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]]>Zeitschrift für Politik und Literatur,
redigirt von
GlWUw SmMW und IMUm ssW^M»
is. Jahrgang
I. Semester. II. Aand.
Verlag vonLeipzig,
Friedrich Ludwig
I85K.Herbig.
In der Culturentwicklung der Völker gibt es Perioden, gegen die man
gewöhnlich ungerecht ist, weil man den herkömmlichen künstlerischen Maßstab
an sie anlegt und nicht daran denkt, daß die schöpferische Volkskraft sich von
Zeit zu Zeit ein neues Gebiet suchen muß, um nicht in einseitiger Ausbildung
einzelner Richtungen zu erkranken. Das gilt auch von der deutschen Literatur
der Gegenwart. Wir haben uns daran gewöhnt, das Zeitalter Schillers und
Goethes, Fichtes und Schellings als die goldene Zeit unserer Literatur zu be¬
trachten, und was damals in der Dichtung und Philosophie geleistet wurde,
als die Norm anzusehen, an welcher der Werth der neuen Schöpfungen zu
messen sei. Indem wir nun die Entwicklung der Dichtkunst und Philosophie
verfolgen, sehen wir eine stetige Abnahme der Naturkraft, eine immer weiter
um sich greifende Verwilderung des Stils, eine immer trübere Gährung in.
den Principien. Heine ist der letzte aus der alten Dichterschule, Feuerbach
der letzte aus der alten Philosophenschule, und wie bedeutend die Begabung
dieser Männer ist, es macht doch einen unheimlichen Eindruck auf uns, wenn
wir den wilden, dämonischen Zerstörungstrieb, der in ihnen sich ausspricht, mit
jener griechischen, sonnenhellen Heiterkeit vergleichen, die uns in den classischen
Schöpfungen von Weimar und Jena noch immer erfrischt. Noch tiefer ist der
Verfall in der spätern Zeit. Talente sind genug vorhanden, es zeigt sich auch
hin und wieder ein guter Wille und eine richtige Einsicht, aber das Gefühl
der innern, zwingenden Nothwendigkeit wird durch eine neue Schöpfung nur
selten in uns erregt, und die schöne Literatur im Ganzen betrachtet steht nicht
über, sondern unter der allgemeinen Bildung.
Ganz anders wird der Eindruck, wenn wir aus dem Kreise der Dichtkunst
heraustreten. Noch in die classische Zeit fallen die Anfänge einer neuen Wissen¬
schaft, deren Erinnerung als ein ewiger Ehrentempel des deutschen Ruhms
bestehen wird. Mit Wolf und seinen Schülern begann die Reihe jener herr¬
lichen Männer, die ein schönes und großes Leben einem mühsamen und an¬
scheinend wenig belohnender Studium Hingaben, um ein riesenhaftes Gebäude
aufzuführen, das nicht den Namen seiner einzelnen Urheber, sondern den der
Nation an der Stirn tragen sollte. Die Namen sind wohl bekannt; von
Hermann und Böckh, von Niebuhr und Savigny, von Grimm und Lach¬
mann, so wie von den Gebrüdern von Humboldt hat jeder etwas gehört, der
sich um die Literatur kümmert. Man weiß auch historisch, daß es noch immer
jüngere Kräfte gibt, die-in dem gleichen Sinn und mit gleichem Erfolg fort¬
wirken; aber was sie geschaffen haben, geht nicht unmittelbar, sondern nur
durch die Vermittlung vielfach verzweigter, unscheinbarer Kanäle in das Leben
der Nation über. Sie sind die Väter unserer Bildung, die Gegenstände un¬
serer Verehrung, aber sie zu lieben vermag nur der näher stehende Schüler, nur
der Eingeweihte, denn die Nation hat für sie kein Verständniß und kann es
nicht haben. Wir verdanken ihnen, daß die deutsche Wissenschaft den ersten
Rang in der Weltliteratur einnimmt. Wer wollte also noch mit unfrucht¬
baren Wünschen an sie gehen und den schuldigen Dank durch die Betrachtung
verkümmern, daß sie ihrem Volk doch gar zu vornehm gegenüberstanden.
Aber es wäre ein Irrthum, anzunehmen, daß dies Verhältniß immer so
bleiben müsse. Wir treten in eine neue Periode der Literatur ein, wo die
Wissenschaft, die lange im Verborgenen ihre Triebkraft gesammelt, entwickelt
und gekräftigt hat, ihre Schale sprengt und in voller, reiner und schöner Ge¬
stalt ebenbürtig in den Kreis der Nation eindringt. Es ist ihr die Zunge ge¬
löst worden, sie hat die Kraft, zu sagen, was sie weiß; und wenn man von
einem der berühmtesten Gelehrten der vorigen Periode erzählte, er wisse in
vier und zwanzig Sprachen auf eine correcte Weise zu schweigen, so können
seine Jünger und Schüler dreist auf den Markt treten, denn ihre Beredtsam-
keit ist feuriger, hinreißender, ja verständlicher, als das ermüdend geistreiche
Geschwätz der Dilettanten, die bisher das große Wort führten.
Die Dilettanten der Junkerschaft und die Dilettanten des Pöbels äußer¬
ten ihren lebhaftesten Unwillen, als bei dem Ausbruch der Bewegung von
-IM8 das Volk so thöricht war, die „gelehrten'Zöpfe" zu seinen Vertretern
zu wählen, und als die Bewegung scheiterte, empfanden sie trotz der unmittel¬
baren schlimmen Folgen eine gewisse innere Genugthuung, daß die Zöpfe sich
compromittirt hätten, wie ein Theil des berliner Publicums nach der Schlacht
bei Jena froh war, daß den übermüthigen Fähnrichen eine tüchtige Lehre
ertheilt sei. Wenn man sich aber heute jene Tage unbefangen ins Gedächtniß
zurückruft, so wird man sich überzeugen, daß die einzig vernünftige Ansicht von
jenen Zöpfen aufgestellt wurde, daß sie ihr Princip am folgerichtigsten vertra¬
ten, daß sie es in dem Schlamm und Schutt jener Zeit rein erhielten und der
Nachwelt zur Fortbildung überlieferten. Die Bewegung von 1848 mußte schei¬
tern, weil sie aus falschen Voraussetzungen hervorging, weil man den Hebel
an einem Punkt ansetzte, der mit der Schwerkraft des Gegenstandes nichts zu
thun hatte; ihre Ideen sind aber geblieben und werden fortleben.
Sie zeigen ihre richtige Anwendung zunächst nicht auf dem unmittelbaren
Gebiet der Politik, sondern auf dem Gebiet der Geschichte. Wir haben schon
mehrfach aus die Reihe von Schriftstellern hingewiesen, welche die nächste Ver¬
gangenheit unsers Vaterlandes behandeln, zum Theil mit einer entschiedenen
Kraft der Darstellung, mit glänzender Beredtsamkeit, mit tiefer Einsicht, was
aber die Hauptsache ist, alle in der gleichen Gesinnung und Ueberzeugung.
Sie haben sich nicht etwa untereinander verabredet, Droysen, Gervinus, Sy-
bel, Hauffer, Waitz, Duncke/und wie sie alle heißen, die Begebenheiten von
diesem bestimmten Standpunkt aus anzusehen, sondern es waltet in ihnen der
historisch entwickelte Kor 3<zns der Nation, den sie durch ihre Einsicht und
Bildung weiter entwickeln, den sie aber bereits in ihrer Gesinnung vor¬
finden. Im Zeitalter der Romantik schien es, als habe die Nation diesen ge¬
sunden Menschenverstand, der Vergangenheit und Zukunft verknüpft, verloren;
aber sie hat ihn wiedergefunden, und das ist uns die sicherste Bürgschaft für
ihre Zukunft. Das Gefühl, das in unsern Geschichtschreibern lebt, ist nicht
schwermüthig, wie bei Tacitus, der als geiht- und gefühlvoller Romantiker die Welt
seines Innern gegen die Wirklichkeit herauskehrte, ihr Tadel, ihre Ironie und
ihre Klage ist nicht hoffnungslos, sie wird vielmehr getragen von einem mäch¬
tigen, siegesgewisser Glauben, der die Zukunft in freudiger Gewißheit voraus¬
nimmt. Die häßlichen und widerwärtigen Erscheinungen unsers staatlichen
Lebens spielen nur auf der Oberfläche; der innere Kern unsers Denkens und
Empfindens ist noch nicht angegriffen, und darum werden wir, so schwer und
gefährlich sie ist, die Krankheit unsers Organismus überwinden.
In die Reihe dieser Geschichtschreiber tritt der Verfasser des vorliegenden
Buchs vielleicht als der bedeutendste. Ein hingebender Schüler der alten Ge¬
lehrtenschule , ausgerüstet mit dem ungeheuern Material und zugleich mit der
strengen Methode, die wir der ernsten, mühevollen Anstrengung eines halben
Jahrhunderts und dem organischen Zusammenwirken der bedeutendsten Kräfte
verdanken, verbindet er mit diesem kritischen Ernst zugleich das Feuer der
Jugend und jene lebendige Gestaltungskraft, die man sonst nur den Dichtern
zuschrieb. Sein Verstand dringt mit eiserner Schärfe in das Gewirr der That¬
sachen und Vorurtheile, kein Blendwerk täuscht ihn, keine altehrwürdige Mei¬
nung verbirgt ihm die Thorheit und das Laster, um seine Lippen spielt zu¬
weilen das bittre Zucken des Hohns, wenn er eine neue Schlechtigkeit entlarvt
— eine Schlechtigkeit, in der ihm zugleich das Bild dessen, was er selbst er¬
lebt, vor Augen tritt, — aber se,in Herz ist zugleich warm und rasch bewegt,
und wo er eine wirkliche Größe entdeckt, da bricht er in einen freudigen Jubel
aus, der um so hinreißender wirkt, weil er sich in den feinsten Formen der
Bildung ausspricht. Der Haß schärft seinen Sarkasmus, aber er verleitet ihn
zuweilen zu Formen, die aus den Grenzen der Schönheit heraustreten: bei
der Bewunderung aber sühlt man, daß seine eigne Seele sich erweitert, und
daß etwas von der Größe des Gegenstandes in seine eigne Darstellung über¬
geht. Als er an die Charakteristik Cäsars geht, spricht er die Besorgnis) aus,
daß man die vollkommene Schönheit, die eben keine hervorspringenden Eigen¬
schaften zeigt, nicht darstellen könne. Die Besorgnis) war ungegründet, seine
Charakteristik Cäsars gehört zu den anziehendsten Seiten des Buchs. Um das
Große zu sehen, muß man freilich in seinem eignen Auge schon das Maß der
Größe besitzen; und so tritt denn auch dem Leser des Buchs in der Freude
über das Dargestellte zugleich die Persönlichkeit des Darstellers bedeutend und
achtunggebietend entgegen. Von jener Objektivität, die man früher als Ideal
der Geschichtschreibung aufstellte, daß nämlich die Ereignisse sich gewissermaßen
selbst erzählen sollten, ist freilich hier keine Rede; aber jenes Ideal beruht
auch nur auf einer Verwechslung des Epos mit der Geschichte. Wir fühlen
die starke Hand des Führers, der uns auf den steilen Pfad leitet, aber dies
Gefühl gibt uns zugleich Sicherheit, uns der überraschenden Aussicht hinzugeben.
Das Schattenspiel des Dichters bedarf dieser fühlbaren Leitung nicht, der
schöne Schein kommt uns entgegen, wir haben nicht nöthig, vom Platz zu
weichen.
Grade weil die Persönlichkeit so scharf und bedeutend hervortritt, wird das
Buch von den verschiedensten Seiten große Anfechtungen erleiden, es kann
davon bereits erzählen; denn höflich ist der Verfasser nicht; wo er irgend ein
Hinderniß entfernen muß, das sich ver freien Aussicht in den Weg stellt, greift
er mit rauher Hand zu, ja es begegnet ihm zuweilen, daß er mehr Kraft dabei
verwendet, als nöthig wäre, daß er also unnütz verletzt. Die Pädagogen, die
früher daran gewöhnt waren, Cicero als den Gipfel aller schriftstellerischen
Größe zu betrachten, werden außer Fassung gerathen, denn Drumann stellt
ihn doch nur als einen schlechten Politiker dar, Mommsen behauptet, daß er auch
ein schlechter Autor ist. Die Verehrer des römischen Alterthums werden
zürnen, denn Niebuhr stellte es zwar auch als eine Fabel dar, aber er schrieb
doch noch dicke Bände darüber: Mommsen wirft es als etwas völlig Gleich-
giltiges und Nichtssagendes über Bord. Es gibt sast keine Gattung der land¬
üblichen Classicität, die nicht irgendwie verletzt wäre. Noch schlimmer geht es
den Politikern. Die sogenannte konservative Gesinnung wird fortwährend mit
Füßen getreten und wenn auch im strengsten Sinn des Worts nur von der
römischen Geschichte geredet wird, so fühlt der aufmerksame Leser sehr bald
heraus, daß die Principien des Urtheils zu fest stehen, zu leidenschaftlich
empfunden sind, um nicht mit derselben Strenge auch gelegentlich an den neuern
Erscheinungen der gleichen Art geltend gemacht zu werden. Auf der andern Seite
erscheint gegen den Ton, in dem hier vom souveränen Pöbel geredet wird, die
Sprache Coriolanö wie die eines schüchternen Mädchens und wenn diejenige
Classe des Publicums, die durch die Lectüre der Voßschen Zeitung gebildet
ist, sich einen Augenblick darüber freuen sollte, daß der Verfasser der Reaction
und der Anarchie gleichmäßig entgegentritt, so wird sie im nächsten Augenblick
in der Person ihres Vertreters Cicero von zwei Seiten geohrfeigt. Leute, die
jedes Mal, wo man es mit der Kritik ernst nimmt, wo man im zweiten
Satz nicht widerruft, was man im ersten gesagt, über verbitterten Pessimismus
klagen, werden hier reichlich Gelegenheit finden, ihr Gemüth zu verletzen. Aber
der Verfasser hat pas Recht, schonungslos zu verfahren, weil auch die grellste
Farbe bei ihm die Festigkeit der Zeichnung nicht verwirrt, weil er mit zuver¬
lässiger Künstlerhand darstellt, wie in einem großen Ganzen Sinn und Ver¬
stand walten kann, obgleich daS meiste Einzelne Sinn-und geschmacklos aussieht.
Suchen wir uns nun zu versinnlichen, worin die Vorzüge der Darstellung
bestehen, so können wir freilich nur auf einzelnes hindeuten. Zunächst kann
der Verfasser darum gut erzählen, weil ihm das Material in seiner ganzen
- Fülle gegenwärtig ist. Wo er eine Farbe, einen Strich gebraucht, hat er ihn
augenblicklich bei der Hand, er darf ihn nicht erst mühsam suchen. Diese durch
ein eisernes Gedächtniß gestützte universelle Gelehrsamkeit macht es ihm zugleich
möglich, allen gelehrten Prunk zu vermeiden. Er wendet sich mit seiner Dar¬
stellung nicht an den Gelehrten, sondern an den gesunden Menschenverstand.
Es kommt dazu zweitens die allgemeine Bildung, die ihm für jedes einzelne
Factum die Analogie an die Hand gibt und ihm seine begriffliche Auffassung
erleichtert. Die einzelne Erscheinung imponirt ihm nicht, weil er das Gesetz der¬
selben kennt. Er besitzt ferner jenen entschlossenen Verstand, der schnell das
Wesentliche vom Unwesentlichen scheidet, der also niemals vom Detail abhängig
wird, sondern das Detail zu seinen Zwecken benutzt; er besitzt das constructive
Talent, die divinatorische Kraft> aus der Kenntniß des Einzelnen das Bild
eines concreten lebendigen Ganzen zu entwerfen. Er hat in seiner eignen
Seele jene groß angelegte Leidenschaft, ohne die man niemals ein echter Ge¬
schichtschreiber wird, denn mit dem Verstand allein wird man der Gegenstände
nicht Herr. Die äußere Bewegung, die man darstellen will, muß im eignen
Innern lebhaft und stark nachzittern, sonst wird man sie nicht verstehen. Er
hat einen hohen sittlichen Ernst, einen Haß gegen alles Gemeine und Niedrige,
der ihm die richtigen Verhältnisse vermittelt. Er gebietet endlich so weit über
die Sprache, daß sein Stil nur als der adäquate Ausdruck des Gegenstandes
erscheint. Die Lebendigkeit des Stils wird freilich nur dadurch möglich, daß
er niemals auf den Stil selbst achtet, sondern sich nur bemüht, scharf pointirt
die Hauptsache zu sagen. Er verliert sich nicht etwa, wie die Schule von
Schlosser und Gervinus, in Analogien. Die Analogie ist, ihm nur dazu da,
um den Begriff und das Bild festzustellen, zmveilen in einer kurzen, witzigen,
epigrammatischen Wendung; aber sein Witz ruht stets in den Gegenständen, er
macht ihn nicht, er ruft ihn nur hervor.
Besser, als diese analytischen Bemerkungen, wird eine Skizze des Gegen¬
standes selbst dem Leser die Einsicht in dieses Werk erleichtern. Wir können
dabei nur kurz sein und müssen auf eine vollständige Entwicklung des Zu¬
sammenhangs verzichten. Zunächst fassen wir den Grundgedanken des Buchs.
Der erste Band schließt mit der vollständigen Erreichung des Ziels, auf
welches die ursprüngliche Anlage des römischen Staats hingewiesen hatte.
Ganz Italien war der römischen Herrschaft einverleibt und nicht blos durch
äußere Unterwerfung, sondern auch durch patriotische Gesinnung mit der Haupt¬
stadt verbunden. Die auswärtigen Feinde waren niedergeschlagen, Rom hatte
keinen gefährlichen Gegner mehr zu fürchten; die inneren Standesunterschiede
hatten sich ausgeglichen, die Zügel der Regierung waren in den festen Händen
des Senats, der durch seine patriotische Haltung während der punischen Kriege
sich populär gemacht, die demokratischen Formen, die daneben bestanden, waren
praktisch unschädlich. Ein großes heroisches Zeitalter hatte Rom mit dem
Glauben an seine eigne Unbesiegbarkeit genährt und dieser Glaube war die sitt¬
liche Substanz des Staats. — Wie kam es nun, daß dieses glänzende Zeit¬
alter ein so schnelles Ende nahm?
Zunächst waren alle Maximen der bisherigen Regierung darauf berechnet,
daß der römische Staat sich nicht über Italien ausdehnen sollte. Theils die
Nothwendigkeit der äußern Umstände, theils die natürliche Herrschsucht veran¬
laßte die Römer zu Eroberungen über diese Grenze hinaus. Der Aufgabe,
diese Provinzen mit dem Staatsorganismus zu verbinden, war die herrschende '
Aristokratie nicht gewachsen. Alle diese Besitzungen gaben nur einflußreichen
Familien Gelegenheit, sich durch Ausplünderung der Unterworfenen oder durch
leichten Grenzkrieg schnell zu bereichern. Bald wurden dort stehende Heere
erforderlich, die von dem Zusammenhang des römischen Lebens immermehr ge¬
trennt, immermehr an die Person des Feldherrn geknüpft wurden. Die Herr¬
schaft Roms in jenen Gegenden war ein absolutes Unrecht, da sie nicht einmal
im Stande war, ihre eignen Angehörigen gegen Land- und Seeräuber zu
schützen. — Auch die Umwandlung Italiens in einen römischen Staat hatte
nicht völlig durchgeführt werden können. Das staatenbildende Princip des
Alterthums litt an einem wesentlichen Mangel. Das Gemeinwesen war ledig¬
lich die Stadt; was außerhalb derselben lag, nahm an dem politischen Leben
keinen Theil. Je mächtiger die herrschenden Familien in Rom wurden, je
tiefer sanken die italischen Städte in die Reihe der Unterdrückten herab. Der ^
Begriff des Repräsentativstaats, welcher allein im Stande ist, das politische
Leben über ein größeres Reich zu verbreiten, war dem Alterthum fremd und
dieser Mangel hat schließlich den Untergang aller Republiken herbeigeführt.
Die Zustände waren haltbar, solange die Regierung unumschränkt in den Hän¬
den des Senats war; sobald aber der hauptstädtische Pöbel anfing, sich seiner
Macht bewußt zu werden und den rechtlichen demokratischen Formen eine prak¬
tische Anwendung gab, wurde diese ungegliederte Masse ein Spielball in der
Hand dreister Demagogen. Noch ungesunder waren die bürgerlichen Einrich¬
tungen. Der freie Bauernstand war zum großen Theil verschwunden, der
große Grundbesitz war überwiegend in den Händen einzelner Familien, die
ihn als Plantagenbesitzer durch Sklaven anbauen ließen. Das Landproletariat
war noch gefährlicher, als das hauptstädtische. Neben der herrschenden Aristo¬
kratie des Senats hatte sich ein zweiter Stand gebildet, die Capitalisten, die
aller patriotischen Gesinnung bar, die Staatsverfassung lediglich zu ihren Specu-
lationen ausbeuteten. Sie gingen mit dem Senat Hand in Hand, so¬
lange dieser ihren Zwecken diente, waren aber schnell bereit, sich der
Opposition anzuschließen, sobald ihnen eine Förderung ihrer Interessen ver¬
heißen wurde. — Die bürgerlichen Zustände konnten nur gebessert werden
durch eine ins Große ausgeführte Kolonisation^ wodurch daS Proletariat
wieder in einen arbeitsamen Bauernstand verwandelt wurde, theils durch eine
Ausdehnung des Bürgerrechts über Italien. Das erste mußte an dem Wider¬
stand jener großen Plantagenbesitzer scheitern, die den formalen Rechtsanspruch
des Staats auf ihre durch langen Besitzstand aus Domänen in Privateigen-
thum verwandelten Güter nicht zugeben konnten, das zweite an dem Widerstand
des hauptstädtischen Pöbels, der einer so ausgedehnten Concurrenz nicht günstig
,sein konnte, da man eben an eine Organisation des Bürgerrechts durch Ver¬
tretung nicht dachte. Jede Reform in diesem Sinn mußte zuletzt zu Gewalt¬
maßregeln führen. Darum waren selbst wohlgesinnte Patioten, wie Scipio
Aemilianus, ihr, abhold. Als aber in den Kriegen, die unmittelbar auf die
punischen folgten, die Unfähigkeit und Selbstsucht der herrschenden Classe die
bisherige Achtung untergraben hatte, mußte der Versuch dennoch gemacht wer¬
den. Er ging zunächst von einem conservativen Staatsmann, von Tiberius
Gracchus aus.
