder, der mitspielen will, darf 1. nicht zu'n
Diemen gehen, 2. keine Schelmliedel singen die ganze heilige Zeit über.
3. muß er ein ehrsames Leben führen, 4. muß er mir folgen. Für alles ist
eine Geldstrafe, auch für jeden Gedächtnißfehler u. tgi. im Spiel."
Von nun an wird abgeschrieben, gelernt, gesungen Tag und Nacht. In
dem Dorf wird keine Musik gelitten. Wenn die Spieler über Land gehn, um
in einem benachbarten Ort zu spielen und es ist Musik da. so ziehn sie wei¬
ter. Als man. ihnen zu Ehren, in einem Orte einmal die Dorfmusicanten
aufspielen ließ, fragten sie entrüstet: ob man sie für Komödianten halte?
Die Spiele dauern nun vom ersten Advent bis heiligen Dreikönig.
Alle Sonntag und Feiertag wird gespielt; jeden Mittwoch ist eine Aufführung
zur Uebung. An den übrigen Werktagen ziehn die Spieler über Land auf
benachbarte Dörfer, wo gespielt wird.^> Der Eintritt für jeden Zuschauer
kostet zwei Kreuzer; Kinder zahlen die Hälfte. Das Geld, das einkommt,
reicht grade hin, um die Auslagen der Aufführung. Kleider und tgi. zu be-
streiten. Denn alles ist immer im besten Stand.
Ich halte die Erwähnung dieser Umstände deshalb für wichtig, weil aus
ihnen ersichtlich wird, wie auch gegenwärtig noch eine gewisse Weihe mit der
Sache verbunden ist. Die Aufführung beginnt gewöhnlich schon um drei Uhr
Nachmittag und dauert zwei Stunden. Wenn jedoch Publicum vorhanden
ist, so fangen sie dann noch einmal von vorne an u. s. f. so lange jemand
zuhören will. Aufgeführt werden jedoch drei Stücke: i. Christi Geburt.
2. Adam und Eva. 3. (wie nach den Trilogien des antiken Trauerspiels das
Satyrspiel) ein Fastnachtspiel. —
Der ersten Aufführung geht ein feierlicher Auszug der Spieler, ge¬
wöhnlich „Singer" und zusammen Kumpanei, Companie genannt, aus dem
Hause des Lehrmeisters bevor. Voran trägt einer den Baum des Paradieses,
wozu ein sechs Schuh hoher schöner „KrZ,newit" (Wachholdcrbaum) ausge¬
sucht wird, der mit großen flatternden Bändern geschmückt und ganz mit
Aepfeln behängen ist. Neben dem Baum wird beziehungsvoll der Stern ein¬
hergetragen. Er ist von Holz, zum großen Theil vergoldet und hat über zwei
Schuh im Durchmesser. Eine sogenannte hölzerne Schere, an der er befestigt
ist, kann über eine Klafter verlängert werden. Der Stern selbst ist so be-
festigt, daß er sich drehen läßt. —Nun folgen: t. der Engel. 2. Joseph und
Maria, die dann auch die Eva spielt, immer von einem Burschen vertreten.
3. Die drei Könige. 4. Herodes. 5. Der Teufel. 6. Hohepriester und Schrift-
gelehrte. Juden. 7. Hauptmann des Herodes, der ein schöner Mann sein
muß, weil von jeher der Hauptmann im Fastnachtsspiel die schöne Schneiderin
geben muß. Aus Wanderungen trägt er den Stern und spielt eine besondere
Rolle. 8. Anderer Hauptmann und Lakei des Herodes. ö. Hirten. Lakeien
und Pagen.
Dieselben Personen spielen auch die Rollen der andern Spiele. — Der
Altkünig (Melchort) spielt Gott Vater im Paradeisspiel, Kaspar den Adam.
Maria die Eva; doch dürfen diese heiligen Personen durchaus nicht im Fast¬
nachtspiel verwendet werden. — Als einmal der Hauptmann die Schneiderin
nicht spielen konnte, mußtx die Rolle der letztern der Lehrmeister selbst über¬
nehmen: für Maria-Eva wäre es eine Sünde gewesen. — Während des
Auszuges wird nun ein Lied gesungen: „das Auszugsgcsang" (das Gesang
vrg. Schmellerlll, 270). Dies Lied ist nicht vorgeschrieben. Im Jahre 1853
und 185« sang man: „Elias der prophetische Mann" ze. 10 Strophen. —
Wenn sie vor dem Spielsale (im Gasthaus) angelangt sind, beginnt „der
Altkünig" „das Sterngesang", ein sehr merkwürdiges Lied, das noch ganz
den Geist derjenigen wackeren Singer athmet, aus deren Mitte unser ehrwür¬
diges Denkmal volksthümlicher Kunst hervorgegangen ist. Auffallend ist dabei
die Erwähnung eines „Maistersingers", worunter jetzt der Altkünig, der
das Solo hat, verstanden wird, indem'der „Lehrmaister" alle unterrichtet,
selbst aber nicht mitsinge und auch nicht spielt. -- Die andern werden von
ihm als „Singer" angeredet:
Ihr lieben meine fingcr fangts tapfer an,
zu grücßcn wolln wirs heben an!
Die durchaus naive volksmäßige Haltung des Ganzen, mit dunklen,
geheimnißvollen Beziehungen zum Naturleben, die für den Mythologen be¬
achtenswert!) sind, untermischt, versetzen uns in eine ganz andere W^le und
Zeit. In eine Welt, wo weder Gelehrsamkeit noch Kunstdichtung merklich
eingewirkt hat und noch alles unbewußte Poesie athmet.
Diejenigen der Anwesenden, die gegrüßt werden, nehmen immer den
Hut ab. So bei Zeile 27 die ganze Gemeinde, die um die Sänger ver¬
sammelt ist. was sich sehr feierlich macht. Wenn der Stern angesungen wird,
erhält er einen Schwung, daß er sich dreht.
Nach dem Sterngesang treten die Spieler, indem sie singen: „Unsern
Eingang segne Gott" ze. in den Saal, wo bei der Eingangsthüre ein Raum
durch einen Vorhang abgesondert ist. Dies ist sonderbarerweise das An¬
kleidezimmer, so daß die Zuschauer durch dasselbe eintreten. Während dem
als sich die Spieler ankleiden geht der Teufel, der vortrefflich costümirt ist
<er ist ganz schwarz, hat einen Schwanz von Pelzwer-k und Hörner), mit dem
Kuhorn*) im Dorfe herum, in jedes Haus furchtbar liineintutcnd und jeder¬
mann mit allerlei Spähen zum Spiele ladend, Borübcrfahrende Wagen hält
er an, springt hinauf und erschreckt Klein und Groß. — Es sammeln sich >-
nun rasch die Zuschauer auf den Banken, die im Hufeisen drei Wände des
Saales einnehmen (die vierte Wand deckt der Borhang), Die Bühne ist
der mittlere Raum innerhalb des Hufeisens."
Die dresdner Künstlerschaft hat am 13. Februar "ihr alljährliches Fastnachtsfest
veranstaltet. Da es größere Verhältnisse angenommen hat, als dies bisher der Fall
zu sein Pflegte, so mag auch hier davon die Rede sein.
Die letzten Fastnachtspiele, or. Eisenbart, Reinecke Fuchs :c., von Otto Roquctte
für den einen Abend geschrieben, waren nur auf eine beschränkte' Oeffentlichkeit be¬
rechnet und entzogen sich deshalb von selbst einer Besprechung für weitere Kreise.
Diesmal hatte Moritz Heidrich, der Dichter der Posse „Prinz Lieschen", sich der schwie¬
rigen Aufgabe unterzogen, die vorhandenen Kräfte zu einem dramatischen Zwecke zu
verwerthen. Der Concertsaal im linckeschen Bade war mit vortrefflichem Geschmack
in wenigen Tagen und Nächten neu decorirt worden. Dem Eingang gegenüber er¬
hob sich eine Bühne, dem Orchester gegenüber eine erhöhte Reihe von Sitzen für.
das königliche Hans; denn wenige Tage vor der Aufführung hatte sich der Hof für
eine Betheiligung an dem Feste entschieden. Die Folge war natürlich allgemeiner
Zudrang zu den Subscriptionslisten, und so mag die Menge der ausgegebenen
Billete das achte Hundert erreicht, wenn nicht gar überstiegen haben. Während der
ersten Feststunden war daher, Ueberfüllung des immer nur mäßig großen Saals der
fühlbarste Posscnstreich, dessen sich Prinz Carneval gegen die Neugierigen schuldig
machte, und da von Hören und Sehen für die Hälfte der Eingelassenen nicht die
Rede sein konnte, so las sich auf vielen Gesichtern Enttäuschung übertriebener Er¬
wartungen. In dieser Beziehung sündigen übrigens alle derartigen. Feste, und die
Erfahrung witzigt weder die Veranstalter derselben, noch die Neugierigen, so daß
man niemanden dafür verantwortlich machen kann.
Der Fastnachtsschwank selbst erwies sich für die vom Schicksal begünstigter»
Zuschauer etwa folgenden Inhalts. Nach einer burlesken Parterrcuntcrhaltung
zwischen Unzufriedenen, Zufriednen, Schinderhannes :c., im Geschmack des gestiefel¬
ten Kater, entwirft Prinz Carneval ein Bild des bedenklichen Zustandes, in welchen
Prinz Publicum verfallen ist. Der arme Prinz ist in die Hände des Dr. Schuhu
gerathen, der ihm die Weishcitsbrillc aufgenöthigt hat und ihm mit der Dcnkma«
Schire jeden Anflug von Humor und frischer Gcisteslust vertreibt. Gefangen in der
Festung Wolkenburg, allwo man die Sphinx göttlich verehrt, die Nührpumpe tüch¬
tig zu handhaben weiß und mit der Denkmaschine aller Orten herumknarrt, gähnt
er unablässig und hat Saft und Kraft eingebüßt, Prinz Carneval mit seinem
Narrentroß möchte dem schlimmen Treiben ein Ende machen. Mit ihm verbindet
sich Till Eulenspiegel, der sich verkappt als Anhänger des Dr. Schuhu in den Dienst
des letztern geschlichen hat und die Beschaffenheit der Partei Schuhu genau kennt.
Inzwischen muß der Angriff nicht überstürzt werden. Prinz Publicum, aus seinem
Schlafe gähnend erwacht, hat vom Hanswurst geträumt, von Nothkäppchen und
andern guten Freunden vergangner bessrer Tage, hat nach Bratwurst und Sauer¬
kraut verlangt und somit die hoffnungsvollsten Symptome verrathen. Er wird
deshalb in die Besreiungspläne eingeweiht. Eulenspiegel reißt ihm die Wcisheits-
brille ab und jetzt erst merkt er, daß er im Grunde nur die Schuhukrankheit hat,
daß es ihm nirgend sonst fehlt, und daß es hohe Zeit ist, das Narrcnhccr zu seiner
Befreiung herbeizurufen. Inzwischen hält das ärztliche Kollegium eine Berathung.
Pulvervcrschrcibcr, Wasserverreiber, Vomitivanhängerbekämpfen einander und werden
von dem bekannten Professor der Anatomie als Ignoranten, Beutelschneider und
Quacksalber, im Stil der ärztlichen Gutachten über Geheimmittel, zurecht gewiesen.
Nachdem die alte Schule, welche der Vomitivdoctor vertritt, endlich eingeschlafen und
vom Stuhle gefallen ist, versöhnt die Aussicht auf ein gutes Frühstück die Hadern¬
den, sie beschließen, den Kranken vor allem weder sterben noch gesunden zu lassen, sondern
einfach bei seiner Krankheit zu erhallen, und Eulenspiegel spottet ihnen nach: das also
sei «in ärztliches Concilium! Nun tritt der Staatsrath zusammen. Nachdem die
Mitglieder desselben sich in Procession vor der Sphinx verneigt haben, beginnen die Be¬
rathungen über die in Bezug auf den hohen Kranken einzuschlagende Politik. Da
gibt es nun Debatten aller Art. Dr. Blech, das sehr ähnliche Porträt eines
berühmten Orchcsterdirigentcn, will durch Zukunftsmusik das Vaterland ret¬
ten. „Hineingchcimnißt" in seine Musik sei alles, was dem Prinzen Publicum hel¬
fen könne. Ihm entgegen behauptet der Schulmeister aus Pfaffcnhovcn die drau¬
ßen harrenden Belagerer durch echte Deutschheit, durch Bardcnklänge besiegen zu
können. Ein bekannter Professor, der den macedonischen Krieg im Munde führt
und von Städtevcrtilgung redet, mischt sich mit burschenhafter Jovialität in den
Streit. Er hat Nieswurz, welchen Eulenspiegel in die Bücher der Bibliothek streute,
auf sich wirken lassen, und treibt die tollsten Possen, wobei er Studentenlieder an¬
stimme und sich in Bravadcn aller Art gefällt. Krieg gegen die Insel Cypern ist
der Wahlspruch seines Nachbars in Stulpenstiefeln. Heftig streitet er gegen den
Zopf und wird nicht wenig crboßt, als man ihm nachweist, daß er selbst von allen
den längsten Zopf am Hinterkopfe trage. Auch der Mann mit dem Olivcnblatte
fehlt nicht. Man ist noch in stärkstem Redcfcuer, als Prinz Publicum durch sein
Eintreten die Sitzung stört. Er will von keinem Staatsrath wissen, nach Hans¬
wurst verlangt ihn, nach Narrenpossen. Als der erschreckte Dr. Schuhu sich von
seinem ersten Panik erholt hat, gelingt es mit Hilfe der Aerzte, den für rasend er¬
klärten Prinzen wieder auf sein Lager zu werfen, ihm die Brille aufzusetzen und ihm
mit der Denkmaschine den Kopf zu quetschen, so daß er völlig der Apathie wieder
anheimfällt. Noch einmal indessen rafft er sich zusammen. Er springt auf und
will die Sphinx zerschlagen. Ais Strafe wird er wie ein Prometheus an ihre
kalten Erzglieder gefesselt. Nun aber ruft Eulenspiegel die Belagerer zum Sturm
herbei. Der ganze Narrenzug rückt auf die Bühne. Nach langem Für und Wider
erklärt Dr. Schuhu, sich dem Hanswurst nie und nimmer ergeben zu wollen, er
negire überhaupt des Hanswursts Dasein. Gottsched habe ihn verbrannt, Pastor
Götze ihn in Staub zermalmt. Aber der Hanswurst will nicht verbrannt, sondern
nur durchgebrannt sein; er beruft sich auf Lessing, auf Möser, welche ihm gewogen
gewesen seien. Auf Disputationen lasse er sich nicht ein. Drauf und dran gehts
nun, die Wolkenburg wird erstürmt, die Sphinx zertrümmert. Aus letzterer trippelt
eine häßliche Alte hervor- die Altklugheit. Sie läuft auf ihren Sohn, den Schuhu,
zu und möchte mit ihm in den Zuschauerraum entschlüpfen. Hier stößt sie auf den
Schinderhannes, der sich so schlechte Gesellschaft verbittet und sie auf und über
die Bühne zurückjagt. Jetzt erlöst man den Prinzen Publicum aus seinen Fesseln.
Die Phantasie tritt zu ihm. Im Hintergründe kommt der schlafende König Artus
mit dem Fräulein Wundcrhold zu Gesicht. Die Phantasie ruft sie wach. Die
unterlegene Partei wird im Triumph über die Bühne geschleppt — und damit hat
der Schwank ein Ende.
Die Hauptsachen wurden dem Könige, welcher mit guter Laune die Schicksale
des Dr. Schuhu belachte, durch einen von ihm herbeigerufenen Künstler deutlich
gemacht. Er besprach sich schließlich mit Moritz Hcidrich selbst und gab den Wunsch
zu erkennen, im Manuscript die ihm entgangenen Anspielungen nachlesen zu können.
Der ganze Stoff wird, wie wir hören, zu drei Acten für die Hofbühne aus¬
gearbeitet und noch in diesem Sommer aufgeführt werden. Bei der großen Heik-
lichkeit, welche bisher die Hofbühncnintcndanz charakterisirte, ist es von Interesse, am
vorliegenden Beispiel zu erkennen, daß man im ängstlichen Diensteifer viel weiter
gehl als es Noth thut. Die Romantik spukt zwar durchs ganze Stück und
Dr. .Schuhu geht zu Grunde, nicht weil Bildung und Aufklärung siegen, sondern
weil „die Säulen der Vernunft wackeln," aber die trockne Uebergelchrsamkeit, die
krankhafte Ueberbildung empfangt doch ein gut Theil Streiche, und wer da stark
im Büchcrstaub gesessen hat, konnte kunst in den Verdacht kommen, empfindlich zu
sein gegen die zuweilen ziemlich rauhe Carncvalsluft, welche das Stück durchweht.
Man hat Ursache sich zu freuen, daß dem nicht so ist. Jede Annäherung, wie die
am 13. Februar geschehene, fördert die Popularität und schwächt die trennende
Kraft der Mittelspersonen, welche so oft die Rolle der Weishcitsbrillc des 1)r. Schuhu
zu übernehmen suchen, und deren Peinlichkeit und Empfindlichkeit so leicht für den
Abglanz der höchsten Orts heimischen Eigenschaften gehalten wird. Doppelt erwünscht
ist solche Annäherung in einer Zeit, wo von so manchen Seiten daran gearbeitet
wird, Mißtrauen zu säen und wo der Wunsch nach versöhnenden Abschließen mit
Dingen, welche der Vergangenheit angehören, so große Mühe hat unentstellt zur
Audienz zu gelangen.
Nach Beendigung eines zweiten, kleinern Festspiels, welches der Afterkritik und
ihrer Verspottung galt, wurde eine telegraphische Depesche verlesen, die Antwort
auf einen Gruß an den eben zur selben Zeit in München zu gleicher Carnevals-
lustbarkeit versammelten Künstlerkreis der bairischen Hauptstadt. Der König von
Baiern, hieß es darin, erwiedert die Begrüßung der dresdner Künstlerschaft aufs
Beste. Demzufolge wurde auch ihm ein Hoch ausgebracht. Unter allseitigem Zuruf
leerte sich dann die königliche Tribune, und allmälig fand sich auch in dem leerer
werdenden Saale Raum für solche, deren zierliche Füße nicht umsonst Walzer und
Nedvwa erlernt haben wollten.
Verantwortlicher Redacteur: v. Moritz Busch — Verlag von F. L. Hcrbig
in Leipzig.
Druck von C. E. Elbert in Leipzig.
Im Jahr 1851 wurde Lord Palmerston durch die Königin gezwungen
aus dem Ministerium zu scheiden, weil er den Staatsstreich in Frankreich,
und was darauf folgte, eigenmächtig und in illoyaler Verletzung der gegen die
Souveränin zu beobachtenden Formen anerkannt hatte. Damals war die
Herrscherin Englands tief durch ihn getränkt, und ihn aus dem Amte zu bringen
war die Drohung nöthig, daß sie das Parlament zum Richter seiner Hand¬
lungsweise machen werde. Palmerstons Sturz war damals Plötzlich, uner¬
wartet, für ihn selbst mit nicht gewöhnlicher Bitterkeit versetzt. Er nahm
seine Rache. Die Whigs sielen, die Tones vermochten sich nicht ein Jahr
zu halten, seine Popularität war in stetem Steigen. Es kam das plötzliche
Zorngeschrei der englischen Blätter über ungesetzlichen deutschen Einfluß auf
die Entschlüsse der Souveränin, verbunden mit kräftigen Empfehlungen des
entschlossenen, rücksichtslosen, feuerschleudemden. echt englischen Politikers, der
allein England retten könne. Man thut ihm wol nicht Unrecht, wenn man
annimmt, daß er. der alte Intriguant und Faiseur seiner Partei, einen ge¬
wissen bescheidenen Antheil an jenen Angriffen hatte, die ihn rächen sollten
und an jenem Enthusiasmus, der ihn empfehlen sollte. Durch eine immense
Popularität wurde er der Krone wieder aufgedrängt. Er wurde Premier¬
minister, allmächtig im Parlament, allmächtig im Lande; und seltsam! nach
kurzer Zeit wird derselbe Staatsmann wieder plötzlich, unerwartet aus dem
Amte getrieben, wieder wegen zu großer ConnivenF gegen Napoleon, wieder
wird ihm der Vorwurf gemacht, daß er die Würde Englands compromittirt
habe; aber diesmal ist es nicht die Königin, sondern die Nation selbst in
ihren Vertretern, welche ihn fallen läßt. So ausfallend hat ihn die Nemesis
ereilt für alte Unwahrheit und «M Intriguen.
Wer aus der Ferne weniger genau, aber vielleicht unbefangener als die
Engländer die englischen Staatsmänner abschätzt, der wirdost ein Urtheil über
ihren Werth fälle», welches dem Engländer durchaus ungerecht erscheint. Wir
empfinden sehr lebhaft die Schwächen, welche bei ihnen häufig sind. Cliquengcist,
Patronage, Mangel an Kenntniß des Auslandes, und dilettircnde Unsicherheit
in solchen Fragen, welche ernste Studien und gewissenhafte Hingebung ver¬
langen; und wieder sind wir geneigt, das Talent zu unterschätzen, welches dem
englischen Parteiführer als Hauptsache erscheint: die geschickte Behandlung,
des Parlaments. — Wer etwa von deutschen Ministern aus den stolzen Namen
eines Staatsmanns Anspruch hat, ist fast ohne Ausnahme im Beamtenstand
heraufgekommen, und eine, wenn auch einseitige geschäftliche Routine, darf
bei ihm vorausgesetzt werden. Dazu kommt, daß überhaupt die deutsche
Bildung vielseitiger ist und daß eine Kenntniß auswärtiger Staats- und
Lebensverhältnisse, welche in England die meisten Parlamentsglieder nicht be-.
sitzen, bei uns zu den nothwendigen Qualitäten eines gebildeten Mannes
geHort. Der englische Staatsmann dagegen bildet sich in den Debatten und dem
Parteitreiben einer großen Versammlung, welche einige bedeutende und viele in¬
telligente Männer, aber noch mehr anspruchsvolle Nullen enthält. Er entwickelt die
Fähigkeiten, aus diese Gesellschaft zu wirken, sucht so viel Kenntniß über die
einzelnen Fragen zu gewinnen, als nöthig ist, eine Stunde mit Erfolg darüber
zu sprechen, er lernt Kriegslisten und Parteikunststücke gebrauchen, strebt darnach,
dem Gegner mit Geistesgegenwart zu antworten, er ist bemüht, seiner Partei
angenehm zu werden, lind seine Wähler bei guter Laune zu erhalten. Erweist
er in einer dieser Richtungen besonderes Talent, so hat er große Aussicht, so
oft seine Genossen die höchsten Aemter nnter sich vertheilen, einen Minister¬
stuhl zu erringen, gleich viel, welche Kenntnisse er von der Politik des Aus¬
landes und den Bedürfnissen des Inlandes hat. Besitzt er den Fleiß, sich
in einem bestimmten Fach gründliche Kenntnisse zu erwerben, um so besser
für ihn, denn um so schätzenswerther wird er seiner Partei, aber wer als
Mitglied des Unterhauses dergleichen gewinnen will, muß viel Lebenskraft
haben, zumal wenn er schon in seiner Ingend durch Familieneinfluß ins Par¬
lament gebracht wird.
Jeder Erfolg und jede' Niederlage im Unterhause ist wenige Stunden
nachher das Tagesgespräch von ganz England, jeder dauernde Einfluß auf
das Haus der Gemeinen bahnt mit Sicherheit den Weg zu den höchsten
Ehren. So gewinnt dem englischen Politiker seine Stellung zum Parlament und
zu den Wählern eine Bedeutung, welche nicht leicht zu vereinigen ist mit
Unabhängigkeit und Größe des Charakters und mit unbefangener Schätzung
der Staatsinteressen. Ein großer Mann, eine solide Tüchtigkeit, feste Integrität
des Charakters werden diese Uebelstände besikgen. und es ist hier durchaus nicht
die Absicht zu behaupten, daß England bei derartiger Bildung seiner Politiker
im Ganzen weniger weit gekommen ist, als andere Staaten, welche Generale oder
Landräthe zu Ministern machen. Aber in solchen Zeiten, wo das englische
Parlament nicht durch die mächtige Kraft eines Einzelnen gehoben wird, oder
in welcher nicht große Parteiinteressen das gesammte Staatsleben zu erfüllen
vermögen, wird, ein solches Bildungssystem doch sehr sichtbare Unbequemlichkeit
haben. Ein Mann wie Palmerston, der feine andere Specialität hat, als Vir¬
tuosität in den kleinen Parteimanövern, dem Werben, Peitschen, dem Be-
arbeiten der Presse, den Tischreden für die Wähler, und vor allem eherne
Stirn, suffisance und Geistesgegenwart in parlamentarischen Repliken, konnte
doch nur den Engländern Jahre lang so imponiren, daß sie zuletzt geneigt
waren, ihn für einen großen Mann zu halten.
Allerdings hat ihm genützt, daß England im Ganzen seit Lösung der Kornfrage
in einem Zustande so großen Gedeihens ist, daß ein leidenschaftlicher Kampf
gegen verkehrte Richtungen im Staate — fast die einzige Schule großer englischer
Politiker - uicht mehr stattgefunden hat. Selbst die kostbaren Kriege der neuesten
Zeit haben das fortschreitende Gedeihen und ein gewisses. großartiges Behagen
des Landes kaum zu stören vermocht. Der Souverän ist populär, die Krone
streng gesetzlich und ängstlich bemüht, der öffentlichen Meinung zu willfahren,
d,e alten Streitfragen der großen Parteien, welche durch Jahrhunderte die
Redner, Charaktere und Leiter Englands gebildet haben, sind fast ohne Aus¬
nahme gelöst. — Allerdings vergeht für England kein Jahr, wo nicht
die höchsten Interessen das größte Urtheil forderten. Aber nicht jedes
große Interesse ist in England geeignet, große Staatsmänner zu ziehen, nur
was Parlament und Nation leidenschaftlich und dauernd aufregt, wird — wie
die englische Verfassung ist, — zu einer großen Schule,
Wenn man zugibt, daß die Gegenwart Englands eine Zeit der politi¬
schen Mittelmäßigkeit für Whigs und Tories ist, darf man aus denselben Gründen
grade die Gegenwart als eine Zeit der Blüte und des Glückes für die Nation
betrachten, wie sie einem Volke nicht in jedem Jahrhundert gegönnt wird. Crom-
well, Halifax, Somers, selbst die Walpole, Pitt und Fox gehören nicht den Zei¬
ten an, welche man vorzugsweise ruhige und glückliche nennt. Aller¬
dings zieht jede Zeit, auch die der Ruhe, des Behagens und des Genusses, die
Anfänge einer neuen, welche anders aussieht, mit sich groß, und die Blüte
einer Pflanze ist dem Naturforscher einer der letzten Processe, welche sie in dem
Kreislauf alles Irdischen durchmacht. Auch im Leben eines modernen Staates
entwickeln sich aus der Zeit hohen Gedeihens neue Leiden und Schäden, welche
eine», künftigen Geschlecht harten Kampf und neue Aufgaben stellen Deshalb
aber thut man auch Unrecht, wenn man die großen Parteigenossenschasten des par¬
lamentarischen Englands, Whigs rend Tories, als antiquirt und in völliger
Auflösung begriffen darstellt. Es ist wahr, sie sind gegenwärtig schwach, aus
den Parteikämpfen ist ein unerfreuliches Cliquenwesen geworden und die Tra¬
ditionen haben sich fast nur in der persönlichen Kameradschaft der einzelnen
Mitglieder erhalten. Das aber ist nicht sowol Schuld der Menschen, als einer
sturmlosen Gegenwart. Sie sind bis zu einem gewissen Grade unnütz gewor¬
den. Demungeachtet ist es Ehre und Pflicht der Parteigenossen, der Presse,
des Volkes und vor allem der Negierung. dies Parteileben nicht zu zerstören,
sondern zu erhalten. Denn diese Parteien, wie ungenügend ihre gegenwärtige
Thätigkeit sein möge, geben doch — wie das staatliche Leben Englands
ist — die beste, ja die einzige Garantie, daß die Nation in irgend einer
Zukunft weder anarchischen Gelüsten der Masse noch der Willkür der Krone ver¬
fallen wird. Es ist wahr, daß die großen Parteibanner jetzt von keinem star¬
ken Winde ausgebreitet, träge und schlaff um die Fahnenstangen hängen, aber
es läßt sich prophezeien, daß wieder eine Zeit kommen wird, wo sich aller
Blicke mit Enthusiasmus und Leidenschaft auf sie heften.
Das neue Toryministerium gibt keine Bürgschaft, daß es nach irgend
einer großen Richtung höhere Befähigung entwickeln werde, als Palmer-
ston und seine Collegen. Es leidet noch an dem Uebelstand, daß die meisten
seiner Mitglieder in den Geschäften unbewandert und dem Mechanismus der
Regierungsmaschine sehr fremd sind, und daß jetzt die Begehrlichkeit einer
ganzen Partei nach Aemtern, Sinecuren und Einfluß greifen wird. Und man
kann zweifeln, ob es sich durch die nächste Parlamentssitzung, selbst wenn es seine
Stärke durch Neuwahlen zu vergrößern sucht, erhalten wird. Ferner ist durchaus
zweifelhaft, welche Politik ihm bei den auswärtigen Fragen, welche für uns
^das größte Interesse haben, belieben mag. Wol aber läßt sich annehmen,
daß es im Ganzen ähnlich laviren wird, wie die Whigs. Es wird bei gro¬
ßen Reformen nicht die Initiative ergreifen, wird öffentliche Wünsche so lange
zu beschwichtigen versuchen, bis sie einen imponirenden Ausdruck gewinnen,
dann aber ihnen nachgeben, und wird ebenso ängstlich bemüht sein, die öffent¬
liche Meinung nicht aufzuregen, als die Whigs waren.
Gleich am Anfange seiner Fahrt droht eine Klippe, von der die Tones selbst,
wie es scheint, das Aergste fürchten. Die Bill zum Schutz fremder Souveräne
gegen politische Verschwörer in England, welche von Lord Palmerston ein¬
gebracht, und die Veranlassung, nicht die Ursache seines Sturzes geworden
ist, hatte bei dem Unterhaus? unter dem vorigen Ministerium auf eine Ma¬
jorität zu hoffen. Ob in der Bill irgend etwas enthalten war, was den
Freiheiten des Engländers im Ernst gefährlich werden konnte, darüber wird
ein Ausländer sich des Urtheils enthalten müssen. Sicher ist, daß sie wenig¬
stens im Unterhaus ruhig durchgegangen wäre, wenn nicht ein leichtsinniges
und junkerhaftcs Benehmen Palmerstons -in der Flüchtlingsfrage, wie bei
einigen frühern Gelegenheiten, das sittliche und patriotische Gefühl der Ge¬
bildeten in- und außerhalb des Parlaments verletzt hätte. Diese Gemüths¬
stimmung verursachte jene überraschende Abstimmung bei einer Zwischenfrage,
welche für Palmerston und die Whigführer um so empfindlicher war, weil
hier einmal das natürliche Gefühl die Schranke der Parteidisciplin durch¬
brach. Die Führer der Torypartei nun sind nicht dazu angethan, dem fran¬
zösischen Kaiser weniger Courtoisie zu zeigen. Sie werden in der Lage sein,
ihm alsbald ein Unterpfand ihrer geneigten Stimmung zu geben, und sie werden
dies mit dem besten Rechte thun, denn in der That ist gutes Einvernehmen
mit Frankreich gegenwärtig noch für England unentbehrlich. Sie werden also
die Bill ihrer Vorgänger nach parlamentarischem Brauch mit unwesentlichen
Veränderungen wieder aufnehmen. Aber die kleinste Veränderung wird den er¬
bitterten Whigs willkommenen Vorwand geben, jetzt gegen dieselbe Bill zu poliren.
und da die öffentliche Meinung durch die letzten Ereignisse in England und
Frankreich noch mehr dagegen gestimmt ist. so ist durchaus nicht abzusehn,
wie die neuen Minister dieselbe jetzt in dem mürrischen Haus der Gemeinen
durchbringen und nach einer Niederlage in dieser Frage eine Auslosung des
Parlaments wagen wollen. Ihre einzige Aussicht, eine zweifelhafte, demüthige
und gefährliche Aussicht ist die, den Kaiser von Frankreich in irgend einer
Form zu beschwichtigen und das Einbringen der Bill auf einen günstigern
Zeitpunkt zu schieben.
Es liegt nahe, bei dieser großen englischen Frage an den Kaiser zu denken.
Wie hat sich seine Stellung in der Meinung Europas seit dem Attentat geändert!
Was seitdem in Frankreich geschehn, berechtigt zu der Ansicht, daß er von der
Sicherheit und Mäßigung verloren hat, welche allein ihn auf seiner steilen Höhe
erhalten konnte. Auch dort ist die Rachegöttin beschäftigt, eine große Vergel¬
tung vorzubereiten. Nicht ohne ein tiefes, tragisches Interesse sehn wir aus
der Ferne, wie der rücksichtslose Egoismus eines ungewöhnlichen Mannes
das Großartige verliert, und zu den politisch bedenklichsten Mitteln greift.
Alles was er beschließt, um im Wege der Gewalt seine Dynastie zu erhalten,
bereitet, so scheint uns, derselben in den Zukunft ein Verhängnis;. Seiner
eignen Seele ist der Trotz und die Verachtung der öffentlichen Meinung gefahr¬
voll. Wie eisern auch die Banden sind, mit denen er Frankreich an sich
schließt, es ist doch vorauszusehen, daß eine plötzliche Erplosion des Zornes
sie sprengen wird. .Und endlich die Theilung Frankreichs unter fünf Generale!
Sie läßt fast mit Sicherheit voraussagen, daß wenigstens nach dem Tode
des neuen Augustus seinem Hause einer oder mehre der fünf Legivncnführer
gegenübertreten werden, unter eignem Zeichen oder denen eines fremden Hauses.
Eine vielgebrauchte französische Redewendung, um sich für etwas zu ent¬
schuldigen, was man besser nicht gethan, ist que voulsö-vous, e'est xlus lor-t
csus wol. Das mag auch Napoleon III. sagen, das Princip des Imperialis¬
mus ist stärker als seine Persönlichkeit, er möchte vielleicht Mäßigung zeigen,
ensis, c'est Ms kort pun: lui. Den beschwichtigenden Artikeln des Con-
stitutionel und des Moiüteur vom 13. Febr. ist es nicht gelungen, den Ein¬
druck zu verwischen, den die Maßregeln selbst gemacht haben, das vorlaute
Prahlen und Drohen der Adressen konnte dementirt werden, die Ernennung
eines Generals zum Minister des Innern blieb , eine' Thatsache. Jener Ar¬
tikel des Moniteur bestätigt übrigens auf das bündigste die in Ur. 6 dieser
Blätter ausgesprochene Ansicht, daß das Attentat nicht die Ursache, sondern
nur der Anlaß zu dem Sicherheitsgesetz war. „Die Maßregeln," heißt es.
„welche die kaiserliche Regierung genommen, um unsere Institutionen zu ver¬
theidigen und zu befestigen, waren seit langer Zeit bei Sr. Majestät be-
schlossen. Die Existenz, die Organisation, die Verschwörungen der Feinde der
gesellschaftlichen Ordnung konnten der Regierung nicht verborgen bleiben.
Ihre erste Pflicht war, die Verwirklichung dieser Absichten zu vereiteln, und
sie war entschlossen, dies ohne Leidenschaft und ohne Schwäche zu thun.
Das Attentat vom l4. Jan. war nicht geeignet, sie davon abzuhalten. Dies
Verbrechen hat die von der Vorsicht vorgeschriebenen Maßregeln weder ein-
gegeben noch verschärft, aber nichts konnte besser ihre Dringlichkeit zeigen
und ihre Nothwendigkeit rechtfertigen." Die mißliebigen Wahlen des letzten
Sommers, die leisen Regungen der Presse, die geheimen Gesellschaften waren
die Gründe, welche neue Repressivmaßregeln beabsichtigen ließen, das Attentat
bot den Anlaß, sie ins Leben treten zu lassen. Zwar Graf Morny und der
neue Minister des Innern sprechen merkwürdigerweise eine andere Ansicht aus
und stellen.jenen Mordversuch als einen Blitz aus heiterm Himmel dar, wat^
cher zu aller Erschrecken die verborgen brütenden bösen Leidenschaften gezeigt,
indessen man wird uns verzeihen, wenn wir dem Moniteur mehr glauben,
als den Dienern, welche stets kaiserlicher als ihr Herr s
^ein wollen. Nebenbei
bemerkt sind die Widersprüche der Regierungsorgane in dieser Angelegenheit
sehr auffallend, man wird aber leicht durch die Gegensätze den wirklichen
Faden verfolgen können, wenn man die beschwichtigenden und entschuldigenden
Acte in ihrem thatsächlichen Zusammenhang betrachtet, z. B. die Ent-
schuldigungsdepcsche des Grafen Walewski über die militärischen Drohungen
im Moniteur. Das Sachverhältniß war hier einfach folgendes: jene Adressen
hatten in England großes Aufsehen hervorgerufen, das Ministerium war im
Parlament hart deshalb angegriffen, die Vorlage der französischen Tepesche
vom 2et. Januar hatte keinen günstigen Effect, also sagte Lord Palmerston
dem Grafen Persigny, wenn die Fremdenbill durchgehen solle, so müsse vor¬
her ein g.et,<z r^MiÄtoii'c! von Paris aus gemacht werden, die Entschuldigungs¬
depesche ward bestellt, verabfolgt und nur auf diese Weise ward es dem
englischen Ministerium möglich, die erste Lesung der Bill bringen. Wird man
darum etwa glauben, jene säbelrasselnden Fanfaronnaden seien wider Wissen und
Willen der Regierung in den Moniteur gekommen, und muß nicht Lord
Palmerston ein übergroßes Vertrauen in die Unwissenheit seiner Landsleute
über auswärtige Verhältnisse gehabt haben, als er dem Parlamente log, der
nichtofficielle Theil des Moniteur gehe die französische Regierung nichts an?
— Wenn Graf Morny dein gesetzgebenden Körper seine Theorie der Re¬
gierungssysteme entwickelt und die Gesinnungen der gegenwärtigen Machthaber
als väterlich milde schildert, werden da nicht selbst in jener ailergehorsamsten
Versammlung hier und da sich Zweifel regen, wird nicht etwa die Logik einiger
kühnen Volksvertreter sich so weit wagen, einen gewissen Widerspruch zwischen
dieser Versicherung und der des General Espinasse, das Land solle haben
was es wolle, zu finden? Was auch der Moniteur sagen mag, die Er¬
nennung eines Generals zum Minister des Innern, mit der ausgesprochenen
Absicht, das Land nicht blos wie bisher bureaukratisch, sondern militärisch
zu regieren, bleibt etwas Unerhörtes für die neuere Geschichte des nicht-
russischen Europas. Selbst Napoleon I. ist nicht so weit gegangen, er machte
den General Savary, spätern Herzog von Rovigo, zum Polizeiminister, aber
doch nicht zum Minister des Innern. Der ausgesprochene Wille des Kaisers,
die französische Verwaltung nach militärischen Grundsätzen zu regeln, wenigstens
diese Grundsätze jeden Augenblick in ihrer ganzen Schärfe anwenden zu köunen,
das ist das bedeutsamste Ergebniß der neuesten Vorgänge in Paris. Die
Entlassung Billaults beruhte gewiß nicht ^uif Scrupeln dieses Herrn gegen die
vorgeschlagenen Maßregeln; nachdem er bis zu dem Decret, welches den
Spectateur und die Revue de Paris unterdrückte, mitgegangen war, sieht man
nicht ein, was ihm noch zu perhorresciren übrig blieb. Auch hat durchaus
nicht verlautet, daß er Gewissensbisse über den Entwurf des Verdächtigen-
gesetzes fühlte, er hat nicht einmal den Muth einer entgegengesetzten Meinung
gehabt, wie Drouin de Lhuys, sondern seine Entlassung erst eingereicht, als
der Kaiser fand, daß er blaß aussehe und die Landluft ihm gewiß wohl thun
werde, d. h. im altfranzösischen Stile ihm andeutete, er würde besser thun
einem andern Platz zu machen. Dieser andere war der General Espinasse.
So viel wir wissen, war derselbe vor dem 2. December unbekannt, beim
Staatsstreich sperrte er den Saal der gesetzgebenden Versammlung und ver¬
trieb die widerspenstigen Volksvertreter, er ward dafür vom Oberst zum
General befördert, ist also ein Mann der persönlichen Politik des Kaisers,
Während des orientalischen Krieges machte er sich aus traurige Weise durch
die unglückliche Recognoscirung in der Dobrudscha bekannt. Es ist wahr,
daß der Plan derselben hauptsächlich dem Marschall Se. Arnaud zur Last zu
legen ist, der die Expedition von Konstantinopel aus besaht, um dem Kaiser
für das Fest des 15. August einen Sieg präsentiren zu können, aber eine
ganz mißlungene Recognoscirung, welche mehre tausend Menschen kostet, ist
immer eine schlimme Empfehlung für den, der sie befehligt. Weiter hat der
General lerne Titel für die Beförderung zu seiner neuen Würde; man braucht
sich auch nickt zu bemühen solche zu suchen, nicht staatsmännische Eigen¬
schaften haben die Wahl seines kaiserlichen Herrn auf ihn gelenkt, sonder,
dessen Wille, selbst Minister des Innern zu sein d. h. es noch in stärker
Maße zu sein als er bereits Minister aller Departements ist, und für die
Ausführung seiner Absichten einen mit militärischer Sicherheit und Un¬
bedenklichkeit operirenden Diener zu haben. Der General wird weniger die
Aufgabe haben, neue Maßregeln für die Befestigung der Regierung zu ersinnen,
als die ergriffenen streng durchzuführen. Damit es ihm dafür nicht an
Mitteln fehle, wandelt das Decret vom 8. Februar stillschweigend den Titel
„Ministerium des Innern" in den „Ministerium des Innern und der öffentlichen
Sicherheit" um. Diesem Verhältnisse entspricht das Rundschreiben des Ministers
an die Präfecten, das Land solle die Sicherheit haben, welche es verlange,
und diese bestehe in einer aufmerksamen, unaufhörlichen, eifrigen, raschen und
festen Überwachung; weshalb die wenigen unruhigen Köpfe eine solche in
ganz Frankreich nöthig machen, während andererseits das Land nach der Ver¬
sicherung des Generals ruhig, glücklich und ruhmreich ist, darüber erhalten
wir keine Aufklärung; dem Verfasser des Circulars ist keinesfalls nachzusagen,
daß er von montcsquieuschen Ideen entnervt sei.
Es ist ein Fluch für die kaiserliche Regierung, daß ihre ersten Diener
nicht die öffentliche Äcktung genießen. Napoleon I. hatte, ganz abgesehen von
seinen großen Generalen, Männer wie Cambacm'us, Earnot, Gaudin, Talley-
rand, Portalis, Motum u. a. in.. er arbeitete mit den bedeutendsten Leuten,
welche die Revolution emporgebracht hatte, wie Ludwig XIV. durch die
Männer, welche die Fronde gebildet, seine.Größe begründete. Die wenigen
bedeutender« Politiker und Generale dagegen, welche die legten bürgerlichen
Kämpfe in den Voroergrund stellten, haben der neuen kaiserlichen Sonne den
Rücken gewandt, der alte Dupin ist fast die einzige Eroberung Napoleons III.,
nicht einmal der Mann, der durch seine Geschichte des Consulats und Kaiser¬
reichs den Begründer der Dynastie wieder populär gemacht, hat den Fuß in
die Tuilerien gesetzt. Ein Staatsmann, der das kaiserliche Regime bei Ge¬
legenheit des pariser Congresses zuerst nahebei sah, äußerte sein Erstaunen
ebenso sehr über die bedeutende Persönlichkeit des Kaisers als über die Un¬
bedeutendheit der Männer, die ihn umgeben, „it u'7 pas mßwe un Komme
in6(Il<)Li'0" sagte er. Der Kaiser täuscht sich selbst am wenigsten über seine
Diener, er hat nur einen Freund, auf den er sich unbedingt verlassen kann,
Persigny, die Anhänglichkeit der andern dauert so lange als sein Stern
scheint, mau legt ihm das Wart in den Mund, „was wollen Sie. die
Heute von Geist kehren mir den Rücken zu, ich muß nehmen, was ich
finde", er hätte lieber Staatsmänner, die nicht blas das Sprachrohr seiner
Geba.ekelt sind, unis que voulö^-vous, c'est plus kort c^ne lui, -die
Konsequenzen des despotischen Princips und deS Staatsstreichs sind stärker,
als selbst seine bedeutende Persönlichkeit. Napoleon I. hat außer seinen Sie¬
gen eine neue Civil- und Militärorganisation Frankreichs, den Code, das
Concordat, die Fiuanzverfassung hinterlassen, was hat Napoleon III. geschaffen,
mit seinen neuen Männern, das seine Regierung überdauern könnte, etwa den
Credit mobilier? — Der Hauptunterschied des ersten und zweiten Kaiserreichs
liegt in dieser Beziehung wol in Folgendem. Die Revolution von 1789
hatte zum erstenmal den Talenten des dritten Standes freie Bahn eröffnet.
Nachdem sie ihr Werk der Zerstörung vollendet, war alles von Grund wieder
auszubauen, die neuen Männer thaten es, sie verzichteten theilweise auf ihre
politischen Ideale und begründeten den neufranzösischen Staat, der zweiten
kaiserlichen Negierung aber war eine Epoche vorausgegangen, wo jedes Talent
sich auf das freiste geltend macheu konnte. Was man auch sonst gegen die
Iulimonarchie geltend machen kann, ihr bleibt das Verdienst, daß die bedeu¬
tendsten Geister Frankreichs ihr anhingen; alle dieselben, welche ihr Empor¬
kommen der relativ bedeutenden Freiheit verdankten, welche von 1830—1848
herrschte, wandten sich vom Kaiser seit dem Staatsstreich ab, nachdem sie den
Präsidenten Bonaparte unterstützt, ihre Opposition galt nicht der Person,
sondern dem Princip. Vielleicht hätten sich der Kaiser und die bedeutender»
Leute der alten Parteien begegnen können, wenn erstrer statt der glänzenden
Rolle, die er gewählt und für welche der Despotismus nothwendig war, die
Heilung der innern Wunden Frankreichs zu seiner Aufgabe gemacht hätte, '
und wenn auf der andern Seite jene Staatsmänner der frühern Zeiten ein¬
gesehen hätten, daß das Land nicht für die Freiheit reif sei. sondern erst
langsam auf den Weg, der zu ihr leitet, geführt werden müsse. Ihre Talente
wären dann zu praktischen Zwecken verwendet, statt daß sie sich jetzt mit
Apologien ihrer frühern Unfehlbarkeit beschäftigen und in versteckten historischen
Anspielungen mit der kaiserlichen Regierung plänkeln und schmollen, dieselbe
erbittern und auf ihrem verkehrten Wege durch jene Angriffe bestärken. Es
wäre so eine Versöhnung möglich gewesen und Graf Morny hätte sich
seine Diatribe über die französischen Parteien ersparen können, der man zu
viel Ehre erweist, wenn man sie wiederholt, geschweige denn beleuchtet. Es
ist nicht geschehen, der Hader der Parteien, welcher sich nicht an die Ober¬
fläche wagen darf, geht im Stillen fort, die Feinde der gesellschaftlichen Ordnung,
gegen weiche alle zu arbeiten ^behaupten, lachen ins Fäustchen, und denken,
wir können schon ruhig sitzen, wie ihr es wollt, ihr thut unsre Arbeit besser
als wir es vermöchten. Möge Deutschland an der großen pathologischen
Lection, welche Frankreich der Welt bietet, lernen, wie man es nicht machen
darf, wenn man zur Freiheit gelangen will.
Der Verkehr ist einer großen, vielverschlungenen und mit Rädern groß und
klein zahlreich versehenen Maschine zu vergleichen, nur daß sie nicht künstlich
in Bewegung gesetzt wird, sondern, weil auf deu immer neuen Bedürfnissen
der menschlichen Gesellschaft beruhend, sich selbst vorwärts treibt. Es muß
daher auch das ganz Außerordentliche, das Ausnahmsweise vorhergehen, ehe
sie in volle Stockung geräth, und sie regt sich wieder beim leisesten Nachlassen
auch des gewaltigsten Drucks. Ihre Kraft kann auch überspannt werden und
dadurch zu Explosionen führen, wie wir das in den letzten Monaten erlebt
haben, und sie wird regelmäßig dann überspannt, wenn die Zeitumstände die
andern edlern Regungen und Bedürfnisse des menschlichen Seins in ihrer Ent¬
faltung hemmen, was leider gleichfalls als Zug der Zeit für die letzten Jahre
paßt. Der Aufbau des materiellen Gedeihens der Völker durch die Regierungen
als Entschädigung für die Schwächung ihres politischen Fortschritts hat auch
seine sehr bedenklichen Seiten grade in Bezug auf die materielle Entwick¬
lung selbst.
Der Verkehr hat Straßen gebaut und Flüsse regulirt. Kanäle geschaffen
und Berge durchbrochen, er hat es endlich bis zu Eisenbahnen und elektrischen
Telegraphen gebracht. Das ist die große, jeglichem in die Augen fallende
Wirkung des Verkehrsbedürfnisses. Wer aber zählt die Unmasse von stehenden
und vorübergehenden Einrichtungen auf, welche die kolossalen Waarenladun¬
gen, die alltäglich durch die keuchende Locomotive weiter geschleppt werden,
ihrem letzten Zweck, der Vernichtung durch Millionen von Konsumenten zu¬
führen! Eirter der bedeutendsten Nationalökonomen unserer Zeit und einer der
tüchtigsten Vorkämpfer für die Freiheit des Verkehrs, Bastiat. konnte mit vollstem
Rechte die Frage auswerfe», welche Regierungsweisheit wol im Stande gewe¬
sen wäre, auch nur eine Mittelstadt mit^ ihren unzähligen täglichen kleinen Be¬
dürfnissen so zu versorgen, wie es durch das Getriebe eines nimmer rasten¬
den kleinen und großen Verkehrs geschieht — und nun gar eine Riesenstadt wie
London! Alle die großen, unmittelbar >us Auge fallenden Verkehrsmechanismen
würden ruhen, sobald diese kleine, unscheinbare Thätigkeit irgendwie empfind¬
lich gestört würde. Die lehre große Handelskrisis ist zum großen Theil grade da¬
durch verschuldet worden, daß die, welche den großen Perkehr in Händen hatten,
nun auch meinten, sie könnten dauernd der Konsumtion Gesetze vorschreiben.
Aber diese setzte der steigenden Theuerung den passiven Widerstand des Nicht-
kaufens entgegen, die vielen kleinen Ströme und Bäche des Zmischenverkehrs
trockneten immer mehr aus, aus den reichen Magazinen konnte nichts mehr
abfließen, und so brach die Krisis herein, welche dann noch weitere Erschütte¬
rungen nach sich zog. Der große und der kleine Verkehr bedingen einander,
das kann nur der übersehe», welcher von seinem engen Gesichtskreise aus sich
die Möglichkeit genommen hat, das große Ganze zu übersehen.
Die allgemeinste Bedingung zum Gedeihen des Verkehrs ist die öffentliche
Sicherheit. Der größte Theil der Einrichtungen im Staat ist auf diesen Zweck
gerichtet. Wenn man neuerdings sich gewöhnt hat, die Polizei immer mehr
als die erste Trägerin der öffentlichen Sicherheit anzusehen, so liegt das an
den politischen Wandlungen der Zeit; die öffentliche Sicherheit ward von der
Staatsgewalt ebeu als der Gegensatz der revolutionär erschütterten Zustände
aufgefaßt, und die Verstärkung der Polizeimacht war nur immer der Ausdruck
des allenthalben, auf dein Kontinent mehr oder minder geltenden Kriegs-
zustandes. Wohin man aber bei einem zu einseitigen Vorgehen in dieser Rich¬
tung gelangt, das zeigt jetzt Frankreich. Die Polizei ist indeß nur eins der
Organe der öffentlichen Sicherheit; die Gesetze, die Gerichte, der Gemeinde¬
verband u'. a. gehören auch dazu und erreichen durch ihre Stetigkeit und ihre
Einwirkungen auf deu innern Menschen auf die Dauer ihren Zweck noch besser.
Die wirkliche Sicherheit liegt auch viel weniger in Einrichtungen, als in dem
allgemeinen Vertrauen zu deren ungeschwächten Bestand, und der Mangel
dieses letztern ist eine der größten Schattenseiten unserer Zeit, deren Rückwir¬
kungen auf andere, namentlich auf das wirthschaftliche Gebiet, bereits bedenk¬
lich genug hervorgetreten siud.
Neben dieser durch den Staat und die öffentlichen Zustände gewährten
Sicherheit bedarf der Verkehr noch anderer Vorkehrungen, die er sich indeß meist
selbst verschaffen muß. , Eine der merkwürdigste» hierher gehörigen Veranstal¬
tungen sind die sogenannten Versicherungen, deren Wirken in einer oder
der andern Art den meisten der Leser wol durch eigne Erfahrung bekannt sein '
mag, deren durchgreifende Bedeutung für den Verkehr aber in ihrem geräuschlasen
Sinn nicht allen zum Bewußtsein gekommen sein wird. Wir sagen ganz ge¬
wiß nicht zu viel, wenn wir an das Vorhandensein der Versicherungen aus¬
schließlich die Möglichkeit eines geregelten und sichern Verkehrs anknüpfen.
Aller Großhandel, fast aller vernünftig gewährte Credit beruht auf den Ver¬
sicherungen. Zur Begründung dieses allgemeinen Satzes diene nur die Be¬
merkung, daß ohne die Versicherungen die meisten größern kaufmännischen
Unternehmungen den Gefahren jeden Zufalls Preis gegeben, also von vorn¬
herein vielleicht unmöglich wären. Nicht der regelmäßige Gewinn und das
regelmäßige Geschäft, sondern nur das Wetten und Wagen, heute der unge¬
heure Reichthum, morgen der jähe Sturz, das war der nothwendige Charakter
des Geschäfts, als man die Versicherungen noch nicht kannte. Don Antonio,
der die Sicherheit seines Vermögens darin sucht, daß er seine Unternehmungen
nicht einem einzigen Schisse anvertraut hat und so ohne alle Gefahr Shylocks
Schuldner werden zu können glaubt, sieht sich in der Erwartung, daß nicht
alle Ladungen untergehen, betrogen, und ist nun nahe daran, dem Messer zu
verfallen. Die Engländer nannten im 14. und 15, Jahrhundert ihre ins Aus¬
land handelnden Kaufleute merelmntL Ällventurers.
Es ist grade der.Zweig der Seeversicherungen, deren Wesen und Ein¬
fluß am wenigsten bekannt ist, und welche doch den gesammten Großhandels¬
betrieb beherrschen, den wir der Bekanntschaft unserer Leser etwas näher
vermitteln wollen. Nicht um sie in einen Betrieb einzuweihen, dessen technische
Schwierigkeiten der Art sind, daß die andauerndste Theorie und Erfahrung sie
lange noch nicht überwunden haben, sondern um ihnen den allgemeinen, dabei
vorherrschenden Gedankengang zu vermitteln. Das Gebäude, das wir hier
vorführen werden, ist so durch und durch kunstvoll, mit so steter Berücksichtigung
des Ganzen und des Einzelnen gearbeitet, die Interessen, die sich daran
knüpfen, sind so ungeheure, daß es vielleicht kaum einer Entschuldigung bedarf,
wenn wir etwas näher darauf eingehen. Eher dürfte es zweifelhaft e sein, ob
wir zur Lösung unsrer Aufgabe, die klare Darstellung aller wichtigen Punkte,
um die es sich handelt und deren Ineinandergreifen, gelangen werden.
Man muß sich zuerst des Gedankens, einer mehr als oberflächlichen Ähn¬
lichkeit mit den bekanntem Feuer-, Hagel-, Viel)-, Lebensversicherungen u. s. w.
entschlagen. In all diesen Fällen, mit etwaiger Ausnahme der Lebens¬
versicherungen, liegen die Verhältnisse im Allgemeinen außerordentlich einfach.
Wir kommen darauf zurück und können im Wesentlichen auf das in der Ueber¬
schrift bezeichnete Buch verweisen. Masius gehört zu den gründlichsten Ken¬
nern des Versicherungswesens auf dem festen Lande;, die Seeversicherungen
schlagen dagegen schon weniger in sein Fach, wie er diese denn anch in dem Buche
mit auffallender Kürze behandelt hat. Dasselbe ist auch vorzugsweise sür
praktische Bedürfnisse des deutschen Schülers und Geschäftsmanns geschrieben
— und eine Seenation sind wir Deutsche noch immer nicht.
Man sehe sich einmal die thatsächlichen Verhältnisse an, welche bei Ver¬
sicherung eines Schiffs in Betracht kämmen müssen. Natürlich denkt man zu¬
nächst dabei an die Gefahren, welchen ein beladenes Schiff auf der hohen
See durch Wind und Wetter ausgesetzt ist. Allerdings ist dies die haupt¬
sächlichste Gefahr, aber sie tritt nicht immer in derselben Gestalt auf und ist
auch nicht die einzige. Die Heimath eines Seeschiffes ist das große Meer,
Länder aller Zonen und der verschiedensten Stämme bespülend. Alle Kunst
des Schiffers, die auf Erreichung eines bestimmten Hafens gerichtet ist, ver¬
mag ihn unter Umständen nicht davor zu bewahren, daß er einen andern Platz,
den sogenannten Nothhafen aufsuche» und dort mehr oder minder lange Zeit
verweilen muß, je nachdem sein Schiff der Reparaturen bedarf. Ueberhaupt,
und das ist der größte Gegensatz zu den Landversicherungen, Schiff und Schiffer
haben es zugleich mit verschiedenen Völkern und verschiedenen Gesetzgebungen
zu thun, und wie sehr diese letztern auch i» ihren allgemeinen Grundzügen
übereinstimmen mögen, was bei den Völkern europäischer Bildung allerdings
der Fall ist, so machen sich doch in vielen Einzelheiten mehr als billig das
Interesse und üble Angewohnheiten geltend.. Wenn ein Haus abbrennt, wenn
Hagel ein Feld vernichtet, so wußte der Uebernehmer der Gefahr (der Ver¬
hinderer) ganz genan vorher, mit welchen Behörden er zu thun haben wird,
und nicht minder genau der Versicherte, welche Gesetze ihn in seinen Ansprüchen
schützen, wenigstens kann dies als die Regel augesehen werden; anders aber
bei einem Seeschaden der Schiffer und dessen Verhinderer, da sich ja eben
der Ort des Unfalls und der auszusuchende Hafen nicht vorher bestimmen
läßt. Nach einer bestimmten Beziehung gereicht dieser Umstand sogar zum
besondern Nachtheil des Versicherers. Ein zu dessen Lasten fallender Unglücks-
fall auf dem Lande ist nach Art und Umfang meist rasch und genau genug
festzustellen, und gewähren Agenten und Ortsbehbrden stets die nöthige Unter¬
stützung; auf der See dagegen ist bei jedem außerordentlichen Ereignis; nnr
Schiffer und Schiffsvolk gegenwärtig und jede außerordentliche Maßregel kaun
nur von ihnen, hauptsächlich vom Schiffer ergriffen werden, So ist es min¬
destens heutzutage; vor Zeiten schiffte sich der Cargadenr, der Befrachter,
oder ein Bevollmächtigter in dessen Namen mit ein, um die kostbaren Güter,
die er verladen, womöglich nirgend aus seinen Augen zu verlieren; aber grade
seitdem die Versicherungen so allgemein geworden sind, seitdem aber auch der
Handel mehr und mehr den Charakter des Abenteuernden verloren, hat
diese auch in mancher andern Beziehung etwas bedenkliche Einrichtung meist
aufgehört. Und wenn nun der Schiffer in einen fremden, namentlich in einen
Nothhafen einläuft, dann drängen sich in Sphären, wohin die Macht, der
gewöhnlichen Behörden gar nicht reicht, Gewinnsucht und der Geist des gegen¬
seitigen Durchstechens in einer Weise an ihn hinan, wie sie vielleicht in andern
weniger in sich abgeschlossenen Sphären in der Weise weniger erfolgreich wir¬
ken. Der biedere, scheinbar so sorglose Seemann ist in der Regel ein sehr
guter Rechner, besonders wenn er es zum Steuermann oder Eapitän gebracht
hat. und er muß es auch sein, wenn er sich und seine Auftraggeber vor viel-
fältigem Schaden bewahren will. Man kann aber ganz gewiß sein, daß alle
diese Zustände vom Verhinderer in irgend einer Weise mit veranschlagt worden
sind, sei es auch nur im Betrag der Prämie, für welche er d>e Versicherung
übernimmt. Wir kommen noch auf die Einrichtungen zurück, durch die er sich so
viel wie möglich vor Schaden, der ihm daraus erwachsen konnte, zu hüten sucht.
Wodurch sich aber Seeversicherungen von Landversicherungen ganz be¬
sonders unterscheiden, ist die Verschiedenheit der Interessen, welche dabei zu
gleicher Zeit und durch dieselbe Gefahr in Frage stehen. In einem Hause
können mehre zu gleicher Zeit gegen Feuersgefahr versichert sein, brennt es
herunter, so wird jeder für sich seine Schadenrechnung einreichen, ohne mit
dem Hausgenossen dadurch in irgend welche Verbindung zu gerathen. Wenn
ein Hausbesitzer das Gebäude, die Bewohner des Hauses, denen er dasselbe
vermiethet hat, ihre Mobilien versichern, so wird die Schadenverpflichtung
in jedem Falle sich sondern lassen. Bei einem Schiffe dagegen liegt die Sache
verwickelter. Da ist zuerst der Körper des Schiffes („Easco" genannt) sammt
der Ausrüstung, da sind ferner die im Schiffe verladenen Güter, und da ist
die durch eine Seereise zuverdienende Fracht, welche jede besonders versichert
werden können und versichert werden, und könnte man endlich auch die vom
Verkauf der Güter gehofften Vortheile („imaginären Gewinn") dahin rechnen.
Es klingt gewiß abenteuerlich genug, eine» „imaginären" Gewinn als etwas
Festes zu versichern, aber nur hierdurch ist die Absicht dessen, der für die von
einem andern übernommene Gefahr eine sogenannte Prämie bezahlt, völlig
erreichbar. Er will an seinen Gütern verdienen, und kann das nur, wenn
er an dem Ort, wohin sie befördert werden, mehr Geld erhält, als da,
wo er sie eingeladen hat) sein „Interesse" an den Gütern wird durch
Ersetzung des ursprünglichen Werthes gewiß nicht gedeckt. Schiff, Fracht,
Güter und imaginärer Gewinn können unter Umständen von demselben ver¬
sichert werden, meistentheils werden sie jedoch unter verschiedene Interessenten
vertheilt sein, und die Güter speciell können verschiedenen Eigenthümern ge¬
hören, die sie nun jeder für sich versichern lassen; ja mehr noch, an demselben
Gut können verschiedene Interessen wahrzunehmen sein, die eines Pfand-
nehmers, eines Evnnossementinhaberö/) eines Wechselgläubigers u. s. w.
Alle diese Interessen «können beim Schadenersap nebeneinandergehcn, sie
können aber auch in Collision miteinander gerathen. Nur ein einziges Inter¬
esse am Schiffe und dessen glücklicher Fahrt ist nach allen Gesetzen nicht ver-
sichervar. der Dienstlohn, (die „Heuer") des Schiffsvolks, Man will da¬
durch offenbar ihr Interesse so eng als möglich an das Schiff knüpfen.
Während die, welche nicht mit im Schiffe sind, bei dessen Untergang
Schadenansprüche der ausgedehntesten Art erheben können, sollen die el-,
gemeuchelt Hüter des Schiffs in diesem Falle ganz leer ausgehen, höchstens
daß sie ihre „Heuer" bis zum Tage des Untergangs berechnet erhalten — gewiß
eine eigenthümliche Art der Nöthigung zu besonderer Aufmerksamkeit.
Die Hauptveranlassung zu den Kollisionen derer, die in demselben Schiffe
Versicherung genommen haben, ist die ganz abweichende Art der Nnglücks-
fcille und sonstiger Schäden, welche ein Schiff auf der hohen See treffen
können. Zuerst der gewöhnliche Schade durch Abnutzung des Schiffs und dessen
Utenstlien (meist „kleine Havarie" genannt), die jedoch nicht vergütet wird, da
sie sich in ganz regelmäßigem Verlauf der Dinge stets ereignen muß und ihr
der ebenso regelmäßig aus dein Schiffe zu erzielende Frachtgewinn gegenüber¬
steht. Ein Schiff hat außer Klippen und Stürmen noch andere gewaltige
Feinde, die Abreibung in der Bewegung, die chemisch wirkende Kraft mancher
im Wasser enthaltener Bestandtheile, Meeresthiere u, s. w., und ist sein Da¬
sein daher im natürlichen Verlauf der Dinge ziemlich eng begrenzt, auf einen
Durchschnitt von etwa zehn Jahren. Die Rentabilität eines Schiffs muß
also darauf berechnet werden, daß auf jedes dieser zehn Jahre womöglich
mindestens der entsprechende Theil von Capital und Zins und außerdem
natürlich noch ein Gewinnantheil fällt. Da Schiffe zum Werth von 6et bis
100,000 Thlr. und weit darüber heutzutage grade keine Seltenheit sind, da
ferner die Instandhaltung eines Schiffs oft ganz enorme Kosten verursacht,
auch fortwährend Gage und Heuer zu bezahlen sind, und noch manche andere
bedeutende Unkosten hinzutreten, so kann man sich einen ungefähren Begriff da¬
von machen, wie viel dazu gehört, ehe eine Rhederei als einträglich bezeich¬
net werden kann. Dabei ist noch zu bedenken, daß der Hauptverdienst eines
Schiffes in die ersten Jahre seiner Existenz fallen muß, weil es dann nach
allen Beziehungen am seetüchtigsten ist. Und doch kommt es bei günstigen
Conjuneturen und unter sachverständiger Leitung nicht grade sehr selten vor,
daß ein Schiff sich in den ersten Jahren „frei" fährt d. h. bereits sämmtliche
Kosten nebst Zinsen deckt, so daß jeder weitere Frachtverdicnst als reiner Ge¬
winn angesehen werden kann. Andere Rhedereien dagegen arbeiten fast fort¬
während mit Verlust und wird derselbe dann durch andere Vortheile, im
Schiffsbau und im Handelsverkehr ausgeglichen.
Von dem Schaden durch Abnutzung muß man nun den durch wirkliche
Unglücksfälle sondern, und hier wiederum zwei AiA'n unterscheiden, welche
in der Kunstsprache als „große Havarie" und „particuläre Havarie" bezeichnet
^werden. Nicht der Betrag des Schadens ist das eigentliche Merkmal eines
jeden derselben, sondern die Art, wie sie vor sich gegangen. Wenn im Ver¬
lauf eines Sturms Segel und Masten über Bord gerissen, Waaren hinab-
gespült oder durch vom Leck oder von oben einlaufendes Wasser beschädigt
werden, so ist hier, der angerichtete Schade mag noch so beträchtlich sein,
nur von „pnrticulärcr Havarie" die Rede, und jedex Versicherte, dessen Gut
dabei gelitten hat, mag sich an seinen eigenen Verhinderer halten, grade wie
bei einem durch Feuersbrunst beschädigten und von mehren bewohnten Hause.
Wenn aber in einem Sturme zur Rettung des Ganzen Segel und Masten gekappt
und über Lord geworfen werden, wenn Waaren zur Erleichterung des Schiffs
denselben Weg zum Abgrunde gehen, oder sonst eine Maßregel getroffen wird,
welche einem am oder im Schiffe befindlichen Vermögcnstheil beschädigt oder
vernichtet, damit die gemeinsame Gefahr abgewandt werde, oder endlich die
nothdürftige Wiederherstellung eines durch Seeunfall untüchtig gewordenen
Schiffes Kosten verursacht, dann ist „große Havarie" da. Es ist nämlich
nicht mehr als recht und billig, daß in allen solchen Fällen der freiwillig
angerichtete Schade nicht blos dem zur Last fällt, der davon zufällig betrof¬
fen worden, sondern allen zusammen, denen durch solche Aufopferungen und
Kosten ein Vortheil, der der Erhaltung eines Vermögensantheils geworden
ist. Es ist dies um so nothwendiger, da sonst die Verantwortlichkeit des
Schiffers in der Auswahl der zu opfernden Dinge erschwert und so die Ent¬
schlossenheit zur gemeinsamen Rettung gemindert werden könnte. Ist nun
Schiff und Ladung, so weit davon nichts geworfen, wirklich gerettet worden
(denn das ist die Vorbedingung zur „großen Havarie"), dann „contribuiren
Schiff, Fracht und Ladung zu gleichen Theilen" d. h. der Procentsatz der
herbeigeführten Verluste, angerichteten Beschädigungen oder verursachten Kosten
wird von dem Geldwerth jeder dieser drei Theile abgezogen und so weit ent¬
weder vom Eigenthümer oder dessen Verhinderer .vergütet. So einfach und
leicht dieser Grundsatz auch aussieht, so unendlich schwierig kann vorkom¬
menden Falls die Ausführung sein. Jedes der drei „contributionspflichtigen"
Theile muß tazirt und zwar jedes nach besondern Grundsätzen taxirt werden.