Die Austheilung der Domänen konnte durchgeführt werden ohne eine
Aenderung der bestehenden Auffassung. Es war eine ernste Verwaltungsfrage,
bei der, wie man auch entschied, schwere Uebelstände sich herausstellten. Zwar
das Eigenthum ward nicht verletzt. Anerkanntermaßen war der Staat Eigen¬
thümer des vccupirten Landes, und gegen ihn lief nach römischem Landrecht
die Verjährung nicht; aber der Jurist mochte sagen was er wollte, dem Ge¬
schäftsmann erschien die Maßregel als eine Expropriation der großen Grund¬
besitzer zum Besten des Proletariats. Noch gefährlicher war der Weg, den
Gracchus einschlug. Wer gegen den Senat eine VerwaltungSmaßregel durch¬
setzte, der machte Revolution. Es war Revolution gegen den Geist der Ver¬
fassung, als Gracchus die Domänenfrage vor das Volk brachte. Die souve¬
räne Volksversammlung war eine Masse, in welcher unter dem Namen der
Bürgerschaft ein paar hundert oder tausend von den Gassen der Hauptstadt
zufällig aufgegriffene Individuen handelten und stimmten. „Wenn man diesen
Massen den Eingriff in die Verwaltung gestaltete und dem Senat das Werk¬
zeug zur Verhütung.solchen Eingriffs (die tribuuicische Jntercessivn) aus den
Händen wand, wenn man gar diese Bürgerschaft aus dem gemeinen Seckel
sich selbst Aecker sammt Zubehör decretiren ließ, wenn man einem jeden, dem
die Verhältnisse und sein Einfluß beim Proletariat es möglich machten, die
Gassen auf einige Stunden zu beherrschen, die Möglichkeit eröffnete, seinen
Projecten den legalen Stempel des souveränen Volkswillens aufzudrücken, so
war man nicht am Anfang, sondern am Ende der Volksfreiheit, nicht bei der
Demokratie angelangt, sondern bei der Monarchie." — Entschlossener und be¬
wußter auf dem Wege der Revolution schritt der jüngere Bruder fort. Er
brachte außer dem hauptstädtischen Proletariat durch die neue Geschwornen¬
ordnung den zweiten Stand, durch die Ausdehnung des Bürgerrechts die
Bundesgenossen aus seine Seite, und hatte dadurch für eine Zeitlang die
souveräne Gewalt in seiner Hand. Wenn er mit seinen Plänen endlich
scheiterte, so lag das nur an der unvollständigen Organisation seiner Werkzeuge,
die durch anderweitige Interessen und Leidenschaften leicht umgestimmt werden
konnten. „Er war ein politischer Brandstifter; nicht blos die hundertjährige
Revolution, die von ihm datirt, ist sein Werk, sondern vor allem ist er der
wahre Stifter jenes entsetzlichen Proletariats, das mit seiner Fratze von Volks-
souveränetät ein halbes Jahrtausend hindurch wie ein Alp auf dem römischen
Gemeinwesen lastete. Und doch dieser größte der politischen Verbrecher ist auch
wieder der Regulator seines Landes. Es ist kaum ein constructiver Gedanke
in der römischen Monarchie, der nicht zurückreichte bis auf Cajus Grac-
chus .... Es sind in diesem seltenen Mann Recht und Schuld, Glück und
Unglück so ineinander verschlungen, daß es hier sich wol ziemen mag, was
der Geschichte nur selten ziemt, mit dem Urtheil zu verstummen."
Die demokratische Bewegung wurde vollständig niedergeschlagen, die wieder¬
hergestellte Aristokratie entwickelte nun alle die Unwürdigkeiten, hie in der
frühern einfachen Negierung nicht ans Tageslicht gekommen waren. Die
Familienpolitik wurde das herrschende Motiv der Verwaltung, dem echten
Aristokraten ward jeder Frevel verziehen, die Regierenden und die Regierten
glichen nur darin nicht zwei kriegführenden Parteien, daß in ihrem Krieg
kein Völkerrecht galt. „Die Aristokratie saß auf dem erledigten Thron mit
bösem Gewissen und getheilten Hoffnungen, den Institutionen des eignen
Staats grollend und doch unfähig, auch nur planmäßig sie anzugreifen, un¬
sicher im Thun Und im Lassen, außer wo der eigne materielle Vortheil sprach,
ein Bild der Treulosigkeit gegen die eigne wie die entgegengesetzte Partei,.des
innern Widerspruchs, der kläglichsten Ohnmacht, des gemeinsten Eigennutzes,
ein unübertroffenes Ideal der Mißrcgierung."
Die Demokratie hatte ihre Führer und den Glauben an ihre Kraft ver¬
loren; aber die Unzufriedenheit war nicht nur geblieben, sie wuchs über der
schlechten Verwaltung immer mehr, und es kam darauf an, ob sie unter den
militärischen Kapacitäten einen Führer zu gewinnen wußte; denn seitdem in
den gracchischen Unruhen die Gewalt entschieden hatte, mußte man einsehen,
daß den Waffen die letzte Entscheidung über Rom zustand. Sie sand ihren
Mann in dem Sieger der Cimbern und Teutonen, dem gefeiertsten Helden des
Vaterlandes, der sich eigentlich um die Parteiungen gar nicht kümmerte, den
aber der Unverstand der Aristokratie an der empfindlichsten Stelle verletzt hatte.
„Er paßte nicht in den glänzenden Kreis. Seine Stimme blieb rauh und laut,
sein Blick wild, als sähe er noch Libyer oder Kimbrer vor sich und nicht wohl¬
erzogene und parfümirte Collegen. Daß er abergläubisch war wie ein echter
Lanzknecht, daß er zur Bewerbung um sein erstes Consulat sich nicht durch den
Drang seiner Talente, sondern zunächst durch die Aussagen eines etruskischen
EingeweidebeschauerS bestimmen ließ, und bei dem Feldzug gegen die Teutonen
eine syrische Prophetin Martha mit ihren Orakeln dem Kriegsrath aushalf,
war nicht eigentlich unaristokratisch; in solchen Dingen begegneten sich damals
wie zu allen Zeiten die höchsten und die niedrigsten Schichten der Gesellschaft.
Allein unverzeihlich war der Mangel an politischer Bildung; es war zwar
löblich, daß er die Barbaren zu schlagen verstand, aber was sollte man denken
von einem Triumphator, der vou der vorschriftsmäßigen Etikette so wenig
wußte, um im Triumphalcostüm im Senat zu erscheinen! Auch sonst hing die
Rotüre ihm an. Er war nicht blos — nach aristokratischer Terminologie —
ein armer Mann, sondern was schlimmer war, genügsam und ein abgesagter
Feind aller Bestechung und Durchsteckerei. Er verstand keine Feste zu geben
und hielt einen schlechten Koch; nach Soldatenart war er nicht wählerisch,
aber becherte gern, besonders in spätern Jahren. Ebenso übel war es, daß
der Consular nur lateinisch verstand und die griechische Conversation sich ver¬
bitten mußte; es konnte niemand etwas dagegen haben, daß er bei den griechi¬
schen Schauspielen sich langweilte — er war vermuthlich nicht der einzige —
aber daß er sich zu seiner Langeweile bekannte, war naiv. So blieb er Zeit
seines Lebens ein unter die Aristokraten verschlagener Bauersmann und geplagt
von den empfindlichen Stichelworten und dem empfindlicheren Mitleiden seiner
Kollegen, das wie diese selbst zu'verachten er denn doch nicht über sich ver¬
mochte." — Und in die Hände dieses Mannes war eine furchtbare Macht ge¬
legt. „Er hieß der Menge der dritte Romulus und der zweite Camillus; gleich
den Göttern wurden ihm Trankopfer gespendet. Es war kein Wunder, wenn
dem Bauernsohn der Kopf mitunter schwindelte von all der Herrlichkeit, wenn
er seinen Zug von Afrika ins Keltenland den Siegesfahrten des Dionysos
von Erdtheil zu Erdtheil verglich und einen Becher — keinen von den klein¬
sten — nach dem Muster des bacchischen für seinen Gebrauch sich fertigen ließ.
Es war ebensoviel Hoffnung wie Dankbarkeit in dieser taumelnden Begeisterung
des Volkes, die einen Mann von kälterem Blut und gereifterer politischer Er¬
fahrung zu irren vermocht hätte." Marius ließ sich in der That verführen,
eine Rolle zu spielen, der er nicht gewachsen war. Das Unternehmen machte
einen schmählichen Bankrott, aber es war von neuem Blut geflossen, eS han¬
delte sich jetzt nur noch darum, daß die einzig reale Gewalt, das Militär, in
die Hände eines entschlossenen Charakters kam. In Sulla fand die Stadt
ihren Herrn. Als er an der Spitze eines Heeres stand, fand in Rom noch
einmal eine demokratische Ueberrumpelung statt, man entzog Sulla den ihm ge¬
setzmäßig übertragenen Oberbefehl im mithridatischen Kriege und übergab ihn
dem Marius. „Sulla war weder gutmüthig genug, um freiwillig einem solchen
Befehl Folge zu leisten, noch abhängig genug, um es zu müssen. Sein Heer
war theils durch die Folgen der von Marius herrührenden Umgestaltungen
des Heerwesens, theils durch die von Sulla gehandhabte, sittlich lockere und
militärisch strenge Disciplin, wenig mehr als eine ihrem Führer unbedingt er¬
gebene und in politischen Dingen indifferente Lanzknechtschar. Sulla selbst
war ein blasirter, kalter und klarer Kopf, dem die souveräne römische Bürger¬
schaft ein Pöbelhausen war, der Held von Aauä Sertiä ein bankrotter
Schwindler, die formelle Legalität eine Phrase, Rom selbst eine Stadt ohne
Besatzung und mit halb verfallenen Mauern, die viel leichter erobert werden
konnte als Nola. In diesem Sinne handelte er." — Rom sah ein siegreiches
Heer in seiner Stadt, die demokratische Bewegung wurde niedergeschlagen, die
Anführer geächtet, aber Sulla war zu phlegmatisch, um weiter auf die Sache
einzugehen; er'zog mit seiner Armee in den Krieg, und eine neue Revolution
mit dem bekannten marianischen Schreckensregiment war die Folge davon. „Jn^
Zeiten, wie diese sind, wird der Wahnsinn selbst eine Macht; man stürzt sich
in den Abgrund, um vor dem Schwindel sich^zu retten.... Dem Urheber
dieses Terrorismus, dem alten Gajus Marius chatte also das Verhängniß seine
beiden höchsten Wünsche gewährt. Er hatte Rache genommen an all dieser vor¬
nehmen Meute, die ihm seine Siege vergällt, seine Niederlagen vergiftet hatte;
er hatte jeden Nadelstich mit einem Dolchstich vergelten können. Er trat ferner
das neue Jahr noch einmal an als Consul; das Traumbild des siebenten Con-
sulats, das der Orakelspruch ihm zugesichert^ nach dem er seit dreizehn Jahren
gegriffen hatte, war nun wirklich geworden. Was er wünschte, hatten die
Götter ihm gewährt; aber auch jetzt noüy' wie in der alten Sagenzeit übten
sie die verhängnißvolle Ironie, den Menschen durch die Erfüllung seiner Wünsche
zu verderben. In seinen ersten Consulaten der Stolz, im sechsten das Gespött seiner
Mitbürger, stand er jetzt im siebenten belastet mit dem Fluche aller Parteien, mit dem
Haß der ganzen Nation; er, der von Haus aus rechtliche, tüchtige, kernbrave Mann,
gebrandmarkt als das wahnwitzige Oberhaupt einer ruchlosen Räuberbande. Er
selbst schien es zu fühlen. Wie im Taumel vergingen ihm die Tage und des. Nachts
versagte ihm seine Lagerstatt die Ruhe, so daß er zum Becher griff, um nur
sich zu betäuben. Ein hitziges Fieber ergriff ihn; nach siebentägigen Kranken¬
lager , in dessen wilden Phantasien er auf den kleinastatischen Gefilden die
Schlachten schlug, deren Lorbeer Sulla bestimmt war, am -13. Januar 668
war er eine Leiche." — Der Taumel dieses Revolutionsfiebers konnte nicht
lange dauern. Das natürliche Ende desselben war die Militärdiktatur, auf
welche die Entwicklung der Geschichte seit lange hindrängte. Sie trat unter
entsetzlichen Formen ein, denn der neue Dictator war der würdige Sohn einer
verworfenen Zeit, kalt und herzlos und aller sittlichen Ueberzeugungen entkleidet.
Aber sie führte noch nicht zur Monarchie, sondern zu einer scheinbaren Wiederher¬
stellung der alten aristokratischen Verfassung, denn Sulla hatte keinen Ehrgeiz
im größern Stil.
„Sulla ist eine von den wunderbarsten, man darf vielleicht sagen, eine
einzige Erscheinung in der Geschichte. Physisch und psychisch ein Sanguiniker,
blauäugig, blond, von auffallend weißer, aber bei jeder leidenschaftlichen Be¬
wegung sich röthenden Gesichtsfarbe, übrigens ein schöner, feurig blickender
Mann, begehrte er vom Leben nichts, als heitern Genuß. Ausgewachsen in
dem Raffinement des gebildeten Lurus, wie er in jener Zeit auch in den min¬
der reichen senatorischen Familien Roms einheimisch war, bemächtigte er rasch
und behend sich der ganzen Fülle sinnlich geistiger Genüsse, welche die Verbin¬
dung hellenischer Feinheit und römischen Reichthums zu gewähren vermochten.
Im adligen Salon und unter dem Lagerzelt war er gleich willkommen als ange¬
nehmer Gesellschafter und guter Kamerad; vornehme und geringe Bekannte fanden
in ihm den theilnehmenden Freund und den bereitwilligen Helfer in der Noth,
der sein Gold weit lieber seinen bedrängten Genossen, als seinem reichen Gläu¬
biger gönnte. Leidenschaftlich huldigte er dem Becher, noch leidenschaftlicher den
Frauen; selbst in seinen spätern Jahren war er nicht mehr Regent, wenn er
nach vollbrachtem Tagesgeschäft sich zu Tafel setzte. Ein Zug der Ironie,
man könnte vielleicht sagen, der Bonffonerie, geht durch seine ganze Natur.
Noch als Regent befahl er, während er die Versteigerung der Güter der Ge¬
ächteten leitete, für ein ihm überreichtes schlechtes Gedicht zu seinem Preise
dem Versasser eine Verehrung aus der Beute zu verabreichen, unter der Be¬
dingung, daß er gelobe, ihn niemals wieder zu besingen. Als er vor der
Bürgerschaft Ofellas Hinrichtung rechtfertigte, geschah es, indem er den Leuten
eine Fabel erzählte von dem Ackersmann und den Läusen. Es ist bezeichnend,
daß er seine Gesellen gern unter den Schauspielern sich auswählte und eS
liebte, nicht blos mit Quintus Roscius, dem römischen Talma, sondern auch
mit viel geringeren Bühnenleuten beim Weine zu sitzen, wie er denn auch nicht
schlecht sang und sogar zur Aufführung für seinen Zirkel selbst Possen
schrieb.^ Doch ging in diesen lustigen Bacchanalien ihm weder die körper¬
liche noch die geistige Spannkraft verloren; noch in der ländlichen Muße seiner
letzten Jahre lag er eifrig der Jagd ob und daß er aus dem eroberten Athen
die aristotelischen Schriften nach Rom brachte, beweist doch wol für sein Inter¬
esse auch an ernsterer Lectüre. Das specifische Römerthum stieß ihn eher ab.
Von der plumpen Morgue, die die römischen Großen gegenüber den Griechen
zu entwickeln liebten und von der Feierlichkeit beschränkter großer Männer hatte
Sulla nichts, vielmehr ließ er gern sich gehen und machte sich nichts daraus,
zum Skandal mancher seiner Landsleute in griechischen Städten in griechischer
Tracht zu erscheinen oder auch seine Freunde zu veranlassen, bei den Spielen
selbst die Rennwagen zu lenken. Noch weniger war ihm von den halb patrio¬
tischen, halb egoistischen Hoffnungen geblieben, die in Ländern freier Verfassung
jede jugendliche Kapacität auf den politischen Tummelplatz locken; in einem
Leben, wie das seine war, schwankend zwischen leidenschaftlichem Taumel und
mehr als nüchternem Erwachen, verzetteln sich rasch die Illusionen. Wünschen
und Streben mochte ihm eine Thorheit erscheinen in einer Welt, die doch un¬
bedingt vom Zufall regiert ward und wo, wenn überhaupt auf etwas, man
ja doch aus nichts spannen konnte, als auf diesen Zufall. Dem allgemeinen
Zuge der Zeit, zugleich dem Unglauben und dem Aberglauben sich zu ergeben,
folgte auch er. Seine wunderliche Gläubigkeit ist nichts, als der gewöhnliche
Glaube an das Absurde, der bei jedem von dem Vertrauen auf eine zusammen¬
hängende Ordnung der Dinge durch und durch zurückgekommenen Menschen
sich einstellt. Sein Glaube ist nicht der plebejische Köhlerglaube des Mcirius,
der von dem Pfaffen sür Geld sich wahrsagen und seine Handlungen durch ihn
bestimmen läßt, noch weniger der finstere Verhängnißglaube deS Fanatikers,
sondern der Aberglaube des glücklichen Spielers, der sich vom Schicksal privi-
legirt erachtet, jedes Mal und überall die rechte Nummer zu werfen. In
praktischen Fragen verstand Sulla sehr wohl, mit den Anforderungen der Reli¬
gion ironisch sich abzufinden. Als er die Schatzkammern der griechischen Tempel
leerte, äußerte er, daß es demjenigen nimmer fehlen könne, dem die Götter
selbst die Kasse füllten. Als die delphischen Priester ihm sagen ließen, daß sie
sich scheuten, die verlangten Schätze zu senden, da die Zither des Gottes hell
geklungen, als man sie berührt, ließ er ihnen zurücksagen, daß man sie nun
um so mehr schicken möge, denn offenbar stimme der Gott seinem Vorhaben
zu. Aber darum wiegte er nicht weniger gern sich in dem Gedanken, der aus¬
erwählte Liebling der Götter zu sein, vor allem jener, der er bis in seine späten
Jahre vor allen den Preis gab, der Aphrodite. In seinen Unterhaltungen wie
in seiner Selbstbiographie rühmte er sich vielfach des Verkehrs, den in Trau¬
men und Anzeichen die Unsterblichen mit ihm gepflogen. Er hatte wie wenig
andere ein Recht, aus seine Thaten stolz zu sein; er war es nicht, wol aber
stolz auf sein einzig treues Glück. Er pflegte wol zu sagen, daß jedes improvistrte
Beginnen ihm besser angeschlagen sei, als das planmäßig angelegte und eine seiner
wunderlichsten Marotten, die Zahl der in den Schlachten auf seiner Seite gefallenen
Leute regelmäßig als Null anzugeben, ist doch auch nichts, als die Kinderei eines
Glückskindes. Es war nur der Ausdruck der ihm natürlichen Stimmung, als er aus
dem Gipfel seiner Laufbahn angelangt und all seine Zeitgenossen in schwindelnder
Tiefe unter sich sehend, die Bezeichnung des Glücklichen, Sulla I^eUx, als
förmlichen Beinamen annahm und auch seinen Kindern entsprechende Benen¬
nungen beilegte.....Eine halb ironische Leichtfertigkeit geht durch sein
ganzes politisches Thun. Es ist immer, als sei dem Sieger, eben wie es ihm
gefiel, sein Verdienst um den Sieg Glück zu schelten, auch der Sieg selbst
nichts werth; als habe er eine halbe Empfindung von der Nichtigkeit und
Vergänglichkeit des eignen Werkes und behandle die Reorganisation des Staates
nicht wie der Hausherr, der sein zerrüttetes Gewese und Gesinde in Ordnung
bringt, sondern wie der zeitweilige Geschäftsführer, dem am Ende auch die
leidliche Uebertünchung der Schäden genügt. Wenn Mangel an politischem
Egoismus ein Lob ist, so verdient es Sulla, neben Washington genannt zu
werden; aber eS ist doch ein Unterschied, ob man aus Bürgersinn nicht herr¬
schen mag oder aus Blastrtheit das Scepter wegwirft."
Die sogenannte sultanische Verfassung trug den Stempel ihres Ursprungs
an sich. Unter dem Anschein der historisch aristokratischen Formen war sie nur
ein organisirtes Raub- und Plünderungssystem und verhielt sich zu der alten
Verfassung ungefähr wie der neue Augurendienst zur alten Religion. Sie
half keinem der organischen Schäden des Staats ab, sie gab nach außen keine
5/"?' , römische Publicum, der ewigen Unruhen müde, ließ sich auch die
Proskription gefallen, um nur eine einigermaßen haltbare Autorität über sich
zu empfinden. Diese Autorität ruhte aber lediglich in Sullas Persönlichkeit;
nach seinem Tod fiel alles auseinander, die herrschende Classe war unfähiger
als je, die alten sullanischen Klopffechter trieben mit ihren Scharen offenen
Unfug in der Hauptstadt, die Piraten verwüsteten ungestraft alle Küsten, die
auswärtigen Feinde machten immer weitere Fortschritte. Es war eine demo¬
kratische Bewegung, die wiederum einen glücklichen General, Pompejus, gegen
die Bestimmungen der sullanischen Verfassung mit einer unerhörten Machtvoll¬
kommenheit bekleidete, und als er nach einer Reihe stegreicher Feldzüge zurück¬
kehrte, trat er nicht, wie man vermuthete, als Führer der konservativen Partei
auf, ebensowenig wagte er mit Hilfe der Armee die Alleinherrschaft an sich zu
reißen; er verband sich vielmehr mit den Führern der Volkspartei, und so
entstand jenes erste Triumvirat, bei dem das Ende, die militärische Monarchie
nicht mehr zweifelhaft sein konnte, sondern nur zweifelhaft, welchem von den
Prätendenten sie zufallen würde. Unter diesen Umständen erlebte die alte ver¬
rottete Aristokratie einen schönen Nachsommer. Sie war jetzt die Opposition,
die Vertreterin des alten Rechts, sie wurde populär; aber der Macht der Er¬
eignisse konnte sie keinen dauernden Widerstand leisten, und es war ein Glück
für Rom, daß der würdigste unter den Prätendenten auch der entschlossenste
war, und daß mit dem Verlust der Freiheit die Herstellung des Staats erkauft
wurde. — Aus der Charakteristik, die Mommsen von seinem Lieblingshelden
gibt, wollen wir wenigstens einiges hervorheben.