Am leichtesten ist es noch bei der Fracht, denn darüber liegt der Contract
zwischen Befrachter und Frachtnchmer (sog. Chartcpartie) vor. Beim Schiffe
ist aber nicht blos der durch particuläre Havarie verursachte möglicherweise
gleichzeitige Schaden zu trennen, sondern auch dessen allgemeiner Zustand beim
Seeuusall, ob und wie weit es neu war, und wird danach wo nöthig unter
Abzug von meist V» des Schiffswerths als „alt für neu" der zu ver¬
gütende Schade und die Contributionspflicht berechnet. Würde dies nicht in
dieser Weise geschehen, so hätte ja der Eigner eines Schiffes durch einen Ses-
unfall sehr häufig die Aussicht auf einen directen Vortheil, da ihm das ver¬
gütet würde, wofür er sich schon in anderer Weise bezahlt gemacht hat, näm¬
lich die Abnutzung des Schiffes. Am spitzfindigsten liegt die Sache aber bei
den verladenen Gütern. Da muß zwischen dem aufgegebenen und dem wirk¬
lichen, zwischen dem Preise des Einschiffungs- und dem des Bestimmungs¬
ortes unterschieden, da muß der vorher durch particuläre Havarie etwa ver¬
ursachte Schaden' besonders berechnet, da muß die unregelmäßig verladene
Waare ganz aus der Rechnung gestrichen werden u. s, w. Die „Aufmachung
der großen Havarie", wie es technisch heißt, ist eine so sehr schwierige Sache,
daß ganze Bibliotheken darüber zusammengeschrieben sind und doch für viele
praktisch wichtige Punkte noch immer keine Einigkeit erlangt ist. So viel
wird den Lesern aus dem Bisherigen gewiß klar geworden sein, daß es sich
bei den meisten der dahin gehörigen Fragen viel weniger um juristische Con-
sequenzmachercien, als um Zweckmäßigkeit und Billigkeit handelt. Namentlich
wird mit möglichster Schärfe der überhaupt bei dem Versicherungswesen ma߬
gebende Grundsatz, daß der Versicherte nur entschädigt werden, nicht gewin¬
nen soll, festgehalten. In ihrem Grundgedanken und in ihrer Entstehung
hat Havarieberechnung mit der Versicherung allerdings nichts zu thun; in
unserer Zeit dagegen stehen beide im engsten Zusammenhange. Anfügen
wollen wir noch, daß bei der Seeschiffahrt Verhältnisse eintreten können, die
auf andern Verkehrs- und Rechtsgebieten gradezu gar nicht oder mindestens
nur in äußerst seltenen Ausnahmen denkbar wären. Der Schiffer darf die
ihm zur Fracht anvertraute Waare verkaufen, falls ihm kein anderes Mittel,
sich die zur Fortsetzung der Reise nothwendigen Gelder zu verschaffen, zu Ge¬
bote steht; er darf ferner zu demselben Zweck das Schiff verpfänden, obgleich
ihm weder Schiff noch Ladung angehört. Ein solches gesetzlich gestaltetes
Verfügungsrecht über fremdes Eigenthum erklärt sich eben aus der eigenthüm¬
lichen Lage, in weiche ein Schiffer hineingerathen kann. Natürlich übt das¬
selbe seinen Einfluß auf die Versicherungen aus.
Wir haben bisher die Lage des oder der Versicherten, wenn gleich nur
in den allgemeinsten Umrissen geschildert, aber auch die Lage des Ver¬
sicherers vor Seegcfahren weicht von der eines andern Versicherers sehr be¬
deutend ab. Die z. B. durch Feuer und Hagel entstehenden Unglücksfälle
wird der Verhinderer nach der Größe der Versicherungssumme und des wirk¬
lich herbeigeführten Schadens ersetzen, bei einer Lebensversicherung wird er
nach dem Tode des Versicherten an die Berechtigten die ausgemachte Summe,
die auf sehr einfache Daten hin ausgerechnet worden, bezahlen; anders aber
bei Seeversicherungen. Hier muß jeder Fall viel individueller für sich behandelt
werden und setzt die genaueste Kenntniß alter betreffenden Verhältnisse voraus.
Zuerst also wird das Schiff, und die Reise betrachtet: das Schiff, ob es alt oder
neu sei, welcher flagge es angehöre, welcher Capitän es fahre, wie es be-
munut sei; die Reise, welcher Cours eingeschlagen werden müsse, welche Gegen¬
den es berühre, zu welcher Jahreszeit es fahre. Zur Controle des Schiffs
dienen nun außer den bekannten Erfahrungen über die Eigenthümlichkeiten
bestmunter Kapitäne und bestimmter im Seeverkehr vorkommender Nationen
große, in allen Häfen verbreitete Register über alle bekannten Schiffe aller
Nationen. Merkwürdigerweise hat sich das Register des englischen Lloyd
durch das der französischen Veritas völlig den Rang ablaufen lassen. Die
Veritas zeichnet sich durch sorgfältige Classificirung jedes einzelnen Schiffs
nach Bauart, Alter. Tragfähigkeit, vorgenommenen Reparaturen, Bestimmungen
für größere oder'kleinere Reise» u. s. w. aus, und bildet daher für jeden
Verhinderer ein fast unentbehrliches Hilfsbuch. Die Kenntniß aller der an¬
geführten Umstände gewinnt die Veritas nach dem Muster des Lloyd durch
Anstellung von Beamten und Korrespondenten in allen größern Hasen der
Erde, namentlich da, wo der Schiffbau besonders slorirt. Jedes Schiff wird
während des Baues und der Reparaturen von diesen Angestellten, meistentheils
erfahrenen Eapitäncn, überwacht und dem Erbauer auf Verlangen ein Zeugniß
darüber ausgestellt. Je nach dem Bericht des Angestellten wird nun das
Schiff classificirt. Die Erbauer dagegen unterwerfen sich gern einer solchen
Controle und den damit verbundenen Kosten, weil sie sonst in die Register
nicht aufgenommen werden, el» llmstand, der Befrachter u»d Verhinderer natür¬
lich gegen das betreffende Schiff mißtranisch machen würde. Die ganze Ein¬
richtung ist eine der interessantesten Veranstaltungen einer ungemein ausge¬
dehnten, ausschließlich auf Privatmitteln beruhenden Controle, deren Aus-
büung eben durch das Herbeiziehen des Privatinteresses möglich wird. Lloyds
Register und das der Veritas erscheinen zu Anfang eines jeden Jahrs.
Für die Berechnung der Gefahren einer Reise dienen die sogenannte»
Tabellen für Assecuranzprämicn, wie sie im Lauf des Jahres öfter an Assecuranz-
plätzen erscheinen. Ohne Dringende Noth darf kein Schiff von der fest¬
gesetzten Reise und dem üblichen Course abweichen, soll es nicht das Anrecht
auf den Schadenersatz durch deu Verhinderer verlieren. Denn selbst wenn ein
Schiff, das freiwillig seinen Cours verlassen, wieder auf denselben zurückkommt,
so könnte durch die veränderte Jahreszeit oder durch andere Umstände die
durch den Verhinderer übernommene Gefahr, unter allen Verhältnissen aber
die Zeitdauer derselben vergrößert werden. Anders natürlich ist es beim Zwang
durch Wetter und Kriegsereignisse.
Nächstdem hat der Verhinderer die Ladung anzusehen, nicht blos nach
ihrem Werth, sondern nach ihrem Einfluß auf das Schiff und die Reise. Es
ist an und für sich keineswegs erforderlich. wie es auch in den »leisten Füllen nicht
einmal möglich wäre, die Bezeichnung und den Werft) der verladenen Güter genau
anzugeben. Der Empfänger einer Waare im Hafen K erfährt z, B,,
daß vom Hafen eine Schiffsladung oder ein Theil derselben ihm zugesandt
werde, ohne daß eine specielle Angabe erfolgt, oder was noch üblicher ist, er
erhält den Auftrag, für so und so viel Werth Kaufmannsgüter in dem und dem
Schiffe für die bestimmte Reise auf Rechnung dessen, den es angeht, zu versichern.
Solche Persicherungen bilden sogar die Mehrzahl, Aber gewisse Umstände
müssen dennoch vorher genau angezeigt werden, widrigenfalls der Verhinderer
ganz oder theilweis von der Ersatzpflicht befreit wird. Dahin geboren Kalk-,
Knochen-, Salz-, Guano-, Steinladungen u, s, w., weil diese Dinge den
Schiffskörper ungewöhnlichen Beschädigungen aussetzen, dahin gehören ganz
allgemein leicht verderbliche Waaren, weil der Verhinderer nur den Seeschaden
garantin. Wenn nun der Versicherte diese Art Anzeigen dem Verhinderer
macht, so wird dieser letztere die größere Gefahr nur gegen eine höhere Prämie
übernehmen können. Daß der Verhinderer nur für wirklichen Seeschaden, nicht
auch dafür aufkommt, daß infolge regelwidriger Verpackung, z. B. Flüssiges über
Festem, eine Beschädigung des letztern entstanden ist, versteht sich von.selbst.
Ferner kann der Verhinderer „gegen alle Gefahr" versichern, oder ,,nur
für Seegefahr", wo Beschädigungen durch Kriegsereignisse ausgeschlossen sind,
oder „frei von Beschädigung", wo »ur der Gesammtveriust crsekt wird,
oder wie diese „Klauseln" sonst zwischen Verhinderer und Versicherten ausge¬
macht sind. Die Mannigfaltigkeit der Verhältnisse der Seeschiffahrt repräsentirt
sich eben durch diese und ähnliche Besonderheiten in der Versicherung, Es
ist nach allem Vorangehenden auch nicht nöthig, daß wir in ein weiteres
Detail eingehen, da wir hoffen, die Eigenthümlichkeiten und die besonderen
Schwierigkeiten von Seeversicherungen bereits in ihren Grundzügen dargelegt
zu haben.
Das wird den Lesern bekannt sein, daß in den größern Hafenplätzen
Reihen von Assecurauzgesellschaften, seltener eine größere Anzahl von sogenannten
Privntassecuradeurs bestehen. Das Assecuranzgeschäst hat da allenthalben eine
Art innerer Organisation, hervorgegangen aus dem Bedürfnisse. Die Ver¬
hinderer eines Orts verfahren nach denselben Grundsätzen, theilen wichtige
Nachrichten einander mit, und was besonders hervorzuheben ist, übernehmen
häufig Gefahren aus gemeinsame Rechnung, Derselbe Verhinderer ist nicht
geneigt, für dasselbe Schiff oder dieselbe Reise zu große Risicos (Gefahren)
zu übernehmen, er theilt es mit einem andern. Oder an demselben Handels¬
platze ist bereits nach einer Richtung hin genug Versicherung genommen, man
überläßt den Rest einem andern. In dieser sorgsamen Bertheilung der Risicos
liegt eine der Hauptbedingungen zum Gedeihen des Verficherungsgeschästs.
Die eingenommenen Prämien würden auf die Dauer schwerlich die Ersatz-
pflichten decken und einen Ueberschuß für die Blühe gewähren, falls zu viel
auf eine einzige Karte gesetzt würde.
Die Regierungen sind dem Assecuranzwesen durch eine einzige positive Leistung
zu Hilfe gekommen, es ist dies die unter obrigkeitlicher Autorität vorgenommene
sogenannte D isp a es irnng. So nennt man die Berechnung des durch ,,große
Havarie" erlittenen Schadens und dessen Vertheiluug an die Betheiligten,
und wird diese wiederum auf Grundlage der „Verklärung" aufgebaut, der
eidlichen Erklärung von Schiffer und Mannschaft über den erlittenen See¬
unfall. Leider ist letztere meist zur bloßen, große Mißbräuche veranlassenden
Form geworden. Ursprünglich war die „Dispache" nur für die Schiffs- und
Ladungsinteressenten selber da, bei der heutigen Entwicklung aber vorzugs¬
weise für die Verhinderer. Denn heutigen Tags wird schwerlich ein Schiff
Ladung einnehmen oder gar den Hafen verlassen, bevor für Versicherung
Sorge getragen ist und auch nur dadurch wird der kolossale Umfang der
heutigen Versicherungssummen möglich. In Hamburg wurde z. B. im
Jahre 1856 blos von Hamburger Gesellschaften ein Werth von mehr als
280 Millionen Thaler versichert, wofür die Prämien mehr als 4 Millionen
Thaler betragen haben.
Man versuche nun einmal, sich das Sceversicherungswesen, wie es sich für
unsere Zeit herausgebildet hat, wegzudenken nebst den Veranstaltungen, die
dafür getroffen sind, und den indirecten Folgen, die daraus hervorgehen, und
man wird sich unmöglich der Ueberzeugung erwehren können, daß dann See¬
schiffahrt und Seehandel und alle darauf beruhenden ungeheuren Interessen in
ihrem inneren Betrieb aufs Aeußerste gefährdet wären. Wer würde sonst so
leicht sein Vermögen den Launen von Wind und Wellen anvertrauen? Die
Seeversicherung leitet das Product ferner Gegenden nach Europa und führt
dessen Jndustricerzcugnisse dahin zurück. Wollen wir aus den im An¬
fange dieses Aufsatzes gebrauchten Vergleich des Verkehrs mit einer kunstvollen
Maschine zurückgehen, so find die Versicherungen, vor allem die Seeversicherungen
dem Oele zu vergleichen, welches den regelmäßigen Gang aller Räder möglich
macht und die ganze Maschine vor Stillstehn und Untergang durch innere
Beschädigung bewahrt.
Im Aufgange des 16 Jahrhunderts stehn drei Namen deutscher Adligen
Fronsperg, Hütten und Sickingen, welche man als Repräsentanten von drei
Richtungen betrachten kann, in denen der Adel sich damals geltend zu machen
hatte, von kriegerischer Tüchtigkeit, Vertretung der höchsten Forderungen in Staat
und Kirche und männlicher Vertretung der Interessen des Grundbesitzes nach
oben. Aber befremdlich wird selbst dem flüchtigen Blick, daß diesen kräftigen
Männern aus eine lange Folgezeit, bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts,
in ihren Standesgenossen keine Nachfolge heranwächst, und daß die drei Mit¬
glieder der süddeutschen Ritterschaft in Feldhcrrnkraft, Begeisterung und politischer
Combinationsgabe mehr als ein Jahrhundert lang fast allein stehen. Bon
Fronsperg an bis auf den böhmischen Junker Albrecht Waldstein und den wilden
Neiterführer Pappenheim, hat das große Deutschland keinen adligen Feld¬
herrn von irgend welcher Tüchtigkeit hervorgebracht. Es sind einige Banden¬
führer von bürgerlichem Herkommen, wie Schärtlin einige deutsche Fürsten
mit mehr Prätension als'Geschick, in der großen Mehrzahl Spanier und
Welsche, welchen die Familie Kaiser Karl V. und ihre Gegner die werth¬
vollsten Siege zu danken haben. Für das geistige Leben Deutschlands
geschah seit Hütten durch den Adel noch weniger. Die lange Reihe
der Reformatoren, Gelehrten. Dichter. Baumeister, bildenden Künstler,
wie arm an adligen Namen! Eine Leere, welche noch im 17. Jahrh, kaum
durch den Verfasser des Simplicissimus, durch Logan, und wenige adlige Rei¬
mer der schlesischen Dichterschule lind des sächsischen Hofes unterbrochen
wird! Man darf wol fragen, wie'es kommt, daß ein Stand, der an Individuen
so reich war und in einer merkwürdig bevorzugten Stellung zum Volke stand,
so wenig in den großen Gebieten geleistet hat, sür deren Hauptvertreter der
Adel schon zur Hohenstaufenzeit galt, lind sieht man näher zu, ob diese
Untüchtigkeit vielleicht durch um so größere Anstrengungen für die praktischen
Richtungen des Volkslebens aufgewogen war, so wird die trostlose Entdeckung
nicht schwer sein, daß Ackerbau. Handwerk, Industrie, Handel durch mehre Jahr¬
hunderte Zeit im Adel ihren größten Feind hatten. Auch das wohlwollendste Urtheil
würde schwer finden, dem Adel des 15. ni. und des halben 17. Jahrhunderts
irgend einen wohlthätigen Einfluß aus eine der großen Strömungen deutschen
Lebens zuzuschreiben.
In der That war der niedere Adel, — als Stand betrachtet, — seit der Hohen¬
staufenzeit ein Unglück und ein Verhängniß sür Deutschland. Er war es, wie
jeder privilegirte Stand in jedem Volke undzu allen Zeiten, ein Hinderniß allseitig
kräftiger Entwickelung geworden ist. Seit im Anfang des 13. Jahrh, der Unter¬
schied zwischen Edlen und Freien durch Gesetze, durch die Interessen und ge¬
müthliche» Neigungen der Kaiser und durch das Schlimmste von allem, den
beschränkten Idealismus, der sich innerhalb des adligen Standes ausbildete, fixirt
worden war. verfiel der Adel unaufhaltsam. Zwar in den Städten war die alte
Herrschaft der privilegirten Freien in der letzten Zeit des Mittelalters gebrochen
worden, dort hatte sich trotz aller Hindernisse ein gesünderer Kreislauf der
Volkskraft durchgesetzt, Der Sandmann konnte Bürger werden, der erfahrene
Bürger konnte zum Regiment seiner Stadt, eines Bundes von Städten, zum
Leiter großer Interessen aufsteigen, eine dauernde und wohl temperirte Menschen¬
kraft fand immer Gelegenheit, bei Verfolgung des eigenen Interesses auch
das Gedeihn von hunderttausend andern zu fordern. Der adlige Landbesitzer
aber war seit dem Anfange des 13. Jahrhunderts allmälig in anspruchsvolle
Jsolirung versunken, Arbeit war ihm Schande, den Acker bauten ihm ab¬
hängige Hintersassen in verschiedenem Grade von Unfreiheit, Sein natür¬
liches Bestreben war, so viel als möglich von ihnen zu erhalten. Immer
größer wurde der Druck, durch den er sie niederhielt, immer stärker die An¬
sprüche, weiche er als Herr des Grund und Bodens gegen die eigenen Leute,
wie gegen die fremden Reisenden erhob. Bis zum 72. Jahrhundert muß der
freie Bauernstand im damaligen Deutschland stark und zahlreich gewesen sein.
Bon da ab beförderte der Druck der verwilderten Gutsherrn eine massenhafte
Auswanderung in die slawischen Eid- und Oberländer. Aber dem deutschen
Bauer folgte auch dorthin das deutsche Feudalunwesen. Aus dem adligen
Schulzen wurde in tausend deutschen Colonistendörfern allmälig ein tyranni¬
scher Gutsherr und seit dem Ende des 14. Jahrhunderts verfiel auch an Elbe
und Oder die aufblühende Landkraft den Dämonen des deutscheu Mittelalters.
Aber der Druck des Landbaues war noch nicht die schlimmste Folge der
Kastenstellung des Adels, Wenn er sei» Nutzthier, den Bauer, immer noch
mit einer gewissen Müßigung zu deha'übeln vortheilhaft fand, so war er um
so eifriger, seine Grundrechte nach andern Richtungen auszunutzen. Die Land¬
straße, der Fluß, welche an seinem Schlosse vorbeiliefen, boten ihm Gelegen¬
heit, von dem Eigenthum Fremder sür sich zu nehmen. Er erhob Zoll von
Waaren und Reisenden, er drang sein schützendes Geleit auf und beraubte
solche, welche dies Geleit nicht für nöthig hielten, er baute wol gar
eine Brücke, wo kein Fluß war, um Brückenzoll zu erheben, er erhielt die
Landstraße absichtlich in schlechtem Zustand, denn die Waaren des reisenden
Kaufmanns zogen zwar unter des Kaisers Schutz, so lange sie im Wagen oder
im flotten Schiffe waren, wenn der Wagen aber umfiel oder das Schiff auf
den Grund stieß, gehörten — so behauptete er — nach Boden- und Ruhrrecht die
Waaren dem Eigenthümer des Grundes. Zuletzt wurde er selbst Räuber und
überfiel mit seinen Spießgesellen, was er erreichen konnte; die Waaren führte
er nach seinem Hause, die Reisenden plünderte er und hielt sie gefangen, bis
^sie sich durch Lösegeld frei machten. Allerdings waren auch bei diesen Räu-
bereien bestimmte Observanzen, nach denen der gewissenhaftere Junker ehren¬
hafte und unehrenhafte Beute unterschied. Aber dieser Moralcodex hatte kaum
höhere Berechtigung, als ähnliche Traditionen bei bestimmten Classen von
Dieben. Es gab im > 4. und 15. Jahrhundert wenig adlige Häuser, welche
nicht den Namen Naubburgen verdienten. Aber auch nur wenige, aus denen
immer und gegen jeden räuberisch ausgefallen, wurde.
Den größten Nachtheil von solchem Leben hatte aber der Adel selbst.
Seine Beutelust und Freude am Rauhe» kehrte sich ebenso sehr gegen Standes-
genossen und gegen größere Despoten, als gegen die Städter. In der
Form der Fehde fanden beide Neigungen einen im ganzen Mittelalter gil-
tigen Ausdruck. Wenn die Fehde durch einen Brief einige Tage vor Beginn
der Feindseligkeiten angezeigt war, so galt sie nach Herkommen für ehrlich.
Eine Kleinigkeit reichte hin. solche Fehde zu veranlassen. Die nie endenden
Grenzstreitigkeiten, Uebergriffe bei Jagden, das Durchprügeln eines Knechtes,
konnten auch alte Gesellen und befreundete Nachbarn entzweien. Dann stärk¬
ten sich beide Parteien durch ihre Verwandtschaft und ihren Anhang, sie war¬
ben reisige Leute und suchten durch Kundschafter zu erfahren, wie sie über
Gut, Haus und Person des Gegners einen Bortheil erlangen könnten. Der
Reichthum der Städte und der Groll , welchen der Adel gegen das aufschießende
Selbstgefühl des Bürgers empfand, machten Fehden mit Städten zu einer be¬
sonders angenehmen Aufregung. Der geringste Borwand wurde benutzt.
Jeder Fremde, der eine Beschwerde gegen eine Stadt hatte, mochte er Baue».
Bürger oder Ausländer sein, war dem beutelustigen Junker willkommen.
Unter dem Vorwand, ihn in Schutz zu nehmen, raubte, brannte und entführte
die Partei, welche die Fehde angesagt hatte, bis sich irgend ein Mittler fand,
der nach vielem Verhandeln einen Vergleich zu Stande brachte. Wer nicht
selbst eine gewinnreiche Fehde durchsetzen konnte, der schloß sich einem andern
als Gehilfe an, und oft wurden alte Kameraden und Verwandte durch die
wechselnden Zufälle auf die entgegengesehen Seiten gezogen, dann stachen
und schlugen sie, im Bewußtsein ihre Pflicht zu thun, wohl auch aufeinander
los. Solch wüstes Leben, bald auf der Landstraße, bald im Waldversteck,
bald in schlechten Spelunken, bald in wüster Trinkgesellschaft konnte weder
dem Familienleben, noch irgend welchen höheren Interessen günstig sein. Es
war aber auch uicht einmal geeignet, kriegerische Anlagen, mit Ausnahme
der untergeordneten, zu entwickeln. Im besten Fall bildete es zur Führung
eines kleinen Reitertrupps für Ueberfälle und Fouragezüge; weder Berlichingen
noch selbst Sickingen, die tüchtigsten Iuntergestalten im Anfange des ete. Jahr¬
hunderts, haben besonderes Kricgötalent zu erweisen den Trieb gehabt, und in
militärischer Hinsicht steht die Tüchtigkeit des Götz nicht höher als etwa jetzt
die eines erfahrenen Hnsarenwachtmeisters. So wild, frevelhaft und gemein¬
schädlich war das Treiben grade der Rührigsten vom niedern Adel, daß der
Stand in aller Ruchlosigkeit des Näuberhandwerks zu Grunde gegangen wäre,
wenn nicht dieselbe Schwäche, welche sie verhinderte, nützliche Mitglieder der
Gesellschaft zu werden, auch das letzte Verderben von ihnen fern gehalten
Hütte. Daß sie ein privilegirter Stand waren, der seine Mitglieder für besser
hielt, als den Bürger und Bauer, der in Ehe, Beschäftigung, Recht, in
Sitten und Ceremoniel sich gegen andere abschloß, dies exclusive Standes-
gefühl hat den niedern Adel durch Jahrhunderte schwach gemacht und
seine Existenz zu einem Unglück für das Volk, aber es hat ihn auch vor dem
Untergange in wüstem Treiben bewahrt. Denn wie verkehrt die Neigungen
eines Geschlechtes sein mögen, wenn sie die Selbstachtung der Individuen
nicht schmälern, sondern erhoben, so halten sie das Verderben vielleicht lange
auf. Zwischen dem Räuber, der jetzt auf entlegener Haide den Wanderer be¬
raubt, und dem Landjunker, ^der um das Jahr 1500 den nürnberger Kaufmann
vom Pferde warf und bei Wasser und Brot in ein finsteres Gefängniß steckte,
während seine Frau aus dem gestohlenen Tuch Rocke und Mäntel schnitt, ist
in Rücksicht auf die That selbst sehr wenig Unterschied. Aber vor 350 Jahren
übte der adlige Räuber den Frevel mit der Empfindung, daß sein Thun viel¬
leicht gegen die Bestimmungen eines Neichötagsabschieds verstoße, daß es
aber von dem gesammten Adel seiner Landschaft, ja von dem höchsten Herrn
des Landes als ein angenehmer, im schlimmsten Fall als ein gewagter Streich
betrachtet werden würde. Allerdings wenn Um die Stadt sing, deren Bürger
er geschädigt hatte, so konnte er leicht sein Leben enden, wie Mi ein Mörder
der Landstraße, aber das Recht der Stadt war nicht sein Recht, und wenn er
so starb, dann wurde sein Tod von andern muntern Gesellen wahrscheinlich
mit Blut gerochen. Wie unvernünftig auch die Ehrengesetze waren, nach
denen zu leben er sich verpflichtet fühlte, er hatte nur das Bewußtsein, daß
sie vortrefflich waren, und daß dieselben Gesetze von tausend andern geehrt
wurden, die er sür die Besten auf dieser Erde hielt. So ward es möglich,
daß sich mitten in der größten Unsittlichkeit und Verschrobenheit doch bei Ein¬
zelnen männliche Tugenden erhielten: Treue gegen gegebenes Wort, Hingebung
an die Freunde, gytmüthige Freundlichkeit selbst gegen die Beraubten und
Gefangenen.
Doch wie warm der Antheil sein mag, den wir den — nicht zahlreichen
— hellen Gestalten schenken, welche in ihrer dunklen Umgebung noch erkenn¬
bar sind, man vergesse nicht, daß schon am Ende des 15. Jahrhunderts das
Treiben des Landadels als eine unerträgliche Plage und ein nationales Unglück
angesehen wurde.
In dieser Zeit begannen unter dem neuen Kaiser Maximilian die ewig
denkwürdigen Versuche, dem zerrütteten Körper des Reiches eine neue Ver¬
fassung und die Möglichkeit eines neuen Lebens zu geben. Die großen Institutio¬
nen, welche Waffenruhe und Gesetzlichkeit allgemein machen sollten, waren der
ewige Landfriede und das Reichskammergericht. Langsam setzten sie sich durch,
nicht ohne viele Störungen und Unterbrechungen. Mehr als 100 Jahre dauerte
es und drei Menschengeschlechter starben dahin, bevor der niedere Adel sich an
den Zwang der neuen Gesetze gewöhnte. Dagegen Fürsten und Städte wie oft
sie selbst feindlich gegeneinander haderten, hatten beide das größte Interesse,
ihn zum Gehorsam zu zwingen. Nur merkwürdig! der Fchdetrotz wurde
gebrochen, aber der Stand der adligen Grundbesitzer wurde nicht sofort stär¬
ker, nicht nützlicher und nicht besser. Im Gegentheil. Er verlor einen Theil
seiner wilden und offnen Entschlossenheit und eignete sich vorzugsweise die
Fehler der neuen Zeit an. Wie ein besiegter Stamm, dem der Ueberwinder
neue Tracht, Sprache und Sitte aufdrängt, lange Jahre braucht, bevor er in dem
fremden Wesen sich heinnfch fühlt, so kränkelte das Geschlecht der alten Raubgesel¬
len am Rhein und Neckar, an Elbe und Oder. Wie die Wandlung nach und
nach geschah, soll hier an einigen Beispielen gezeigt werden.
Ein glücklicher Zufall hat uns drei Selbstbiographien deutscher Adligen
aus verschiedenen Zeiten des 1«. Jahrhunderts erhalten, die des Berlichin-
gen, des Schärtlin, des Schweinichen, alle drei wohl bekannt; die eine, so
lange es deutsche Sprache gibt, innig verbunden mit dem Namen des größten
deutschen Dichters. Die drei Männer, deren Blütezeit in den Anfang, die
Mitte und das Ende des großen Jahrhunderts füllt, sind in Charakter und
Lebensschicksalen durchaus verschieden, aber alle drei sind Gutsbesitzer und jeder
von ihnen hat seine Lebensereignisse so erzählt, daß man in die gesellschaft¬
lichen Zustünde seines Kreises belehrende Einblicke erhält. Am bekanntesten ist
Götz von Berlichingen, seine Lebensgeschichte um häufigsten (zuerst 1731) ge¬
druckt. Da auf seinem Bilde die Verklärung liegt, welche ihm 300 Jahr
nach seinem Tode durch das reizende Gedicht Goethes ward, so hat jetzt der
Leser seiner Biographie einige Mühe, die idealen Linien des Dichters von
der Gestalt des historischen Götz sern zu halten. Und doch ,se das nöthig.
Denn wie bescheiden und liebevoll auch Goethe die geschichtlichen Züge
verwerthet hat, der historische Götz sieht >u seiner wirklichen Umgebung anders
aus. Als er sein Leben schrieb, e>» Greis in einer Zeit, der er fremd ge¬
worden war, weilte seine Erinnerung am liebsten bei den Reiterstückchen
seiner wilden Jugend, Daß sein Treiben unfruchtbar für ihn selbst und
schädlich für andere gewesen, vermögen wir ohne Mühe hinter den Zeilen
zu lesen. Aber vorzugsweise charakteristisch ist, daß er in der Mitte seines
Lebens gebrochen und gedemüthigt wurde, weil er bei dem großen Bauern¬
aufstände rathlos auf die falsche Seite gerieth. Um politische Fragen zu sorgen
war nicht seine Sache, kam er in eine Krisis, so handelte er nach dem Rath
seiner Gönner, größerer Dynasten, welche seinen starken Arm und redlichen
Willen nicht selten für ihre Zwecke gebraucht haben mögen. Als das Bauern¬
heer über seinen Grund hereinbrach, wußte er sich mit seinen Sippen keinen
Rath und schrieb an einen Rathgeber. Die Antwort wurde durch seine Schwieger-
mulier und seine Frau unterschlagen, er war dem eignen Urtheil überlassen,
und besaß nicht Geschick genug, sich den drängenden Insurgenten zu entziehn.
Wäre er gewesen, wie viele seiner Stnndesgenossen, etwa wie Marx Stumpf,
so hätte er die Bauern trotz allem Gelöbniß verlassen. Aber treu seinem
Wort hielt er bei ihnen aus, bis die vier Wochen, für die er sich ihnen ver¬
pflichtet hirtte, vergangen waren, er hielt aus, obgleich er in der That nicht
ihr Führer, sondern ihr Gefangener war. Seitdem lebte er einige Jahre in
enger Hast, dann lange Zeit in starken Freiheitsbeschränkungen auf seinem
Schloß. Um ihn tummelte sich ein neues Geschlecht in leidenschaftlichem
Kampfe, ihn selbst bekümmerte fortwährend, daß er doch als ehrlicher Rei¬
ter in der Bauerzeit gehandelt habe, und daß er jetzt wieder treu sein.
Wort halten und die Schritte zählen müsse, die ihm aus seinem Burgthor
zu schreiten vergönnt war. Nach sechzehn Jahren einsamer Zurückgezogenheit
ward er als alter Mann noch zweimal in die Kriegshändel eines jünger»
Geschlechts gerufen, die ihm wenigstens keine Abenteuer und keine Gelegen¬
heit zu Ruhm und Beute brachten. Da er endlich 8Z Jahr alt auf seiner
Homburg in Frieden starb, war Luther seit is Jahren todt. Kaiser Karl V.
war 4 Jahre vorher im Mönchskloster eingesargt worden, aber die Selbst¬
biographie des Götz. obgleich in dem letzten Lebensjahre geschrieben, hat für
die lange Zeit seit dein Jahr 1525 nur wenige Seiten. — Hier seien außer ei¬
nem kleinen Abenteuer aus seiner frühen Jugend, welches zeigt, wie man sich da¬
mals in einer Dorfgasse raufte, Bruchstücke aus seinem Bericht über die nürnberger
Fehde mitgetheilt:
Um >502. Ungefähr um Michaelis hat sich zugetragen, daß ich mit
Neidhart von Thüngen, dem ich damals aufwartete, von Sottenverg herab¬
geritten bin. Als wir so fortziehen, werden wir zwei Reiter bei einem Hölzlein
gewahr, an einem Dorfe, heißt Obereschenbach; das war Andreas von Ge-
münd, Amtmann zu sollent und jein Knecht, den hieß man den Affen. Nun
hatte sich zuvor begeben, daß ich einst zu Hamelburg in die Herberge zu Herrn
Neidhart und zu seinen Knechten gehn wollte, welche mehrentheils trunken
waren, da war erwähnter Affe auch da. sehr voll und hatte viel Wind in
der Nase, machte viel seltsame Reden und sagte: was will der Junkers
thun, will er auch zu .uns? und dergleichen höhnische Worte, womit er
mich aufzubringen vermeinte. Das verdroß mich in der Stille und ich
sagte zu ihm: ,,Was bedarf ich deiner Junkerci oder deines Gespöttes
oder deiner Neckerei, wenn wir einmal im Feld zusammenstoßen, da
wollen wir sehn, wer Junker oder Knecht sei. Jetzt nun, da wir von
Sottenverg herabzogen, dachte ich, er wirds sein und mit seinem Junker reiten.
Da ritt ich auf dem nächsten Weg einen großen, hohen Berg , hinauf und
brachte im Nennen den Pfeil auf die Armbrust, und hinüber zu ihnen. Ich
hatte aber noch weit bis zu rhin, da floh sein Junker dem Dorfe zu. so daß
ich dachte, er mahnt die Bauern auf, aber der Knecht, der Affe, hatte auch
eine Armbrust und floh ebenso wie sein Junker, Wie ich nun an ihn kam,
mußte er in einem hohlen tiefen Weg dem Dorfe zu. Ich hatte noch weit
bis an die Ecke, wo der Weg hineinging, ließ ihn in den hohlen Weg reiten
und schoß ihn auf den Rücken. Nun Hütte ich den Pfeil wohl wieder auf die
Armbrust bringen können, dachte aber, er wird das nicht abwarten, weil er
auch einen Pfeil auf der Armbrust hat. Da ich nnn keinen Menschen bei
mir hatte, so ließ ich das mit der Armbrust bleiben"), und ritt ihm nach in
die Höhle hinein, und da er sah, daß ich die Armbrust nicht aufgebracht
hatte, wartete er meiner ani Dorfthor, bis ich fast an ihn kam, da schoß er
mich vorn auf den Krebs""), daß der Pfeil in Splitter ging, die mir über
den Kopf hinaussprangen. Da warf ich ihm meine Armbrust an den Hals,
denn ich hatte keinen Pfeil darauf, das Schwert heraus und rannte ihn zu
Boden, daß sein Gaul mit der Nase auf der Erde lag. Er aber kam alle¬
mal wieder auf und schrie immer die Bauern an, sie sollten ihm helfen. Und
wie ich so im Dorfe mit ihm umherrannte, stand ein Bauer da, der hatte
eine Armbrust und schon den Pfeil darauf, ich auf ihn zu, ehe er zum Schuß
kam, schlug ihm den Pfeil von der Armbrust, hielt bei ihm, stieß das Schwert
wieder ein. redete mit ihm, gab ihm Bescheid und sagte i ich gehörte zu
Herrn Neidhart von Thüngen und wir wären auch gut Fuldaisch. Indem
kam ein ganzer Haufe Bauern mit Schweinspießen, Handbeilen, Wurf¬
beilen, Holzbeilen und Steinen, sie umringten mich ^ wirfst du nicht, so
hast du nicht, schlägst du nicht, so gilt es nicht — daß mir die Beile und
Steine neben dem Kopf hinfuhren und mich däuchte, sie berührten mir die
Pickelhaube. Endlich lief ein Bauer heran, der hatte einen Schweinspieß, auf
ihn ritt ich zu, und als ich das Schwert wieder zog. schlug der Bauer und
traf mich aus den Arm, daß ich dachte er hätte mir den Arm entzwei ge>
schlagen, und wie ich nach ihm stach, fiel er mir unter den Gaul, daß ich
nicht so viel Platz hatte, mich, nach ihm zu bücken. In Summa, ich brach
durch, aber doch lief noch ein Bauer heran, der hatte ein Holzbcil, aber dem
gab ich einen Treffer, daß er daneben auf den Zaun fiel. Nun wollte mein
Gaul nicht mehr laufen, denn ich hatte ihn ganz verschlagen, und mir war
Angst, wie ich zum Thor hinauskommen möchte. Und wie ich demselben zu-
eilte, war gleich wieder einer da, der wollte das Thor zuschlagen, aber ick
kam doch hinaus, ehe er zuschlug, und wie ich ein wenig vor das Thor hinaus¬
kam, war auch der Affe schon wieder da, und hatte wieder einen Pfeil auf der
Armbrust und vier Bauern bei sich und schrie: her! her! her! und schoß damit
wieder nach mir. daß ich den Pfeil auf der Erde grellen sah. Ich demnächst
wieder auf ihn los. das Schwert heraus und jagte sie alle fünf in das Dorf
hinein. Da fingen die Bauern an und schlugen Sturm über mich, ich aber
ritt davon und wie ich wieder Herrn Neidhart zuzog, der gar weit draußen
auf dem Felde hielt, sahen wir allenthalben nach den Bauern, aber eÄ wollte,
keiner mehr zu mir kommen. Als ich fast bei Neidhart war. ritt ein Bauer
daher mit dem Pfluge, dem Sturme nach, ich über ihn und fing ihn. daß
er geloben und schwören mußte, mir meine Armbrust wieder herauszubringen,
denn ich hatte sie nach dem Affen geworfen, als er much, wie vorhin gemeldet,
schoß und hatte nicht so viel Weile gehabt, daß, ich sie wieder hätte langen
mögen, sondern mußte sie im Wege liegen lassen. —
Um 151,2. Nun will ich niemand bergen, ich hatte Willen, auch denen
von Nürnberg Feind zu werden, ging schon mit der Sache um und dachte:
Du mußt noch einen Handel mit dem Pfaffen, den Bischof von Bamberg haben,
damit die von Nürnberg auch in das Spiel gebracht werden. Ich warf also
dem Bischof 95 Kaufmänner nieder, die unter seinem Geleit zogen, und ich
war so fromm, daß ich nichts aus dem Haufen nahm, als was nürnbergisch
war. Der Nürnberger waren ungefähr an die 30. ich griff sie am Montag
nach unseres Herrn Himmelsfahrtstag am Morgen früh um acht oder neun Uhr
an, und ritt denselben Dienstag, die Nacht und am Mittwoch darauf mit den
Kaufmännern immer fort. Ich hatte meinen guten Hans von Selbitz bei
mir und waren wir unser auch 30. Der andern Reisenden aber waren viele,
die schob ich immer von mir, ein Häuflein nach dem andern, wo mich dünkte,
daß ein jeder hingehörte. Und mein Reitgesell, Hans von Selbih, wurde
vierzehn Tage darauf von ohngefähr auch des Bischofs von Bamberg Feind
und brannte ihm ein Schloß und eine Stadt aus mit Namen, wenn ichs
recht behalten. Vilseck. so daß das Geschäft zwei Kappen brachte. —
Damit ein jeder wisse, wie und warum ich -mit denen von Nürnberg
zu Krieg und Fehde gekommen bin, so ist das die Ursache. FriK von Litt¬
wach, ein markgräflicher Diener, mit dem ich als Knabe und im Harnisch
auferzogen bin, der mir auch viel Gutes gethan, der ist einst ganz in der
Nähe von Onolzbach heimlich verloren gegangen, gefangen und hinweggeführt
worden, daß lange Zeit niemand wußte, wo er hingekommen war oder wer ihn
hinweggeführt hatte. Lange darauf warf der Markgraf einen Berräther nieder, der
ihn verratnen und den Reitern, die ihn niedergeworfen hatten, alle Wahrzeichen
gegeben hatte. Da erfuhr man zuerst, wo Fritz von Littwach hingekommen
wärt. Da habe ich Herrn Hans von Seckendorf, der selbiger Zeit marfgräft
licher Hofmeister war. als meinen Verwandten, der nur Gutes gönnte, an
gesprochen und gebeten, daß er mir das Bekenntniß des Verräthers verschaffte.
Dadurch wurde ersichtlich, daß es Diener der von Nürnberg gethan haben
sollten, auch ist anzunehmen, daß er in ihre Häuser und Frohnvesten geführt
worden sei. Das ist der eine meiner Gründe gegen die von Nürnberg.
Fernes hatte ich einen Knecht gedungen mit Namen Georg von Gais-
lingen, der hatte mir versprochen in meinen Tnenst zu treten, den haben die
von Nürnberg bei seinem Junker Eustach von Lichtenstein hart verwundet
und erstochen, auch seinen Junker hart verwundet, dieser aber ist am Leben
geblieben. Obgleich nun viele andere den Nürnbergern wegen des Fril) von
Littwach feindlich sein wollten, so habe ich doch keinen gemerkt, der der Kaste
die Schellen angehängt, wie man zu sagen pflegt, oder die Sache angegriffen
hätte, als der arme treuherzige Göi, von Berlickingen, der nahm sich beider
an. Diesen Grund habe ich gegen die Nürnberger auf allen Tagen, an
denen ich mit ihnen vor den (sommissarien K. Majestät, auch vor geistlichen
und weltlichen Fürsten verhandelte, stets und allerwege angezeigt und dar-
gethan.")
Ich will nun weiter anzeigen, wie es in der nürnbergischen Fehde. mir
und meinen Verwandten gegangen ist. In »malen, «nmumimm, das Reich
verordnete 400 Pferde gegen mich, worunter Grafen und Herren. Ritter und
Knechte waren. — ihre Fehdebriefe sind noch vorhanden, — und kam ich
und mein Bruder in die Acht und Aberacht, und in etlichen Städten schien
die Pfaffen und Mouche auf der Kanzel mit Lichtern nach mir und erlaubten
und den Vögeln in den Lüften, die sollten mich fressen, und ward uns alles
genommen was mir hatten, so daß wir nicht einen Schuh breit mehr behiel¬
ten. Da galt kein Feiern, wir mußten uns verbergen und dennoch that ich
meinen Feinden ziemlichen Schaden, an Gütern und sonst, so daß sich Kais.
Majestät etlichemal dazwischen gelegt und ihre Commissarien verordnet hat,
die zwischen uns handeln und alle Sachen richten und vertragen sollten; da-
durch hat mir Kais. Majestät viele Anschläge verhindert, und dadurch um
mehr als 200,000 si. Schaden gethan, denn ich wollte damals Gold und
Geld von den Nürnbcrgcrn mir zu Wege gebracht haben. — Und wollte ich
damals den von Nürnberg wast all ihr Kriegsvolk, auch den Bürgermeister
selbst, der eine große goldene Kette am Halse hängen hatte und einen Streit-
kolben in der Hand hielt, auch alle ihre Reisige und ein Fähnlein Knechte
mit Gattes Hilfe geschlagen, gefangen und niedergeworfen haben, als sie
gegen Hohenkrähen zogen, ich war auch schon zu Roß und Fuß dazu geschickt
und gefaßt, so daß eS nicht anders als gewiß war, daß ich sie ganz in meine
Hände bekam. Da hatte ich aber gute Herr und Freunde, deren Rath bat
ich, ob ich Kais, Majestät zu Ehren den von demselben angehenden Tag
besuchen oder ob ich meinen Anschlag ins Werk setzen sollte. Da war nun ihr
treuer Rath, ich sollte der Kais. Majestät zu Ehren den Tag besuchen. Ih¬
nen folgte ich zu meinem großen, merklichen Schaden. —
Ich wußte wann die frankfurter Messe war, da zogen die von Nürnberg
aus Würzburg heraus zu Fuß gen Frankfurt dem Spessart zu. Die Kund¬
schaft war gemacht und ich warf fünf oder sechs von ihnen nieder, darunter
war ein Kaufmann. den ich zum drittenmal und in einem halben Jahre
zweimal gefangen und einmal an Gütern beschädigt hatte, die andern
waren eitel Ballenbinder zu Nürnberg. Ich stellte mich als wollte ich ihnen
allen die Kopfe und Hände abhauen, aber es war mein Ernst nicht, und sie
mußten niederknieen und die Hände auf die Stöcke legen, da trat ich etwa
einem mit dein Fuß auf den Hintern und gab dem andern eines ans Ohr,
das war meine Strafe gegen sie, und ließ sie so wieder von mir fortziehn.
Und der Kaufmann, den ich so oft niedergeworfen hatte, machte das Kreuz
vor sich und sagte, ich hätte mich eher des Himmels Einfall versehn, als daß
Urmiah heut niederwerfen würdet. Denn erst vor wenig Tagen haben unser an
hundert Kaufleute zu Nürnberg auf dem Markte gestanden, da ist ans euch
die Rede gekommen und ich habe gute Kundschaft gehabt, daß ihr eben erst
ni dein Walde, dem Hagenschicß gewesen seid, und dort Güter angreifen und
niederwerfen wolltet. Und ich selbst habe mich gewundert, daß in so kurzer
Zeit das Geschrei von meinem Hin- und Herreiten hinaus gen Nürnberg ge¬
kommen ist. — Bald darauf hat sich die K. Majestät in die Sache geschlagen
und dieselbe zu Würzburg verglichen und aufgehoben. — Soweit Götz.
Sebastian Schärtlin gehört nicht ganz in die Reihe. Er ist nicht von
übt.la.er Herkunft und, hat die Ritterwürde seinen militärischen Talenten zu
danken. Im Jahre 1498 geboren, machte er seine Schule unter Fronsverg,
und war von 1518 bis 15!>7 fast in allen dentschen Kriegshändeln thätig,
im Dienste des Kaisers, der Stadt Augsburg, eine Zeitlang auch im Solde
Frankreichs, als er wegen seiner Theilnahme an, schmalkaldischen Kriege ge¬
zwungen war, Deutschland zu verlassen. Er hat mehr als einmal große
Heere befehligt, und stand als entschlossener, vielerfcihrner Feldhauptmann in
allgemeinem Ansehn. Zu Götz ist er ein interessantes Gegenbild. Jener
der adlige Reiter, dieser der bürgerliche Landsknechtsührer, Götz der gemüth¬
liche Speergesell, Schärtlin der praktische Geschäftsmann. Beide haben ein
Leben voll von Abenteuern und nicht frei von unverantwortlichen Thaten ge¬
führt, beide sind im hohen Greisenalter gestorben, aber Götz versplitterte Zeit
und Gut in Raubzügen und Neiterhändein, Schärtlin half die Geschicke
Deutschlands entscheiden. Götz verstand so wenig seine Zeit und seinen
Vortheil, daß er, der Aristokrat, sich zum Strohmann der demokratischen
Bauern gebrauchen ließ, Schärtlin verstand seine Zeit so gut, daß er selbst
nach dem unglückliche» schmalkaldischen Kriege als reicher Mann in die
Schweiz abzog und wenige Jahre darauf siegreich wieder in alle Ehren ein¬
gesetzt wurde. Götz hatte sein Lebelang ein starkes Gelüst nach Kaufmanns
gold und hat doch aus allen seinen kecken Ranbzügen schwerlich viel in
seiner Truhe erhalten, Schärtlin machte sich Geld in allen Campagnen, kaufte
ein Gut nach dem andern und wußte seine Dienste so hoch als möglich zu
verwerthen. Beide erwiesen Charakter und Parteitreue, Heide waren Kriegs¬
leute von Ehre, und beide hatten sür unser Urtheil ein weites Rcitergewissen.
aber Götz, über dessen Mangel an Urtheil wir zuweilen lächeln, ist vorzugs¬
weise gutherzig und in seiner Art peinlich gewissenhaft, Schärtlin überall der
kluge, ja großartige Egoist. Alle guten Eigenschaften des absterbenden Ritter-
thums sind in der einfachen Seele des Besitzers von Homburg vereint, der Herr
von Burtenbach dagegen ist in seinem Wesen durchaus Sohn der neuen Zeit,
bald Politiker, bald Händler, bald Diplomat. Beide waren im Jahr 1544
bei dem kaiserlichen Heere, welches in Frankreich einfiel, Schärtlin in voller Mannes¬
kraft, als einer der Feldhauptleute, Götz als grauer Reiter mit einem kleinen
Haufen gesammelter Knechte; Schärtlin wurde noch in demselben Jahre kaiser¬
licher Großmarschall und Gcneralcapitän und machte sich 700« Gulden. Göp
ritt allein, krank an der Ruhr, hinter den Heereshaufen nach seinem Schlosse
zurück. Beide haben uns mit fester Kriegerhand ihr Leben geschrieben, am
wenigsten geschickt und geordnet Götz, und doch wird man seine Biographie mit
größerem Interesse lesen, als die des Schärtlin; denn G'ötzcns Freude ist. seine
Neiterabenteuer zu erzählen, wie man beim Glase Wein, unter guien Ge¬
sellen Erinnerungen ans alter Zeit lebendig macht, Schärtlin berichtet ver¬
ständig in chronologischer Ordnung, und gönnt dem Leser manchen trockenen,
aber lehrreichen Bericht über große politische Actionen, aber von seinen per¬
sönlichen Verhältnissen erzählt er. am liebsten den Betrag seiner Beute, und
ärgerliche Händel mit seinen Gutsnachbarn.
Diese Händel nun, wie einförmig sie verlaufen, dürfen hier das größte
Interesse beanspruchen. Denn grade an ihnen wird deutlich, wie sehr sich
seit dem Anfange des Jahrhunderts das Treiben des Landadels geändert hat.
Noch immer lodert, wie in des Bcrlichingers Jugend die Fehdelust in den
begehrlichen Seelen auf, nach immer ist rase Gewaltthat häufig, und zahl¬
reich werden Duodezkriegc vorbereitet, aber das alte Selbstgefühl ist ge¬
brachen, drohend schwebt das Gespenst des Landfriedens und Kammergerichts
über den Hadernden, schnell mischen sich Nachbarn und gute Freunde ein und
den, kaiserlichen Mandat, wie dein Willen des Landesfürsten trotzt auch der
Wilde selten ungestraft. Der Landadel ist unschädlicher, aber noch nicht besser
geworden; an die Stelle offener Fehde treten plötzliche Ueberfälle, hinterlistige
Streiche, und statt der. Armbrust und des Schwertes gebrauchen die Gegner
andere nicht weniger schneidende Waffen, Verleumdung, Bestechung und In¬
triguen, Und noch eine Waffe, für den Betroffenen vielleicht die peinlichste
von allen, nicht Zeitungsartikel, aber ^pottverse auf den Gegner, welche
sie auf beliebte Melodien anfertigen, drucken, wol auch durch bezahlte
Bänkelsänger absingen lassen. Dies Mittel den Gegner zu kränken war nicht
neu, schon seit Jahrhunderten hatte man Spottlieder bezahlt und gern gehört,
und die fahrenden Sänger hatten sich dadurch gefürchtet gemacht, daß sie
einem kargen Wirth an hundert Herdfeuern Böses nachhängen. Seit dem
Anfang des l«>. Jahrhunderts aber hatte das große Interesse an Flugschriften
außer den Liedern auch längere Gedichte, die zum Lesen geschrieben waren,
massenhaft hervorgerufen und der kleinste Briefmaler ober Buchdrucker, jeder
Buchbinder, der nach damaligem Brauch den Bertrich kleiner Drucksachen
besorgte, vermochte sür wenig Geld den Feind eines Gutsbesitzers um so
mehr zu kränken, je bekannter der Name des Abgesungenen war.
Was SchürtUn selbst erzählt, sei hier mit Auslassungen in unser Deutsch
übertragen:
Ä»no 1557. In diesem Jahre habe ich, Sebastian Schürtlin, die Herr¬
schaft Hohenburg sammt Bissingen*) und Hohenstein von einem böhmische»
Herrn, Woldemar von Lobkowrtz, und von Hans Stein um 52,000 Fi. erkauft
und in Beisein meines Sohnes, »reines Tochtermanns und vieler andern vom
Adel am Se. Matthäustag eingenommen und von den Unterthanen zu Bis¬
singen aus dem Markt die Huldigung empfangen. Denselben Sommer habe
ich das Schloß Hohenstein wieder erneuert und so ausbessern lassen, daß man
es bewohne» konnte. Um Se. Michaelistag ist mein Sohn mit Weib und
Kindern dorthin gezogen, hat dort zu Hausen angefangen und hat rohe und
gebrannte Steine, Holz und Kalk zum Bau des Schlosses Brssingen zugerüstet
und im Wrnter den Brunnen zurichten lassen. Dazu haben mir die benach¬
barten Prälaten schöne eichene Hölzer gegeben, und mit ihren und der Stadt
Donauwörth Rossen, auch mit allen benachbarten Bauern, sind die Fuhren
gethan. ,
Anno 1560, den 18. September hat mir Graf Ludwig von Oettingen
meinen Bauer von dem Rcutmannshof gefangen nach seinem Amte Harburg
führen lassen, wo der Bauer weder zu beißen noch zu brechen hatte, weil er
und seine Söhne sich gegen etliche öttingische Bauern, die ihm ein Gatter
aufgemacht und mit Gewalt über sein Land gefahren sind, gewehrt und einen
Zank mit denselben angefangen, doch niemanden verwundet hat. Und am
Montag darauf ist der Graf mit 500 Bauern und 50 Pferden mit gewalt¬
thätiger Hand in mein Holz gefallen, wo er doch keine obrigkeitlichen Rechte
hatte, hat meine Eicheln abschütteln lassen, und hat mit Weibern und Kurdern
und Wägen das Meine, ohne mich zu warnen, ohne mir auszusagen, mit
Gewalt hinweggeführt. Als ich nun am selbigen Tag zu Bissingen ankam
und solches alles erfuhr, bin ich, meine beiden Söhne, mit unserm Vetter
Ludwig Schärtlin und Haus Numpvlt von Elrichshausen 32 Pferde
stark in seine Grafschaft gezogen, und haben einen Bauer dicht am
Schloß zu Harburg und zwei seiner Unterthanen von Korbach dagegen gefan-
gen und nach Bissingen in das Schloß geführt. Und weil seine Reiter und
Schützen nach ihrem Einfall nahe bei Bissingen mit Abschießen und großem
Pranger bei der Nase vorübergezogen sind, so bin ich, um das auszugleichen,
mit gemeldeten Reitern auf Harburg zu geritten, sie zu einem Scharmützel
zu bewegen, aber niemand wollte zu uns heraus. Doch zuletzt schössen sie
mit Doppelhaken auf uns. Der Graf ritt am Donnerstag daraus nach Stutt¬
gart zu einem Schießen, und da er wol voraus Mißte, daß ich ihm nicht
nachgeben würde, hat er mich bei seiner Fürstl. Gnaden, dem Kurfürsten,
dem Pfalzgrafen, andern Grasen. Herrn und Adel übel aufgeschrien,
und sich unterstanden, mir dadurch Ungnade und Ungunst aufzulegen. Ins¬
besondere Herzog Christoph zu Würtemberg, der mir sonst zu Gnaden gewogen
gewesen, hat mir dies Jahr 100 Fi. Gnadengeld, die er mir gab, unerwartet
aufgekündigt. Der Graf hat auch seinen Bruder, den Grafen Friedrich, so
auf mich gehetzt, daß auch dieser später sich mit thätlicher Hand gegen mich
erhob. — Dnranf haben sich beide Grasen zu Roß und Fuß verstärkt,
wogegen auch wir 100 gute kriegserfahrene Schützen in das Schloß Bissingen
brachten, und der Zulauf von Kriegsvolk wurde auf beiden Seiten groß. Und
es haben die Grafen mich und die Meinigen schmählich mit Liedern und
andern Gedichten, mit Sprüchen und Schriften unter das Volk gebracht, auch
vor die Kais. Majestät, vor Kur- und andere Fürsten, Grafen und Herrn.
Haben mich einen Aufrührer und friedlosen Landfriedenöbrecher gescholten, mich
auch für ihren Jncola, Landsassen und Unterthan, auch Lehnsmann, der
ihnen doppelt verpflichtet sei, und seine Amtspflicht vergessen habe, allent-
halben mit Lügen ausgegeben, in der Hoffnung, mich und die Meinigen durch
Unwahrheit so zu verdampfen. Während ich mich nun eines großen Auf¬
laufs und Ueberzugs versehen mußte, haben sich der Pfalzgraf Herzog Wolf-
gang und Herzog Albrecht-zu Baiern, als die nächsten Fürsten darein gelegt,
haben beiden Theilen geschrieben, Friede zu ballen, und sich erboten mit Herzog
Eliristoph gütlich darin zu verhandeln, doch so. daß man beiderseits die Ge¬
fangenen frei und das geworbene Kriegsvolk laufen lasse. Das bewilligte ick, doch
weil Graf Ludwig von Oettingen, genannt Igel, allen Unrath angefangen,
forderte ich, daß ers zuerst thun solle. Aber der Graf hat die Leute nicht
frei lassen wollen, sondern hat den Rapebaner, der allein mein Unterthan ist
und zu Oettingen weder gelobt noch geschworen hatte, vor das Malefizgericht
gestellt. Und in Ewigkeit wird nicht bewiesen werden, daß ich und die Mei¬
nen jenen durch den Kauf mit Recke Unterthan geworden sind, sondern wir
haben Hohenburg und Bissingen sammt Zubehör als ein freies Gut und als
eine Herrschaft, die umkehrbar ist und das Halsgericht hat, erkauft. DeUnoch
haben uns die Fürsten nicht zusammenlassen wollen, haben uns beide vielfäl¬
tig ernährt Friede zu halten, darauf habe ich mein geworben Kriegsvolk be¬
urlaubt und bei dieser Tragödie recht wohl gemerkt, daß Herzog Wolfgang,
der zuvor mein gnädiger Herr war, mir auch abgefallen und feindselig gewor¬
den ist. Aber ungeachtet aller fürstlichen Unterhandlungen ist Graf Ludwig
doch an einem Abende mit vielen Pferden und etlichen >,0« Bauern gegen
das Schloß Bissingen gerückt, hat mit unsern Reitern, von denen etliche im
Felde waren und etliche herauskamen, ein Scharmützel angefangen, bei wel¬
chem keiner viel Schaden empfing. Da die Feinde nichts schaffen konnten,
sind sie wieder mit Spott abgezogen.
Dies alles hab ich beim Kammergericht angebracht, und Graf Ludwigs mir
zugeführte verbrecherische Handlungen geklagt und habe so gehofft, wie mir auch
gelungen, ich wollte diese Sache im Wege Rechtens durchführen, besonders weil
sich die Fürsten parteiisch zeigten/) Unterdeß hat Gras Igel mich allenthalben jäm¬
merlich mit gedruckten Schriften und schmählichen Liedern verstänkert und im Bei¬
sein der Grafen von Mansfeld meinem Sohne Hans Bastian auf seinem
Wappenschild über dem Wirthshaus den Zusatz „Herr von Bissingen" aus¬
gethan, den doch nicht mein Sohn selbst, sondern der Wirth hinzugefügt; und
Graf Friedrich hat zu Buchenhofen auf der Kirchweih öffentlich seinen Bogt
ausrufen lassen, wenn ein Schärtlinscher hinkomme, solle jeder auf ihn schlagen.
Anno 1561 in der Fasten ist Graf Lothar zu Oettingen nach Augsburg ge-
kommen, hat mir viel Gutes sagen lassen, ihm sei Leid, sammt seinen andern
Brüdern, daß Graf Ludwig so unschicklich gegen mich handle. Auch liest er mir
klagen, da der Bruder ihm nicht sein Heiratsgut, auch keine Residenz geben wolle, so
wolle und müsse er feindlich gegen ihn handeln und lasse mich bitten, ihm
einen Reiterdienst zu thun. Darauf bedankte ich mich für sein Mitgefühl und
beklagte ihn, daß es ihm auch nicht nach Willen ginge, liest ihm aber dabei
sagen, ich stände zu seinem Bruder auf gebotenen Frieden und hinge mit
ihm am Kammergericht, ich steckte auch meine Fühle nicht gern zwischen Thür
und Angel, wenn er aber sonst Reiterarbeit hätte, und mirs berichtete, wollte
ich ihm Knecht, Pferd und Harnisch nicht versagen.
Am heiligen Himmelfahrtstage pflegt man alljährlich zu Bissingen hinterm
schloft einen Jahrmarkt und Tanz zu halten, auch zu schießen, wobei mein Sohn
Hans Bastian in diesem Jahr selbst war und Gesellschaft leistete. Da haben beide
Grasen Ludwig und Friedrich den Vogt von Unterbissingen sammt einem andern
reisigen Knecht gerüstet mit fünf Hakcnschützen auf den Platz geschickt. Sie haben
sich dort aufgestellt und den Platz halten wollen. Die hat mein Sohn ärgere.
det. was sie sich so bewaffnet aufstellten?, Dem hat der Vogt geantwortet,
seine Herren hätten ihn diesen Platz zu halten daher geschickt, und die hohe Obrig¬
keit gehöre dem Grafen von Oettingen zu. Dem hat mein Sohn widersprochen.
Die Eltern der Grafen hätten sie verkauft und sie gehörte mir zu. sie
sollten sich hinwegmachen. Darauf ist der Bogt mit den Worten weggeritten,
er wolle bald in anderer Gestalt wiederkommen, und alsbald haben sich vom,
Fußsteig her Reiter und Fußvolk sehn lassen, worauf mein Sohn etliche Diener
und Unterthanen ins Schloß und aus den Kirchthurm schickte, den Feind zu
erwarten. Plötzlich sind die Gräflichen ungefähr mit 40 Pferden und 300
zu Fuß spornstreichs daher geritten und gelaufen, haben in meinen Sohn,
meinen Vetter Ludwig, in die Schützen und Unterthanen gestochen und ge¬
schossen, sind auch vom Platz bis zu den Schranken des Marktes gedrungen
und haben das Thor mit Uebermacht geschlossen. Dagegen hat mein Sohn sich
sammt den Seinen zur Wehre gestellt, auch so gut er vermochte auf sie ge¬
schossen, aus der Hand und vom Schloß und von den Thürmen, hat dabei dem
Grasen zwei Pferde erschossen und zwei Mann verwundet, einen in den Leib,
den andern in den Schenkel, hat sich so ihrer erwehrt und sie wieder in die
Flucht getrieben. Aber ihm und den Seinen ist, nichts widerfahren, Gott
Lob! Als aber mein Sohn mit den Seinen wieder in das Schloß zog, zur
Nacht aß und nichts mehr besorgte, zogen sie um 0 Abo wieder heran, und
Graf Lothar, der ehrbare Mann, der nur vorher viel Gutes hatte sagen lassen,
that mit vier starken Büchsen auf Rädern bis an 30 Schüsse in das Schloß
und zerschoß wol >2 Ziegeln. Um U Uhr zogen sie wieder ab nach Unter-
bissingen, verstärkten sich die Nacht und kamen beide Grasen mit Geschütz
und Leuten am Morgen wieder. Da mein Sohn und mein Vetter Ludwig
nichts Weiteres besorgt hatten, waren sie am Morgen früh zu mir geritten,
deshalb ging der Burgemeister und etliche vom Rath zu den Feinden hinaus,
und frugen sie, was sie damit beabsichtigten, es sei niemand im Schloß, als
die Frau mit den Kindern, auch stünden die Herrschaften im Rechtsstreit und
kaiserlichen Frieden. Daraus antwortete der Beamte von Harburg, sie sei?n
gestern und auch noch heut nur in guter, freundlicher Meinung hergekommen,
ihrer Herrn oberste Rechte zu suchen, man habe aber auf sie geschossen und
ihnen großen Schaden gethan. Sie wollten auch heut den Platz besetzen,
wenn man aber auf sie schösse, solle man sehn, was sie dagegen thun würden.
Darauf antworteten die von Bissingen: sie wären arme Leute, man möchte
thun, was zu verantworten sei. Darauf zogen abermals die Gräflichen 200 Mann
stark, wieder mit 4 Stück Büchsen und einer Trommel auf den Platz, thaten
etliche Tänze, tranken und jeder nahm ein Laub von der Linde. Mit solchem
Trutz und Schießen zogen sie ab und hatten einen Hinterhalt von 2000 Mann. —
Das hab ich der kaiserlichen Majestät und darauf denn Kammergericht an¬
gezeigt und geklagt, darauf sind beiden Theilen Mnndatn gekommen, bei Un¬
gnade und Strafe der Acht als non ultoriu« Menäonä«, solle man sich nicht
weiter beleidigen und eine Citation, zum 20. August beim Kammergericht zu
erscheinen, welches alles den Grafen insinuirt wurde, worauf beide Grafen un¬
schicklich antworteten, es sei alles erlogen. Ich habe aber außerdem wegen
Injurien protestirt.
Aus ob erzählten Gründen und weil das feindselige Wesen kein Ende
nahm, auch weder Gericht noch Recht helfen konnte, habe ich nothgedrungen,
um meiner Ehre willen zur Abwehr der Belästigungen vermeldeter beider
Grafen, ein Ausschreiben um die römische kaiserliche Majestät, an Kur- und
Fürsten, Grafen, Herren, Städte und Stände des heiligen Reiches, auch an die
fünf Viertheile des Adels und gemeine Ritterschaft gesendet, habe auch den
Ständen des landbergischen Vereins mündlichen Bericht abgestattet, sie und
ihren Oberhauptmann, meinen gnädigen Herrn zu Baiern, dem ich als Stell¬
vertreter bestellt bin, ferner die Stadt Augsburg, deren Diener ich bin, von der
ganzen Handlung wohl informire, und sie allesammt insbesondere um Rath,
Hilfe oder Beistand gebeten. Diese haben ein' drohendes Schreiben an die
Grafen gerichtet, sie ermahnt, mich und die Meinen bei Frieden und Recht
zu lassen, mit dem Zusatz, wenn dies nicht geschähe, würden sie mich nicht
verlassen. Mir aber haben sie gerathen, nichts als das Recht anzuwenden.
Und weil so viel schändliche Lieder und Sprüche über mich ausgegangen sind,
hat einer, dem ich vielleicht Gutes gethan, auch einen schönen Pasquillus
und Lied von gemeldeten Grafen Igel von Harburg gemacht, und hat ihn
ziemlich wohl angebunden.