„Auch Cäsar hatte von dem Becher des Modelebens den Schaum wie die
Hefen gekostet, hatte recitirt und declamirt, auf dem Faulbett Literatur ge¬
trieben und Verse gemacht, Liebeshandel jeder Gattung abgespielt und sich ein¬
weihen lassen in alle Nasir-, Frisir- und Manschettenmysterien der damaligen
Toilettenweisheit, so wie in die noch weit geheimnißvollere Kunst immer zu
borgen und nie zu bezahlen. Aber der biegsame Stahl dieser Natur wider¬
stand selbst diesem zerfahrenen und windigen Treiben; Cäsar blieb sowol die
körperliche Frische ungeschwächt wie die Spannkraft des Geistes und des Herzens.
Im Fechten und Reiten nahm er es mit jedem seiner Soldaten auf und sein
Schwimmen rettete ihm bei Älerandria das Leben; die unglaubliche Schnellig¬
keit seiner gewöhnlich des Zeitgewinns halber nächtlichen Reisen — daS rechte
Gegenstück zu der processionöartigen Langsamkeit, mit der Pompeiuö sich von
einem Ort zum andern, bewegte, — war das Erstaunen seiner Zeitgenossen
und nicht die letzte Ursache seiner Erfolge. Wie der Körper war der Geist.
Sein bewundernswürdiges Anschauungsvermögen offenbarte sich in der Sicher¬
heit und Ausführbarkeit all seiner Anordnungen, selbst wo er befahl, ohne Mit
eignen Augen zu sehen. Sein Gedächtniß war unvergleichlich und es war
ihm geläufig, mehre Geschäfte mit gleicher Präcision nebeneinander zu be¬
treiben. Obgleich Gentleman, Genie und Monarch, hatte er dennoch ein
Herz.....Wenn in einer so harmonisch organisirten Natur überhaupt eine
einzelne Seite als charakteristisch hervorgehoben werden kann, so ist eS die,
daß alles Ideale und alles Phantastische ihm fern lag. Es versteht sich von
selbst, daß Cäsar ein leidenschaftlicher Mann war, denn ohne Leidenschaft gibt,
es keine Genialität; aber seine Leidenschaft war niemals mächtiger als er. Er
hatte eine Jugend gehabt und auch in sein Gemüth waren Lieder, Liebe und
Wein im lebendigen Leben eingezogen; aber sie drangen ihm doch nicht bis
in den innerlichsten Kern seines Wesens. Die Literatur beschäftigte ihn lange
und ernstlich; aber wenn Alexander der homerische Achill nicht schlafen ließ,
so stellte Cäsar in seinen schlaflosen Stunden Betrachtungen über die Beu¬
gungen der lateinischen Haupt- und Zeitwörter an. Er machte Verse wie
damals jeder, aber sie waren schwach; dagegen interessirten ihn astronomische
und naturwissenschaftliche Gegenstände. Wenn der Wein sür Alerander der
Sorgenbrecher war und blieb, so mied nach durchschwärmter Jugendzeit der
nüchterne Römer denselben durchaus. Wie allen denen, die in der Jugend der
volle Glanz der Frauenliebe umstrahlt hat, blieb ein Schimmer davon unvergäng-
ich auf ihm ruhen: noch in späteren Jahren begegneten ihm Liebesabenteuer und
Erfolge bei Frauen und blieb ihm eine gewisse Stutzerhaftigkeit im äußeren Auftreten
oder richtiger ein erfreuliches Bewußtsein der eignen männlich schönen Erscheinung.
Sorgfältig deckte er mit dem Lorbeerkranz, mit ven er in späteren Jahren
öffentlich erschien, die schmerzlich empfundene Glatze und hätte ohne Zweifel
manchen seiner Siege darum gegeben, wenn er damit die jugendlichen Locken
hätte zurückkaufen können. Aber wie gern er auch noch als Monarch mit den
Frauen verkehrte, so hat er doch nur mit ihnen gespielt und ihnen keinerlei
Einfluß über sich eingeräumt; selbst sein vielbesprochenes Verhältniß zu der
Königin Kleopatra war nur ausgesponnen, um einen schwachen Punkt in sei¬
ner politischen Stellung zu maskiren. Cäsar war durchaus Realist und Ver¬
standesmensch, und was er angriff und that, war von der genialen Nüchtern¬
heit durchdrungen und getragen, die seine innerste Eigenthümlichkeit bezeichnet.
Ihr verdankte er das Vermögen, unbeirrt durch Erinnern oder Erwarten ener¬
gisch im Augenblick zu leben; ihr die Fähigkeit, in jedem Augenblick mit con-
centrirter Kraft zu handeln und auch t em kleinsten und beiläufigsten Beginnen
seine volle Genialität zuzuwenden; ihr die Vielseitigkeit, mit der er erfaßte
und beherrschte, was der Verstand begreifen und der Wille erzwingen kann;
ihr die sichere Leichtigkeit, mit der er seine Perioden fügte, wie seine Feld¬
zugspläne entwarf; ihr die „wunderbare Heiterkeit", die in guten und bösen
Tagen ihm treu blieb; ihr die vollendete Selbstständigkeit, die keinem Lieb¬
ling und keiner Mätresse, ja nicht einmal dem Freunde Gewalt über sich
gestattete. Aus dieser Verstandesklarheit rührt es aber auch her, daß
Cäsar sich über die Macht des Schicksals und das Können des Menschen nie¬
mals Illusionen machte; sür ihn war der holde Schleier gehoben, der dem
Menschen die Unzulänglichkeit seines Wirkens verdeckte. — Wie klug er auch
Plante und alle Möglichkeiten bedachte, das Gefühl wich doch nie aus seiner
Brust, daß in allen Dingen das Glück, das heißt der Zufall, das gute Beste
thun müsse; und damit mag es denn auch zusammenhängen, daß er so oft
dem Schicksal Paroli geboten und namentlich mit verwegener Gleichgiltigkeit
seine Person wieder und wieder auf, das Spiel gesetzt hat. Wie ja wol über¬
wiegend verständige Menschen in das reine Hazardspiel sich flüchten, so war
auch in Cäsars Rationalismus ein Punkt, wo er mit dem Mysticismus ge¬
wissermaßen sich berührte. — Aus einer solchen Anlage konnte mir ein Staats¬
mann hervorgehen. Von früher Jugend an war denn auch Cäsar ein Staats-
manu im tiefsten Sinn des Wortes und sein Ziel das höchste, das dem Menschen
gestattet ist, sich zu stecken: die politische, militärische, geistige und sittliche
Wiedergeburt der tiefgesunkenen eignen und der noch tiefer gesunkenen, mit der
seinigen innig verschwisterten hellenischen Nation. Die bittere Schule dreißig¬
jähriger Erfahrungen änderte seine Ansichten über die Mittel, wie dies Ziel
zu erreichen sei; das Ziel blieb ihm dasselbe in den Zeiten hoffnungsloser Er¬
niedrigung wie unbegrenzter Machtvollkommenheit, in den Zeiten, wo er als
Demagog und Verfchworner auf dunklen Wegen zu ihm hinschlich, wie er da
als Mitinhaber der höchsten Gewalt und sodann als Monarch vor den Augen
einer Welt im vollen Sonnenschein an seinem Werke schuf. Alle zu den ver¬
schiedensten Zeiten von ihm ausgegangene Maßregeln bleibender Art ordnen in
den großen Bauplan zweckmäßig sich ein." —
Wir brechen hier ab, weil wir unsern Raum bereits überschritten haben.
Wir haben die Porträts von Gracchus, Marius, Sulla und Cäsar
hervorgehoben, weil sie am meisten in den Zusammenhang der Geschichte ein¬
greifen; doch sind die übrigen Bilder, z. B. von Jugurtha, Mithridat, Ver-
cingetorir mit gleich kühner und sicherer Plastik entworfen. — Die Darstellung
der Literatur verräth in jedem Zug den tiefen Kenner, wenn sie auch freilich
mehr für diejenigen geschrieben ist, die schon mit ihr vertraut sind, als diejeni¬
gen, die erst in sie eingeführt werden wollen. So ist im dritten Band na¬
mentlich die Zeichnung von Terentius Varro ein Meisterstück. Trotzdem wird
grabe dieser dritte Band die lebhafteste Opposition hervorrufen, vor allem
wegen der Auffassung des Cicero. Die Zeit ist uns noch in Erinnerung, wo
Drumanns römische Geschichte wegen ähnlicher Ansichten bei der Mehrzahl der
Philologen einen sehr lebhaften Unwillen hervorrief. Zwar ist seit der Zeit
unsre Bildung eine freiere geworden, wir sind über die Befangenheit des
Schulurtheils hinausgetreten, dafür ist aber auch Mommsen in der Verurtei¬
lung des berühmten Redners viel weiter gegangen, als sein Vorgänger, und
dies gibt uns Gelegenheit, zu den einzelnen Bedenken überzugehen, die wir
gegen manche Punkte des Buchs auszusprechen haben. Wir können das um
so unbefangener thun, da sie sich lediglich auf die Form beziehen, und da dem
Verfasser in hoffentlich nicht zu langer Zeit Gelegenheit gegeben sein wird,
sein Werk noch einmal sorgfältig zu prüfen. So heftig man von ver¬
schiedenen Seiten das Buch angreifen wird, so kann es doch niemand
ignoriren, und der unerhört billige Preis, so wie seine Stellung innerhalb einer
Reihe populärer und einem dringenden Bedürfniß deS Publicums ent¬
sprechender Werke lassen das baldige Erscheinen einer neuen Auflage voraus¬
sehen.
Unsre Bedenken beruhen vorzugsweise auf der Subjectivität der Darstel¬
lung, in der freilich zum Theil der Reiz des Buchs liegt, die aber zuweilen
über die Grenze des Erlaubten hinausgeht. In Beziehung auf das Factische
unterscheidet Mommsen nicht immer genau zwischen Evidenz und Wahrschein¬
lichkeit. Er ist höchst geistvoll im Combiniren und entdeckt rasch den Kern der
Dinge, die Resultate seines Nachdenkens haben sast immer den höchsten Grad
von Wahrscheinlichkeit; aber das berechtigt ihn doch noch nicht, seine Ver¬
muthungen so hinzustellen, als ob damit die Acten geschlossen wären. So ist
z. B. das Gewebe der catilinarischen Verschwörung sehr interessant ent¬
wickelt, aber die Begründung ist doch nicht fest genug, um alles Einzelne
außer Zweifel zu stellen. So ist ferner die Färbung zu stark, wenn dem
Gajus Gracchus ein bewußtes Streben nach der Tyrannis beigelegt wird.
Wenn Mommsen mit logischer Nothwendigkeit einsieht, daß die Mittel dieser
Volksbewegung schließlich zur Tyrannis führen mußten, und wenn er dem
Gracchus zu viel Einsicht zutraut, um das nicht gleichfalls zu begreifen, so ist
es doch ein großer Unterschied, ob man die Sache an sich, oder die Sache mit
dem Namen erstrebt. Der größte Denker, der entschlossenste Charakter ist nicht
im Stande, sich die Folgen seiner That bis in ihre letzten Verzweigungen aus¬
zumalen. Ein Schritt führt den andern herbei, und grade das nachtwandle¬
risch schaffende Genie wird zuweilen durch seine eignen Consequenzen am meisten
überrascht. Das Streben nach dem Königthum war ein Capitalverbrechen.
Wenn Gracchus die Macht wollte, so ist doch kein Grund, anzunehmen, daß
er auch den Titel wollte, und der Geschichtschreiber muß darin dem Geschwor¬
nen gleichen; er darf nur die That an sich ins Auge fassen, nicht ihre Folgen,
wie sie sich in seinem eignen Geist abmalen. Wenn Gracchus jenes juristisch
umschriebenen Verbrechens angeklagt wäre, so müßte Mommsen als Geschwor¬
ner ihn frei sprechen: er darf'auch als Historiker kein anderes Urtheil fällen.
Die Verurteilung des Sokrates bleibt ein Justizmord, obgleich die moderne
Philosophie nachgewiesen hat, daß der Anklage eine tiefere Begründung nicht
fehlte — Diese Vermischung von Evidenz und Wahrscheinlichkeit wird um so
gefährlicher, da Mommsen sich gern auf psychologische Entwicklungen einläßt.
Mit unglaublicher Schnelligkeit erkennt er den Kern eines Charakters; aber
dann begeht er den Fehler, aus diesem heraus alle einzelnen Handlungen her¬
zuleiten. Wenn auch diese Schlüsse den höchsten Grad von Wahrscheinlichkeit
enthalten, so ist der Historiker doch nicht berechtigt, gleich dem Romanschreiber
auch das zu erzählen, was er nicht weiß. Wir machen z. B. auf die Ge¬
schichte des Cäsar und Pompejus aufmerksam. Den innern Kern beider Männer
hat Mommsen vollkommen richtig dargestellt; aber nun versäumt er auch nie¬
mals, bei jedem einzelnen Factum die Handlungsweise des Pompejus aus
"Adrigen und lächerlichen, die Handlungsweise des Cäsar aus weisen und
hohen Motiven herzuleiten, auch wenn beide genau dasselbe thun. Wenn
Cäsar einen Fehler macht, so ist das nur ein Symptom des Genies, welches
sich über die gegebenen Regeln hinwegsetzt; bei Pompejus dagegen ist' es
regelmäßig ein Zeichen vollkommener Unfähigkeit. Es liegt das weniger in
dem, was Mommsen sagt, als in dem Ton, in welchem er es sagt, und bei
einer sorgfältigern Durchsicht wird eS ihm wol gelingen, in den Fällen, wo
kein Urtheil nöthig ist, das Urtheil zurückzuhalten. — Mommsen huldigt in
einem seltenen Grade dem sogenannten Cultus des Genius. Gegen die Schwäche
hat er keine Nachsicht; wo ihm aber eine starke und entschlossene Natur ent¬
gegentritt, sieht er gern über Regel und Gesetz hinweg, und das fällt um so
mehr auf, da er in jedem Augenblicke ganz ist, da sein Urtheil immer mit
Entschiedenheit nach einer bestimmten Richtung hingeht. Von einem Conflict
gleicher Berechtigungen im bestimmten Fall weiß er nichts. Außerdem ist seine
künstlerische Anlage und Bildung, so glänzend sie sich im Einzelnen bewährt,
in der Gruppirung des Ganzen doch nicht immer völlig reif; er ist über seine
Empfindung nicht so weit Herr, um Licht und Schatten gleichmäßig zu ver¬
theilen. So ist z. B. seine Darstellung Sullas vollkommen richtig, wenn man
nur auf den Inhalt eingeht, und doch ist die Färbung nicht ganz genau.
Wie man auch alles einzelne motivirt, das Endresultat mußte doch sein: er
ist ein Scheusal, das grauenvolle Bild einer völlig verwilderten und sitten¬
losen Zeit. Daß er dabei mehr Geist, Energie und gesunden Menschen¬
verstand besaß, als seine Gegner, ändert in der Sache nichts. Selbst seine
Einrichtungen, wenn auch etwas haltbarer, als die der besiegten demokra¬
tischen Partei, waren doch hohl wie seine eigne Seele. — Die subjective
Färbung wird noch verstärkt durch die Neigung zu modernen Ausdrücken,
die in den meisten Fällen freilich so sein gewählt sind, daß sie ein überraschen¬
des Und überzeugendes neues Licht auf die Sache werfen, zuweilen aber an
dem Uebelstand leiden, daß in dem modernen Ausdruck noch etwas mehr liegt,
als für den Vergleich paßt. Wenn z. B. Cicero ein Literat und Journalist
im schlechtem Sinn genannt wird, so liegt doch ein sehr wesentlicher Unter¬
schied darin, daß er weder ein Journal schrieb, noch von seinen literarischen
Arbeiten lebte, daß er.vielmehr in den höchsten Reihen deö Staatslebens stand.
Sein journalistisches Talent war jedenfalls viel geringer, als das seines Ge¬
schichtschreibers, der in der Kunst, pikant zu sein, ein Meister ist. Es hat doch
seine Bedenken, das allgemeine Urtheil völlig zu ignoriren. DaS zeigt sich
auch in der Darstellung Ciceros, wenn auch das Meiste richtig ist. Durch die
modernen Ausdrücke wird Mommsen verführt, das, was er an unserm Leben
haßt, auch in den Schattenbildern der Vergangenheit zu verfolgen. Er haßt
die^ schwankenden Charaktere in unsrer Zeit, ohne zu erwägen, daß damals,
wer nicht grade selbst die Herrschaft an sich reißen wollte, unmöglich eine
feste Haltung beobachten konnte, da die Parteien in stetem Kreislauf begriffen
waren. Der Mann des abstracten Princips konnte freilich konsequent bleiben,
aber den Cato macht Mommsen ja selbst lächerlich. Er haßt ferner in der mo¬
dernen Literatur daS leichtsinnige Arbeiten der Dilettanten; aber er vergißt,
daß damals, wo die wissenschaftliche Arbeit erst eine Ausnahme war, der Di¬
lettantismus eine ganz andere Berechtigung hatte, als jetzt. Gewiß sind
Ciceros philosophische Arbeiten von einer erstaunlichen Nachlässigkeit; seine
Reden sind von Sophismen und Phrasen überfüllt, aber er war doch mehr als
ein bloßer Stilist, er war der gebildete Mann seiner Zeit, der Mann, der die
Bildung seiner Zeit firirte und diese Bildung ist das Fundament unsers eignen
Wissens, Denkens und Empfindens. Trotz unsrer großen christlich-germanischen
Vergangenheit würden wir im gesunden Menschenverstand und in der Bildung
noch sehr weit zurück sein, wenn wir nicht zuerst die römische Cultur und dann
durch ihre Vermittlung die griechische entdeckt hätten. Der Journalist Cicero
ist der Vermittler des sittlich intellectuellen Bewußtseins unsrer Zeit, so wie
der Journalist Voltaire der Erneuerer desselben ist. Eine liebenswürdige, ach¬
tunggebietende Persönlichkeit war keiner von beiden, ein Genie im Grunde
auch nicht, jedenfalls Cicero weniger, als Voltaire und doch hat die Welt in
ihrem Fortschritt diesen leichtsinnigen Literaten mehr zu verdanken, als einigen
Hunderten der gelehrten Philologen. Freilich ist das kein Grund, die leicht¬
sinnige Arbeit überhaupt zu rechtfertigen.
Man steht, daß dies alles nicht gegen den eigentlichen Inhalt, sondern
nur gegen den Ton der betreffenden Stellen gerichtet ist. und daß Mommsen
von seinen Ueberzeugungen nicht das Geringste opfern darf, wenn er die Aus¬
drücke, die in einer Zeitschrift vollkommen am Platz wären, in einem für die
Nachwelt bestimmten Werk einigermaßen ins Objective übersetzt.
Noch einen kleinen, aber doch wichtigen Wunsch sür die nächste Auflage
hätten wir auszusprechen, nämlich die Wiedereinführung der christlichen Chro¬
nologie. Das Buch ist für uns bestimmt, die wir in den Schulen die Be¬
gebenheiten der römischen Geschichte nach Jahren vor Christus, nicht nach
Jahren der Stadt gelernt haben. Wenn wir also die angegebene Zahl erst
immer von 734 subtrahiren müssen, so verfehlt die Chronologie den Zweck
schneller Orientirung.
Mehr als irgend ein Schriftsteller unsrer Zeit hat sich Mommsen nach
dieser großen und glänzenden Leistung das Recht erworben, auszuruhen; und
doch möchten wir den Wunsch aussprechen, daß es ihm bald vergönnt sein
möge, fortzufahren, denn mit dem dritten Bande hat das Werk keinen rechten
Abschluß und je schneller die Geschichte bis zur Schlacht von Antium darauf
folgt oder auch bis zu Tiberius, desto gedeihlicher wird es für den Erfolg des
Buchs sein.
Nachdem wir in einem früheren Aufsatze die Entdeckungsgeschichte von
Herculanum und Pompeji kurz erzählt haben, wollen wir nun versuchen, in
allgemeinen Umrissen ein Bild von Pompeji, wie es war, zu entwerfen, so weit
die vorhandenen Ueberreste und die sonst aus dem Alterthum erhaltenen Nach¬
richten dies gestatten. Dabei werden wir nicht auf Beschreibungen einzelner
Häuser, Tempel u. f. w. eingehn, die ohne Abbildungen doch keine Anschauung
geben, sondern nur die charakteristischen Eigenthümlichkeiten der alten Stadt
hervorheben, besonders die, welche sie von den uns bekannten Städten unter¬
scheiden.