Am 3. October ist Igel fünfzehnhundert Mann stark zu Fuß und Roß,
darunter etliche Landsknechte sammt fünf Stück grobem Geschütz gegen meinen
Vetter Ludwig zu Oberringingen gezogen, hat ihm etliche vom Adel hinein¬
geschickt und hat ihn auffordern lassen, sein Haus zu übergeben. Ludwig
Schürtlin aber hatte, wie ihm zwei Tage vorher von mir befohlen worden,
drei Landsknechte und von meinem Sohn zu BUingen etliche Doppelhaken,
Handgeschütze, Pulver und Blei zu sich herein genommen. So wollte er den
Sturm abwarten, da er von mir väterlichen Entsatz bei ritterlicher Treue
und Glauben hoffte. Er ist selbst zu denen vom Adel hinausgegangen und
hat ihnen mit drohenden Worten geantwortet, wenn Graf Igel freundlich
und nachbarlich zu ihm käme, wie seine Brüder wohl gethan, so wolle er
seinen sauern Wein mit ihnen theilen, aber dergestalt könne er sein Haus
nicht öffnen. Er habe ein Haus für sich selbst und nicht für den Grafen von
Lettingen und der Graf werde einen Kriegsmann darin finden. Jeder Theil
zog sich hinter seine Deckung, der Graf aber schanzte sich in den Borhof ein,
schoß ihm die Zinnen von den Thürmen, alle Fenster, Dächer und Essen und
zwei Personen. Ludwig Schärtlin dagegen mehrte sich tapfer, erschoß dem
Grafen einen Büchsenmeister und noch eine Person, schädigte auch sonst
viele vom .Kriegsvolk, von denen etliche später starben. So haben sie es
vom Morgen 7 Uhr bis zu 6 Uhr in die Nacht feindlich gegeneinander ge¬
trieben. In der Nacht hat Ludwig dein Grafen Lärmen und große Unruhe
gemacht, sich auch unterdeß befestigt und am Morgen wieder nach seiner Zu¬
sage tapfer gewehrt. Aber als ich, Sebastian Schärtlin, Ritter, solches er-
fuhr, habe ich eilends 400 Knechte, darunter gute Schützen aus Augsburg
nach dem Rath Herzog Albrechts von Baiern vorlaufen lassen, habe sie mit
Pulver, Blei. Fußeisen und gutem Kriegsgeräth auf Bissingen geschickt. Ich
habe 26,000 Fi. zusammengerafft, Sturmhüte. Pulver und Blei besorgt, aus
der Stadt Memmingen etliche Wägen und Geschütz, einen großen Hausen
Landsknechte, auch Reiter, so viel ich von den Nachbarn erhielt, alles zum
4ten nach Burtenbach beschieden. und ich selbst kam Abends dahin, nach¬
dem ich alles in Bewegung gesetzt hatte. In derselben Nacht sind Graf Wolf
und Graf Lothar von Oettingen in Person freundlich zu nur nach Burtenbach
gekommen, haben mir geklagt, daß auch ihnen ihr Bruder Graf Ludwig von
ihrem väterlichen Erbtheil nichts geben wolle, und haben mich gebeten, mich
mit ihnen zu verbinden. So wurde zwischen uns ein geschriebener, besiegelter
Bertrag gemacht, daß die beiden Grafen ihren Bruder Friedrich mit seinem
Geschütz auch auf unsere Seite bringen und ihre Macht zu Fuß und Roß ver¬
einigen sollten, ich aber wollte 5000 Knechte, oder andere Reiter aufbringen,
und die Kosten des Krieges auslegen. Doch wenn ich die jungen Grafen
zu ihrem väterlichen Erbtheil brächte, sollten sie zwei" Drittel und ich
ein Drittel von den Kriegskosten bezahlen. Wir hofften, Graf Igel sollte
vor Oberrmgingen verharren und im Fall er es eroberte, vor Bissingen ziehn
meinen Sohn zu belagern, der Graf aber hat sich am Morgen des 4. Oct>
erhoben und ist schändlich wieder abgezogen, nachdem er meinem Vetter
den Porhof und das ganze Dorf verwüstet, zerschlagen, geplündert und alles,
Weiber und Kinder genommen, gestohlen, geraubt, weggeführt und getrieben.
Doch fehlte wenig, daß mein Vetter ihm das eine Geschütz abgenommen
hätte, - — Aber als der Gras Igel vernommen, daß seine eigenen Brüder
und ich uns verglichen hatten — Graf Friedrich ausgenommen, der nicht mit
ihm und nicht wider ihn handeln wollte" — ist er aus dem Lande geflohn,
und zum Pfalzgrafen Herzog Wolfgang und dann zu Herzog Christoph von
Würtemberg geritten, hat große Sachen gelogen und vorgegeben, daß ich mit
Hilfe Kais. Majestät, Baierns, Augsburgs und des landbergischen Vereins,
ihn von Land und Leuten vertreiben wollte.
Dazwischen habe ich mich verstärkt und wollte in zwei Tagen ausziehen,
und zu Fuß und zu Roß 7000 Mann stark über die Donau kommen. Als
aber die beiden Fürsten, Pfalz und Würtemberg, wohl erkennen konnten, daß
der Gras vertrieben und ein Gast in seinem Lande werden würde, ldenn schon
hatten seine Räthe und ganze Landschaft alles Uebrige weggebracht und Vieh,
Getreide und Habe nach Nördlingen, Donauwörth und in alle umliegenden
Städte geflüchtet,) da sind sie beiderseits ausgezogen, der Herzog von Würtem¬
berg persönlich, mit seinen Reitern und etlichen Geschütz, im Willen mich nicht
über die Donau zu lassen, oder sich mit mir zu schlagen. Doch hat Pfalz
vorher hoch in mich gedrungen, ich solle von den Waffen ablassen, Seine Fürstl.
Gnaden könnte mir diesen Zug nicht gestatten. Mir haben auch die Kaiserl,
Majestät und der schwäbische Kreisoberst Frieden geboten, dazu haben Baiern
und die Stadt Augsburg mich vielfältig und höchlich abgemahnt, und sich
allerwege erboten, diese Sache im Vertrage zu schlichten. So hab ich mit
Verlust von 4000 Fi. trotz meiner Beraubung und meines Vetters Gefahren
diesmal einstecken, Friede halten, eine gütliche Vereinigung und einen Tag
zu Donauwörth einräumen müssen. Vierzehn Tage ist dort verhandelt wor¬
den, und von beiden Fürsten, von bairischen und pfälzischen Räthen damit
geendet worden, wir sollten beiderseits Frieden halten, und da zwischen uns
kein Friede zu hoffen, sei kein besserer Weg, als daß ich das Gut dem Gra¬
sen verkaufe. Das wollte ich mit Nichten thun, und mit dem Grafen nichts
zu thun haben. Doch zuletzt habe ich mich laut der gemachten Abrede darein
ergeben, beide Fürsten unterthänigst zu ehren, die Herrschaft Hohenburg und
Bissingen gegen baare Bezahlung von 02,000 Fi. zu verlassen, doch davon
nicht eher abzuziehen, bis ich friedlich und sicher bis auf den letzten Pfennig
bezahlt sei. —
So weit Schärtlin. Es ist anzunehmen, das; der Verkauf für Schärtlin
wenigstens pecuniär vortheilhaft war, sicher, aber ist, daß seine Händel mit dem
Grafen deshalb nicht aufhörten. Noch Jahre lang verklagten sich die beiden
Nachbarn beim Kammergerichb und beim Kaiser, und dazwischen übten sie
immer wieder Gewaltthat in Angriff und Vertheidigung. Zuletzt mußten die
Gegner vor dem Kaiser selbst einander die Hand reichen. —
Um das Ende des 1l>. Jahrhunderts wurden die Gewaltthaten ver
adligen Gutsbesitzer anspruchloser und seltener. Der größte Theil von
ihnen verwandelte sich in friedliche Landjunker, die fähigern und ärmern
suchten Unterkommen an den zahlreichen Höfen. Doch weder für das Selbstgefühl,
uoch für die sittliche Kraft des Standes war selbst diese Umwandlung in der näch¬
sten Folgezeit vortheilhaft. In der Jugend des Götz war jeder Landjunker ein
Kriegsmann gewesen, denn er war ein Reiter, und die Traditionen des Ritterthum?
aalte» auch' noch im großen Kriege. Aber grade damals bereitete sich die
große Umwandlung vor, welche das Fußvolk zum Kern der neuen Heere
machte, seitdem galt ein erfahrner Landsknecht, der Einfluß auf seine Kame¬
raden hatte, oder ein bürgerlicher Büchsenmeister, der eine Karthauue gut zu
richten verstand, dem Kriegsherrn mehr als ein Dutzend undiscipliuirter Jun-
ker mit ihren Knechten. Hatte doch die Macht der Fürsten zumeist durch die neue
Kriegskunst die Kraft des niedern Adels überwachsen, und die Enkel der freien
Neichsritter zu Marschällen und Bedienten der größern Dynasten gemacht. Es
kamen neue Wege sein Glück zu machen, Schmeichelei, Bewerbung um Pro-
tection und Unterrhünigkeit. Die Grundherrn aber, welche resignirt auf ihre»,
Gute saßen, wurden in der großen Mehrzahl durch alte und neue Leiden schwach
erhalten. Die alte Wehrkraft war verloren, aber das Bedürfniß der Auf¬
regungen war geblieben. Immer waren die Deutschen starke Trinker ge¬
wesen, jetzt wurde die rohe Völlerei, besonders in den Landschaften, welche
nicht selbst Wein bauten, zum herrschenden Laster. Zerrüttete Vermögens¬
verhältnisse, massenhafte Schulden und unerträgliche Processe störten die wenige»
nüchternen Stunden des Tages. Sonst hatte der bewaffnete Schloßherr Rechts-
forderungen mit Lanze und Schwert abgewehrt, jetzt bewirkten die unverständ¬
lichen Formeln pedantischer Juristen mehr, als die beste Eschenstangc; sonst
war es möglich gewesen, lästige Gläubiger niederzureiten, und, wenn sie Bür¬
ger oder Juden waren, gar in den Thurm zu sperren, jetzt hatte der verschul¬
dete Mncherr Mühe zu verhindern, daß er nicht selbst in die Custodia gesetzt
wurde. Zu solchem Aerger kamen allgemeine Leiden. Die Volksstimmung in
Deutschland war um das Ende des 16. Jahrhunderts sehr unerfreulich, muth-
los, grämlich, fast hoffnungslos. Ein großer Theil der Protestanten erwartete
immer noch den jüngsten Tag. das neue Jesuitenthum im Katholicismus
schrie nach dem Blut der Ketzer. Die Schwäche des deutschen Staatskörpers
war Niemand mehr ein Geheimniß, die enthusiastischen Bemühungen der
frühern Generation, Staat und Kirche neu zu gestalten, schienen gescheitert;
ein kleinlicher Egoismus verdarb die Fürsten, wie die Bürger und Bauern.
Die protestantischen, wie die katholischen Pfaffen quälten das Gemüth der
Gläubigen mit intoleranter Bornirtheit, auf der einen Seite wurden Hexen
verbrannt und die Fortschritte des Teufels in allen Thorheiten dieser Welt,
vom Waidwerk der Fürsten bis zu den weiten Pluderhosen der Bürger, nach¬
gewiesen, aus der andern Seite wurde eine südliche und krankhaft sentimentale
Verehrung der Heiligen cultivirt und die furchtbare Maxime, daß der Zweck
die Mittel heilige, an den Höfen verkündet. Selbst die Wissenschaft litt "unter
der allgemeinen Depression. Zwar mehrte sich fortwährend die Zahl der ge¬
lehrten Schulen, aber schon fingen sie an, vorzugsweise Beamten für Fürsten
und Kirche nach einer bestimmten Schablone zu bilden. Auch die Söhne des
Landadels besuchten häusig lateinische Schulen und Universitäten, doch war
die Anzahl derer, welche etwas Ordentliches lernten, nur gering, denn noch
im ganzen nächsten Jahrhundert wurden höhere «Staatsstellen, welche Kennt¬
niß und Geschästsgewandtheit verlangten, sogar wichtige Gesandtenpostcn, vor¬
zugsweise mit Bürgerlichen besetzt, und dieselbe Zeit, in welcher die wunderliche
Tradition zur Regel wurde, daß zu den höhern Hofämtern nur der Adel be¬
fähigt sei. war häufig genöthigt, den Sohn eines Schuhmachers oder Dorf-
psarrers an fremdem Hofe mit dem Abglanz der Souveränetätsrechte zu um¬
gebe» und den adligen Hofmann zu seinem untergebenen Reisemarschall zu
machen. In solcher Art vegetirte der Landadel fort, bald gegen die neue
Zeit kämpfend, bald mit Unterwürfigkeit dienend, bis der dreißigjährige Krieg
auch seine Häuser ausbrannte, die tüchtigem Männer in einem gewaltigen
Kampfe umhertrieb, die schwächeren noch tieser herunterdrückte.
In diese Zeit fällt das Leben des Hans von Schweinichen. Seine Per¬
sönlichkeit ist schon früher in d. Bl. ausführlich besprochen worden, deshalb
sei hier nur an sie erinnen, im Gegensatz zu Götz, der bei der Geburt
des Junker Hans 72 Jahr alt war, und zu Schärtlin, der seine Herrschaft
Hohenburg kaufte, während Schweinichen als Bube von fünf Jahren aus
dem Schloß des Gräditzberges in die leeren Weinfässer seines Herrn Ba¬
ders kroch. —
Wie Schweinichen zechten und processirten Tausende seiner Genossen, aber
wie er, erachtete auch mancher andere schon der Mühe werth, in seinem Kalender
neben Trinkgelagen und Spielschulden die Marktpreise des Getreides zu no-
tiren. — Schweinichen prügelte sich als Page an dein ruchlosen Hofe der
Pursten von Liegnitz mit einem Kameraden Logan und als einst ein Schwein
die Wendeltreppe zu den Knaben heraufstieg und zwischen die Streitenden
sprang, erkannten die jungen Wilden in dem Thiere noch zitternd den Teu¬
fel, aber 22 Jahr nach ^chweinichens Tode gab ein Nachkomme des fürst¬
lichen Prügeljungen schon die erste Sanunlung der Sinngedichte heraus. —
Doch erst' hundert Jahr nach Schweimchens'Tode erschien „von Hohbergs
adliges Landleben", das dritte große Werk für deutsche Landwirthschaft, das
erste eines deutschen Edelmanns.
Nicht leicht hat die Schweiz ein mannigfaltiger bewegtes Jahr durch¬
gemacht, als das jüngst abgelaufene war. Der drohende Krieg, das nach
allseitigem Zugeständnis; großartigste aller bis jetzt gefeierten Schützenfeste,
verbunden mit einer allgemeinen nationalen Ausstellung, dann die Erneu¬
erungswahl des Nationalraths und durch dessen Mittel die Erneuerung des
Vundcsraths. zuletzt die Krisen für die Industrie, deren Gedeihen die ökono¬
mische Wohlfahrt vieler Tausende, ja ganzer Cantone bedingt: dies mit man¬
chem Andern hat sich uns in den Rahmen eines einzigen Jahres zusammen¬
gedrängt. Und wenn man nun erfährt, daß alle diese recht eigentlich das
Mark des öffentlichen und privaten Lebens berührenden Erscheinungen an un¬
serm Volk vorübergegangen sind, ohne es im Geringsten aus der Bahn jener
ruhigen Verständigkeit zu werfen, die einen Hauptcharakterzuc^ des Schweizers
ausmacht, dann wird man uns zugestehen, daß die Zeiten gründlich absol-
virt sind, in denen die kleine Alpenrepublik mit einigem Schein von Grund
dem monarchischen Europa als ein entwit tviiidlv in der politischen Warnungs¬
tafel notirt werden konnte.
Gewiß, die Zeit der Putsche ist vorüber. Den letzten hat man unter
monarchischer Fahne versucht, allein der Erfolg war so wenig ermunternd,
daß ich Ihnen gutstehen möchte, es wird nicht so leicht eine Partei einen
„allerletzten" wagen. Ueberhaupt sind die Putsche schon seit dem großen all¬
gemeinen Losgang der Parteien vom Jahr 1847, genannt Sondcrbunds-
feldzug, nur mehr als Seltenheiten zum Vorschein gekommen, während das
Schicksal zwischen 1836 und 1847 ihrer durchschnittlich alle Jahre einen auf
die Tagesordnung setzte. Was derartiges seit 1848 in den Cantonen Frei¬
burg und Tessin passirt ist, waren nur die letzten Zuckungen einer überwun¬
denen Periode. Ich möchte diese Erscheinungen — si Mrva, liest eompouoic!
UMAM8 — in etwas vergleichen mit den letzten Unternehmungen der von
den Spaniern und Maria von Medici unterstützten französischen Großen unter
Heinrich IV. und Richelieu, und was zur heutigen Stunde von ähnlichen
Machinationen aus etlichen katholischen und paritätischen Cantonen verlautet,
erinnert nicht übel an die Fronde, für welche sich aber ebenfalls ein Mazarin
finden wird. Ein jedes Bild hinkt, so natürlich auch dieses; allein es heißt
Personen und Sachen nicht übermäßige Gewalt anthun, wenn wir den
Spaniern jener Zeit hier die Armeen und Diplomaten Roms substituiren,
und jenen Großen und Frondisten d'le aristokratisch-ultramontane Partei. Selbst
zum Portrait des berüchtigten Cardinals von Netz könnte mehr als ein
Exemplar aus den Curien von Freiburg, Se. Gallen und Chur sitzen. Nur
sür jene welthistorischen Gestalten, welche die neufranzösische Monarchie be-
gründet haben, liefern unsre demokratischen Verhältnisse kein ausdrucksvolles
Ancilogon, wol aber ein alle Parteien mächtig beherrschendes Collectivwcsen:
den schweizerischen Nationalgeist, immer wach in den Gemüthern des Volkes
und documentirt in der frei vom Volk gesetzten und darum im höchsten Ansehen
stehenden Bundesverfassung von 1848.
Die Kriegsmusik, mit welcher uns das vorige Jahr eingeläutet wurde,
hat so-laut über die Grenze» der Schweiz hinausgetönt, die Angelegenheit ist
durch die europäische Bedeutung, die sie gewann, so bekannt geworden, daß
Sie mir ein Eingehen in die neuenburger Frage gern erlassen. Nur das
Moment erlauben Sie als sür die Geschichte der Schweiz epochemachend festzu-
stellen, daß die Einigkeit, mit welcher alle Cantone und Parteien sich zusammen¬
scharten, als man ihnen mit Krieg drohte, und ganz besonders als der fran¬
zösische Moniteur durch grundlose Verdächtigung der obersten Lnndcsbehörde das
nationale Ehrgefühl verletzte, daß — sage ich — diese Einigkeit unserm Volk eine
Schnellkraft und ein Gefühl der Stärke verlieh, wie es seit dem Eintritt der Refor¬
mation nie mehr dagewesen. Als dann die feste und einige Haltung der Schweiz
(diese wol nicht allein! d. Red.) ohne Zerwürfnis; zum Ziel geführt hatte, erreicht)?
das nationale Selbstgefühl, wie natürlich, den Höhepunkt. Das Ereigniß war so
recht geeignet zu zeigen, daß die Existenz der Schweiz nicht etwa ganz allein, wie
die in gewissen Kreisen landläufige Redensart lautet, von der gegenseitigen
Eifersucht ihrer Nachbarn abhängt, sondern daß sie dieselbe zum guten Theil
auch ihrer eignen Macht verdankt und ihrer geheimen geistigen Allianz mit
den Ideen des liberalen Europa, deren für uns Schweizer consequentester und
treuester Ausdruck in neuerer Zeit immer die öffentliche Meinung Englands
und die Politik Lord Palmerstons war, weswegen man hier den „alten Pan"
nur mit großem Bedauern hat fallen sehen.
In unserm Verhältniß zu Deutschland konnte der neuenburger Handel
natürlich keine sonderlichen Freundschaften fördern. Indessen hat man hier immer
das preußische Volk und die manteusselschc Politik scharf auseinandergehalten,
ja selbst die letztere kam im Urtheil unserer Presse noch ziemlich glimpflich
weg, der Zorn der öffentlichen Meinung entlud sich mehr über den Häuptern
des „schwarzen Cabinets" in Neuenburg und seines Chefs, den die Unter¬
suchungsacten der Jnsurrection als die Seele des ganzen Unternehmens und als
den sehr übel berichtenden Rathgeber des berliner Cabinets hingestellt haben.
Weit schlimmer als auf die Preußen, unsre damals ausgesprochenen Feinde,
war man hierseits auf die „Schwaben" zu sprechen, unter welchem Ausdruck
man in der Schweiz schlechtweg alle Süddeutschen begreift. Auch hier
mußten, trotz einiger uns günstigen Manifestationen in Stuttgart, die Völker
für das Verhalten der Regierungen büßen. Borden Preußen sagte man sich:
Je nun, wenn der König befiehlt, so müssen sie halt mnrschiren; geht auch
das Fürstenthum Neuenburg das Königreich Preußen blutwenig an, so ist der
Fürst von Neuenburg nun einmal der König der Preußen und daß diese,
wenn auch nur in reinen Hausangelegenheiten ihrem König folgen, ist
im Grunde ganz in der Ordnung; unsere republikanischen Regierungen würden
mit widerspenstigen Provinzen auch nicht sehr gnädig umspringen. Allein
Baden, Würtemberg und Baiern — so sagte man sich hier darüber — was hat
die Schweiz gegen diese verbrochen? Was verpflichtet diese, ihr Land als
Feindesland herzugeben, da ja der Fürst von Neuenburg kein deutscher
Bundesfürst ist? Daneben zerbrach man sich den Kopf über die Raison, die
namentlich der Politik des Großherzogthums Baden zu Grunde liegen mochte,
da es alle Aussicht hatte, beim Ausbruch des Krieges der Schauplatz wenig¬
stens der ersten Feindseligkeiten zu werden.
Welche Stimmung bei diesen und ähnlichen Betrachtungen anwuchs, können
Sie sich leicht denken. Und da die berührte Politik eigentlich nur einen neuen
Ring in einer Jahrzehnte und Jahrhunderte lang gezogenen Kette von nach¬
barlichen Mißliebigkeiten bildete, so haben Sie auch den Schlüssel zu dem
Räthsel, warum der Rhein von Constanz bis Basel die anliegenden Bölkerschas-
ten nicht weniger schroff trennt, als der Rhein zwischen Basel und Lauterburg,
trotzdem daß uns starke Bande der Sprache, Literatur und eines reichen Han»
delsverkehrs eng anemandcrknüpfen sollten.
Es war hohe Zeit, daß die bandwurmartigen diplomatischen Unterhand¬
lungen in Paris über die neucnburger Frage ihre Endschaft erreichten.
Das eidgenössische Schützenfest nahte, und da duldet der Zug des repu¬
blikanischen Souveräns keine Fesseln. Seine nur durch das Vertrauen in den
Bundesrath im Zaum gehaltene Ungeduld war auf dem Siedpunkt angelangt und
würde sich, wenn Napoleon III. und die pariser Konferenz nicht vor dem Juli
fertig geworden Wären, unfehlbar von der Tribune der Sckützen in einer Weise
entladen haben, die für die politische Zukunft mehr als einer Koryphäe des Ta¬
ges gefährlich werden konnte. Dann wäre nach Noten radicalisirt worden, so
laut, daß man dieses Geräusch auch außerhalb unsrer Grenzen vernommen
haben würde. Daß die aufs Höchste gespannte Ungeduld denn doch bei Zeiten
ihre Erlösung fand -und die ganze Frage selbst eine dem Schweizervolk zu¬
sagende Lösung, das hat dem eidgenössischen Schützenfest von 1857 einen spe-
cifischen Charakter verliehen, der es nach dem Urtheil aller zum schönsten
stempelte, welches in der Schweiz je gefeiert wurde. Der Geist, der
hier herrschte, war die in den Frieden übersetzte Kampffreudigkeit des
vorangegangenen Winters. Man freute sich innig, nach einem Vierteljahr¬
hundert wechselvoller, zuweilen blutiger innerer Kämpfe sich eben wieder zu
einer Nation zusammengefunden zu haben. Man war stolz darauf, der Welt
als einiges, entschlossenes, zur Vertheidigung seiner Existenz ganz anständig
ausgestattetes Volk erschienen zu sein. Man gelobte sich, in ähnlichen Krisen
ebenso treu und entschlossen wieder zusammenzustehn. mochten unterdessen die
verschiedenen Parteien ihre kleinen Zänkereien noch so eifrig miteinander ausge-
fochten haben. Alles ohne Offensive oder Drohung oder Hochmuth, am aller¬
wenigsten propagandistisch gefärbt. Das war der Charat'er des Festes. Und
wie sehr man geneigt war, fremde Gäste an unserer nationalen Freude Theil
nehmen zu lassen, davon wissen die Schützen aus Bremen zu e.rzählen. Viel¬
leicht auch einer Ihrer unmittelbaren Landsleute. Hier wenigstens wurde ver¬
sichert, jener deutsche Minister, der sich eines Mittags incognito durch
die Festhütte führen ließ und von einem treuherzigen traiter Reiger
und trefflichen Pontonieroffizier in Civil angerufen wurde: „Herr Mi¬
nister! wollen Sie mit einem radicalen Berner anstoßen? — „„Warum
nicht?"" — Prosit! es lebe die Schweiz und alle vernünftigen Leute! — —
und welcher Minister beim Weggehen geäußert haben soll, seine Begriffe von
republikanischen Thun und Treiben hätten einen bedeutenden Stoß erlitten,
dieser Minister, heißt es, sei eine Ihrer sächsischen Excellenzen gewesen.
Rechnen Sie zu jener politischen Stimmung hinzu: zehn Tage unver¬
gleichlichen Wetters, die weltberühmte Schönheit des Festplatzes (der Enge)
mit herrlicher Aussicht in die Alpen, die gleichzeitige Industrieausstellung, den
eben erfolgten Ausbau des neuen Bundespalastes, den sich der Souverain
auch einmal besehen wollte, die Neuheit der Eisenbahn, — dann glauben Sie
auch an die nationale Völkerwanderung, die sich in diesen Tagen nach Bern
wälzte und zeitweise den Festplatz so stark anfüllte, wie der süße Mob von
London den Hydepark, wenn er gegen die Sonntagsstrenge oder Louis Napo¬
leon demonstriren will, nur mit dem Unterschied, daß sich unser Souverain
bei weitem manierlicher ausführte.
Fast gleichzeitig mit dem Schützenfest wurde die allgemeine schweizerische Aus¬
stellung eröffnet. Sie zerfiel in vier Abtheilungen: in eine literarische, künst¬
lerische, industrielle und landwirtschaftliche. Die' ersten beiden beherbergte
das Bundesrathhaus, die dritte eine neuerrichtete Kaserne, die vierte (erst
im Herbst eröffnete) fand Unterkunft in den Gebäulichkeiten des Schützen¬
festes. Diese Zerstreuung in verschiedene, größtentheils voneinander ziem¬
lich entfernte Localitäten deutet schon um, daß man auf ein knappes Bub-
get angewiesen war und daher die äußere Erscheinung mit ihrer republi¬
kanischen Einfachheit weit hinter ähnlichen Unternehmungen monarchischer
Staaten zurückstehn mußte. Die Ausstellung konnte sich in dieser Beziehung
trösten mit jenen Mädchen , welche, mit den Vorzügen der sterblichen Men¬
schen nicht überreichlich ausgestattet, dafür um so mehr sich auf ihren
„innern Werth" zu Gute thun. Und auch diesen innern Werth wollten die
Kritiker nur bei der industriellen und der landwirtschaftlichen Ausstellung. Ab¬
theilung Hornvieh, gelten lassen, gar nicht sonderlich bei den übrigen.
Die literarische Ausstellung war in der That eine zu professorcnhaste Idee
und hat denn auch völlig Fiasco gemacht. Der Volkswitz cipplicirte auf sie
das Wort jenes Bauers aus Guggisberg, der, wegen einer moralisch nicht ganz
richtigen Affaire vor den Pfarrer citirt und zur Rede gestellt, antwortete: „Herr! d'
Sach isch nit sufer, mir wei d'rvo so wenig rede — n — as mugli." (Herr Pfarrer!
die Sache ist nicht sauber, wir wollen davon so wenig reden als möglich).
Die literarische Ausstellung hatte nur dann Verstand, wenn der geheime Hin¬
tergedanke der Gründung einer Nationalbibliothek offen ausgesprochen und
die ebenso offene Antwort der Schriftsteller und Verleger abgewartet worden
wäre. Fand der Gedanke Anklang, desto besser; fand er keinen oder nur ge¬
ringen, dann hätte man die Sache bleiben lassen sollen. So wie sie ange¬
griffen worden, witterte mancher Verleger den Brüten und wollte sich nicht
in die Gefahr begeben, seinen Verlag unter dem Deckmantel des Patriotis¬
mus wegschnappen zu lassen; so wurde andrerseits unendlich viel Maculatur
hin und hergeschleppt, mit artigen Kosten, ohne allen Nutzen für die Wissen¬
schaft und den wissenschaftlichen Ruf der Schweiz, und endlich auch zum Ge-
spötte, derer, die sich mit dem Ding abquälen mußten.
Auch die Kunstausstellung blieb weit hinter den Erwartungen zurück. Eine
bedeutende Zahl der ersten schweizerischen Künstler hatte nichts eingeschickt, und
das Comite dieser Abtheilung der Ausstellung war viel zu nachsichtig gegen
die Mittelmäßigkeit, der es die Ausnahme hätte verweigern sollen. Man konnte
daher trotz einiger vortrefflicher Werke — wobei .in der Historienmalerei der
Tessiner Ciseri und der Züricher Boßhard, im Genre der Neuenburger von Meu-
ron, in der Landschaft der Züricher Steffan, in der Thiermalerei der Züricher
Koller, in der Bildhauerei der Urner Jmhof und die Tessiner Vela und Kossi
die Palme davontrugen — man konnte, sage ich, die auswärtigen Besucher
nur bitten, aus dieser Ausstellung ja keinen Schluß aus den Stand der schweize¬
rischen Kunst ziehen zu wollen. Man thäte ihr sehr Unrecht, denn sie ist gott¬
lob weiter vorgeschritten und reicher entwickelt.
Ein besseres Aussehen hatte die Industrieausstellung. Bei aller Einfach¬
heit und bei aller Kleinheit der Proportionen boten einige Säle einen Anblick,
von welchem Franzosen gestanden, daß das Arrangement der Waaren geschmack-
voller gewesen sei, als bei der Ausstellung in Paris, Und was den „inneren
Werth" betrifft, um wieder auf diesen zu kommen, so haben sich in- und aus¬
ländische Kenner höchst befriedigt ausgesprochen, trotzdem daß die spärlich zu¬
gemessene Zeit zwischen der Ankündigung und der Eröffnung der Ausstellung,
die außerdem durch den Kriegslärm des Winters um ein paar weitere Monate
verkürzt worden war, manche empfindliche Lücke spüren ließ. Die sehr wich¬
tigen Industrien der Seidentücher von Zürich und der Bijouterien von Genf
waren weniger als knapp vertreten. Am vollständigsten und reichsten glänzten
die Cantone Se. Gallen und Appenzell mit Baumwollfabrikatcn aller Art,
voraus mit den weltberühmten Stickereien, und Basel mit den Seidenbändern,
deren Concurrenz Lyon und Se. Etienne spüren. Gut vertreten waren die
neueuburger Berge .sammt ihren Filialen im berner- und wnadtländer Jura
mit Uhren und Spieldosen, Glarus durch seiue orientalischen Artikel, das ber¬
ner Emmenthal durch seine Linnen, der berncr Jura durch seine Eisenindustrie,
Zürich und Winterthur durch ihre vorzüglichen Maschinen, Aargau durch
seine Strvhflechtercien, ferner die übrigen Baumwolldistricte in Garnen und
Tüchern, die neuentstandenen und in verschiedenen Cantonen hübsch hervor-
blühenden Jaqueterien. zu welchen Jnterlaken den Anstoß gegeben hat. Auch
die Pianofortefabrikation gedeiht in Zürich vortrefflich und versieht nicht nur
das Inland, sondern in stets wachsender Menge auch das Ausland mit preis¬
würdigen Instrumenten.
Auffallend war die verhältnißmäßig geringe Betheiligung des Hnndwerks-
standcs, obschon der Impuls zur ganzen Unternehmung gerade aus diesen
Kreisen hervorgegangen. Die guten Leute rechneten auf eine Berlosung der
Ausstcllungsgegcnstäude, wie es zuweilen bei partiellen Ausstellungen vor¬
gekommen ist; als aber die große Industrie erklärt hatte, unter solchen Um¬
ständen nicht mitmachen zu wollen, und aus anvern triftigen Gründen die
Lotterie ausgeschlossen worden war, zog sich das niedere Handwerk grollend
in seine Boutiqucu zurück. Und doch konnte grade für dieses die Ausstellung
am meisten von Nutzen Seil^. Die große Industrie hatte in London und Paris
Lorbeern genug geholt, um sich auf dem Weltmarkt zu acereditiren; wenn sie
sich herabließ, auch in Bern noch aufzutreten, so rechnete man es ihr als reinen
Patriotismus an. Das Handwerk hingegen hat nöthig, besser gekannt zu
sein, und — sich selber zu keimen, um aus der theilweise gedrückten Lage
herauszukommen. Der unbenutzte Anlaß kehrt nicht so bald wieder, unter¬
dessen wird man neuerdings allerlei socialistisch angelaufene Lamentarien
und halblaute Sehnsuchtsseufzer nach der Wohlthat des Schutzzolls zu hören
bekommen. Daß doch die Menschen sich so gut auf die Fehler der Welt ver¬
stehen, nur nicht auf ihre eigenen! Haben Sie das in Deutschland auch so?
Die landwirthschaftliche Ausstellung zerfiel in zwei Theile. Die Erzeugnisse
des Ackerbaues, sammt den hierzu gehörigen Instrumenten veranlaßt zu keiner
besondern Bemerkung sür ein auswärtiges Publicum. Die Abtheilung des
Hornviehs war dagegen als ein Ereigniß zu betrachten. Sie hatte auch etwas
Poetisches trotz des landwirtschaftlichen Beigeruchs. Wenn Sie mirs nicht
glauben wollen, so verweise ich Sie aus die Hunderte hübscher Bernermädchen
mit seidenen Mietern und silbernen Kettchen, und auf die Menge vornehmer
Crinolinen, die sich nicht scheuten, inmitten des Genuss, des Schellentlangs und
Gejodels am Arm ihrer Beschützer die Gassen der kollosscilen Stallung zu
durchwandern. Kenner versichern, daß hier mehr preiswürdige Waare versam¬
melt war, als bei den internationalen Ausstellungen in Paris, wo bekannt¬
lich die Schweiz neben England die Concurrenz am glänzendsten bestanden
hat. Bei weitem weniger gut war man dagegen auf die Anordnung zu
sprechen. Wer nicht von vornherein die gehörige Kenntniß mitbrachte,
konnte sich in der Masse unmöglich recht belehren, da jede über Race. Her¬
kunft u. s. w. unterrichtende Tafel fehlte. Als einziges Eintheilungsmoment wurde
die Farbe in Betracht gezogen, indessen den Unterschied zwischen braun und
rothweiß oder schwarzweiß konnte ein geübtes Auge am Ende auch selbst heraus¬
finden. Das Schlimmste aber ist, daß das Preisgericht die Braunen und die
Gefleckter zu besondern Racen crcirte, ohne auf die übrigen, d. h. die aller-
wesentlichsten Charaktermerkmale einer Race Rücksicht zu nehmen. So kam
es, daß sich das unschädliche^ Rindvieh unseres Landes bei dieser Ausstellung
plötzlich auf zwei Racen reducirt sah, während die Naturgeschichte mit aller
Bestimmtheit schon im' gefleckten Vieh wenigstens drei charakteristisch aus¬
geprägte Runen unterscheidet, (roth und weiß gefleckte vom Simmenthal
im barrer Oberland, roth und weiß gefleckte Liefländer ü, In Durham von
Adelbvden im berner Oberland, schwarz und weiß gefleckte von der Gruyöre
frciburgcr Oberland), und dem braunen Vieh mehr als drei Racen zukommen,
von welchen ich z. B. erwähne: die Rigirace (Schwuz), die Brünigrace
(Obwalten und Unterwalden), die Graubündtnerrace, — wobei zu bemerken,
daß sich sämmtliche Racen erst nach ihren deutlich ausgeprägten Schlagen und
Abarten ausweisen. So hat die Weisheit des Preisgerichts die an Man¬
nigfaltigkeit der Racen und Schläge überreiche Schweiz aus einmal arm ge¬
macht, grade an der Stelle, wo der Reichthum des Laubes recht prägnant
der Welt zur Schau gestellt werden sollte. Und die Repräsentanten dieser
Race'n und Schläge waren alle da; nur das Preisgericht wollte sie nicht
sehen. Hierüber großer Jammer bei vielen Kennern, (zu welchen Sie mich
übrigens bei Leibe nicht zählen mögen!) und eben erst ausbrechender eifriger Kampf
unter den Meistern des Fachs. Unterdessen werden in unsern Eantonen gleich¬
wol Milch und Honig fort fließen, die erstere, um dieWangen unserer algauer Schö¬
nen zu rothen, der letztere, um den Gaumen der sämmtlichen Touristen zu kitzeln.
Kaum war der Klang der abziehenden Herdeglocken in den Straßen
der Bundesstadt verhallt, so riefen die Kirchenglocken den hohen Souverän schon
wieder zu einer feierlichen Action: zur Wahl des Nationalraths. Der Wahlact
ging fast in der ganzen Schweiz in größter Ruhe vorüber, hier und da
sogar unter sichtlicher Apathie, in welcher sich das hier und da ein Bischen
blasirte Zürich besonders auszeichnete. Zwar hatten die Malcontenten von
Genf einige Wochen lang Himmel und Holle in Bewegung zu setzen versucht,
um dem Schweizervolk begreiflich zu machen, daß es, genau betrachtet, ab¬
scheulich regiert sei. Jnmes Fazy und sein Troß thaten das Ihre in der
Revue de Genime, Hr. Reichsregent Bogt das Seine in einem Provinzialblatt
des Cantons Bern, dessen früherer Redacteur, Hr. Deutschkatholik Doviat,
zur Zeit des Winteraufgebots wegen Schimpfreden auf den König von Preu¬
ßen polizeilich ausgewiesen, und über den Kanal transportirt worden war.
Das Zeug „achtundvierzigerlcte" zu sehr, wie man bei uns sagt. Unser
Volk hat sür Reichsregentschaften keinen Magen noch Geschmack, und die Kunst
am besten zu schimpfen ist ihm kein Kriterium des besten Regenten: dafür
hat es eine bald dreißigjährige Erfahrung hinter sich. Die Sache drohte dem
nationaleren Theil der radicalen Partei zu schaden, es erfolgte in dem Blatte,
das man als Organ des Bundesrathes Stämpfli betrachtet, ein verständlicher
Wink und — aus einmal war die Eidgenossenschaft wieder ganz passabel re¬
giert. Die, von denen ich eben rede, pflegen.sich mit Vorliebe die „Unab¬
hängigen" zu-nennen. Das Volk übrigens nahm von der Episode wenig Notiz.
Es hatte seine Rechnung schon gemacht, die Ereignisse des Jahres hatten zu
deutlich gesprochen, die alles Uebrige beherrschende nenenburger Frage lag
klar genug vor, als daß es zu seinem Urtheil eines Wegweisers bedurft hätte.
Das Volk sagte sich: die Herren in Bern haben sich brav gehalten; als man
uns grob kam, kamen sie auch grob, als man uns die Hand bot, schlügen
sie ein; sie haben die Sache glücklich zu Ende gebracht; sind zufrieden mit
den Herren in Bern, sollen weiter regieren.
Das Resultat der Wahlen war eine glänzende Approbation der bisher
befolgten eidgenössischen Politik und ein ebenso glänzendes Zutrauensvotum
für den Bundesrath, dessen sämmtliche Mitglieder überdies in ihren Heimath-
cantoncn gewählt wurden, obschon sie zur Conservirung ihres Regierungsfau-
teuils einer solchen Wahl gesetzlich nicht nöthig haben, und sie daher immer
als Ehrengeschenk betrachten können. Auch das Stimmvcrhältniß der Par¬
teien unter sich wurde nicht wesentlich alterirt; die Conservativen haben einige
Stimmen und tüchtige Köpfe gewonnen, doch disponiren sie im Verein mit
den Ultramontanen nicht über mehr als 30 bis 35 Stimmen in der 120
Mitglieder zählenden Behörde.
Einzig in den Cantonen Waadt, Neuenburg und Se. Gallen ging es bei
den Wahlen etwas hitziger zu. In Neuenburg und Se. Gallen waren die
bewegenden Ursachen von cantonaler Natur. In Neuenburg nahmen die feind¬
lichen Brüder der republikanischen Partei, Gouverncmental-Notabeln und s. g.
Independenten. den durch die Jnsurrection vom 3. September 1856 unter¬
brochenen Kampf wieder auf, der seine erste Quelle in persönlichen
Rivalitäten, seine zweite und hauptsächlichste in den gegnerischen Eisenbahn-
projecten ^ni-g, wäustriel (Brege) und I^ÄNvv-suisse (Traversthal) hatte.
Die Regierungspartei siegte mit überraschendem Mehr über die vereinigten
Independenten und ehemaligen Royalisten. In Se. Gallen galt es, die seit
dem letzten Mai beinahe gleich starken Parteien des Liberalismus und des
Ultramontanismus zu wählen. Auf beiden Seiten wurden alle irgend erlaubten
Anstrengungen gemacht und aus beiden Lagern so zu sagen Stein und Bein
auf den Wahlplatz poussirt. Bei einer Gesammtwählerzahl von 36,000 siegten
die Liberalen mir 2—3000 Stimmen über die Gegner. Die weitere Ent¬
wicklung der Dinge in diesen beiden Cantonen wird der schweizerischen Presse
noch viel zu sprechen geben, die in Se. «Äallen hat auch für ein größeres
Puvlicum Interesse, weil die Bestrebungen des dortigen Ultramontnnismus
einen Ring in der Kette der großen römischen Aggressivbewegungen unserer
Zeit bilden. Im Canton Waadt klang die Oronbahnfrage nach. Doch war
die dortige Regierungspartei ihres Sieges so viel wie gewiß, zumal sich ihr
wegen der Eisenbahninteressen einige der hervorragendsten conservativen Führer
zugesellt hatten, wofür sie dann auch dankbar auf die Liste der Liberalen ge¬
nommen wurden. Der Wahlkampf dieses Cantons bot deshalb nur wegen
des Nebenumstandes Interesse, daß sich die Mehrheit der Regierung in den
Kopf gesetzt hatte, den Bundcspräsidcnten Fornerod zu stürzen, auf dessen Sitz
ein oder zwei Mitglieder jener Regierung speculirten. Fornerod war zwar
während der Eisenbahndebatten immer ganz einig mit der Regierung von
Waadt und den waadtländischen Repräsentanten gegangen und hatte im
Bundesrath wie im Nationalrath und Ständerath sein Möglichstes gethan,
um die Interessen des Waadt zum Sieg zu bringen. Als aber nichts desto
weniger der Entscheid sür diesen Canton ungünstig ausgefallen war, lag ihm
als Mitglied des Bundesraths die Pflicht ob, die Beschlüsse auszuführen.
Die Regierung setzte der Execution einen ganz sinnlos verfassungswidrigen
Widerstand entgegen; da trat Fornerod mit einem offnen Brief vor seine can-
tonalen Landsleute, um seine Stellung wie die des Canton zu erklären. Die¬
sen ganz demokratischen Schritt, der auf die übrige Schweiz den besten
Eindruck machte, qualisicirten seine Gegner, oder besser Neider, als Verrath
am Heimathscanton. Die Wähler von Lausanne, Vevay und Aigle lie¬
ßen sich jedoch nicht irremachen und wählten Fornerod mit sehr ansehn¬
lichem Mehr.
Von dem ganz im Sinn des bestehenden Systems erneuerten Ccmtonal-
rath und dem im Wesentlichen gleichgearteten Ständerath ließ sich nichts Anderes
erwarten, als daß er auch den Bundesrat!) und seine bisherige Zusammensetzung
bestätigen würde. So geschah es denn auch. Die Mitglieder der obersten Executive
wurden vom ersten bis zum letzten wieder gewählt, an der Spiye, wie immer
seit 1848, mit fast an Einstimmigkeit grenzenden Mehr Dr. Furrer von Zürich.
Furrer ist ohne Frage der populärste aller schweizerischen Staatsmänner und
die politische Seele des Bundesrathes seit seiner Gründung. Hätten wir die
amerikanische Präsidentenwahl, so würde er sicherlich auch beim Volke bei
weitem die größte Stimmenzahl aus sich vereinigen, und selten hat ein Mann
durch die Vorzüge des Charakters wie des Talentes die Gunst des Volkes besser
verdient. Der Zweitgewählte war or. Stämpfli von Bern. Stämpfli ist
das thatkräftigste Mitglied des Bundesrath. Herr von Sydow vergaß zu er¬
zählen, wie wenig sich der Bundespräsident von 1856 einschüchtern ließ. Sein
Steckenpferd ist die Oronvahn, die er, im Gegensatz mit allen seinen Collegen,
bei der Bundesversammlung durchzuringen wußte und nun in ihrer Fort¬
setzung als Wcstostbahn (Bern - Luzern —Zürich) weiter patronisirt. Die im
Canton Bern herrschende liberale Partei folgt ihm fast blindlings, und da
Bern bekanntlich der größte und im Cantonalrath am stärksten (mit 23 Köpfen)
repräsentirte Canton ist, so darf Stämpflr hier immer auf einen sehr respec-
tabeln Anhang zählen. Dies verführt ihn aber nicht selten, an eidgenössischer
Stelle zu stark den Berner hervortreten zu lassen, was hinwieder seinen
Gegnern eine Waffe in die Hand liefert, unter welchen der nicht minder hart¬
näckige Escher von Zürich der gefährlichste ist. Der Drittgewählte war Knüse l
von Luzern, in welchem die liberalen Katholiken der innern Schweiz einen Ver¬
treter haben. Es folgte Frey-Herosöe von Aargau, unser Kriegsminister
und Chef'des Gcneralstabcs beim Aufgebot des letzten Winters und früher
im Sondcrbundfeldzug. Auf diesen Nass von Se. Gallen. Da in neuerer
Zeit die Disciplin im Postwesen nicht überall mit der gewünschten Schärfe
gehandhabt zu werden scheint, so hatte Herr Nass, der Chef dieses Departements,
manche herbe Angrisse zu bestehen; die Ständeversammlung ehrte aber in
seiner Wiederwahl ein unvergleichliches Geschick, alle irgendwie praktikabel»
Ideen im Gebiete des Post- und öffentlichen Bauwesens mit gesundem Blick
und ruhigem Muth ins Leben zu führen. Unter seiner Leitung ist das schwei¬
zerische Telcgraphenweseu nach den wenigen Jahren seiner Existenz zum Muster
für andere Staaten geworden, so daß beim letzten internationalen Telegraphen-
congreß zu Paris mehre bei uns prakticirte Grundsätze zu allgemeingiltigen
erhoben wurden und Oestreich unsern vorletzten Telegraphendirector nach Wien
gezogen, ja sogar die hohe Pforte bei uns Beamte gesucht hat. In rascher
Folge gingen auch Foruerod von Waadt und Pivda von Tessin so zu
lagen unbestritten aus der Wahlurne hervor. Bundespräsident für 1858
wurde Furrer, Vicepräsident Stämpfli.
Auch vor diesem Wahlact hatten die Radicalen von Genf das Wasser
zu trüben versucht. Eine zu diesem Zweck veranstaltete Vorversammlung
fand sich aber, sehr wider Erwarten der Anordner, von so vielen Anhängern
des bestehenden liberalen Systems besucht, daß der Schlachtplan der Radicalen,
wenn sie.überhaupt einen solchen hatten, gar nicht zur Ausführung gelangen
konnte. Die Herren wußten ganz gut, was sie umstürzen wollten, nicht aber,
was aufrichten. In diesem Sinn sprach sich u. a. auch der Ständerath Vogt
mit rührender Offenheit aus. Sie sehen, es gibt alleweil Leute in der Politik
die nichts vergessen, sie brauchen aber nicht immer Bourbons zu sein.
Der Kampf um den Zinsfuß ist bekanntlich fast so alt als die Geschichte
aller der Volker, die durch ihre Entwicklungsfähigkeit unser Interesse vorzugs¬
weise sesseln. Wir finden ihn in Griechenland und namentlich in Athen, wir
sehen ihn in dem heißen Pnrteienstreit, der die ersten Jahrhunderte der römi¬
schen Republik erschütterte, eine hervorragende Rolle spielen und unsere Sym¬
pathien sind dabei durchaus auf Seiten derer, die unter der Ausbeutung eines
unbarmherzigen Capitalistenstandes seufzen. Das jüdische Recht verbietet das
Zinsennehmen von Stammesgenossen, gestattet es aber — höchst bezeichnend
sür den Gesichtspunkt, unter welchem man damals den Zins betrachtete —
Fremden gegenüber, die im Alterthum überhaupt für rechtlos galten. Durch
das ganze Mittelalter ziehen sich Zinsbeschränkungen und Verbote.
Alles dieses und noch viel mehr antiquarische und neuere Notizen sind in
unserm Ober- und Unterhause vorgebracht worden, um die Aufhebung der
Wuchergesetze zu verdammen und den Beweis zu führen, daß nur die Frivolität
unserer leichsinnigen Zeit oder eine verblendete Theorie so vermessen sein könnte,
sich gegen die allgemeingiltige Weisheit so vieler Völker und so langer Jahre
zu empören. Merkwürdigerweise aber ist keiner der Redner, die für die Re¬
solution gesprochen haben, so weit gegangen, den Zins überhaupt für un¬
rechtmäßig und verwerflich zu erklären, obgleich sich außer der beliebten Au¬
torität des kanonischen Rechts noch mancher hübsche und bestechende Grund
dafür anbringen ließe, z. B. daß, wer heute l»n Thlr. in einen wohl ver¬
schlissenen Kasten legt, jedenfalls getäuscht sein würde, wenn er sie nach einem
Jahre um die gesetzlichen 5 Procent vermehrt erwarten sollte; oder daß der Zins
und seine Consequenz, der Zinseszins, zu der Absurdität führen würde, daß ein
zu Christi Geburt verzinslich angelegtes Capital von einem Pfennig heute eine
Silbernässe vorstellen müßte, welche unsern Erdkörper an Kubikinhalt weit
hinter sich läßt — und ähnliche schlagende Argumente, für welche gewisse
Herren ein so grandioses Talent entwickeln. Consequenz würde in solcher
Stellung gegen den Zins als solchen jedenfalls liegen. Denn wenn der Reiche
von dem dürftigen Handwerker oder der verlassenen Witwe, welche an seine
Thür klopfen, sich zwei oder drei Procept für sein Darlehn versprechen läßt,
und diese dann mit Hilfe des Gesetzes beitreibt, so unterscheidet er sich offen¬
bar nur dem Grade nach von dem, welcher 8 bis 10 Procent von solchen
Personen nimmt.
Es gibt gewisse Verhältnisse, in denen jede Zinsverabredung von jedem
als eine Hartherzigkeit oder Unanständigkeit bezeichnet werden wird. Aber sie
fallen nicht in das Gebiet des Rechts und des wirthschaftlichen Verkehrs,
sondern in das des Mitgefühls, der Wohlthätigkeit, der Gefälligkeit. Auf
unsern Universitäten borgt ein Student vom andern, — und nicht immer in
ganz unbedeutenden Quantitäten oder auf ganz kurze Zeit — ohne daß an
einen Zins oder selbst an eine Schuldverschreibung auch nur gedacht werden
wird. Von Einzelnen und von Vereinen werden nicht blos unverzinsliche
Darlehne, sondern bedeutende Unterstützungen unentgeltlich an Dürftige ge¬
geben, unsere Aerzte widmen manchem Patienten ihre Zeit und Sorgfalt. von
dem sie gewiß wissen, daß er nicht im Stande ist, ihnen das Honorar der
Medicinaltaze zu zahlen. Deshalb weil dieses alles unzweifelhaft schön, edel
und lobenswerth ist, kann doch keine Gesetzgebung, welche die Sittlichkeit zu
ihrem Princip macht-, decretiren, daß diese Dienste und Leistungen unentgeltlich
geschehen sollen. Das kanonische Recht, welches seine religiös-sittlichen Ge¬
sichtspunkte in die Gesetzgebung zu mischen versuchte, that das beim Darlehn,
und was war die Folge? Da es zu unbillig gewesen wäre, dem Gläubiger
wider seinen Willen durch einen säumigen Schuldner den Genuß seines Ca¬
pitals vorenthalten zu lassen, waren Verzugszinsen von dem gesetzlichen Ver¬
bot nicht betroffen. Wer also Geld bekommen wollte, mußte es sich gefallen
lassen, daß der Gläubiger es ihm formell nur auf 24 Stunden lieh, nach
Ablauf derselben die Klage gegen seinen nunmehr im Verzug befindlichen
Schuldner einreichte, und so unter dem Namen von Verzugszinsen die Früchte
seines Capitals bezog, welche das unverständige Gesetz ihm im Wege des
Vertrags versagte.
Das muß das Schicksal jedes Gesetzes sein, welches den Zins ver¬
bietet. Denn es ist in der Natur des Capitals so tief und unumstößlich
begründet. Zinsen zu bringen, daß jenes ohne diese ebenso wenig gedacht wer¬
den kann, wie diese ohne jenes und bei jedem wirthschaftlichen Zustand, wo
es keinen Zins gibt, ohne Bedenken der Schluß gezogen werden kann, daß
es dann entweder noch gar kein Capital gibt, oder daß es in Kurzem
kein Capital mehr geben wird. Wenn es den Socialisten jemals gelingen
sollte, ihr Ideal einer Gesellschaft zu verwirklichen, die weder Zinsen noch
Eigenthum kennt, so würden wir dort ein treffliches Beispiel für unsere Behaup¬
tung haben. Dann kehrt das Chaos wieder, ein klägliches, rechts- und besitz¬
loses Vegetiren, wie arme Jäger- und Fischervölker es wirklich führen, — es
müßten denn Considerants Visionen in Erfüllung gehen.
In der That ist die Zahl derjenigen, welche heute den Zins in seinem
Princip angreifen würden, in Deutschland wenigstens eine nicht in Betracht
kommende Minorität. Man ist darüber einig. daß das Capital im*Ganzen
eine wohlthätige Macht ist, daß die Bildung von neuem Capital nur geschehen
kann, indem der Producirende entweder durch verdoppelte Anstrengungen einen
Ueberschuß über seine Bedürfnisse erzielt, oder indem er diese selbst beschränkt.
In beiden Fällen ist er eines Lohnes werth, dessen lockende Aussicht zugleich
ein Motiv seiner Anstrengungen oder Entbehrungen bildet. Von Seiten des
Capitalentleihers betrachtet, wird zugegeben, daß diesem durch das Darlehn
ein Dienst geleistet wird, und daß, wenn er durch den Verzicht eines andern
auf die Früchte seines Schaffens sich in den Stand gesetzt sieht, seinen Ge¬
schäftsbetrieb zu erweitern und einträglicher zu machen, es billig sei, das; jener
an seinem Gewinn Theil nehme, und zwar um so mehr, je weniger Garan¬
tie er dem Darlehnsgeber für die Rückerstattung des Capitals selbst biete.
Von einem ganz unparteiischen Gesichtspunkt aus, der die Dienste des Ver¬
leihers, wie die Vortheile des Entleihers aus dem Spiel läßt, zeigt der Zins
sich endlich als das beste und sogar als das einzige Mittel, fir.irte Capitalien
allmälig zu amortisiren und die Rückerstattung einmaliger Vorschüsse, welche
vielen, vielleicht mehren aufeinanderfolgenden Generationen zu Gute kommen,
auf alle zu vertheilen, die an ihrem Nutzen participirt haben.
Ueber alles dieses sind die Gebildeten, welche sich jemals praktisch oder
theoretisch mit volkswirthschaftlichen Dingen abgegeben haben, einig. Strei¬
tiges Gebiet betreten wir erst in'dem Augenblick, wo es sich darum handelt,
die Höhe des Lohns zu bestimmen, welchen der Capitalist zu fordern berechtigt
sein soll. Nun scheint es beim ersten Blick einleuchtend, daß eine gleichmäßige
und dauernde Bestimmung hierüber zu treffen unmöglich ist, weil ja die Ele¬
mente, welche dabei zusammenwirken, mannigfache und beständig wechselnde
sind: Anzahl der Capitalien, Anzahl und Rentabilität der Anlagcplätze, Größe
und Betriebsamkeit der Bevölkerung, Sicherheit oder drohende Gefahr der
nächsten Zukunft; und weil sich mit diesen allgemeinen Bedingungen noch
zahllose individuelle Verhältnisse verbinden, welche jeden einzelnen Fall eines
Leihgeschäfts zu einer höchst complicirten Combination machen. Wo der
Staat sich nun längst herbeigelassen hat, die Bestimmung viel einfacherer Dinge,
wie den Preis der Lebensmittel und der Handarbeit, zu dessen richtiger Fest¬
setzung doch Allwissenheit gehören würde, dem Walten ihrer eignen Gesetze
zu überlassen, sollte man dies beim Zinsfuß gewiß erwarten. Und doch gehören
gesetzliche Vorschriften über seine Höhe zu den bis auf den heutigen Tag ver-
breitetsten Erscheinungen. Diejenigen, welche darin ein Mittel zur Beschränkung
des Materialismus unsrer Zeit sehen, wollen wir nicht weiter berücksichtigen.
Denn einmal ist es schon hervorgehoben worden, daß solche Tendenz sich des
Rechts nicht als Mittel bedienen kann, weil sie in ein andres Gebiet fällt;
andrerseits aber glauben wir, daß dieses Bestreben sich nicht blos gegen ein
Symptlfln anstatt gegen die Ursache richten, sondern einen noch auffälligeren
Fehler begehen würde, etwa wie ein Arzt, der bei der Behandlung eines
Pockenkranken seine ganze Kunst auf Fortschaffung einer einzigen Beule wen¬
den wollte. Viel triftigeren Einwänden haben wir da zu begegnen, wo die
Opposition gegen die Zinsfreiheit sich auf eine besondere Theorie des Capitals,
auf die Interessen des Grundbesitzes oder gar auf die bedrohte Harmonie des
gesammten Volkslebens gründet. Bevor wir aber hierauf eingehen, glauben
wir denjenigen unsrer Leser, welche außerhalb des preußischen Staats stehen
oder die Veranlassung der jetzigen Kammcrvcrhandiung aus den Augen ver¬
loren haben, eine kurze Andeutung über die preußische Zinsgesetzgebung und
ihre Suspension im November des vergangnen Jahres schuldig zu sein.
Der Zinsfuß ist in Preußen auf die Grenze von 5°/<,, in einzelnen Pro¬
vinzen auf 6°/o, zwischen Kaufleuten und Kaufleuten überhaupt auf 6°/g be¬
schränkt. Das Landrecht bestrafte Überschreitungen desselben, wenn sie sich
unter einem andern Geschäft versteckten, mit Verlust der gesammten Forde¬
rung an den Fiscus, sonst nur mit civilrechtlichen Folgen. Durch das Straf¬
gesetzbuch von 1851 wird die gewohnheitsmäßige oder unter einem andern
Geschäft versteckte Überschreitung des gesetzlichen Zinsfußes mit Gefängniß
von drei Monaten bis zu einem Jahr und zugleich mit Geldbuße vou 5» bis
1000 Thlr. so wie mit Untersagung der bürgerlichen Ehrenrechte ans Zeit be¬
straft. Troß dieser hohen und insamirend'en Strafen blühte der Wucher
seit 1851 mehr denn je, und von hundert Fällen gelangten vielleicht nur fünf zur
Anzeige, von diesen nur einer oder zwei der Art, daß das Gesetz wirklich
angewandt werden konnte.
Die einzige Folge war, daß anständige Leute, die von ihren Zinsen
lebten, sich mit 5°/<> begnügen mußten, während mit ihrem Geld vielleicht ein
Gewinn von 15 und 20°/<> gemacht wurde, und daß in allen Fällen, wo die
Gefahr eines Darlehns mit 5°/^ nicht hinreichend ausgeglichen wurde, Geld
nur von Blutsaugern zu erhalten war, die kein Bedenken trugen, es auf
eine Belanguug wegen Wuchers ankommen zu lassen. Daß diese Aufopferung
dann noch besonders bezahlt werden mußte und schon der Mangel des An¬
gebots von Capital, welches sonst der Lockung von 1 oder 2°/» über den
gewöhnlichen Zinsfuß nicht widerstanden hätte, die Lage des Schuldners
erschweren mußte, ist klar.
Die Regierung wußte das sehr wohl, und hatte sich deshalb schon lange
bei Handelskammern, Gerichten und städtischen Behörden Gutachten über die
Wuchergesehe erbeten, welche sast allgemein gegen ihre Beibehaltung aus¬
gefallen waren. Als dann im Herbste v. I. die Krisis ausbrach, deren Ur¬
sachen wesentlich in dem gemißbrauchten Credit lagen, als infolge davon
das erschreckte Capital gänzlich den Verkehr mied und sich nur im Arminschen
Geldschrank für sicher zu halten schien, wollte die Regierung nicht länger die
Verantwortung dem dämonischen Walten der Verkehrsgesetze gegenüber tragen
und suspendirte vom 27. November 1857 bis 27. Februar 1858 die Wucher¬
gesetze. Absolute Heilung sollte und konnte das nicht bringen, aber es war
ein wohlthätiges Linderungsmittel, für dessen Darreichung zur rechten Zeit
Tausende von Geretteten der Negierung zu danken haben. Der Gewinn
lockte, man kam zur Besinnung, und was nicht unhaltbar war, fand
meistens mit mäßigen Opfern eine Stütze. Daß einigen Grundbesitzern
Capitalien gekündigt oder nur unter härtern Bedingungen gelassen sein mögen,
daß der Schreck auf der einen, das plötzlich erwachte Selbstbewußtsein des
Capitals auf der andern Seite den Zinsfuß in manchen Füllen beträchtlich
erhöht haben mögen, ist selbstverständlich, beweist aber nicht im Entferntesten,
daß dies die dauernde Folge abgeschaffter Wuchergesetze sein würde. Auch
unter diesen sehr singulären und die wahren Gesetze des freien Zinses ver¬
dunkelnden Umständen sprechen die bis jetzt eingegangenen Berichte nur von
den Wohlthaten der Verordnung und werden es auch nicht anders, sobald
sie bedenken, daß ihre Wirksamkeit nur größeres Unheil verhüten, aber nicht
positiv sein konnte.
Da die Suspension eines Gesetzes ohne Beistinunuug der Kammern
erlassen war. mußte verfassungsmäßig ihre nachträgliche Genehmigung in der
nächsten Session gesucht werden. Daß diese nicht verweigert werden würde,
war von vornherein gewiß. Die Zusammensetzung der Kammern führte
aber dcizn, daß in beiden der Genehmigung eine Resolution angehängt wurde,
die im Herrenhause sehr entschieden, im Abgeordnetenhause etwas milder die
Abneigung einer Majorität der Lcmdbotcn gegen die Freigebung des Zinsfußes
ausdrückte. Diesem Umstände haben wir die interessantesten Sitzungen zu ver¬
danken, welche dieses ganze, mehr als gewöhnlich inhaltslose Kammerjahr,
uns wahrscheinlich bieten wird. Die bedeutendsten Redner beider Parteien —
denn es kam der Hauptsache nach auf eine politische Principienfragc heraus
^ betraten nacheinander die Rednerbühne, und man muß mit Dank anerkennen
daß auf beiden Seiten mit gründlicher Vorbereitung und gutem Material, auf
Seiten der Resolutionsgegner leider mit weniger Geschick als bei andern Ge¬
legenheiten, debattirt worden ist.
Zunächst war die Rechte bemüht, ihrer Auffassung ein wissenschaftliches Funda¬
ment zu geben. Wir hatten geglaubt, daß der Zins mit dem Geld als solches
nichts zu thun habe, daß er eine Frucht des Capitals sei, und deshalb, wie die
Goldländer gezeigt haben, wol sehr hoch stehen könne, während der Geldwerth
gleichzeitig ein sehr geringer ist. Denn wo vieles Geld ist, darf noch gar
nicht überhaupt vieles Capital sein. Nun hörten wir, daß der Zins die
Miethe für eine empfangene Geldsumme sei. — Wir hatten ferner geglaubt,
daß Geld eine zum Circulationsmittel besonders geeignete Waare sei vermöge
mancher schätzbarer Eigenschaften, unter andern auch dadurch, daß es aus
einem allgemein für werthvoll gehaltnen Stoff besteht, oder wie das Papier¬
geld jederzeit in einen solchen umgewechselt werden kann, und daß der Staat
durch seinen Stempel jedem ohne lange Untersuchung Gewicht und Feingehalt
richtig anzeigt. Wir haben jetzt erfahren, Geld sei gar keine Waare, sondern
der gesetzliche Werthmesser unter Garantie des Staats, der daher das Recht
und die Pflicht habe, zu bestimmen, wie hoch die Geldnutzung geschehen
dürfe. Daß Geld eine eigenthümliche Waare ist, wird niemand bestreiten,
aber es sollte doch schwer werden, zu beweisen, daß es gar keine Waare sei,
sondern ein gesetzlicher Werthmesser, etwa wie das Pfund der gesetzliche Schwere¬
messer, der Fuß das gesetzliche Längenmaß ist. Man mache doch den Versuch
und messe mit einem Thaler den Werth eines Scheffels Weizen heute und nach
einem Jahr! Man mag das Geld als den Generalnenner bezeichnen, aus
welchen sich alle Wirthschaftlichen Güter reduciren lassen, niemals aber wird
es den Namen eines eigentlichen Werthmessers beanspruchen können, da es
selbst nur einer und noch dazu ein nicht constanter Factor unter den zahllosen,
ewig sluctuirenden Gliedern der Werthgleichung ist. Und abgesehen davon!
Wer in aller Welt mit Ausnahme eines Bankiers oder eines Gold- und
Silberarbeiters, borgt sich denn Geld, um es als Geld zu nutzen? Die Regel
ist doch, daß man sofort Waaren dafür eintauscht und diese dann nutzt, so
weit man kann, und ohne daß der Staat dafür eine Grenze vorschreibt, oder
daß man ein Geldcapital aufnimmt, um ein anderes zurückzuzahlen, welches
man früher in der gedachten Weise benutzt hat.
In diesem Falle werden sich besonders häusig die Grundbesitzer befinden.
Was sie auf ihren Boden gewandt haben, fixirt sich in ihm und kann leur
durch den gesteigerten Ertrag einer langen Reihe von Jahren allmälig heraus¬
gezogen werden. Daher empfiehlt sich für den Grundbesitz eine andere Form
des Credits, durch welche seine Darlehen zwar nicht unkündbar gemacht werden,
Wie einige unserer Herren es zu wünschen scheinen, aber doch für eine all-
malige Abtragung geeignet werden, mi^ einem Worte: der Pfandbriefcredit.
Bevor die nöthige Anzahl solcher Institute mit zweckmäßiger Einrichtung ins
Leben gerufen ist, mag der Grundbesitzer durch die Aufhebung der Zins¬
beschränkungen zu manchen Opfern gezwungen werden, wenn ihm ein Capital
gekündigt wird. So lange das aber geschehen kann, wird seine Lage bei
freiem Zins noch immer viel günstiger sein, als wenn er das Geld von pro-
fcsfionirten Wucherern aufnehmen oder es zur Subhastation kommen lassen
müßte. Was er-durch hohem Zins-—der übrigens unter sonst gleichen Be¬
dingungen keine nothwendige Folge der Zinsfreiheit ist — einbüßen sollte,
kann er freilich nicht durch Steigerung seiner Getreidepreise auf die Consumenten
überwülzen, ebenso wenig wie der Hausbesitzer im gleichen Fall die Miethe
steigern kann. Denn die Preise von Getreide und Wohnungen beruhen ledig¬
lich auf dem Verhältniß von Angebot und Nachfrage. Dagegen ist gar nicht
abzusehen, ob die gesteigerte Entfaltung von Handel und Industrie oder der
Sporn, seinem Boden mehr Ertrag abzugewinnen, nicht zu einem vermehrten
Absatz und zu technischen Verbesserungen der Landwirthschaft führen, welche
die Einnahmen des Grundbesitzes trotz der hohem Zinsen vergrößern. Wir
haben von ähnlichen Wirkungen scheinbarer Verluste schon mehr als ein Bei¬
spiel, und nichts kann thörichter sein, -als eine volkswirthschaftliche Erscheinung
ur sich allein zu betrachten, oder nach ihren nächsten Folgen zu beurtheilen.
Wir haben es auch als ein „wohlerworbnes Recht" aller derer, die bei dem
jetzigen Zinsfuß ein Grundstück kauften, bezeichnen hören, nicht mehr als fünf
bis sechs Procent Hypothekenzinsen zu zahlen. Wir meinen aber, daß Verluste
an wohlerworbnen Rechten, welche aus der Aufhebung unmöglich gewordner
Gesetze erwachsen, ebenso von den Betroffenen getragen werden müssen,
wie ein Kaufmann sich die Minderung seiner Einnahmen bei Verkehrs¬
störungen in Kriegeszeit, oder wie der Rentier sich Verringerung seines
jährlichen Einkommens durch Entdeckung neuer Goldminen gefallen las¬
sen muß.
Was der Grundbesitz von Aufhebung der Wuchergesetze fürchtet, ist also
entweder unbegründet, oder kann nicht als rechtsgiltiger Einwand dagegen
gebraucht werden. Dem Handel, der großen Industrie schaden die Zins¬
beschränkungen offenbar, und wenn sie dem Grundbesitz wirklich nützen sollten,
so würde hier nur der Widerspruch zwischen den Interessen zweier für das
Staatsleben gleich wichtiger Stände nachgewiesen sein. Es wäre wol billig,
dann die Frage so zu entscheiden: Vereinigen lassen sich eure Wünsche nicht;
bisher hat der Grundbesitz den Vortheil gehabt, von heute ab mag er den
andern zu gut kommen. — Ganz anders steht es um den dritten Einwand,
der von den Vertretern der Resolution gemacht ist. Auch hier handelt es sich
darum, daß der Handels- und Gewerbestand ein Opfer bringen soll, aber
nicht für einen andern, einzelnen Stand, sondern zum Wohl des Ganzen.
Auch hier ist von der Noth und Bedrückung der Armen und kleinen Leute die
Rede, aber nicht von dem Standpunkt des weichherzigen Mannes, des Men¬
schenfreunds, sondern von dem des Staatsmannes aus. Das ist ein Gesichts¬
punkt, unter dem die Opposition gegen Zinsfreiheit sich rechtfertigen ließe,
wenn auch zehnmal bewiesen wäre, daß die Wuchergesetze den schnellen Fort¬
schritt des Wohlstandes hemmen und daß sie täglich umgangen werden sonnen.
Denn hier befinden wir uns auf dem Gebiet der staatlichen Ethik, welche
andere Ziele hat als die ökonomische Prosperität, und der bloßen Zweck¬
mäßigkeit keine Concessionen macht.
Wenn das Volksleben noch jung und die Macht des Staats gering ist,
wird, namentlich wo verschiedene Nationalitäten in demselben Gemeinwesen
neben- oder übereinander stehn, leicht der Fall eintreten, daß es einer bereits
durch irgend etwas ausgezeichneten Classe gelingt, nicht blos den Einfluß des
Staats auf ihrem Gebiet auszuschließen, sondern die staatlichen Kruste selbst
zu ihren Sonderintercssen zu benutzen. Jede dauernde gesellschaftliche Stellung
beruht aber wesentlich auf dem Besitz. Einmal zu dieser Einsicht gelangt, wird
die mächtige Classe also bemüht sein, sich durch ein besondres Erb- und Ehr¬
recht und durch Vcräußcrungsvcrbote im Besitz der vorhandenen Güter zu er¬
halten, die übrigen Classen von der Erwerbung dieser auszuschließen und an
der Production neuer Güter durch Beschränkung der freien Arbeit und geistigen
Bildung zu hindern. Dadurch behält sie allein die wenigen überhaupt vor¬
handenen Capitalien in Händen und da neue sich nicht bilden dürfen, übt sie
im strengsten Sinne des Worts ein Monopol, das die wirthschaftliche und
persönliche selbstständigere vernichtet und schließlich zur gewaltsamen Empö¬
rung der Bedrückten oder zur Versumpfung des gesammten Staats führt. Das
ist die kurze Skizze eines Bildes, das man in der Geschichte mehr als einmal
mit allen Einzelheiten und Farben ausgeführt finden wird, das der Zustand,
welcher dem Staat die Pflicht auferlegt, mit seiner Kraft dem Schwachen zu
Hilfe zu kommen und dem Starken ein Ziel zu setzen, über das hin¬
aus er seine Macht nicht brauchen darf. Was vor Jahrhunderten und
durch Jahrhunderte allgemeingültig bestanden hat, ist nicht ohne Grund
gewesen, und wer die Weisheit darin verkennen wollte, machte sich
desselben Fehlers schuldig wie der, welcher alles, was einmal richtig ge¬
wesen ist. als die Richtschnur aller Zeit betrachtet sehen will. Kein positives
Recht ist ohne bestimmte gesellschaftliche Zustände zu verstehen und die Ver¬
nunft Unsinn, Wohlthat Plage, wo jenes bleibt, wenn diese längst gewechselt
haben. Auch heute gibt der Besitz in Preußen Macht und Vortheile, aber
Fleiß und Bildung machen ihn jedem zugänglich; auch Capitalien werden
nach wie vor gesucht, aber ihre Anzahl steht in einem ganz andern Verhält-
riß zur Größe der Bevölkerung und sie befinden sich nicht mehr im Besitz eines
geschlossenen Standes, Den Tausenden, welche Capital suchen, stehen Hunderte
gegenüber, welche Capital anbieten, und um in ruhigem Genuß aber in gei¬
stiger Arbeit zu leben, gern mit einem mäßigen Antheil an dem zufrieden sind,
was andere mit ihrem Gelde verdienen. Daß dieser Antheil aber eine Quote
jenes Gewinns mit Rücksicht auf die größere oder geringere Sicherheit des Dar¬
lehens sei, und nicht ein gesetzliches Maximum, ist billig. Banken und Bankiers
stehen den großen Geschäftsleuten offen, Leihhäuser und Borschnßvcreine geben
den Kleinen Credit, jene gegen sachliche, diese gegen bloße persönliche Sicher¬
heit. Was in den Städten sich schon nach kurzer Zeit so segensreich gezeigt
hat, wird sich in etwas veränderter Form wol auf das Land übertragen lassen,
auf dem der Uebergang von der Naturalwirtschaft zur Geldwirthschaft sich
entweder ganz oder fast ganz vollzogen hat. So stehen die Kräfte des Ca-
pitals und der capitallosen Arbeit sich ziemlich gleich gegenüber und würden
sich ganz gleich stehen, wenn nicht der Arbeit ein Recht versagt wäre, das
dem Capital nicht versagt werden kann- das Recht, gesetzlich für die Ein¬
zelnen gestattete Befugnisse z. B.Arbeitseinstellung auf gemeinsame Ver¬
abredung auszuführen. Mau besorgt, daß hierbei zu leicht ein Zwang der
Unzufriednen auf die Zufriednen und Ruhigen geübt werden, daß die gleich¬
zeitige Unthätigkeit so vieler arbeitsgewohnter Hände leicht zu bedenklichen
Excessen führen könne, und untersagt deshalb bisher auf dem Continent all-
gemein die Strikes. Nothwendig aber sind jene Ungehörigkeiten mit den
Strikes nicht verbunden, wie England zeigt, und deshalb sollte man diese
zwar verhüten, im klebrigen aber dem --«r e^z^i' capitallosen Stande nicht
seine einzig wirksame Waffe gegen ungebührliche Ausbeutung des unbeschränk¬
ten Capitals nehmen.
Unter diesen Voraussetzungen kann dann von Aussaugung einer Classe
durch die andre nicht mehr die Rede sein, sondern höchstens von Ausbeutung
eines Einzelnen durch.den andern Einzelnen, der in der Regel auf derselben
gesellschaftlichen Stufe mit ihm stehen wird. Das zu hindern, wenn es nicht
mit Gewalt oder Betrug geschieht, hat der Staat keine Mittel, und hat sie
in den Wuchergesetzen wahrhaftig nicht gehabt. Es ist geschehen und wird
geschehen, so lange flaue Zeiten, unsichre Hypotheken, Sessionen, Wechsel und
Nothverkänfe sich nicht fortdccretiren lassen, so lange ein gesetzliches Maß von
Edelmuth und Nächstenliebe sich nicht befehlen läßt.
Man kann der heutigen Nationalökonomie wahrhaftig nicht mehr vor¬
werfen, daß sie bei allen Dingen nur frage, wie viel Procente sie bringen.
Sie hat es längst erkannt, daß die Volkswirtschaft ein reicher Organismus
ist. der nur mit einem kerngesunden Volksleben zur vollen Blüte kommt, und
mit ihm vergeht. Aber alles wohl erwogen: wir sind überzeugt, daß die
Wucherische in Preußen eine Anomalie geworden sind und daß sie in nächster
Zukunft fallen müssen.
Es sind jetzt 7t) Jahre, daß der Serbe Georg Petrowitsch, der
Schwarze, als junger Mann vor den Türken nach „Deutschland" in die östrei¬
chischen Donauländer floh. Als das Wasser der weißen save seinen bewaffne¬
ten Haufen eutgegenblinkte, ergriff den alten Vater des Heiduckenführers 'das
Heimweh und er sprach: „wir wollen uns vor den Türken demüthigen, mein
Sohn, bleibe hier, daß dir das Brot nicht zum Fluch werde, das du bei mir
gegessen". Georg schritt vorwärts dem Grenzflüsse zu; da sprach der Vater
kleinmüthig, „so geh allein, ich will in der Heimath sterben". Wie wirst du
sterben? rief der schwarze Heiduck, die Türken werden dich langsam zu Tode
martern. Willst du hier sterben, so sollst du von einer Serbenkugel sterben.
Er zog seine Pistole aus dem Gurt, schoß seinen Vater nieder und rief dein
Diener zu: gib ihm den Todesstoß. Den Leuten aber im Grenzdorf sagte
er, „gebet den? Alten ein Grab und seiner Seele das Todtenmahl". Darauf
schenkte er seinen Monden und den Dorfleuten sein Vieh, das er vor sich her trieb
und alle seine Habe und fuhr über die weiße save. — Dieser wilde Führer
von Heiducken und Momken wurde 20 Jahre später der Begründer eines neuen
Staates. So nahe jene Zeit um der unsern liegt, so hängt doch an seiner
Person, seinen Thaten und .Kämpfen schon vieles sagenhafte, und die serbi¬
schen Lieder, welche bis zur Gegenwart bei jeder Gelegenheit aufschössen, find
für manche Ereignisse seiner Zeit die einzige unsichere Quelle. Er soll um 1807
in allgemeiner Landesversammlllng vom Volke zum Erbfürsten und Herrscher von
Serbien gewählt worden sein. Die Pforte hat ihn jedenfalls nicht anerkannt.
Er wurde wieder vertrieben. Im Jahr 1815 begründete der Führer eines
zweiten Aufstandes gegen die Türken, Müosch Obrenowltsch, aufs Neue ein.
nationales Regiment, zunächst als Kres von der türkischen Regierung ein¬
gesetzt, von Rußland protegirt, seit 1830 als Erbfürst von Serbien durch sei¬
nen Oberherrn, den Sultan, anerkannt. Seine Paschaherrschaft ward 1842
durch eine neue Revolution beendigt und der Sohn des schwarzen Georg,
Fürst Alexander Karageorgewitsch durch die Pforte als Dynast für seine Person
anerkannt, ohne daß seiner Familie die Erblichkeit bewilligt wurde. Noch heute
ist diese Lebensfrage für sem Geschlecht nicht gelöst und die letzten Monate
haben gezeigt, daß eine Partei in Serbien die Unsicherheit seiner Stellung
ausbeuten wollte, ihn zu stürzen, zuletzt sogar durch einen ruchlosen Mord.
Demohngeachtet ist Serbien 1856 durch den pariser Frieden in eine neue
Phase seiner Entwicklung getreten. Während das staatsrechtliche Verhältniß des
Landes zu seinem Suzerän seit der ersten serbischen Revolution nur durch Ver¬
träge der ottomanischen Pforte mit Rußland geschützt war. ist das Territorium
seit dem orientalischen Kriege unter die Collectivgarantie sämmtlicher Theil-
nehmer am pariser Frieden gestellt. Dadurch ist die politische Stellung des
Fürstenthums radical geändert worden. Und da eine künftige Lösung der gro¬
ßen orientalischen Frage durch diese Veränderung stark beeinflußt werden kann,
hat dieser kleine Staat im Süden der Donau Anspruch aus größere Beachtung
der deutschen Leser, als sie ihm bis jetzt wol gegönnt haben.
Noch vor 50 Jahren kannte man in Serbien außer wenigen religiösen
Büchern keine Literatur, die eintönigen Klänge der Gusle allein verkündeten
Thaten, Liebe und Haß des rohen, aber kräftigen Stammes. Daß jetzt in
deutscher Sprache ein Staatsrecht des Fürstenthums Serbien erscheint, darf,
wenn auch weiter nichts von den Fortschritten der Bildung in jenem Lande
bekannt wäre, als ein Zeichen betrachtet werden, daß das Ringen nach staat¬
licher Selbstständigfeit auch dort schon in den gebahnten Wegen des modernen Le¬
bens vorwärts geht. Noch erfreulicher ist, daß das Buch als die Arbeit eines
wissenschaftlich gebildeten Mannes gerühmt werden kann, der uns einer nord¬
deutschen Universität als Jurist geschult wurde und im Staatsrecht, wie in den
philosophischen Disciplinen ein nicht gemeines Wissen bewährt. Sein Werk
umfaßt in zwei Büchern Verfassungs- und Verwaltungsrecht und lehrt die
Theorie der Gesetzgebung und Verwaltung, Polizei, Rechtspflege, Heer, Finan¬
zen, Landwirihschaft, Gewerbe, Handel und Bildungsinstitute in übersichtlicher
Weise kennen. Allerdings empfindet man an einzelnen Stellen heraus, daß der
Verfasser das Interesse hat, die legalen Zustände des jungen Staates in gutem
Lichte zu zeigen, doch verletzt seine bescheidene Interpretation der Gesetze nir¬
gend. Das Werk verdient die Beachtung nicht nur des Politikers von Fach,
sondern aller, welche an Politik ein ernstes Interesse nehmen.
Hier wird es Veranlassung zu einem schnellen Blick auf die gegenwärtige
Lage der Südslavenländer. Es ist bekannt, daß der große Serbenstamm,
welcher von den dalmatischen Bergen bis an die Küste des schwarzen Meeres
reicht und die türkischen Landschaften: die Herzegowina, Montenegro, Serbien
und Bulgarien umfaßt, durch gemeinsame Sprache, Sitten und Traditionen und
in neuerer Zeit durch gemeinsame Wünsche verbunden ist. Zum größten Theil
durch Waffengewalt den Türken unterworfen, hatte er im Gegensatz zu den
Rumänen seine politische Selbstständigfeit in den vorigen Jahrhunderten ganz
verloren. Am meisten in der Herzegowina und Bosnien, wo der alte, Land-
adel und die begüterten Städter den türkischen Glauben annahmen und zu der
christlichen Majorität des Landvolkes, der Rajah, in einen feindlichen Gegensatz
traten, welcher diese Landschaft bis jetzt politisch todt erhalten hat und ihre
Zukunft zu einem durchaus schwierigen Problem für Weltverbesserer macht. In
den unzugänglichen Bergen Montenegros,hatte sich wenigstens thatsächliche Un¬
abhängigkeit und unter den Serben eine alterthümliche Freiheit der Communen
erhalten, welche als die beste Quelle ihrer nationalen Kraft anzusehn ist. So
lange Nußland ungehemmt gegen die Pforte vorschritt, war seine Politik, das
nationale und christliche Element in diesen Landschaften gegen die Türken zu
stützen. Emissäre und Geldsendungen gingen seit Peter dem Großen nach
der Tschernagora und nach Kragujewatz, die Träume der Panslavisien wur¬
den durch Kaiser Nikolaus in Nußland selbst nach Sibirien gewiesen, bei den
Südslaven unterstützt. Als das serbische Volk durchsetzte, daß die Türken aus
dem Flachland wichen und ihren Aufenthalt nur in vier befestigten Orten nehmen
durften, richteten sich die Blicke der christlichen Seelen in Bosnien und Montene¬
gro immer mehr nach Serbien, von dort erhielten sie Waffen, Führer, zuletzt sogar
Bücher. Allerdings darf man sich den Zusammenhang in früherer Zeit nicht
zu innig und planvoll denken. Einzelne Bosniaten, welche ein Pascha be¬
drohte, fanden in Serbien Zuflucht und in Jahren großer Gährung schmuggelte
man von dort Pulver und die Schlachtmesser ein, an der Grenze sang man
die gemeinschaftlichen Heldenlieder, böhmische und serbische Ninderdiebc schlös¬
sen die heilige Bnndesbrüderschast und die wildesten Momken im Gefolge
des Mladcn oder Milosch waren Montenegriner oder Bosniaten. Seit
dem ungarischen und orientalischen Kriege ist das Gefühl der Zusammen¬
gehörigkeit aber stärker geworden und die Unzufriedenheit, welche die böhmi¬
schen Rajah unter die Waffen gerufen hat, wird schwerlich durch das Pfühlen und
Enthaupten einiger Dutzend Aufrührer gebändigt werden. Denn wie groß die Roh¬
heit und wie gemein der Egoismus der Christen in Montenegro und Bosnien
sein mögen, auch dort ist die Empfindung lebhaft, daß sie in ihrer Isolirung
nicht bestehn können und einen Anschluß außerhalb zu gewinnen haben. Den
Montenegrinern hatte ein seltsames Geschick in dem verstorbenen Vladika einen
hochfliegenden Romantiker geschenkt, der zu Prag auf dem Slavcncongreß und
dann zu Pans in seiner ausfallenden Tracht, bald als Priester, bald als Krieger
zu prunken liebte, der Bildung höchlich achtete, das Kopfabschneiden seiner
Leute als eine schlechte Gewohnheit mißbilligte und in reiner serbischer Sprache
einige Trauerspiele schrieb, die er bei einem Glase Bordeaux den wenigen sla¬
vischen Literaten wohlwollend mittheilte, welche in seine Wildniß drangen. Das
Ansehn, welches er sich durch seine auswärtigen Verbindungen zu geben wußte
und noch mehr eine Unterstützung von 30,000 Gulden C. M., russischer Ge¬
halt, welchen er statt de,r früheren 1000 Ducaten von Kaiser Nikolaus er-
hielt, machten ihn in seiner Heimath zu einem großen Mann. Sein
Nachfolger Danilo,.wie es scheint, ein zügelloser und begehrlicher Thor,
hat, wenn dem Gerücht zu trauen ist, seit dem orientalischen Kriege die rus¬
sische Pension verloren und damit den größten Theil seines Einflusses; das
Land wird durch Factionen zerrüttet und die Zustande dort scheinen selbst für
die Montenegriner unerträglich zu werden.
In Bosnien dagegen hat die von der Pforte versprochene Gleichstellung
der Christen mit Muhammedanern, die immer gedrückte und unzufriedene christ¬
liche Bevölkerung heftig aufgeregt, sie haben wieder einmal die Waffen er¬
griffen und den muhammedanischen Gutsherrn, welche von den in Bosnien
ansässigen Türken unterstützt werden, mehre kleine Treffen geliefert. Der
neue böhmische Aufstand, ein türkischer Bundschuh, ist eine demokratische, durch¬
aus nicht unberechtigte Erhebung der Gedruckten und Zahlenden gegen die
privilegirten Classen, zu denen auch die griechischen Geistlichen des Landes zu
gehören scheinen. Bekanntlich hängt der größte Theil der böhmischen Rnjah von
der griechischen Kirche ab und erkennt in dem Patriarchen von Konstantinopel
sein geistliches Haupt. Doch ist die Anzahl der griechisch unirten d. h. ka¬
tholischen Bosniaken nicht unbedeutend und nicht einflußlos und dieser Theil
der Bevölkerung ist vorzugsweise auf die Hilfe Oestreichs angewiesen.
Seit der Regeneration des Kaiserstaates hat die Regierung lange Ver¬
säumtes auch im Südosten nachgeholt und Einfluß auf die Südslavenländer
durchgesetzt. Schon im Sommer 43 waren böhmische Vcgs und Agas über
die save gekommen und hatten dem Ban Jclacic, den sie für einen halben
Landsmann hielten, ihre Handjarö gegen die Ungarn angeboten, im November
desselben Jahres hatte Blaoika Peter II. die Keckheit, wieder durch den Ban
den Oestreichern I0,0»c> Mann Hilfstruppen anzubieten. Beide Vorschläge
wurden abgelehnt, doch war nicht zu verhindern, daß mit dem Serbengene¬
ral Knicanin eine Menge wilden Gesindels aus Bosnien und Montenegro
über die Grenze kam. Es hat damals um Weißenburg nud Titel schändlich
gehaust. Seit der Zeit hat sich Oestreich allmälig die letzte Entscheidung über
die Geschicke Montenegros angeeignet und seine Schutzberrschafl ist factisch an
die Stelle der russischen getreten. In der That ist es zu solcher Rolle viel
besser berechtigt als Rußland, denn es sind seine Unterthanen, die Bocchesen
von Cattaro, welche Jahrhunderte lang durch die Montenegriner beunruhiget
wurden und seine Berglandschaften, welche die Biehezporte aus der Herzego¬
wina nicht entbehren können)
Außerdem hat man in Oestreich erkannt, daß der künftige Besitz der Her¬
zegowina und Bosniens, so wie des strategisch dazu gehörenden Serben¬
landes auch der Theil der orientalischen Erbschaft ist, welcher bei einer künftigen -
Regelung am schwersten verweigert werden kann. Alle Cultur in Bosnien ist
abhängig von freier Communication mit derSccküste; durch die Pässe und sel¬
tenen Thaleinschnitte der steilen dalmatischen Gebirge drangen schon in der
Römerzeit italische Kaufleute und römische Heerschaaren in die isolirte Land¬
schaft ein. Oestreich hat ein starkes Interesse, die Bildung eines selbststän-
digen Staates im Süden der Donau zu verhindern und ein noch grö¬
ßeres, die fruchtbaren Thäler für sich zu erwerben. Eine Vergrößerung
Oestreichs in diesen Landschaften aber liegt auch im deutschen Interesse.
Zunächst weil eine entsprechende Vergrößerung Pre-ußens die politische
Folge sein müßte, ferner aber, weil jeder Fortschritt Oestreichs in diesen
Landschaften ein wesentlicher Fortschritt deutscher Intelligenz und Kraft
fein würde.
Aus alle dem ergeben sich folgende Möglichkeiten für die Entwickelung
der Südslavenländer in der nächsten Zukunft. Entweder erwirbt Oestreich
bei der großen Auftheilung der Türkei, welche uns unvermeidlich scheint, die
Thäler der Narenta und die böhmischen Hügellandschaften für sich. In die¬
sem Fall wird Serbien schwerlich den Druck aushalte», welcher durch den
großen Nachbarstaat von zwei Seiten auf sein Territorium ausgeübt wird,
und in diesem Fall wird die Zukunft der Südslavenländer die sein, im
Schatten des östreichischen Doppeladlers deutsche Cultur zu erwerben. Ein
Schicksal, welches wir um so weniger für ein Unglück hakten, da schon jetzt
Mvntenegnner und Serben ihre politischen Abhandlungen deutsch zu schreiben
genöthigt sind, wenn sie auch nur vou deu Gebildeten anderer Slavenstämme
gelesen sein wollen. Dies Schicksal aber wird den Serbenländern werden,
falls Oestreich nicht mit Consequenz eine Politik verfolgt, welche den Staat
isolirt. Sollte sich aber die Türkei unter Verhältnissen auflösen, welche für
Oestreich im höchste» Grade nachtheilig wären, so ist Serbien die Möglich¬
keit gegeben, als selbstständiger Staat Bosnien, die Herzegowina, und
Bulgarien an sich zu ziehen. Und in diesem Fall würde ein Slavenreich
von etwa fünf Millionen Menschen die Landbauer von den schwarzen Bergen
bis zum schwarzen Meer umspannen. Das ist zwar nicht wahrscheinlich, aber
es ist nicht unmöglich.
Ein serbischer Politiker nun, der in die Zukunft seines Vaterlandes hinein¬
denkt, kann ans diese letzten Möglichkeiten keinen directen Einfluß ausüben.
Wol aber kann er dazu beitragen, sein Vaterland tüchtig und geachtet zu
machen. Die letzte elende Senatsvcrschwörung war nicht angethan, ein Helles
Bild von den Culturzuständcn Serbiens zu geben. Wir freuen uns, daß
dein vorliegenden Buch' gelingen wird, freundlichere Ansichten über Leben und
Bildung im Süden Belgrads zu verbreiten.
Wer aber irgend welchen Einfluß auf Serbiens Politik ausübt, der
sollte — so meinen wir — alles daran setzen, dem gegenwärtigen Fürsten
die Erblichkeit seiner Würde zu gewinnen. So lange Serbien unter dem
Namen eines „Wahlreichs", oder einer türkischen Commandite, welcher die
Pforte den neuen Geschäftsführer einsehen kann, existirt, ist an einen sicheren Fort¬
schritt in Cultur, Kraft und Ansetzn nicht zu denken. Erst ein christliches erb¬
liches Fürstenhaus wird der relativen Unabhängigkeit Dauer, der Verfassung
Sicherheit, dem Volke Bildung geben. Ohne diese Garantie sind die Nach¬
folger des schwarzen Georg in den Augen der europäischen Staatsmänner
wenig mehr als der finstere alte Heiduckenführer war. Werkzeuge, die man
gebraucht, bezahlt und wegwirft.
Wir haben kürzlich bei Besprechung der Memoiren von Lord Normcmby
die Frage berührt, ob und inwieweit ein Staatsmann Memoiren über seine
Thätigkeit herausgeben darf, wir glauben, daß diese Frage weiter gesaßt einer
nähern Erörterung werth ist und wollen zu ermitteln suchen, unter welchen
Umständen es erlaubt ist, über Verhältnisse, deren Kenntniß man seiner Stellung
im Staatsdienst verdankt, öffentliche Mittheilungen zu machen. Es kann kein
Zweifel darüber walten, daß im Allgemeinen solche Mittheilungen nicht statthaft
sind; derNechtsauwalt, der dasGeheimnißseinesClientennichtwahrt, dcrArzt, der
seiner Kunden persönliche Verhältnisse mißbraucht, werden von ihren Genossen
wie von der Welt geflohen; in noch höherm Grade soll der Staatsdiener,
dessen Thätigkeit das Wohl der Gesammtheit berührt, seine Verschwiegenheit
bewahren. Wollte der Gesandte seine Depeschen bekannt machen oder der
geheime Rath erzählen, was in der letzten Sitzung des Ministeriums vor¬
gefallen, so wäre keine Diplomatie oder amtliche Berathung mehr möglich;
am wenigsten aber darf eine solche Indiskretion durch die Presse begangen
werden, wodurch sie aller Welt bekannt wird. Es fragt sich also nur, welches
sind die Umstünde, die eine Ausnahme von dieser Regel erlauben oder sogar
gebieten? Gehen wir bei dieser Betrachtung zuerst auf unsern Ausgangspunkt,
die Memoiren Normanbys. zurück. Die schriftlichen Aufzeichnungen eines
Gesandten bestehen vornehmlich in den gewöhnlichen oder geheimen Depeschen,
welche die Korrespondenz mit seinem Ministerium und der Regierung, bei
welcher er beglaubigt ist, bilden. Diese Actenstücke sind natürlich in einem
besondern Grade geheimzuhalten und nur mit Wissen und Willen der höchsten
vorgesetzten Behörde dritten Personen mitzutheilen. Neben der officiellen Cor-
respondenz wird aber meist eine vertrauliche hergehen, in die Privatbezichungen
mehr oder weniger hincmspicle», BiKete, Aufzeichnungen über Unterhaltungen
mit interessanten Persönlichkeiten, in häusigen Fällen auch ein ständiges oder
zeitweiliges Tagebuch. Die Revue Netrospective hat in ihren Enthüllungen über
die Julimonarchie hiervon ein lebendiges Bild gegeben. Diese Schriftstücke
gehören nicht eigentlich zur amtlichen Thätigkeit des Gesandten, sind aber für
dieselbe, namentlich in unsern Tagen, nicht weniger wichtig. Da ein großer
Theil der Depeschen jetzt schon mit Rücksicht auf ihre baldige Veröffentlichung
.geschrieben werden, damit sich die Negierung durch dieselben vor dem Lande
oder dessen Vertretern rechtfertigen könne, so werden oft grade die wichtigsten
Dinge, die eben nicht zur Kenntniß aller Welt kommen sollen, in geheimen
oder privaten Briefen verhandelt, in diesen ist daher der eigentliche Schlüssel
zu der officiellen Korrespondenz zu suchen. Niemand wird z. B. glauben, daß
bei der letzten englischen Ministcrkrisis das ganze Resultat der Unterhandlungen
in den veröffentlichten Depeschen des Grafen Walewski und Lord Cowleys
liegt und es war sicher grade weil die Mehrzahl der Mitglieder des Unter¬
hauses wußte oder aHute, daß nebenher Dinge vorgefallen waren, welche nicht
in der Ordnung waren, daß das Votum vom 19. Februar stattfand. Je
wichtiger nun die Aufzeichnungen über solche Vorgänge sind, desto mehr muß
die Negierung eines Landes ihre Geheimhaltung verlangen und sich selbst
allein vorbehalten zu bestimmen, in wie weit davon etwas bekannt werden
darf. Nichts hat z. B. wol die Tieferblickcnden über die wahren Absichten Ru߬
lands so aufgeklärt als die Herausgabe des Portfolio, man verdankte sie der
polnischen Revolution, wo jene geheimen Actenstücke im warschauer Palast
gefunden wurden. Hätte aber ein Nüsse sie herausgegeben, so hätte er ohne.
Zweifel von seiner Regierung dafür als für eine hochverräterische Handlung
bestraft werden müssen. Auch Briefe dritter Personen muß ein Staatsmann
sür sich behalte», ein Brief ist eben eine Mittheilung des Schreibers an den
Empfänger allein und nur wo letzterer ganz sicher ist, daß es in der Absicht
des erstem liegt, seine Mittheilung auch einem dritten zukommen zu lassen,
darf er weitern Gebrauch davon machen. Briefe, welche nicht geheimgehalten
werden sollen, nennt man darum offne Briefe.
Depeschen, Denkschriften, politische Privatcorrcspondeuz sind unbedingtes
Geheimniß, das ist die unzweifelhafte Regel, die so selten wird verletzt werden
dürfen, daß sich die Ausnahmen schwer angeben lassen, denken lassen sie sich
allerdings. Nehmen wir den Fall an, daß ein englischer Pair, der früher
einen Gesandtschaftsposten bekleidete, hört, wie im Oberhause cikfMinister eine
vollkommen falsche Darstellung von Dingen gibt, bei denen er als Gesandter
thätig war, so wird er berechtigt sein zu rcmonstriren, den Minister zurecht¬
zuweisen und eventuell, wenn es ihm das Staatswohl zu gebieten scheint,
den wahren Sachverhalt zu enthülle». Allein das sind extreme' Fälle, wo
das 8l>,In8 roiiZiMieae 8ni,r«na lox eintritt und also keine Regel angegeben
werden sann.
Es bleiben somit von den Aufzeichnungen eines Gesandten oder Staats¬
mannes nur noch die Memoiren, von denen es fraglich ist. ob ihre Veröffent¬
lichung erlaubt ist. Wir begegnen hier zwei entgegenstehenden Meinungen.
Die einen sagen, der Politiker sei es seinen Zeitgenossen schuldig, sie aus dein
Schatz seiner Erfahrungen zu belehren, die andern meinen, er dürfe überhaupt
gar nicht schreiben. Beides ist irrig, es ist nicht abzusehen, weshalb nicht ein
Staatsmann z. B. über Kunst oder wissenschaftliche Gegenstände schreiben sollte,
wenn er nur uicht grade seine Staatskunst gegen die privaten Lieblings¬
beschäftigungen zurücksetzt, (ein emeritirter preußischer Diplomat bekannte kürz¬
lich in einem offenen Briefe, dies immer gethan zu haben). Wilhelm von
Humboldt wird seine schriftstellerische Thätigkeit wahrlich nicht in seiner
Stellung geschadet, sondern ihn im Gegentheil gehoben haben. Aber auch poli¬
tische Fragen darf ein Staatsmann besprechen, wenn es in rechter Weise geschieht.
Niemand wird es Niebuhr verarge haben, daß er in seiner römischen Geschichte
nicht nur politische Grundsätze entwickelte, sondern auch seine praktischen Erfah¬
rungen im Staatsleben benutzte, um die gefchichtlicken Constellationen zu beleuchten
und zu erklären. Die Frage ist nur, darf ein Staatsmann oder specieller ein
Gesandter über das schreiben, was er in seiner amtlichen Stellung erfahren?
Die Memoiren eines solchen Mannes werden entweder in einem gleichzeitig
geführten Tagebuche oder nach demselben resp, aus der Erinnerung verfaßten
Aufzeichnungen bestehen, sie mögen privater Natur sein, mit abliegenden Be¬
trachtungen durchwvven, aber ihr wesentlicher Inhalt, um dessenwillen sie In¬
teresse erregen, werden doch die Vorgänge sein, zu denen der Verfasser'eine officielle
Stellung einnahm. Unkunde und private Anschauungen lassen sich hier nicht
trennen, ein Gesandter wird sich z. B. bemühen, den treffendsten Ausdruck für
eine Sachlage in seiner Depesche zu wählen, wird er aber einen weniger
treffenden in sein Journal eintragen, damit demselben der private Charakter
erhalten bleibe? Ein besonders wichtiger Umstand kommt ihm zu Ohren, er
telegraphirt ihn an seine Negierung, wird er Ihn in seinem Tagebuch aus¬
lassen? So ist es ganz natürlich, wenn Lord Normcmby, nachdem er vorher
erklärt, sich aller Mittheilungen enthalten zu wollen, welche seine Amtsgeschäfte
berührten, doch nachher sagt,'daß, wenn fortwährende Berichterstattung neben
einem fast täglich geführten Privatjournal hergeht, es nur natürlich sei, daß
dieselben Ereignisse oft in denselben Ausdrücken in beiden aufgezeichnet werden.
Es mag sehr verdienstlich sein, das Publicum über Ereignisse, zu denen man
den Schlüssel besitzt oder doch zu besitzen glaubt aufzuklären, alun- die erste
Pflicht eines Staatsdieners ist, den Interessen seines Landes und seiner
Negierung in allen Handlungen Rechnung zu tragen, und nur wenn beides
vereinbar ist. darf der Staatsmann Memoiren veröffentlichen, er sollte des¬
halb in der Regel die Genehmigung seiner Negierung vorher nachsuchen. Um¬
stände können davon allerdings dispensiren. Nehmen wir z. B. den Fall, daß
ein Gesandter, der unter einem Whigministerium diente, seine Memoiren unter
einem Toryministerium veröffentlichen wollte und sicher voraussähe, daß die
Genehmigung ihm aus bloßen Parteigründen verweigert würde, nichts desto
weniger aber glaubte, daß die Veröffentlichung für sein Land wichtig wäre.
Die Umstände entscheiden hier die Frage, es kommt erstens auf den Gegen¬
stand an, über den sich die Memoiren verbreiten. So findet es z. B. niemand
tadelnswerth, daß Sir Robert Peels Papiere über die Korngesetze heraus¬
gegeben sind, die Debatte war öffentlich, die persönlichen Gegensätze haben
sich verwischt, die Maßregel wird von niemand mehr in Frage gestellt. Ein
zweites wesentliches Moment ist die Art der Abfassung, die Schonung aller
persönlichen Beziehungen, mit einem Worte, der Takt. Das dritte und wich¬
tigste ist die Zeit der Veröffentlichung. Hier wie bei Ort und Gegenstand
ist alles relativ, es mag oft schwer sein den Punkt zu bestimmen, wo das
Unkunde und Persönliche in das Historische aufgeht, aber mau möge lieber
etwas an sich halten als zu früh sprechen. Daß ein Politiker Aufzeichnungen
über seine Erlebnisse macht, ist nicht nur in der Ordnung, sondern auch noth¬
wendig, man kann das Zartgefühl ehren, welches Papiere vernichtet, die dritte
Personen compromittiren, aber die Welt und die historische Wahrheit, die
doch über kurz oder lang um den Tag kommen soll, verliert dadurch und der
Discretion ist genügt, wenn Vorkehrungen gegen un zeitige Veröffentlichung
getroffen sind.
Von der Frage, ob man unter obigen Umständen unter seinem Namen
Memoiren herausgeben darf, ist die verschieden, ob ein Staatsbeamter anonym
in der Tagespresse schreiben dürfe? Dies ward im vorigen Jahre lebhaft in
England besprochen, da Lord Clarendon einige Angestellte des auswärtigen
Ministeriums entlassen hatte, weil er erfahren, daß sie und zwar nicht in sei¬
nem Sinne, ihre Feder brauchten. Wie, sagten einige, hat man damit, daß
man in Staatsdienst tritt, das Recht verloren, eine unabhängige Meinung
zu haben und zu äußern, steht es nicht jedem Engländer frei zu denken, zu
sprechen und zu schreiben, wie er will? — Dies Raisonnement geht offenbar
ins Blaue. Allerdings hat jeder Engländer im Allgemeinen jene Freiheit,
so lange ihn nicht entgegenstehende Verpflichtungen binden. Ich habe das Recht
zu gehen wohin ich will, aber dies Recht wird beschränkt durch die entgegen¬
stehenden- Rechte andrer, auf meines Nachbars Blumenbeeten darf ich eben
nicht spazieren gehen. Wenn jene freien Engländer schreiben wollen, was sie
denken, so müssen sie sich dem Staate gegenüber nicht durch Annahme eines
Amtes binden, sie können auch in vielen Stellen schreiben, nämlich mit Vor-
wissen und Billigung ihrer obern Behörde, in deren Dienst sie doch nur treten
werden, wenn sie mit ihr übereinstimmen, Stimmen sie ihr aber nicht mehr
bei, so haben sie nur die Wahl entweder zu schweigen und sich möglichst
passiv zu verhalten oder wenn der Drang dagegen zu sprechen und zu schreiben
unwiderstehlich ist, ihre Stellen auszugeben. Im Amte aber gegen Maßregeln
seiner Regierung zu schreiben ist nur zu tadeln, es bringt den Untergebenen
in eine durchaus falsche Stellung und kann von dem Vorgesetzten nnr als.
Insubordination angesehen werden. Je höher unsre Meinung vou der Auf¬
gabe der Presse ist, desto weniger dürfen wir wünschen Kräfte für sie zu ge¬
winnen, welche ihr nicht angehören dürfen.
Wol in reinem Lande leben die Juden so zahlreich und so dicht bei-
jammen. als in Polen und namentlich in Galizien; in wenigen Ländern
haben sie infolge dessen ihre alten Sitten und ihren ursprünglichen Volks-
charakter so treu bewahrt. Die polnischen Juden sind, so viel uns bekannt',
die einzigen ihres Stammes in Europa, die noch in allen Punkten an den
Traditionen ihrer Väter halten und in nichts von den Vorschriften ihres
Gesehbuchs, des Talmuds, abweichen. Sie sind ohne Ausnahme im hohen
Grade pünktlich in Erfüllung religiöser Pflichten und verwenden mehre Senn-
. den des Tages zum Gebet, welches freilich im Grunde nur ein gedanken¬
loser Ceremoniendienst ist und auf den Fremden, der zum erstenmal Augen¬
zeuge ist. eher einen komischen, als einen feierlichen Eindruck macht. Das
Hauptgebct wird des Morgens und zwar gewöhnlich in der Synagoge oder,
wie die Juden sich ausdrücken,^ in der Schule gesprochen. Hier stellt sich
jeder für sich an ein Fenster oder in einen Winkel, legt ein hebräisches Buch
vor sich, hängt, nachdem er ein kleines schwarzes Kästchen aus den Kopf
gesetzt hat, ein großes weißes Tuch darüber, umwickelt den bloßen Arm mit
Riemen, die er während des Gebets nach bestimmten Regeln wieder auf-
und abwindet und beginnt nun unter fortwährenden Beugungen des Körpers
nach vor- und rückwärts ein Gebet in hebräischer Sprache zu sprechen.
Anfangs ist es ein leises Gemurmel. dann erhebt der Betende die Stimme,
um sie gleich darauf wieder fallen zu lassen, so daß das Ganze einem äu¬
ßerst monotonen Gesänge gleicht. Da dies aber jeder für sich thut und
durchaus nicht im Einklang mit der Gemeinde, ,so kann man sich denken,
was bei einer Versammlung von mehren hundert Personen für ein Tumult
daraus entstehen muß.
Noch schlimmer ist dies bei den sogenannten Hassitten oder Altgläubigen
einer Sekte, die in Erfüllung ihrer religiösen Pflichten noch strenger ist und
beim Gebet aus vollem Halse schreit. Das Morgengebet nimmt gewöhnlich
eine Stunde, bisweilen mehr in Anspruch; vor Verrichtung desselben dürfen
sie noch nichts genossen haben. Die übrigen Gebete werden mit Ausnahme
des sür den Abend vorgeschriebenen im Hause verrichtet.
Wenn sich die Juden gewaschen haben, sagen sie während des Abtrock-
nens ein kurzes Gebet, ebenso vor dem Essen. Abends, d. i. bei Sonnen¬
untergang, versammeln sie sich wieder in der Schule und verhalten sich grade
so wie am Morgen. Die Frauen sind diesen Ceremonien nicht unterworfen
und gehen nur an einigen großen Festtagen im Jahre in die Synagoge,
und dann sind sie von den Männern getrennt in einem besondern Raume
für sich. Unverheirathete Mädchen sind auch davon ausgeschlossen. Trotzdem
daß der Talmud und alle übrigen Gebetbücher in hebräischer Sprache geschrie¬
ben sind, verstehen doch nur wenige dieselbe. Ihre gewöhnliche Umgangs¬
sprache ist ein verdorbenes Deutsch, vermischt mit vielen hebräischen Wörtern.
Beim Schreiben bedienen sie sich der hebräischen Buchstaben und so mangel¬
haft ihre sonstige Schulbildung ist, so versteht doch jeder Jude wenigstens
hebräisch zu lesen und zu schreiben.
Mit großer Gewissenhaftigkeit feiern sie ihre vielen Feste. Der Sabbath,
oder, wie er gewöhnlich genannt wird, der Schabbeß, beginnt am Freitag
Abend mit Aufgang des Abendsternes und dauert bis Sonnabend Abend um
dieselbe Zeit. Gleich zu Anfang des Schabbeß begeben sich die Männer in die
Schule und verbleiben dort im Gebet mehr als eine Stunde. ' Während die¬
ser Zeit werden zu Hause der Kronleuchter, den auch der Aermste in seiner Stube
hängen hat, und verschiedene andere Wand- und Armleuchter angezündet, so
daß die von Juden bewohnten Stadttheile in den ersten Stunden der Nacht
des Freitags den Eindruck einer Illumination machen.
Die Kost ist an diesem Tage reichlich und gut und b>-steht vorzüglich in
Fischspeisen. — Der Schabbeßabend wird stets in der Familie verlebt, keines¬
wegs aber zu Besuche» von Verwandten oder öffentlichen Orte» benutzt, über¬
haupt wird der Schabbeß in der größten Unthäti'gkeit zugebracht, und selbst die
unbedeutendsten Beschäftigungen müssen unterbleiben. Ein Jude darf während
des Schabbeß weder Feuer noch Licht anzünden oder auslöschen, deswegen
werden die Lichter stets kurz vor Beginn des Schabbeß angebrannt, und bren¬
nen dann so lange, bis sie von selbst verlöschen. Rauche» ist nicht erlaubt.
Schreiben, lesen, Briefe öffnen, Geld in die Hand nehmen, über Laud gehen
oder fahren ebenfalls nicht.. Auch gekocht kaun nicht werden, deshalb müssen
den Tag vorher schon die Speisen bereitet sein, und dann entweder kalt oder
aufgewärmt genossen werden. Statt des Brotes werden am Schabbeß soge-
nannte Strilzel gegessen, die in Form unsern Weihnachtsstollen gleichen, indeß
der Rosinen und Mandeln entbehren. Außer Gebetbüchern dürfen die Juden
am Schabbcß nichts bei sich, tragen, weder Geld noch sonst etwas; selbst das
Taschentuch wird als Contrebande angesehen.
Ist ein Jsraelit auf der Reise, so unterbricht er sür diesen Tag dieselbe.
Auch die Dienstboten müssen, selbst wenn sie Christen sind, während dieser
geheiligten vierundzwanzig Stunden ruhen, und können zu keiner Arbeit ver¬
wendet werden. Ueber irgend ein Geschäft in dieser Zeit mit einem Juden
reden oder gar eines abschließen wollen. ist unmöglich und wenn es noch
so einträglich für ihn erschiene. Alles dies gilt aber nicht nur für den Schnbbeß,
sondern durchgängig für alle ihre Feste, von denen manche z. B. das Laub-
hüttenfest im Anfang Herbst wochenlang dauern. Dieses Fest, dessen Ursprung
sich bekanntlich in ihre früheste Geschichte verliert, wird im Freien gefeiert, und
werden dazu vor den Wohnungen der Juden Lauben angelegt, in denen sie
einen Theil des Tages und der Nacht zubringen müssen. -- Während des
„langen Tages", der ihr Hauptfest ist, müssen sie fasten und sich beständig in der
Synagoge aufhalten, wobei sie einen besondern Anzug tragen, der in einem
langen weißen Talar, mit mehr oder weniger prachtvollen Goldstickereien be¬
steht. Dagegen sind Schuhe und Stiefeln von den Füßen verbannt und sie
gehen in bloßen Strümpfen. Am langen Tag erscheinen auch die Jüdinnen
im Tempel.
Der Act der Ehe ist bei ihnen nicht mit der Feierlichkeit verbunden als
bei Christen, indessen erfüllen sie ihre Pflichten als Gatten meistens gewissen¬
haft. Die Verheirathung geschieht oft schon in den frühesten Kinderjahren,
und man findet Brautpaare, wo die Braut 13, der Bräutigam 14 Jahr
zählt, so daß ein Großvater von 30—»2 Jahren keine Seltenheit ist. Die
Hochzeit wird gewöhnlich Abends, oft auch um Mitternacht gefeiert, wo dann
das Brautpaar und die Hochzeitsgäste die Straßen -mit Musik durchziehen.
Den Schluß bildet ein Ball, bei dem der Eintritt gegen Entrve jedermann
freisteht. Die eigentliche Trauung ist ohne viele Ceremonie und die' Ehe kann
ebenso leicht, wie sie geschlossen, auch gelöst werden. Sind beide Theile ein¬
verstanden, so geschieht dies ohne Einmischung der Gerichte oder des Nabbi-
nats und. hindert dann keine Partei, sich einige Tage später wieder zu ver¬
mählen. Eine Witwe mit Kindern kann ebenfalls gleich nach dein Tode ihres
Mannes heirathen, ist sie jedoch kinderlos, so darf sie erst.dann sich von neuem
verehelichen, wenn sie von den Verwandten ihres verstorbenen Mannes frei¬
gesprochen wurde, was gewöhnlich nach einem oder zwei Jahren, oft aber, und be¬
sonders wenn Streitigkeit oder Feindseligkeit unier ihnen herrschen, gar nicht
geschieht. Sobald ein Mädchen heirathet, werden ihr die Haare ganz kurz
verschnitten und durch eine Perücke erhebt — nach unsern Begriffen eine der
größten Thorheiten, da die Jüdinnen durchgehends schönes volles Haar haben,
und jene Perücken überdies gewöhnlich blos von Seide sind. An jedem
Pfosten der Hans- oder Stubenthür, wo Jsraeliten wohnen, haben sie einen
Zettel schief befestigt, auf dem einige Worte des Talmud geschrieben stehen;
sollte dieser durch Zufall oder Muthwillen abgerissen worden sein, so muß er
gleich durch einen andern ersetzt werden, da nach ihrem Glauben außerdem
ein großes Unglück sie und ihr Haus träfe. Die Rabbiner, deren es in jeder
Stadt einen gibt, erfreuen sich der größten Achtung. In Galizien empfangen
selbe ihre Besoldung vom Staat, während sie in Großpvlen von der betreffen¬
den jüdischen Gemeinde unterhalten werden müssen. Doch treiben die meisten
Rabbiner noch überdies Handel oder andere Geschäfte. Außer ihren geistlichen
Funktionen bekleiden sie noch eine Art richterliches Amt, da Streitigkeiten
unter Jsraeliten selbst selten oder nie einem Advocaten oder Gericht übergeben,
sondern durch den Rabbiner geschlichtet werden, dessen Ausspruch als entschei¬
dend angesehen wird und dem sie sich ohne Widerrede fügen. Studirt haben
die Rabbiner nicht, wenigstens nicht in der Bedeutung, wie wir sie damit
verknüpfen, es gibt aber in Lemberg, Warschau und Krakau Seminare zur
Ausbildung jüdischer Geistlichen und man findet unter ihnen Leute von gedie¬
genen Kenntnissen.
Ein Hauptvorwurf, den man den Jsraeliten macht, ist der. daß sie sich
fast ausschließlich mit Handel beschäftigen und da nicht häusig als solide Ge¬
schäftsleute befunden werden. Es ist dies aber ziemlich der einzige einträg¬
liche und zu einer angenehmen Stellung führende Erwerbszweig, der ihnen
offen steht, da Juden der Zutritt zu allen öffentlichen Aemtern verschlossen
bleibt. Selbst Apotheker darf kein Jude werden. Jura und Medicin können
sie allerdings studiren. Bei ersterer Laufbahn jedoch haben sie sich auf die
Advocatur zu beschränken, und als Mediciner sind sie ebenfalls auf ein sehr
ungewisses Einkommen angewiesen, da Christen sich im Allgemeinen ungern
eines jüdischen Arztes bedienen, und Jsraeliten nur im äußersten Nothfall zum
Arzt ihre Zuflucht nehmen. Wucher-, Bankier- und überhaupt Geldgeschäfte,
Schmuggel, Trödel und Handel mit allen erdenklichen Dingen sind die vor¬
züglichsten Nahrungszweige der Juden. Endlich sind alle Gasthäuser an den
Straßen, in den Dörfern und Städten in ihren Händen. Ausnahmen davon
gibt es höchstens in größern Städten, wo einige der bedeutendern Hotels in
Händen von Christen sind. Die Juden können als die eigentliche Seele des
Landes angesehen werden. Sobald jüdische Feiertage sind, ist es unmöglich,
auch nur das Geringste zu kaufen. Fällt zufällig ein Markttag mit einem
jüdischen Feiertage zusammen, so muß er verlegt werden, denn ohne die Ju¬
den ist kein Markt denkbar. Handwerke betreiben im Verhältniß zur Anzahl
nur sehr wenige. Zur Bearbeitung des Feldbaues zeigen sie geringe Neigung,
aber obwol ihnen kein eigner Grundbesitz erlaubt ist, haben sie doch einen
sehr großen Theil der Ländereien und Güter des Adels in ihren Händen.
Gesetzlich sind sie allerdings nur Pächter dieser Güter, durch die vielen vom
Juden dem Edelmann geleisteten Vorschüsse jedoch sind sie so gut wie Eigen¬
thümer. Der Adel in Galizien ist durch Aushebung der Robot überhaupt in
sehr bedrückte Umstände gekommen. Die Arbeit, die sonst der Bauer seinem
Grundherrn unentgeldlich that, muß jetzt bezahlt werden, und unverhältniß-
mäßig theuer, da der Bauer über alle Begriffe trug ist und lieber hungert und
stiehlt, als arbeitet. Dazu kommt noch die Prachtliebe, die Verschwendungs¬
sucht und das Reisefieber des Adels, der sich, statt auf seinen Gütern,
lieber in Paris oder in den Bädern aufhält, wo er alles, was er gegen hohe
Interessen von den stets bereitwilligen Juden geliehen, in Saus und Braus
verpraßt. Daher darf man sich nicht wundern, wenn es ganze Dörfer gibt,
wo jeder Jnsasse ein Edelmann ist und ein Wappen führt, wie solche Dörfer
in der Nähe von Serp. Brody und Rzesczow mehre liegen.
Im Jahre 184« wurde außerdem noch der Adel vorzüglich im Königreich
Lodomerien durch den Bauernaufstand so geplündert und beraubt, daß schon
dadurch viele Edelleute ihr ganzes Vermögen verloren. Wie der Adel, ist
auch der Bauer abhängig vom Juden. Bei der ihm angebornen Trägheit
erbaut er im Sommer nur so viel, daß er höchstens den halben Winter davon
zu zehren hat. Trotzdem will er den ganzen Tag im Wirthshause sitzen und
Branntwein trinken. Credit gibt ihm der Jude nicht; er muß ihm also ei¬
nen Theil der Saat und des Feldes verpfänden; so geschieht es nicht selten,
daß der Bauer die Feldfrüchte, die er erst nächsten Sommer ernten wird, im Win¬
ter schon vertrunken hat. Daher das grenzenlose Elend der Bevölkerung. Als
ein Beispiel, wie der Jude es versteht, die Unwissenheit des Bauern zu seinem
Vortheil zu benutzen, gelte Folgendes: Bei jenem Aufstand der Bauern gegen
den Adel traf es sich nicht selten, daß die Bauern bei den Plünderungen
Banknoten von bedeutenden Beträgen fanden, deren Werth sie aber nicht
kannten und die sie wegen der darauf befindlichen Figuren für werthlose Bildchen
hielten, in ihren Wohnungen an der Wand aufklebten, schließlich aber an die
Juden für einige Kreuzer verkauften, so daß oft eins Banknote von 2—3000
Gulden für zwei bis drei Kreuzer verkauft wurde. —
Der Handel mit Pferden wird fast ausschließlich von Juden geleitet, und
auch hier verstehen sie es wie Wenige, den Käufer zu übervortheilen. In jeder
Stadt findet man jüdische Fahrgelegenheit, bekannt unter dem Namen Bud-
kas, große, mit Planen überzogene Personenwagen, in denen man um mehr
als die Hülste billiger als mit der Post reisen kann.
Doch sind dieselben immer so überfüllt, und von reisenden Juden selbst
so besetzt, daß es für niemand, der die Mehrausgabe mit der Post nicht zu
scheuen braucht, räthlich ist, sich ihrer zu bedienen. Der Reisende sitzt darin
so gepreßt, und hat von dem Zwiebel- und Knoblauchgeruch seiner Reisegesell¬
schaft so viel zu leiden, daß es bei größern Touren unerträglich wird. Sonst
fährt man in diesen Budkas mit unglaublicher Schnelle, trotzdem daß vor den
ost mit 15 und 20 Personen beladenen Wagen nur zwei, höchstens drei kleine
magre Pferde gespannt sind.
In den Gasthöfen größerer Städte, selbst denen, wo der Wirth ein Christ
ist, trifft man jüdische Lohndiener, sogenannte Factors, die alle Austrüge der
Gäste besorgen, zugleich aber auch Wechselgeschäfte machen und dem Reisen¬
den sein etwaiges ausländisches Geld gegen inländisches umsetzen, versteht sich
von selbst, ohne sich im Geringsten nach dem Cours zu richten. Diese Leute
sind für den Reisenden eine wahre Pest, da man sich ihrer Zudringlichkeit
nur schwer erwehren kann, besonders wenn sie sehen, daß sie mit einem Aus¬
länder zu thun haben. —
Beim Verkauf schlagen die jüdischen Händler das Doppelte und Drei¬
fache des wirklichen Werthes vor, so daß jemand, der den geforderten Preis
zahlen wollte, sich nachträglich sehr betrogen sehen würde. Versteht man es
aber, mit ihnen umzugehen, so tauft man in einem jüdischen Gewölbe bedeu¬
tend billiger und meist auch besser, als in einem christlichen. — Gegenstände,
die der jüdische Kaufmann 1 Fi. (60 Kreuzer) anschlug, läßt er schließlich
ost für 10—12 Kreuzer. Und so verfährt der Jude nicht blos bei werthvollern
Gegenständen; selbst um den Preis einer Semmel oder Bretzel muß man mit
ihm feilschen.
Die Tracht der Juden in Galizien besteht aus einem langen gewöhnlich
schwarzen Kafran, der um den Leib durch einen Gürtel zusammengehalten
wird. Die Beinkleider tragen sie in den Stiefeln und diese reichen bis an die
Kniee, den Bart lassen sie wachsen, die Haare schneiden sie kurz bis auf zwei
Locken (Beißeles), die um den Schläfen herunterhängen. Den Kopf bedeckt
für gewöhnlich ein Hut. An Feiertagen gehen sie in Kaftans von Seide und
setzen statt des Hutes eine runde Pelzmütze auf, gleichviel ob es Sommer
oder Winter ist. Diese Mützen werden Schabbcßdeckel genannt, und sind oft
von großem Werth. Die Verheiratheten haben sie mit dunklerem, die Unver-
heiratheten mit hellerem Pelz besetzt. Die Tracht der jüdischen Frauen ist nicht
wesentlich verschieden von der Tracht der Christinnen. Die alten Jüdinnen
tragen kleine hübsch geformte, mit Goldflittern beraste Netzhäubchen, die aber
meist sehr schmuzig und alt sind. An Feiertagen kommt noch eine Stirnbinde
dazu, deren man äußerst merthvolle mit Perlen und Edelsteinen besetzte findet,
im Werth von mehren tausend Gulden. Ueberhaupt gefallen sich die Jüdin¬
nen dczrin, an Festtagen so viel als möglich sich mit Gold und Juwelen zu
überladen, um ihren Reichthum zu zeigen.
Ihre Unredlichkeit grenzt an das Fabelhafte, sowol was den Körper
betrifft, als die Wohnungen. Gesicht und Hände starren von Schmuz. die
Kleidung ist zerlumpt und voll Staub und Flecken. Die Frauenzimmer bieten oft
einen noch widerlichem Anblick: ihre Haare sind zerzaust und voll Bettsedern, der
Anzug verwahrlost, an der Leibwüsche ist die Grundfarbe unlernbar. — Am
Schabbeß kann man häusig sehen, daß sie sich vor die Hausthür auf die
Gasse sehen, die Frau den Mann, die Tochter den Bater oder umgekehrt beim
Kopf nehmen, in den Haaren wühlen und sich gegenseitig Ungeziefer absuchen
— eines der wenigen Geschäfte, welche ihr Gesetz ihnen an diesem Tage ge¬
stattet. Wie ein Scherz mag es nach dem eben Bemerkten erscheinen, wenn
man von den Gebräuchen hört, die ihnen ihre Religion, als zur Reinlichkeit
gehörig, vorschreibt, und denen sie auf das genaueste nachkommen. Das
Schwein, in ihren Augen ein unreines Thier, wird bekanntlich nicht gegessen.
Mit dem Messer, womit Fleisch geschnitten wurde, darf keine andere Speise
geschnitten werden; ebenso darf aus den Teller, wo Fleisch gewesen, nichts
von Mehl oder Eierspeisen gelegt werden. Trifft es sich, daß Soldaten bei
einem Juden im Quartier liegen, und er verpflichtet ist, ihnen Kost zu verab¬
reichen, so werden sie dringend gebeten, sich ihres eignen Eßbestecks,
das sie gewöhnlich bei sich führen, beim Essen von jüdischem Geschirr nicht zu
bedienen, sondern von ihnen welches zu nehmen. Sollte ein oder der andere
Soldat aus Ekel oder Eigensinn sich nicht dazu verstehen wollen, sondern mit
seinem Messer und Gabel essen, so benutzt der Jude Schüssel und Teller nie
wieder, sondern zerbricht sie als nicht mehr koscher gleich nachher. Ferner ist Fleisch
von einem christlichen Fleischer nicht koscher, es muß von einem jüdischen
Schächter geschlachtet sein. Butter, Milch, sogar manche Arten Wein, sind für sie,
wenn sie von einem Christen zubereitet wurden, nicht genießbar. Alle ihre
Fleischspeisen sind überaus stark gewürzt und gesalzen. Das Gegentheil von
koscher bezeichnen sie als trefe. Im Ganzen wäre ihre Küche nicht übel, wenn
nicht alles so abscheulich mit Zwiebeln und Knoblauch überladen, und wenn
die Köchin nicht so überaus schmuzig wäre. Ihr Lieblingsgetränk ist Meth.
In größern Städten bewohnen die Juden einen besondern Stadttheil,
gewöhnlich Judenstadt oder Judenviertel genannt. In kleinern Städten
aber sind sie in der ganzen Stadt verbreitet und man trifft ziemlich große
Orte, wo außer einigen Beamten fast gar keine Christen wohnen, so daß
man stundenlang aus dem Marktplatze stehen könnte, ohne einen Christen zu
sehen, als höchstens hier und da einen Beamten.
In Rußland sind die Juden vom Militär ausgeschlossen, in Oestreich
nicht. Bei der ihnen angebornen Feigheit und weil ihnen fast alle Eigen¬
schaften guter Soldaten abgehen, haben sie. wo die Disciplin streng ge¬
handhabt wird, keine gute Zeit, und so suchen sie durch alle möglichen
Mittel sich dem Dienst in der Armee zu entziehen. Dies bewirken sie ent¬
weder dadurch, daß sie vor der Rekrutirung heimlich außer Land gehen, oder
durch Verstümmelung ihres Körpers, als Abdanken von Fingern :c. Auch
verleugnen sie oft die Sprache, das Gehör, ja bringen sich selbst um ein>
Auge. Das Gewöhnlichste aber ist, daß sie durch ätzende Mittel das Kopf¬
haar zu entfernen wissen. Allein man ist ihnen jetzt auf die Spur gekommen.
Alle solche Simulanten werden eine Zeit lang unter strenge ärztliche Aufsicht
gestellt, und findet sich dann, daß sie wirklich zum activen Dienst untauglich
sind, so verwendet man sie in Militärlazarethen als Krankenwärter.
Zu Offizieren werden Juden in der Regel nicht befördert, selbst wenn
sie die nöthige Bildung besitzen, doch hat man einzelne Fälle, wo eine Aus¬
nahme gemacht wurde. So bemerkte vor einigen Jahren der jetzt regierende
Kaiser bei einer Revue einen alten, mit mehren in- und ausländischen Ehren¬
zeichen geschmückten Wachtmeister. Se. Majestät erkundigte sich, warum ein
dem Anschein nach so verdienter Mann noch nicht zum Offizier avancirt sei,
und erhielt vom Oberst die Antwort: „Majestät, er ist ein Jud." Der
Kaiser ernannte den Wachtmeister auf der Stelle zum Lieutnant. ' Dergleichen
sind aber nur Ausnahmen, denn erstens findet man Wenige, die durch Bil¬
dung berechtigt wären, darauf zu reflectiren. und sodann ist das übrige
Offiziercorps stets dagegen und gibt das Avancement wo möglich nicht zu.
Verstöße Einzelner gegen die üblichen Gebräuche werden von den Jsrae-
liten streng geahndet und sie haben eine eigne Art, dasür zu strafen. Sie
schreiben das Wort „Ilaiiöm" an die Thür des Straffälligen. Dies ist ein
förmlicher Bannfluch, denn kein Jude betritt jenes Haus, alle Geschäfts¬
verbindungen hören mit einem so Bezeichneten auf und man weicht ihm
aus. wo man ihm begegnet. In früherer Zeit hielten sie über Abtrünnige
zur Nachtze.it im Walde Gericht, und verhängten, wenn sie schuldig befunden
wurden, unwiderruflich Todesstrafe, die dann auch aus der Stelle erfolgte.
Ein solch schreckliches Gericht wurde z. B. einst über die jüdische Geliebte
des Königs August von Polen gehalten, die ihre sträfliche Neigung zu einem
Christen mit dem Tode büßen mußte. Seitdem sind die Polizeiorgane zu
wachsam und die Strafen auf solche unbefugte Gerichtspflege zu streng ge¬
worden, so daß man sich heutzutage damit begnügt, Bergehen jener Art mit
Verachtung zu bestrafen.
Was das Aeußere der Juden betrifft, so haben sie fast durchgehends
schöne orientalische Gesichtszüge, und besonders häusig zeichnen sich die Jü¬
dinnen durch anmuthige Züge und Formen aus. Ihr Haar ist entweder
glänzend schwarz oder roth; andere Farben kann ich mich nicht erinnern,
gesehen zu haben. Natürliche geistige Talente kann man ihnen durchaus
nicht absprechen, doch werden dieselben zu wenig ausgebildet, als daß sie
sich entwickeln könnten, da aller Schulunterricht ihnen fern liegt. Deutsch oder
polnisch lesen können sehr wenige; so lief mir einst in Galacz, einer kleinen
Stadt Galiziens, auf der Straße ein Kaufmann nach und bat mich, ihm
doch einen Zettel vorzulesen, auf dem einige Bestellungen standen. Sie sind
unreinlich, geizig, eigennützig, betrügerisch, unverträglich, neugierig im höch¬
sten Grad und zudringlich; geht man z. B. bei jüdischen Kaufgewölbcn
vorüber, so stehen die Juden in der Thür, rufen den Vorübergehenden an,
laufen ihm ein Stück nach, halten ihn wol gar beim Rock fest und nennen
alle Waaren her. die ihr Gewölbe enthält. Furchtsamkeit ist ihnen allen
angeboren. Spricht man sie höflich an, so antworten sie brutal, verfährt
man aber kurz, wo möglich grob mit ihnen, so ziehen sie schnell den Hut,
und sind die Höflichkeit selbst. Indessen gehören auch einige gute Eigenschaf¬
ten zu ihrem Charakter. Sie sind mäßig und nie wird man einen betrunke¬
nen Juden sehen, während der Anblick von Betrunkenen dem Fremden in Polen
nur zu häusig wird. Sie sind gefällig, so weit es ihnen nichts kostet. Sie äußern
großen Gemeingeist, und unterstützen ihre Nothleidenden aufs freigebigste.
Und ihre schönste Tugend, welche den Christen als Vorbild dienen könnte,
ist ihr festes Zusammenhalten und ihr Wohlthun. Wie es überall
Arme und Reiche gibt, so auch unter ihnen, niemals aber wird man in
Galizien einen Juden betteln sehen. Die Wohlhabenden helfen den
Bedürftigen so viel als möglich, sie theilen sogar für den Schabbeß Kerzen
aus. damit auch die Armen dem Gebrauch, viel Lichter an diesem Tage zu
brennen, nachkommen können. Auch die Soldaten jüdischer Religion werden
von ihren Glaubensgenossen vielfach unterstützt. Wenn große Feiertage sind,
geht der Rabbiner zu dem betreffenden Commandanten, bittet sür sie auf diese
Tage um Urlaub, und theilt sie dann zu den reichen Jsraeliten ein, wo sie
während der ganzen Festtage unentgeldlich gespeist und unterhalten werden.
Stirbt ein Jude so lange er Soldat ist, so begraben ihn seine Glaubens¬
genossen und kleiden ihn vorher auf eigene Kosten in die übliche Todten-
kleidung. Alte Jungfern gibt es unter Juden nicht. Hat ein Mädchen bis
zu einem gewissen Jahre nicht geheirathet, so gibt ihr die. Gemeinde einen
Mann, und stattet sie. wenn das Brautpaar arm ist, auch noch aus.
Allgemeine kirchliche Chronik von Karl Matthes. 4. Jahrgang, das
Jahr 1857. Leipzig. Verlag von Gustav Mnyer. 1858. — Mit Vergnügen sehen
wir, daß diese Jahresübersicht über die Ereignisse aus dem Gebiete der Kirche fort-
gesetzt wird. Dieselbe ist wie früher objectiv geholten, indeß verleugnet der Ver¬
fasser auch diesmal nicht, daß er' einen freiern Standpunkt als den einnimmt,
welcher jetzt unter den deutschen Theologen guter Ton ist. Viel Tröstliches hat er
nicht zu berichten, indeß geht aus seinen Mittheilungen doch hervor, daß die kirch¬
liche Reaction Halt gemacht hat, daß die neuen ,,Dunkelmänner" keine geschlossene
Phalanx mehr bilden, sondern in Fraktionen zerfallen sind, die sich gegenseitig fast
so heftig befehden, als die Freigcsinnten, und daß die deutschen Puseyitcn von der
klicfothschcn Schule mit ihren katholifirendcn Tendenzen ebenso wenig Aussicht haben,
durchzudringen, als die Partei, welche die Welt mit den drastischen Mitteln einer
Wiedereinführung der Ohrenbeichte, der Kirchenzucht, der ,,Kcrnlicdcr" >und der bibcl-
gcrechtcn Ehegesetze zu curiren unternahm. Der Inhalt ist ähnlich wie im vorigen
Jahrgang geordnet. Nach einer Einleitung folgt eine Uebersicht über das, was
auf dem Gebiet der evangelischen Kirche das Jahr über geschehen ist: zunächst über
die Verhandlungen und Ergebnisse der Kirchentage und theologischen Eonfcrenzen,
dann über die weitere Verbreitung des Protestantismus in katholischen Ländern,
und über Vorkommnisse auf dem Gebiet der äußern und innern Mission, dann
über die theologische Literatur des Jahres, woran sich das Wichtigste aus der Spe-
cialgcschichte der einzelnen evangelischen Landeskirchen und ein kurzer Anhang „Von
alten und neuen Sekten" schließt. Ein zweiter Abschnitt berichtet hieraus über die
katholische Kirche. Das Buch ist jedem zu empfehlen, der sich für kirchliche Dinge
interessirt; er kann darin recapituliren, was ihm das Jahr über die Zeitungen
von diesem Gebiet berichteten. Sehr angenehm für den, welcher über das Eine
oder das Andere Ausführlicheres zu wissen wünscht, ist es, daß der Verfasser sein
Referat überall mit Hinweisungen aus die kirchlichen oder theologischen Zeitschriften
begleitet, aus denen er geschöpft hat.
.
Geschichte der schweizerischen Neujahrsblättcr (von Oberbibliothc-
knr Horner zu Zürich) mit drei Bildnissen. Zürich. — Wenn der kürzeste Tag des Jah-
res vorüber war und die Sonne die ersten höheren Bogen am Himmel beschrieb, schritten
im deutschen Heidenthum die hellen Hausgötter segnend durch die Welt, und Frau
Berchta, die Glänzende, weihte in den heiligen zwölf Nächten Haus und Hof. Dann
jubelte das Volk und feierte die 'Nähe der Götter. Von jenen Zeiten ist ein weiter
Weg bis zu dem ehrbaren Bürgerhause des modernen Zürich, in welchem Herr
Oberbibliothekar Horner die vorliegende kleine Schrift abgefaßt hat, und bis zu den
fröhlichen Kindergesichtern, welche am zweiten Januar dieses Jahres das obengenannte
Büchlein als Nenjahrsgeschenk von der zürichcr Stadtbibliothek abgeholt haben. Und
doch ist ein innerer Zusammenhang zwischen der weißen Heidcngöttin, welcher einst
die Alemannen opferten und zwischen den modernen Ncujahrsblättern, deren Ver-
theilung eine speciell züricher Sitte ist. Es ist wol von allgemeinem Interesse die
Kontinuität des deutschen »Lebens an einem einzelnen kleinen Beispiel nachzu¬
weisen.