Schon ihre. Straßen waren denen moderner Städte sehr unähnlich. Bei
uns verleihen die Häuserreihen, welche die Verkehrswege von beiden Seiten
einfassen, diesen einen bestimmten Charakter; in den Fronten der Häuser spiegelt
sich die Lebensweise der Einwohner wieder; sie belehren uns auf den ersten
Blick, ob wir uns in einem aristokratischen oder handeltreibenden, einem vor¬
nehmen oder gemeinen Quartier befinden. Unsre Straßen erhalten ihr eigen¬
thümliches Leben dadurch, daß die Wohnungen ihnen zugekehrt sind und durch
die Fenster mit ihnen communiciren. Bei den Alten, wie noch jetzt im Orient,
war es anders. Das Leben des Hauses war nach innen gekehrt, ein Hof¬
raum, der in seiner Mitte lag, war das Centrum, um'das eS sich bewegte, und
die Straßenmauer hatte keinen andern Zweck, als die Privatwohnung von dem
öffentlichen Verkehr zu trennen. Sie hatte daher im Erdgeschoß wenigstens kein
Fenster, weil die Wohnzimmer ihr Licht vom Hofe aus empfingen, nur in
den obern Stockwerken waren Fenster nach der Straße, aber unregelmäßig und
vereinzelt, keinesfalls Fensterreihen, wie wir sie zu sehen gewöhnt sind. „Auf
die nämliche Art, sagt Winckelmann, sind die Häuser in Aleppo gebaut, wie
mir ein Missionar erzählte, so daß man aus den Straßen wie mitten in
Festungswerken geht, wo man nichts als hohe Mauern erblickt. Wie bedaure
ich das arme weibliche Geschlecht bei den Alten!" Von einem Charakter der
Straße konnte also hier so wenig die Rede sein, als bei Wegen, die von
Gartenmauern eingefaßt sind. — Natürlich ist auch die Straßenseite der Häuser
möglichst einfach und schmucklos, außer daß etwa rothe und gelbe Ziegel stufen¬
weis miteinander abwechseln.
Es gab aber doch ein Mittelglied zwischen Privatbesitz und Straßenver¬
kehr, zwar nicht in den Häuserfronten selbst, aber unmittelbar davor. Der Er¬
werb, der sich nicht in den Straßenseiten der Privatwohnungen einnisten
konnte, wie bei uns, siedelte sich vor ihnen an und diese Buden und Läden
verengten natürlich die Straßen erheblich.
Wie sehr man diesen Uebelstand selbst in Rom empfand, das doch nach
dem Neronischen Brande breite Straßen erhalten hatte, lehrt uns ein Epigramm
von Martial. Ganz Rom war ein großer Laden geworden, alle Straßen von
Krämern und Händlern, Schenkwirthen und Barbieren in Beschlag genommen,
es gab keine Hausschwellen mehr. Hier hingen am Pfeiler der Kneipe an¬
gekettete Weinflaschen, dort schwang mitten im dichtesten Gedränge der Bartner
sein Scheermesser dampfende Garküchen und Fleischladen waren überall in den
Weg hineingebaut und Prätoren und Consuln sahen sich gezwungen, durch den
Koth des Fahrdamms zu wandeln. Domitian schränkte diese Buden em und
nun wurden die Straßen, die bloße Pfade gewesen waren, wieder für den
Verkehr wegsam. Noch viel mehr muß der Uebelstand in Pompeji merklich ge¬
wesen sein, dessen Straßen sehr schmal sind: man zog diese den breitern wegen
des reichlicheren Schattens vor. Fast jedes Haus hatte gegen die Gassense.te
ewige mit gemauerten-Ladentischen versehene Buden, die vermuthlich in den,
meisten Fällen den Hausbesitzern gehörten und von ihnen zu eignen Geschäften
benutzt oder vermiethet wurden. Es fehlt nicht an zahlreichen Spuren. die auf
die einst hier betriebenen Geschäfte schließen lassen. Da enthalten die Platten
der Ladentische die geringelten Spuren von Tassen oder kleinen Gefäßen, wo
einst Getränke verkauft wurden; in andern waren irdene Behälter eingemauert,
in denen sich noch Bohnen und Oliven fanden; eine Bildhauerwerkstatt enthielt
noch unvollendete Statuen, Marmorstücken und Werkzeuge. Die Bäckereien standen
überall an den Vereinigungspunkten der Gassen. Handmühlen sind in mehrern
derselben gefunden. So waren also in dieser Beziehung wenigstens die pom-
pejanisclsen Straßen den neapolitanischen ähnlich, wo Handwerker und Händler
vor ihren Läden sitzen und mitten im Gewühl arbeiten.
Die Straßen Pompejis sind vortrefflich mit großen unregelmäßigen
Lavaplatten gepflastert, die sorgfältig ineinandergefügt sind: Zeugnisse eines
Vesuvausbruchs, der jenseit der historischen Zeit liegt; die Alten betrach¬
teten den Vesuv als einen ausgebrannten Vulkan. In beiden Seiten des
Fahrdamms befindet sich überall ein eingefaßtes Trottoir. „Das Eigenthüm¬
liche der alten Stadtanlage ist aber, daß jede Straße eine parallele Hinter-
gnsse hat, ohne Bürgersteig und so schmal, daß Wagen nicht ausbeugen
können. Man erkennt, daß diese Gassen blos zur Communication für Fu߬
gänger bestimmt waren. Die Däuser gehen fast alle von einer Straße zu einer
Hintergasse durch und haben zwei Eingänge, einen vordern für das öffentliche
Geschäft und einen rückwärts oder zur Seite belegenen für die Familie."
Man hat sich oft darüber gewundert, daß die Straßeneingänge der Häuser in
Pompeji nirgend zu Einfahrten eingerichtet sind, in der Regel sind (abgesehen
vom Trottoir) Thüren und Thore gegen die Gasse hin ein bis zwei Fuß er¬
höht und viele mit Stufen versehen. Auch haben sich nirgend Wagenschoppen
und Stallungen in der Stadt gesunden. Der Grund ist einfach der, daß man
in Pompeji (außer mit Lastwagen) nicht fuhr. Wenn daher Bulwer in den
letzten Tagen von Pompeji (die überhaupt eine Caricatur des antiken Lebens
sind, trotz aller Ostentation mit gelehrten Citaten) die jungen Gentlemen in
eleganten Wagen durch die Straßen kutschiren läßt, so ist das ein starker Ver¬
stoß gegen das Costüm. Der Wagen war im römischen Alterthum die Aus¬
zeichnung des Triumphators und der Priesterin, der Bürger aber ging zu
Fuße, selbst die hochgestelltesten Personen; und wem das zu unbequem war,
konnte sich in einer Sänfte tragen lassen, aber weder fahren noch reiten, denn
das letztere galt als zu militärisch. Kaiser Claudius erinnerte durch ein Edict,
daß selbst Reisende die Städte Italiens nur zu Fuß passiren dürften oder in
einer Sänfte oder Chaise. Daß das Verbot öfter übertreten wurde, geht aus
einem, abermaligen Edict Marc Aurels hervor, der dasselbe einschärfte. Es
waren also nur Lastwagen, die in den Städten hin- und herfuhren, und diese
sind es, von deren Rädern die tief aufgefahrenen Gleise von Pompeji her¬
rühren. Erst im dritten Jahrhundert wurde mit dem Überhandnehmen orien¬
talischer Sitte der Gebrauch des Wagens in Rom gewöhnlich.
So muß man sich also die pompejanischen Straßen vorstellen, schmal, gut
gepflastert, von Mauern eingefaßt, in denen hin und wieder in einem obern
Stockwerk eine Fensteröffnung erschien, aber zu beiden Seiten von Läden
und Buden besetzt, und in der Mitte von dem Gewimmel der Fußgänger
belebt.
Auch die öffentlichen Plätze Pompejis sind natürlich klein, aber hier war
es, wo sich der Glanz der antiken Städte am meisten entfaltete. Mit Mar¬
morplatten gepflastert, von Colonnaden und öffentlichen Gebäuden eingefaßt,
mit Statuen erfüllt, muß auch daS pompejanische Forum im Alterthum einen
sehr stattlichen Anblick geboten haben. Worin sich die alten Städte sehr zum
Vortheil von den modernen unterschieden, das war grade die Pracht und
Schönheit aller öffentlichen Bauten. Es war der republikanische und später
der municipale Sinn, der diese Werke schuf, deren Ueberreste uns noch jetzt in
Erstaunen setzen, wenn wir die geringe Bedeutung der Orte erwägen, denen sie
angehört haben. Eine Beschreibung der Ueberbleibsel auf dem pompejanischen
Forum mag man bei Overbeck nachlesen, hier soll nur an einen Umstand er¬
innert werden, der die Städte des Alterthums von den neuern charak¬
teristisch unterscheidet. Dies war die große Menge der öffentlich aufgestellten
Ehrenstatuen, die nur in einem Lande denkbar ist, wo das Material sehr billig
ist, und in einer Zeit, wo Kunst und Handwerk ineinander übergehen. Unter
solchen Umständen ist es erklärlich, daß auch in kleinern Orten die Statuen
gleichsam wie Pilze aus der Erde wuchsen. Pompeji hat nicht lange genug
gestanden, um viele Kaiserstatuen zu haben; man kann aber mit Sicherheit an-
nehmen, daß es auch in viel kleinern Städten an Statuen des regierenden
Kaisers und der wichtigsten Personen aus der kaiserlichen Familie nie fehlte.
Desto reicher war Pompeji an Ehrenstatuen verdienter Bürger. Overbeck hat
für den aufgegrabenen Theil gegen 70 zusammengerechnet, welcher freit.es die
wichtigsten öffentlichen Plätze und Denkmäler umfaßt, wonach man für die ganze
Stadt mindestens die doppelte Zahl voraussetzen kann; eine Menge von Statuen,
mit der verglichen die öffentlichen Denkmäler dieser Art in Paris und London
äußerst winzig erscheinen.
^^.Die Eigenthümlichkeit des antiken PrivathauseS ist schon oben angedeutet;
nämlich, daß dessen Wohnräume nicht nach der Straße hinausgehen, sondern
auf einen oder mehre Höfe münden, die entweder ganz offen oder theil¬
weise bedacht sind, öfters auch als Gärten benutzt wurden. Außerdem über¬
rascht überall die außerordentliche Kleinheit der Zimmer. Beide Eigenschaften
der alten Bauwerke erklären sich aus den klimatischen Verhältnissen des Sü¬
dens. „Die Alten, sagt Wackernagel in einem hübschen Aufsatze über Pom¬
peji.*), lebten, und noch jetzt leben die Bewohner des Südens weniger zwischen
den vier Wänden als wir. Sie verlangten vom Hause beinah nur, daß es
ihnen ein schattiges und kühles Gelaß für die Zeit des Essens und des
Schlafens gebe; deshalb sind hier auch die Fenster so selten, und noch seltener
Glasfenster, und die Zugänge zu den Zimmern können öfter nur mit Vor¬
hängen als wirklich mit Thüren verschlossen gewesen sein. Wo sie den Platz
für sonstige Erholung und meist auch den für Arbeit gesucht haben, zeigen uns
Italien und Spanien noch heutiges Tages: in der großen Stadt Neapel sitzen
die Schneider und Schuster auf offner Straße und treiben ihr Handwerk, daS
Haus gibt Schatten und das Gewühl der Fußgänger und der Fahrenden stört
nicht, es unterhält blos, und kommt der Abend, so wird das flache Dach er¬
stiegen und die kühlere Luft geathmet, die von der See herweht; der Andalusier
richtet sich z^ Sommerszeit das sogenannte Patio, den Hof seines Hauses,
der Atrium. Peristyl und Viridarium. alles zugleich ist. für Tag und Nacht zur
behaglichen Wohnung ein, und arbeitet, ißt und schläft im Duft der Pflanzen,
im Geräusch des Springbrunnens, im Schatten des SäulengangeS oder der
Decke, die er über den ganzen Raum ausspannt, um der zu heißen Sonne
und dem Thau der Nacht zu wehren. Und wie viel Zeit verbrachten die Alten
entfernt vom Hause, wie viele Zeit des Geschäfts oder der Muße in Forum
und Basilica und Tempel und Theater!" — Diese letztere charakteristische
Eigenthümlichkeit hat auch das Leben der modernen Italiener. Von einer
häuslichen Geselligkeit, wie sie der Norden kennt, hat der Italiener keinen Be¬
griff. Man besucht sich in der Theaterloge und gibt sich Rendezvous im
Buchladen und im Kaffeehaus. Für die meisten ist das Kaffehaus die zweite
Heimath, dort trifft man sie am sichersten, dort werden Briefe für sie abgegeben.
Man sagt, es gebe Leute in Rom, die sich seit Jahren in demselben
Kaffeehaus täglich treffen und sich nach italienischer Sitte Signor Antonio
und Signor Adolfo nennen, ohne nur ihre respectiven Familiennamen oder
Wohnungen zu kennen. Aerzte kommen jeden Abend in einer bestimmten
Apotheke (Spezzeria) zusammen, um sich über medicinische Dinge zu unterhal¬
ten, und dort werden auch Bestellungen für sie abgegeben. In kleinern Orten
ist die Spezzeria häusig das Centrum des geselligen Lebens. Da versammeln
sich die Honoratioren oft schon in der Frühe und verschwatzen dann den grö߬
ten Theil des Tages. Bei solchen Zuständen, die man sich für das Alterthum
ähnlich denken muß, kann die Kleinheit der Zimmer nicht auffallen. Höchst
auffallend ist es dagegen, daß die antike Bauart des Privathauses mit dem Hof
in der Mitte, die dem klimatischen Verhältnisse deS Südens so höchst angemessen
ist, der modernen auch in Italien gewichen ist. „Ist es, weil die veränderte
Art der Kleidung die höhern Stände und die neuere Zeit überhaupt empfind¬
licher gegen die äußere Lust gemacht hat, oder ist es vielmehr, weil im Mittel¬
alter das Bürgerhaus zuerst das adlige Schloß nachahmte, und dann auf
eignem Wege von der thurmartigen Festigkeit und Verschlossenheit abließ, ohne
doch wieder aus die alte Bauart zurückzukommen, von der kein Vorbild zur
Nachahmung mehr eristirte? Die Klosterhöfe allein haben das alte Peristylium
erhalten, aber kein Privathaus hat sie angenommen, vielmehr hat der neuere
Baustil der städtischen Privathäuser eine solche Herrschaft gewonnen, daß man
von Petersburg bis Palermo im Grunde auf dieselbe Art wohnt, und daß
mit der europäischen Cultur auch das neuere europäische Haus als eine Noth¬
wendigkeit wie die französische Kleidung in Griechenland und der Türkei ein¬
geführt wird. Man baut im modernen Athen wie in Berlin oder Kopenhagen,
und hatte doch noch einige Ueberreste der orientalischen Bauart, die der alten
nahe kommt und dem Klima unendlich angemessener ist, vor sich. Nur der Eng¬
länder hat sich in seinem Hause anders eingerichtet, aber doch ebensoweit von der
alten Art entfernt." (K. G. Zumpt, über die bauliche Einrichtung des Wohn¬
hauses S. 29). Noch immer ist der dem König von Neapel vorgelegte Plan,
ein Haus nach pompejanischer d. h. römischer Bauart herzustellen, so viel wir
wissen, unausgeführt. Das sogenannte Haus des Pansa war dazu vorgeschlagen.
Aber die herculanischen Akademiker konnten sich nicht darüber einigen, ob das
Atrium mit oder ohne Dach restaurirt werden sollte, und während ihrer ge¬
lehrten Streitigkeilen wurde dies Haus zur Ruine, und wird es nach ihm noch
manches werden, dessen Ergänzung eine Kleinigkeit gekostet haben würde. Die
Probe, die König Ludwig von Baiern in'Aschaffenburg gemacht hat, ist dem
Versasser nicht bekannt.
Sind nun aber die pompejanischen Zimmer klein, und konnten sie auch
nicht besonders hell sein, da sie ihr Licht nur durch die offne Thür empfingen,
so sind sie doch nichts weniger als vernachlässigt: wie reich sie durch Architektur,
Sculptur, Malerei und Mosaik geschmückt waren, ist bekannt. Ueber den
Charakter der pompejanischen Kunst wird unten gesprochen werden; hier wollen
wir nur an die Bemerkung Goethes erinnern, wie nach so vielen Jahrhunder¬
ten, nach unzähligen Veränderungen diese Gegend ihren Bewohnern Ähnliche
Lebensart und Sitte, Neigungen und Liebhabereien einflößt. Er sah in der
Nähe von Neapel kleine Häuserchen, mit nur einem Hauptgemach, ohne
Fenster, durch die offne Thür erhellt. Er erbat sich die Erlaubniß, in eines
derselben einzutreten, und fand es reinlich eingerichtet, nett geflochtene Rohr-
stühle und eine Kommode, ganz vergoldet, mit bunten Blumen stafftrt und
lackirt.
Schließlich sei hier noch bemerkt, daß die früher allgemein verbreitete Vor¬
stellung, die Häuser in Pompeji wären in der Regel einstöckig gewesen, längst
als irrthümlich erkannt ist. Nur so viel ist richtig, daß das untere Geschoß me
Hauptwohnung war.
Wir kommen nun zur Charakteristik der pompejanischen Kunst. Es braucht
kaum gesagt zu werden, daß die Entdeckung von Pompeji und Herculanum
auf weite Strecken der alten Kunstgeschichte ein neues, ganz unerwartetes Licht
geworfen hat; nur hat man mitunter aus der dortigen KunstthÄtigkeit Schlüsse
auf die Kunst der Alten überhaupt gezogen, die sich nicht rechtfertigen lassen.
Wir haben den Vortheil, die Entstehungszeit der pompejanischen und hercu-
lanischen Kunstwerke großentheils ziemlich genau zu kennen. Nichts kann
später als das Jahr 79 sein, an dessen 25. August beide Städte verschüttet
wurden, und ein sehr großer Theil muß später sein, als das Jahr 63, in
welchem beide durch ein Erdbeben gründlich verwüstet worden sind. So ge¬
währen uns diese Entdeckungen ein reiches Material zur Beurtheilung der
Kunstthätigkeit in der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts, die sich in Mittel¬
städten entfaltete. .
Den Charakter der pompejanischen Architektur hat Overbeck sehr wohl ent¬
wickelt: die dortigen Bauten sind in der Regel nicht Material- sondern Tünche¬
bauten. „Das wahrhaft künstlerische Zeitalter schafft Materialbauten d. h. es
bildet seine Bauformen seinem Material gemäß, gründet die Formgebung seiner
Monumente auf das Wesen seiner Materialien, welche es nie verhüllt und
den Blicken zu entziehen trachtet, sondern als das sein Werk bedingende frei
vor unsre Augen hinstellt. Das'gilt in gleicher Weise von den Kalktuff- und
Marmvrbauten des alten Hellas wie von den verschiedenen Bruchstein- und
Ziegelbauten unsres Mittelalters.' Ein unkünstlerisches Zeitalter dagegen baut
schematistisch, ohne Rücksicht auf das Material, und da das Material ein für
allemal die Formen und Gliederungen des Baues bedingt und beherrscht, da
es sich, zur Formengebung benutzt und verwendet, nie negiren läßt, so
wird es negirt, indem man materiell einen formlosen Kern construirt und
alle Form und Gliederung der verhüllenden Tünche anheimgibt. Das ist
ein Unwesen, aus dem Unsolidität, Mangel an Präcision, Stilmacherei und
Manier mit zwingender Nothwendigkeit folgt. — In Pompeji erscheint in den
wenigsten Fällen das Material, alle bauliche Formgebung ist der verhüllenden
Tünche überwiesen, ganz Pompeji ist, mit Ausnahme von ein paar öffentlichen
Gebäuden aus älterer Zeit, in seinem neuen Aufbau nach dem Erdbeben eine
getünchte und gemalte Stadt." Aber selbst die oberflächliche Behandlung der
überlieferten Kunstformen thut im Ganzen und bei einer nicht zu strengen
Prüfung, eine angenehme Wirkung: in der Thal hat die pompejanische Archi¬
tektur bei allen ihren Fehlern im hohen Grade den Charakter der Heiterkeit,
Leichtigkeit und Zierlichkeit. Man findet bei Overbeck eine interessante Auf¬
zählung von Verstößen gegen die Grundregeln einer künstlerischen Architektur.
Wir wollen hier nur an die Säulen erinnern, bei denen nur die obern zwei
Drittheile carmelirt, oder die buntgefärbt sind: wie sie vielen Lesern aus den
Proben im neuen Museum zu Berlin bekannt sein werden. Durch eine nur
theilweise Cannelirung sowol als durch Bemalung wird der Charakter der
Säule als der tragenden, vertikalen, strebenden Stütze verdunkelt und der Aus¬
druck ihrer Function zerstört. Ueber diesen und ähnlichen Geschmacklosigkeiten
muß man aber auch die Phantasie und reiche Erfindungskraft der pompejani-
schen Architektur bewundern, die die überlieferten Grundformen unaufhörlich
neu zu gestalten wußte.
Dieselbe üppige, aus dem Vollen schöpfende Erfindungskraft zeigt sich auch
in der Ornamentik. Dabei sind die Marmorornamente in der Regel den Haupt-
sormen mit richtigem Sinn untergeordnet, während im Stuckornament die
Ueberladung bereits zunimmt und die Grundformen verhüllt und überwuchert.
Für die Geschichte der Plastik sind die Entdeckungen der verschütteten
Städte am wenigsten belehrend gewesen, da es an Sculpturen, die man mit
Bestimmtheit dieser Periode zuweisen kann, bei der großen Zahl der Kaiser¬
bildnisse auch an kleinen Orten nicht gefehlt hat. In einer Beziehung jedoch
haben Pompeji und Herculanum zu dem vorhandenen Material einen sehr er¬
wünschten Zuwachs geliefert, durch die Erhaltung zahlreicher Bronzearbeiten.
Man weiß, wie selten diese in unsern Museen sind, es ist nicht zuviel gesagt,
daß mit alleiniger Ausnahme des mu8<ze> Lo-Horie-o zu Neapel auf einige
hundert Marmorwerke ein einziges Werk in Bronze kommt. Die Bronze war
theils der Zerstörung mehr ausgesetzt, als der Marmor, theils wurde sie zu
zahlreichen' Zwecken eingeschmolzen und reizte die Habsucht, besonders wenn sie
vergoldet war.
Wenn die Geschichte der Plastik durch die Entdeckungen wenig bereichert
ist, so ist die der Malerei durch sie völlig umgestaltet. Bis zum achtzehnten
Jahrhundert kannte man nur sehr wenige antike Gemälde, namentlich d.e aldo-
brandinische Hochzeit und die Malereien der Titusthermen. Nun aber besitzen
wir aus Pompeji und Herculanum Hunderte von Bildern und Mosaiken »eder
Gattung, die uns nach allen Seiten die reichsten Anschauungen geben. Auch
hier freilich hat man mitunter vergessen, daß es doch immer nur Stubenmalere.en
einer kleinen Stadt aus der Periode der sinkenden Kunst sind, die wir haben;
und wenn ein neapolitanischer Antiquar begeistert ausruft: hier sähe man daß
auch die Alten ihre Nafaele für die Historie, ihre Salvator Rosa für W Land¬
schaft gehabt hätten, und es sei zweifelhaft, ob diese berühmten Maler d.e Alten
erreichten — so ist das lächerlich. Wenn pompejanische Stubenmaler schon
Rafael übertrafen. wie mögen dann wol die Bilder von Zeuris und Apelles
ausgesehen haben? Durch dergleichen Uebertreibungen, von denen sich auch
bessere Kritiker nicht immer frei gehalten haben, thut man den pompejamschen
Bildern grade am meisten Unrecht. Sie verdienen dagegen im Ganzen großes
Lob. ja vielfach die höchste Bewunderung, wenn man sie für nichts Anderes
nimmt, als was sie wirklich sind, nämlich Zimmerdecorationen eines unberühm-
ter Städtchens, von untergeordneten Künstlern ausgeführt, zu einer Zeit, wo
die Malerei nach dem Urtheil von Zeitgenossen in den letzten Zügen lag. Über¬
dies darf man nicht vergessen, daß die Wandmalerri im Alterthum immer e.n
untergeordneter Kunstzweig war und daß die größten Künstler nur Staffeleilulder
gemalt haben.
Wir wollen bei der Technik der pompejamschen Wandbilder etwas verweilen,
über welche wir sehr gründliche Untersuchungen in dem Buche von Wiegmann
über die Malerei der Alten besitzen, das Herr Overbeck, so viel wir bemerkt haben.
S-ar nicht gekannt hat. Wiegmann rühmt besonders, daß die Grundfarben der
Wandfelder mehr oder weniger glänzend und von so ebener Oberfläche sind,
als wäre die ganze Wand geschliffener Marmor. ..Die Linien. Verzierungen und
Bilder aus jenen glänzenden Gründen sind dagegen matt und glanzlos, so daß
man sie immer gleich gut sehen kann, in welcher Stellung zum Licht man auch
sei, während die Flächen der Felder bei gewissen Stellungen das Licht reflectiren.
Daraus beruht ein außerordentlich schöner und eleganter Effect; denn es kommt
dadurch bei jeder Ortsveränderung des Beschauers eine täuschende Bewegung
in die Decoration und bald scheinen die Malereien auf dem lebhaft gefärbten
dunkeln Grunde zu schweben." Nirgend ist eine Spur von nachdunkeln oder
Verbleichen der Farben, was sich augenblicklich durch die gestörte Harmonie
verrathen würde. Diese Veränderungen treten erst ein, wenn die Bilder den
Einwirkungen von Licht und Luft Preis gegeben sind; daher stimmen die Bilder
und ihre farbigen Copien nicht mehr mit den Beschreibungen de^r herculanischen
Akademiker. Namentlich wird daS lebhafte Dunkelroth, welches die stehende
Grundfarbe aller pompejanischen Wände ist, bald vollkommen schwarz. Um
so verdienstlicher sind die sogleich nach der Entdeckung gemachten Copien.
Der Grund, mit welchem die Wände zur Aufnahme der Malerei überzogen sind,
ist ein so hartgewordenes Stuck, daß Stöße und Berührungen andrer harter
Körper nicht leicht Eindrücke darauf machen. Von diesem Grunde lösen sich
die Tüncher und Malereien mit wenigen Ausnahmen nicht im Geringsten ab,
auch bei der Behandlung mit setten und ätherischen Oelen, Seife, Alkohol und
Wasser. Sie besitzen also die nicht zu übersehende Eigenschaft, daß sie leicht
und ohne Nachtheil von Staub und andern, Schmuz gereinigt werden können.
Ihre Haltbarkeit hat sich fast durch zwei Jahrtausende bewährt!
Die viel ventilirte Frage, ob der Farbeauftrag der pompejanischen Wand¬
bilder al tröseo (auf nassen) oder s, tempers, (auf trocknen Grund mit einem
Bindemittel) erfolgt sei, entscheidet Wiegmann sür Fresco. Seine Gründe sind
folgende: Erstens ist der Stucküberzug der Wände, wenn die Oberfläche groß
oder reich verziert ist, nicht mit einem Mal über die ganze Wand ausgebrei¬
tet worden, sondern nach Maßgabe der Felderabtheilung zeigt sich derselbe an¬
gesetzt, und außerdem sind die Bilder, welche sich innerhalb der Felder befinden,
von einer Ansatzsuge umgeben. Man sieht daraus, daß eine gewisse Frische
und Feuchtigkeit des letzten Ueberzugs zum Färben, Glätten und Malen er¬
forderlich war; denn wäre dies nicht der Fall gewesen, so hätte man mit grö¬
ßerer Leichtigkeit und Gleichheit die ganze Wand auf einmal überziehen können.
Sodann zeigen sich mit einem Griffel eingedrückte Umrisse, Eintheilungen und
Hilfslinien, die nicht überall durch die Malerei wieder verdeckt worden sind.
Es leidet keinen Zweifel, daß diese Zeichnung zu einer Zeit gemacht werden
mußte, wo die Masse der Wandbekleidung noch weich und sür leichte Eindrücke
empfänglich war. Auch dies setzt ein Malen auf nassem Grunde voraus, denn
auf trocknem hätte das Aufzeichnen mit Kreide oder tgi. bequem geschehen
können, ohne eine Spur zu hinterlassen. Endlich behauptet Wiegmann, daß
in jeder der angewandten Farben, auch dem tiefsten Schwarz, Kalk vorhanden
sei. Die neuere Frescomalerei steht in technischer Hinsicht der pompejanischen
in mancher Hinsicht nach. Der Maucrgrund ist bei ihr nie eine so vollkommen
ebene Fläche wie in Pompeji, die Färbung ist unklar und opak, und obendrein
nicht gleichmäßig, sondern fleckig und rauh. Wiegmann hat behufs der Wie¬
dereinführung der pompejanischen Malerei einen praktischen Versuch in einem
Zimmer gemacht, das ihm der vor einigen Jahren verstorbene hannoversche
Gesandte in Rom, Kastner, eingeräumt hatte. Er soll, mit Rücksicht auf das
Ungewohnte der Technik für Maler und Maurer befriedigend ausgefallen sein,
scheint aber keine weitern Folgen gehabt zu haben.
Wenn wir nun die pompejanischen Wände im Ganzen betrachten, so
drängt sich die Bemerkung auf, daß derselbe Decorationsstil Haus für Haus
wiederkehrt. Alles ist „wie aus einem Guß entsprungen und aus einem Topfe
gemalt." Andrerseits läßt sich aber nicht verkennen, daß verschiedene Theile
derselben Wand verschieden behandelt sind, namentlich daß die in der Mette be¬
findlichen Figurenbilder öfter von einer andern Hand herrühren als das Uebrige
Beides hat Goethe in seiner Anzeige des Zahnschen Werks sehr wohl erklärt.
Er setzt voraus, daß der größte Theil von Pompeji den sechzehn Jahren ange¬
hört, welche zwischen der Zerstörung durch das Erdbeben und der ganzkchen
Verschüttung liegen, eine Voraussetzung, die einen hohen Grad von Wahr¬
scheinlichkeit' hat Wir werden jene Annahme noch wahrscheinlicher finden,
wenn wir bedenken, welche Masse von Künstlern in dem römischen Reiche sich
während des ersten Jahrhunderts unsrer Zeitrechnung mag verbreitet haben,
dergestalt, daß ganze Kolonien. Züge. Schwärme, Wolken, wie man es nennen
will, von Künstlern und Handwerkern da heranzuziehen waren, wo man ihrer
bedürfte." So hat man sich ohne Zweifel die Entstehung jener durchweg über¬
einstimmenden Däuser- und Zimmerdecoration von Pompeji und Herculanum
vorzustellen, daß° dabei eine ganze Gesellschaft von Künstlern und Handwerkern
zusammenwirkte, in der jeder seine bestimmte Thätigkeit mit Virtuosität ausübte.
Nach der Grundirung des Wandfeldes erfolgte die Abtheilung in kleinere
Felder durch jene grotesken Zierrathen, jenes Rohrwerk von schmächtigen
Säulchen, lattenartigen Pföstchen. jenen geschnörkelten Giebeln, und was sich
sonst, von abenteuerlichen Blumenvasen, Schlingranken, wiederkehrenden selt¬
samen Auswüchsen d.araus entwickeln, was für Ungeheuer daraus hervortreten
mochten. Springt ein Pferd, ein Löwe, ein Tiger aus dem Blättervolute
heraus , so ist eS ein Zeugniß, daß die Thiermaler, in die allgemeine Ver¬
zierergilde eingeschlossen, seine Fertigkeiten wollte sehen lassen. — Nun mochten
sich auch wol fertige Künstler finden, welche eine leichte Figur auf die einfar¬
bige Wand in der Mitte zeichneten und malten. Um nun auch den höhern
Kunstsinn zu befriedigen, so hatte manschen (und wahrscheinlich in besonderen Werk¬
stätten) sich auf die Fertigung kleiner Bilder gelegt, die auf Kalktafeln gemalt in die
weite getünchte Wand eingelassen, durch ein geschicktes Zustreichen n.it derselben
völlig ins Gleichgewicht gebracht wurden. In der That sind zu Stabiä auf
dem Boden des Zimmers einer Villa vier solche Gemälde gefunden worden, die
an die Mauer gelehnt waren, und offenbar die Bestimmung hatten, in eine
Wand eingelassen zu werden.
Ueber den Kunstwerth der pompejanischen Bilder können wir hier nicht
ausführlich sein. Den Preis dürften vor allen übrigen die mit Recht berühmten
schwebenden Figuren verdienen. Winckelmann sagt von ihnen: „sie sind flüchtig,
wie ein Gedanke, und schön, wie von der Hand der Grazien ausgeführt."
Hatte Lessing sie gekannt, als er den Laokoon schrieb, so würde er die Frage.
ob die bildende Kunst schwebende Figuren darstellen dürfe, schwerlich aufgewor¬
fen, geschweige denn verneint haben.
Von diesen Schätzen, welche die Erde so treu durch achtzehn Jahrhunderte
bewahrt hat, geht theils durch die bei der Herausforderung unvermeidlichen
Beschädigungen, theils durch das unverantwortliche Verfahren der neapolitani¬
schen Negierung nur zu viel verloren. Wie oft bemerkt Zahn von den präch¬
tigsten Wänden, daß nach kurzer Zeit wenig oder, gar keine Spur mehr von
ihnen geblieben sei. Aber schlimmer als Wind und Regen ist die neapolita¬
nische Indifferenz und jener scheußliche Neid, der das Kostbarste lieber selbst
zerstört, ehe er es fremden Händen übergibt, die es zu nutzen verstehen. Schon
Winckelmann beklagt, „daß diejenigen Gemälde, welche nicht besonders geachtet
werden und nicht für das königliche Museum bestimmt sind, auf ausdrücklichen
Befehl der königlichen Regierung zerfetzt und verderbt werden, damit dieselben
nicht in fremde Hände gerathen." Interessante Mittheilungen über die Schwie¬
rigkeiten, die man fremden Künstlern und Gelehrten in den Weg legt, macht
der englische Archäalog Gell. Fremde erhalten selten Erlaubniß, ein Bild eher
zu copiren, als bis es zerstört ist, während doch weder einheimische Künstler
an Ort und Stelle vorhanden sind, um die nöthigen Copien zu machen, noch
ein Publicum, um sie zu kaufen. So muß man die Bilder von der Wand in
einem günstigen Augenblick förmlich stehlen, um sie ewiger Vergessenheit zu
entreißen. Wird die Erlaubniß endlich ertheilt, so sind sie längst zerstört; erst
1826 erhielten z. B. Fremde Erlaubniß, die vor 1823 gemachten Entdeckungen
zu zeichnen u. s. w. Gell versichert, daß alle in seinem Buch abgebildeten Sachen
mit wenigen Ausnahmen spurlos verloren sein würden, wenn er sich nicht im
günstigen Moment an Ort und Stelle besunden hätte und im Stande gewesen
wäre, sie zu copiren.
Im vorigen Jahrhundert, als. die py mpejanischen Gemälde noch wenig
bekannt waren, konnten Betrüger ohne Schwierigkeit nachgemachte für antike
verkaufen. Ein venezianischer Maler, Joseph Guerra, der in Rom lebte
(^1761), machte gute Geschäfte mit solchen antiken Bildern aus eigner Fabrik.
In der Vorrede zu den herculanischen Alterthümern wird von ihm mit Achtung
gesprochen, Winckelmann nennt ihn mittelmäßig. Unter andern Gemälden, die
er nach Frankreich und England verkaufte, stellte eins den Tod des Epaminon-
das vor. Epaminondas sah aus wie ein Gerippe, eine lange, abgezehrte Figur
in Giottos Stil, und wurde von Soldaten getragen, die über und über mit
alten eisernen Rüstungen aus dem 13. Jahrhundert bedeckt waren.
Dieser flüchtige Ueberblick über Pompeji und seine Kunst möge hier ge¬
nügen. Weit besser als die Wohnungen der Lebenden sind die der Todten
erhalten; wegen ihrer soliden Bauart ist ein Theil der Grabdenkmäler vordem
herculanischen Thor noch durchaus unversehrt, so daß nichts fehlt als die
Blumenkränze, die sie an den Totenfesten schmückten, die Wohlgerüche, deren
Dust hier aufstieg, um uns glauben zu machen, daß sie eben erst errichtet
worden seien. Die Sitte der Alten, ihre Gräber vor den Thoren der Städte
längs der Landstraße anzulegen, ist bekannt. Daher rühren «uf den antiken
Grabschriften die stehenden Anreden an den Wandrer; man wünschte, daß d.e
Abgeschiedenen im Gedächtniß der Nachkommen gleichsam eine zweite Enstenz
fortführen sollten; daß der Vorüberziehende an ihrem Grabe verwette«, ihr An¬
denken segnen und ihnen den Wunsch hinüberrufen möchte, daß ihnen die Erde
leicht sei. Diese Anrede an den Wandrer ist sonderbarerweise auch in die moder¬
nen Epitaphien übergegangen, obwol über unsre ummauerten und eingehegten
Kirchhöfe doch in der That Wandrer auch beim besten Willen nicht ziehen können.
Schließlich noch ein Wort über die muthmaßliche Anzahl derer die be.
der Verschüttung Pompejis ums Leben gekommen sind. Overbeck sagt: Im
Ganzen zählt man 400, nach andern gegen 600 in Pompeji gefundene Gerippe.
Aber diese Angabe ist völlig unzuverlässig. Eine zuverlässige zu geben ist un¬
möglich, weil die Gerippe bei der Auffindung häufig so morsch sind, daß sie
sogleich in Staub zerfallen, und eine Zählung niemals auch nur versucht .se.
Viele Angaben beruhen ganz auf den Aussagen der Ciceroni, von deren Lügen
unter andern ein Pröbchen ist, daß im Amphitheater die Gerippe von 8 Löwen
gefunden sein sollen. Nun war aber die Löwenjagd ein ausschließlich kaiser¬
liches Vorrecht, also ist an Löwen in dem Amphitheater kleiner Städte nicht
ZU denken. Goro von Agyagfalve glaubt, es seien (bis 1825) keine 150
menschliche Skelette gefunden worden, Mayer spricht von 200, Wackernagel
(1849) von etwa 400 bis jetzt entdeckten. Gell (1837) berechnet nach der
Zahl der aufgefundenen Skelette die Gesammtsumme derer, die in der Stadt
und den muthmaßlichen Vorstädten umgekommen sind auf nicht weniger als
1300. Aus diesen so stark differirenden Angaben geht zweierlei hervor: erstens,daß eine auch nur ungefähre Berechnung sehr zweifelhaft ist, und zweitens,daß die Anzahl der Verschütteten verhältnißmäßig doch sehr groß gewesen ist,da man annehmen muß, daß sie durch den anfangs dünnen und spärlich fal¬
lenden Aschenregen zu rechter Zeit gewarnt worden sind. Zahn sagt, daß sast
in jedem Hause Skelette ausgegraben werden'.— Es ist gräßlich, sich das Ende
dieser Unglücklichen vorzustellen, besonders solcher, die unvermögend waren, zu
fliehen. So sind z. B. in der Gladiatorenkaserne (früher Soldatenquartier ge¬
nannt) Gerippe mit Schließeisen an den Füßen gesunden worden. Nicht min¬
der furchtbar war der Tod derer, die sich in Keller geflüchtet hatten, und deren
scheinen nicht wenig gewesen zu sein. In dem sogenannten Landhause des
Diomedes fand man 17 in einem Keller. Durchsickernde Feuchtigkeit hat hier
aus der Asche einen Teig gemacht, und in diesem Aschenteige hat sich ein
weiblicher Busen abgeformt, der im Musen zu Neapel aufbewahrt wird.
Der pariser Congreß ist nahe am Ende seiner Laufbahn angekommen und
es stellt sich schon jetzt heraus, was wir in unsrem jüngsten Schreiben gesagt,
daß der Friede, dem wir entgegensehen, die größte Wahlverwandtschaft mit dem
Kriege haben werde, der ihm vorausgegangen war. Dies wird dem Leser
noch deutlicher werden, wenn wir den Stand der Verhandlungen betrachten,
insofern sich dieselben auf Fragen beziehen, die nicht unmittelbar Gegenstand des
Friedensvertrages sind. Dies gibt uns zugleich Gelegenheit, unsrem Versprechen
nachzukommen und unsern Lesern auseinanderzusetzen, so gut dies jetzt schon
thunlich ist, was im Interesse Sardiniens und Italiens versucht wurde.
Sowob- Frankreich als England haben den Wunsch, ihren tapfern Bundes¬
genossen zu belohnen und Italien ihre Sympathien zu bezeigen, und sie würden
ihren Willen auch sofort bethätigt haben, wenn nicht selbst in dem beschränk¬
ten Kreise, den man sich im vorhineinausgesteckt hatte, Oestreich und der
Papst als ebenso begreifliche wie natürliche Hindernisse aufgetreten wären. Eng¬
land, wie sich das erwarten ließ, zeigte sich bereitwillig, über die Rücksichten
hinauszugehen, welche die päpstliche Herrschaft Frankreich empfiehlt. Es
wollte dem Papst die Legationen einfach weggenommen und dem Königreich
Sardinien hinzugefügt wissen. Die Gründe, welche für diese Veränderung
geltend gemacht wurden, sind plausibel genug. Der Papst, so sagte England,
sei nicht im Stande, dies hat die Erfahrung gelehrt, die Legationen gehörig zu
regieren und die östreichsche Besetzung derselben, welche beiden Westmächten
gleich unangenehm ist, könnte sofort aufhören. Die fortwährenden Bestrebungen
der Bevölkerung in, den Legationen nach freiheitlichen Institutionen würden in
dem constitutionellen Regime Sardiniens Genugthuung finden und Mazzini,
überhaupt die Revolution, eine große Anzahl von Anhängern verlieren. Es
wäre genau zu erwägen, meinte Lord Clarendon, daß, wenn Sardinien ohne
Vortheil aus diesem Kampfe hervorginge, dies genügen würde, die revolutionäre
Partei in Italien, welche gegen den Anschluß Piemonts an die Westmächte
gearbeitet hatte, in den Augen des Landes zu heben.