Die alte Göttin Berchta verschwand, als die Alemannen der Schweiz Christen
wurden, aber die srohe Festfeier der Zwölfncichtc und manch uralter Brauch dersel¬
ben blieb. Die alterthümliche Feier firirte sich zuletzt in Zürich auf den zweiten Januar,
den sogenannten Bcchtelitag, an welchem im christlichen Kalender ein heiliger Berch-
told der alten Hausgvttin substituirt worde» war. Es blieb im Mittelalter der
Brauch, daß die festen Genossenschaften der Männer sich in ihrer „Trinkstube"
versammelten, und daß Bekannte ihren Festschmaus besuchten, um zu „helfen".
Dies uralte Wort scheint Im Heidenthum der Ausdruck für religiöses Augurium ge¬
wesen zu sein, im Mittelalter hieß es „Heil wünschen". Dies Wünschen aber gewann
allmälig bestimmte Form, die Kinder befreundeter Familien trugen den einzelnen
Gesellschaften einen Geldbeitrag zum Einheizen zu, den man „Stubcnhitze" nannte.
Die Kinder erhielten dafür von der Gesellschaft eine kleine Verehrung, zuletzt süße Le-
kcrli und Muskateller. Der Bedarf an Pfefferkuchen war bei einzelnen Gesellschaften
noch im vorigen Jahrhundert sehr groß. So verschenkte einst die Schützengesellschaft
den Kindern, welche ihr das Geldgeschenk brachten, an 344 Dutzend Stück.
Solcher Gesellschaften erhielten und bildeten sich aus Zünften und andern
Collegien in Zürich vierzehn, noch bestehende. Im 17. Jahrhundert begann zuerst
die Stadtbibliothek in Zürich den Kindern anstatt der Leckerbissen ein gedrucktes Ge¬
schenk zu macheu. Zunächst fliegende Blatter, Gedichte mit einen, Kupfer. Die
Neuerung fand Beifall und Nachahmung bei andern Gesellschaften und es entwickelte
sich eine eigenthümliche Neujahrsliteratur, welche für Zürich von nicht geringer
Bedeutung geworden ist. Noch heut ziehen die Kinder wohlhabender Familien
in ihrem besten Staate und gehobener Stimmung von einer Gesellschaft zur
andern und überreichen ein kleines Geldgeschenk, wogegen sie ein Bündel, einen
Schluck Wein und etwas Gebackenes empfangen. Die Rcujahrsschriften der einzel¬
nen Gesellschaften werden sorglich gesammelt und bewahrt und vollständige Exemplare
gehören zu den größtes Seltenheiten der schweizer Literatur. Sie haben aber auch
ein Recht auf allgemeine Beachtung, denn neben vielem Unbedeutenden enthalten sie
lehrreiches Detail, viele Biographien und sorgfältige Abhandlungen über Antiquitäten
der Stadt Zürich und ihrer Umgebung. Vor allem aber sind die Kupfcrbeilagen
von künstlerischem Interesse. Die Schweiz hat bis auf die Gegenwart an Kupfer¬
stechern und Malern der deutschen Kunst ein sehr großes und ehrenwerthes Contin¬
gent geliefert. Und es ist deutlich zu erkennen, daß das Behagen, mit welchem der
Züricher seit alter Zeit sein Leben, seine Stadt, seine Landschaft betrachtete, zugleich
mit dem Wohlstand deö Staates und den zahlreichen localen Aufgaben, welche den
Künstlern gestellt wurden, wesentlich daz» beigetragen hat, geistvolle und sinnige
Zeichner und tüchtige Aetzcr zu bilden. Aus den Kupfern der Ncujahrsblättcr
machten schon früh die Künstler, welche daran Theil hatten, zierliche Sammelwerke.
Aber die Gewöhnung am localen Detail tüchtige antiquarische und historische Kennt¬
nisse zu bewähren, hat auch der wissenschaftlichen Literatur der Schweiz eine eigen¬
thümliche sehr respectable Physiognomie gegeben. Die Thätigkeit der antiquarischen
Gesellschaft von Zürich z. B. verdient großartig genannt zu werde», namentlich wenn
man die Güte der Arbeiten — auch der zahlreichen Kupferbeilagcn — mit den be¬
scheidenen Mitteln vergleicht, über welche die gelehrte Gesellschaft gebietet.
Die Neujahrsblüttcr, in frühern Zeiten dem Canton Zürich eigenthümlich, haben
steh jetzt von dort anch in andere Cantone der Schweiz verbreitet. Mit großer
Liebe und Genauigkeit und schönem historischen Wissen hat der Verfasser der vorliegenden
Schrift die austheilenden Gesellschaften und die von den ältesten seit mehr als 200 Jah-
ren vertheilten Blätter in ihrer geschichtlichen Folge charakerisirt. Und seine im
teressantc Arbeit war, bevor sie im Separatdruck erschien, selbst ein Geschenk für
die Kinder Zürichs am Tage der Berchta.
— Die Elemente des Zeichnens nach körperlichen
Gegenständen von Fri edrich H eimerdinger, 8.' 57 Abbildungen. Hamburg,
O, Meißner. — Jede Bemühung, dem Unterricht in unsern Schulen praktische
Seiten abzugewinnen, verdient Unterstützung. Alle Welt weiß, wie viel in den
Zeichnenschulcn nach dieser Richtung noch zu leisten bleibt. Statt Auge und Ver¬
stand des Schülers durch Nachbildung der wirklichen Natur zu üben, wird Jahr
für Jahr in einer Menge sonst vorzüglicher. Institute nach Vorlegeblättcrn ge¬
zeichnet. In den meisten Fällen kommt eine schlechte Nachahmung heraus, die
keinen andern Werth hat, als der Preis einiger der freien Luft und der frischen
Bewegung entzogenen Stunden zu sein, welche der Schüler über seine Zeichnung
gebückt, zwecklos in der Schulstube versaß. Wo etwas Besseres geleistet wird,
erreicht es doch nie den Werth des copirten Holzschnitts oder Steindrucks selbst,
der für wenige Groschen gekauft werden konnte. Will aber der Schüler nach er¬
langter Fertigkeit selbstständig zeichnen oder auch nur die Natur abconterfeien,
so fehlt ihm alles dazu; er muß erst mühsam das Erlernte wieder vergessen, um
überhaupt auf die Art und Weise zu verfalle», wie man das nachahmen kann,
was nicht bedrückte oder bezeichnete Papierfläche ist."
In seinen „wunderlichen Gedanken über die Zeichnung sagt Diderot- „Wenn
unsere jungen Künstler ein wenig geneigt wären, meinen Nath zu nützen, so würde
ich ihnen ferner sagen: ist es lange nicht genug, daß ihr nur die eine Seite des
Gegenstandes seht, den ihr nachbildet? Versucht auch die Figur als durchsichtig zu
denken und euer Auge in den Mittelpunkt derselben zu bringen. Von da werdet
ihr das ganze äußere Spiel der Maschine beobachten, ihr werdet sehen, wie gewisse
Theile sich ausdehnen, andere sich verkürzen" :c.
Die nämlichen Zwecke etwa verfolgt das obige Buch. Der Verfasser stellt sich
die Aufgabe, die Elemente der Formen durch eine Anzahl auf Verlangen bcigegebcner,
sonst aber nach deu Abbildungen anzufertigender Hvlzmodclle dem Schüler vor Augen
zu stellen. Er verwirft die hier und da wol in ähnlicher Absicht schon eingeführten
Drathmodclle, und empfiehlt dagegen Formen aus hartem Holze; das Abzeichnen
derselben zwingt den Schüler zur Erfassung des perspectivischen Zusammenhangs
der ihm sichtbaren und der ihm nicht sichtbaren Linien und Curven. So viel uns
bekannt hat der Verfasser diese Methode seit mehr als 10 Jahren mit Erfolg so-
wol in Privatschulen wie auch namentlich im Hamburger Arbeiterbildungsverein und
in der Zcichnenschulc des Hamburger Vereins für Künste und nützliche Gewerbe an¬
gewandt. Er führt für seine Methode eine Schrift des Professor Heisch in Kopen¬
hagen an, in welcher derselbe gegen „den kindischen und mißverstandenen Dilettan¬
tismus in der Malerkunst" mit schwerem Geschütz zu Felde zieht, mit dem Worte
schließend: „Sonach ist es die höchste Zeit, einem Unwesen in der genannten Rich¬
tung ein Ende zu machen, welches noch an manchen Orten so schädlich auf die
geistige Entwicklung der Jugend wirkt." Wir würden es für eine sehr erfreuliche
Verbesserung des jetzigen Zustandes des Zeichnenunterrichts halten, wenn sich die
oben empfohlene Methode aller Orten Bahn bräche und namentlich die Aufmerksam¬
keit der deu Schulen vorgesetzten Behörden auf sich zöge.
Wenn im gegenwärtigen Augenblick die politischen Fragen durch die
materiellen Interessen in den Hintergrund gedrängt sind, so scheint es doch
zweckmäßig, durch gelegentliche Erinnerung an die Conflicte, welche vertagt,
aber nicht gelöst sind, vor einer trüglichen Sicherheit zu warnen. Wir greifen
einige von diesen Fragen heraus, die sich durch zufallige Begebenheiten dem
Gedächtniß aufdrängen.
Zunächst erinnern wir an die Bemerkungen des sächsischen Staatsministers
Freiherrn von Reuse über den von mehren deutschen Ständen ausge¬
sprochenen Wunsch, daß der deutsche Bundestag durch Bildung eines deutschen
Parlaments, entweder aus Urwähler, oder aus den einzelnen Kammern, auf
eine organische Weise ergänzt werden möge. Der Wunsch ist bekanntlich nicht
neu, er ist so alt wie der Bundestag selbst, er gab der Bewegung von 1848
die Farbe, und lst in unserer Zeit begreiflicher als je. Denn es scheint in
der That ein starkes Mißverhältnis;, daß mit Ausnahme von Oestreich die
einzelnen deutschen Regierungen verfassungsmäßig durch die Controle ihrer
Stände beschränkt sind, während ihr Gesammtorgan keine derartige Controle
kennt. Je eifersüchtiger die Stände der einzelnen Lande über ihren Rechten
wachen, desto schwieriger wird es dem Bundestag, seine allgemeinen Inter¬
essen gegen das Widerstreben einzelner Fürsten durchzuführen. Da nun in
der politischen Entwickelung die historische Reminiscenz immer sehr viel thut,
so ist es begreiflich, daß das Beispiel der Bereinigten Staaten von Nord¬
amerika und der schweizer Eidgenossenschaft die Vorstellung hervorruft, der
Bundestag, den man gewissermaßen wie den amerikanischen Senat ansieht,
könne einen Congreß neben sich dulden, in welchem die Nation als solche sich
geltend macht.
Allein Herr von Beust hat vollkommen richtig nachgewiesen, warum ein
solcher Vergleich nicht paßt, und wir können ihm um so mehr darin bei¬
pflichten, da wir ähnliche Erörterungen schon mehrfach angestellt haben. Ein¬
mal hat nur dasjenige Parlament einen Sinn, welches einer Executive gegen¬
übersteht, auf die es einwirken, mit der es sich verständigen kann, und eine
solche ist der Bundestag nicht; die ausübende Gewalt liegt vielmehr, sehr
wenige Fälle abgerechnet, ausschließlich in den Händen der einzelnen Re¬
gierungen, Das hat die Nationälversanunlung um 1848 auch gefühlt und
sich deshalb nach Auflösung des Bundestags eine eigene Executive gesetzt, auf
die sie freilich Einfluß ausübte, aber nur so weit diese Executive im Stande
war sich geltend zu machen, und das war nicht weit.
Zweitens wird, wie Herr von Beust mit Recht bemerkt, die Sache dadurch
wesentlich geändert, daß die verbündeten Staaten Deutschlands monarchisch
sind. Der deutsche Bund ist nicht eine Föderation der verschiedenen deutschen
„Stämme", des östreichischen, des preußischen, des hannöverschen, des hessi-
schen u. s. w., sondern eine Föderation der durch die Luudesacte für souverän
erklärten Fürsten und Städte, wobei den ehemaligen Neichsunmittelbnren ge¬
wisse Rechte garantirt sind. Eine Abschwächung des monarchischen Princips
in den einzelnen deutschen Ländern durch ein allgemeines deutsches Parlament,
welches die Souveränetät in ihren wichtigsten Funcrioneu beschränken würde,
kann der Bundestag seiner Natur nach nicht dulden. Die Sache wird noch
verwickelter durch die außerordentliche Ungleichheit der in den Bund aufge¬
nommenen Fürsten oder Staaten, die zur nothwendigen Folge hat, daß die
Stimmen nicht gezählt, sondern gewogen werden müssen.
Wir stimmen mit Herrn von Beust vollkommen darin überein, daß dem
Bundestag in seiner gegenwärtigen Einrichtung gegenüber ein deutsches Parla¬
ment eine vollkommene Absurdität sein würde, ganz davon abgesehen, daß
der mächtigste der deutschen Staaten in seiner innern Verfassung das Re-
präsentativsystem nicht kennt, und daß er seit mehren Jahren eifrig beschäftigt
ist, sich seine Nebenländer, die nicht mit zum deutscheu Bunde gehören,
in der Form des Einheitsstaats anzugliedern. Allein wir müssen noch
weiter gehn.
Nicht blos die parlamentarische Reform des deutschen Bundes wird durch
die Eigenthümlichkeit des monarchischen Princips ausgeschlossen, sondern jede
Reform überhaupt. Die Bundesacte hatte den großen Vorzug, unumwunden
und staatsrechtlich auszusprechen, was es factisch mit dem deutschen Reich für
eine Bewandtnis; hatte; aber damit war der Uebelstand verknüpft, daß die
früher flüssigen Momente sich fixirten und damit jede Aussicht aus eine Ver¬
änderung unendlich hinausgeschoben wurde.
Man hat der Periode von 1815—1848 viele und nicht ungegründete
Vorwürfe gemacht; die Stagnation des deutschen Lebens war in der That
krankhafter Art. Sie war aber nicht so schlimm als die Periode von 1648
bis 1800, wo gleichfalls die Anarchie gesetzlich sixirt war, aber zugleich mit
einem eitlen Schein der alten Reichsherrlichkeit umgeben, die zu beständigen
Conflicten führen mußte. Die Reichsgewalt, dem Namen nach mit großer
Macht ausgerüstet, war damals im Grnnde von noch geringerem Inhalt, als
die Gewalt des Bundestags von 1815—1818. Durch die neue Verfassung
ist wenigstens der Landfriede gewahrt und Ereignisse wie die von >7 10, 1750,
I7'»5. 1805 und 180l> aus den Grenzen der Wahrscheinlichkeit gerückt. Es
ist durch sie keine absolute Sicherheit gegeben, wie die Ereignisse von 1818
bis 1850 beweisen, aber die Sicherheit hat sich wenigstens vermehrt. Das
ist ein unbestreitbarer Gewinn, und es ist nicht unsere Absicht, ihn zu gering '
anzuschlagen, wenn wir auf die ebenso augenscheinlichen Mängel dieser Per¬
fassung aufmerksam machen.
Bei der Stimmung unserer Tage stehen die materiellen Interessen
voran. Für diese zu sorgen ist der Bundestag uicht im Stande. Was in
Bezug auf die Eisenbahnen, Aufhebung der Zölle, das Mmizsystem n. f. w,
geschehen ist, ist aus freien Verträgen der einzelnen Staaten hervorgegangen.
Für diejenigen, welche sich gegen die Ccntralisarion überhaupt auflehnen, mag
das als ein Bortheil erscheinen, nur soll man nicht vergessen, daß in den
einzelnen deutschen Staaten die büreaukratische Centralisation so weit getrieben
ist. als irgendwo. Man darf nur einen Blick ans unser Eisenbahnnetz werfen,
um zu begreifen, daß nicht natürliche, sondern künstliche Interessen den Aus-
schlag gegeben haben. — Der allgemeine Rechtsschutz, eine der Hauptaufgaben
des deutschen Bundes, kann von demselben nnr auf einseitige Weife gewähr¬
leistet werden. Der Bundestag ist in den letzten Jahren mehrfach einge
schritten, wo es galt, die Rechte der ehemals Neichsunmittelbaren gegen die
Eingriffe der neuen Verfassungen zu wahren' freilich wol nur in solchen Fällen,
wo er die verklagten Fürsten mit den Klägern einverstanden wußte. Er ist
aber nieuials eingeschritten, wo es galt, die Rechte der Unterthanen gegen
die Regierungsgewalt zu schützen. Er ist nicht eingeschritten, weil er es seinem
Wesen nach nicht konnte. — Vielleicht das Schlimmste aber ist, daß er wenig
Mittel' Hot. den großen Sinn, den Aufschwung, den Enthusiasmus der Nation
zu vertreten. Ihm entgeht dadurch das Hauptmittel der Regierungen, sich
populär zu machen. Die Popularität der Regierungen liegt keineswegs in
ihrem liberalen Verhaltens auch despotische Regierungen können populär,
liberale Regierungen können unpopulär sein. Die Iulimoneirchie war ebenso
entschieden unpopulär, wie die russische Negierung populär ist. In letzterer
sieht jeder Russe, auch der ärmste, den mächtigen Vertreter seiner Nation, sei¬
nes Glaubens. Wie wenig geeignet die deutsche Bundesverfassung ist. dem
deutschen Nativnalwillen einen kräftigen Ausdruck zu geben, haben bald nach
der traurigen Versteigerung der deutsche» Flotte die orientalischen Angelegen¬
heiten gezeigt. Nun gibt es zwar eine Ltaatsweisheit, welche es als einen
Gewinn für die europäische Eultur bezeichnet, daß Deutschland durch seine
Verfassung zu einem neutralisirteu Land in der Art der Schweiz gemacht rst.
Aber diese Staatsweisheit wagt sich glücklicherweise doch nur sehr schüchtern
hervor.
Und selbst in diesem Fall stünden wir den Schweizern nach. Bei den
Eidgenossen war in der Zeit der ncueuburger Angelegenheit, obgleich es sich
um eine ungerechte Sache handelte, alles einig, die Partejung verstummte
und man war zu jedem Opfer entschlossen. In Deutschland kommt es vor,
daß ein Staat gegen den andern intriguirt. wenn dieser seine Macht ver¬
größern, z. B. einen Kriegshafen anlegen will, und die alten Traditionen
sind noch nicht so weit vergessen, daß nicht die kleinern und mittlern Staaten
den deutschen Dualismus gern benutzten, jedes energische Auftreten z»
hintertreiben, und daß sich nicht der Gedanke bei ihnen regte, gegen die
etwaigen Uebergriffe der beiden Großmächte sich anderweitig Rath zu erholen.
Hierin liegt die größte Gefahr sür Deutschland, eine Gefahr, die vielleicht
schon für die nächste Zukunft droht. Mehr und mehr müssen wir uns daran
gewöhnen, das Treiben unserer westlichen Nachbarn als etwas Unberechenbares
zu betrachten. Sollte einmal eine russisch-französische Allianz zu Stande kom¬
men, sollten in derselben Zeit durch irgend einen Zufall Oestreich und Preußen
in einem gespannten Verhältniß stehen, so könnten wir leicht wieder einen
baseler Frieden, einen Rheinbund und alles Uebrige erleben: denn der Bundes¬
tag schützt nur, wo keine Gefahr ist. /
Wir haben auf diese Uebelstände hingewiesen, ohne eine Lösung anzu¬
geben. Das Volk oder wenn man will das Publicum hat sich jetzt unfrei¬
willig von aller Action zurückgezogen, und die Politik ist Sache der Fürsten
geworden. Aber wenn diese auch bei dem besten Willen denjenigen Uebel¬
ständen nicht abhelfen können, die in der Natur der Sache liegen, so haben
sie wenigstens ein Mittel in der Hand, den Einheitsgedanken zu kräftigen
und sich selbst eine mächtige Popularität zu verschaffen. Glücklicherweise gibt
es einen Punkt, in welchem die ganze Nation einig ist und der auch mit dem
Interesse keines einzelnen Fürsten cvllidirt: die Sache Schleswig-Holsteins.
Sollte sich der Bundestag zu dem Aufschwung erheben, hier einmal einen
entscheidenden Schritt zu thun auf die Gefahr, die diesmal keine ist, auf die
Gefahr eines Krieges, so könnte er eine Popularität erwerben, wie sie seit
Friedrich dem Großen noch keine deutsche Negierung besessen hat. Und das
Erhebende der Popularität liegt doch keineswegs in der eitlen Freude an dem
Beifall der Menge, sondern in dem stolzen Bewußtsein der Negierung, mit
der Nation Eins zu sein, das Höchste, was sie erreichen kann.
Noch zu keiner Zeit ist die Lage sür einen großen Entschluß Deutschlands
so günstig gewesen. Rußland ist mit Vorbereitungen für die Zukunft be¬
schäftigt, die es für jetzt außerhalb der Action halten, und wir erleben das
unerhörte Schauspiel, daß russische Zeitungen uns Muth einsprechen, daß sie
in ihren Forderungen für Deutschland weiter gehn, als unsere eigenen Re¬
gierungen. Frankreich ist sür den Augenblick durch das Bündnis; mit England
paralysirt und England steht in guten Verhältnissen zu Preußen, Dies ist
der Punkt, bei welchem wir die Besprechung der zweiten ungelösten Frage
anknüpfen.
Die Zeit ist noch nickt lange vorüber, daß wir uns ausschließlich mit
der englischen und französischen Politik beschäftigten, anstatt uns um unsere
eigene» Angelegenheiten zu kümmern. Im Gegentheil zeigt sich jetzt die
Neigung, die Angelegenheiten des Auslandes fo zu betrachten, als gingen sie
uns gar nichts an. Das ist z. B. neuerdings bei dem Sturz Palmerstons
geschehn. Weil man früher työrichterweisc diesen Mann als den Champion
des Liberalismus bezeichnete, soll man jetzt nach besserer Einsicht sich wol
gar über seinen Fall freuen. An und für sich kann es uns auch vollkommen
gleichgiltig sein, ob Lord Palmerston oder Lord Derby in England regieren,
aber es sind mit diesem Ereigniß Umstände verknüpft, die eine ernstere Er-
wägung verdienen. Zwar sind wir jetzt in der Cultur so weit vorgerückt, daß
die Staaten ihre Handlungsweise nicht nach abstrafen Principien, sondern
nach Interessen bestimmen. Aber deshalb ist die Macht der Principien noch
nicht gebrochen, und das gleiche Princip hängt in sämmtlichen Ländern durch
eine elektrische Kette zusammen, , die nur derjenige leugnet, der den Einfluß
der öffentlichen Meinung auf die Politik überhaupt leugnet. Denjenigen,
welche für die deutsche Staatsentwickeluug die Anhänger des konstitutionellen
Princips sind, muß jede Erschütterung desselben in einem andern Lande als
eine Niederlage erscheinen. Der Fall der constitutionellen Monarchie in Frank¬
reich war eine NiedcUage des Constitutionalismus überhaupt, denn er unter¬
grub den Glauben an das Princip. Noch viel schlimmer wäre es. wenn
auch England in diese Lage käme. Daß man bis jetzt noch keinen derartigen
Versuch gemacht hat, liegt ganz ausschließlich in der unvergleichlichen Haltung
der Königin, die nach strengem Gewissen handelt. Einem unternehmenden
Monarchen hätten sich in den letzten Jahren die zahlreichsten Gelegenheiten
geboten, bei der Unmöglichkeit, mit der Majorität des Parlaments zu regieren,
den Persuch zu machen, ohne dieselbe zu regieren; und das englische Volk wird
die ernste Prüfung, ob es^seine Freiheit in einem wirklichen Conflict ver¬
treten kann, noch bestehen müssen.
Der Sinn des constitutionellen Princips ist, daß in formal Beziehung
die Souvcrnnetät beim König bleibt, daß aber der Inhalt seines Wille's sich
nach dein Nationalwillen richte. Zu diesem Zweck werden zwischen de,7
Souverän und das Volk zwei Mittelglieder eingeschoben, das Ministerium
und das Parlament. Jenes vertritt den Souverän, dieses das Volk, und
der Grundsatz, auf dem alles constitutionelle Leben drfire, ist die Nothwendig-
feit, daß das Mi>nsterium von der Majorität des Parlaments gestützt wird,
das; beide in den Hauptfragen miteinander einig sind, Die Form war in
England von der Art, daß der Amtsadel sich in zwei gewissermaßen erbliche
Fraktionen theilte, die um die Gunst der Unbetheiligten wetteifern, so daß der
Wechsel zwischen einem Tory- und Whigministerium den Wechsel der öffentlichen
Stimmung ausdrückte. Es hatte sich jetzt seit der Reformbill in das Parla¬
ment eine neue Schicht eingeführt, die außerhalb des Amtsadcis steht und
von demselben unabhängig bald der einen, bald der andern Partei den Aus¬
schlag gibt. Das Ministerium,-des Lord Palmerston war durch eine Appel¬
lation an das Volk und durch eine daraus hervorgegangene ungewöhnliche
Majorität constituirt worden; jetzt sahen wir plötzlich, daß diese Majorität
ihren Führer verläßt und die Gewalt seinen Gegnern in die Hände spielt.
Warum? Ist sie mit den Principien seiner Politik unzufrieden? erwartet sie
von seinen Gegnern ein anderes Princip? — In, Gegentheil. Es handelt
sich hier angeblich nur um eine Ungeschicklichkeit in der Form, welche Lord
Palmerston begange» haben soll, eine Ungeschicklichkeit, über die wir uns hier
jedes Urtheils enthalten, da uns die feinern diplomatischen Beziehungen ver¬
borgen sind. Im Princip erklären sich die Mitglieder des neuen Eabinets
mit dem alten einverstanden; sie loben es und versprechen aus dieselbe Weise
fortzufahren. Der eigentliche Grund, daß man Lord Palmerston fallen ließ,
war, wie schon in diesen Blättern bemerkt, seine persönliche Unliebenswürdig-
keit, sein juntcrhaftes Wesen. Man wollte ihm einen Denkzettel geben, wie
die Pariser >850 der reactionüren Nationalversammlung dadurch einen Denk¬
zettel gaben, daß sie drei Socialisten wählten.
Leider wird man dadurch aber nicht blos die Person los, man entfernt
mit ihm die ganze Partei und macht dieselbe zu den bittersten Feinden der
neuen Regierung. Diese tritt mit einer entschiedenen Minorität auf, sie hängt
von ver Gnade ihrer Gegner ab und ist daher im besten Fall eine schwache
Regierung. Nun sind wir überzeugt, daß es außerhalb des whighistischen und
torystischcu Amtsadels an Kandidaten für das Ministerium nicht fehlen würde,
vielleicht Herr Milner Gibson selbst. Die Sache ist aber die, daß in Eng¬
land ein Ministerium, um zu regieren, die Majorität des Parlaments haben
muß. Die Wahrscheinlichkeit ist. daß die Tones Nächstens fallen, dann ist die'
Königin durch den Gebrauch verpflichtet, den officiellen Führer der Opposition
zu berufen d. h. Lord Palmerston. Dieser bildet ein neues Ministerium, er
begeht wieder eine Ungezogenheit, man gibt ihm wieder einen Denkzettel,
d. h. ein Mißtrauensvotum.
Vielleicht ist dann die Folge, daß er es ruhig einsteckt, daß die Königin,
in der Ueberzeugung, man könne die Regierung nicht alle halbe Jahr wechseln
(es handelt sich nicht um ein paar Minister, sondern um ein ungeheures
Beamtenpersonal), ihm zu bleiben befiehlt, oder sie versucht vielleicht auch ein
ganz neues Ministerium außerhalb des Parlaments.
Das alles sind freilich nur Möglichkeiten, aber sie drängen sich doch zu
sehr dem besorgten Blick auf, als daß man sich nicht berechtigt fühlen sollte,
auch ohne für Lord Palmerston zu schwärmen, den Wunsch auszusprechen, daß
das Parlament von seiner Prärogative, Mißtrauensvoten zu geben, einen
mäßigem Gebrauch machte; daß es ein Ministerium nur dann stürzte, wenn
es im Princip mit ihm uneins ist, nicht aber wenn es ihm irgend einen
Formfehler oder eine Unart vorzuwerfen hat.
Was ein Salon sei ist nicht so leicht zu sagen als es scheint. Zwar
die Frau eines Börsenfürsten, welche schön geputzt in prächtige» Zimmern eine
Schar elegant gekleideter Leute empfängt, wird nicht ermangeln mit Selbst¬
gefühl von ihrem Salon zu sprechen, aber die, welche die wahren Salons
kennen, werden nur ein mitleidiges Lächeln für sie haben. Ein Salon hat
nichts gemein mit jenen Festen, wo man eine Menge mehr oder weniger
glänzende Toiletten zusammenbringt, die sich nicht kennen und sich deshalb
auch nichts zu sagen haben, und wo im Gedränge eine Anzahl kleiner
Koketten und Fats schwache Versuche machen sich im Kreise zu drehen, bis
die Stunde des Soupers kommt und ein Sturm auf das Büffet beginnt, als
ob es sich darum handle gratis zu. speisen. Das Lob solcher Gesellschaften
ist gesungen, wenn es heißt: it ^ ^rv-rit. miormümczut <l0 moinlc; d. h. mehr
als die Gemächer fassen können, und wenn man sich dann seinen Paletot mit
Lebensgefahr erobern muß, so ist der Abend denkwürdig und wird während
der nächsten Woche besprochen werden. Das imperialistische Paris, die Herren
Mirös und Milhaud mögen sich mit ihren Freunden an solchen Festen, und
Diners von 100 Couverts ergötzen, aber sie mögen sich nicht schmeicheln
einen Salon zu haben. Ein Salon ist eine vertraute Bereinigung, wo man
sich kennt und sucht, wo man erfreut ist sich zu begegnen; die Frau vom
Hause bildet den Mittelpunkt und das Band unter den Gästen, und je aus¬
gezeichneter sie ist, desto mehr werden Leute von Geist wünschen ihr Halts zu
besuchen und durch sie mit andern bedeutenden Personen bekannt zu werden.
Bor allem aber fordert ein Salon ähnliche Gewohnheiten, verwandte Ideen,
gleichen Geschmack und jene Urbanität, die gleich entfernt von Hochmuth wie
von Familiarität, ungezwungen eine Unterhaltung anzuknüpfen und abzu¬
brechen weiß, und jedem Gedanken eine feine Form gibt. Der wahre Salon
muß eine kleine Republik sein, wo die einzige Gleichheit herrscht, die auf
Erden keine Chimäre ist, die Gleichheit der Intelligenz, des Wissens und der
Bildung, eine Republik, in der niemand aufgenommen wird, der nicht werth
wäre, sich mit den Ersten und Besten zu verbinden, und wo nnr ein Souverän
— der Geist — anerkannt wird. Der Glanz der Gemächer thut nichts zur
Sache, im Gegentheil aller ideenloser Luxus stört, ein gewisser Comfort ist
allein für den Salon erforderlich, und je seiner und sinniger derselbe ist, je mehr
das Innere des Zimmers kunstli>-heute und gebildete Inwohner zeigt, desto
rascher werden sich die Gäste in demselben heimisch fühlen, wir haben Salons
gekannt, wo man in zwei kleinen Zimmern des Zwischenstockes die ersten
Namen jener Republik des Geistes vereinigt finden konnte.
Paris ist, — das wird niemand leugnen tonnen, die Heimath und
Vaterstadt der Salons, die pariser Salons allein haben eine Geschichte, die
mit den, Hotel Rambouillet beginnt und noch fortgeht, freilich jetzt stark bergab
zu gehen scheint. Diesen Salons, den Leuten, welche sie gebildet, den Werken,
welche sie angeregt, verdankt Frankreich zum großen Theil seinen Einfluß auf
die europäische Civilisation, denn hier bildete sich jener feine weltmännische
Ton, der im achtzehnten Jahrhundert das Ideal der hohem Stande aller
Länder ward. Daß wir diesem Einfluß, wie er namentlich auf Deutschland
gewirkt und dessen nationale Bildung hemmte, nicht an sich das Wort reden
wollen, braucht kaum bemerlt zu werden. Es liegt auf der Hand, daß, wenn
man vor allem geistreiche Wendungen und epigrammatische Spitzen sucht, die
eingehende Tiefe der Betrachtung leicht vernachlässigt wird, daß, wenn man
folgenschwere Erscheinungen in einem spielenden Witzwort zu bändigen sucht,
damit nicht immer tue Losung des Problems gefördert wird; aber doch wird
niemand, der feinere Geistesbildung zu schätzen weiß, sich dem Zauber eines
wahren pariser Salons entziehen. Was in der That kann volltonunner sein
als die Weise, wie eine ausgezeichnete französische Dame ihre Gäste empfängt?
Für jeden hat sie ein verbindliches Wort, indem sie jenen begrüßt stellt sie
diesen vor, ein Wort genügt, um auf gleiche Interessen, gemeinsame Bekannt¬
schaften hinzuweisen, Erinnerungen zu erwecken; ihr Theetisch, dem sie präsidire,
bleibt der Mittelpunkt, an dem ein Gast nach dem andern sich ablöst, an
verschiedenen Punkten des Gemaches bilden sich Grv.pplm um andere Damen,
jede Sonne hat ihre Trabanten. Auf den Kamin gelehnt entwickelt dort ein
Maler seine Ansicht über die moderne Kunst. hier bespricht ein Dichter leise
den Erfolg seines soeben beendeten Dramas, auf jener kleinen Ottomane
beräth sich ein junger ehrgeiziger Politiker mit seiner Beschützerin, was am
besten für seine Carriere zu.thun sei, diese Dame läßt sich von verschiedenen
Kandidaten für den vacanten Sessel der Akademie den Hof machen, drüben in
der Ecke debattiren zwei ergraute Diplomaten die neueste Note des Ministers
des Auswärtigen. Ueberall ist Leben, Bewegung, nirgend Lärm und Ge¬
dränge, man kommt leise und verschwindet ohne Abschiedsfeierlichkeiten um
Andern Platz zu machen. Gegen Mitternacht leert sich der Salon und die
vertrautem Freunde bleiben, man rückt am Theetisch der Frau vom Hause
zusammen und dann beginnt oft erst das interessanteste Gespräch, ein eminenter
Mann nimmt das Wort, ein anderer replicirt. ein dritter wirft eine Bemerkung
dazwischen, Rede und Gegenrede wechseln in rascher Folge und man bemerkt
die Flucht der Zeit nicht. Die' seine Plauderei, das havon' ca-ufm-, durch
seinen Geist dem Geist des Andern Funken entlockend, das ist das Doctor-
diplom des Salons. Ohne Salons hätte Frankreich wol seine Pascal,
Bossuet. Corneille, aber leine La Rochefoucauld, Labruye.re, Vauvenargues,
keinen Fürsten von Ligne, der, obwol Belgier von Geburt, vielleicht der voll¬
endetste Ausdruck des französischen Weltmannes im neunzehnten Jahr¬
hundert war.
Die Restauration ist für die innere Geschichte Frankreichs in der Neuzeit
wol unbedingt die interessanteste Epoche, schon weil sie die merkwürdigsten
Gegensätze in sich schloß. Das Land war mit kriegerischem Ruhm übersättigt
und dann tief gedemüthigt; der Druck, den das Kaiserthum auf das geistige
Leben übte, war abgenommen, man wandte sich den Künsten des Friedens
und den großen Fragen der innern Politik zu, welche damals die besten
Kopfe beschäftigten. Ein Bourbon saß wieder auf dem Thron, die alten
Familien waren zurückgekehrt und ihre Häupter hatten Sitz in der Pairsl'ammer.
wo auch eine Reihe der bedeutendsten Generale Napoleons Platz gefunden hatten.
Der Bonapartismus war zu der Zeit so gut wie todt, Chateaubriand, Villöle,
Lammenais, de Serre, Bonald, de Maistre, Constant standen auf der Hohe
des Ruhms, dem Guizot, Cousin, Thiers, Villemain und andre erst zustrebten.
Die Wissenschaft hatte Cuvier, Laplace, Nenouard, Remusat. Lamartine, de
Bigny, Victor Hugo, Delavigne begannen damals ihre Laufbahn, die Theater
waren im vollsten Glänze, namentlich entwickelte sich das Vaudeville und
das seine Konversationsstück aus dem Thvatre de Madame, dem spätern
Gymnase. Ackerbau und Industrie waren in wunderbarem Aufschwung
und doch war der Cultus des Goldes noch nicht allmächtig, wie er
es später ward. Man kann sagen, daß trotz aller.folgenschweren Mißgriffe
der Negierung und der Regierten die Zeit der Restauration doch die glücklichste
Epoche der neuern Geschichte Frankreichs war. Unter solchen Bedingungen
mußte der Salon, wie wir ihn oben definirten, gedeihen, wenn jene Gleich¬
heit der Intelligenz, die für ihn erforderlich >se, angenommen wird, so dienen
bis zu einem gewissen Maße die Gegensätze nur dazu, den Verkehr zu beleben
und mannigfaltig zu machen, unter der Restauration berührten sich der Geist
des alten und des neuen Frankreich. Man sah Edelleute, die ihre Erziehung
noch vor 1789 empfangen und im Exil mit ihrer Treue gegen die Bourbonen
alle Traditionen der alten Zeit bewahrt hatten, viele derselben wie z. B. Graf
Latour du Pin und Graf Se. Priese waren vollkommne Typen der graziösen
Urbanität und Würde des französischen Grand Seigneur; aber wie das
wiederhergestellte Königthum mit seiner Charte und den beibehaltnen bona¬
partistischen Institutionen doch nicht mehr die alte Monarchie war, so machte
sich selbst in den hochroyalistischen Kreisen ein neues Element geltend, das
die Alten fremd anwehte. Die Freiheit der Sitte, die einzige, die Frankreich
wirklich und seit langer Zeit besessen, genügte dem jungen Geschlecht nicht
mehr, man wollte politische Institutionen nach englischem Muster, es war
eine Zeit des Strebens und Werdens, welcher der zu vollständige Sieg der
neuen Ideen und bald nachher der Verfall folgte. Je mehr wir jetzt mit Be¬
dauern dem Sinken des französischen geistigen Lebens zusehen, je mehr der
Materialismus überhandnimmt, desto dankenswerther ist es, daß eine fein¬
gebildete Frau, wie Mad. Ancelot, ihre Erinnerungen aus der Zeit mittheilt,
wo jenes Leben in hoffnungsvollen Aufschwung begriffen war.
Sie führt uns zuerst in den Salon der berühmten Malerin, Madame
Lebrun. deren Blüte noch unter Ludwig XVI. fällt, die Marie Antoinette
und den ganzen Hof von Trianon porträtirt hat. Die Gunst der königlichen
Familie hob die junge Künstlerin, die bald der Liebling der ganzen Gesell¬
schaft ward, alles wollte von ihr gemalt sein, ihr kleiner Salon in der
Rue de Cl6ry faßte nicht die Menge der Gäste, man sah Marschälle und
Herzöge in Ermanglung von Sesseln sich auf bey Fußboden setzen. Neben den
großen Heroen wie Nonilles, Vaudreuil, S6gur, Ligne sah man Diderot,
d Alembert. Marmontel. De la Harpe, David und Champcenetz. das Epigramm
der französischen Sprache, wie er genannt wurde, der, vom Revolutions¬
gerichte zum Tode verurtheilt, fragte, ob er sich einen Stellvertreter wie in
der Nntionaigardc suchen dürfe. Die liebenswürdige Herrin dieses Salons
flüchtete sich bei den ersten Symptomen der Republik nach Italien, wandte sich
später nach Se. Petersburg, wo sie von Katharina und ihrem Hofe sehr ge¬
feiert ward und kehrte über Wien und Berlin nach Frankreich zurück. Unter
der Restauration war ihr Haus ein Mittelpunkt für strebende junge Künstler
und ihre alten Freunde, die sie fast alle überlebte.
Einen sehr verschiednen Kreis sammelte eine andere malerische Größe
um sich, der Baron Görard, der, obwol wir die Bewunderung von Mad.
Ancelot für seinen Belisar und seinen Amor und Psyche nicht theilen, doch
namentlich im Porträt einer der ersten Namen des neuen Frankreich bleibt.
Im Anfang der Restauration stand er auf dem Höhepunkt, er malte 1815
fast alle gekrönten Häupter, man sagte damals, wenn er der Maler der
Könige sei, so sei er auch der König der Maler. Dabei war er ein Mann
von Geist und Witz, Ein sehr mittelmäßiger Maler, der seine bedeutenden
Genossen in einer Flugschrift schlechtgemacht hatte, zeigte ein für die nächste
Ausstellung bestimmtes Bild in seinem Atelier. „Wie glücklich sind Sie, mein
Freund," sagte G6rard, „Ihr Bild wird nach dem was Sie von den meinigen
gesagt haben noch nicht das schlechteste der Ausstellung sein!" — In seinem
Salon fand man außer Künstlern wie de la Croix, der in der Unterhaltung
ebenso fein als wild in seinen Bildern ist. Männer der Wissenschaft wie
Cuvier. die beiden Berlins, Gründer des Journal des Dvbats, das sich da¬
mals zu einer Macht erhob, den spanischen Staatsmann und Schriftsteller
Martinez de 1a Rosa, die schöne und geistvoll excentrische Fürstin Belgiojoso.
Rossini sang, dort zuerst eine der Arien seines Barbier, die alle elektrisirte,
dort erschien auch zuerst Delphine Gay. die später als Madame de Girardin bekannt
ward. Zu den interessantesten Personen dieses Salons gehörten Beule (Sten¬
dhal) und M6rima>e. deren Unterhaltungen durch die entgegengesetzte Natur ihres
Charakters und Geistes unnachahmlich originell waren. M6rim6e hielt sich in
vornehmer Ruhe und drückte sich in eleganter Einfachheit aus, selbst wenn
er spottete. Beyle bewegte sich in beständigen Widersprüchen und Mystifi¬
kationen, in ihm kreuzten sich tausend verschiedne Empfindungen in wenig
Minute«, alles regte ihn auf, nichts ließ ihn kalt, er schrieb eine Reihe von
Büchern und versicherte bald, sie seien so schlecht, daß er ein Schiff damit
in Ballast befrachtet habe, bald, daß man in Frankreich zu dumm sei ihn
zu verstehen. Bon besonderem Interesse muß uns das Bild sein, das die
Verfasserin von unserem großen Landsmann Alexander von Humboldt ent¬
wirft , den sie bei G6rard zuerst sah. „Der Erzähler war ein Mann von
mittlerer Größe, in der Mitte der vierziger Jahre, seine Haltung zeigte einen
Edelmann von alter Familie, sein, Gesicht war fein, geistvoll, lebhaft und ver¬
mehrte den Reiz seiner Worte. Ich fragte nachdem Namen und mein Erstaunen
war groß als ich hörte, es sei der gelehrte H. von Humboldt. Seine univer¬
selle Berühmtheit ließ mich unwillkürlich an einen Mann von großen Studien,
tiefen Betrachtungen, ungemessener Gelehrsamkeit denken. Die geistreiche Auf¬
geräumtheit, die lebhafte Einbildungskraft, die ich bei ihm kennen zu lernen
Gelegenheit hatte, wunderten mich zuerst, später sagte ich mir, daß man wol
nur mit einer lebhaften Einbildungskrast die Höhen und Tiefen der Wissen¬
schaft ermißt, so wie man in den Künsten der Einbildungskraft nur dann das
Höchste leistet, wenn man dazu die Borzüge des Studiums und eines durch¬
gebildeten Wissens mitbringt. An jenem Abend erwartete man den Abb6 de
Pratt, den Humboldt kennen lernen sollte. Beide hatten viel zu sagen, denn
beide dachten viel und hatten Ideen über alles, Humboldt sprach gut und viel,
der Abb6 gut und immer. Er nahm zuerst das Wort und behielt es ge¬
raume Zeit, aber er hatte das Unglück zu husten und sein Zuhörer übernahm
die Rolle des Redners / er verlor keine Zeit, die Worte und Ideen drängten
sich, alles hörte still zu, man glaubte schon durch den feinsinnigen Scharfblick
seiner Bemerkungen und seinen Redefluß werde Preußen siegen, aber er
mußte sich schneuzen, und diesen Vortheil ließ sich der Abb6 nicht entgehen,
seine Beredtsamkeit war hinreißend und er wußte seine Meinung so geschickt
zu vertheidigen, daß man so lange er sprach seiner Ansicht war. H. v. Hum¬
boldt wollte am Ende eine,s Satzes einfallen, aber de Pratt sprach fort und
so folgte bald ein vollständiges Duo, beide sprachen zugleich, jeder zu einer
verschiedenen Gruppe, es war ein Streit wo es keinen Besiegten gab; Humboldt
sagte hernach lachend, er habe nicht ein Wort des Abb6 verloren und wieder¬
holte alles, was derselbe gesagt, indem er seine Stimme und Geberden
täuschend nachahmte." —
Eine andere Welt bewegte sich in dem Salon der Herzogin von Abrantes,
der Witwe Junots, der sich wie Bernadotte vom gemeinen Soldaten empor¬
geschwungen und nach seinen Ahnen gefragt, antwortete, „ich selbst bin mein
Vorfahr!" Die Herzogin war eine liebenswürdige und geistreiche Frau, aber
verstand unglücklicherweise nicht das elende Metall zu schätzen; alle Augenblicke
war sie in Geldverlegenheit, und konnte sie über eine Summe verfügen, so
bezahlte sie nicht ihre Schulden, sondern kaufte überflüssige Niedlichkeiten.
Eines Abends ward der Thee statt um 11 Uhr erst nach Mitternacht servirt,
die Herzogin wußte ihre Gesellschaft durch hinreißend interessante Unterhaltung
über diese Verzögerung hinwegzutäuschen, aber der Grund war, daß am
Morgen das Silberzeug aus Geldmangel ins Pfandhaus gesandt war, erst
als der Thee genommen werden sollte, bemerkte man, daß noch Löffel zu den
Tassen gehörten und schickte geschwind zu Bekannten, dieselben zu leihen. Dies
war die Witwe des Mannes, der 1807 unumschränkter als ein König über
Portugal verfügte! Aber in wie manchem Salon spielt dieselbe Geschichte, man
sieht es dein graziösen Lächeln der Dame vom Hause nicht an, welche Mühe
es ihr erst vor einigen Stunden gekostet, ihre Gläubiger zu beschwichtigen,
das moderne Leben bewegt sich in Contrasten. Madame Ancelot gibt uns
einige interessante Silhouetten aus dem abrantesschen Salon: Bouilly, der
die Manie hatte, rührende Leichenreden zu halten, Fräulein Plessy, die dem
Theater zu Liebe eine glänzende englische Heirath abwies, und vor allem
Balzac, mit seinen Widersprüchen, seinem ruhelosen Treiben, mit fabelhaften
Entwürfen beschäftigt, während ihm alles mißglückte, immer extrem. In seinem
Zimmer hatte er einen kleinen Altar mit einer Statue Napoleons errichtet,
unter der man las: ,,Was er mit dem Schwert begonnen, werde ich mit der
Feder vollenden." Tiefverschuldet träumte er stets von Reichthümern und er--
ging sich in den wunderlichsten Passionen, wie viele Schriftsteller wußte er
nicht zu sprechen, seine Unterhaltung war ein lebhafter, bizarrer Monolog,
der nur von ihm selbst handelte.
Die Salons, welche in sich selbst eine unwillkürliche Anziehungskraft be¬
saßen, stellt die Verfasserin einem gegenüber, der mit Berechnung und Mühe
gegründet und erhalten ward / den der Madame Rücamier, jeuer einst so be¬
rühmten Schönheit. Dies eine Specimen ist das Bild eines ganzen Genres
in Paris. Es ist kaum glaublich, welche Künste eine Dame anwenden kann,
um sich ihren Salon zu bilden, oder gewisse Personen für denselben zu ge¬
winnen , alle Hebel des weiblichen Ehrgeizes werden in Bewegung gesetzt, die
Intriguen eines Ministercandidaten sind nichts dagegen, man hat ein großes
Borbild, das erreicht werden soll, wie vielen haben die Lorbeeren der Fürstin
Lieven schlaflose Nächte gekostet! Das Opfer wird mit tausend Fäden geschickt
umsponnen, und glaubt wol zu triumphiren, während es zum Triumph seiner
Nachsteller» dient. Selten ist uns so lebendig entgegengetreten, daß^man die
Menschen doch am sichersten regiert, wenn man auf ihre Schwächen und vor
allem auf ihre Eitelkeit speculirt. Der Kunst der feinen Schmeichelei verdankte
Madame Nöcamier das, was ihr Geist oder vielmehr ihr Mangel an Geist
nicht erreichen konnte. Wenn sie einen berühmten Mann zum erstenmal
empfing, sagte sie ihm: „Die Bewegung, die mich vor einem so ausgezeich¬
neten Dichter (Maler oder je nach Umständen) ergreift, erlaubt mir nicht
Ihnen, wie ich es wünschte, meine ganze Verehrung und Bewunderung aus-
zudrücken — aber Sie errathen — Sie verstehen — meine Bewegung sagt
Ihnen genug." Und sie fingirte diese Bewegung so vortrefflich, daß die Ge¬
schmeichelten doch in die Falle gingen. Ani einen berühmten Staatsmann
für ihren Salon zu gewinnen, miethete sie eigens seiner Villa gegenüber ein
Landhaus, und bat dann um Erlaubniß, in seinem Park spazieren zu dürfen,
um so mit ihm anzuknüpfen. — Man wird in manchen Salons auf eine
berühmte Person eingeladen, da flattern eine Menge Billets umher, daran
zu erinnern, daß morgen der Empfangsabend von Madame R, sei und in
einer unschuldigen, ganz beiläufigen Nachschrift heißt es: „Sie werden Herrn
Beranger, oder — Mad. Ristori, oder — den Hospodar der Walachei bei mir
sehen," ein Hauptgott soll die cui minvrum goutiren herbeiführen. Bei
Madame Nvcamier war dieser Hauptgott, dieser Dalai-Lama, wie Beyle sagte,
Chateaubriand, um ihn zu sehen, ging man zu ihr. Der große Mann saß
unveränderlich auf der linken Seite des Kamins und spielte mit einer kleinen
Katze, nur aus seinem Minenspiel errieth man, ob die Unterhaltung ihn inter-
essirte. je weniger sie ihm gefiel, desto lebhafter liebkoste er die Katze, nur
zuweilen konnte sich sein etwas großer, aber edler Kopf beleben, die Augen blitzten,
und seine sonore Stimme, welche gewissen Worten einen unnachahmlichen
Accent zu verleihen wußte, ward bezaubernd, da konnte er von geistreichen
Bemerkungen und Anekdoten sprudeln, aber solche Momentewaren selten, zu
der Zeit, wo die Verfasserin ihn sah, (es war unter der Julimonarchie) lebte
er in Mißmuth über verfehlte Ziele und Selbstvergötterung seines Talentes.
Wir haben nur einige der Salons berührt, welche Madame Ancelot uns
schildert, der Raum fehlt uns ihr weiter zu folgen in alle die Kreise, in welche
sie den Leser führt. Viele der Persönlichkeiten, die sie zeichnet, verdienten noch
nähere Betrachtung, so die Marquise de Talaru. die 1815 noch die Mode
trug, in welcher sie 1789 als junge Frau bewundert war, die Gräfin Cara-
man, einst Madame Tallien, die ihrerseits unter der Restauration in der grie¬
chischen Tracht des Directoriums erschien, der liebenswürdige Bibliothekar
von Se. Genöviiwe Mr. de Lancy, der Vicomte d'Artincourt, dieser Typus
französischer liebenswürdiger Eitelkeit. Charles Robler und andere. Doch wir
überlassen, dies dem Leser des interessanten Büchleins, das mehr als manche
umfangreiche Werke eine Idee von dem geistigen Leben während der Restau¬
ration gibt. Dabei ist die Sprache vorzüglich und die feinen und selbst tiefen
Bemerkungen, mit denen die Verfasserin ihre Salonsbilder begleitet, zeigen,
daß sie selbst zu jenen geistig ausgezeichneten Frauen zu zählen ist, welche sie
so wohl zu schildern weiß.
Der Selbstherrscher der Franzosen liebt es, sich von Zeit zu Zeit in Reden
oder officiösen Schriftstücken an die öffentliche Meinung zu wenden, welche,
wie er bei Schluß der großen Ausstellung 1855 erklärte, doch schließlich immer
den Sieg davontrage. Bei diesen Auseinandersetzungen ist nur eine Bedin¬
gung stillschweigend angenommen, daß jene proteische Macht, welche der
Kaiser öffentliche Meinung nennt, niemals antworte, wenigstens niemals Zwei>
fel darüber laut werden lasse, ob jene Adressen ihre wirklichen Gefühle aus¬
drücken. Die Kritik jener Reden und Moniteurartikel ist daher in Frankreich
untersagt und da man trotz des Einschüchterungssystems gegen die Nachbar¬
staaten der belgischen, piemontesischen. deutschen und vor allem der englischen
Presse das Denken noch nicht ganz hat legen können, so werden die mi߬
liebigen auswärtigen Zeitungen nicht zugelassen. Die kaiserlichen Aeußerungen
sind also, um mit H. v. Gerlach zu reden, im eminenten Sinne Monologe.
Es versteht sich nun von selbst, daß dieselben bei der hervorragenden Stellung
Napoleons III. immer von Interesse und oft von großer Bedeutung sind, es
kann auch nicht geleugnet werden, daß sie gewöhnlich mit vielem Geschicke
und namentlich mit kluger Berechnung der Gefühle und Vorurtheile des
französischen Volkes gehalten waren; das Interesse, das sie erregen, ist ein
kleiner Ersatz für die sonstige Farblosigkeit und Stille in der politischen Presse,
und dafür kann die kaiserliche Regierung schon das Schmollen dieser oder
jener auswärtigen Macht über diesen oder jenen Passus hinnehmen. Die
neueste ossiciöse Flugschrift: „Der Kaiser Napoleon III. und England" hat
einen andern Charakter, wir halten sie vom napoleonischen Standpunkt für
einen Fehler. Bisher sprach man entweder zu Frankreich im Allgemeinen oder
seiner Vertretung in den großen Staatskörpern, zu einem uncivilisirten Feinde
wie Rußland, oder kleinern Staaten, welchen Verweise ertheilt wurden, dies¬
mal spricht man zu einem mächtigen, freien und gereizten Volke, freilich mit
der Absicht es zu beruhigen und aufzuklären; eine schwierige Aufgabe, zumal
da dies Volk sehr wohl weiß, daß die Aufreizung und die Beschwichtigung
aus demselben Lager kommen. Und war dann diese Flugschrift nöthig?
wäre sie nicht besser ungeschrieben geblieben?
Der Vorgang der Sache war einfach dieser. Nach dem Attentat
versucht die französische Regierung von der englischen Maßregeln gegen die
Flüchtlinge zu erreichen. Lord Palmerston zeigt sich ungemein willfährig und
verheißt die Einbringung einer bezüglichen Bill. Da man so guten Willen
jenseit des Kanals sieht, denkt man diesseits auch etwas weiter gehen zu können
und die Obersten halten ihre drohenden Reden, allmülig aber fängt der Un¬
wille an sich in Englaud zu regen. Das Ministerium fordert eine besänftigende
Depesche von Frankreich, diese wird verabfolgt, aber nichts desto weniger Lord
Palmerston gestürzt, weil er die erste Depesche vorn 20. Jan. nicht sofort be¬
antwortet hat. Damit war die Lage, wesentlich geändert, aller Welt ward
gezeigt, daß England aufgebracht und nicht gesonnen sei, sich eine Belei¬
digung oder Verkümmerung seiner Institutionen gefallen zu lassen. Der
Kaiser Napoleon erkannte diese Sachlage wohl, er kennt auch England zu gut,
um nicht zu wissen, daß er, da ihm die Aufrechthaltung des guten Vernehmens
nothwendig ist, einlenken müsse und er thut es; man erklärt, auf die Einbrin¬
gung der verworfenen Bill komme es nicht an, ti'e kaiserliche Negierung habe
nur die Thatsache des Uebels dem englischen Ministerium signalisirt, das
Mittel der Abhilfe bleibe letzterem natürlich vorbehalten und könne Frankreich
gleichgiltig sein. Ans der andern Seite thut Lord Derbys Cabinet das
Möglichste, die Allianz zu bewahren, zwar die Murdcrbill muß bei Seite ge¬
legt und eine Antwort nach Paris gesandt werden, aber man thut letzteres
in den höflichsten Formen, die beiden Regierungen zeigen sich gegenseitig erst
die Entwürfe der Depeschen, man streicht und ändert nach gemeinsamer Be¬
rathung, man erwähnt in den Wahlreden des Kaisers nur mit der größten
Auszeichnung und am 12. März zeigt Disraeli im Unterhause an, daß soeben
eine Depesche des Grafen Walewski eingetroffen sei, welche die zwischen Eng¬
land und Frankreich stattgehabten Differenzen vollständig und für beide Theile
ehrenvoll löse. Die Allianz ist also hergestellt, daß das Einvernehmen nach
einer schwierigen Ausgleichung gleich wieder herzlich sei, ist unmöglich, aber
der stille Lauf der Zeit würde am meisten dazu gethan haben, die gegenseitige
Bitterkeit zu verwischen — warum, fragt man sich, warum also diese neueste
kaiserliche Flugschrift? Dieselbe recapitulirt alle Attentate, die von England
aus gegen das Leben Napoleons gerichtet sind und hält dem englischen Volke
die Wohlthaten vor. welches es von dem Herrscher der Franzosen em¬
pfangen. Dadurch fordert sie die Kritik und neue Angriffe der englischen
Presse heraus, denen der Constitntionncl antworten wird, worauf dann wie¬
der grobe Repliken jenseits des Kanals nicht ausbleiben werden. Wel¬
chen Nutzen kann diese Schrift haben, die außerdem nicht die Consequenz
aus dem Tadel gegen England zieht und keine Genugthuung fordert?
Sie macht den Eindruck, als sei sie nicht aus einem Gusse, und als seien
die Forderungen, welche sich aus den Vorwürfen naturgemäß ergeben wür¬
den, gestrichen, nachdem die Versöhnung osnciell erfolgt war, also nichts
mehr gefordert werden konnte. Sehen wir uns nun die Schrift selbst etwas
näher an. Sie entwickelt zuerst, wie der Präsident und spätere Kaiser mit
großer Mühe und trotz nationaler Antipathien die Allianz zu Wege gebracht.
Die Legitimisten wie die Demokraten seien ihr entgegen gewesen, die beab¬
sichtigte Kooperation zum Schutz der Pforte (1849) habe den lebhaftesten
Widerstand gefunden, das Ultimatum Palmerstons in der Pacificofrage hätte
ohne die Vorsicht des Präsidenten zum Bruche geführt. Die Broschüre kommt
dann zum Staatsstreich und beklagt sich bitter, daß derselbe, ,,obwol ein Act
unsrer innern Lage, der niemandem im Ausland etwas anging," der Gegen¬
stand lebhaftesten Tadels der englischen Presse gewesen. Daß der Staats¬
streich England als Staat officiell nichts angehe, wurde durch die sofortige
Anerkennnung bewiesen, aber wenn die britische Negierung damals nichts
desto weniger ihre Küsten befestigte, so wird man sich nicht darüber verwun¬
dern dürfen, daß eine PresM die alles vor ihr Forum zieht, auch den zwei¬
ten December bespricht und es nicht billigt, daß man ein Volk rettungshalber
seiner sämmtlichen politischen Rechte beraubte. Daß nun diesem aggressiven
Verfahren gegenüber Napoleon III. große Mäßigung bewahrte, wie die Schrift
sagt, ist vollkommen wahr und zeugt von politischem Blick, denn wie es
heißt „große Völker können sich nicht fruchtlos beleidigen, und thun sie es,
so sind sie nahe daran, in Kampf zu gerathen; das geschah nach dem Frie-
den von Amiens, der durch die heftigen Reden und Zeitungsartikel gegen
den ersten Konsul compromittirt ward." Der Kaiser hielt also an der Idee
der Allianz fest, bis die orientalische Krisis dieselbe zum Abschluß brachte;
die hervorragende Stelle, welche Frankreich dabei gespielt, die überlegenen
Streitkräfte, welche es nach der Krim gesandt, der traurige Zustand der engli¬
schen Armee im Anfang 1855 werden natürlich sehr betont. Es sind nun
diese Thatsachen zwar richtig, obwol man bei dem Zustand der Presse in den
beiden Ländern die englischen Mißgriffe sehr übertrieben und die französischen
verborgen hat, aber man würde sehr irren, wenn man in diesen größern
Leistungen Frankreichs Acte der Großmuth sehen wollte; je mehr es England
überbot, desto mehr trat die »apoleonische Politik in den Vordergrund und der
Kaiser erschien als der alleinige Schiedsrichter der europäischen Politik, und
darauf allein, nicht auf die Opfer, welche dies dem Lande auferlegte, kam es
ihm an. Merkwürdigerweise geht die Schrift ganz über den Frieden selbst
hinweg, hierbei erschien der Kaiser vor allem als der, welcher das Zünglein
der Wage hielt, der Friede ward England aufgedrungen, weil Napoleon sicher
wußte, daß Rußland erschöpft sei, daß Frankreich des Krieges mindestens
überdrüssig war und daß England beim Fortgange desselben alle seine ge¬
waltigen Hilfsmittel entwickeln und Frankreich in Schatten stellen würde.
Dieser Frieden, dem Großbritannien sich fügte, ist daher klüglich nicht mit
nnter den Wohlthaten seines AUiirtcn aufgezählt. Es war zu erwarten, daß
der Verfasser sich über Englands Meinungswechsel in der Frage der Fürsten-
thümer beklage, aber es ist falsch, wenn er sagt: „in diesem Augenblicke
brach der indische Aufstand aus", denn der Umsprung der englischen Politik
in der rumänischen Frage war ein Jahr vorher durch Lord Stratford zu
Wege gebracht. Daß es nun sehr richtig war, die Verlegenheit der Engländer
nicht zu sehr auszubeuten, bestreiten wir nicht, uur möge man dies nicht
wieder ans Rechnung reinen Edelmuthes der französischen Politik schreiben,
es war ein Nechencz'empel; wollte man die Allianz aufrecht halten, wie es für
Napoleon nothwendig ist, so durfte man Englands Verlegenheit nicht vermeh¬
ren, übrigens vergißt der Verfasser, daß ihr zufolge Frankreich in Osborne
wesentlich seinen Willen durchsetzte. Die Schrift kommt dann zu dem Haupt¬
gegenstand, dein Attentat vom 14. Januar, das übrigens, wie sie versichert,
in Frankreich weit mehr Unwillen als Unruhe hervorgerufen, sie zählt die
frühern Attentate anf. die von England aus angestiftet seien, schildert die mord-
süchtigen Absichten der Flüchtlinge und gibt einen Abriß des Processes gegen
Jean Peltier wegen Beleidigung des ersten Evnsuls, als Fingerzeig wie das
englische Volt sich zu benehmen habe.
Wir glauben dieser neueste offiziöse (5rguß wird der napoleonischen Poli¬
tik nichts nützen, sondern schaden, die englischen Blätter nehmen ihn schon
scharf mit. Mit der Wendung, welche die Dinge in England genommen,
können wir aber nur zufrieden sein. Durch die Kundgebungen des tiefen Un¬
willens, der sich in dem Votum vom 19. Febr. und der Bewegung im bri-
lischen Volke aussprach, ist Frankreich gezeigt, daß sein Wille doch nicht für
die unabhängigen europäischen Staaten Gesetz ist, seine Absichten und den
Stil, in welchem es spricht, wo es kann, ersieht man aus der Depesche vom
20, Januar an seinen Gesandten in Bern, die soeben veröffentlicht ist.
Wir haben im Eingang zu diesem zweiten Artikel zunächst noch eine Be-
sprechung nachzuholen, welche eigentlich allen weitern Erörterungen hätte vor¬
angehen müssen. Man versichert einen Gegenstand, sein Leben oder sonst etwas,
d. h. man veranlaßt einen andern, daß dieser für gewisse im voraus bezeich¬
nete Fälle eine Entschädigungspflicht übernehme und zwar dies gegen die Vor¬
ausbezahlung eines in der Regel unbedeutenden Procentsatzes der stipulirten
Entschädigungssumme. Daß ein Einzelner sich einen solchen Vortheil zusichern
läßt, nimmt nicht Wunder, viel eher kann es auffallen, daß der andere die
Ersatzpflicht übernimmt und daß man ihm die Fähigkeit zutraut, ihr erforder¬
lichen Falls zu genügen. Und man traut sie ihm zu. nicht weil er eine einzelne
oder mehre Gefahren übernommen, die seinem Vermögen entsprechen, sondern
weil und je mehr Gefahren er auf sich geladen, deren Gesammtbetrag weit
über sein Vermögen hinausgeht. Dennoch setzt sich der andere nicht blos
freiwillig in diese Lage, sondern er hofft mit Zuversicht sogar einen Gewinn
aus der Uebernahme von recht vielen Gefahren zu ziehen. Gewiß eine etwas
wunderbare Sachlage.
Es ist indeß wol jedermann bekannt, wodurch sich solche anscheinende
Widersprüche lösen. Je mehr Ersatzpflichten für eine Reihe von Gefahren ein
Verhinderer über sich nimmt, um desto geringer kann allgemein die Wahrschein¬
lichkeit angenommen werden, daß jede einzelne mögliche Gefahr wirklich ein¬
trete. Aus den für jede einzelne Gcfahrübernehmung (Versicherung) gesam¬
melten Procentsätzen soll das Capital entstehen, um nicht blos die erforderlichen
Entschädigungen zu gewähren, sondern auch dem. der die Gefahr übernimmt,
einen Gewinn zu lassen. Wenn hier und da Versicherungsgesellschaften bei
ihren Zeitungsannoncen sich ihres großen Actiencapitals rühmen, fünf
Millionen oder zwanzig Millionen Capital, so heißt das auf die Unkunde des
Publicums rechnen. Eine Versicherungsgesellschaft, welche sich in die Lage
setzt, ihr Capital angreifen zu müssen, bietet schon keine Sicherheit mehr, weil
fünf oder zwanzig Millionen verhinderter Werthe bei nur einigem Umfang des
Geschäfts von gar nicht so großer Bedeutung sind; die Sicherheit liegt viel¬
mehr nur im Geschäftsbetrieb selber d. h. in der richtige» Vertheilung der
zu übernehmenden Gefahren.
Hier aber beginnen die eigentlichen Schwierigkeiten. Wie lassen sich
Gefahren vertheilen und wie lassen sich bestimmte Gefahren an gewissen Pro¬
centsätzen abmessen? Wir kommen hier auf das Gebiet der Wahrscheinlichkeiten
gewisser Vorgänge im menschlichen Leben und in der menschlichen Gesellschaft,
an die Verkettung von Zwang und Willensfreiheit im Menschen selbst. So
viel haben jedenfalls neuere Untersuchungen herausgestellt, das; sogar die
freiesten und individuellsten Handlungen im Durchschnitt ihres Vorkommens
einer auffallenden Gleichmäßigkeit unterliegen. Quetclet*) weist nach, wie sich
aus einer durch 20 Jahre geführten Prüfung der musterhaft eingerichteten
belgischen Civilstandsbücher ergebe, daß im Laufe dieser Zeit „die Zahl der
Heirathen, wenn die Zunahme der Bevölkerung in Anrechnung gebracht wird,
jährlich dieselbe geblieben ist, sie kommt in den Städten der der Todesfälle
nahezu gleich und doch überlegt man sich nicht das Sterben, wie man sich das
Heirathen überlegt. Betrachten wir die Heirathen speciell, so werden wir finden,
daß von Jahr zu Jahr nicht allein die Summe der Heirathen nahezu sich
gleich geblieben ist in den Städten, wie auf dem Lande, sondern daß sich auch
dies constante Verhältniß an den Ziffern beobachten läßt, welche die Anzahl
der Heirathen zwischen Junggesellen und Mädchen, zwischen Witwern und
Mädchen, wie zwischen Witwern und Witwen ausdrücken. . . Im thatsäch¬
lichen Verlauf der Dinge geht alles so zu. als ob von einem Ende des König¬
reichs zum andern das Volk sich jährlich verständigte, dieselbe Anzahl von
Heirathen abzuschließen und solche in gleichheitlicher Weise unter die ver¬
schiedenen Provinzen, unter Stadt und Land, unter die Junggesellen, Mädchen,
Witwen und Witwer zu vertheilen. . . Noch mehr, es konnte scheinen, als
ob in Wahrheit gesetzliche Anordnungen beständen, die nur eine bestimmte
Anzahl von Ehebündnissen für die verschiedenen Altersstufen bewilligt, eine
solche Regelmäßigkeit herrscht auch in dieser Beziehung." Gewiß muß eine
solche Regelmäßigkeit bei Handlungen, die wie das Heirathen so sehr Act des
freien Willens sind, außerordentlich überraschen und läßt auf ähnliche Erschei¬
nungen bei andern Vorgängen schließen. Quetelet will sie bei „Selbstmords¬
fällen beobachtet haben, bei den Verstümmelungen, die vorgenommen werden,
um sich dem Militärdienste zu entziehen, bei den Summen, die sonst in den
pariser Spielhäusern gesetzt worden sind, sogar bei den von der PostVer¬
waltung angezeigten Nachlässigkeiten hinsichtlich nicht verschlossener, mangelhaft
oder unleserlich adressirtcr Priese u, s. w." ja selbst bei der Gcsammtznbl der
Verbrechen, die in einem Lande bedangen werden und der einzelnen Arten von
Verbrechen. Dies altes unterliegt nach Quetclet einer „unmittelbaren und in
Zahlen ausdrückbaren Beobachtung."