In dieser factischen Auseinandersetzung fortfahrend fügen wir hinzu, daß
Graf Walewski Frankreichs Sympathien für Italien in sehr warmen Worten
ausdrückte, so wie auch die Bereitwilligkeit, dieselben zu bethätigen. Die von
England vorgeschlagene Veränderung wurde jedoch kurzweg zurückgewiesen. Die
Ursache liegt nahe. Der Kaiser hatte seit Monaten am päpstlichen Hofe arbei¬
ten lassen, um den heiligen Vater zur Uebernahme der Taufpathenstelle beim
Kinde des Kaisers zu bewegen. Dieser hatte kurz vor dem Zusammentritt
des Congresses oder gleichzeitig mit demselben eingewilligt, obgleich auf eine für
Frankreich demüthigende Weise, indem der Papst nicht selbst' nach Paris zu
kommen, sondern die angenommene Function durch einen stellvertretenden Car¬
dinal ausüben zu lassen versprach. Napoleon III. hält viel auf die Gewalt
und den Einfluß des Papstes und er scheint sich mit diesem vertragen zu wollen,
um durch ihn auf die zum Theil dem Legitimismus geneigte Geistlichkeit zu
wirken. Es wurde in der That bemerkt, daß der Kaiser, der, wenn es seinen
Zwecken gemäß ist, nicht vor einem Gewaltstreich zurückschreckt, den Klerus,
selbst den feindlichen legitimistischen, fortwährend mit Schonung behandelte, ja
demselben Concessionen machte, welche mit dem Concordat Napoleons l. nicht
ganz in Einklang stehen mochten, wie die auffallende Vermehrung der Klöster
und Orden, wenn nur die imperialistische Autokratie sich nicht dadurch berührt
fühlte. Das gute Einvernehmen mit dem Papst hat sich noch ganz neuerlich
durch einen der Regierung sehr willkommenen Vermittlungsact geäußert, indem
Pius IX. den einzigen unabhängigen Bischof Frankreichs, Monseigneur
Bailles von Lu?on zum Abtritte zwang. Wie konnre man von der Regierung
Frankreichs verlangen, daß sie in eine so verhältnißmäßig radicale Maßregel
einwilligen würde? Zwar ist das System Ludwig Napoleons nichts als eine
Mosaik von Widersprüchen, die ihre Steinchen, aus denen das Bild des
heutigen Bonapartismus zusammen.esetzt ist, bald auf dem Felde des traditio¬
nellen Absolutismus, zum Theil auf jenem des Absolutismus im Frack und in
der Tricolore oder auf dem Gebiet des Socialismus und der materiellen An¬
schauung und Bestrebung unsrer Zeit sammelt. Diese Widersprüche leugnen
wollen, hieße blind sein, aber der von England geforderte war zu auffallend
und vorzüglich in diesem Augenblicke unbequem. Ludwig Napoleon benutzt den
Katholicismus für seine Zwecke und dies kann nur geschehen, indem er demselben
dient. Es ist eine schärfere Ausbildung des Gedankens von Napoleon I., aber eS ist
diese Richtung des Kaisers weder eine originelle, noch eine vereinzelte. Es ist eine
ganze Partei, eine politische Partei, zu der auch Protestanten zählen, welche die
Nothwendigkeit des Katholicismus für Frankreich vertheidigt, ungefähr wie Ammen
die Bourrelets,für kleine Kinder in Schütz nehmen, damit diese nicht auf die
Köpfe fallen, Louis Napoleon kann sich schmeicheln, mit dem großen Staats¬
mann Guizot, der Ludwig Philipp um seine Krone brachte, einer Meinung
zu sein. Wir können nicht umhin, dies durch eine Stelle aus Guizots Vor¬
rede zur neuesten Auflage der Vorlesungen über die Geschichte der europäischen
Civilisation zu beweisen: „Ich, d. h. der Protestant Guizot, finde keinen Ge¬
schmack, daran, gegen Ueberzeugungen zu kämpfen, welche ich ehre aber nicht
theile, und gegen moralische Gewalten, welche ich eher stärken als schwächen
möchte, obgleich ich nicht unter ihrer Fahne diene. Ich habe versucht, die
Rolle der katholischen Kirche in der Entwicklung der europäischen Civilisation
ZU schildern. Ich habe es mit Freiheit gethan, aber auch, ich bin dessen ge¬
wiß, mit einem tiefen Gefühl der Billigkeit und der Achtung; ich erlaube
mir sogar hinzuzufügen mit der Absicht, der katholischen Kirche
wieder die Achtung und Anerkennung zuzuführen, welche ihr zu¬
kommt und die man ihr seit einem Jahrhundert verweigert,
vielleicht sind meine Bemühungen in diesem Sinne keine ver¬
geh ki es en g cocher ... . Ich bin überzeugt, da-H für sein sittliches
und sociales Wohl Frankreich christlich werden muß und daß es,
indem os christlich geworden, katholisch bleiben wird. Ich würde
mir nie verzeihen, etwas zu thun, was dem Fortschritt auf
diesem Wege schaden könnte."
Was ist also natürlicher, als daß England mit seinem Antrage durchfiel.
Es wurden indessen sehr dringende Schritte beim Kaiser gethan, um doch irgend
etwas und wäre es noch so geringes auf dem betretenen Wege durchzusetzen.
Wie man uns mittheilt, wäre der Kaiser nicht ungeneigt, beim Papste dahin
zu wirken, daß dieser seinen (des Kaisers) Brief an Edgar Ney, der seiner
Zeit so viel Aufsehen machte, gewissermaßen verwirkliche. Die Legationen
würden eine unabhängige Regierung und den Loäe «apolvon erhalten. Eng¬
land und Frankreich wären, dies glauben wir mit Bestimmtheit behaupten zu
können, wol einig, allein haben sie auch den Willen England, Oestreich und
Frankreich der päpstlichen Gewalt gegenüber so energisch aufzutreten, als noth¬
wendig wäre, um diese Reform durchzusetzen? Dies ist sehr zweifelhaft und es
müßte sich manches geändert haben, soll beim Beginn der Verhandlung, welche erst
nach Berichterstattung der in der Angelegenheit der Donaufürstenthümer und der
besfarabischen Grenzangelegenheiten ernannten Commission stattzufinden hat, ein
günstiges Resultat zu hoffen sein. Der Kaiser scheint dies zu versprechen, aber
nicht in dem Tone, in dem er Willensmeinungen äußert, von denen kein Rücktritt
mehr möglich ist. Der Ausgangspunkt der Verhandlung wird nicht sowol
das Interesse des Liberalismus in Italien sein, denn dazu fühlt der Congreß,
der einem beschränkten, einem Localkriege folgt, keinen Beruf in sich, so sehr
man auch Kriegsmaschinen hinter dem fünften Punkte -suchen mochte. Der
Ausgangspunkt wird der Rückzug der Franzosen aus Rom und der Oestrei¬
cher aus den Legationen sein. Einfach, ohne Palliativ ist diese Maßregel
nicht auszuführen, das ist aller Welt klar, und verewigen kann sich die
Besetzung des Landes durch fremde Truppen auch-nicht. So hofft man denn
Oestreich und dem Papste begreiflich machen zu können, daß etwas geschehen
müsse, um die päpstliche Gewalt wieder zu einiger Volkstümlichkeit in Italien
zU bringen. Diese Reform, schmeicheln sich die Westmächte, würde dem ver¬
bündeten Piemont auch nützen, weil dieser Fortschritt in Italien als Folge der
sardinischen Hilfsgenossenschaft geltend gemacht werden würde. .Zwar hat man
auch einer direkten Belohnung Sardiniens noch nicht definitiv entsagt, allein
alles, was bisher vorgeschlagen wurde, scheiterte an der Halbheit, mit welcher
man bisher auftrat. Es klingt gradezu wie Projectmacherei, wenn gesagt
wird - und wir dürfen es Ihnen verbürgen, daß davon die Rede gewesen,
Sardinien durch Parma zu entschädigen, die Regentin mit Modena zu ent¬
schädigen, und den Herzog dieses Ländchens zum Fürst der vereinigten Donau-
Provinzen (Moldau, Walachei) zu proclamiren. England und Frankreich legen
Nachdruck auf die fortwährenden Unruhen in Parma, die grade in diesem
Augenblick wieder zum Belagerungszustande in Parma geführt haben, und
suchen Oestreich zu gewinnen. Dieses müßte sich aber eine doppelte Ohrfeige
gefallen lassen, auf der einen Wange in Italien und auf der andern in den
Donausürstenthümern, wozu es bis zur Stunde keine große Lust zeigt.
Diese Macht sühlt sich ohnedies gedemüthigt genug, daß sie auf dem Con-
gresse hier nicht die Rolle gespielt hat, welche es für sich träumte und ist
keineswegs zu Concessionen dieser Art gelaunt. Der Umstand ferner, daß
der Congreß ohne Ernennung einer Commission mit der Lösung der Frage
in den Donausürstenthümern nicht fertig werden kann, beweist, daß er
schon jetzt darauf gefaßt ist, die Sache fallen'zu lassen und auf eine günstigere
Zeit zu verschieben. Er hat sein Augenmerk zunächst aus die Schlichtung des
Hauptstreites, der auf Rußland und die Türkei bezüglicher! Fragen gerichtet.
Zufrieden geht aus diesem Frieden kaum eine Partei hervor und das ist eben
kein gutes Prognostikon für die Dauer desselben. So viel jetzt zu urtheilen ist,
hat Europa im Allgemeinen gewonnen und Frankreich an moralischer Gewalt.
ES ist für Europa ein Gewinn, daß Rußland im schwarzen Meere paralysirt
und im baltischen Meere (wenn auch nur wenig) geschwächt wurde. Es ist
sür Europa ein Gewinn, daß die. Donauschiffahrt freigegeben ist. ES ist für
Europa ein Gewinn, daß die Schwäche der Türkei noch deutlicher geworden
und daß die Reformen, zu welchen der kranke Mann gezwungen ist, nicht
in russischer Apotheke gebraut, sondern unter Aufsicht aller Großmächte
vor sich gehen werden. Es ist ein Gewinn, daß der Orient, indem er den
Kriegsuutcrnehmungen verschlossen wird, sich dem Handel, der Industrie, der
Civilisation des Westens öffnet. Aber die einzelnen Mächte haben nicht viel
gewonnen. Rußland geht geschwächt und gebeugt aus dem Kampfe hervor und
es muß sich mit dem Trost begnügen, daß es, durch das Bewußtsein seiner
offenbarten Schwäche naturgemäß zu größerer und angestrengterer Entfal¬
tung seiner Kräfte hingewiesen, in einer gegebenen Zukunft Nutzen aus der
theuer bezahlten Lehre schöpfen kann. England ist innerlich aufgerüttelt, äußer¬
lich gedrückt aus dem Kampfe heimgekehrt. Es hat sich nicht als die Macht
bewiesen, sür die es gegolten hatte, der Krieg war zu früh sür dasselbe ge¬
kommen und hat auch zu früh geendigr. Frankreich hat den internationalen Ein¬
fluß wiedergewonnen, um den .es seit dem Sturz des ersten Kaiserreichs gekommen
war, aber die Negierung ist nicht fester, nicht populärer geworden und die Lasten, die
es sich auferlegt hat, fanden bisher noch keine ausreichende Compensation in jenem.
Es wird sich wenigstens erst zeigen müssen, ob die Vortheile, die Frankreich
möglicherweise für sich in Anspruch nehmen konnte, diesem wirklich zufallen
werden. Die englisch-französische Allianz, deren Nothwendigkeit diesseits des
Rheins als eine Staatsmarime betrachtet wird, kann und wird von un->
geHeuern Folgen werden, aber bisher hat hier der Muth und jenseits des
Kanals der Wille gefehlt, dasjenige zu erstreben, was solchen Mitteln kein
Unerreichbares und allein das Heil für Europa wäre. Oestreich hat lange
Zeit durch seine Künste geblendet; die Befreiung der Donau wird dem mate¬
riellen Interesse seines Landes zu Gute kommen, aber es hat weder den Ein¬
fluß, noch die Achtung im Orient gewonnen, ohne welche es kein dauerndes
Gebäude für künftige Ausdehnung im Osten begründen kann. Es steht wo¬
möglich noch isolirter da, trotz seiner neuen Freundschaften, denn je. Nußland
hat es tödtlich verletzt und kann auf den Bundesgenossen für seine absoluti¬
stische Politik nicht zahlen. Es hat sich aber dem Westen nicht genug ge¬
nähert und bei diesem wie in der öffentlichen Meinung den vorübergehenden
Glanz verloren, den es sich durch Vorspiegelung einer westlichen Politik für einen
Augenblick erworben hatte. Deutschland ist zum Bewußtsein seiner diesfälligen
Täuschung gekommen. Es hat in Sardinien einen neugestärkten Gegner in
Italien bekommen und je feindseliger es sich einem Compromisse zeigt, um so
entschiedener wird Piemont wieder an die Spitze, wenn nicht der revolutio¬
nären, doch der unitaren Partei in Italien gedrängt. Sardinien selbst ist der
revolutionären Partei gegenüber geschwächt, weil es aus dem Kriege keine andere
Trophäe heimbringen dürste, als seine eigne. Tapferkeit und Rechtschaffenheit.
Preußen hat seine Neutralität bewahrt und das ist der von Oestreich verfolg¬
ten Politik gegenüber ein Verdienst, wenn die Ehrlichkeit ins Gesicht gefaßt
wird; vom Standpunkt der europäischen Politik aus kommt das berliner
Cabinet nicht mehr in Frage, als dies beim Kongresse der Fall ist, der es
zum Zeugen nach geschehener Arbeit angerufen hat. Die Türkei wird seufzen
über ihre vielen guten Freunde; was die Civilisation gewinnt, das verliert
diese Macht als solche, die sich ohne fortdauernde Vormundschaft kaum aus
den Widersprüchen wird herausarbeiten können, in die sie durch die neue Aera,
die für ihre Länder beginnt, verwickelt ist. Vrunnow hatte nicht Unrecht,
Aali Pascha, als dieser vom eoneert europLön sprach, daran zu erinnern, daß
dieses concert europeen uns 89,erkS ausi^ne werde hören lassen. So bleibt
denn im europäischen Staatssystem insoweit alles beim Alten und es sind
zu den alten blos neue Keime einer modernen Entwicklung hinzugetreten und
neue Ersahrungen gemacht worden hinsichtlich der Bedeutung der Factoren,
welche das europäische Schicksal ausmachen.
Die Industrie, welche ungeduldig schnaubt wie ein eingehaltener Dampfer,
aus dessen Schornstein der Ueberfluß an Dampf hinaus sich windet, wird
durch ihre Thätigkeit in der nächsten Zeit die Politik vergessen lassen, und
die Diplomatie wird bei der nach jeder Kraftanstrengung eintretenden Müdig¬
keit eine Weile ihre Partie Ecarte wieder aufnehmen können. - Die alten
Verbündeten, die neuen Freunde, wie die neuen Feinde und die jüngst Ver¬
söhnten werden in den neuen Zuständen so bequem als möglich sich einzurichten
suchen, aber auf die Dauer kann es, ihnen ebensowenig als Europa in diesem
zusammengestoppelten Frieden ganz wohl werden.
Schatzkästlein des G evatters manus. Von Berthold Auerbach.
Stuttgart und Augsburg. Cotta. — Die hier gesammelten Fragmente rühren ans
einem Kalender her, der 18^-1848 erschien. Es sind Geschichten. Anekdoten,^
schwanke und ernsthafte Abhandlungen, wie man sie in einem Kalender w se. alle
in dem gemüthlichen Ton Auerbachs erzählt und mit seinem bekannten plastischen
Talent ausgestattet. Es versteht sich von selbst, daß diese kleinen Bilder, die für
eine bestimmte Localität berechnet waren. viel verlieren müssen, wenn man sie von
ihrem natürlichen Boden trennt und eine sorgfältigere Scheidung des Bedeutenden
vom Unbedeutenden hätte in der That nichts geschadet. Doch sind die Gaben, die hier
geboten werden, reichlich genug, um die Berechtigung dieser Sammlung anerkennen
zu lassen. Sie können anch in dieser Form in die Hände des Volks übergehen
und haben nebenbei, ein culturhistorischcs Interesse. Auerbach hat mit seinen
Schriften, obgleich er' Niemals eigentlicher Politiker war , immer einen praktischen
Zweck verknüpft. Er suchte die Gesinnungen des Liberalismus im Volke zu ver¬
breiten und namentlich auf den Weg hinzuweisen, den jeder einzelne zur Bethäti¬
gung seiner Gesinnung einzuschlagen hätte, ohne erst auf einen allgemeinen Um¬
schwung zu warte». Auf solche Bestrebungen hat bei dem redlichsten Willen und der
besten Einsicht der Wechsel in den Zeitstimmungen immer einigen Einfluß und dieser
macht sich hier doppelt geltend, da die genannten vier Jahre entscheidend für den
Umschwung in den Ansichten und Ueberzeugungen Deutschlands waren. Wir können
hier bei einem geistvollen Schriftsteller diese Steigerung von wohlmeinender Oppo¬
sition zu heftiger Erbitterung auf eine sehr lehrreiche Weise verfolgen und wir
möchten den dringenden Wunsch aussprechen, daß diese Erfahrung beherzigt werde,
damit wir dasselbe Schauspiel nicht zum zweiten Mal erleben dürfen; denn anch
der Unmuth jener Jahre fing mit stumpfer Gleichgiltigkeit an, bis diese Gleich¬
giltigkeit sich endlich in Haß verwandelte. Wie gering man auch von der öffent¬
lichen Meinung denken mag und auch wir siud keineswegs geneigt, dieselbe zu
überschätzen, so bleibt sie doch ein sehr beachtenswerther Factor der Geschichte und
es rächt sich unausbleiblich, wenn man sie zu gering anschlägt. Der Pulsschlagdes Lebens geht jetzt schneller. die Stimmungen und Krankheiten greisen massen¬
hafter ineinander über und wir können nicht lebhast genug wünschen, daß unserm
Volk die Uebel erspart werden mögen, von denen wir bis jetzt doch nur einen sehr
dürftigen Vorschmack habe,>en.
Der Cynismus, mit welchem die moderne Naturwissen-
schaft sich über die geistigen Beziehungen des Menschen ausläßt, ruft eine Reihe
kampfgerüsteter Gegner hervor, die mit mehr oder minder Erfolg die üblen Wir¬
kungen von Moleschott, Vogt, Büchner und andern zu Paralysiren suchen. Wir
haben unsrerseits an diesem Kampf lebhaften Theil genommen und können uns da¬
her hier damit begnügen, auf die Schriften, der uns befreundeten Richtung hinzu¬
weisen. Den Vorzug darunter geben wir dem Werk von Julius Schal ter:
Leib und Seele, zur Ausklärung über Köhlerglauben und Wissenschaft (Weimar,
Bostan). Daran schließt sich: Die neueste Vergötterung des Stoffs, ein Blick in
das Leben der Natur und des Geistes, von August Webxr (Gießen, Ferber). —
Wir haben bereits mehrfach ausgeführt, daß die Naturwissenschaft vollkommen Recht
hat, materialistisch zu sein, da sie es lediglich mit der Materie zu thun hat; daß
sie aber Unrecht hat, die Kategorien des niedern Lebens, innerhalb dessen sie sich
bewegt, auf die Sphäre des höher entwickelten Lebens anzuwenden. In jeder
concrcteren Lebensentwicklung tritt ein neues Moment ein, welches der niederen
Stufe verschlossen bleibt. Die Kategorien der reinen Mathematik reichen für die
Mechanik nicht aus, die Kategorien der Chemie nicht für die Physik, und ebenso¬
wenig die Kategorien der Physiologie für die Psychologie. Wenn man meint, den
Geist durch Zurückführung auf seine Materielle Grundlage aufzuheben, so ist das
derselbe Irrthum, als wenn man in der Aesthetik die Idee des Erhabenen aus¬
löschen wollte, weil der materielle Gegenstand dieses Gefühls, z. B. der Montblanc,
sich in Kies, Erde und Schmuz zerlegen läßt, also in Momente, die an sich be¬
trachtet nichts weniger als erhaben sind. — Wenn die cynische Form, in der dieser
Materialismus sich ausspricht, aus die unwissende Menge, die nicht gewöhnt ist, Be¬
griffe zu scheiden, eine nachtheilige Wirkung ausübt, so wird man dieser erfolgreich
nicht durch speculative Widerlegungen, sondern durch freie Entwicklung des Idealis¬
mus entgegenwirken. Es ist schlimm, daß im gegenwärtigen Augenblick der Idea¬
lismus der Philosophie und der Dichtung erlahmt ist, und daß das religiöse Leben
sich mehr und mehr in ein Gebiet flüchtet, welches nicht blos über der Natur, son¬
dern außer der Natur steht. Der systematisch durchgeführte Supranaturalismus
geht mit dem systematischen Materialismus Hand in Hand, oder, wie man sich sonst
ausdrückte, der Aberglaube mit^dem Unglauben. Es ist zwischen diesen Gegensätzen
auch keine Vermittlung möglich, die nur auf dem Boden des echten Idealismus
denkbar wäre. Sie schließen einander aus, und nur das ' materielle Uebergewicht
kann den Kampf entscheiden. — Man versucht von Zeit zu Zeit den Idealismus
auf speculativem Boden wieder aufzunehmen, und auch gegenwärtig liegen uns
einige beachtenswerthe Versuche der Art vor. Wir erwähnen nur: „Die Grund¬
lagen des sittlichen Lebens. Ein Beitrag zur Vermittlung der Gegensätze in der
Ethik, von Hofrath Schliephake (Wiesbaden, Kreidel und niedrer)." Ferner:
„Kritik des Gottesbegriffs in den gegenwärtigen Weltansichten (Nördlingen, Beck)".
Im Allgemeinen haben, aber solche Versuche keine große Aussicht auf Erfolg, da
die Zeit die philosophischen Strömungen nicht begünstigt. Viel wichtiger ist der
Fortschritt unsrer historischen Literatur, auf den wir schon in andrer Beziehung
mehrfach hingewiesen haben, denn in der Geschichte entwickeln sich die Ideen auf
eine unmittelbar fruchtbringende naturwüchsige Weise, und wer das Große in der
Wirklichkeit vor seinen Augen entstehen sieht, der wird an der Existenz des Großen
und Erhabenen nicht zweifeln, nicht daran denken, das Geistige und ^celle ato-
mistisch zu zersetzen. - Wichtig ist serner die gleichmäßig constructive Msbildnng
der allgemeinen Naturwissenschaft, in der Weise, wie sie Humboldt in seinem Kos¬
mos .versucht hat. Da dieses tiefsinnige Werk sür Laien nur durch Commentare
genießbar gemacht werden kann, erwähnen wir hier der vortrefflichen ..Briefe über
Humboldts Kosmos, von Cotta". wovon die dritte, wesentlich vermehrte und v-r.
besserte Auflage (Leipzig, Weigel) im Lauf der letzten Monate erschienen ist. Es
ist wichtig, wenn das große Publicum darauf aufmerksam gemacht wird, daß auch
in den Reihen der Naturforscher der' Materialismus nicht unbedingte Herrschaft aus¬
übt. Vortrefflich spricht sich darüber der Verfasser in der Vorrede aus. „Die Er¬
fahrung lehrt, daß Glaube und Forschung recht wohl nebeneinander bestehen können,
aber bedenklich erscheint es. sie voreilig verschmelzen zu wollen. Stimmen sie in
ihren Resultaten überein - um so besser, wenn nicht, dann ist vielleicht in der
einen oder in der andern Richtung nur die augenblickliche subjective Auffassung '
daran Schuld. Mir schien es immer ein schlechter Dienst, den man irgend einer
Glaubenslehre erweisen wollte, wenn man sie durch specielle Resultate der Natur-
Wschung zu stützen suchte. Solche Stütze» sind leicht sehr zerbrechlicher Natur.