Auf die wirkenden Ursachen solcher Uebereinstimmungen und die daraus
etwa zu ziehenden Schlußfolgerungen hier näher einzugehen, kann nicht unsere
Sache sein; genug daß es durch sorgfältige Untersuchungen erwiesen ist, daß
auch vieles scheinbar Zufällige der Berechnung unterliegt. Darin liegt denn
auch die Antwort auf die vorhin gestellte Frage. Schon lange, ehe man das
Gesetz der Gleichmäßigkeit für fast alle Vorgänge der menschlichen Existenz
erkannte, hatte man es für einzelne Erscheinungen mit ziemlicher Sicherheit
herausgefühlt. Die ältesten Versicherungen, die von uns schon besprochenen
Seeversicherungen, hätten sich nicht entwickeln können, wäre man ohne jeden
erfahrungsmäßigen Anhaltpunkt für das durchschnittliche Vorkommen einer
jeden einzelnen Seegcfahr gewesen, und ebenso wenig würden die allerneuesten
Versicherungsarten. die auf menschliche Gliedmaßen und schlechte schulde»
aufgetaucht sei», glaubten deren Urheber nicht ähnliche Anhaltpunkte für das
Vorkommen von Eisenbahnunsällen und Crcditverhältnisse zu haben. Wir
meinen jedoch, daß die von England her importirten Entschädigungen für auf
Eisenbahnen erhaltene körperliche Verlegungen so lange in Deutschland nicht
recht gedeihen werden, als das in Deutschland reisende Publicum durch bessere
Aufsicht wie in England oder gar in Nordamerika sich ohne viel Todes¬
verachtung zu besitzen entschließen kann, in Eisenbahnwagen zu fahren; denn so
lange wird es auch nur wenige Leute geben, die mich nur wenige Silbergroschen
an die Folgen eines Verlustes setzen werden, dem sie gar uicht entgegenzugehen
glauben, indem sie vielmehr nicht ohne Grund hoffen, ihre gefunden Glieder
nach Hause zu bringen. Auch die Ereditversicherungen beruhen in ihrem eng-
lischen Ursprung auf rein individuellen Verhältnissen des Verkehrs, von Recht
und Rechtsgang in England, und werden bei den ganz andern deutschen Zu¬
ständen schwerlich anders als für ganz eingeschränkte Kreise und Zwecke- zur
Verwendung kommen könne».
An Interesse und ausgedehnter Wirksamkeit stehen solche Versicherungs¬
arten jedenfalls den Lebensversicherungen gewaltig nach und wollen wir
auch etwas länger bei diesen verweilen. Das Wort selbst, welches für deutsche
Ohren so ungewohnt klingt, daß es erst einer begriffliche» Erklärung bedarf,
scheint wie die Sache selbst aus dem Englischen zu stammen, wo man einmal
gewohnt ist, Zusammensetzungc», statt sie organisch miteinander zu verbinde»,
auf einander zu häufen. Die mit dem Ablauf,eines Lebens für die Über¬
lebenden entstehenden und auf eine feste Geldsumme geschätzte« Nachtheile in'
Form einer Versicherung bringe», heißt Lebe»sversicherung nehmen. Wir wol-
im die Sache selbst etwas genauer ansehen. Es gibt sehr viel Verhältnisse,
wo das Aufhören einer bestimmten Existenz, die des Vaters, des Ehemannes,
des Schuldners, einen andern in unabwendbare Nachtheile versetzen muß, ja
ihm selbst die ganze Ernährlmgssähigkeit rauben kann. Auf der andern Seite
hat andauernde Beobachtung den Schlüssel zur mittlern Existenz eines jeden
einzelnen Menschen gegeben, oder mit andern Worten gezeigt, welches der
Durchschnitt der noch bleibenden Lebensdauer für den einzelnen Menschen
ist. Es steht fest, daß die Sterblichkeit in den ersten Lebensjahren die
größte ist, daß sie bis zur Mannbarkeit fortschreitend abnimmt, dann wieder
aber langsam steigt, bis sie mit den vierziger Jahren und von da mit jedem
Jahrzehnt stärkere Proportionen annimmt. Es ist mit Zahlen ausgerechnet
worden, welchen Antheil jedes Jahr dabei nimmt. Wie man das gemacht
hat, darüber sehe man das Eingangs erwähnte Buch nach. Wir wollen hier
nur noch einige interessante Beobachtungen zufügen. Einmal daß man aus
dem Vergleiche früherer Tabellen annehmen kann, die durchschnittliche Lebens¬
dauer der einzelnen Menschen sei im Steigen begriffen, was bei den Fort¬
schritten in vernünftiger Gesnndheits- und Krankenpflege auch kaum Wunder
nehmen kann. Es läßt sich ferner nicht daran zweifeln, daß für verheiratete
Leute eine längere Lebensdauer in Aussicht steht, als für Unverheirathete, und
eine verschiedene für die einzelnen Beschäftigungen. Protestantische Pfarrer gehören
zu den langlebigsten menschlichen Geschöpfen auf der Erde, die Aerzte dagegen
scheinen für die längere Erhaltung des eigenen Lebens viel weniger Chancen
zu haben. Auch Lehrer können ziemlich alt und grau werden, Fabrikarbeiter
dagegen seltner und in bestimmten Thätigkeiten fast gar nicht. Es bedarf
wol keiner besondern Nachweisung der Ursachen für diese Verschiedenheiten.
Jene Bedürfnisse und diese Beobachtungen haben nun zur Errichtung von
Actiengesellschaften geführt, welche die Uebernahme solcher für die Ueberleben-
den aus bestimmten Todesfällen entstehenden Nachtheile gewerbmäßig betreiben,
sogenannte Lebensversicherungsanstalten. Man versichert dabei nicht das Leben,
wie sich von selbst versteht, sondern bestimmte an ein Leben geknüpfte pecu-
niäre Rücksichten. Von keiner Anstalt mehr als von diesen.läßt sich sagen,
daß die Garantie der Versicherten für Erfüllung der gegen sie übernommenen
Verbindlichkeiten mehr in der guten Vertheilung der zu übernehmenden Ga¬
rantie, als in der Größe des, Actiencapitals liegt. Schon die auf euren
festen Tag bestimmte Dauer einer Feuer- oder Seeversicherung macht beiden
Theilen die Uebersicht der Verhältnisse leichter; aber Jahre und Jahrzehnte
können .über eine Lebensversicherung hingehen, während die Anstalt, um zu
er.istiren. immer neue Gefahren auf sich nehmen muß. Neben den zuverläs¬
sigen Tabellen für durchschnittliche Lebensdaner, wie denn die geltenden es so
ziemlich alle sind, hat die Anstalt namentlich darauf zu sehen, daß die ver-
schiedenen Lebensalter in möglichster Gleichheit bei ihr vertreten sind. Würde
z. B. eine Gesellschaft zu viel Personen von demselben Alter bei sich Versiche¬
rung nehmen lassen, so Hütte sie im Grund für dieselbe Prämie ganz ver¬
schiedene Gefahren übernommen. Denn der Durchschnitt der berechneten
Lebensdauer trifft nicht für zehn oder hundert, sondern für tausend Menschen
ein; er trifft auch nur als Glied aller andern berechneten Durchschnitte
ein. Je mehr bei einer Gesellschaft jedes Lebensalter in einer gewissen
gleichen Starke vertreten ist, desto eher werden die Einnahmen auch die
Ausgaben für verfallene Versicherungssummen decken. In diesem Ver¬
hältniß grade liegt die große Schwierigkeit für jede neue und der sichere Vor¬
sprung für jede altbestehende Lebensversicherungsgesellschaft. Denn die letztern
werden im Stande sein, aus den Uebelschüssen der Prämien solcher Lebens¬
jahre, aus denen eine geringere als die erwartete Zahl gestorben, das Geld
für die andern, wo mehr gestorben sind, zu nehmen, während die erstem im
Falle einer größern Sterblichkeit vielleicht nicht die entsprechenden Jahre län¬
gerer Lebensdauer haben und so ihr Capital angreifen müssen.
Ueber den Nutzen und die mannigfache Anwendung der Lebensversiche¬
rungen und über die Art. wie man solche nimmt, haben wir uns hier nicht
weiter auszulassen, jeder Agent wird darüber gewiß bereitwillig Auskunft
geben, und können wir außerdem noch auf das Buch von Masius verweisen.
Die im Verhältnis; zur Volkszahl größte Zahl von Versicherungen wird in
England und Schottland genommen, ein sicherer Beweis für deren wirthschaft¬
lichen Fortschritt, der ganz gewiß darin liegt, daß man so wenig als möglich
vom bloßen Zufall abhängen lassen will. In Deutschland ist für die Lebens¬
versicherungen noch ein großes freies Feld, doch haben sie an Zahl und Be¬
deutung in den letzten Jahren entschieden zugenommen. Am schwächsten sind
sie bei den Franzosen und den andern romanischen Nationen vertreten. In
Frankreich sind statt der Lebensversicherungen die Tontinen und Renten in
besondere Aufnahme gekommen. Bei solchen Anstalten setzt man sich gewisser¬
maßen selbst zum Pfande, indem man für ein gewisses hingegebenes Capital
entweder auf Lebensdauer ein bestimmtes Einkommen erhält, höher oder nie¬
driger, nach Alter und Befinden, oder indem man bei Erreichung eines ge¬
wissen Alters die Anwartschaft aus bestimmte Summen oder Vortheile gewinnt.
Anstalten dieser Art wollen weit weniger zu befürchtenden wirthschaftlichen
Nachtheilen entgegentreten, als wo möglich eine größere Genußfähigkeit
sichern, wie sonst zu erlangen wäre. Die Tontinen, bei denen die Zinsen
des eingezahlten Capitals und zuletzt dieses selbst bei zunehmender Sterblich¬
keit in den höhern Lebensjahren unter immer weniger Personen vertheilt
wird, haben besonders das gegen sich, daß mit der Zunahme der Genußmittel
die Genußfähigkeit abnimmt. Es ist bei ihnen eine wahre Seltenheit, daß
man noch in den fünfziger Jahren zu irgend welchen erklecklichen Summen
gelangt. Dagegen haben sie sich als vortreffliche Versvrgungsnnstalten für
die betreffenden Verwaltungen bewahrt. Renten und Tontinen sind aus-
nehmend auf Egoismus berechnete Einrichtungen, indem man zur großem
Bequemlichkeit der eigenen Existenz sich jeder Möglichkeit für Familie und An¬
gehörige zu sorgen begibt; sie sind auch, in Deutschland mindestens, meist der
Zufluchtsort der Hagestolzen und anderer kinderlosen Personen.
Ueber den Grundgedanken und die Einrichtungen der allgemein bekannten
Feuerversicherungsanstalten brauchen wir uns hier nicht erst weitläufig
einzulassen; die Durchschnittszahl der vorkommende» Brände hängt aufs in¬
nigste mit dem Bau der Häuser, mit den in denselben betriebenen Beschäf¬
tigungen und den Vorkehrungen zum Löschen ab. und wird danach auch der
Procentsatz der zu übernehmenden Gefahr, die Prämie, abgemessen. Daß
kein Kaufmann irgendwo Waaren lagert, ohne sie gleichzeitig zu versichern,
ist bekannt genug, und begleitet diese Versicherung sie auf Frachtwagen und
Eisenbahn; es wäre höchster Leichtsinn bei ihm, wollte er sich den Zufällig¬
keiten eines Eredit und Geschüft gefährdenden Unfalls aussetzen, und ist auch
bei der Allgemeinheit dieser Versicherungen die zu bezahlende Prämie äußerst
gering. Dagegen wird in unsern mittlern und noch mehr in den untern
Ständen die Versicherung oft als ein Luxus betrachtet, und ziehn sie vor. bei
eingetretenen Feuersbrünsten sich an die öffentliche Wohlthätigkeit zu wenden.
Dann erfolgen, in den Zeitungen Aufrufe zur Wohlthätigkeit mit herzbrechen¬
den Beschreibungen des hereingebrochenen Unglücks. Die Wohlthätigkeit ist
nun zwar recht wol angebracht bei unberechenbaren und unversicherbaren Er¬
eignissen, wie Überschwemmungen. Pulverexplosionen. Erdbeben u. tgi. in.,
aber sie in Anspruch nehmen, wo die kleinste Voraussicht, wo die Gabe, ein
zeitiges geringes Opfer für die Abwendung eines größern möglichen Unfalls
zu bringen, so ganz gefehlt hat, heißt nur die Fähigkett mindern, dem un¬
verdienten Unglück beizustehen. Die Erfahrung lehrt zudem, daß die Gaben
auch der ausgedehntesten Wohlthätigkeit lange nicht den Betrag der geschäfts¬
mäßig durch die Versicherungsanstalten zu erhaltenden Summen erreichen. Wir
geben diese letztere Betrachtung namentlich solchen, welche unsere Bedenken
gegen einen Wohlthätigkeitsact ungemüthlich finden, und dieselben vielleicht
gar mit einer obligaten Verurtheilung des Vorwiegens materieller Anschau¬
ungen vor dem Gefühl verurtheilen möchten. Wir wollen auch das Wohl¬
thun, wenn es in der rechten Weise und am rechten Orte geschieht, nicht ver¬
urtheilen. aber wirthschaftlich und auch sittlich stellen wir es höher, wenn der
Einzelne so weit, als nur in seinen Kräften steht, sich in die Lage versetzt, die
Wohlthaten anderer möglichst wenig in Anspruch zu nehmen.-
Man kann nicht grade sagen, daß die deutschen Regierungen dem so
löblichen Streben mich Versicherungen gegen Feuersgefcchr genügend entgegen¬
kommen. Entweder gilt es, inländische Institute mit veralteten kostspieligen
Einrichtungen durch gesetzliche Privilegien zu erhalten, oder man verschafft
durch verminderte Concurrenz auswärtigen Gesellschaften neue factische Privi¬
legien. Man will das Geld im Lande behalten, oder es ist kein Bedürfniß
zu neuen Versicherungsanstalten da. so heißt es. Als wenn mit dem Gelde
nicht auch'die Zahlungspflicht bei großen Feuersbrünsten im Lande bliebe und
so durch eine einzige abgebrannte Stadt eine Gesellschaft zahlungsunsühig
werden kann. Der erste Grundsatz jeder vernünftigen Fcuerversicherungsgesell-
schast besteht darin, nicht zu viele gleichzeitige Gefahren in allzugroßer Nähe
aneinander zu übernehmen. Nach dem mcmeler Brand fand sich, daß ein gro¬
ßer Theil der dortigen Einwohner nicht versichert war. Die dortigen BeHorden
hatten das Versicherungsfeld schon genugsam besetzt gesunden, und jede
neue Concession abgewiesen; die concessionirten, Gesellschaften dagegen waren
gar nicht Willens gewesen, ihre dortigen Nisicos zu vermehren oder die Pra-
- mien zu vermindern. Es geht doch nichts über bürokratisches Besserwissen¬
wollen! Am rührendsten ist es, wenn sich die Behörden durch das armselige
Geschenk einer guten Feuerspritze oder einiger 100 Thaler zum Besten der
Ortsarmen zu Concessionen bewegen lassen. Man kann ganz sicher sein, daß
solche Gaben von den Gebern wieder mit Zinsen eingeholt werden. Cs ist
am allerwenigsten der Beruf von Actiengesellschaften freigebig zu sein. Aber
wohlverdient wäre eine Entziehung der Concession da, wo die betreffende Gesell¬
schaft den armen Abgebrannten gegenüber das Chicauiren handwerks¬
mäßig übt, und sie durch WeMäusigt'eilen aller Art zur Empfangnahme einer
möglichst geringen Entschädigungssumme mürbe macht. Wäre in Deutschland
allgemein öffentliches Gerichtsverfahren, so würde das beiheiligte Publicum
auch ohne die Behörden solche Sünden erfahren und sich in Zukunft danach
einzurichten wissen. Leider hat aber jeder solche zur allgemeinen Kunde ge¬
langende Ehicanirungösall noch den sehr erheblichen Nachtheil, daß er das
Versichern unpopulär macht, begreiflich genug!
Wir wollen der Vollständigkeit halber noch der Vieh- und der Hagel¬
versicherungen gedenken, beides nicht grade sehr blühende Zweige des Ver-
sicherungsgeschäfts. Das Gedeihe» der Viehversicherungen lnborirt am Eigen¬
nutz und dem Unterschleife der Landleute, welche nach genommener Versicherung
das betreffende Rindvieh nicht mehr mit derselben Sorgfalt behandeln, da sie
ja für dessen Fallen durch baares Geld entschädigt werden. Noch schlimmer
werden Versicherungen des auf dem Felde wachsenden Getreides gegen Hagel¬
schlag am meisten da genommen, wo erfahrungsgemäß der meiste Hagel fällt,
am wenigsten oder gar nicht in meist'vom Hagel verschonten Gegenden. Eine
Versicherungsanstalt kann aber unmöglich gedeihen, wenn die Zahl der ent-
schädigungsfreien Fälle nicht die der ersatzpflichtigen weit übersteigt, da sie ja
die Mittel zu den Zahlungen aus den einzelnen Prämien sich erst erwer¬
ben soll.
Für diejenigen Leser, welchen die Besprechung so rein materieller Fragen
an diesem Orte nicht recht genehm gewesen sein mag, wollen wir einige all¬
gemeine Bemerkungen hinzufügen. An und für sich werden sie uns einräu¬
men, daß der ganze Gegenstand ein mindestens culturhistorisches Interesse hat.
indem sich daraus erkennen läßt, wie ti'e Menschen bei mehr und mehr geord¬
neten Zustünden daraus verfallen, das Gebiet des Ungefähr wenigstens in sei¬
nen schlimmsten Folgen möglichst zu beschränken. Der erste Schritt zur Civili¬
sation ist das Sparen von heute auf morgen, nur der Wilde schwelgt heute
im Ueberfluß und hungert wenige Tage darauf. Versicherung nehmen ist auch
nicht mehr als rechtzeitig ein Opfer zur Abwendung eines spätern möglichen Scha¬
dens zu bringen. Dazu reicht aber nicht die Vorsorge der Einzelnen, sondern
nur die gemeinsame Einsicht Vieler aus; daher dann die Entstehung großer
Versicherungsanstalten. Vielleicht rechtfertigt schon dieser Gesichtspunkt die
genauere Bekanntschaft mit den einzelnen Versicherungsarten, als ebenso vielen
Mitteln zu demselben Zwecke. Viel wichtiger ist es aber zu sehen, wie die
Menschen auch ohne die Mystik der Socialisterei und das damit verbundene
Hvhepriesterthum der socialistischen Oberersinder und Mystagogen auf das ge¬
kommen sind, was diese als Solidarität der Interessen bezeichnen. Im Gan¬
zen und Großen ist sie schon durch den Staat und dessen Einrichtungen dar¬
gestellt; nach einzelnen Beziehungen durch die Versicherungsanstalten. Nur
kaiserlich französischer Socialismus konnte darauf verfallen, auch das gesammte
Versicherungswesen an den Staat ziehen zu wollen; das hieße aber die freie
Beweglichkeit des einzelnen Interesses und damit den eigentlichen Boden des
Versicherns nehmen. Bei aller Kühnheit der pariser Projcctmachcrei mußte
daher jener Plan noch vor seiner Geburt sterben.
G e sah j es t c d er b i l d e n de n Kur ste i i» I l>, Icihrhunder t. Leipzig, Brockhaus.
Dies vortreffliche Buch vergegenwärtigt uns einen dreifachen Fortschritt
unsers Jahrhunderts- in der Kunst selbst, in ihrer Erkenntniß und in ihrer
Schilderung. Ueber den ersteren wollen wir uns hier um so weniger verbreiten,
als man ihn aus der Darstellung des Verfassers am besten kennen lernen
kann. Auch haben wir nicht einmal völlig um fünfzig Jahre zurückzugehn.
um die auf diesem Gebiet erfolgten enormen Veränderungen gewahr zu werden.
wenigstens in der Kunst, deren Entwicklung am kräftigsten und vielseitigsten
gewesenist, in der Malerei, kommt uns vieles jetzt schon antediluvianisch vor,
was vor einem Menschenalter oder noch später Bewunderung gefunden hat.
Ein Bild, wie der Compromiß von de Biasre würde heute mindestens nicht
mehr als ein unbegreifliches technisches Wunderwerk angestaunt werden, wie
es 1843 in Deutschland fast überall geschah. Ein Bild wie Bendemanns
trauernde Juden, das 1832 einen Sturm des Enthusiasmus erregte, würde
heute zwar noch immer als ein sehr respectables Erstlingswerk anerkannt werdeu,
aber niemandem würde es einfallen, den Künstler für einen künftigen Michel
Angelo zu halten. Geht man vollends noch zehn und mehr Jahre zu¬
rück, in die Periode, wo man sich an Gerhard von Kügelgens Bildern erbaute,
wo die landschaftlichen Visionen von Friedrich.als tiefe Poesie galten, wo die
Concurreuzbilder der weimarische» Kunstfreunde mit Wichtigkeit behandelt wurden,
dann glaubt man kaum, daß seit der Zeit nur dreißig oder vierzig Jahre
verflossen sind.
Das Verständniß der Kunst hat nicht minder große Fortschritte gemacht.
Jeder, der die betreffende Literatur des ersten und zweiten Jahrzehnts einiger¬
maßen kennt, weiß wie befangen, einseitig, principlos und dilettantisch der
damalige Kunstenthusiasmus war. Die gegenwärtige Kritik ist schon deshalb
vor Verirrungen und Parteilichkeiten sehr viel mehr gesichert, weil sie auf
weit vollständigere und umfassendere Anschauungen basirt ist — Dank den Chaus¬
seen und Eisenbahnen, die von ihren Gegnern als der größte Verderb aller
Romantik, Poesie und selbst aller ruhigen Bildung verschrien werden. In
Eckermanns Gesprächen behandelt Goethe einmal die Versetzung phidiassischer
Sculpturen nach London wie billig als ein epochemachendes Ereigniß auch
sür die gegenwärtige Kunst, und äußert, daß man vielversprechende junge
Bildhauer wol auf Staatskosten nach England senden könne, um dieses un¬
schätzbaren Anblicks theilhaft zu werden. Heutzutage reisen nicht nur so be¬
günstigte Künstler, sondern auch tausende von Kunstfreunden in sehr bescheide¬
nen Verhältnissen überall hin, wo bedeutende Kunstwerke zu sehen sind. Der
Verfasser des vorliegenden Buchs, der Universitätslehrer in Bonn ist (wie wir
aus Erfahrung versichern können, ist dies keine der vorzugsweise begünstigten
Lebensstellungen) kennt beinah die ganze europäische Kunst nach eigner Anschauung.
Wenn er einige Länder, wie die skandinavische und pyrenäische Halbinsel, nicht
selbst gesehn hat, so hat er diese Lücken seiner Anschauung durch den Besuch
der allgemeinen europäischen Kunstausstellung in Paris genügend ausgefüllt.
Eine Gesammtübersicht, wie sie dort geboten wurde, doppelt unschätzbar durch
die Möglichkeit der Vergleichung so vieler verschiedenen Richtungen und Knnst-
weisen, würde vor einem Menschcnnlter kaum von einem Enthusiasten geträumt
worden sein.
Endlich freuen wir uns, daß der Verfasser seinen Gegenstand so gut dar¬
zustellen versteht. Kunstwerke zu beschreiben ist immer nicht leicht; steuert man
auch glücklich zwischen der Scylla tönender, aber leerer Phrasen und der Cha-
rybdis einer trocknen Specification von Details hindurch, so ist man doch
noch lange nicht sicher, den Eindruck, den man selbst empfangen hat, bei dem
Leser zu erwecken. Dazu ist erforderlich, das; der Ausdruck voll Wärme.
Schwung lind Kraft der Anschauung sei. Vor hundert Jahren gehörte das
Genie Winckelmanns dazu, diese Eigenschaften der damals noch steifen und un¬
gelenken Sprache mitzutheilen. Schilderungen, wie er sie vom Laokoon, vom
Torso und vom Apoll von Velvedere gemacht hat, konnte damals, (nicht blos
was Tiefe der Auffassung, sondern anch was Kraft und Schönheit des Aus¬
drucks betrifft) schwerlich ein andrer machen; und doch kostete ihm eine davon
drei Monate. Es ist wol nicht so bekannt als es zu sein verdiente, daß Lessing
den zweiten Theil seines Laoton französisch herauszugeben beabsichtigte. Sein
literarischer Nachlaß (Land 2 der lachmannschen Ausgabe) enthält eine französische
Bearbeitung der Vorrede zu», ersten Theil. Am Schluß sagt er: ,,^e vais
10 rvlligvr ac iiouvoau et vu Sounor I» suite v» K-iMAus, eetts langue
in'neant 6miL »es luativre« tout g.u meins aus-zi kamilivrv Mo I'audi'v. I^a
langue allemamle, <in0i<iue eile ne lui eecke en rieu, etant mauiee eomme
11 kaut, ost pourtant oaeore a körner, ü. er6er anno xeur I>lu-
sieur» gonros alö eoivpositiou, aoud eelniei u'estpas1v moiuäre. Nais
a quoi bon so äounor coelo peiuo, an riiz<iuo meme as o'^ rvussir pas an gout
ac »LL eowpatl'lodo»? Voila 1a lau^no t'uni^also ävM toute oreöv, toute
tormee: riK<iuons äone le xarmet." So schwer fand es der Manu, dessen
deutsche Prosa nie übertroffen werden wird, über ästhetische Gegenstände deutsch
zu schreiben! Dank ihm und den andern Heroen unsrer großen Literaturperiode
ist es uns Epigonen so leicht, daß es jeder Gebildete kann, der seinen Gegen¬
stand durchdrungen und die aufs reichste entwickelte Sprache handhaben gelernt
bat. Die Zahl derjenigen, die gegenwärtig über Kunst gut schreiben, ist sehr
groß, und der Verfasser gehört zu denen, die am besten schreiben.
Wie billig nehmen in einer Darstellung der gegenwärtigen Kunstzustände
(nur eine „Geschichte" möchten wir sie nicht nennen, obwol der Verfasser diesen
Titel in der Einleitung zu vertheidige» sucht) Sculptur, Malerei und deren
Schwesterkünste bei weitem den meisten Raum ein, denn von unsrer Architektur
ist nicht viel Positives zu sagen. Der Verfasser „bekennt sich zu realistischen
Grundsätzen" was, wie wir denken, jeder thut, der das geistige Leben der
Gegenwart begreift. EineKuust. die den Realismus durchaus negiren wollte
(so weit dies bei unsrer gegenwärtigen Cultur überhaupt möglich ist), würde
wie ein erotisches Gewächs absterben, dem ein fremder Himmel und ein frem¬
der Boden keine nährenden Stoffe zuführen kann. Damit ist natürlich dem
Idealismus nicht die Berechtigung abgesprochen, ja er ist das andere Lcbens-
princip, ohne das eine gesunde Entwicklung unmöglich ist, aber die ausschlie߬
liche Herrschaft auf dem Gebiet der Kunst kann er in der Gegenwart nicht
beanspruchen, und weder seine Freunde noch seine Gegner tonnen sich der Ein¬
sicht verschließen, daß der Sieg des Realismus bereits entschieden ist. Trotz
dieser Parteistellung ist der Verfasser, wie uns scheint, vollkommen gerecht, na¬
mentlich in seiner Darstellung von Cornelius und Kaulbach. Man hat das
Urtheil über den letztern hart gefunden kund allerdings dürfte einiges, nament¬
lich was über die Fresken für die neue Pinakothek gesagt ist, der Milderung
bedürfen), aberhim Ganzen wird es jeder unterschreiben, der an die höchste
Begabung auch den höchsten Maßstab anlegt. Allenfalls kann man dem Ver¬
fasser vorwerfen, daß er die Realisten mit größerer Wärme geschildert hat als
die Heroen des Idealismus. Die Schilderung von Gallait dürfte das Glän¬
zendste in dem ganzen Buch sein, wir wollen eine Stelle daraus mittheilen.
Er wird mit Biafre verglichen, den der Unverstand des großen Publicums
bei dem ersten Bekanntwerden leider in Deutschland (und zum Theil noch
jetzt) für seinen ebenbürtigen Rivalen ansah. Sehr richtig wird Biafre als
ein großer Colorist, aber kein großer Maler bezeichnet. „Ueber seine Farbe
erstreckt sich die Herrschaft seiner Phantasie nicht, die Fähigkeit des Colorits,
gleichmäßig wie die Zeichnung das Innere der Seele zu öffnen und die Be¬
deutung des Vorgangs symbolisch zu offenbaren, ist ihm großentheils entgangen.
Desto klarer tritt dieselbe in Gallaits Bildern uns entgegen. Wenn vor allem
die malerische Vollendung derselben gepriesen wird, so wird darunter nicht
allein das hohe Maß technischer Kraft, sondern auch der große Antheil, den
die Farbe an der Komposition, an der tiefern Schilderung besitzt, verstanden.
Gallait denkt und fühlt in Farben. Kaum taucht in seiner Phantasie ein
Motiv auf, kaum hat er eine Gestalt im Geiste entworfen, so ist ihm auch
schon die eigenthümliche Färbung gegenwärtig, welche ausschließlich zu dem
Charakter jener paßt und eine physiognomische Wahrheit in sich trägt. Welche
Beleuchtung, welcher Gesammtton angewendet werden müsse, dafür entscheidet
sich Gallait nicht durch Rücksicht aus den zufälligen äußern Effect, sondern
durch die klare und unmittelbare Einsicht in die innere Nothwendigkeit. Ob
ein volles und klares Tageslicht die Scene mit schneidender Schärfe erhellen,
ob leicht verwebtes Helldunkel einen ungewissen Schein über den Vorgang
verbreiten oder eine schwere bleierne Luft sich über den Vorgrund lagern, hin¬
ten aber der Himmel sich aufklären und das gepreßte Gemüth beruhigen soll,
dies steht immer in dem innigsten Zusammenhange mit der geistigen Stim¬
mung, welche der Schilderung zu Grunde liegt, und hängt unmittelbar mit
der Bedeutung ^und Natur der Handlung zusammen. Bei diesen Allgemein¬
heiten bleibt Gallait nicht stehen; bis in die geringste Einzelheit herab behält
die Farbe die seelenhafte Natur; auch die ansgearbeitetste Individualität wird
mit vollendeter Wahrheit durch die eigenthümliche Farbengebung charakterisirt.
Gallait kennt nicht die sclbstständi.ge, für sich bestehende Linienschönhcit, im
Aufbau der Gruppen, in den Umrissen beharrt der Meister bei der anspruchs¬
losen Einfachheit, welche die wirkliche Natur offenbart; ungezwungene Deut¬
lichkeit ist alles, was er in dieser Beziehung anstrebt. Im Gegensatz zu deut¬
schen Werken, die im unfertigen Zustand als Skizze oder Carton die größte
Vollendung besitzen, üben Gallaits Bilder nur als Gemälde geschaut den ech¬
ten Eindruck; natürlich da sie Poesie, Stimmung, Individualität erst dnrch
die Farbe erhalten, bei ihrer Schöpfung schon auf die Mitwirkung der letztem
gerechnet wurde. Das unterscheidet Gallait von den meisten Kunstgenossen
und hebt ihn hoch über die gesammte belgische Schule, daß seine Phantasie
eine ausschließlich malerische ist. in welcher Gedanke und malerische Form.
Zeichnung und Colorit in Eins zusammenfallen, daß er nur mit rein maleri¬
schen Mitteln wirkt, aber diese vollkommen beherrscht und mit Meisterschaft
handhabt."
Man mag mit diesem Urtheil nicht ganz übereinstimmen. auch Verehrer
Gallaits werden vielleicht seine Vorzüge zu stark hervorgehoben, seine Mängel
zu sehr vertuscht finden, da die „anspruchslose Einfachheit" seiner Linien bis¬
weilen in der That unstatthafte Nachlässigkeit oder Vernachlässigung ist. Aber
man wird wenigstens daraus entnehmen, daß der Verfasser im besten Sinne
des Worts zu sehen versteht. Dies sollte allerdings bei einem Kunstkritiker
selbstverständlich sein — aber da es doch leider in Wirklichkeit nicht immer
der Fall ist, muß es als ein Vorzug hervorgehoben werden. Der Versasser
bemerkt mit Recht, daß das Auftreten der gewöhnlichen Kritik die absurde
Meinung vieler Künstler, über die Kunst könne nur ein Künstler richten, bis
auf einen gewissen Grad entschuldige. Mit Unrecht sagt er aber, daß auch
Apelles diese Meinung getheilt habe. Wenn er wirklich Alexander den Gro¬
ßen, der sich in seinem Atelier über ästhetische Dinge vernehmen ließ, mit der
Bemerkung unterbrach, daß er von dem Farbenreiber ausgelacht werde, so that
er es nicht, weil der große Monarch überhaupt Kunsturtheile abgab, sondern
weil sie thöricht waren. Apelles war es ja grade, der nach der bekannten Er¬
zählung bei Plinius seine Gemälde öffentlich ausstellte, und hinter ihnen ver¬
borgen aus die Urtheile des Publicums lauschte, um Nutzen daraus zu ziehn.
Darin liegt ein Hauptvorzug dieses Buchs, daß der Verfasser überall nach
Eindrücken urtheilt, die er durch ein kunstgeübtes Auge empfangen hat, ohne
sich durch Abstraktionen und Theorien bestimmen zu lassen, wie es nur zu
viele Aesthetiker der Gegenwart zu thun pflegen. Dadurch gerieth man in
Gefahr, das Wesen der Künste zu verkennen, ihnen Leistungen zuzutraun, die
mit der Natur ihrer Darstellungsmittel unvereinbar sind, zu preisen, was sie
»
in unnatürlicher Auflehnung gegen ihre eigensten Gesetze hervorbringen und
sie zu tadeln, wenn sie sich innerhalb der ihnen angewiesenen Grenzen halten.
Ueber nichts gehn wol die Ansichten so weit auseinander, als über Darstell¬
barkeit und Undarstellbarkcit. Es wird Vielen als Ketzerei erscheinen, wenn
der Verfasser die Darstellbarkeit des Gedankens in Frage zieht, der sich in der
Schiller- und Gocthegruppe zu Weimar aussprechen soll, „Wer den Gedanken
dieser Gruppe zuerst geboren hat, weinte es wol gut mit unsern Dichtcrhelden,
hat aber die Leistungsfähigkeit der Plastik auf eine harte Probe gestellt.
Schwerlich kann man eine härtere Abstraction ersinnen und ein minder greif¬
bares Ding ausdenken, als die der Gruppe zu Grunde liegende Idee. Das
Verhältniß zwischen beiden Dichtern, die Thatsache und die bestimmte Art
ihres Zusammenwirkens soll in derselben zum Ausdruck kommen. Ist denn
der Zusammenhang zwischen Goethe und Schiller etwas Einfaches und sinn¬
lich Wahrnehmbares? Kann dieser Zusammenhang anders als zeitlich entwickelt
werden? — wie er ja auch in Wirklichkeit nur nach und nach sichtbar wurde.
Heißt denselben plastisch darstellen, nicht in Wahrheit ein verwickeltes und kei¬
neswegs unmittelbar verständliches Capitel der Literaturgeschichte symbolisiren?
Es übersteigt schlechterdings die Grenzen der bildenden Künste und erscheint
vollends für die Ausdrucksmittel der Plastik ganz unmöglich, das Wechsel-
Verhältniß zwischen den beiden Männern klar und richtig darzustellen." Dieser
Ansicht stimmen wir (ohne das Werk gesehn zu haben) vollkommen bei, glau¬
ben aber gern, daß es dem Künstler gelungen sei, die Ungunst des Gegen¬
standes bis auf einen gewissen Grad zu überwinden, und wenn er auch nicht
die angegebene Intention auszudrücken vermochte, doch eine schöne und bedeu¬
tende Gruppe unsrer großen Dichter zu geben.
Ganz besonders eignet sich Springers Vues zur Orientirung in den Kunst¬
zuständen der Gegenwart durch seine Kürze und Übersichtlichkeit. Seine prak¬
tische Brauchbarkeit wird durch ein angehängtes Künstlervcrzeichniß erhöht; in
diesem fehlen freilich manche Namen, die man zu finden erwarten könnte, und
nicht alle Angaben dürften zuverlässig sein. Für den gewöhnlichen Gebrauch
ist es vollkommen ausreichend.
Als Schiller die Götter Griechenlands schrieb, jenes Gedicht, aus welchem
eine so unnennbare Sehnsucht nach der Verlornen Einheit der menschlichen
Natur athmet, war es nicht die Kenntniß des griechischen Alterthums, was
ihn beseelte, sondern ein innerer Jnstinct. der, durch den Pietismus und das
flache Formenwesen der Gegenwart verletzt, sich aus einzelnen halbverstandenen
Bruchstücken ein Ideal ausmalte. Später, als er durch Humboldt, Goethe,
und seine eignen Studien tiefer in das Wesen der griechischen Kunst einge¬
drungen war, der er sür seine besten Schöpfungen so viel verdankte, wurde
ihm der Hellenismus seiner Jünger und Nachfolger allmülig zur Last, und
wie er sich überhaupt am leidenschaftlichsten gegen solche Richtungen auszu¬
sprechen pflegte, die er selbst angeregt, dann aber als einseitig bei Seite ge¬
worfen hatte, schonte er in den Genien die Gräcomanie seiner Schüler, nament¬
lich Friedrich Schlegels ebenso wenig, als den neu aufkeimenden ästhetischen
Pietismus, der über seine Götter Griechenlands den Stab brach.
In der That, so viel unsere Dichtkunst grade in der Periode von Wei¬
mar und Jena der Antike verdankt, so dürfte man die überspannte Gräco-
manie wol als eine Krankheit bezeichnen. Sie wurde es im strengsten Sinne
des Worts bei Hölderlin, sie ging in Heinses Romanen in etwas noch
Schlimmeres über. Selbst über die schönsten Blüten, die wir ihr verdanken,
breitet sich eine wehmüthige Färbung, die viel Anziehendes hat, die aber da¬
mals das deutsche Boll seinem geschichtlichen Leben entfremdete.
Wenigstens suchte man in jener Zeit, indem man den Griechen nach¬
empfand, sich zugleich ihre plastische Gestaltungskraft anzueignen und so lange
Homer und die Tragiker die Leitsterne unsrer Dichter blieben, wurden diese
angeregt, ebenso hell zu sehen und ebenso bestimmt zu schreiben als ihre
Borbilder.
Anders, wurde es. als durch die Naturphilosophie und durch das Stu¬
dium Platos und der Alexandrimr die Aufmerksamkeit auf die symbolische
Seite der Mythologie gerichtet wurde. Man begnügte sich nicht mehr und
dem einfachen Inhalt, der in den Werken der Dichter wirklich ausgedrückt
war, sondern man suchte hinter ihre tiefere Bedeutung zu kommen. Was
dies Bestreben in der Wissenschaft für Unheil angerichtet hat, ist bekannt!
aber der Einfluß erstreckte sich auch auf die Dichtung, und wenn wir Goethes
Pandora, Helena und manche von den lyrischen Gedichten der spätern Periode
mit der Iphigenie vergleichen, so erkennen wir. wie sehr sich die poetische
Neigung aus dem Plastischen ins symbolische verirrt hatte. Eine Parallele
zwischen entlegenen'Perioden der Weltgeschichte hat immer etwas Mißliches;
wenn man aber das Berhältniß zwischen dem Hellenismus der Jahre 1770
bis 1800 und dem Hellenismus der Jahre 1,800—1,830 mit dem Berhältniß der
Dichter des peloponnesischen Kriegs zu den alezandrinischen Dichtern vergleicht, so
dürste die Begründung wol nicht schwer fallen. Man erkennt die Verwandt¬
schaft der jüngern Dichtungen mit den Alexandrinern schon daraus, daß sie
ohne einen weitläufigen Gelehrtencommentar kaum zu verstehn sind.
Später ging der Strom der deutschen Dichtung in andere Richtungen.
Zuerst lernte man die Poesie der romanischen Völker kennen und würdigen,
dann machte man bei dem Durchstöbern der alten Mythologie die überraschende
Entdeckung des deutschen Lebens. Diese Entdeckung hat die Wissenschaft und
Kunst aufs erfreulichste bereichert, die letztere freilich nur auf den Gebieten
der Lyrik und Genremalerei. Der Hellenismus wurde mehr und mehr der
Wissenschaft überlassen, und sie hat ihn zu einem stattlichen Gebäude aus¬
gebildet, in dessen labyrinthischen Gängen sich kaum ein einzelner Gelehrter
mehr zurecht finden kann.
Allein Spuren von der alten nach Griechenland gerichteten Sehnsucht fan¬
den sich noch immer vor. Wir haben die populären Aufsätze aus dem
Alterthum von Lehrs schon mehrfach erwähnt. Wir machen hier auf das
geistreiche Werk, dessen eigentlich gelehrter Inhalt uns nichts angeht, noch ein¬
mal aufmerksam, weil wir aus ihm vielleicht am augenscheinlichsten erkenne»,
was Goethe, Schiller und ihren dichterischen Zeitgenossen bei dem griechischen
Ideal eigentlich vorschwebte. Mit unvollkommner Kenntniß, aber einer glück¬
lichen Divination ausgestattet, vertieften sie sich in einzelne Schöpfungen des
Alterthums und lauschten ihnen Geheimnisse ab, die manchem wirklichen Ge¬
lehrten entgingen. Hier tritt nun ein Gelehrter im strengsten Sinn des Worts
auf, der aus einer unermeßlichen, ihm selbst freilich noch immer nicht genügen¬
den Fülle des Wissens schöpft. Was wir aber am meisten bei ihm bewun¬
dern ist nicht seine Gelehrsamkeit, sondern eben jene Kraft der Divination, die
unsere classischen Dichter auszeichnet. Indem er sich mit einer Andacht, die
man wol fromm nennen darf, in den griechischen VorstellungsKeis vertieft,
findet in seinem Innern derselbe Proceß statt, den er so schön bei den Alten
nachweist! die Begriffe verwandeln sich ihm in Anschauungen, die Anschauungen
in plastisch ausgeführte Gestalten, man sieht, wie in diesem Proceß seine ganze
Seele thätig ist, und was bei einem wissenschaftlichen Buch wol sehr selten
der Fall sein mag, man kann seine Schrift nicht ohne Rührung aus der
Hand legen.
Bei dieser nervösen Empfänglichkeit, in welcher das griechische Leben mit
leidenschaftlicher Erregung nachzittert, kann man die Abneigung gegen eine
andere Schule der Philologie, die im Alterthum hauptsächlich das geschicht¬
liche Leben aufsucht und vom historischen und philosophischen Standpunkt den
Untergang jener wundervollen Zauberwelt begreift und rechtfertigt, kann man
auch die Bitterkeit, mit der er sich zuweilen über sie ausspricht, wol erklären.
Es geht dem geistvollen Philologen wie seinen Vorgängern, den Dichtern:
ihrer vorwiegend ästhetischen Empfindungsweise ist das geschichtliche Leben nicht
blos fremd, es ist ihnen, ohne daß sie sich völlig darüber klar'werden, ver¬
haßt. Oefters werden wir an jenes Phänomen erinnert, welches man zu
Anfang dieses Jahrhunderts als schöne Seele bezeichnet, und wie wenig diese
Stufe des Bewußtseins sich mit der unerbittlichen Macht der historischen Ent¬
wicklung verträgt, muß man beim alten Hegel nachlesen, der über dies wie
über manches Andere ewige Worte gesagt hat.
Indem Lehrs sich bemüht, den Dichtern bis in die geheimsten Regungen
ihres Gemüths nachzuempfinden, wird sein Urtheil so mit dem ihrigen ver¬
flochten, daß es nur in der Form der Sympathie auftritt. Daraus erklärt
sich die bei einem Verehrer Homers wunderbare Begeisterung für jene sym¬
bolischen Werte Goethes, denen doch das fehlt, was hauptsächlich die Alten
auszeichnet, die Zeichnung. Es ist uns aufgefallen, eine» wie gedeihlichen
Boden diese Richtung grade in Königsberg gefunden hat. Rosenkranz in
seiner Schrift über Goethe, die in der Zeit ihres ersten Erscheinens 1847 auf
die würdige Auffassung des Dichters sehr günstig eingewirkt hat. bespricht mit
besonderer Wärme- diese Erzeugnisse des Alters. Ebenso Eholevius in seiner
Geschichte der deutschen Poesie nach ihren antiken Elementen, ein Werk, das
noch lange nicht hinreichend gewürdigt ist. und dessen Einseitigkeit man sehr
bequem dadurch ergänzen kann, daß man neben seinem idealistischen Gesichts-
punkt auch den entgegengesetzten, ebenso berechtigten gellend macht. Auch in
Meyers Geschichte der Botanik ist die geistvolle Darstellung der antiken Natur¬
betrachtung nicht der am wenigsten interessante Theil. Noch sei hier der
Bortrag des Director Horkel über die Lebensweisheit des Komiker Menander
erwähnt, welcher hauptsächlich die Vorstellungen der Alten über den Dämon
und die Tyche. die auch in Lehrs Ausfähen eine Hauptrolle spielen, an einem
einzelnen Beispiel ausführt.
Ein Königsberger ist gleichfalls der Dichter Ferdinand Gregoro-
vius, dessen Euphorion, eine Dichtung aus Pompeji in 4 Gesängen
(Leipzig. Brockhaus) wir hier mit einigen Worten anzeige». Daß die Dich¬
tung sich im Allgemeinen von den griechischen Stoffen und Formen zu den
deutschen abgewandt hat, halten wir aus Gründen, die wir schon mehrfach
auseinandergesetzt haben, für ein Glück. Allein es hat auch seineu Nachtheil,
wenn man einer strengen Schule entflieht. Wir sind selten in der Lage, eine
neue lyrische Sammlung zu durchblättern, ohne-über die Rohheit und Geschmack¬
losigkeit der Form zu erstaunen, um von dem dürftigen Inhalt ganz zu
schweigen. Bewegt mau sich auf griechischem Boden, so ist man wenigstens
genöthigt, auf seine Haltung zu achten und sich daran zu erinnern, daß man
in guter Gesellschaft ist. Dieser Sinn für schöne Form hat uns in dem vor¬
liegenden Gedicht wohlthätig berührt, wenn der Dichter auch mitunter zu
weit geht, z. B.
Als ob innen der Geist ihm wäre gelöst vom Dasein
War es zu Sinn ihm da, als flog er den Himmel entlang nun
Ikarus gleich, gram selig entzückt auf Flügeln Auroras.
Diese Sprache kann man-nicht wol griechisch nennen, sondern romantisch, und
zwar ist es diesmal eine bestimmte romantische Muse, die Muse- Leopold
Schcfcrs, die den Leitton gegeben hat. Der Dichter rechnet sich übrigens,
wie es bei den, nachgebornen einer poetischen Richtung begreiflich ist. zur
streitenden Kirche und hat sein Glaubensbekenntnis!, wenn nicht ausführlich
auseinandergesetzt, doch wenigstens so weit angedeutet, daß wir uns bei Ge¬
legenheit desselben einige Fragen erlauben dürfen.
Lied, eh weiter du eilst mit der wechselnden Lampe des Lebens,
Tritt zu de» fernen Geliebten mir froh und der sanften Olive
Kränze vertheile und sprich- Heil, Gdcle, Wenige, Heil euch!
Die in der Brust ihr noch idealische Flammen ernähret,
Avhvld Eitlem und Feinde der dunklen Tagesgewohnheit.
Fehl es an'Licht doch nimmer im Leben, an herzlicher Lust euch
Nie! an das blühende Haus mag stets auch pochen Aurora
Hold, und sie führe herein in den Saal auch himmlische Stunden
Und zu den Festlichen seien als Gäste die Götter geladen,
Gaben der Liebe entschüttcnd und weiserer Wünsche Gewährung.
Die Frage ist nun, worin der Idealismus dieser Dichtung liegen soll, im
Inhalt oder in der Form? Daß zu Neros Zeit im Ganzen das Leben poetischer
war als bei uns, wird der Dichter kaum behaupten. Von der schmuzigen
Verworfenheit, der Infamie und der Abgeschmacktheit jener Zeiten ist alle
Welt überzeugt. Die Schilderungen unseres gelehrten Mitarbeiters aus dem
Alterthum geben aber auch hinreichende Proben von ihrer albernen Spieß-
bürgerlrchkeit.
Oder in der Form? — die Hexameter, in denen Hermann und Doro¬
thea geschrieben ist, breiten um diese Dichtung ein schönes Gewand, aber
die Prosa des Wilhelm Meister ist auch nicht zu verachten: es wird darauf
ankommen, daß jeder poetische Stoss die ihm angemessene Form findet.
Und hier scheint es uns nöthig, damit nicht mit den Stichwörtern des
Idealismus und Realismus ein ähnlicher Unfug getrieben werde, wie im
Mittclnltcr mit den Stichwörtern Nominalismus und Realismus, die Frage
auszustellen, was beides heißt.
Was heißt künstlerischer Idealismus? Die Fähigkeit hinter dem Zufälligen
und Unwesentlichen der Erscheinung das Wahre und Wesentliche zu entdecken
und demselben eine vollendete Gestalt zu geben.
Und was heißt künstlerischer Realismus? — Genau dasselbe. Es besteht
in den Principien der Kunst kein Unterschied. Die Mittel, die man anwendet,
müssen der bestimmten Kunstform entsprechen. Bezweckt man Erhebung des
Gefühls, so muß man in großen Zügen malen, man muß alle Nebenvor-
stellungen sorgfältig entfenien, will man dagegen komisch oder humoristisch
wirken, so muß man detailliren. Will man jenes Idealismus und dieses Realis¬
mus nennen, so ist nichts dagegen zu sagen, nur wird das eine vom andern
nicht widerlegt, so wenig als die niederländische Schule von der italienischen
Schule widerlegt wird.
Aber dem Dichter wie den meisten Aesthetikern, die sich über den Idea-
lismuK vernehmen lassen, scheint etwas Anderes vorzuschweben. Sie verstehn
darunter dasjenige, was auf uns den Eindruck des Fremdartigen macht im
Gegensatz zu den Erscheinungen des täglichen Lebens. Gegen.diesen Unter¬
schied müssen wir protestiren, wenn er zugleich einen Unterschied des Werths
ausdrucken soll. Wenn man den Ausbruch des Vesuvs schildert, so ist das
freilich ein höherer Gegenstand der Landschaftsmalerei als wenn man eine
märkische Ebene Porträtiren wollte, aber auch die letztere läßt sich poetisch
darstellen, wie Wilibald Alexis gezeigt hat. Es kommt auch hier darauf an,
das Wahre und Wesentliche herauszuerkennen und es im Geist wieder zu
gebären. Ein Trinklied ist deshalb nicht poetischer/weil es in der fremdar¬
tigen Form des Gascls und mit unaussprechlichen arabischen Namen ausstaf-
firt ist. Der Poet hat die Aufgabe, nach Goethes wunderbar schönem Aus¬
druck, den umwölkten Blick zu öffnen und ihm die tausend Quellen neben dem
Dürstenden in der Wüste zu zeigen.
Was wir hier gesagt haben möge zugleich die Besprechung mancher uns
vorliegenden Liedersummlungen ersetzen.
In den Gedichten von F. A. Maertcr (zweite-Ausgabe, zwei Bände,
Berlin, Decker) haben wir mit großem Vergnügen die Sorgfalt und den
strengen Geschmack in der Form bemerkt, der aus einem einsichtsvollen und
eifrigem Studium des Alterthums hervorgeht. In den Gedichten von Dief-
fenbach (Berlin, Wohlgemuth) hören wir manche wirklich ans dem Herzen
hervorquellende Töne. Anspruchsvoller tritt eine andere Sammlung aus:
Mythvtcrpe, ein Mythen-, Sagen- und Legcndenbuch. Dichtungen von
Amara George. Georg Friedrich Danaer und Alexander Kauf¬
mann (Leipzig, Brockhaus). Die Sammlung soll gewissermaßen einen Cyklus
sämmtlicher Mythologien enthalten, griechisch, persisch, muhanunedanisch, rab-
binisch, christlich, nordisch u. s. w. Im Wesentlichen ist es dieselbe Ausgabe,
die sich Herder in den Stimmen der Völker gesetzt hat. nur mit dem Unter¬
schied, daß nicht das allgemein Menschliche, sondern das Fremde, Auffallende
hervorgehoben wird,' und daß die Form eine sehr künstliche ist. Neben man¬
chen spielenden und gezierten Erfindungen begegnen uns einige von ungewöhn¬
lich poetischer Kraft, namentlich in den umfassenderen Gemälden von Kauf-
mann. Ueberhaupt halten wir es im Ganzen mehr mit der alten Weise der
Dichtung, die nicht blos andeutet, sondern wirklich ausführt. Es ist grade in
Deutschland in der kleinen epigrammatischen Licderform viel Bedeutendes geleistet,
aber in diesem Genre hat die Combination zuletzt eine Grenze: am meisten
empfinden wir das in den narkotischen Nachbildungen des Persischen, die uns
mit ihrem intensiven gleichförmigen Geruch mehr betäuben als erfrischen.
Mit großem Vergnügen haben wir die 4. Auflage der Gedichte von Wil¬
helm Müller (2 Bände, Leipzig. Brockhaus) durchblättert. Einzelne von
diesen, namentlich die schöne Müllerin und die Winterreise, sind durch Schubert
unsterblich gemacht, an die Griechenlieder heftet sich noch ein anderes Inter¬
esse, aber auch in allen übrigen, selbst den unbedeutenden Liedern spricht sich
der echte Dichter und was uns ebenso lieb ist, der deutsche Dichter aus.
Noch möge hier die vorläufige Anzeige zweier Werfe einen Platz finden,
auf die wir uns vorbehalten, nach ihrer Vollendung näher einzugehn. Goe¬
thes Leben von Heinrich Biehof, 3. Auflage (bis jetzt in Lieferungen.
Stuttgart, Becher) und die Geschichte der Architektur von Wilhelm
Lübke (Köln, Seemann). Hier machen wir nur darauf aufmerksam, daß
Viehofs Schrift durch Lewes keineswegs überflüssig gemacht wird, da sie viel
reichhaltigere Notizen und Nachweisungen gibt, und daß Lübke sein für das
praktische Bedürfniß mit großem Verstand eingerichtetes ^Handbuch durch zahl¬
reiche Zusätze und namentlich auch durch zahlreiche neue Holzschnitte erwei¬
tert hat.
Neidhart von Reuenthal, herausgegeben von Moritz Haupt. Leipzig,
Hirzel 1858. 8. — Neidhart ist unter den ritterlichen Dichter» im Anfang des
13. Jahrhunderts sowol durch seine eigenthümliche Dichterkraft als durch die Schwie¬
rigkeiten, welche seine Poesie darbietet, merkwürdig. Bis vor wenig Jahren war
er das große Räthsel unserer Literaturgeschichten. Seine Person sogar war sagen¬
haft geworden. Als die Gedichte der übrigen Minnesänger, auch die Walthers von
der Vogelweide lange vergessen waren, wurde» noch Lieder von Neidhnrt für die
Trinkstuben der Zünfte gedruckt und gesungen, und 3W Jahre nach seinem Tode
wurden Anekdoten von ihm erzählt, in denen der graziöse Hofmann vom Jahr 1210
als Eulenspiegel erscheint, der die Erdbeeren unter dem Hute seines Fürsten mit
etwas Anderem vertauscht. Daß er so lange in der Seele des Volkes haftete und
daß sein Bild so wunderlich durch die dert,c Laune späterer Zeiten verzogen wurde,
ist an sich auffallend genug. Aber die Gedichte, welche unter seinem Namen uns geblie¬
ben sind, haben noch mehr Befremdliches, Sie unterscheiden sich auffallend von den
Poesien andrer Minnesänger, Neben zahlreichen Strophen, in denen nach der conventio-
nellen Weise der höfischen Dichter die Ankunft des Frühlings begrüßt, die des Herbstes
beklagt und die Sehnsucht nach der Geliebten ausgesprochen ist, stehen in denselben
Gedichten andere von durchaus abweichenden Inhalt, Scenen aus dem Leben der
Dorfleute, Unterhaltungen zwischen Bauern und Bäuerinnen (oft Mutter und Toch¬
ter), lustige Erzählungen des tölpelhaften Benehmens der Bauern, ihrer Tänze, ihres
Zankes, ihrer Prügeleien. Der Dichter immer mitten darunter, als Liebender, als
Theilnehmer um Tanze, ja an den Händeln, als Beobachter, als humoristischer Be¬
richterstatter. In diesen kleinen strophischen Bildern kehren sehr oft die Situationen
wieder, aber ins Unendliche variirt, denn Neidharts Reichthum an dramatischem Detail
ist sehr groß. Ebenso verschieden sind Ton und Haltung der einzelnen Lieder ; neben sehr
Rosen, Trivialem und Gemeinem eine feine Zeichnung, liebenswürdige Schalkheit,
die Haltung und der Spott eines vornehmen Mannes und dazwischen wieder einzelne
Klänge von Wehmuth und Schmerz, welche in ihrer lachenden Umgebung doppelt
wirksam sind. Es war im Allgemeinen leicht zu erkennen, daß die Masse von
Gedichten unter N. Namen nicht durch einen Dichter und nicht zu einer Zeit geschaffen
worden ist, und daß sein Name typisch geworden war für ein ganzes Genre von
lyrischer Poesie. Weit schwieriger war die Aufgabe, im einzelnen Fall das Echte
und Unechte zu unterscheiden. Denn lange fehlte der Kritik jede sichere Handhabe.
Es kam nicht allein darauf an, die ältesten Traditionen des Textes nach den Hand¬
schriften festzustellen und die feinen Unterschiede in Strophenbau, Sprache und Ton
zu verstehen. Nicht weniger schwer waren aus dem Leben des Dichters und den
Eulturzuständen seiner Zeit Gesichtspunkte für das Verständniß dieser Poesie zu gewin¬
nen. Zu diesen Schwierigkeiten mag man noch rechnen, daß auch die Sprache der
neidhartischcn Poesie das Verständniß nicht leicht macht — er ist der schwerste aller
höfischen Dichter — und daß sein Text eben deshalb sehr verdorben überliefert war.
So blieb Neidhart auch dem deutschen Fleiß unserer Philologen lange ein ungelöstes
Problem. Allmälig kam Hilfe. Wie wenig auch die hagenschc Sammlung der Minne¬
sänger für das Verständniß anderer Dichter gethan hat, grade bei Neidhart hatte
Wilhelm Wackernagel sich des Textes angenommen, derselbe Gelehrte hat anch später —
(altfranzösische Lieder und Leiche) — den Zusammenhang der neidhartschcn Dichtungs-
weise mit französischen Mustern nachzuweisen gesucht. Auf der andern Seite hat
Rochus von Lilienkron i» einer kleinen, vortrefflichen Abhandlung die Verbindung
Neidharts mit einer bestimmten Form uralter, deutscher Voikslyrik zu Tage gebracht.
Jetzt ist durch das große Werk vou Moritz Haupt der Dichter selbst sauber und rein,
von den unechten Schößlingen, welche ihn dnrch drei Jahrhunderte überwuchert
hatten, befreit, in die Hand des Lesers gelegt. Die Methode des Herausgebers, seine
entschlossene, feste, rücksichtslose Kritik, das mächtige Wissen und die stolze Sicherheit
sind in unsrer gelehrten Welt bekannt genug. Möge jetzt auch das Publicum Freude
daran gewinnen. Aufrichtig sei gestanden, wir würden dankbar sein, wenn uns
der Herausgeber zuweilen etwas mehr von dem langen und mühsamen Wege gezeigt
hätte, ans dem er zu Resultaten gekommen ist, die jetzt kurz und glatt vor uus lie¬
gen, wie etwas, das sich von selbst versteht. Sein Selbstgefühl mag die Bewun¬
derung solcher entbehren, welche aus dem großen kritischen Apparat auf die Größe
der Arbeit schließen, aber anch wer achtungsvoll in seinen Wegen geht, würde ihm
Dank wissen, wenn er öfter sein Zeichen an dem Gestrüpp der Wildnis; erblickte, um
da irrige Abwege zu vermeiden, wo den Gcrmanenhäuptling ein Wissen leitet, wel¬
ches ihm fest wie ein Instinct geworden ist. Ans der Textkritik Haupts ist erkenn¬
bar, daß er im Ganzen die Ansichten von Lilienkron über den deutschen Ursprung
der neidhartischen Poesie theilt. Wenn d. Bl. darauf verzichtet, in einer der
subtilsten wissenschaftlichen Fragen die entgegengesetzten Ansichten von Haupt, Lilien-
kron und Wackernagel zu beurtheilen, so wird doch eine kurze Andeutung einiger
wichtigen Probleme, welche sich an Neidharts Poesie knüpfen, nicht uninteressant sein.
Die Frage über den Ursprung der deutschen Lyrik gehört zu den reizvollsten,
aber schwersten im Gebiet deutscher Literatur. Wir haben aus der Urzeit einige
ungenügende Andentungen über das, was unsere heidnischen Vorfahren außer den
Gesängen von epischem Charakter gesungen haben. Wir vermögen aus dürftigen
Ueberresten der ersten christlichen Jahrhunderte zu schließen, daß der Inhalt der
ältesten Lieder ebenso mannigfaltig, als ihre Form einfach war. Wir verstehn durch
Vergleichung der ältesten Poesien aller großer Culturvölker, daß sich allmälig aus
enden ursprünglichen nationalen Versmaß — dem ältesten epischen Verse des Volkes
— bei Veränderungen der Sprache, Sitten und Bildung lyrische Rythmen und
lyrische Strophen entwickelten. Aber die Wege, aus welchen aus dem gleichförmigen
Fluß der ältesten poetischen Sprache ein bewegteres Gefühl und die eindringende
Subjectivität individuellen Ausdruck fanden, sind uns fast überall unsichtbar. So
ist im Deutschen zwischen der Strophe der ältesten ritterlichen Lyrik, deren Anfänge
wir in die Mitte des 12. Jahrhunderts setzen dürfen und zwischen dem einfachen
epischen Vers des allitcrircnden „jüngsten"Gerichts" und des ,,Eberlicdcs" eine große
Kluft, deren Dunkel nicht durch die deutschen Reimereien der Klostergeistlichen aus¬
gefüllt wird. Wie sehr anch romanische Bildung und Verse die höfischen Dichter
des 12. Jahrhunderts beeinflußt haben, es ist noch sicher zu erkennen, daß sie alle
mehr oder weniger an eine deutsche volksthümliche Lyrik, in der sie aufgewachsen
waren, anknüpfen. Daß der Strom auch des lyrischen Vvlksgesangcs damals
mächtig und tief gewesen ist, vermögen wir daraus fast mit Gewißheit zu schließen,
daß er bis in die letzte Vergangenheit sortgeflnthct hat, und überall in seinem
langen Laufe uralte Trümmer deutlich erkennen läßt.
In Neidhart nun, im Anfange des 13. Jahrhunderts ist nach Haupts Reinigung
des Te,rtes zu alterum, daß feine Lieder idcnlisirte Reihen- oder Tanzlieder sind.
Daß solche Tanzlieder einen wichtigen Bestandtheil der ältesten Vvlkslyrik ausgemacht
haben, schließen wir auch daraus, daß noch im 16. Jahrhundert das Wort Reihen
die Bezeichnung für ein munteres Lied mit volksmäßigen Tone ist. Leider fehlt es
noch an einer genügenden Untersuchung über die alten Tänze. Aber Zeugnisse,
welche sich fast über 2000 Jahre ausdehnen, von der Erwähnung des dramatische»
Waffentanzcs bei Tacitus bis zu dem-obervstreichischcn und bairischen Tanz der Schnadcr-
hiipfl lehren uns, daß die rhythmische Bewegung des Körpers auch bei den Deutschen oft
mit Gesang verbunden war, und einen dramatischen Charakter hattet und daß
dem Chöre der einzelne Tänzer mit Worten und Mimik gcgenübertrat. Solche Tänze
erhielten sich wahrscheinlich nicht nur auf dem Dorfanger, sondern auch unter dem Balkcn-
dach der Cdelhöse und in den fürstlichen Hallen trotz allem Eindringen romanischer
Modctänze bis zum Ausgange des Mittelalters, für die Zeit Neidharts ist es un-
zweifelhaft. Die kecke und launige Natur des Dichters benutzte vorhandene Tanz-
melodien und die hergebrachte Form der Tanzgcsangc, beide modisch umbildend. Die
Einleitung seiner Lieder ist regelmüßig eine im Volksrcihcn wol seit der Heidenzeit
traditionelle Erwähnung der, Jahreszeit, entweder des heilbringenden Frühlings oder
des düsteren Winters, daran knüpft sich die wahrscheinlich ebenfalls traditionelle
Beziehung auf das eigene Herz; nach solcher Einleitung springt plötzlich ein dra¬
matisches Element heraus, ein lustiges Wechselgespräch oder die Schilderung einer
Situativ». Diese fast stereotype Verbindung verschiedenartiger poetischer Stimmungen,
welche dem Leser sehr auffüllt, erklärt sich nur aus den alten Gesetzen eines dra¬
matischen Volkstanzes.
Mit großer Feinheit hat Lilienkron zu beweisen gesucht, daß der höfische Neid-
hart, wenn er sich inmitten der Bauern als Theilnehmer ihrer Täizzc, ihrer Liebe
und ihrer Zänkereien darstellt, in den verschiedenen tölpelhaften Figuren, von denen
einige häusig wiederkehren, nicht die Bauern selbst, sondern Höflinge seiner Bekannt¬
schaft humoristisch behandelt hat/ Lilienkrons Ausführung ist auch in der Arbeit sehr
schön. Und in der That gewinnen nicht wenige Gedichte erst bei solcher Voraus¬
setzung den rechten Neiz. Aber ob R's. Bauern durchweg Masken sind, darf doch
noch bezweifelt werden. Es scheint uns, daß wir über den gesellschaftlichen Verkehr
der verschiedenen Stunde aus jener Zeit zu wenig wissen. Namentlich in Oestreich,
wie in den adligen Schultiseien der deutschen Dörfer auf Slavcngrund, weist manches
darauf hin, daß im 13. Jahrhundert der Edelmann auf dem Lande den Dorflcuten
durchaus nicht so fern stand, daß eine Theilnahme an ihren Festlichkeiten unter
seiner Würde gewesen wäre. — Bei jeder Untersuchung über Leben, Sitten und
Empfindungsweise unserer Vorfahren fühlt man mit Unbehagen, wie tiefe Däm¬
merung auf jener Zeit liegt.
Es ist zu hoffen, daß die edle Arbeit von Haupt zu neuen Untersuchungen
anregen und dazu helfen wird, diese und andere Zweifel über Neidharts Poesie
aufzuklären.
Balbis allgemeine Erdbeschreibung oder Haushund des geogra¬
phischen Wissens. Vierte Auflage. Bearbeitet von or. Bergbaus. 2 Bände.
Pest, Wien und Leipzig. Verlag von C. A. Hartlebcn 18K7 und 1858. Der
Venetianer Adriano Balbi ist eine der ersten Großen auf dem Gebiete der Geo¬
graphie und Statistik. Sein ^t.l-rs stKuvL'raM'tuo <Zu globe ist mit seinen reichen
Zusammenstellungen und Uebersichten, bei denen auch die deutschen Forschungen
berücksichtigt und namentlich die Resultate der vergleichenden Sprachkunde zur
Anwendung gekommen sind, noch jetzt unübertroffen, und sein ^.brügä cku Mu-
Liu.M«z wurde fast in alle moderne Sprachen übersetzt. Eine dieser Uebersetzungen
ist die Grundlage des obigen Buchs, dessen frühere Auflagen eine ungewöhnliche
Verbreitung gefunden haben, und welches in seiner jetzigen Gestalt allen An¬
sprüchen genügt, die man heutzutage an ein Handbuch' der Geographie zu stellen
berechtigt ist. Namentlich zeichnet sich sein System durch Einfachheit und Ueber-
sichtlichkeit aus, Eigenschaften, die sich nicht vielen Werken ähnlicher Art nachrühmen
lassen. Die Bearbeitung durch Dr. Berghaus ist in den Hauptsachen durchaus
gründlich und gewissenhaft. Mit sehr wenigen Ausnahmen fanden wir, daß dabei
die zuverlässigsten Quellen über die einzelnen Gegenstände benutzt und alle wichtigeren
geographischen Entdeckungen, alle irgend bedeutsamen Veränderungen auf dem
Gebiete der Erdkunde bis auf das Jahr 1855 berücksichtigt worden waren. Mit be¬
sonderer Ausführlichkeit ist selbstverständlich Europa behandelt, und sind hier auf die Be¬
schreibung Oestreichs allein mehr als acht Bogen von dem Format des brockhausschen Cor-
versationslexikons und zum Theil sehr engem Druck, auf Preußen circa fünf Bogen, auf
Frankreich ebenso viel verwendet. Daß kleine Irrthümer vorkommen, ist bei einem Werke,
welches so umfassende Detailkenntniß voraussetzt, begreiflich. Wir machen nur auf
einen aufmerksam, der in jetziger Zeit ganz vorzüglich eine Berichtigung erheischt.
Seite 810 heißt es, in Schleswig seien V» der Einwohner Dünen, und einige
Zeilen weiter unten wird gesagt! „Unter den 363,000 Einwohnern, welche das
Herzogthum Schleswig 1845 hatte (es hat jetzt mehr als 400,000), befanden sich
125,000, welche deutsch in ihrer platten Mundart sprachen, 122,000 hatten die
Districte, wo die dänische Sprache in .Archen und Schulen gebräuchlich, und
51,000 E. diejenigen ursprünglich dänischen Districte (inne?), wo dies nicht mehr
der Fall war, 36,000 E. sprachen sowol deutsch als dänisch, und 29,000 E.
bedienten sich der französischen Mundart." Dies ist dahin abzuändern, daß die
Dänen sich in Schleswig zu den Deutschen etwa wie 4 zu 5 verhalten, daß von
den Einwohnern des Herzogthums mit Einschluß der Friesen reichlich 220,000
sich des Deutschen als Umgangssprache bedienen, und daß durch das sogenannte
Sprachrescript die dänische Kirchen- und Schulsprache über Districte, die von mehr
als 40,000 dcutschredenden Schlcswigcrn bewohnt sind, ausgedehnt worden ist.
Ebenso unrichtig ist es, wenn der Bearbeiter das Amt Hütten, wo seit länger als
hundert Jahren niemand dänisch spricht, nur größtentheils von Deutschredenden,
das Amt Gottorf, von dessen Einwohnern nicht der zehnte Theil das dänische
Patois Schleswigs redet, sogar hauptsächlich von Dänischsprechenden bewohnt sein
läßt. Derartige kleine Irrthümer thun dem Werthe des Werkes nur geringen Ab¬
bruch. Der hier erwähnte aber könnte in der nächsten Zukunft für den Einen
und den Andern zu einem großen Irrthum führen, und so war er hier hervor¬
zuheben und zu berichtigen.
Nach dem Wunsche des Verfassers sei hier ein Druckfehler in- Bilder aus der
deutscheu Vergangenheit No. 1» S. 386 Z. 10 v. o. verbessert. Dort ist statt:
Götz von Berlichingen schrieb seine Biographie in seinem letzten Lebensjahre
zu lesen- in seinen letzten Lebensjahren- Götz starb 1562, die Biographie
ist nach 1556, wahrscheinlich 1557 verfaßt, denn Götz erwähnt Ferdinand I. als
neuen Kaiser. —
Ferner muß es in dem Aufsätze „Das System der preußischen Festungen"
(Ur. 7) S. 160 in der zweiten Zeile von unten 1314 statt 1817, S. 268 in
der fünften Zeile von oben ebenfalls 1814 statt 1817 und wo von dem Bau
Lötzcns die Rede ist, statt stratcgisch-fvrtisicatvrischc „Schraube" Schrulle heißen.
'
Wenn wir die Berichte und Urtheile, welche unsere Presse in den letzten
Monaten über den Streit zwischen Dänemark und Deutschland gebracht hat.
überblicken, so finden wir. daß die Mehrzahl der Blätter nur eine holsteinische
oder holstein-lauenburgische Frage kennt, und betrachtet man die Noten und
Depeschen, mit denen bisher von den Mandataren des deutschen Bundes und
zuletzt von diesem selbst mit den Herren in Kopenhagen über diese Angelegen¬
heit Krieg geführt wurde, so muß man sich mit jener Bezeichnung einver¬
standen erklären; denn nirgend erwähnten diese Documente den Namen Schles¬
wigs. Da das Land zwischen Eider und.Königsau noch existirt, ebensowenig
ins Königreich Dänemark aufgegangen als ins Meer versunken ist, und da das
Recht Holsteins auf Zusammengehörigkeit mit dem nordlichen Nachbarherzog-
thume durch die Verträge von 1852 nur modificirt. keineswegs aufgehoben
wurde, so vermöchten wir uns jene beharrliche Schweigsamkeit, gegenüber den
auch hier, ja hier in stärkerem Grade verletzten deutschen Rechten und Inter¬
essen nur mit der Furcht vor einem Einspruch der nichtdeutschen Großmächte
zu deuten. Indeß füllt, da England durch die Sendung des Generalconsuls
Ward nach Schleswig bekundete, daß es die Grenze der deutsch-dänischen
Frage nicht am Südufer der Eider sieht, und selbst russische Zeitungen an¬
erkennen dürfen, daß Deutschland in Schleswig Rechte zu wahren hat, auch
dieser Erklärungsgrund zum Theil hinweg, und es scheint, da wir von der
deutschen Diplomatie doch unmöglich annehmen dürfen, sie sei sich in der
Sache nicht klar, nichts übrig zu bleiben als die Vermuthung, die deutsche
Bundesversammlung unterlasse die Sache Holsteins in Schleswig zu erwähnen
aus Rücksicht auf Frankreich oder Oestreich.
Gesetzt aber auch den Fall, Schleswig wäre aus guten Gründen ein
uoli me wnL'ol'o für den Bund, so hat die Presse diese Gründe nur als vor¬
läufig noch vorhanden zu behandeln, und es ist ihre Pflicht, möglichst oft
und möglichst energisch daran zu erinnern, daß hier nicht blos ein Zerwürf-
niß zwischen Frankfurt und, Kopenhagen wegen in Holstein verletzter ständi¬
scher Rechte, sondern die Frage nach der Zukunft Dänemarks vorliegt, daß
hinter dem Bundestage, wie hinter dem dänischen Ministerconseil eine öffent-
liebe Meinung existirt., die sich mit dem Gesammtstaat, dessen Bestehen beide
zur Basis ihrer Unterhandlungen nahmen, nicht einverstanden erklärt, daß die
Frage nur halb gelöst wird, wenn man sie auf Holstein beschränkt, nicht auch
auf Schleswig ausdehnt.
Ob die vollständige Lösung derselben gegenwärtig möglich ist, ob Preu¬
ßen, der dabei zunächst betheiligte Staat, erst die Bündnisse reifen zu lassen
hat. deren Anknüpfung oder Vorbereitung jetzt das Gerücht verkündigt, darf
unseres Erachtens dabei nicht in den Vordergrund gestellt werden. Es genügt
zu wissen, daß sie überhaupt möglich ist^ daß sie sich vollziehen wird, sobald
das gesammte deutsche Volk sich die volle Bedeutung des Streites zum Be¬
wußtsein gebracht hat und, ebenso fern von zu wcitfliegenden Hoffnungen wie
von zu ängstlich messender Beschränkung, mit aller Wucht seiner Ueberzeugung
und seines Willens nach den ihm hier gesteckten Zielen hindrängt. Liäora
Romain tormimi« iinxerii — so las man einst über dem einen Thore Rends¬
burgs. Die Dünen dursten, nachdem 1852 die Herzogthümer von Deutsch¬
land entwaffnet waren, diese Inschrift abnehmen und in die Rumpelkammer
werfen. Die Grenze war, so schien es einige Jahre, bis an die Elbe, bis
an die Thore Hamburgs vorgeschoben. Es war vorauszusehen, daß ein Rück¬
schlag erfolgen würde, er kam, und.jetzt möchten die Dänen das Grenzzeichen
wieder aufrichten, wo es einst gestanden. Die Diplomaten der eschenhcimer
Gasse würden sich vermuthlich damit begnügen. Sie werden vielleicht mit
noch Wenigerem zufrieden sein. Die deutsche Nation aber, so weit sie ihre
Interessen auf der cimbrischen ^Halbinsel kennt, wird dazu nicht ihr Amen
sprechen; sie wird sagen, was sie selbst weggenommen, soll weggenommen
bleiben, nicht die Elbe, aber auch nicht die Eider bilde in Zukunft unsere
Markscheide im Norden; sie wird dies in einem feinen Gedächtniß behalten,
und den Wunsch zur Wirklichkeit werden lassen sobald sie kann.
Noch nie erwiesen die Verträge, welche die Diplomaten ewige nannten,
sich wirklich als ewig, am wenigsten die, welche gegen die Natur waren.
Und das weiß man in Schleswig-Holstein. Diese Niedersachsen, diese Friesen
und Angler, die jetzt des Ausgangs der Verhandlungen begierig von jenseit
des dänischen Schlagbaums zu uns hcrüberbUcken, sind ein langathmiges,
wettcrgehärtetes Geschlecht, mit ruhigem Blut und ausdauernden Nerven ge¬
segnet, wie kein anderer deutscher Stamm. Sie haben sich vier Jahrhunderte
hindurch allein des Dänenthums erwehrt, haben in den letzten zehn Jahren
Enttäuschung -auf Enttäuschung in ihren gerechtesten Erwartungen erlebt, ohne
zu verzweifeln, ohne auf die Dauer auch nur zu zweifeln. Sie werden sich
keinen Illusionen über das Einschreiten des Bundes hingeben, werden ein
festes Wort von ihm in ihrer Sache, beschränke es sich auch auf Holstein, als
erste Abschlagszahlung nach langem Schuldverweigeru, und als ein Gewicht in
ihre Wagschale, welches die der Dänen wenigstens ein Stück emporschnellen
läßt, mit Dank annehmen und die so gebesserte Lage benutzen, weiter zu gra¬
ben und weiter zu bauen, bis eine größere Zeit dem Hause das Dach aus¬
setzt und den First mit dem Kranze schmückend ihm den Namen gibt, der jetzt
blos als feuriger Wunsch im Herzen der Bauleute lebt: Schleswig-Holstein,
Deutschlands Nordmark.
Dies war vorauszusenden, damit die nachstehende Entwicklung des Standes
der Schleswig-holsteinischen Sache nicht der Tadel treffe, von einem Hoffnungs¬
losen ausgegangen zu sein. Wir wenden uns jetzt sofort zu den Parteien in
der Frage und deren Programmen, wobei wir, da diese Frage mittelbar weit
in die Verhältnisse des gesammten Nordens hineingreift, auch solche Parteien zu
berücksichtigen haben, die sich nicht direct auf unsern Hauptgegenstand beziehen.
Wir beginnen mit der Partei, welche durch ihr Programm den Inter¬
essen Deutschlands am strengsten entgegengesetzt ist und auch in Dänemark die
wenigsten Mitglieder zählt, gleichwol aber die Neugestaltung der dänischen
Staatsverhältnisse nach ihren Grundsätzen durchgeführt hat, indem dieselben
von den Großmächten als zur Erhaltung des europäischen Gleichgewichts noth¬
wendig angesehen wurden. Die Gesammtstaatsmänner wollen einen
dänischen,Staat in der Weise des jetzigen Oestreich, verbunden ohne Rücksicht
auf die verschiedenen Nationalitäten, unter einem König, der im Königreich
Dänemark durch eine sehr freisinnige Verfassung beschränkt, in Schleswig,
Holstein und Lauenburg factisch so gut wie absoluter Herrscher ist, und der,
während er sich in Dänemark durch keinerlei andere Rücksichten als die aus
die Volksvertretung gebunden sieht, in Betreff Holsteins und Lauenburqs sich
an die Beschlüsse des deutschen Bundes zu halten hat. Es gab verschiedene
Wege, diesem, wie man auf den ersten Blick bemerkt, naturwidriger Gedanken
Form und Ausdruck zu geben. Man konnte die mit allen Mitteln eines wirk¬
samen Einflusses auf die Verwaltung ausgestattete Volksvertretung des König¬
reichs (Reichstag) in ihrer Machtvollkommenheit bestehen lassen, den frühern
Provinzialständen der Herzogtümer einige Scheinrechte verleihen, und für die
Vertretung der Interessen des Gesammtstaats mit Rücksicht auf seine aus¬
wärtige Politik, auf Finanzen, Heer und Flotte eine gemeinsame Reichs-
versammlung (Reichsrath) berufen, die nur mit berathender Stimme
ausgestattet war. In diesem Falle wäre der dänische Reichstag mit seiner
beschließenden Befugniß, wie sofort zu erkennen, nicht blos für das König¬
reich, sondern auch für die Herzogthümer die maßgebende Versammlung ge¬
worden, auch wenn man sich entschlossen Hütte, den deutschen Theilen der
Monarchie im Reichsrath gleichviel Stimmen wie den dänischen zu geben.
Man konnte aber auch auf die Vertretung des Gesammtstaats das Haupt¬
gewicht legen, ihr die stärkere Einwirkung auf die Verwaltung einräumen und
den dänischen Reichstag auf das Niveau einer Provinzialvcrsammlung Herab¬
drücken. In diesem Falle trat die Herrschaft des dänischen Volkes über die
Deutschen im Gesammtstaat weniger roh zu Tage. Die Unterordnung des
deutschen Elements aber unter das dänische blieb dieselbe, wenn man nicht,
was die Dänen nie zugeben konnten, die Deutschen gleichviele Vertreter in
den Reichsrath schicken lassen wollte. Ja selbst bei diesem Zugeständniß würde
nur unter der Voraussetzung einer vollkommen unparteiischen Regierung —
Beweise, daß Unparteilichkeit im Cabinet von Kopenhagen nicht zu suchen,
ja bei der Art der Dänen nicht einmal möglich ist. bedarf es nicht — der
nachtheilige Einfluß, den das Ministerium in den Herzogthümern auf die
Reichsrathswahlen üben kann, weggefallen und gleiche Vertretung beider Na¬
tionen erreicht worden sein. Angenommen aber, sie wäre zu erreichen ge¬
wesen, so würde bei den auseinandergehenden Interessen und der unheil¬
baren Verbitterung beider Theile die Staatsmaschine' ein Wagen geworden
sein mit zwei Deichseln, eine nach Süden, die andere nach Norden gerichtet,
jede gleich stark bespannt, keine von der Stelle rückend, eine Lächerlichkeit,
eine Monstrosität.
Man beließ es daher dabei, daß die Deutschen unter allen Umständen im
Reichsrath in der Minorität sein mußten. Aber auch so hätten es die Dänen
nur dann zu einem vollständigen Siege und damit zu vollständiger Danisirung des
Gesammtstaats bringen können, wenn Aussicht vorhanden gewesen wäre, das
deutsche Element in der Bevölkerung zu vernichten. Es gelang blos eine der
Unterjochung ähnliche Unterordnung herbeizuführen. Was den Deutschen in
den Herzogthümern an Zahl abgeht, ersetzen sie durch größern Reichthum,
durch eine durchschnittlich höhere Bildung und vor allem dadurch, daß sie
hinter sich die Hoffnung auf die vierzig Millionen Stammgenossen haben, die
sie nicht immer im Stich lassen werden. Unter normalen Verhältnissen herrschte
bisher in Kopenhagen immer das deutsche Element; man reiche ihm die
Hand, und es wird in Kurzem wieder herrschen.
Der Gesammtstaat wäre somit nur unter zwei Bedingungen herzustellen.
Die eine wäre die, daß in sämmtlichen Theilen der dänischen Monarchie der
Absolutismus wieder aufgerichtet, die Volksvertretung in Dänemark abgeschafft,
oder der in den Herzogthümern gleichgestellt, und die Herrschaft Dänemarks
über letztere in die Hände eines unumschränkten Monarchen zurückgegeben
würde, welcher außer der Macht auch den Willen besäße, das leidenschaftliche
Bestreben der Dänen, ihr Wesen über den Süden auszudehnen, im Zaum
zu halten. Die andere Bedingung wäre innigster Anschluß des Gesammtstaats
an Deutschland. Eintritt desselben in den deutschen Bund. Beide Bedingungen
sind, zu Plänen formulirt, bereits laut geworden und haben Vertheidiger, selbst
kleine Parteien um sich gruppirt. Unter den Dänen haben sie durchaus keinen
Boden. Wer sie nur nennen wollte, würde einen Sturm der Entrüstung auf
sich herab beschwören, mit dem Namen eines Verrüthers gebrandmarkt werden.
Wir lassen es dahin gestellt sein, ob es einem klugen und energischen Fürsten
möglich wäre, etwaige Umstände benutzend, die Beschränkungen seiner Macht
durch die jetzt geltende Verfassung für fortan ungiltig zu erklären und die
alte Cabinetsrcgierung wieder einzuführen. Es würde beider durch und durch
demokratischen Art des Volkes mindestens ein hartes Stück Arbeit sein. Eins
aber ist sicher: ein dänischer König, welcher in Verfassung und Verwaltung,
in der Verwendung zum Staatsdienste, in der Berücksichtigung der Sprach¬
verhältnisse, in Betreff der materiellen Interessen eine wirklich paritätische
Stellung der beiden Nationalitäten mit Gewalt durchsetzen wollte, würde keinen
Minister mit dänischen Namen finden, seine Anordnungen zu vollstrecken, kein
dänisches Bataillon, um seinen Befehlen Gehorsam zu verschaffen.
Der Plan eines Eintritts Dänemarks in den deutschen Bund verdient,
da sich gewichtige Stimmen selbst von skandinavischer Seite dafür ausgespro¬
chen haben, eine ausführlichere Erörterung. Die, welche ihm das Wort reden,
fassen die Dänen als nicht mehr reinskandinavischen Stamm auf, behaupten,
sie seien der großen Mehrzahl nach ein Mischvolk, nennen, indem sie darauf
hinweisen, daß vor dem Kriege um Schleswig-Holstein in den gebildeten Krei¬
sen Kopenhagens und der andern größern Städte das Deutsche die herrschende
Sprache gewesen, daß diese Kreise vielfach Sympathien für das Deutschthum
an den Tag gelegt, daß die deutschen Elemente in Literatur. Lebensweise,
Ton u. s. w. des Dänenthums einen wesentlichen Bestandtheil gebildet, den
jetzigen Haß gegen Deutschland Thorheit und Unnatur und meinen, jener Ver¬
deutschungsproceß werde trotz aller Glut dieses Hasses fortgehen. Sie glauben,
es sei unverständig, dies zu leugnen oder zu ignoriren; man solle sich viel¬
mehr darnach richten und sein System auf das Vorhandensein eines Elements
bauen, daß sich eben nicht mehr ausscheiden lasse. Dänemark nach Norden
hinzutreiben, heiße der Nation eine andere Entwicklungsbahn vorschreiben.
, als jene. welche ihr vorgezeichnet sei. Dänemarks Bestimmung sei. die Brücke,
das verbindende Glied zwischen den beiden großen Hauptgruppen der germa¬
nischen Stämme, dem deutschen und dem skandinavischen zu bilden, nicht
aber auf Spaltung und fanatischen Haß zwischen diesen so nahe verwandten
Völkern hinzuarbeiten.
Dann gehen diese Stimmen weiter und fragen, ob die Dänen denn wirk¬
lich etwas verlieren würden, wenn sie sich ganz an Deutschland anschlössen
und die Schranken, die dem deutschen Wesen den Zugang wehrten, völlig
niederrissen. Sie antworten, man werde nichts verlieren, aber viel gewinnen.
Allerdings würde dann das Deutschthum die Oberhand erlangen, die deutsche
Sprache bei öffentlichen Verhandlungen häusiger angewendet, und vielleicht
mit der Zeit die alleinherrschende werden. Aber darin läge nichts Drückendes
oder Demüthigendes. Mem könne einwenden, daß durch einen Anschluß an
den deutschen Bund die Volksfreiheit in Gefahr kommen werde, ungebühr¬
liche Beschränkung zu erleiden. Aber man habe gesehen, daß die Freiheit
auch in deutschen Staaten gewahrt werden könne, wofern nur der Fürst loyal
sei und das Volk Festigkeit und Mäßigung zeige. Dagegen werde man
sich durch einen solchen Schritt die wichtigsten Vortheile erwerben. Der
Staatencvmplex der dänischen Monarchie sei dann für alle Zeiten gesichert vor
Schmälerung. Die einzelnen Theile könnten fester verknüpft, zu einem Ein¬
heitsstaat umgeschaffen werden. Dänemark und die Herzogthümer würden,
wie der norwegische Geschichtschreiber Münch sich ausdrückt, den „Admiral¬
staat" des deutschen Bundes bilden, die übrigen Bundesglieder den neuen
Genossen mit Achtung behandeln, da jener Admiralstaat dem heißen Wunsche
nach einer Flotte entspräche. Dänemark hätte dann Einfluß im Bunde und
dadurch größere Macht und Bedeutung in der ganzen europäischen Staatenfamilie
als gegenwärtig, und das Nationalgefühl würde bei einer so würdigen Stel¬
lung sicherlich nicht zu kurz kommen. Man solle daher in Dänemark den Muth
der Umkehr, die nöthige Ergebung ins Unvermeidliche, den großen Sinn haben,
„die Acten der nordischen Nationalität sür ganz geschlossen zu erklären, und
als dänisch-deutscher Staat in verjüngter kräftiger Gestalt wieder aufleben."
Dies der Rath der echten Skandinavier an die Dänen. Man sieht dar¬
aus, daß jene diese und ihre Sehnsucht nach Vereinigung mit den Brüdern
im Norden sehr kühl behandeln. Weshalb, werden wir sogleich sehen. Hier
ist nur zu bemerken, daß, wenn man sie unter den näher Verwandten nicht
mag. wenigstens nicht in der Gestalt mag, in der sie sich anbieten, auch trotz
des Admiralstaats für uns keine Veranlassung vorliegt, sie zu mögen. Wir
lassen es dahin gestellt sein, ob ein Anschluß der dänischen Monarchie an
Deutschland, wie der angedeutete, die Billigung der nichtdeutschen Großmächte
erlangen, ob er anders als durch einen Krieg durchzusetzen sein, ob er uus
nicht England aus immer entfremden würde. Eine feste Allianz mit der letz¬
tern Macht würde einem Bündniß mit Dänemark vorzuziehen sein, ein Ge¬
winn Schleswig-Holsteins mit seinen herrlichen Kriegshafen uns den Admiral¬
staat ermöglichen, den wir brauchen. Wir können nicht wünschen, die Ele¬
mente, welche die Entwicklung Deutschlands zu größerer Einigkeit stören, durch
ein neues zu vermehren, nicht wünschen, daß sich auch im Norden ein Glied
anfüge, welches andere Interessen als reindeutsche hat, ganz abgesehen davon,
daß man uns von vornherein mit Hintergedanken angehören und in kritischen
Zeiten eine andere Fahne aufstecken würde, als die des Bundes, und ganz
abgesehen davon, daß wir uns damit bei den Erbansprüchen des Petersburger
Hofes an Dänemark die angenehme Hoffnung näher rücken würden, einen
russischen Gesandten in Frankfurt mittaten zu sehen. Die einzige Macht im Bunde,
die von ihrem Standpunkte aus vielleicht zu diesem Projecte ja° sagen könnte,
ist Oestreich. Es wäre ein Schritt zur Verwirklichung der Idee von der Ver¬
wandlung Deutschlands in das gepriesene mitteleuropäische Siebzigmillionen-
reich mit seinen Szcklem und Magyaren, Polacken und Italienern, und es
wäre ein neuer Hemmschuh für die Entwicklung Preußens zu größerer Macht,
die in der bevorstehenden Verbindung Braunschweigs mit Hannover ohnedies
für die nächste Zukunft schwere Beeinträchtigung zu fürchten hat.
Wie es aber für den deutschen Patnoten keines Pathos bedarf, um ihm
die Thorheit dieses Vorschlags klar zu machen, so werden auch die Dänen
eher in alles Andere willigen, als in einen Anschluß an den Süden. Schon
seit mehren Jahrzehnten, besonders aber seit 1848 gehört in Dänemark bei
weitem der größere Theil derer, die auf Talent und Bildung Anspruch machen,
der skandinavischen Partei an, die zugleich die liberale ist. Diese Par¬
tei leugnet, daß Dänemark bereits so gennanisirt sei, daß es mehr deutsches,
als skandinavisches Wesen besitze, und sie hat darin nicht Unrecht. Wenn sie
dagegen behauptet, was das dünische Volk vom deutschen empfangen habe,
sei ohne Ausnahme vom Uebel, so sollten ihr bei einiger Anlage zur Selbst¬
erkenntniß wenigstens insofern Zweifel darüber aufsteigen, als die Grund¬
gedanken, denen sie ihre Existenz verdankt, aus Deutschland stammen, als sie
sast in allen ihren Zügen ein getreuer Abklatsch des Franzosenfresscrthums der
zwanziger Jahre ist. Der einzige wesentliche Unterschied ist, daß bei letzterem
das Gefühl des Hasses, bei den dänischen Skandinaven die Furcht vor dem
Gegner überwog. Die Politiker dieser Classe sagen, Dänemark wird vom
Deutschthum verschlungen, die Volk'sthümlichkeit untergraben, die Freiheit be¬
droht; Dänemark hat darum, wenn es seine Existenz retten will, sich an den
Norden, an Schweden und Norwegen anzuschließen, alles Deutsche bis herab
auf die deutsche Buchstabenschrift abzuthun, sich durch Aufnahme cchtskandi-
navischer Elemente in sein Wesen zu regeneriren, gegen den Süden und seine
Einflüsse eine unübersteigliche Greuzmaucr zu errichten. Wir sehen von der
Berechtigung dieses Hasses gegen Deutschland ab, und lassen es, wenn zu¬
gleich Ton auf die Behauptung freisinniger Einrichtungen gelegt wird, un-
erörtert, ob diese Einrichtungen durch eine Verbindung mit Schweden und
Norwegen in der Weise der kalmarischen Union den Bestrebungen Rußlands
gegenüber besser gesichert sein würden, als durch ein freundschaftliches Ver¬
hältniß Dänemarks und der gesammten skandinavischen Welt zu Deutschland,
das doch über kurz oder lang den Kampf mit Rußland aufnehmen muß. Wir
begreifen, daß die nationale Partei in Dänemark nur mit Factoren der Ge¬
genwart rechnet, nicht an die Zukunft denkt. Sie hat eben Eile, da das
Lämpchen am Verlöschen ist. Sie ahnt eben, daß ihr Land keine Zukunft
hat. Was wir aber auf den ersten Blick nicht begreifen, ist, daß die Partei
ihre Grcnzmauer gegen das verhaßte und gefürchtete Deutschthum quer durch
ganz entschieden deutsches Gebiet ziehen will. Die Eid erd alten, wie jene
Politiker in dieser Beziehung genannt wurden, sind überzeugt, daß das dä¬
nische Element in der Monarchie nicht start" genug ist, das deutsche zu unter¬
werfen, zu skandinavisiren. Die Regelung der Monarchie zu einem Gesammt-
staat mußte darum dieser Partei sehr unerwünscht sein. Sie versuchte durch ihre
Einwirkung auf die Verwaltung Holstein so viel als möglich zu danisiren,
und man sprach jetzt von Elbdänen. Der Erfolg war, wie vorauszusehen,
gleich Null, die Vertheidiger des clbdänischen Gcsammtstaats wissen, daß der¬
selbe nur existiren kann, wenn der deutsche Bund die Augen schließt, und daß
Elbdünemark auch in diesem Falle eine für skandinavische Bestrebungen sehr
wenig bequeme Maschine ist. Sie gestehen daher eine Absonderung Holsteins,
des unzweifelhaft ganz deutschen und überdies zum deutschen Bunde gehöri¬
gen, nicht nur zu. sondern fordern sie sogar als nothwendig für die Verwirk¬
lichung ihrer Wünsche. Schleswig soll von dem südlichen Nachbarherzogthum
getrennt und durch Realunion mit Dänemark verbunden, zur Provinz gemacht,
einverleibt, derselben Verfassung und Verwaltung theilhaft werden. Daß die
ganze Südhälfte des Landes genau so deutsch, wie Holstein ist, daß Holstein
durch Verträge, auch durch die neuesten, fest mit Schleswig verknüpft ist,
kümmert die Herren nicht. Daß die deutschen Schleswiger gezeigt haben, wie
sie nicht im Entferntesten gesonnen sind, sich durch die Erlaubniß mit unter
den Fittichen der dünischen Constitution Platz zu nehmen zur Verzichtleistung
auf ihre alten guten Rechte und ihre Nationalität verlocken zu lassen, weiß
die Partei. Es ficht sie aber nicht an; denn geht es nicht in der Güte, so
geht es mit Gewalt. Daß es auch damit nicht gelingen will, haben die
letzten Jahre zur Genüge bewiesen, und wenn man dennoch dabei beharrt,
ein so halsstarrig antidänisches Element in dem reindänischen Staat zu be¬
halten, so erklärt sich das nur daraus, daß man ohne Schleswig nicht im
Stande ist, in der angestrebten nordischen Union das zu erreichen, was des
Pudels eigentlicher Kern ist.
Dänemark muß rein nordisch werden, sagt das Glaubensbekenntniß der
kopenhagner Skandinaven; es kann dies nicht aus eignen Kräften, es will
sich darum auf Schweden und Norwegen stützen, um nordische Nahrung aus
ihnen zu saugen. Es will aber auch trotz seines Bekenntnisses der Schwäche
die erste Rolle in der neuen kalmarischen Union spielen. Der Bettler will
König sein — ein kühner Gedanke, der aber leider von den beiden nordischen
Nationen, die in seine Verwirklichung zu willigen hätten, nicht goutirt, von
den Mildurtheilenden unter ihnen mindestens unklar, von den strengeren un¬
redlich gescholten wird. Damit das kleine Dänemark etwas stattlicher auf-
treten könne, soll Schleswig bis an die Eider sich in dänisches Land verwan¬
deln. Es soll die „Morgcngabe" sein, die Dänemark den beiden andern
Köpfen des dreihäuptigcn Skandinavismus zubringt, wenn es sich ihnen als
dritter anschließt. Die Schleswiger meinen zwar, es möge vielmehr die Elle
sein, die nach der Bibel niemand seiner Länge zusetzen kann. Die Eiderdänen
aber haben sich den Gedanken mit der Morgengabc einmal zurecht gemacht,
ihre Eitelkeit denkt nicht an jenes schwärmerische Ausgehen in einem großen
Nordlande, sie wollen im Süden erobern, um im Norden erobern zu können.
Dänemark gilt ihnen als Hauptland Skandinaviens, Kopenhagen als dessen
Hauptstadt. Es versteht sich deshalb von selbst, daß die Hegemonie in der
Union bei Dänemark sein muß. War sie es doch in der (beiläufig nicht durch
Vertrag, sondern durch Waffengewalt zu Stande gekommenen, den Schweden
sehr wenig ersprießlichen) kalmarischen Union, und ist doch Dänemark das alte
noch — wenigstens im Wollen, wenn nicht im Können. Alle Besonnenen in
Schweden und Norwegen haben diesen Hintergedanken erkannt, und sehen die
Redensarten der Dänen von skandinavischer Verbrüderung mit Mißtrauen an.
Die Unlust, sich mit den Hilfe und zugleich Herrschaft Heischenden einzulassen,
äußert sich besonders stark bei den Norwegern, welche durch eignen Schaden
klug geworden sind, indem sie ganz so wie jetzt die Schleswig-Holsteiner er¬
fahren haben, wie die Union mit Dünemark, mag sie auch das Gleichheits¬
und Selbstständigkeitsprincip für die in ihr begriffnen Länder proclamnen,
immer mit Unterjochung und Ausnutzung für den andern Theil endigt.
Können die nördlichen Skandinavier schon deshalb auf eine Union mit
Dänemark-Schleswig nicht eingehen, so stehen dem auch andere gewichtige
Gründe entgegen. Wenn Dänemark nur Holstein, nicht auch Schleswig,
wenigstens den südlichen Theil, aufgäbe, so könnten die andern beiden Reiche
nicht daran denken, ihm die Aufnahme in ihren Bund zu gewähren, da sie
sich in diesem Falle für einen kleinen Zuwachs an Stärke eine große Gefahr
eintauschen würden. Die Aufnahme würde dann das Ergebniß eines Strebens
sein, welches sich offen feindlich gegen Deutschland erklärte. Die, welche sie
gewährten, würden damit in denselben Gegensatz zu dem deutschen Interesse
treten, wie Dänemark, und nach dem, was wir bisher aus dem Munde der
Verstündigen in den beiden nordskandinavischen Reichen vernahmen, muß man
annehmen, daß die Schweden und Norwerger nichts von Feindschaft mit Deutsch¬
land wissen wollen. Man müßte sich, wofern man an eine Union ginge,
sichern, nicht bei jeder Gelegenheit, wo das Nationalgefühl der Deutschen zu
wallen beginnt, in einen Krieg mit dem Süden verwickelt zu werden, und
die einzige Garantie würe grade im Fahrenlassen jener Morgengabe, die sich,
wofern sie angenommen würde, den v.erhüngnißvollen Gaben der Mythe gleich
zeigen müßte, an die sich für jeden Empfänger Unheil, Streit und Blut¬
vergießen knüpften.
In Schweden und Norwegen hat sich der Skandinavismus bis jetzt, sofern
das Volt in Frage kommt, mehr in unbestimmter Weise kundgegeben und im
Wesentlichen aus Reden und Toaste von geistigem Zusammenwirken beschränkt.
Man gebrauchte ihn hier als Mittel, sich in eine angenehme enthusiastische
Stimmung zu versetzen oder gab sich auch dem Gefühl jenes wirklichen Bruder¬
bundes hin, welcher zwischen den Ländern der skandinavischen Halbinsel besteht.
Dieses Gefühl reichte vollständig aus, um sich mitunter einen Rausch in poli¬
tischer Begeisterung zu trinken, und in diesem Rausch und seinem überströmen¬
den Jubel nahm man den Dänen als den Retter aus den Inseln mit, ohne
sich seine eignen Empfindungen dabei weiter zu zergliedern. Die Vorkomm¬
nisse bei den Studentenfesten in Kopenhagen und Stockholm sind keine Wider¬
legung, sondern ein Beweis für diese Auffassung. Sie beweisen aber auch
noch etwas Anderes.
Außer dem Volke nämlich gibt es noch eine andere Macht, die mit dem
Skandinavismus geht, die aber nichts mit idealistischen Träumen zu schaffen
hat, sondern ebenso materielle und weit besser auf die Wirklichkeit basirte
Zwecke verfolgt, als die kopenhagner Patrioten. Wir meinen die Dynastie
Bernadotte.
Um es gleich von vornherein auszusprechen, die skandinavische Idee, wie
sie vom schwedischen Königshause verstanden wird, ist nicht die der Skandina-
ven in Kopenhagen. Dieses will weder einen dreiköpfigen Staatenbund, bei
welchem das sich auf Schleswig als Piedestal und dann noch auf die Zehen
stellende Dänemark den Größten macht und eine Rolle spielt, wie einst in der
kalmarischen Union, noch auch eine solche Gestaltung, wo dieses Dänemark die
Eigenschaft eines selbstständigen Reiches mit besonderer Verfassung bewahrt.
Was sie allein erstreben können, weil es sie allein stärker machen könnte, ist
die Einverleibung Dänemarks in das schwedische Reich. Die Geschichte
der letzten zwei Jahrhunderte zeigt nichts davon, daß die Idee der skandina¬
vischen Union im Bewußtsein der nordischen Völker Wurzel behalten hat, wol
aber meldet sie, daß wenigstens zwei schwedische Könige allen Ernstes daran
gedacht haben, Dünemark zu erobern, und daß mau andrerseits zweimal jn
Kopenhagen mit dem Plan umging, das dänische Königshaus aus den schwe¬
dischen Thron zu bringen. Will man darin den Gedanken der Einheit des skan¬
dinavischen Nordens erblicken, so war derselbe jedenfalls andern Schlags, als
der, welchen die dänischen Patrioten auf ihre Fahne schrieben. Wir haben
aber alle Ursache, anzunehmen, daß er in Stockholm zur Tradition geworden
ist, und daß die jetzige schwedische Dynastie, wenn sie sich der Ermunterung
der skandinavischen Bestrebungen zu widmen scheint, damit nichts Anderes
bezweckt, als Plänen und Absichten den Boden zu bereiten, wie sie jener zehnte
und zwölfte Karl verfolgten. Nußland hatte der schwedischen Krone Norwegen
verschafft. Man war in Stockholm dankbar dafür, und da sich zu diesem
Gefühl der Dankbarfeit das in politischen Dingen stärkere Gefühl der Furcht
vor dem mächtigen Nachbar gesellte, so galt Schweden bis auf den letzten
Krieg als guter Freund des Zarenreichs. Die in diesem Kriege erlangte Er¬
kenntniß, daß Nußland nicht so stark sei. als man gemeint, schwächte jene
Anhänglichkeit, führte zu dem bekannten Garantie- und Defensivvertrag mit
den Westmächten, und hieß selbst gegen Rußland rüsten. Ein Einmarsch in
Finnland war das Tagesgespräch. Der Friede ließ es nicht so weit kommen.
Die alte Freundschaft aber war nicht wieder herzustellen, und so hatte die
schwedische Politik in Betreff Dänemarks ferner keine Rücksichten auf Rußlands
Juteresse zu nehmen. Man konnte jetzt bei der durch das Verfahren gegen
Schleswig-Holstein herbeigeführten Zerrüttung der dänischen Monarchie, bei
dem sehr wahrscheinlichen Aussterben des kopcnhagner Königshauses, bei der
Ernennung eines Thronfolgers gegen das alte Recht und bei der in einem
großen Theile des Volks sich immer lauter und banger kundgebenden Ueber¬
zeugung, daß nnr ein Anlehnen an die Verwandten im Norden Dänemark vor
dem Untergang retten könne, recht wohl glauben, daß die Zeit zur Ausführung
jener dynastischen Pläne des vorigen Jahrhunderts nahe sei, und daß man
es wirklich glaubte, zeigt die Aufeinanderfolge von Demonstrationen, die-das
Ministerium Scheele zu der Depesche vom 20. Februar vorigen Jahres ver¬
anlaßte.
^ Das Auftreten des Königs Oskar und des Kronprinzen (jetzigen Regen¬
ten) seit jener Umwandlung der auswärtigen Politik Schwedens sieht nur bei
oberflächlicher Betrachtung harmlos aus. Auf der Naturforscherversammlung
in Christiania im Frühling 1856 betonte der Kronprinz und damalige Vice-
könig zum ersten Male officiös die Einheit, nicht die Einigkeit, des Nor¬
dens. Deutlicher sprach bald nachher der König, indem er den Besuch däni¬
scher und norwegischer Studenten in Stockholm als eine ihm und seinem Hause
dargebrachte Huldigung behandelte, seinen Gästen einen festlichen Empfang
bereitete, an dem sich höhere Beamte betheiligten, und dann eine Rede hielt,
in der er seine Freude über die Verbrüderung der skandinavischen Jugend
ausdrückte, die für die Zukunft Bedeutung' habe. Wenige Wochen später
machte der .Kronprinz einen Besuch in Kopenhagen, wie es schien, mehr den
Studenten, als dem Hofe. Ein Fackelzug, den ihm die erstem bringen woll¬
ten, wurde „als politische Demonstration" verboten, und so kam es blos zu
einer feierlichen Begrüßung, auf welche der Prinz in längerer, ganz im Stil
der skandinavischen Enthusiasten gehaltner Rede antwortete. Ein zukünftiger
König aber begibt sich nicht unter die Studentenschaft eines andern Landes,
um sich als Schönredner hören zu lassen, und es galt hier nicht einer phan¬
tastischen Lorbeerkrone, sondern einer andern, einer Krone von solidem Metall.
Wer daran zweifeln konnte, mußte sich durch den König selbst eines Bessern
belehren lassen, als derselbe den Reichstag dieses Jahres mit den Worten
schloß: „Die glückliche Vereinigung im Norden schlägt mit jedem Jahre tiefere
Wurzeln in dem Herzen und in dem Bewußtsein der skandinavischen Bruder¬
völker. Treu meinen Pflichten als Unionskönig, durchdrungen von dem
Gedanken, der dem Bunde zu Grunde liegt, bemühe ich mich, den gro߬
artigen Bau zu vollenden, die Theile desselben auszuführen,
welche ins Leben zu rufen die Umstände bisher noch nicht zu¬
ließen."
Deutlicher konnte man nicht sprechen. Man sah sofort in Kopenhagen,
daß es nicht die poetische Idee der nordischen Union, nicht die Träume von
„Faedrelandet" und Genossen, sondern das in die Formen jener Idee geklei¬
dete Streben des schwedischen Königshauses war, welches hier sich ausdrückte.
Die scheele'sche Depesche machte die Sache nur ärger. Sie brachte eine Anklage,
ohne sie beweisen zu können und wurde so vom schwedischen Cabinet mit
leichter Mühe widerlegt. Der „Unionskönig" aber war in der gewonnenen
Position dadurch nur gestärkt und denen, die ihn bisher übersehen, gezeigt.
Ob man in Stockholm bald oder überhaupt einmal ganz offen mit der Sprache
herausgehen oder warten wird, bis der Drang der Umstände nöthigt, sich der
Dänen anzunehmen, wird die Zukunft lehren. Vom deutschen Standpunkte
ist die skandinavische Idee in dieser Gestalt willkommen zu heißen, da sie die
Dänen in dem Gefühl bestärkt, daß es unmöglich für sie ist, ihre bisherige
staatliche Existenz auf die Dauer fortzuführen, und da sie dieselben andrerseits
an die Obmacht Schwedens gewöhnt. In Betreff Schleswig-Holsteins dürste
auch von dem Könige gelten, was vorhin hinsichtlich der Volksmeinung in
Schweden und Norwegen gesagt wurde. Ein von russischer Freundschaft
emancipirtes Skandinavien ist nicht stark genug, um es auch mit Deutschland
zu verderben, nicht stark genug, um nicht das dringende Bedürfniß zu empfin¬
den, Deutschland zum Bundesgenossen zu haben. Dann aber müßte es die
deutschen Herzogtümer aufgeben, vielleicht sogar Jütland, das ihm bei jedem
von einem südlichen Gegner mit Energie geführten Kriege in wenigen Wochen
verloren gehen würde. Wenn in neuester Zeit davon gesprochen worden ist,
Schweden habe dem kopenhagner Cabinet das Anerbieten gemacht, ihm Schles¬
wig zu garantiren, so wäre diese Offerte, die Begründung des Gerüchts voraus¬
gesetzt, bei der jetzigen Lage der Dinge ohne Sinn, wenigstens nur in dem
Sinne begreiflich, als es dem Hause Bernadotte vorläufig darum zu thun ist,
sich möglichst tief in die dänischen Angelegenheiten zu mischen, eine Art Pro-
tectorat über Dünemark zu gewinnen und damit das Gefühl der Abhängig-
keit zu befestigen, von dem es nicht weit bis zur Neigung sich zu unterwerfen
ist. Für eine endgiltige Regelung der Sache wäre damit nichts versprochen.
Wir werfen jetzt einen Blick auf die Parteien, welche sich im Süden in
Bezug auf die Schleswig-holsteinische Frage gebildet haben, und begegnen hier
zunächst einer Partei, die ihrer Natur nach nur mit Widerstreben und durch
Rücksichten bewogen, die mit der Sache selbst nichts zu schaffen haben, eine
Aenderung in dem bestehenden Verhältniß wünschen und unterstützen kann,
dann einer zweiten, welche die Rechte Holsteins und Lauenburgs innerhalb
ihrer Grenzen, wie diese Rechte durch die Vertrüge und Zusagen von 1851
und 1852 festgestellt sind, aufrichtig zur Geltung zu bringen bestrebt scheint, hierauf
noch etwas weiter links einer dritten, die an die Rechte Holsteins in
Schleswig erinnert, die der Bund ohne gegen die Großmächte zu verstoßen,
zu wahren im Stande sei. Dann schließen sich die an, welche das Recht
Holsteins aus Schleswig, entweder nach den alten Grundsatzungen auf
ganz Schleswig, oder in Berücksichtigung der Nationalitätsverhältnisse und
der größern Wahrscheinlichkeit eines gütlichen Abkommens auf Schleswig, so
weit es deutsch spricht, befürworten. Endlich gibt es Politiker, welche die
Schleswig-holsteinische Frage nicht eher für gelöst halten können, als bis auch
Jütland und damit die gesammte cimbrische Halbinsel aus dem Verbände
mit den dänischen Jnselstiftcrn gelöst, Cimbrien an Deutschland, die Inseln
an Schweden überwiesen sind — eine Vertheilung, die, wie wir im Voraus
bemerken können, jedenfalls sehr andere Conjuncturen und Constellationen er¬
heischt, als sie die Gegenwart darbietet.
Wen wir unter der zuerst bezeichneten Partei verstehen, kann nicht zweifel.
haft sein. Oestreichs Politik in der Schleswig-holsteinischen Sache hat eine wesent¬
liche Veränderung auch in der letzten Zeit nicht erlitten. Das wiener Cabinet
hat nach seinen absolutistischen Principien den Widerstand der Herzogthümer
vom Anfang an als unberechtigte Auflehnung angesehen. Es hat als Regie¬
rung eines großentheils außerdeutschen Staates auch hierbei stets das europäische
Interesse, nicht das deutsche im Auge gehabt. Ihm lag die Betrachtung des
Gleichartigen in beiden Monarchien näher als die des Ungleichartigen, und es
konnte nach dem Genius seiner eignen neuen Staatsordnung nicht daran zwei¬
feln, daß es im Gesammtstaat Dünemark ebenso wie im GesaMmtstaat Oestreich
gelingen werde, die verschiedenen Theile desselben in Zucht und Ordnung zu
halten und den Widerstreit der Nationalitüten in kluger Weise zur Befestigung
der landesherrlichen Gewalt zu nutzen. Oestreich hat endlich kein Interesse
dabei, daß Deutschland sich auf der cimbrischen Halbinsel befestige, es wünscht im
Gegentheil, daß Deutschland und zunächst die norddeutsche Großmacht keinen
Einfluß auf die Geschicke Schleswig-Holsteins erlange, daß sich kein deutscher
Staat bilde, dem die Häfen und Küsten der Herzogthümer die Basis eines
auch auf dem Meere mächtigen geben würden. Wenn es sich den Depeschen
Preußens anschloß, so geschah dies einestheils, um dieses nicht vor der öffent¬
lichen Meinung als alleinigen Hüter der deutschen Rechte im Norden erscheinen
zu lassen, anderntheils, um von vornherein hemmend wirken zu können, viel¬
leicht auch, weil der Streit indirect gegen ein russisches Interesse gerichtet war,
oder weil ihm die constitutionellen Einrichtungen Dänemarks zuwider sind —
sicherlich nicht, um den Gesammtstaat zu erschüttern, der sein Abbild und die
bequemste Handhabe ist, Preußen Unbequemlichkeiten zu verursachen. Es hat
Oestreich in der Bundesversammlung zugestimmt, als der Antrag gestellt wurde,
in Holstein und Lauenburg gegen die dänische Willkür zu protestiren. Wir
dürfen aber überzeugt sein, daß es die Stimme und der Einfluß Oestreichs
war, woran der Antrag Hannovers auf ein Jnhibitorium scheiterte, daß jede
energische Maßregel in der Angelegenheit denselben Widerspruch erfahren, jede
Erwähnung Schleswigs durch den Bundestag von derselben Seite her gehindert
werden wird.
Unter diesen Umständen bleibt den Bundcsgliedern, welchen es aufrichtig
um die Wahrung der Rechte Deutschlands in Holstein und Lauenburg zu thun
ist. nur eine beschränkte Wirkungssphäre. Die Forderungen, welche von Frank¬
furt an Dänemark gestellt werden, gehen nicht über die Eider hinaus und
können nur eine Modifikation des Gesammtstaats, nicht die Gefährdung des¬
selben zur Folge haben. Man beanstandete den ohne vorherige Vernehmung
der Stände Holsteins und Lcmenburgs erfolgten Erlaß des Verfassungs-
gesctzes für die gemeinschaftlichen Angelegenheiten der dänischen Monar¬
chie als Verletzung von Artikel 56 der wiener Schlußacte, so wie als
Nichterfüllung der im Jahre 1852 übernommenen Verpflichtungen. Man
erstreckte diese Beanstandung auf die besondere Verfassung Holsteins,
indem man verlangte, daß die Ktz. 3 und 4 derselben, welche die Gegenstände
bestimmen, die als allgemeine Angelegenheiten der Monarchie und die als
besondere holsteinische betrachtet werden sollen, den Provinzialstnnden, deren
Berathung sie bisher entzogen gewesen, zur Begutachtung vorgelegt würden.
Man behauptete, die Gesammtverfassung verstoße auch in materieller Hinsicht
und vorzüglich in Betreff der Domänen gegen die gegebenen Zusagen, indem
die Domänen früher Sache der einzelnen Landestheile gewesen, durch das
Patent vom 23. Juli 1856 aber den gemeinschaftlichen Angelegenheiten der
Monarchie zugezählt worden seien. Man beklagte sich serner, daß die Zu-
sicherung, in dem Gesammtstaat solle kein Theil dem andern untergeordnet wer¬
den, nicht erfüllt worden, indem in der Repräsentation dieses Gesammtstaats
die Vertreter des Königreichs Dänemark sich im Uebergewicht befänden und
die Competenz dieser, Versammlung (des Neichsraths) in die speciellen Rechte
und Interessen Holsteins und Lcmenburgs schädlich eingreift. Man heanstan-
bete sodann auf Grund des Buudesrechts den §. s der Gesammtverfassung,
welcher für den Fall eines Thronwechsels den Regierungsantritt des Thron¬
folgers von vorhergängiger Leistung des Eides auf die Verfassung abhängig
macht, und inzwischen ein ministerielles Interregnum anordnet. Man forderte
endlich die bis jetzt verschobene Regulirung der Grenze zwischen Holstein und
Schleswig.
Ohne Zwang wird Dänemark nur die weniger wichtigen dieser Beschwer¬
den und Forderungen berücksichtigen. Der folgenschwerste Punkt, der den
Gesammtstaat wesentlich umgestalten müßte, ist der, welcher auf das Verlan¬
gen nach gleicher Stimmenzahl für alle im Reichsrath vertretenen Landestheile
hinausläuft. Ginge das Cabinet von Kopenhagen darauf ein, so würde sich
die Unmöglichkeit des Gesammtstaats in constttutioneller Form noch deutlicher
als bisher herausstellen, ja die Deutschen würden, salls Lnuenburg, Holstein
und Schleswig jedes ebenso viele Repräsentanten hätten, im Reichsrath in
noch stärker»: Maße die Oberhand haben, als jetzt die Dänen. Wir können
nicht glauben, daß man im dänischen Cabinet daran denkt, dies zuzugestehen.
Zwangsmaßregeln aber wird der Bund aller Wahrscheinlichkeit nach nicht ver¬
hängen, und so dürfte sich der Nutzen des ganzen Einspruchs darauf redu-
ciren, daß die öffentliche Meinung, in Deutschland wieder einmal lebhafter
an unsern wunden Fleck im Norden erinnert, und zugleich über das eigent¬
liche Wesen des Bundestags, sein Wollen und Vermögen aufgeklärt wird.
Die Nachricht der „Jndcpendance Belge", die dänische Regierung habe sich
entschlossen, eine Revision der Specialversassung Holsteins durch die Stände
dieses Herzogtums anzuordnen, und die Gesaumitverfassung der Monarchie
nach den Forderungen des Bundes und den Wünschen der holsteinischen Stände
abzuändern, verlange dafür aber gänzliche Trennung Holstein-Laucnburgs von
Schleswig, indem für die beiden ersten Herzogthümer eine bloße Personal¬
union, für Schleswig dagegen eine Realunion in Vorschlag gebracht werde,
ist sicher verfrüht, wo nicht völlig unbegründet. Damit wäre der Gesammt-
stnat aufgegeben, das Programm der Eiderdänen adoptirt, und so weit sind
die Dinge noch lange nicht gediehen in Kopenhagen. Andererseits aber muß
man dort wissen, daß der Gegner in Frankfurt mit dieser Wendung der Sache
nicht einverstanden sein würde, nicht weil man sich dort durch das Recht Hol¬
steins auf enge Verbindung mit Schleswig zum Widerspruch aufgefordert findet,
sondern weil Oestreich, wie gezeigt, den Gesammtstaat erhalten zu sehen wünscht.
Von der Meinung derjenigen, welche die nach dem Jahre Z852 übrig
gebliebenen Rechte Holsteins in Schleswig betonen, ist in Nummer 9 dieser
Blätter die Rede gewesen, und wir kommen demnächst ausführlich aus diese
Rechte zurück. Hier nur so viel, daß dieselben unsrer Meinung nach sehr
wohl auch von Buudcswegen zu Forderungen zu formuliren wären, daß aber
auch mit ihnen nur Nebenhergehendes, Vorläufiges, keineswegs der allein
ersprießliche Abschluß der Frage für immer zu erreichen ist. Es handelt sich
hier nicht um größere oder geringere Zugeständnisse Dänemarks, sondern um
eine Reconstruction des ganzen Staats aus Grundlage seiner geschichtlichen
Entwicklung. Die staatsrechtliche Stellung der Herzogthümer Schleswig-
Holstein könnte zunächst in der Gestalt, wie sie vor 1848 bestand, denselben
wiedergegeben werden, und da das Königreich Dänemark inzwischen ein
konstitutioneller Staat geworden ist, so wäre, um das nothwendige Gleich¬
gewicht herzustellen, den Herzogtümern eine der dänischen ähnliche Verfassung
zu verleihen. Das londoner Protokoll macht ein Schleswig-Holstein in der
dänischen Monarchie nicht unmöglich. Da die Dänen aber mit Recht nichts
so sehr fürchten, als eine solche Selbständigkeit und ein solches Vereinigt¬
sein der deutschen Elemente im deutsch-dänischen Staat, so ist die Hoffnung
nicht ausgeschlossen, es werde sich noch eine Lösung finden lassen, die unsern
Interessen und rechtverstanden auch denen Dänemarks günstiger ist. Wieder¬
herstellung der vormärzlichen Verhältnisse in Schleswig-Holstein und Verleihung
constitutioneller Rechte an dieselben hieße nach der Meinung der Dänen den
Staat Dänemark vernichten, und bei dieser Ansicht würden sie, wenn jenes
mit Energie gefordert würde, zu einem Opfer geneigt sein. Mit dem Opfer
Holsteins allein, welches uns jetzt von den eiderdünischen Blättern angebo¬
ten wnd, können wir uns nicht begnügen. Es gab eine Zeit, wo man
vielleicht in Deutschland mit einer Ausscheidung Holstein-Lauenburgs aus der
dänischen Monarchie, vorausgesetzt, daß diese eine vollständige, das Herzog-
rhum aus jedem Zusammenhang mit Dänemark lösende gewesen, hätte zu¬
frieden sein tonnen. Man hätte das Nechtsprincip über dem Nutzen ver¬
gessen, sür den sofortigen unangefochtenen Besitz des kieler Hafens und der
Eiderfestung Rendsburg die unsichern Aussichten auf Schleswig opfern kön¬
nen. Das war vor dem Kriege. Die Frage wurde indeß damals nicht auf¬
geworfen. Jetzt ist ein Zusammengehen der deutschen Patrioten mit den
Eiderdunen schon deshalb unmöglich, weil ein Aufgeben Schleswigs, um
dessen willen der Krieg ganz allein geführt wurde, gegen die Ehre Deutsch¬
lands ist. Davon abgesehen bedürfen wir zum sichern Besitz des kieler Ha¬
fens mindestens Schleswig bis zum Dannewerk, der Schlei und den Treene-
sümpfcn.
Die-Ehre Deutschlands wird nur gewahrt werden, wenn der nächste
nationale Gesichtspunkt, der sich auch mit der Billigkeit verträgt und in die¬
ser Beziehung bereits einmal von England empfohlen wurde, betreten, wenn
die Sprachgrenze zur politischen Grenze gemacht wird, wenn man eine Linie
von Flensburg nach Tondern zieht, die, wofern sie in der Mitte ein wenig
nach Süden einbiegt, beiden Nationalitäten Gerechtigkeit widerfahren läßt.
Die Vertheidiger des Nechtsprincips müßten sich damit begnügen, und sie
könnten es um so mehr, als auch dieser Abschluß der Frage kein endgiltiger wäre,
da das Vorrücken deutscher Sprache und Art auf der Halbinsel doch allmälig
einen Zustand herbeiführen würde, der es für den skandinavischen Staat, in
welchen Dänemark einst aufgehen wird, zur Unmöglichkeit macht, eine andere
Grenze festzuhalten, als die, welche die Natur in dem Meere gesetzt hat.
Blicken wir auf die Gegenwart, so wird aller Wahrscheinlichkeit nach in
der zuletzt angedeuteten Richtung nichts geschehen; wol aber könnten die Di¬
plomaten des deutschen Bundes ein derartiges vorläufiges Abkommen dadurch
vorbereiten, daß sie das Recht benutzen, das ihnen die Worte der Proclama-
tion des Königs von Dänemark von 1852 geben, „der für das Herzogthum
Schleswig auszuarbeitende Gesetzentwurf wird insbesondere die erforderlichen
Bestimmungen enthalten, um der dünischen und deutschen Nationalität in dem
gedachten Herzogthum völlig gleiche Berechtigung und kräftigen Schutz zu
verschaffen," die Danisirungsmaßregeln des kopenhagener Cavinets und vor¬
züglich das mit einer an Ruchlosigkeit grenzenden Ungerechtigkeit entworfene
und ausgeführte Sprachrescript vor das frankfurter Forum zu ziehen. Auf
diese Weise würde die Sprachgrenze vorläufig festgestellt, ihre Verwandlung
in eine politische angebahnt, und das Weitere könnte abgewartet werden.
Mit Sicherheit dürfen wir darauf rechnen, daß die nächsten zehn Jahre Con-
juncturen bringen werden, die klug benutzt, mindestens Südschleswig mit
Der in diesen Blättern vor etwa einem Halbjahr ausgesprochene Wunsch:
es möge das Beispiel der Manchesternusstellung auch bei uns Nachfolge fin¬
den, geht früher als wir es dachten in Erfüllung. Vor uns liegt die Ein¬
ladung zur „deutschen allgemeinen und historischen Kunstausstellung in Mün¬
chen", welche am 15. Juli den Anfang nehmen und das Beste, was „seit
Carstens im Vaterlande geschaffen worden", zur Anschauung bringen soll.
Wie dieses Unternehmen, sür dessen erfolgreiche Verwirklichung wir nur das
Beste wünschen, zu Stande kam, ist wohlbekannt. Die Münchener Akademie
feiert in diesem Jahre ihr fünfzigjähriges Bestehen. Zur würdigen Begehung
des Festes wurde ursprünglich beabsichtigt, durch eine Kunstausstellung ein
anschauliches und vollständiges Bild der Entwicklung der Akademie dem Publi-
cum vorzuführen, und die Hauptwerke aller Künstler, welche der Münchner
Akademie ihre Bildung verdanken, in derselben zu vereinigen, Nun schwebte
aber seit länger als zwei Jahren der Plan einer allgemeinen deutschen Aus¬
stellung in der Lust. Die Künstlerversammlung in Bingen hatte ihn aus¬
geworfen, ohne ihn bis jetzt verwirklichen zu können. Nichts lag näher, als
beide Projecte zu vereinigen und die Münchner Jubelausstellung zu einer all¬
gemeinen deutschen zu erweitern. Der Künstlertag in Stuttgart ergriff mit
Enthusiasmus diese Idee, ein Geschäftscomit6 Kaulbach und F. Dietz an der
Spitze, wurde in München eingesetzt, der verflossene Winter den ersten vor¬
bereitenden Schritten gewidmet, der geräumige Glaspalast als Sitz der Aus¬
stellung gewonnen und vor einigen Wochen endlich das definitive Programm
veröffentlicht.
Das Conn6 hat die Ueberzeugung, es werde durch die Münchner Kunst¬
ausstellung zum allgemeinen Bewußtsein kommen, wie Deutschland siegreich
mit den Nachbarstaaten sich messen kann, wenn es die Früchte seines Schaffens
zusammenträgt. Siegreich ist ein kühnes Wort und dürste von Manchem,
welcher auch die nichtdeutsche Kunst unsers Jahrhunderts in ihrem ganzen
Umfange übersieht und gewissen pariser Erinnerungen nicht fremd geworden
ist, vorläufig bezweifelt werden. Doch es sei; wir wären schlechte Patrioten,
wollten wir uns schon jetzt zur grämlichen Betrachtung hernbstimmen, wollten
wir nicht das Größte und Schönste von der Münchner Ausstellung hoffen.
Sind die richtigen Einleitungen getroffen, ist dafür Sorge getragen, daß wir
nicht nur das Beste, sondern alles Gute, alles, was den mannigfach geglie¬
derten Entwicklungsgang der neuern deutschen Kunst charakterisiert, zu sehen
bekommen, so darf der Kreis der Kunstgebildeten einen überaus hohen und
reichen Genuß erwarten. Wir sehen mit voller Zuversicht dein Resultate einer
wohlorganisirten allgemeinen deutschen Ausstellung entgegen. Sie wird
nicht allein die Eigenthümlichkeit der deutschen Weise schärfer, als dies die
Ausstellungen bisher thaten, an den Tag treten lassen, und die gesetzmäßige
Entwicklung unsrer Kunst klar offenbaren, sie wird auch die Ebenbürtigkeit
derselben mit den bildnerischen Leistungen jenseit des Rheines darlegen. An
der Möglichkeit dieses Erfolges zu zweifeln, verräth eine grobe Unkenntniß der
heimischen Kunstschöpfungen. Seine Verwirklichung jedoch wird bedingt von
der Art und Weise, wie das Comite seine Aufgabe löst. Das Schicksal der
deutschen Kunst hängt zwar nicht ab von dem Gelingen oder Mißlingen der
allgemeinen Ausstellung. Der Kenner wird im letzteren Falle das Material
für sein Urtheil anderswo holen, er wird nicht, sollte z. B. Carstens oder
irgend jemand sonst auf der Ausstellung gar nicht vertreten sein, diesen aus
der Geschichte streichen. Das läßt sich dagegen nicht leugnen, daß die Mehr¬
zahl der Besucher ihre Kunstmeinung für längere Zeit von dem Ausfalle der
Kunstausstellung zu München bestimmen lassen und so von der deutschen
Kunst der letzte» sechzig Jahre denken und reden werde, wie ihnen dieselbe
in München entgegentritt. Das Publicum hegt die Voraussetzung, das Comite
werde für eine würdige und vollständige Vertretung der heimischen Kunst
Sorge tragen, es schließt bei sich: Wenn nicht die Garantien für das Ge¬
lingen des Planes vorhanden wären, so hätten die Unternehmer, die nur Liebe
zur Kunst treibt, denselben gewiß fallen lassen. Es wird also an die Betrach¬
tung der in München aufgestellten Kunstwerke mit der Ueberzeugung schreiten,
daß hier das treue und richtige Bild unsrer Kunst ihm vorgeführt werde und
in diesem guten Glauben urtheilen. Die Verantwortlichkeit des Comites ist,
wie wir sehen, keine geringe. Nicht um ihm dieselbe zu erschweren, im Gegen¬
theil, um ihm einen Theil der Last abzunehmen, haben wir die folgenden
Zeilen niedergeschrieben. Wir gestehen nämlich, daß uns nach unbefangener
Prüfung der vom Comite ausgehenden Wirksamkeit für den vollständigen Er¬
folg der Ausstellung bangt. Und weil vielleicht noch Zeit ist, den einen oder
den andern Punkt des Programms zu ändern und wirksamere Maßregeln zur
Sicherung eines glänzenden Resultats zu ergreifen, haben wir nicht gewartet,
bis die vollendeten Thatsachen uns gegenüberstehen, sondern treten schon jetzt
mit unsern Bedenken und Einwürfen auf.
Nach dem uns vorliegenden Programm übt das Münchner Gcschäftscomite
nur in seinem Localkreise unmittelbaren Einfluß auf die Wahl der auszustellen¬
den Kunstwerke. Für die übrigen deutschen Landschaften hat es diese Sorge
Localcomites überlassen, welche aus den in Deutschland bestehenden Künstler¬
vereinen hervorgehen. Die letztern wählen ferner das locale Schiedsgericht
zur Prüfung der einzusendenden Werke. Diesem Schiedsgericht müssen sich
auch solche Künstler unterwerfen, welche nicht Mitglieder eines Künstlervereins
sind, oder an Orten wohnen, wo derartige Vereine nicht bestehen. Unmittel¬
bare Sendungen nach München ohne Dazwischenkamst der Localcomites und
Localjurys werden durch die Erklärung, daß für dieselben keine Fracht ver¬
gütet wird, so gut wie ausgeschlossen. Die Localcomites und Künstlervereine
sind demnach die eigentlichen Träger der Ausstellung. Im Ganzen und Gro¬
ßen urtheilt man gewiß richtig, wenn man Städte, wo keine Künstlervereine
bestehen, auch als Sitze der Kunstübung gering achtet. In dieser Hinsicht hat
man schwerlich Ursache zu fürchten, daß das Bild der gegenwärtigenKunst-
production unvollständig ausfallen werde. Auch hegen wir die Ueberzeugung,
daß die Unternehmer der Ausstellung zwischen Künstlervereincn und Künstler-
Vereinen unterscheiden und nicht auch solche Institute, wo fünf Schmierer und
ein Kratzer sich zum Künstlerverein constituirten, oder wo die Mehrzahl der
Mitglieder aus Nichtkünstlern besteht, (wie dies z. B. in einer norddeutschen
Stadt wahrgenommen werden kann) mit den Rechten, sich zum Schiedsgericht
auszuwerfen, ausgestattet haben. Die Schwierigkeit liegt darin, daß zuweilen
in einer Stadt zwei und drei Künstlervereine untereinander in Fehde und Feind-
schaft begriffen, vorkommen. Welcher ist der rechte Künstlerverein? das ist
keine müßige Frage. Düsseldorf zwar hat bei diesem Anlasse in ehrenwerther
Weise aller innern Parteiung vergessen und ein Localcomit6 zusammengesetzt
in welchem die Akademie, der Malkasten und der Unterstützungsverein eine
gleichmäßige Vertretung finden. Aber Wien! Der traurige Hader, der die
wiener Künstlerwelt seit Jahren zerklüftet und alles gesunde Kunstleben ver¬
hindert, zeigt sich auch diesmal stärker als die patriotische Gesinnung und das
artistische Interesse. Man klagt, daß „draußen" die östreichische Kunst verkannt
und ungebührlich mißachtet werde, man will die Gelegenheit der allgemeinen
deutschen Ausstellung benutzen, um die Welt von der Tüchtigkeit der wiener
Kunst zu überzeugen. Und um dies erfolgreich in das Werk zu setzen,
erheben sich zwei rivalisirende Comites, die sich in derber Weise anfeinden
und gegenseitig das Recht, die wiener Künstlerschaft zu vertreten, absprechen.
Zu entscheiden, wo dieses Recht in Wahrheit sei, ist nicht unsere Sache. Wir
wissen nur, daß der auf das persönliche Gebiet übertragene und einmal schon
in der Gerichtsstube ausgefochtene Zwist Wien eines köstlichen Kunstschmuckes
(der Fresken im Arsenal) beraubt hat und fürchten, daß er auch die rege Be¬
theiligung an der Münchner Ausstellung verhindern wird. Wird dem akade¬
mischen Comite das Schiedsgericht übertragen, so wird der fruchtbarste Künstler¬
kreis (Rahl. Gurlitt u. f.- w.) sich in grimmige Entsagung hüllen, verleiht
man das Recht der Künstlervertretung dem aus dem Verein zur Eintracht (!)
gebildeten Coaita, so entgeht dem Münchner Unternehmen die officielle Unter¬
stützung in Oestreich.
Wir kommen zu einem andern Uebelstande. Die Localcomites haben
dahin zu wirken, daß die Künstler das Beste und Gelungenste ihrer Schöpfungen
zur Ausstellung senden. Die Entscheidung darüber bleibt den betreffenden
Künstlern selbst vorbehalten. Praktisch ausgelegt lautet die Bestimmung leider
nur so, daß wir eine ziemlich vollständige Uebersicht dessen, was sich grade in
diesem Augenblicke auf der Staffelei vorfindet, empfangen werden, hinsichtlich
der ältern Leistungen aber auf den launischen Zufall angewiesen bleiben.