Beständen sie allemal nur aus erwiesenen Thatsachen und einfachen Naturgesetzen
ohne weitere Deutung, dann möchten sie dauerhaft sein, aber gar oft hat man
Hypothesen oder Deutungen von Thatsachen dazu verwendet, die spater als irng
erkannt wurden, und somit ihren Zweck mindestens verfehlten. Der Naturforscher
bekennt, daß sein Gebiet ein begrenztes ist. daß seine Mittel z. B. nicht ausreichen,
um den Anfang und die Ursache der Dinge zu erklären, über diese Grenzen seiner
Forschungssphäre geht er als solcher nicht hinaus. jenseit derselben ist sur ihn weder
etwas zu beobachten, noch etwas zu beweisen, er darf aber auch - will er seinen
Boden nicht verlassen — die aus ganz anderem Wege erlangten Satze nicht als
Erklärungen des aus seinem Wege noch Unerklärbarem benutzen; er wurde damit
sich stets der Gesahr durch subjective Anschauung irrthümlicher Deutung aussetzen.
Damit aber bestreitet er noch nicht jene Sätze, sie können ihm so heilig sein, als
irgend einem andern."
Unter den zahlreichen Reisebeschreibungen. die wir in neuester
Zeit angesehen haben, verdient das Buch: Meine Reise im Orient, von
Alexander Ziegler (2 Bde., I. I. Weber), bei weitem den Vorzug, sowol wegen
seiner augenscheinlichen Wahrheitsliebe, als wegen der außerordentlichen Lebhaftig¬
keit der Schilderungen. Die Reise geht durch Acgypten, Syrien, Palästina und
die Türkei. Die eingemischten politischen Betrachtungen über das türkische Reich
sind nicht aus der Oberfläche geschöpft, sondern beruhen auf einem eifrigen und
unparteiischen Studium der wirklichen Zustände. Der Fortbestand des türkischen
Reichs erscheint dem Versasser nicht so hoffnungslos, als man gewöhnlich annimmt.
..Wol bedarf die Gesetzgebung, das Finanzwesen, namentlich in Bezug auf Repar¬
ation und Reception der Steuern, einer durchgreifenden Verbesserung; wol ist es
an der Zeit, der demoralisirten und demoralisirenden Beamtenwirthschaft ein Ende
zu machen; wol entbehrt die Türkei noch immer zweckmäßiger, das umlaufende
Capital des Handels, der Industrie und des Ackerbaues fördernder Communications-
wege; allein alle diese Mängel zeigen, da sie eben noch zu verbessern sind, daß
dieser Stckatskörper wol ein kranker, in mancher Hinsicht sogar schwer kranker, keines¬
wegs aber ein der Besserung unzugänglicher, der Heilung total unfähiger sei. Diesen
und andern Uebelständen dürfte dadurch am besten zu begegnen sein, daß die Re¬
generation und Civilisation des türkischen Reichs als organisatorischer Act der
Neugestaltung von dem nöthigen äußern Schutz unterstützt, von den europäischen
Staaten angeregt, von der beteiligten Bevölkerung aber fortgeführt und vollendet
werde und zwar in der Art, daß auf jegliche Vergrößerung des Tcrritorialbcstandes
der contrahirenden Staaten auf Kosten türkischer Länder verzichtet, geeignete Sicher¬
stellung und Ausgleichung der Interessen der Christen und Türken angebahnt und
der ganzen Regeneration auch aus die Dauer Haltbarkeit zu geben gesucht wird.
Statt einer bisher bestandenen ungleichartigen, nicht ans gemeinsamen Sympathien
und Interessen der Bevölkerung ruhenden Gemeinschaft suche man als Grundlage
einer neuen Staatenordnung die confessionell-rationelle Einheit zu begründen; die
sporadisch zerstreute osmanische Bevölkerung zu einem Nationalstaat zu reformiren
und das Gleichartige zu neuen Gruppen zu vereinen. Ferner muß die bisherige
Ausnahmestellung der Staatsangehörigen der der Türkei^ befreundeten Mächte mo-
dificirt, der Christ nach einem als Grundnorm für alle Nechtsfälle und Streitigkeiten
giltigen Codex gerichtet, die geistliche Autorität von der weltlichen abgesondert, die
bisher dem Klerus zustehende, nicht rein kirchliche Gerichtsbarkeit demselben entzogen,
der christliche sowol wie der islamitische Priester ans Staatsmitteln besoldet und die
Rechtspflege den gewöhnlichen Gerichten überlassen werden." — Ein Buch von min¬
derem Belang, weniger sorgfältig ausgearbeitet, aber doch voll höchst interessanter
Details ist: Der Orient und Europa. Erinnerungen und Reisebilder von
Land und Meer, von Eduard Freiherrn von Callot. 10 Bde. Leipzig, Kollmann.
Hätte der Verfasser bei seinem schönen Auge für sinnliche Anschauungen, bei seinem
lebhaften Spürsinn und dem Eiser, mit dem er, seine Angelegenheiten betreibt,
anch noch das Talent der Selbstkritik, gäbe er nicht willkürlich jedem beliebigen
Einfall Raum, und wäre er infolge dessen > im Stande gewesen, seine zehn Bände
aus die Hälste zu beschränken, so würden wir in seiner Reisebeschreibung .ein durch¬
weg unterhaltendes und belehrendes Buch haben. — Ferdinand Gregorvvius,
dem wir bereits die Beschreibung der Insel Corsica verdanken, gibt uns in seinem
neuen Buch: Figuren, Geschichte, Leben und Scenerie aus Italien (Leipzig, Brock¬
haus), eine neue Reihe höchst liebenswürdiger und gut dargestellter Bilder, unter
denen uns das Ghetto in Rom und die Insel Capri am meisten angesprochen hat.
Zum 'Theil waren diese Skizzen bereits in der allgemeinen Zeitung abgedruckt.
Gewissermaßen als Parallele hat Gregorvvius seinen Idyllen vom lateinischen User
eine Beschreibung des samländischen Badelebens gegenübergestellt, an dessen heiteres,/
burschikoses Treiben sich jeder, der es einmal mitgemacht, mit Vergnügen erinnern
wird.______
Der Vertrag vom December zwischen den Westmachten und Schweden
hat die Blicke Europas wiederum auf die skandinavischen Königreiche gerastet.
Seit dem Verlust Finnlands und der Vereinigung mit Norwegen hat Schwe¬
den nicht nur seine frühere politische Stellung und seine Bedeutung für den
Norden Europas verloren, sondern es hatte auch ein politisches System
adoptirt. wodurch es gleich Dänemark von Rußland am Schlepptau geführt
wurde.
Seit der Wahl Bernadottes zum schwedischen Thronfolger, im Jahr 1810,
und dem Kriege Frankreichs gegen Rußland, im Jahre hat letzteres einen
entscheidenden Einfluß in Stockholm gewonnen, einen Einfluß, der sich bis in
die neueste Zeit geltend machte und der Politik des schwedischen Cabinets die
Richtung gab. der sie bisher folgte.
Der Vertrag mit den Westmächten hat dieser Politik ein Ende gemacht
und es ist für das europäische Jmeresse zu hoffen, daß Schweden wiederum
die politische Stellung einzunehmen trachten wird, die es in früheren Jahr¬
hunderten einnahm, nämlich eine starke unabhängige Macht zweiten Ranges
zu sein, die vermittelst ihrer geographischen Lage vorzugsweise dazu geeignet
erscheinen möchte, im Norden Europas das Gleichgewicht zwischen dem Osten
und dem Westen aufrecht zu erhalten. Auch glauben wir nicht zu irren, wenn
wir behaupten, daß die drei skandinavischen Königreiche, Schweden, Nor¬
wegen und Dänemark dazu bestimmt sind, in nicht gar ferner Zeit zu einer
skandinavischen Union unter dem Scepter der gegenwärtigen schwedischen Dy¬
nastie verbunden zu werden.
ES möchte diese Behauptung, nachdem vor wenigen Jahren das londoner
Protokoll unterzeichnet und der darauf beruhende sogenannte dänische Gesammt-
stacit. gebildet ist, auffällig erscheinen, insbesondere denjenigen, denen die gegen¬
wärtigen, dänischen Zustände und Verhältnisse unbekannt sind. Wir glauben
aber, daß grade in diesen Zuständen und Verhältnissen die sicherste Garantie
für die Richtigkeit unsrer Behauptung liegt, und zwar aus folgenden Gründen.
Das londoner Protokoll war ein Versuch, den auf Rußlands Antrieb die
Großmächte machten, um die Trennung der deutschen Herzogthümer von Däne¬
mark und Dänemarks Vereinigung mit Schweden uno Norwegen zu einer
skandinavischen Union zu verhindern, welches letztere bei dem Ausbruch der
Revolution in Kopenhagen, im März -1848, im Plane der dortigen skandi¬
navischen Partei lag. > Der Kampf mit den Herzogthümern galt damals nur
dem Herzogthum Schleswig, welches die skandinavische Partei in Kopenhagen
der Union mit Schweden und Norwegen als „Morgengabe" mitbringen
wollte. Die deutschen Bundeslande, Holstein und Lauenburg dagegen wollte
die Partei los sein; deshalb war sie auch geneigt, auf den von England ge¬
machten Vorschlag.einer Theilung Schleswigs einzugehen, welcher Vorschlag
indessen an der Kurzsichtigkeit der damalige» provisorischen Regierung in den
Herzogthümern scheiterte und welcher gänzlich zu Grabe getragen wurde, als
das dänische Märzministerium im November -1848, auf Verlangen Rußlands,
einem andern Ministerium Platz machen mußte.
Man glaubte bei Unterzeichnung des londoner Protokolls dem natur¬
gemäßen Verfall der dänischen Monarchie dadurch vorbeugen zu können, daß
man für den deutschen und dänischen Theil der Monarchie eine neue Thron¬
folgeordnung schuf und für alle verschiedenen Theile der Monarchie eine gemein¬
same Verfassung einführte, neben welcher jeder einzelne Theil auch noch seine
eigne Verfassung erhielt. Ohne Berücksichtigung der verschiedenen Nationali¬
täten , Verhältnisse, Rechte, Gesetze und Volkscharaktere in den einzelnen
Theilen dieses neugebildeten Gesammtstaats glaubte man in London, durch
einen auf Papier geschriebenen Machtspruch alle Schwierigkeiten, zu welchen
der Streit zwischen Dänemark und den deutschen Herzogthümern die Vcran->
lassung gegeben hatte, beseitigen zu können und man hoffte dadurch einer Ver¬
legenheit aus dem Wege gegangen zu sein, die schon lange wie ein Alp auf
die europäische Diplomatie drückte. Niemand, außer Nußland, am wenigsten
aber England, erkannte damals, welche Folgen das londoner Protokoll für den
neugebildeten Gesammtstaat haben mußte. Niemand scheint begriffen zu haben,
daß eine Monarchie von kaum zwei Millionen Menschen mit halb skandinavi¬
scher, halb deutscher Bevölkerung, gebildet aus einem skandinavische» König¬
reiche mit den vom Mutterlande entfernt liegenden JnselnJsland und den Faröern,
einem halb dänischen, halb deutschen Herzogthum und zweien ganz deutschen,
zum deutschen Bunde gehörenden Herzogthümern, von welcher jeder einzelne'
Theil seine eigne Verfassung, alle Theile zusammen aber eine gemeinsame
Verfassung erhielten, ein so complicirtes Staatsgebäude ist, daß in dieser
Staatsorganisation selbst der Keim zu dessen baldiger Auflösung liegt. In der
dänischen Monarchie bestehen nicht weniger als sieben verschiedene repräsen¬
tative Verfassungen mit acht repräsentativen Versammlungen und mit
einem Gesammtministerium, von welchem ein Theil dem dänischen Reichstage,
Theil nnr dem König allein verantwortlich ist. Die Folgen hiervon
werden fortwährende Conflicte sein zwischen den verschiedenen Nationalitäten,
den einzelnen Ständeversammlungen und wiederum zwischen diesen und der
Regierung. Was letztere aufbauen und einführen will erleidet Widerspruch
und Opposition bald von der einen, bald von der andern Seite. Was die
Dänen wollen, ist den Deutschen zuwider; was die Deutschen wünschen, wird
von den Dänen bekämpft. In dem Reichsrathe, in welchem Dänen und
Deutsche nebeneinander sitzen, werden beide Sprachen geredet, ohne daß alle
Mitglieder einander verstehen, da die wenigsten Holsteiner und Südschteswiger
der dänischen und sehr viele Dänen der deutschen Sprache nicht mächtig sind;
der gegenwärtige Präsident des Reichsrathcs, Professor Madvig aus Kopen¬
hagen, soll sich nicht ohne Schwierigkeit auf Deutsch verständlich machen kön¬
nen, der Vicepräsident, Professor Burchardi aus Kiel, ein geborner Nordschlcs-
w'ger, soll nnr das fchleswigfche sogenannte Naben- oder Kartosseldänisch
sprechen können, welches weder Dänen noch Deutsche verstehen. Gegenseitiges
^ lpvergnügen und gegenseitige Erbitterung wie allgemeine Unzufriedenheit sind
>e Folgen dieser erkünstelten, unnatürlichen Staatseinrichtung, durch welche kein
heil befriedigt wird und die besten Kräfte der einzelnen Theile sich gegenseitig
"ufvclben. Keine Regierung, kein Minister, kein staatsmännisches Talent ver¬
mag unter solchen Umständen und Verhältnissen auf die Länge daS Regiment
fuhren, ohne ein Opfer der Parteien und somit aller Kraft und Würde
""übt zu werden. Wie trostlos diese Verhältnisse sind und wie wenig die
in"!c-" dieselben befriedigt werden, geht am deutlichsten aus der dänischen
r^pe hervor. Als Beweis der dortigen Ansichten und Stimmungen mag
y'er der Anfang eines längeren Artikels über den Reichsrath in einem viel
g-lesenen dänischen Blatte Platz finden:
" " sogenannte Reichsrath ist zum ersten Mal versammelt. Es sind acht
radt^sind' ^ " M<nztagen 1848. Die Gesammtverfassung und der Reichs-
^ Resultat so blutiger Kämpfe, so großer Anstrengungen, so
mancher Verwicklungen, so verschiedener Versuche; der letzte Rest unsrer
.theuersten Hoffnungen liegt begraben - im Reichsrathe alle, zu welcher
Mrtci sie anch gehören, sind mißvergnügt. Keiner glaubt daran, daß
n 5 -verfanung und dieser Zustand von langer Dauer sein
wir . Die holsteinische Ständeversammlung ist schon in vollem Aufruhr
g^egen die neue Verfassung, «„d ^ Reiches alte Feinde treten schon sogleich
>e er dreister auf, als vor 1848. gesichert und gestärkt in ihrer Widerstands-
"<M durch die neue Separatverfassung :c. :c. :c."r
Niemand wird hiernach glauben wollen oder können, daß die gegenwärtige
laatsmaschine, welche darauf berechnet ist, die einzelnen Theile des sogenann-
te.n dänischen Gesammtstaats zusammenzuhalten, noch lange'in Wirksamkeit zu
bleiben vermag. Bricht diese Maschine aber zusammen, so ist eine Selbstfolge,
daß die einzelnen Theile des Gesammtstaats dorthin fallen, wohin sie zufolge
ihrer naturgemäßen Entwicklung fallen müssen, wohin sie durch nationale
Sympathien und materielle Interessen unwiderstehlich hingezogen werden und
wohin sie im europäischen Interesse, zufolge einer gesunden Politik, ge-
hören, nämlich Dänemark an Skandinavien, die Herzogtümer an Deutsch¬
land. - .
Der Kampf, der zwischen Dänemark und den Herzogthümern geführt wurde,
und den man durch das londoner Protokoll und die dänische GesammlstaatS-
einrichtung beizulegen meinte, ist kein Kampf von gestern oder heute. Von
Dänemark und Rußland getäuscht, meinten die Unterzeichner des londoner
Protokolls, es handle sich hier nur um dynastische Interessen und eine so¬
genannte Volksfreiheit im Gegensatz einer unumschränkten Regierungsform.
Man glaubte durch Ordnung der Thronfolge und Einführung einer durch
Verfassungen eingeschränkten Regierungsform alle .Bedürfnisse und Wünsche
befriedigt zu haben. Die eigentliche Ursache jenes Kampfes, der schon
seit 600 Jahren, nämlich seit der Zeit des dänischen Königs Waldemars des
Siegers bestanden hat und seit der Zeit mit den verschiedenartigsten Waffen
und abwechselndem Erfolge geführt wurde, erkannte wol keiner jener Unter¬
zeichner des londoner Protokolls. Dieser Kampf ist kein anderer, als der
Kampf des skandinavischen Elements mit dem deutschen Elemente
an den nördlichen Grenzen Deutschlands. Das Dänenthum will nach Süden
vordringen, sein skandinavisches Sprach- und Nationalilätsgeluet dorthin er¬
weitern und will deshalb das deutsche Element theils zurückdrängen, theils
gänzlich unterjochen. Das deutsche Element jenseits der Elbe will sich weder
zurückdrängen, noch von dem Dänenthum unterjochen lassen; und so muß ein
Kampf zwischen beiden entstehen und fortgeführt werden, bis entweder der eine
Theil den andern gänzlich unterjocht und in sich aufgenommen hat, oder beide
Theile dergestalt voneinander getrennt.werden, daß alle Berührungspunkte
und daraus entstehende Conflicte von selbst wegfallen.
Da ersteres nun nicht möglich ist, denn weder wird es den Dänen ge¬
lingen, den niedersächsischen Volksstamm der Südschleswiger, Holsteiner und^
Lauenburger in Skandinavier, noch jenen, die Jnselvänen in Deutsche zu
verwandeln, so bleibt nur letzteres übrig, nämlich Dänemarks Vereinigung
mit den beiden Schwesterreichen, Schweden und Norwegen, und der deutschen
Herzogthümer Vereinigung mit Deutschland.
Das Königreich Dänemark, unter eigner Verfassung, in Union mit de'n
beiden andern skandinavischen Königreichen, ist wie gesagt schon seit lange der
Wunsch einer mächtigen Partei in Dänemark, der Partei, die sich selbst den
Namen der skandinavischen Partei beigelegt hat. Diese Partei ist die einzige,
die in Dänemark eine Zukunft besitzt und zu ihr gehören fast alle, die in
Dänemark auf Intelligenz und Bildung Anspruch machen. In der Union mit
den beiden andern skandinavischen Königreichen erblicken die Dänen eine sichere
Bürgschaft für die Aufrechthalmng und Entwicklung ihrer skandinavischen
Nationalität, die sie stets von der deutschen Nationalität gefährdet glauben;
in dieser Union finden sie die Befriedigung ihres nationalen Ehrgeizes, indem
sie niemals die politische Rolle vergessen können, die Dänemark in fnihern
Jahrhunderten spielte; und in dieser Union meinen sie der einflußreichste Theil
derselben zu werden und die ganze Union beherrschen zu können. Grunde
genug für die Dänen bei ihrem eingewurzelten Haß gegen alles Deutsche und
bei den trostlosen Aussichten, die für die Zukunft sich ihnen eröffnen, sowol in
Betreff ihrer innern Verhältnisse, wie in Betreff der ganzen politischen Stellung
ihres Vaterlandes, welches unter den gegenwärtigen Verhältnissen fremden
Interessen, insbesondere denen Rußlands dienen muß, nur ihr Heil in dieser
Union zu erblicken.
Will man nun im europäischen Interesse aus einem politischen Gesichtspunkte
die Union der drei skandinavischen Königreiche betrachten, so ist es einleuchtend,
daß nichts mehr im Interesse der Westmächte und Deutschlands liegt, als eine
Macht im äußersten Norden Europas zu schaffen, welche vermittelst ihrer geo-.
graphischen Lage sowol, wie ihres gestimmten Ländercompleres stark genug wäre,,
sich jedem fremden Einflüsse zu entziehen und doch infolge ihrer eignen Inter¬
essen genöthigt wäre, sich dem Westen oder Deutschland anzuschließen.
Wir haben im Vorstehenden das deutsche Publicum auf die derein-
st'ge Lösung der skandinavischen Frage aufmerksam zu machen und zugleich
zeigen versucht, wie in der Lösung derselben ebenfalls die Lösung der däni¬
schen und Schleswig-holsteinischen Frage liegt. Der politische Schleier, der
noch die nächste Zukunft Europas verhüllt, wird vielleicht bald gelüftet werden
und alsdann wird sich zeigen, ob die skandinavische Union der drei nordischen
Königreiche früher oder später ins Leben zu treten verspricht. Daß sie aber
ins Leben treten wird und muß, ist unausbleiblich und es handelt sich hier
nur um einen- kürzern oder längern Zeitpunkt.
Es ist drei Jahre, her, daß ich in diesen"Blättern über die Kunstanstalten
Berlins berichtet habe. In dieser Zeit hat sich der Reichthum doch ziemlich
bedeutend vermehrt, und das neue Museum stellt sich sowol durch seine Lage
wie durch seinen Inhalt als der Mittelpunkt derselben dar. Von der Akademie
bis zum neuen Museum hin ist eine Fülle von architektonischen und plastischen
Versuchen vorhanden, die zum Theil durch ihre Schönheit fesselt, zum Theil
durch ihre bunte Mannigfaltigkeit verwirrt. Die Stile und Kunstgattungen
der verschiedenartigsten Zeiten reihen sich so hart aneinander, daß daraus ge¬
wissermaßen eine neue Einheit entsteht, — die Einheit der Caprice. Charakte¬
ristisch ist es, daß einer der großartigsten Versuche, das Fundament des neuen
Doms, gewissermaßen schon als eine moderne Ruine daliegt. Der Kreis der
preußischen Feldherrn zwischen dem Opernhause und der Wache hat sich um
zwei vermehrt: York und Gneisenau; und wenn auch die Ausführung,
namentlich des letzteren, manches zu wünschen übrigläßt, so ist doch dadurch
wieder ein lebendiges Stück preußischer Geschichte gewonnen, das im Zusam-
menhang mit dem Friedrichsdenkmal der Hauptstadt eines kühn emporstrebenden
Staates würdig ist. Weniger in den historischen und architektonischen Zusam¬
menhang des ganzen Stadttheils wollen die Gruppen auf der Schloßbrücke
passen, die sich durch das hohe Fußgestell und die weiße Farbe schon von
weitem dem Blicke aufdrängen, und den realistischen Charakter der übrigen
Statuen beeinträchtigen. Natürlich gehöre ich nicht zu den christlichen Eiferern,
welche der antiken Kunst überhaupt den Zugang zum modernen Leben ver¬
schließen möchten, aber jedes Kunstwerk erfordert doch seine bestimmte Stelle,
und auf die Schloßbrücke zwischen das Friedrichsdenkmal und den großen
Kurfürsten gehört die Antike unzweifelhaft nicht. Daß die Fußgestelle viel
zu hoch sind, sowol für die richtige Anschauung der Gruppen als für den
architektonischen Gesammteindruck, darüber ist eilte Welt einig.