Man muß ein großer Stümper in der neuern Kunstgeschichte sein, um nicht zu
wissen, daß unsere Kunst in den letzten Menschenaltern gar gewaltige Sprünge
gethan hat. Ob jeder Sprung einen wirklichen Fortschritt bedeute, ist eine
andere Frage. Genug, daß er allgemein als solcher angesehen wird. Unter
den ältern Künstlern wird es wenige geben, die nicht mehre dieser Epochen in
ihrem Leben selbstthätig durchgemacht hätten. Für sie aber sind die ältern
Weisen vergangen und vergessen. Sie werden sich der Mehrzahl nach hüten,
die Erinnerung an Irrthümer und Jugendsünden freiwillig aufzufrischen. An¬
ders für uns; für uns sind selbst Irrthümer lehrreich, wenn sie uns über den
Zustand der Kunstbildung einer bestimmten Zeit aufklären. Und die Münchner
Ausstellung verfolgt eingeständlich auch didaktische Zwecke; sie nennt sich eine
historische Ausstellung, sie will den „Entwicklungsgang und den Zusammen¬
hang der gegenwärtigen Kunst mit den ihr vorhergehenden Bestrebungen"
versinnlichen. Kann man glauben, um concrete Beispiele anzuführen, daß die
düsseldorfer Künstler sich beeilen werden, der Welt anschaulich zu machen, wie
unlebendig ihre Phantasie, wie schwächlich ihre Farbe, wie beschränkt ihr
Formensinn vor etwa fünfundzwanzig und dreißig Jahren waren? Als Künst¬
ler sind sie in ihrem vollen Rechte, wenn sie sich nicht weiter mit ihren, wie
sie jetzt überzeugt sind, unreifen Leistungen belasten wollen. Der bekehrte
Paulus hört nicht länger auf den Namen Saulus. Und doch müßten wir
es in hohem Grade beklagen, wenn in der historischen Ausstellung die alte
düsseldorfer Schule unvollständig vertreten bliebe. Ihre Schwächen waren
Mängel der deutschen Kunstbildung, in ihrer Vorliebe für das Schmachtende,
Leidende, Kränkliche spiegelten sich nationale Zustände ab. Sie besitzt trotz
aller Fehler mit einem Worte dennoch eine große culturgeschichtliche Bedeutung.
Ohne ihre Kenntniß ferner sind wir nicht im Stande, ein richtiges Urtheil,
welche Fortschritte wir seitdem in der Kunstbildung gethan, zu fällen.
Gesetzt aber auch, unsere Künstler übten eine so überirdische Entsagung
und nähmen an der eignen Persönlichkeit ein bloßes historisches Interesse,
kann man von ihnen billigerweise die äußeren Anstrengungen erwarten, welche
nöthig sind, um einem unbekannten, vielleicht erst mühselig zu entdeckenden
Besitzer liebgewordene Werke zu entreißen? Wenn ich erst eine weitläufige
Correspondenz anfangen soll, hörten wir einen der größten deutschen Künstler
sagen, um meine alten Bilder nach München zu bringen, da bleibe ich lieber
unvertreten. Bei der leicht erklärlichen Schreibunlust der Künstlerwelt dürfte
dieser Entschluß nicht vereinzelt stehen, zumal in gar vielen Fällen zweifelhaft
bliebe, an wen der Brief zu richten sei. Ein Bild wurde vor Jahrzehnten
durch die Vermittlung eines Kunsthändlers gekauft, oder auf einer entfernten
Ausstellung verlooft. Soll der Künstler Buch führen über die aufeinander¬
folgenden Besitzer seines Werkes, kann er die Schicksale desselben Schritt für
Schritt verfolgen? Wir stoßen da aus den Grundmängel des Münchner Pro¬
gramms, daß die Bilderbesitzer nicht zur unmittelbaren Theilnahme heran¬
gezogen sind. In der allgemeinen Einladung zwar wird der Patriotismus
der Fürsten und des Volkes aufgerufen, sich des Besitzes ihrer Kunstwerke für
eine Zeitlang zu entäußern. Das Programm aber enthält auch nach der ge¬
nauesten Erwägung seiner 24 Paragraphen nur eine aus die Besitzer bezügliche
nähere Bestimmung. Es heißt § 23: „Oeffnen und Wiederverpacken der
Kunstwerke geschieht unter Aufsicht einer Commission." Wenn das die ganze
Versicherung bedeuten soll, die den ausgestellten Werken zu Theil wird, so
fürchten wir, werden sich die Besitzer mit der Entäußerung ihrer Schätze nicht
beeilen. Einem Gerüchte zufolge sollen allerdings Anstalten getroffen sein,
um aus einzelnen fürstlichen Galerien und öffentlichen Sammlungen hervor¬
ragende Werke der neuern deutschen Kunst für die Münchner Ausstellung zu
entlehnen.. Bei vielen öffentlichen Sammlungen verbieten es aber die Statuten,
die Kunstwerke aus ihren' gewöhnlichen Räumen zu entfernen. Es werden
demnach alle Bemühungen vergeblich sein. Doch auch wenn, dies Hinderniß nicht
vorhanden wäre, so blieben dennoch die im Privatbesitz befindlichen Bilder,
weil sie die überwiegende Mehrzahl sind, die Hauptquelle für die Münchner
Ausstellung. So viel wir das Programm verstehen, haben die Privatbesitzer
nun zu warten, bis die einzelnen Künstler ihre Einwilligung geben, ihre im
Privatbesitz befindlichen Werke als würdige Kinder anerkennen und die Ein¬
sendung nach München selbstthätig vermitteln. Auf seine Gefahr hat sodann
der Privatbesitzer seinen Kunstschatz nach dem vielleicht weit entfernten Künstler¬
verein zu senden und ihn dem Schiedsgericht zur Prüfung vorzulegen. Denn
nur in diesem Falle werden ihm (§ 18) die Transportkosten vergütet. Wäre
auf solche Weise die Manchesterausstellung in das Werk gesetzt worden, sie
hätte gewiß nicht den Namen der art-trsasures - Lxüibition sich erobert.
So lange es sich um Werke lebender Künstler handelt, wird hoffentlich
immer ein Ausweg gefunden werden können, um die oben angedeuteten
Schwierigkeiten zu beseitigen. Wer sorgt aber für die Todten? Es sollen
ja auch die Werke „solcher Verstorbener in die Ausstellung aufgenommen
werden, welche den Entwicklungsgang der deutschen Kunst bezeichnen und
zwar soll dieser von dem Beginne der künstlerischen Thätigkeit der A. Car-
stens. Schick und Wächter an gerechnet werden."
Die Unternehmer der Ausstellung scheinen der Ueberzeugung zu leben,
daß die modernen Künstler hinreichende Muße zu gelehrten Studien besitzen
und ebenso tüchtig als Kunststatistiker wie groß als ausübende Künstler sind.
Sie überlassen den Localcomit6s die Sorge, die betreffenden Meisterwerke in
den Galerien und Privatsammlungen auszusuchen (K. 8). Unbeschadet unsrer
Ehrfurcht für den Künstlergenius bezweifeln wir die Befähigung der Local-
comit^s für diese ihnen gestellte Aufgabe. Bekanntlich kann man viel ge¬
nauer Geburth- und Sterbejahr ägyptischer Pharaonen, als die Alters¬
verhältnisse lebender Personen erforschen. In ähnlicher Art sind wir auch
ungleich besser über die Kunstthätigkeit der älteren Perioden als über jene
des uns unmittelbar vorangegangenen Geschlechtes unterrichtet. Es gibt
keinen Gebildeten, der nicht aus dem Gedächtnisse die Standorte der raphaeli-
schen Madonnen, der anziehendsten Rembrandts u. s. w. anzugeben wüßte.
Würden dagegen selbst Kunstgelehrte gefragt werden, wo die besten Land¬
schaften Kochs zu finden seien, wo man die von der W. K. F. so hoch ge¬
priesenen Werke aus dem Anfange des Jahrhunderts zu suchen habe u. s. w..
so möchten die Antworten wahrscheinlich einsilbig genug ausfallen. Dazu
kommt, daß die jetzt blühende Künstlergenerntion in einem ganz lockern
Zusammenhange zu den Zeitgenossen und unmittelbaren Nachfolgern eines
Carstens steht, sowol in der Phantasierichtung wie in der technischen Auf¬
fassung andere Bahnen einschlagt, daß ihr also das Interesse, sich mit den
Werken dieser Männer in eingehender Weise zu beschäftigen, mangelt. Die
ältere deutsche Kunst aus den ersten Jahrzehnten unsers Jahrhunderts muß
für uns gradezu neu entdeckt werden. Wir kennen sie nicht etwa blos
schlecht, sondern, einige wenige Werke, die sich in öffentliche Sammlungen
(Stuttgart, Leipzig) verloren haben, ausgenommen, so gut wie gar nicht.
Voraussichtlich werden die ihrer Vertretung gewidmeten Räume in München
eine große Anziehungskraft üben. Keine andere Abtheilung verlangt aber
auch eine reifere Ueberlegung bei der Auswahl, bei keiner erscheint es noth¬
wendiger, daß der Anordner einen umfassenden wissenschaftlichen Ueberblick
über den ganzen betreffenden Zeitraum sich erworben habe. Auch in dem
Falle, daß im Schoße der einzelnen Localcomit6s derselbe angetroffen würde,
macht doch schon der Umstand, daß dieselben nicht nach einem einheitlichen
Plane vorgehen, sondern was sich zufällig in ihrer Nähe vorfindet und wo¬
von sie in diesem Augenblicke grade Kunde erhalten, zusammenraffen müs¬
sen, für die richtige, nämlich für die'charakteristische und vollständige Aus¬
wahl besorgt.
Wir haben unsere Bedenken nur im Interesse der guten Sache vorge¬
bracht und werden jede Berichtigung von sachkundiger Seite willkommen hei¬
ßen. Der Plan einer allgemeinen deutschen Ausstellung erfreut sich der Zu-,
flimmung und regen Theilnahme aller Gebildeten; auch darüber kann kein
Zweifel herrschen, daß dieselbe, nach richtigen Grundsätzen durchgeführt, ein
großartiges Schauspiel gewähren und uns mit Stolz über den Reichthum
und die Tüchtigkeit deutscher Kunst erfüllen wird. Wir fürchten nur. daß in
den vorbereitenden Maßregeln mancherlei Mißgriffe eingeschlossen sind. Es
fehlt, um es mit einem Worte herauszusagen, eine centralisirte, einheitliche
Leitung. Das Münchner GeschäftsconM verläßt sich auf die Thätigkeit der
LocalcomitW, diese wieder sind auf den guten Willen der einzelnen Künstler
angewiesen, die meinem wesentlichen Falle nicht das Interesse, in einem
andern nicht die Kraft haben, zu helfen. Die Verantwortlichkeit, auf so
viele Schultern vertheilt, wird freilich verringert, aber mit ihr auch die Chancen
des glänzenden Erfolges. Wir beklagen ferner, daß die Bilderbesitzer nicht
in unmittelbarer und energischer Weise zur Theilnahme aufgerufen sind, wir
vermissen die rechte Sorgfalt hinsichtlich der Vertretung der todten Meister
und bedauern, daß über das Versicherungswesen im Programm keine deut¬
liche Auskunft gegeben ist.
Das ist, was wir vorwerfen. Was wir vorschlagen und zur Erwägung
empfehlen, läßt sich in Folgendem zusammenfassen. Die Gliederung in das
Münchner Geschäftscomitö und die mannigfachen Localcomit6s, die Errichtung
der Loccüjurys, kurz die wichtigsten Bestimmungen des uns vorliegenden Pro¬
gramms mögen aufrecht bleiben in Bezug auf die auf der Staffelei befindli¬
chen, noch nicht zur öffentlichen Ausstellung gelangten Kunstwerke. Hinsicht¬
lich der älteren Werke, namentlich der Werke verstorbener Meister besorgt
aber das Münchner Geschäftscomitü selbststündig die Auswahl, es übernimmt
auch unmittelbar die Verhandlungen mit den Bilderbesitzern, um dieselben
zur Abtretung ihrer Kunstschätze für die Ausstellungszwecke zu bewegen. Wir
setzen voraus, daß das GeschäftsconM, als die oberste Spitze der ganzen
Unternehmung, die schwere, aber unabweisbare Pflicht erfüllt und ein voll-
stündiges Repertorium über die neuere deutsche Kunstthätigkeit verfaßt hat
oder von andern verfassen ließ, eine genaue Angabe aller besseren seit sechzig
Jahren geschaffenen Werke, sowie den Nachweis, wo dieselben verblieben
sind. Wir setzen auch voraus, daß das Geschäftscomit6 auf die eine oder
die andere Art die Uebersicht gewonnen, welche Kunstwerke im Münchner
Glaspalaste zur Ausstellung kommen müssen, um die im Programm verspro¬
chene Charakteristik des Entwicklungsgangs unsrer Kunst treu.und wahr dem
Auge des Beschauers vorzuführen. Mit dieser Handhabe ausgerüstet treten
Agenten oder Vertrauensmänner des Comites die Rundreise durch Deutsch¬
land an. Belehre durch das Repertorium lassen sie sich nicht, wie dies bei
den ungenügend vorbereiteten Localcomit6s der Fall sein dürfte, auf ihrer
Wanderung vom Zufall leiten, sondern richten ihre Schritte unmittelbar auf
das bestimmte Ziel hin, und unterhandeln persönlich mit den Bilderbesitzern.
Die persönliche Intervention, die allein es möglich macht, nach Bedürfniß
hier das Motiv des Ehrgeizes, dort jenes der Eitelkeit, des Gewinnes, oder
auch des Patriotismus und der Kunstliebe zur Geltung zu bringen, die im
Interesse der guten Sache auch den Vorwurf der Zudringlichkeit nicht scheut,
sichert allein und ausschließlich den Erfolg der Ausstellung. Selbst auf diese
Art betrieben, wird die allgemeine Kunstausstellung noch manche Lücken in
der Vertretung der älteren Meister ausweisen. Daher empfehlen wir schlie߬
lich die Einverleibung von Nachbildungen deutscher Kunstwerke der Neuzeit,
so zahlreich als sich dieselben beschaffen lassen, um eine vollständige Uebersicht
des Entwicklungsganges und der Ausdehnung unsrer Kunst zu bieten. Eine
große Augenweide darf man natürlich von dieser Abtheilung der Aus¬
stellung nicht erwarten. Dem didaktischen Zwecke aber, welchen die Münch¬
ner Ausstellung nach dem Wortlaute des Programms gleichfalls in Anspruch
nimmt, würde dieselbe die ersprießlichsten Dienste leisten. Keine bessere Hand¬
habe kann man sich wünschen, um die Geschichte der Ideen in der neueren
deutschen Kunst zu studiren, um zu sehen, wie gewisse Compositionen als der
Urahn einer großem Zahl von Bildern auftreten, wie einzelne glückliche Mo¬
tive förmlich zu Tode gehetzt werden, eine bestimmte Formengebung gradezu
ansteckend wirkt, wie gewisse Richtungen gleichzeitig an verschiedenen Punkten
sich geltend machen, dann, des allgemeinen Interesses verlustig, plötzlich ab¬
sterben, welchen Einfluß die Mode auch auf die Angelegenheiten der Kunst
übt, wie Manieren herrschend werden, Vorzüge und Mängel sich vererben
u, s. w. Wir empfehlen die Anordnung dieser Abtheilung als Ergänzung
der Ausstellung auch in dem Falle, daß unsre übrigen Vorschläge verworfen
würden. Es haben dieselben, wir leugnen dies nicht ab, einen gefährlichen
Gegner. Sie erfordern einen größern Geldfond, als wahrscheinlich in den
Händen der Unternehmer sich befindet. Als es sich um die Ausstellung in
Manchester handelte, hatten die von uns wegen ihrer Geschmacklosigkeit oft
verhöhnten cotton-Im'AZ in wenigen Tagen die Summe von vielen hundert¬
tausend Thalern als Garantiefond zusammengebracht, es hatte die Bank von
England ohne Zögern dem Unternehmen den reichsten Credit gewährt. Und
in Deutschland sollte sich kein Fürst, kein Reicher finden, der einige tausend
Thaler nicht etwa opfert, sondern blos vorstreckt, bis die Münchner Ausstel¬
lung durch die eingelaufenen Eintrittsgelder ihre Kosten deckt? Erscheint ein
solcher Mäcen in Deutschland undenkbar, dann, fürchten wir, erscheint es
überhaupt unwahrscheinlich, daß die allgemeine deutsche Kunstausstellung die
beabsichtigte Wirkung erreichen und den gewünschten Erfolg erzielen wird.
Die Einladung schließt mit den Worten: „Wir vertrauen dem deutschen
Geiste, daß das Werk gelingen werde und legen es hiermit allen denen ans
Herz, welchen die Liebe zur Kunst, der Ruhm des Vaterlandes, die Erhebung
des Volksgemüthes theuer und werth sind." Wir werden am 15. October,
dem Endpunkte der Ausstellung, diese Worte uns wieder in das Gedächtniß
Wir haben dem Erscheinen der Revue Gcrmanio,ne mit Spannung ent¬
gegengesehen. Die Theilnahme an dem deutschen Leben und das eingehendere
Studium desselben sind in Frankreich verhältnißmäßig noch gering, und wenn
für manche hervorragende Männer auch das Eis gebrochen ist, so beharrt doch
die große Masse, selbst der Gebildeten, in den meisten Vorurtheilen, welche aus
der Unkenntniß der deutschen Verhältnisse entspringen. Das Haupthinderniß
sich mit den Zuständen andrer Länder vertraut zu machen, ist für die Fran-
zosen die Sprache, oder vielmehr der Mangel der Kenntniß fremder Sprachen.
So viele ihrer ausgezeichneten Schriftsteller z. V. über England geschrieben, so
ist doch mit Gewißheit zu sagen, daß die Mehrzahl der Gebildeten sehr un¬
klare Ideen über großbritannische Verhältnisse hat. Tocquevilles Werk über
Nordamerika ward von der Akademie gekrönt und ist überall als classisch an¬
erkannt, aber wie viele Franzosen werden auch nur eine oberflächliche Kennt¬
niß von den Zuständen der Union haben? In gleichem, wenn nicht stärkerem
Maße gilt dies von Deutschland. Wir wollen nicht einmal betonen, daß Thiers,
der die letzten großen deutsch-französischen Kriege geschrieben, des Deutschen
unkundig ist, aber man erwäge, was es sagen will, daß der Publicist, der
gewöhnlich die politischen Artikel über Deutschland im Journal des D6half
schreibt, kein Deutsch kann. Frau von Staöls Buch war bekanntlich die erste
Kunde, welche der französischen Welt über das viel bekriegte, aber ungekannte
Nachbarland zukam; seitdem hat. wie wir bereitwillig anerkennen, das Stu¬
dium deutscher Verhältnisse in wachsendem Maße zugenommen, eine Reihe
ausgezeichneter Köpfe, die mit Cousin beginnt, haben sich mit unsern Zustäm
den beschäftigt; mehr noch vielleicht haben talentvolle Deutsche, die sich in
Paris niederließen und der französischen Sprache vollkommen mächtig waren,
als Dolmetscher unsrer Anschauungen und Interessen gethan. Hierher gehört
z. B. auch Heine, so sehr er sich durch seine Schriften gegen das Vaterland
versündigt. Eine andere Brücke zwischen den beiden Ländern wurde durch die
ausgezeichneten Elsasser wie Bartolmeß, Dollfuß u. a. geschlagen. Aber die
vielfachen schiefen und unkundigen Urtheile, denen wir selbst in den beiden
ausgezeichnetsten Organen der französischen Intelligenz, dem Journal des Du¬
bais und der Revue des deux Mondes begegnen, konnten es nur als sehr
wünschenswert!) erscheinen lassen, daß ein besonderes Blatt der Vermittlung
deutscher Literatur, Kunst. Wissenschaft, deutschen Lebens überhaupt gewidmet
würde. Es besteht bekanntlich seit einer Reihe von Jahren eine recht gute der¬
artige Monatsschrift sür England, die in Brüssel bei Schnöc erscheinende Revue
Britcmnique, die namentlich Übersetzungen aus englischen Werken, Reviews und
andern Blättern mittheilt, um so ohne Zugabe eines kritischen Apparates ven
französischen Leser in Stand zu setzen, über englische Verhältnisse zu urtheilen.
Nach diesem Muster haben einige Männer, welche sich schon seit längerer
Zeit durch ihre Theilnahme an deutscher Literatur und öffentlichem Leben
bekannt gemacht haben, die Revue Germaniaue gegründet; sie wird sich gleich¬
falls hauptsächlich mit Uebersetzung und Analyse deutscher Werke und Auf¬
sätze beschäftigen und kurze Anzeigen und Kritiken von Büchern und Korrespon¬
denzen aus verschiednen Theilen Deutschlands bringen; die eigentliche Tages¬
politik ist ausgeschlossen.
Das erste Heft bringt einen Aufsatz der Herausgeber HH. Nefftzer und Doll-
fuß: „Vom französischen und vom deutschen Geiste", den wir als ein Pro¬
gramm der Ansichten und Zwecke der Männer betrachten dürfen, welche die
Revue ins Leben gerufen und der deshalb einer nähern Betrachtung werth
erscheint. Zwar sind wir nicht so unbillig zu erwarten, daß uns in dem be¬
schränkten Raume von 20 Seiten die Eigenthümlichkeiten der deutschen und
der französischen Cultur einigermaßen erschöpfend entwickelt werden, aber über
den Grundstock der Gedanken, welche die Herausgeber leiten sollen, kann man
sich nach diesem Aufsatz wol einen Begriff machen. Beginnen wir nun gleich
mit dem Geständniß, daß sich derselbe hoch über die gewöhnlichen Vorurtheile
erhebt, die wir auch bei ausgezeichneten französischen Schriftstellern finden;
wir hören nicht die gebräuchlichen Phrasen: la 1<'rlmev, la, ludion ig. xlu»
civilisöe, eini 0se ir 1a ente an wmrdv iutolloctuol u. s. w., sondern wir
müssen ein verständiges Eingehen in die Eigenthümlichieiten, die Nachtheile
und Vorzüge beider Nationen anerkennen. Wo wir aber den Grundzügen zu¬
stimmen, sind wir berechtigt, auch richtige Auffassung im Einzelnen zu erwarten,
und eine solche finden wir hier nicht überall. Nach einer Einleitung über die
Annäherung und gegenseitige Durchdringung der Nationalitäten in der Neu¬
zeit wenden sich die Verfasser gegen den Einwand, daß dadmch die
eigenartige Persönlichkeit der Völker gefährdet werde, dies sei sür diesel¬
ben so wenig der Fall als für die Individuen. Sehr schön heißt es hier:
„Die wahre Originalität besteht nicht darin, sich so wenig als möglich
mit der äußern Welt zu befassen und sich unbeweglich und unerreich¬
bar inmitten der Bewegung der Dinge. Menschen und Ideen zu halten,
die wahrhaft großen Männer verbinden im Gegentheil mit einer mächtigen
Persönlichkeit etwas Unpersönliches und Allgemeines, wodurch sie sich mit
ihrer Zeit, ihrem Lande, ja einzeln mit dem ganzen menschlichen Geschlecht
identificiren. Sie vertiefen sich in die Gesellschaft, welche sie umgibt, und
sammeln die Lichtstrahlen, welche über dieselbe ausgegossen sind, um sie mit neuer
Energie der Wärme und des Lichtes zurückzuwerfen. So ist es auch mit den
Völkern; die größten sind die, welche die größte'Macht besitzen, von überall
die Elemente des Fortschrittes zu sammeln und sie der Welt, durch den Schmelz-
tiegel ihres civilisatorischen Genies geläutert, in allgemeiner Form zurück¬
zugeben. Dies scheint auch die Aufgabe, welche Frankreich und Deutschland
vorzugsweise zugetheilt ist." Die zwei größten Werke nun, welche diese beiden
Nationen vollzogen, sind nach der Ansicht der Verfasser die Reformation und
die französische Revolution, „die beiden größten gewonnenen Schlachten des
modernen Geistes." Für die erstere seien wol in andern Nationen Vorläufer
wie Winkes, Savonarola u. s. w. ausgestanden, aber Luther habe sie doch
vollzogen; die englische Revolution, das Vorspiel der französischen, sei eine
bedeutsame, aber doch vereinzelte Thatsache, erst die französische Revolution
sei ein allgemeines Ereigniß — dieser Auffassung können wir nicht ohne wei¬
teres beiflichten, Deutschland allerdings hat die Reformation vollzogen und
mit seinem besten Blute bezahlt, wir tragen noch die schmerzlichen Wunden
von diesem Kampfe für die Freiheit des menschlichen Gewissens, aber die
französische Revolution hat diesen universellen Charakter nicht in ähnlicher
Weise. Ohne zu verkennen, welche allgemeinere'Elemente sowol in ihren
Vorläufern wie Voltaire, Rousseau, den Encyklopädisten u. s. w. als in ihren
eigenen Losungsworten lagen, mit voller Würdigung des ungeheuern Ein¬
flusses, welchen sie auf die ganze Welt ausgeübt, bleibt sie doch durchaus
französisch. Von der Reformation kann man in Wahrheit sagen, daß sie eine
gewonnene Schlacht sei, denn trotz der Reaction des Katholicismus im
17. Jahrhundert ist, das wird kein Aufrichtiger leugnen, die Fahne des wahren
geistigen Fortschrittes in den Händen des Protestantismus geblieben, die
Reihe von Erdstößen aber, welche in Frankreich dem von 1789 folgten, der
jetzige Cäsarismus, sollten doch billig den Verfassern Bedenken eingeflößt
haben, ob die Revolution im eigentlichen Sinne eine gewonnene Schlacht zu
nennen sei; man mißt die Bedeutung eines Sieges doch nicht nach der Zahl
der Todten auf der Wahlstatt. Die alte französische Gesellschaft ist allerdings
von Grund aus zerstört, aber die neuen Gebäude, die man auf und von ihren
Trümmern aufgeführt hat, sind der Reihe nach zusammengebrochen. Die
englische Revolution von 1688, welche doch wol nur in beschränktem Sinne
eine Vorläuferin der französischen zu nennen, ist eine gewonnene Schlacht;
deshalb sind ihre Resultate den einzelnen großen Staatsmännern, welche an¬
erkannten, daß auch unserer Nation eine politische Reformation um Haupt und
Gliedern von Nöthen sei, weit mehr als die der französischen ein Vorbild
gewesen. Leute wie Stein erkannten die Bedeutung der letztern sehr wohl,
aber er wollte nur die berechtigten und ausführbaren von ihren Forderungen
sich aneignen. Wir können danach den Satz der Revue: „Die Reformation
war die Revolution des Gedankens, die Revolution die Reformation der
Dinge" nur für eine glänzende Wendung halten, die das Wesen der Sache
nicht darstellt. Es ist auch offenbar unrichtig, wem, weiterhin gesagt wird,
die Reformation habe wol England umgestaltet, und die Vereinigten Staaten
gegründet, aber sie habe in Deutschland nicht die unmaterielle Sphäre der
Gedanken überschritten, und die Deutschen hätten nicht vermocht, aus ihr die
auf die Regierung der Gesellschaft anwendbaren Konsequenzen abzuleiten,
denn wir meinen doch, daß der dreißigjährige Krieg wol durch den Glaubens¬
streit veranlaßt war, und welches Ereigniß hat so entscheidend und verderb¬
lich auf unser politisches Leben gewirkt als derselbe? —
Der Gegensatz der deutschen Assimilationsgabe und der französischen Nei¬
gung sich in sich selbst zu begnügen, wird fein entwickelt, der deutsche Zug
zum speculativen Denken, das die Wahrheit um ihrer selbst willen verfolgt,
der leidenschaftlichen, witzigen, aggressiven Kritik der Söhne Voltaires und
ihrem Begehren alles umzugestalten gegenübergestellt. „Wir lieben es mehr,"
heißt es hier, „den gordischen Knoten zu zerhauen als zu lösen, wir über¬
schreiten oft die Grenzen des Möglichen und treiben angewandte Ideologie,
denn es gibt eine Utopie der Thatsachen wie der Ideen." — Wenn für die
ernstere französische Kritik mit Recht der Vorzug des guten Geschmackes bean¬
sprucht wird, so wird den Jüngern Wolffs und Niebuhrs vor allem Tiefe
zuerkannt, von den beiden Seiten der Methode haben die Franzosen vorzüg¬
lich das Vermögen der Analyse, die Deutschen das der Synthese. Gegen
alles dies wird wenig einzuwenden sein, aber was die Sprachen, die nun
geprüft werden, betrifft, so müssen wir doch einen Vorbehalt machen. Wenn
wir bereitwillig der französischen Rede große Klarheit für die Auseinander¬
setzung und Gefügigkeit für die Unterhaltung zugestehen, so können wir nicht
anerkennen, daß der deutschen Klarheit und Genauigkeit des Ausdrucks fehle
und daß sie „um den Gedanken in dichten, unbestimmten Falten fließe." (Nur
Goethe wird hier ausgenommen). Friedrich von Gagern zwar hat witzig be¬
merkt, die deutsche Sprache eigne sich wegen ihrer „dürfte, könnte, möchte,
würde" für die Diplomatie, die nicht sage was sie wolle, aber wenn man
zu wissen begehrt, ob die deutsche Sprache präcis sein könne, so genügt doch
wol eine Seite von Lessing zu lesen. Daß so manche deutsche Schriftsteller
durch den Reichthum ihrer Sprache (welchen die Revue gebührend anerkennt)
in Verlegenheit gesetzt werden und ihre Gedanken nicht scharf begrenzen,, be¬
weist nichts gegen die Sprache, sie ist nicht nur reicher, sondern auch beweg¬
licher als die französische, und darin, daß sie den Stempel jeder Individua¬
lität leichter annimmt, sehen wir einen ihrer Vorzüge, ihr wird nicht durch den
Code eines Dictionnaire de l'Academie, sondern nur durch Gewohnheitsrecht
das Gesetz gegeben. Wir glauben, daß, wenn die Verfasser dies berücksichtigt
Hütten, ihre sonst so schöne Entwicklung der Verschiedenheit der Literatur beider
Länder noch zutreffender sein würde. Sehr richtig wird hervorgehoben, wie
sonst der Glanz der schönen Wissenschaften nur eine Zierde der politischen
Größe eines Volkes, gewesen, wie die deutsche Literatur sich aber zu ihrer
größten Blüte entfaltet, während die realen Zustünde ganz daniederlagen.
Offen wird zugestanden, daß keine Poesie so künstlich sei, als die franzöfisch-
classiiche. die großen Dichter unter Ludwig XIV. seien vielmehr Künstler als
Dichter, die Form absorbire sie, das Herkömmliche beherrsche sie, das Zeit¬
alter habe keinen Lyriker gehabt. Der Versasser geht dann zu der neuen
deutschen Philosophie über, deren synthetische Richtung in Hegel ihren Gipfel¬
punkt erreicht habe, nach ihm sei der deutsche Geist von der Höhe der Spe¬
kulation herabgestiegen, und sei wieder mit dem realen Leben in Verbindung
getreten; wie Goethe der größte Dichter, Hegel der größte Metaphysiker. so
stehe A. v. Humboldt als die größte Manifestation des synthetischen Genies
Deutschlands in der Naturwissenschaft da, und schließe seine große Bahn wür¬
dig durch den Kosmos, „cet, iuvcmwire et<z l'univers". Der Mangel an Plan,
die Ausschreitungen der Jünger dieser drei großen Meister werden getadelt,
und schließlich auf Kuno Fischers Baco von Verulam. der die experimentale
Philosophie wiederherstellen wolle, als auf ein günstiges Zeichen der Zeit
hingewiesen. Baco werde an die Stelle von Spinoza treten, und Mikroskop
und Wage die Synthese zurückdrängen oder ihr doch einen bescheidnern Play
anweisen. In der Schilderung dessen, was Deutschland für die Geschicht¬
schreibung geleistet, vermissen wir bei der Anerkennung der Verdienste von
Ranke, Hauffer, Gervinus, unter deren Händen die Geschichte eine lebens¬
wärmere Gestalt angenommen, doch eine Erwähnung der ältern historischen
Schule. Niebuhr ist vielleicht noch bedeutender durch die Methode seiner Ge¬
schichtschreibung, als durch seine Kritik. Savigny. Böckh, die Grimms verdienten
selbst in einem so allgemeinen Ueberblick genannt zu werden. Anerkannt wird
der reale Zug, der jetzt durch das ganze deutsche Leben gehe, und der sich auch
in den neuesten poetischen Leistungen von Auerbach, Keller, Freytag u. s. w.
bekunde.
Der Vortheil, welchen die Revue aus den zahlreichen deutschen Fach¬
zeitschriften gewinnen könne, wird in einem besondern Briefe von E. Renan
an die Herausgeber auseinandergesetzt. Dankenswert!) ist die warme Anerken¬
nung der Stellung und des Einflusses der deutschen Gelehrsamkeit im Auslande,
wir können in der That darauf stolz sein, daß fast alle Ausgaben der großen
Sammlung der Klassiker von Firmin Didvt von deutschen Gelehrten besorgt sind,
der erste Director der kaiserlichen Bibliothek in Paris, H. Hase, ist ein Deutscher.
Zwei Dinge sind noch in dein Briefe Renans näherer Beachtung werth. Er
findet ein Uebel in der großen Zahl von jungen Leuten, die sich, meist ohne
genügende Subsistenzmittel, in Deutschland zur akademischen Laufbahn drängen.
Hierin müssen wir ihm ganz Recht geben, unsre gelehrte Production
übersteigt die Konsumtion zu sehr und der Wunsch oder die Nothwendigkeit
sich rasch hervorzuthun ruft eine Menge neuer Systeme und Versuche hervor,
welche sich oft mehr durch Paradoxie als durch innern Werth auszeichnen.
Hoffen wir, daß der reale Zug unsers neuen Lebens jenen geistigen Ueberwuchs
allmcilig beseitige. Die andere Bemerkung Renans ist. daß Deutschland keine
Revuen habe, d. h. Zeitschriften, welche die Interessen der Nation in gedieg¬
ner und doch gemeinverständlicher Weise besprechen. Es ist nun richtig, daß
wir keine Zeitschrift wie die Revue des deux Mondes besitzen, aber das ist
mehr eine Folge der deutschen Decentralisation als einer Abneigung gegen
die Art der englischen oder französischen Revuen, man darf nicht schließen, daß
weniger Licht da sei, weil es nicht in einem Brennpunkt gesammelt ist. Zeit¬
schriften wie die deutsche Vierteljahrsschrift. die Preußischen Jahrbücher, die
Westermannscheir Monatsblätter und andere bemühen sich mit Erfolg in diesem
Genre.
Den beiden ersten Artikeln, welche uns die eigentlichen Tendenzen der
Revue zeigen, folgen nun andere, aus denen wir sehen, wie sie verfahren
wird: eine Analyse der römischen Geschichte von Mommsen, ein Stück aus
der indischen Reise des Prinzen Waldemar von Preußen, ein Fragment über
die Vulkane aus dem Kosmos, die Uebersetzung des Fechters von Ravenna
und einer Erzählung von M. Hartmann, eine Reihe kurzer Recensionen und
Korrespondenzen aus Berlin, Wien, Heidelberg.
Wir haben uns erlaubt, die Punkte offen darzulegen, welche uns in dem
Programm der Revue bedenklich schienen, aber wir brauchen kaum zu wieder¬
holen, daß wir dem Unternehme^ das beste Gedeihen wünschen, möge es, wie
die Herausgeber beabsichtigen, eine Brücke für die Vermittlung der Kenntniß
Der Sturm, welcher vor Kurzem alle merkantilen Verhältnisse erschütterte,
hat ausgetobt und nur an der Menge der Übeln Nachwehen merkt man noch
seine verheerende Kraft. Neben einer Anzahl fauler Stämme liegt auch viel
gesundes, grünes Holz'geknickt am Boden und es fehlt nicht an Stimmen,
welche, die wohlthätige Reinigung der Atmosphäre von luftspiegelnden Ele¬
menten verkennend, die ganze Schuld der Kalamität von den Personen auf
die Einrichtungen schieben, und besonders das Haupttriebwerk des Geld¬
verkehrs, das Bank- und Wechselwesen angreifen. Diese Erleichterungsmittel
des Tausches sind jedoch unausbleibliche Begleiter der steigenden Civilisation,
und da sie ohne festgcordnete Staatsverfassung und unbedingtes gegenseitiges
Vertrauen sich nicht halten können, so dienen sie sogar mit als Gradmesser
jeder Staatswirthschaft und jedes Volkswohlstandes. Die Geschichte zeigt,
daß den großen und sichern Geld' und Handelsströmungen überall erst die
engen, trüben Kanäle des Wuchers vorangingen. So entwickelte sich im
Mittelalter das Bankwesen gleichzeitig mit dem steigenden Geldverkehr aus
dem Wucherwesen der Juden und Lombarden. Aehnlich gestalteten sich die
Verhältnisse bei den beiden Hauptvölkcrn des classischen Alterthums.
Die griechische Nation, durch die vortreffliche topographische Beschaffenheit
ihres Landes begünstigt und auf Seefahrt und Handel hingewiesen, fühlte
natürlich sehr bald das Bedürfniß des Geldwechsels, und es gab deshalb
auf allen größeren Handelsplätzen Geldhändler. Das ursprünglichste Geschüft
derselben bestand darin, das fremde Geld oder rohes Gold und Silber gegen
Marktübliches Geld oder umgekehrt zu vertauschen; ja auch ohne den Verkehr
mit fremden Völkern würde dieser Handel durch die griechische Kleinstaaterei
dringend geboten gewesen sein. Der ihnen aus dem Agio zufließende Ge¬
winn war jedoch keineswegs der Haupttheil ihres Verdienstes. Man borgte
von ihnen auch Geld, und da das Maß der Zinsen gesetzlich nicht beschränkt
war, und selbst Zinseszins genommen werden konnte, (die Zinsen wurden
aber im Alterthume nur alljährlich zum Capital geschlagen), so bekamen die
athenischen Wechsler gewöhnlich 36 Procent und gaben auch auf Pfänder nur
gegen sehr hohe Zinsen Darlehne. Dennoch waren diese ausgeliehenen Ca¬
pitalien selten ihr Eigenthum. Viele reiche, vornehme Leute, die zu bequem
waren, sich mit der Verwaltung ihres Vermögens zu befassen, oder durch
Reisen oder andere Verhältnisse an der eigenen Kassenverwaltung behindert
wurden, pflegten den Wechslern im Vertrauen auf deren größere Geschüfts-
gewandtheit Capitalien gegen mäßige Zinsen zu übergeben. Wußten nun die
Bankiers gewiß, wie lange solche Summen bei ihnen stehen blieben, so
verborgten sie dieselben gegen hohe Zinsen an Dritte und betrieben so über¬
haupt ihr Hauptgeschäft mit fremdem Gelde. Ja, es kommt bei Demosthenes
der merkwürdige Fall in Frage, daß der Besitzer einer Wechselbank, die nicht
aus eigenem Handelscapital, sondern aus 15,000 Thlr. fremder Depositengelder
bestand, dieselbe an seinen Freigelassenen verpachtet hatte. Dieser übernahm
die Activa gegen einen jährlichen Zins von 3H00 Thlr., und machte also,
wenn es ihm glückte, mit 36 Procent zu verleihen, immer noch einen Gewinn von
1800 Thlr. Die ursprünglichen Darleiher wiesen aber nun alle ihre Zah¬
lungen aus ihre Bankiers an, indem sie gewisse verabredete Zeichen, mei¬
stens Ringe, ihren Anweisungen beifügten oder die Personen namhaft machten,
welche die Identität der Ueberbringer darthun sollten. So sendet in einem
Lustspiele des Plautus der Gläubiger seinem Wechsler nebst seinem Siegelringe
einen Brief folgenden Inhalts: „Ich bitte dich inständig, daß du demjenigen,
welcher diese Zeilen überbringt, das Mädchen nebst Kleidung und Goldschmuck
übergibst; das Geschäft ist in deiner Gegenwart und unter deiner Vermittlung
abgeschlossen worden und du kennst ja die Abmachung: Do^ Geld zahlst du
dem Kuppler, dem Ueberbringer überlieferst du das Mädchen." In dieser
Vereinfachung der Zahlung liegt allerdings ohne Zweifel der Anfang zu unse¬
rem Wechselwesen; allein an den weiteren Schritt, an die Uebertragung der
Anweisung auf einen Dritten und Vierten, dachten weder Griechen noch
Römer. Etwas Anderes, als bloßes Deponiren und Anschreiben fand auch
bei den griechischen Staatsbanken nicht statt, welche hier und da z. B. in
Tenos. Ilium, und Temnos (in Mysien) bestanden. Von der letzter» sagt
Cicero, es könne dort kein Geld umgesetzt werden, ohne die vom Volke ge¬
wählten fünf Prätoren, drei Quästoren und vier Bankiers. Auch in Aegyp-
ten war in jedem Districte eine königliche Bank unter einem Beamten, bei
welcher Zahlungen geleistet und Contracte geschlossen wurden. Von einer
öffentlichen Bank in Athen findet sich keine Spur; doch standen die Wechsler,
die hier, wie in No.in. ihren Stand alle am Markte hatten, in Verbindung
Miteinander, so daß einer/dem andern aushalf. Als Comnüs waren bei
ihnen meist Sklaven angestellt. Die Wechsler führten nun schon im Interesse
ihres Rufes genaue Händelsbücher über ihr Geschäft und ein jeder, dem in
rechtlicher Beziehung daran gelegen.war, scheint die Einsicht in.diese Bücher
haben fordern zu können, welchen auch vor Gericht Beweiskraft beigelegt wurde.
Trotzdem war die Achtung, in welcher die ganze Classe der Geldhändler stand,
im Ganzen keine große, Raubgier und Unehrlichkeit waren Prndicate. die man
ihnen sprichwörtlich beilegte. In demselben^ plautinischen Stücke spricht der
Wechsler mit sich selbst über seinen Stand folgendermaßen: „Ich gelte'für
wohlhabend; aber ich habe eben einen kleinen Ueberschlag gemacht, wie viel
von meinem Gelde mir, wie viel anderen gehört. Reich bin ich, wenn ich
meine Gläubiger nicht bezahle; wenn ich ihnen wiedergebe, was ich schulde,
sind meine^ Passiva- überwiegend: .Wahrlich, wenn ich,mir meine charmante
Lage überleget muß ich es auf eine Klage ankommen KUen. sobald sie mich
bedrängen. So machen es ja die meisten Wechsler, 5aß sie immer, einer
von dem andern, Geld fordern und niemanden wieder bezahlen. Sie möchten
gern mit den Fäusten bezahlen, wenn das Geld ^dringend verlangt wird!"
— Bei den griechischen Rednern finden sich Fallissements erwähnt, bei welchen
sich die Bankiers schon ganz in moderner Weise anfänglich verborgen halten
und dann-außer Landes gehen. Zugleich dürfte .man aus diesem Umstände
schließen können, daß ein. insolventer Wechsler von Seiten der Gerichte ge-
fänglich eingezogen zu. werden ^pflegte. — Dagegen',senden sich auch genug
Ehrenmänner, an welche sich sogar die Regierungen in Verlegenheiten wen¬
deten und überhaupt liegt der Grund der gewöhnlichen Mißachtung des ganzen
Standes bei den GiiechM «nicht in del^. von. Einzelnen geübten Mißbräuche
des Credits, sondern darin, daß sich meist Menschen von niederer Herkunft
und schlechter Gesinnung, namentlich.Freigelassene,, dem Geschäfte widmeten.
Bergleicht man mit diesen griechischen Zuständen die römischen, so springt
zuerst der Unterschied in die Augen, daß Rom zwar keine stehende öffentliche
Bank hatte, daß aber der Staat mehr mals in Griechenland die Wechsler be¬
aufsichtigte, ja von Staatswegen dergleichen anstellte. R»r in Fällen großer
Noth, in eigentlichen Geldkrisen errichteten die Römer Staatsbanken unter
Leitung öffentlicher Beamten, und dann waren es stets nur Leihanstalten.
Zum ersten Male geschah dies im Jahre 352 v. Chr., um dem ungeheuer
verschuldeten niederen Volke unter die Arme zu greifen. Fünf Staatsbeamte
prüften die Verhältnisse der Schuldner und leisteten an ihren am Hauptmarkte
errichteten Tischen gegen Sicherstellung Vorschüsse aus der Staatskasse. Der
umgekehrte Fall trat ein, als während des zweiten punischen Krieges das Aerar
selbst in die Lage kam, die aufopfernde Hilfe der Patrioten in Anspruch
zu nehmen. Damals nahm dieselbe Behörde Gold- und edles Metall in
Empfang, während ihre Schreiber die Namen in die Liste der öffentlichen
Anleihe eintrugen. Der Kaiser Augustus etablirte. später aus dem Ertrage
der confiscirten Güter der Verurtheilten eine Leihkasse, aus welcher jeder, der
für den doppelten Betrag Unterpfand stellen konnte, auf eine gewisse Zeit ge¬
liehen bekam. Diesem Vorgange folgte auch später Alexander Severus, in¬
dem er ein großes Capital zu geringen Zinsen verlieh und Armen zum An¬
kaufe von Grundstücken Gelder ohne Zinsen vorstreckte, die sie dann von dem
Ertrage derselben nach und nach wiedererstatteten. Wie sehr sich übrigens
schon zu Anfang der Kaiserzeit der Betrieb der Geldgeschäfte ^ geändert und
das Ansehen der Bankiers gesteigert hatte, zeigt sich besonders an den Mit-"
kein, welche Tiberius zur Beseitigung einer großen Geldkrisis im Jahre 32 '
n. Chr. anwendete. Es fehlte damals keineswegs an Capital; das plötzliche
Aufhören des Credits war nur eine Folge, falscher Maßregeln. Da nämlich
die Schuldner laut Uer die Härte und den Zinswucher der Kapitalisten klag¬
ten, zu denen freilich' sämmtliche Mitglieder des demoralisirten Senats gehör¬
ten, so ging man auf ein Gesetz Cäsars zurück, nach welchem niemand mehr
als 15,000 Denare (4350 Hhlr.) bnares Geld besitzen durfte, gebot den Rei¬
chern, zwei Drittheile ihres Vermögens in Ländereien anzulegen und setzte zu
diesen Veränderungen eine Frist von 18 Monaten fest. Allein die Gläubiger
kündigten nun aus Furcht alle ihre Capitalien aus; durch die Menge der
Bankerotte sank der Preis aller städtischen Besitzungen und Wohlstand und
Ehre vieler ging zu Grurrde. Da löste endlich der Kaiser die Stockung des Cre¬
dits, indem er gegen sieben Millionen Thaler den Zahlttschen der Bankiers zur
Disposition stellte, die nun im Namen des Staates gegen doppelte Hypothek,
aber ohne Zins, auf drei Jahre Geld vorschössen. Von der Zeit an, wo sich
die innern Verhältnisse des großen Römerreichs mehr cvnsolidirten, wo die
Habsucht der reich gewordenen Epigonen die alte, festgewurzelte Scheu der
Altvordern vor schnödem Gelderwerb erstickte und unzählige Summen in den
Provinzen auf hohe Zinsen ausgeliehen oder in Handelsgeschäften angelegt
wurden, fehlte es natürlich auch nicht an ungünstigen Rückschlägen von dort
nach Italien, welche mit den durch den internationalen Wechselverkehr beding¬
ten Schwankungen des Credits in jetziger Zeit verglichen werden können. So
nennt wol Cicero mit gutem Grunde die Periode Sullas „eine Zeit sehr schole-
riger Zahlung", und ebenso sagt er über die Erschütterungen der östlichen
Provinzen durch den Pontischen Mithridates: „Man weiß, daß damals, als so
viele in Asien große Summen verloren hatten, auch in Rom durch die in den
Zahlungen eingetretene Hemmung der Credit ganz gesunken ist; denn es kön¬
nen nicht in einem Staate viele ihr Vermögen einbüßen, ohne andre mit sich
in dasselbe Unglück zu verwickeln." Auch die Entwerthung des Geldes erzeugte
große Störungen des Verkehrs. Zwar war es erst einer fernen Zukunft vor¬
behalten, den Geldwerth des Papiers zu entdecken und auszubeuten; aber das
Kippen und Wippen verstanden die römischen Gewalthaber schon vortrefflich. Wäh¬
rend der Bürgerkriege mischte der Triumvir Antonius Eisen unter das geprägte
Silber und den Entdecker der Silberprobe ehrte damals das Volk mit Bild¬
säulen in allen Districten. In den 200 Jahren von Nero bis Aurelian ver¬
schlechterte sich aber das Geld allmälig immer mehr. Die Regierungen ver¬
boten das Probiren ihrer Münzen und gaben bronzene Denare mit Silber-
plattirung aus, deren Silbcrgehnlt von '/» endlich auf Vs hcrabsan?. Zuletzt
wußte man gar nicht mehr, ob der Ueberzug des weiß gesottenen Kupfers aus
Silber oder Zinn bestand und es geriethen alle Vermögensverhältnisse in die
heilloseste Verwirrung. Die Abgaben mußten unter Heliogabal und Alexan¬
der Severus in Gold gezahlt werden, und hiermit war eigentlich schon der
Staatsbankerott ausgesprochen. Erst Diocletian gelang es, vollständige Ord¬
nung im Münzwesen wieder herzustellen.
Wie in Athen wurde auch in Rom das Forum dadurch zu einer Art von
Börse, daß die Boutiken der Wechsler auf demselben oder in seiner Nähe sich
befanden. Besonders unter den drei großen, gewölbten Durchgangsbogen
desselben, in welchen besondere kleine Nischen zu diesem Zwecke angebracht
waren, pflegten sie ihren Stand aufzuschlagen und nach der Localität bezeich¬
neten sie auch ihre Firma (z. B. „der Wechsler von der jütischen Basilika",
„vom Circus Flaminius" u. s. w.). Ihre Geschäfte waren bedeutend aus¬
gedehnter und vielseitiger als die der griechischen Collegen. Zwar machte das
Wechselwesen selbst, wie schon erwähnt, in Rom keinen Fortschritt, und es
blieb nach wie vor bei den bloßen Anweisungen, allein der Ausdehnung des
Reiches analog erweiterten sich auch die Beziehungen der römischen Bankiers
zu denen in den Provinzen und es kamen mit der Zeit eine Menge auf Geld
und Handel bezügliche Besorgungen in ihre Hände, die bei uns besonderen
Agenten und den Notaren anheimfallen. Bei Käufer und Verkäufen dienten
sie als Makler, sie besorgten Privatauctionen und wurden bei öffentlichen Ver¬
steigerungen als Schriftführer und Kassirer zugezogen, weshalb auch die
Auctionsl'ataloge an ihre Buden angeschlagen wurden. Natürlich liehen sie
auch fremdes Geld, um dasselbe zu höhern Zinsen wieder unterzubringen,
aber bei solchen Operationen waren sie hinsichtlich der Zinsen immer durch
Regierungsmaßregeln beschränkt und der Zinsfuß stand in Rom nie auf der
Höhe des griechischen. Von stieg er zwar am Ende der Republik auf 12"/^,.
sank aber zu Anfang der Monarchie durch die Anhäufung vieler Capitalien
bis auf 4"/„ herab. Zwar dauerte dies nicht lange, aber über 8"/^ scheint er
nicht oft gestiegen zu sein, und Justinian setzte endlich den gesetzlichen Zins¬
fuß auf 6"/y fest und verbot den Zinscszins gänzlich. In Rom beaufsichtigte
die Wechsler der Stadtprnfect, in den Provinzen der Statthalter, und vom
Kaiser Galba 'wird erzählt, daß er als Gouverneur in Spanien einem unred¬
lichen Bankier die langfingrigen Hände abhauen und an den Wechslertisch
habe nageln lassen. Wie in Rom überhaupt wenig Gewerbfreiheit herrschte,
war auch eine bestimmte Zahl für die Geldhändler festgesetzt, welche eine Art
von Innung bildeten, zuweilen unter sich solidarische Verbindlichkeiten ein¬
gingen und das Recht besaßen, über die Aufnahme neuer Mitglieder zu ent-
scheiden. Sclaven waren nur als Commis zulässig und der Herr des Ge¬
schäfts war stets für sie verantwortlich. Besonders streng verpflichtet waren
die römischen Bankiers, ihre Bücher genau zu führen, und es befremdet dies
um so weniger, als es überhaupt bei den Römern bis ins 3. Jahrhundert
n. Chr. allgemeine Sitte war. Ausgaben und Einnahmen gehörig aufzuschrei¬
ben und zu verrechnen, so daß Summen, die nicht im Buche (Calendarium)
standen, als unredlich erworbene vorgeworfen werden konnten. Daher hatten
die Wechsler nicht nur ein Kassabuch, in welches sie ihre Einnahmen und Aus¬
gaben chronologisch eintrugen, sondern auch ein Contocurrentbuch, in welchem
das Soll und Haben der einzelnen Kunden verzeichnet stand und ein Journal
zum Behuf späterer Eintragung in das Kassabuch. Vor Gericht hatten diese
Bücher vollständige Beweiskraft.
Justinian war den Wechslern besonders günstig gesinnt, vermehrte ihre
Privilegien und sagt unter anderem in dem bezüglichen Gesetze nach der Be¬
stimmung, daß ihnen auch ohne vorgehende Abmachung stets die gesetzlichen
Zinsen des verborgten Geldes gezahlt werden sollten: „denn es wäre ungerecht,
wenn diejenigen, welche bereit sind, fast alle Hilfsbedürftigen zu unterstützen
durch solche kleinliche Chicanen Unrecht erleiden sollten." Ueberhaupt hatte in
der Kaiserzeit dieser ganze Stand gleiche Geltung mit den Kaufleuten. Der
reiche Bankier war ebenso angesehen, wie der Großhändler; der kleine Wechs¬
ler und der schmuzige Wucherer dagegen genossen ebenso wenig Achtung wie
überhaupt jeder Kleinhändler und Krämer. Auf solche Händler niederen Ranges
beziehen sich auch die bittern Worte des Plautus: „Hinter dem Castortempel
sind diejenigen, bei welchen du schlecht ankommen kannst, wenn du ihnen
geschwind Geld anvertraust; so wie du dies gethan hast, machen sie augen¬
blicklich Bankerott!"
Die nordische Reise des Prinzen Napoleon. VoMgs als,us los mers
An mora Ä borÄ as la vorvetts I.A Remo Ilortenso x^r N. Odarlss Lämoncl
(vllvieM) ?^ri8, 1857. — Wir haben uns für die Mühe diesen dicken, prächtig
ausgestatteten Band durchzulesen wenig belohnt gesunden. Wenn man von einigen
demselben angehängten nautischen, medicinischen und geologischen Abhandlungen,
deren Beurtheilung Fachkcnnern überlassen bleiben muß, absieht, so bieten die 625
Seiten Lexikonformat fast nichts für den, der die Berichte irgend eines neuern Rei¬
senden z. B. „Scoresbys arktische Regionen" kennt. Dem Schreiber waren aller¬
dings, wie das Buch zeigt, Menschen und Gegenden vollkommen neu, aber das
berechtigte ihn schwerlich zu einem Rückschluß auf die Leser; die Erzählungen über
Newcastle, Schottland, Irland sind mit so großer Naivetät vorgetragen, daß man
glaubt, es handle sich um ganz ungekannte, neuentdeckte Länder, die Analyse der
ältern Edda setzt voraus, daß niemand noch von diesem fabelhaften Buche gehört.
Dabei ist das Werk nachlässig geschrieben, der Ton und die schlechten Witze z. B.
über die Eigenthümlichkeiten der englischen Nationalität erinnern stark an den zwei¬
felhaften Geschmack gewisser Gesellschaften des Palais Royal. Wenn z. B. gesagt
wird, das höchste Lob für die Grabschrift eines Engländers würde in den Augen
seiner Landsleute sein, daß er ein Hemde von Callao sür die ganze Erde fabricirt
habe, so mag das sür eine Posse des Theatre Beaumarchais gut sein, wird aber in
einem officiösen Reisebericht widerwärtig. Der ganze Abschnitt über Schottland, wo
uns die bekannte Geschichte Walter Scotts wieder erzählt wird, bietet nichts, was
man nicht in allen neuern Reiseskizzen fände. Die Ursachen z. B. welche Glasgows
Aufblühen veranlaßt, lernt man aus Murrays Handbuch weit besser kennen, der
Verfasser übergeht eine Hauptursache der commerciellen Entwicklung, nämlich die
berühmten und erfolgreichen Correctionen des Clyde. In Island werden die ge¬
bräuchlichen Ausflüge nach dem Hekla und Geyser gemacht, denen sporadische Mit^
thcilungen über Geschichte und Literatur folgen. Unterhaltend zu lesen ist der
Stammbaum des heutigen Bürgermeisters von Rickiavik Vilhjalmar Finson, der in
gerader Linie bis auf Adam zurückgeht, und Jupiter, Pricnnus, Odin. Harald, Ru-
rik neben andern Namen von ähnlichem Gewichte ausweist. Die durch das Treibeis
verunglückte Expedition nach der Insel Jan Mayen bietet einen Punkt von Inter¬
esse, die Ceremonie bei Pcissirung des Polarkreises, welche die Schiffsmannschaft aufführt
ebenfalls. Ein Matrose verkleidet und costümirt sich als Patriarch des Nordens in
Kleidern von Fellen mit langem Bart von Werg. Vom Mast herab fragt er die
Schiffer, was sie hier in seinem Reiche wollen. Man antwortet ihm mit Ehrer¬
bietung, man sei keineswegs gekommen seine Herrschaft zu stören, sondern aus
Gründen der wissenschaftlichen Forschung, des Handels u. s. w. Der Patriarch
zögert und weicht endlich, nachdem der Capitän ihm feierlich versprochen, seine
Rechte zu ehren, er steigt unter geräuschvoller Musik von seinem hohen Sitz herab,
und zeigt den Reisenden in einem kleinen schmuzigen Korbe die Erzeugnisse seines
Reiches, einen Schellfisch und einige Steine, das fehlende Eis, sagt er, werden sie
bald finden. Einer der Besatzung erhebt sich hierauf und ermahnt seine Genossen
zur Ausdauer und Kühnheit auf der Reise, hieran schließt sich Tanz und Gelage.
Ueber Grönland erfahren wir nichts Neues; daß es den acht dort lebenden Euro¬
päern ein Ereignis; war, eine französische Corvette bei Godthaab ankern zu sehen,
ist begreiflich, ob aber „der Anblick eines französischen Prinzen, Nachkommen des
Helden der Legende des 19. Jahrhunderts" es grade war, was sie bewegte, muß
wol dahingestellt bleiben. Wenn wir nun auch den Abschnitt über Faröer- und
Shetlandsinseln für unbedeutend erklären, und die Reise durch Norwegen und Schwe¬
den ohne Interesse finden, so mag der geneigte Leser ungeduldig fragen, weshalb
wir denn überhaupt dies Werk einer Besprechung unterziehen, und es nicht lieber
mit einem kurzen Worte des Tadels abfertigen. Der Grund liegt in dem letzten
Capitel, wo bei dem Besuch Stockholms und Kopenhagens die Idee und die Aus¬
sichten der skandinavischen Union besprochen werden, von welcher es wegen ihres
Zusammenhanges mit der Schleswig-holsteinischen Sache für den Deutschen gleich heißt:
kug, i'v» Ag'nur.
Nicht daß diese Besprechung an sich lehrreich sei, sie ist unwissend und voll
von groben Schmähungen gegen Deutschland, der Abschnitt hat nur deshalb ein
gewisses Interesse, weil er, obwol der Prinz Napoleon hier wie in dem ganzen Werk
selten genannt ist, doch unzweifelhaft mit seiner Beistimmung und wenigstens nicht
gegen, die Ansicht der französischen Regierung geschrieben ist. Was nun Hr. Edmond
und seine Protectoren zunächst von dem deutschen Rechte denken, ergibt sich aus Folgendem.
Der wiener Kongreß, heißt es, eine Summe von gegenseitigem Verrath, Willkür,
Gewalt und Thorheit versäumte nach dem Fall des ersten Kaiserreichs nicht, auch
in Dänemark die Keime von Zwistigkeiten zu legen und die skandinavischen Völker
an Deutschland zu ketten. Das Herzogthum Schleswig, ursprünglich skandinavisch,
war allmälig halb deutsch, halb dänisch geworden. Daher die schwierige Stellung,
die nun näher entwickelt wird. 1848 war der erste Schrei des emancipirten Deutsch¬
lands der Krieg der Nationalitäten, die Unterjochung des Auslandes, um das zu
ergattern (^Lvi^arer), was ihm nicht gehörte, die Verewigung eines Joches über
Völkerschaften, die nichts mit ihm gemein haben wollten. Dies Benehmen Deutsch¬
lands hatte feinen verdienten Lohn; überzeugt, daß es die Freiheit nicht verdiente,
welche es sogleich zur Unterdrückung anwandte, fiel es mehr denn je unter die Bot¬
mäßigkeit seiner Fürsten zurück! Hiernach wird man ungefähr sehen, was wir von
Frankreichs unparteiischer Beurtheilung zu erwarten haben. Wenn später die Un¬
Haltbarkeit des Gesammtstaats und des londoner Protokolls auseinandergesetzt wird
und namentlich die Gefahr der eventuellen russischen Thronfolge signalisirt ist, so
können wir das schon hinnehmen, aber wir wollen sehen, was uns denn geboten
wird. Nachdem Oersted sehr für seine Neigung zu Nußland getadelt, Scheele dagegen
gehörig belobt worden ist, heißt es, die Gesammtverfassung von 1855 sei unter dem
offenbaren Einfluß Preußens und Oestreichs entstanden, Dänemark habe auch den
Cabinctcn von Wien und Berlin geantwortet, daß es aus ihren Rath dieselbe oc-
troyirt habe, die Mitglieder des Reichstages für die Herzogthümer hätten die Nicht-
vorlage vor die Provinzialstände als Vorwand einer Protestation genommen, der
Bund habe daraus eine «zusi-LUe et'^Uemirnä gemacht, die deutschen Pamphlctschrciber
arbeiteten gegen das arme Dänemark! Ein solches Gewebe von Unwissenheit und
Unwahrheit wagt man in einer officiösen Schrift in die Welt zu schicken!
Die einzige Lösung, heißt es nun, sei die skandinavische Union. Man könnte
sagen, daß es uns gleich sein dürfe, aus welchem Beweggrund jemand für das sei,
was auch wir wollen, wenn er nur mit uns gehe, aber hier zeigt sich, daß eine
Verschiedenheit in den Motiven auch gewöhnlich eine Verschiedenheit des Gewollten
bedingt, der Verfasser will Aufhebung des londoner Protokolls, eine mäßige Ent¬
schädigung 'des Prinzen von Glücksburg, Unabhängigkeit Holsteins und Lauenburgs,
al'er Incorporation Schleswigs, ist also Eiderdänc. Er schildert die allmälige Hcr-
Vorbildung der Idee der skandinavischen Union, die Zeit Margarcthas, die Wieder¬
aufnahme der Konföderation im Jahre 1810, als Friedrich VI. von Dänemark sich um
die schwedische Krone bewarb, die poetischen, literarischen und wissenschaftlichen Ver¬
einigungen, die ihren Höhepunkt in der Demonstration des letzten Sommers in Stock¬
holm fanden. Die Idee einer gegenseitigen Adoption der Dynastien von Baron
Blixcn wird mit Recht als unpraktisch abgewiesen und eine Analyse der
schwedischen Broschüre gegeben, welche dem Baron antwortete. Sie ist von Wich¬
tigkeit, weil es mehrmals wahrscheinlich ist. daß sich unter dem Pseudonym Arliot
Gellina eine dem Throne nahestehende Person verbirgt; auch sie spricht sich für die
Eidcrgrenze aus, aber sie bringt wenigstens Gründe vor, über welche sich streiten
läßt. Es wird behauptet, die Ureinwohner Schleswigs seien keine Sachsen, sondern
Friesen und Angeln gewesen. Was wäre aber damit bewiesen? sind etwa letztere
keine Deutschen, ist Friesland nicht heutzutage noch eine deutsche Provinz und waren
es nicht Angelsachsen, die England eroberten? Daß Karl der Große mit dem
Fürsten Henning von Jütland einen Vertrag schloß, der die Eider zur Grenze an¬
nahm, beweist gar nichts; denn man wird doch nicht die damaligen'Grenzen als
heutige Normen aufstellen wollen; den Franzosen dürfte das am wenigsten passen.
Die Thatsache, auf welche es ankommt, ist, daß im Laufe der Geschichte Schleswig
zum größern Theile deutsch ward, und daß, wie der schwedische Verfasser nicht leugnen
kann, die Union mit Holstein von Christian I. 1460 beschworen ward. Es ist aber
nicht richtig, daß dieselbe 1725 aufgehoben worden ist und die schleswigschen Stunde
dem König von Dänemark als einzigem Herrn^ den Eid geleistet haben, auch be¬
ziehen sich die angeführten englisch-französischen Garantien nur auf die Vereinigung
des großherzoglichen und des königlichen Theiles von Schleswig, und nicht auf die
Schleswigs mit Dänemark. Gcllina kann auch nicht ableugnen, da einmal die
Nationalität in der skandinavischen Frage als entscheidendes Motiv gilt, daß ein
Theil Schleswigs deutsch ist, obwol er die Zahl der Deutschen ungebührlich klein an¬
gibt. Aber auf diesem Standpunkt läßt sich wenigstens verhandeln, die Theilung
Schleswigs nach den Nationalitäten ist die naturgemäße Lösung, und Schweden
wird sicher darauf eingehen, wenn es die skandinavische Krone zu diesem Preise er¬
langen kann. — Die Beschäftigung mit dieser Frage allein hat uns Veranlassung
gegeben über die nordische Reise des Hr. Edmvnd zu berichten, weil wir daraus
wieder klar sehen, wessen wir uns zu gewärtigen haben, wenn Frankreich das große
Wort sührt. Von dem Buch selbst müssen wir nur wiederholen, daß es schade um
das Velinpapier ist, welches man damit verdrückt hat.
Wir erhalten von Wien in Betreff unseres neulichen Artikels über die pol¬
nischen Juden eine Zuschrift, die verschiedene Berichtigungen enthält. Es heißt darin!
„Der Aussatz^ „Juden in Galizien", der seinem ganzen Inhalte und der Darstellung
nach nicht das Vorurtheil nähren will, malt nichts desto weniger Einiges dunkler als
es ist. Zunächst eine kleine Unrichtigkeit. Die dort erwähnte Sekte heißt nicht Has¬
sitten, sondern Chasidim. Man hat dieser Sekte in frühern Zeiten auch anderweitige
Tendenzen zugemuthet, die sich aber als nichtig erwiesen haben. Sie hegt und Pfl.age
manchen Aberglauben und stiftet dadurch viel Unheil. Die Behörden suchen aM-
dings diesem Unfug zu steuern und den Mysticismus zu bannen, doch ist dieses bisher
nicht gelungen, und das leichtgläubige Volk wird noch gar oft von den Häuptern
dieser Partei, die sich für Wunderthäter ausgeben, irre geführt.
Unrichtig ist es ferner, daß jüdische Frauen blos an hohen Festtagen die Schule.
besuchen. Dieses geschieht jeden Sonnabend, und fromme Frauen besuchen die
Synagoge auch an Wochentagen.''
Zur Eingehung einer giltigen Ehe gehört in.Galizien so wie in den andern
Kronlündern des östreichischen Kaiserstaates die behördliche Bewilligung, die jetzt ohne
Schwierigkeit zu erlangen ist. Bis zum Jahre 1848, wo das Gesetz bekanntlich
der Natur und der natürlichen Entwicklung Schranken setzen wollte, trat oft das
nawr^in oxpollas turog, ein und es entstanden viele Concubinate, hie der Sittlich¬
keit großen Schaden brachten.
Die Inschrift an den. Pfosten- jüdischer Häuser ist nicht aus dem Talmud,
sondern aus dem Pentateuch: Deuteron. <l Ccip. 4—-i> V. Sie.enthält das Be¬
kenntniß zum einig-einzigen Gott und das Gebot der Liebe zu ihm. .
Die Rabbiner in Galizien werden wie in allen jüdischen Gemeinden des öst¬
reichische» Kaiserstaates von Seiten der Gemeinde und nicht vo'ni Staate besoldet.
Bis zu den Zeiten Kaiser Josephs stand ihnen zu, den .Bann (CherM) zu verhängen
und mußten sie diesen jährlich über diejenigen sprechen^ die mit den Steuern im
Rückstand waren. Es war sogar die Bannformcl vorgeschrieben.
Wenn es nicht aus persönlichen Motiven geschieht, so steht dem jüdischen Sol¬
daten nichts im Wege zu avanciren. Es gehört mit zu den Verdiensten des ver¬
storbenen Erzherzogs Karl, daß die Rubrik „Religion" in den Pässen östreichischer
Soldaten fehlt. Das Werthcimersche Jahrbuch für Israelite» 1857 (5K17) bringt
ein statistisches Verzeichniß der östreichischen jüdischen Offiziere im Heere, und daraus
geht hervor, daß unter ungefähr 12,000 jüdischen Soldaten an 500 Offiziere sich
befinden.
Galizien im Allgemeinen und die galizischen und polnischen Juden insbesondere
haben viele, sehr viele Schattenseiten, wer wird diese abstreiten wollen? Aber es ist
nicht zu verkeimen, daß der galizische und polnische Jude auch Lichtseiten hat.
Ein Mittel gibt es, um die Juden dieses Krvnlandes zu heben, und das ist die
Errichtung von Schulen. In den' jetzt bestehenden Winkelschulen (Ehnder) wird nur
die physische und psychische Verwahrlosung gefördert; nur unter solchen Verhältnissen
kann die Ignoranz so grauenhafte Dimensionen annehmen, nur da der Chassidismus
sein Zauberwesen treiben. »-
Der in Ur. 12. Seite 468 erwähnte Maler heißt nicht Biasre,
sondern de Biefve, und Seite 480, Zeile 12 v. ob. muß. es statt „bedienten sich der
französischen Mundart", der friesischen heißen.