In das neue Museum selbst wird man zwar nicht mehr durch die alte
Schneemasse geführt, aber man empfängt beim Eingange noch immer nicht
einen bestimmten Eindruck von der architektonischen Anlage des Ganzen, ob¬
gleich man auch in dieser Beziehung der Vollendung viel näher gekommen ist.
Im Treppenhaus ist die eine Wand jetzt vollständig enthüllt, auf der andern
Wand ist die Hunnenschlacht fertig, die Reliefs sind in übergroßer Zahl überall
angebracht, wo irgend ein Platz frei war; und so kann man auch hier die
künftige Vollendung sich ziemlich deutlich versinnlichen. Das ägyptische Mu¬
seum in der untern Etage war schon früher fertig, für das gegenüberliegende
deutsche scheint es — charakteristisch genug — an Stoff zu fehlen, denn was
bis jetzt darin aufgestellt ist, hat mehr das Ansehen einer Rumpelkammer. Die
Säle der zweiten Etage, in denen die Gypsabgüsse in historischer Reihen¬
folge aufgestellt sind, von Phidias und den Aegineten bis zu Thorwaldsen,
sind beinahe fertig, obgleich man^noch immer von Zeit zu Zeit einen kleinen
leeren Platz entdeckt, wo etwas Neues aufgestellt werden kann. An der dritten
Etage, welche die Kunstkammer deS Schlosses aufnehmen soll, wird stark ge¬
arbeitet, die Baulichkeiten sind zum großen Theil fertig, die Wandgemälde,
namentlich der großen Kuppel, die man jetzt nur vom Gerüst aus sehen kann,
später aber von unten mit dem Fernglas aufsuchen muß, sind zum großen
Theil schon ausgeführt. Aufgestellt ist noch nichts.
Die Ausstellungen, die man gegen den Plan, soroie gegen die Ausführungen
im Einzelnen machen kann, drangen sich so aus und sind so unabweisbar, daß
man um der Gerechtigkeit willen auch gleich die andere Seile hervorheben
muß. Trotz dieser Mängel haben wir doch eine schöne, prächtige Kunstanstalt
vor uns, die wir mit Freude und Bewunderung durchstreifen, in der wir zwar
vieles anders wünschten, für die wir aber doch dem Begründer den lebhaftesten
Dank sagen müssen. Den Eindruck des Ueberladenen machen die meisten
modernen Kunstanstalten,; freilich steht das neue Museum darin in erster Reihe, ,
vorzugsweise deshalb, weil es häufig die Mittel mit dem Zoe-cke verwechselt.
In einem Museum sollen die gesammelten Gegenstände die Hauptsache sein,
und von den Baulichkeiten verlangt man nichts weiter, als daß sie den Ein¬
druck derselben auf eine schickliche würdige Weise zur Geltung bringen oder
wenigstens nicht beeinträchtigen. Im neuen Museum, dagegen sieht es zu¬
weilen so aus, als ob das Gebäude die Hauptsache sei und die Kunstgegen¬
stände nur zur Decoration dienen sollten. ' Am auffallendsten ist das im
ägyptischen Museum, wo die ägyptische Baukunst, freilich im verkleinerten
Maßstabe., gradezu imitirt ist, wodurch die aufgestellten Alterthümer in ein
ganz unrichtiges Verhältniß kommen. Indeß bei ägyptischen Kunstwerken ist
der Verlust nicht so groß; empfindlicher wird er in den griechischen Sälen, wo
man die Gypsabgüsse der großartigsten Kunstwerke zum Theil uach rein deko¬
rativen Gesichtspunkten aufgestellt hat, nicht, wie es doch eigentlich sein sollte,
mit dem Zweck, sie von allen Seiten so deutlich als möglich zu zeigen. Mit¬
unter kann man bei der Ausstellung nicht einmal jenen Gesichtspunkt geltend
machen und muß sich bei der Frage uach dem Warum mit ven Schillerschen
"Spruch trösten:
„Was kein Verstand der Verständigen steht,
Das übt in Einfalt ein kindlich Gemüth."
Die zum Theil sehr schön und glänzend ausgeführten Gemälde aus dem
griechischen und römischen Leben erdrücken mit ihren grellen, leuchtenden Farben
die weißen Gypsabgüsse, und schieben so den Zweck hinter das Mittel zurück.
Die großen Wandgemälde sind auch keineswegs durchweg so eingerichtet,
daß man einen richtigen Eindruck von ihnen gewinnt. Das gilt schon vom
Treppenhause, es wird noch viel schlimmer bei der neuen Kuppel sein, bei der
zum Theil die bedeutendsten Gemälde dem Auge verloren gehen. Viele von
den kleinern Gemälden liegen ganz im Finstern, einige sind im vollen Ernste
bei der Laterne gemalt. Es ist zwar im Interesse der jüngeren Künstler sehr
anzuerkennen, daß sie dadurch so vielfältige Gelegenheit zu Arbeiten gefunden
haben, im Interesse der Kunst wäre es aber doch zu wünschen gewesen, daß
man haushälterischer damit umgegangen wäre, denn die vielen kleinern Bilder,
die man nicht genau sieht, und die doch die Neugier herausfordern, beeinträch¬
tigen auch in architektonischer Hinsicht den Eindruck des Ganzen.
Das Treppenhaus, der eigentliche Mittelpunkt des ganzen Museums,
imponirt durch seine Größe und im Ganzen auch dach den Adel seiner Ver¬
hältnisse; doch ist auch hier manches aufgenommen, was dem Zwecke zuwider¬
läuft; so namentlich die beiden Kolosse, die ins Freie gehören, hier aber die
zunächststehenden Säulen und damit die architektonischen Verhältnisse über¬
haupt zu Boden drücken. Ferner das kleine Tempelchen an^s der Spitze der
Treppe, dessen Zweck durchaus nicht ersichtlich ist, und das mit seiner Winzigkeit
den kolossalen Prachtbau sehr schlecht abschließt. Durch die hellen Farben der
Wandgemälde und im Gegensatz dazu durch die meisten Reliefs kommt in das
Ganze ein Geist der Unruhe, der den imponirenden Eindruck der Größe beein¬
trächtigt. Trotzdem muß ich sagen, daß die jetzt fertige zAand in ihrer Voll¬
endung besser aussieht, als man vorher erwarten durfte. Der erste sinnliche
Farbeneindruck, bevor man daran denkt, die einzelnen Gegenstände zu unter¬
scheiden und in ihrer Individualität zu verfolgen, ist ein wohlthuender. Die
drei großen Wandgemälde sind in ihrer Composition streng symmetrisch geordnet,
die dazwischenliegenden allegorischen Figuren bilden einen wohlthuenden Ueber¬
gang; von dem Fries, der allenfalls störend einwirken könnte, sieht man gar
nichts. Trotzdem muß es fraglich bleiben, ob die neue Bereicherung der
Technik, nach welcher man die FreScomalerei in der Weise ,der Oelgemälde
ausführt, ein wirklicher Fortschritt für die Kunst ist. Die Frescomalerei soll
sich mit ihren bescheidenen Farben der Architektur anschmiegen, die Oelmalerei
nimmt ein individuelles Recht für sich in Anspruch, während diese Zwitter-
gattung weder das eine noch das andere ganz leistet, Indeß muß man in
dieser. Beziehung seine Wünsche zurückhalten und zunächst auf das eingehen,
was wirklich geleistet ist; und das ist immer so bedeutend, daß man füglich
die principiellen Fragen außer Acht lassen darf.
' Unter den neueren Künstlern ist über keinen so viel gestritten worden, als
über Kaulbach. Auch in diesen Blättern haben sich die entgegengesetzten An¬
sichten Geltung zu verschaffen gesucht. Wer aber noch daran zweifeln sollte,
ob Kaulbach ein Künstler, und zwar ein großer Künstler ist, der muß die jetzt
vollendete Hunnenschlacht ins Auge fassen, Hier kann gar keine andere
Empfindung aufkommen, als reine freudige Bewunderung; der Eindruck ist ein
überwältigender. Ich habe die Hunnenschlacht stets für die bedeutendste Com¬
position Kaulbachs gehalten, aber der Ausführung der Farben mit einer ge-
wissen Bangigkeit entgegengesehen, da der phantastische Gegenstand, der im
Carton völlig zu seinem Rechte kam, sich mit der realistischen Ausführung
nicht zu vertragen schien. Allein diese Besorgniß, die wol viele Bewunderer
des Meisters getheilt haben, ist auf das glänzendste widerlegt. Die Hunnen-
Ichlacht ist auch in Bezug auf die Farbe das Größte, was Kaulbach ausgeführt;
sie ist durchaus eine Eingebung des Genius, während sich sonst bei den grö¬
ßeren Compositionen Kaulbachs die Reflexion auf eine beunruhigende Weise
vordrängt. Was Kaulbach hier gemalt, hat er wirklich geschaut, es ist in
" Figuren trotz der unheimlichen Atmosphäre, in der sie sich bewegen, ein
>re>es, kühnes und großes Leben, so daß auch derjenige mit fortgerissen wird,
" gar nicht weiß, was er sich unter dem Gegenstände vorstellen soll. Ueber-
)aupt ist mir vor diesem Bilde recht deutlich geworden, daß, so wichtig im
Allgemeinen die Wahl deö Stoffes ist, der wahre Genius sich auch darüber
hmwegseyen darf. Wenn man einem, der das Gemälde selbst nicht kennt,
den Plan desselben auseinandersetzen wollte: das Schlachtfeld, auf dessen
Vordergrunde die Leichen der Gefallenen sich ihrem Todesschlafe entreißen, um
in die Lüfte aufzusteigen, und dort den blutigen Kampf von neuem fortzusetzen,
'o würde er gewiß zweifelhaft den Kopf schütteln. Sobald er aber daS
^'it sieht, hört aller Zweifel auf, denn der Künstler hat den Stoff aus seiner
ngnen Seele genommen. So zahlreich die Figuren und so complicirt die
Bewegungen sind, so ist in dem Bilde doch keine Unruhe; die Gruppen sind
k"^" "^eben Bewegung klar un,d übersichtlich; der Gegensatz ist groß ge-
acht und die Unmöglichkeit der Situation ist Wirklichkeit geworden. Die
aller ^ ^ ^amen'usch romantisch und doch klar und bestimmt, ganz frei von
^^^'in und Verzerrung. Der anscheinend grauenvolle, wildverzerrte
cgenstand macht den Eindruck der Schönheit. Wäre Kaulbach immer so den
"'gedungen seines Genius gefolgt, wie in der Hunnenschlacht, so würden
>e Zweifel an seiner Größe bald verstummen. Ich mache in der Behandlung
nur auf eins aufmerksam; hier haben wir es mit wirklichen Gespenstern zu
thun, wahrend die obere Schicht des babylonischen Thurmbaues, des Homer
und der Zerstörung Jerusalems Götter und Heroen darstellen soll: aber
grade die letzteren machen den Eindruck von Schemen, die ersteren haben
sinnliche, kräftige Realität. Man vergleiche ferner den Attila der Hun¬
nenschlacht mit dem Nimrod des babylonischen Thurmbaues; der letztere
»se der abstracte Theatertyrann, sein Ausdruck wie seine Bewegungen sind
unwahr und bis zum Gemeinen verzerrt, während in der Geißel Gottes
rotz der Wildheit der Bewegung eine gewisse Hoheit durchschimmert. Die
scheußlichen Gestalten, welche Kaulbach gern in die Ecken seiner Gemälde
einschiebt, wie z. B. die beiden Leute aus-dem Pöbel, die im Thurmbau den
Baumeister steinigen, im Grunde auch der ewige Jude in der Zerstörung
Jerusalems fehlen dies Mal gänzlich, wo doch die günstigste Gelegenheit vor¬
handen war, Fratzen aller Art anzubringen. Durch die Farbe hat nicht blos
die Deutlichkeit gewonnen, saubern auch die poetische Stimmung. So hat
z. B. die Figur, die das Kreuz emporträgt, im Carton, etwas Allegorisches, im
Gemälde selbst stimmt auch sie vollkommen zur Haltung des Ganzen und gibt
derselben erst den richtigen Abschluß. Den Werth der Composition fühlt man
so recht durch die Vergleichung heraus. Man kann sich z. B. nicht leicht
einen günstigern Gegenstand vorstellen, als den griechischen Rhapsoden, der
seinem Volke die Heldenthaten der Vorfahren erzählt, dessen Klang die untern
Gottheiten aus ihren Flüssen, Bergen und Bäumen hervorgelockt und dessen
Lied selbst die Götter vom Olymp mit Entzücken lauschen. Aber dieser Gegen¬
stand ist dem Künstler nicht in einem wirklichen Gesicht aufgegangen, sondern
er hat ihn sich Mit einer raffinirten Reflexion ausgeklügelt; jede seiner Figuren
hat eine bestimmte symbolische Beziehung, aber diese Beziehung geht nicht
natürlich aus der Idee des Ganzen hervor, sondern sie ist ein Ausfluß des
Witzes, von der melancholischen Pythia an, die träumerisch spielend den Kahn
des Sängers lenkt, bis zu dem grämlichen Sänger der orphischen Vorzeit, der
dem jüngern Concurrenten mißgünstige Blicke zuwirft. Das ganze Bild .ist
eine Mosaikarbeit aus einzelnen Einfällen; die gymnastischen Uebungen auf
der einen und die plastischen Versuche auf der andern Seite werden nicht von
einem gemeinsamen Hauch der Eingebung durchweht, sie sind von der Blässe
deS Gedankens angekränkelt und die blassen Figuren, die von der Höhe herab
den Bestrebungen der Sterblichen zuschauen, sind keine griechischen Götter. In
der Zerstörung Jerusalems sind schöne und große Züge, aber in dem Ganzen
weht ein Geist der Unruhe und mit den Äußern Mitteln ist der Künstler so
verschwenderisch umgegangen, daß von einem überwältigenden Eindruck nicht
die Rede sein kann. Der Vordergrund des Thurmbaus ist von einer wunder¬
baren Schönheit, Gestalten, Bewegungen, alles vom reinsten künstlerischen
Adel durchdrungen; desto schwächer ist der eigentlich historische Theil behandelt;
und so macht das Gemälde trotz aller Symbolik doch nur den Eindruck eines
im großen Maßstabe ausgeführten Genrebildes. So verdient die Hunnen¬
schlacht in der Reihe dieser Werke unzweifelhaft die Krone und jeder Wohl¬
gesinnte wird wünschen, daß eS dem Meister, der trotz seiner Schwächen doch
immer zu den größten Erscheinungen unsrer Zeit gehört, gelingen möchte, für
die beiden noch leeren Plätze Eingebungen zu finden, die sich dieser
großen Composition an die Seite stellen können. Da wir uns einmal im
Treppenhause befinden, so wollen wir bei dieser Gelegenheit auch versuchen,
den Fries ins Auge zu fassen, obgleich, wie schon bemerkt, sehr starke Gläser
dazu gehören, ihn zu sehen. Die Leser der Grenzboten werden sich noch an einen
Aussatz erinnern, welcher eine heftige Polemik gegen einzelne Gruppen deS
HrieS, gegen die Astronomen, Philosophen und Dichter enthielt. Ganz so arg
finde ich bei genauerer Anschauung die Sache nicht. Der ganze Fr.es .se ,o
g-ordnet. daß jeder Theil desselben sich auf die darunterstehenden Wandgemälde,
die historischen wie die symbolischen, bezieht und die Stoffe, die in demselben
tragisch aufgefaßt werden. ironisch behandelt. Der Angabe nach null Kaul¬
bach mit jener Ironie nur die Uebertreibungen geißeln, in die auch eine be¬
rechtigte Richtung leicht verfällt, wenn sie nicht mit beständiger Selbstkritik ver.
knüpft ist. Eigentlich ist es aber die alte Manier der romantischen Schule
mit dem einen Auge Begeisterung, mit dem andern Spott auszudrücken und
die Gestalten. die man eben durch dichterische Synthese gewonnen, durch kriti¬
sche Analyse wieder auszulösen. Kaulbachs Natur ist recht zu dieser Manier
geschaffen, er ist ein feingebildeter Kopf, durch und durch restent.render Art
und besitzt neben einer mächtig begabten Einbildungskraft einen sprudelnden
Humor. Bei seinen ernsten und größeren Compositionen, wenn man von der
Hunnenschlacht absieht, findet man fast überall daS Nachdenken thätig; man
fühlt sich stets versucht, nach Gründen seines Verfahrens zu fragen und findet
sie auch bei reiflicher Ueberlegung. Die Macht der unmittelbaren Ueberzeugung,
die aus einem einfachen gläubigen Gemüth'hervorgeht, macht sich nur in den
seltensten Fällen geltend. Ganz anders in diesen humoristischen Figuren. Die
bestimmte historische oder symbolische Beziehung ist freilich nicht überall leicht
zu verfolgen und die Randnoten, die man jetzt unter dem Carton liest, sind
für das Verständniß wesentlich. Aber auch ohne daß wir diese Beziehungen
enträthseln, macht der kühne lebendige Humor der Gestalten auf uns einen
erfrischenden Eindruck. Es ist ein tolles, übermüthiges Spiel der Laune, die
sich vor nichts scheut, durch kein Bedenken gestört wird und im Grunde auch
an nichts glaubt. Wenn wir uns über das fratzenhafte Bild des alten Kant
ärgern und die verzerrte Auffassung der Naturforscher mißbilligen, so haben
die gläubigen Christen no'es vielmehr Veranlassung, sich über die Art, wie die
Kirche dargestellt ist. zu skandalisiren und wenn diese jetzt so sehr wachsame
Menschenclasse gegen den tollen Uebermuth des Künstlers nichts einzuwenden
gehabt hat, so können auch wir uns bescheiden. Es ist recht schade, daß
Kaulbach bei den Figuren Goethes, Grimms und Humboldts seine Ironie auf¬
gegeben und sie ganz ernsthaft dargestellt Hai. Daß sie über der symbolischen
Figur der Poesie angebracht sind, während Kant, Laplace u. s. w. einem andern
Giebelfelde angehören, ändert an der Sache nichts; denn Alexander v. Hum¬
boldt und Jacob Grimm sind zwar gewiß Männer, denen die unbedingteste
Verehrung des deutschen Volks gebührt, aber Dichter sind sie nicht und der
Maler hat also durch seine verschiedenartige Darstellung über den Werth wissen¬
schaftlicher Leistungen ein Gutachten abgegeben, das ihm nicht zukommt. Frei¬
lich ist nur um dieses falschen Contrastes willen die Zeichnung zu bedauern;
denn an und für sich' betrachtet sind jene drei Kindergcsichter mit der Andeu¬
tung der Physiognomie großer Männer so lieblich und reizend, daß man auch
an dem Gemüth des Künstlers nicht zweifeln darf. Ungerechtfertigt ist vor allen
Dingen der Schluß, daß Kaulbach der herrschenden Richtung unsrer Zeit Con¬
cessionen gemacht haben sollte. Wer so dreist wie er die Uebertreibungen des
religiösen Eifers verspottet, der darf auch wol die vermeintlichen Uebertrei¬
bungen der Philosophie und der Wissenschaft im Allgemeinen geißeln, ohne
deshalb dem Verdacht des Servilismus zu verfallen. Die beiden Theologen,
die mit den Köpfen gegeneinander rennen, die christliche Figur, die mit dem
Kreuz in der einen, mit dem Schwert in der andern Hand den Heiden ent¬
gegentritt, der Papst, der seine Blitze schleudert und nehmliche Figuren, sind
würdige und gehaltreiche Gegenstücke zu den Himmelsstürmern, die mit dem
Kopf gegen das verschlossene Thor der überirdischen Welt rennen und im Eifer
des Angriffs ihre Schlafmütze verlieren. Kaulbach ist ein arger Schelm, aber
kein Tropfen Servilismus ist in seinem Blut.
Ob die ironische Malerei, ob daS Negative in der Kunst überhaupt seine
Berechtigung hat—diese Frage möchte im Allgemeinen schwer zu beantworten
sein. An und sür sich hat das Ächöne wol immer seine Berechtigung und die
Schönheit dieser ironischen Bilder drängt sich so unwiderstehlich auf, daß man
sie zugeben muß, auch wenn man sich darüber ärgert. Es kommt auf den
Ort an, sür den sie gedacht sind. Kaulbach hat sie so in die Ferne gerückt
und durch die graue Farbe so verwischt, daß man besonders darauf aufmerksam
gemacht sein muß, wenn man sie überhaupt sehen will und daß man sie auch
dann nicht so genau unterscheidet, wie es die Feinheit der Zeichnung verlangt.
Dieser humoristische Fries ist so vertheilt, daß regelmäßig über einem
historischen Gemälde, welches eine Phase der menschlichen Culturentwicklung
ernsthaft behandelt, sich das graue ironische Zerrbild desselben ausbreitet. Es
ist aber nicht der Humor allein, der die fortlaufende Einheit des Treppenhauses
darstellt, das Ganze strotzt von Symbolik, um nach der Absicht des Künstlers
die Gesammtheit der menschlichen Entwicklung darzustellen. Zwischen den großen
Wandgemälden bemerken wir einige Bruststücke und ganze Figuren männlichen
und weiblichen Geschlechts, die symmetrisch geordnet theils durch ihre Attribute,
theils durch den Ausdruck ihrer Gestchtszüge eine bestimmte Richtung repräsen-
tiren und so gewissermaßen eine vollständige weltliche Mythologie herstellen.
ES sind vier Cyklusse von Figuren, von denen freilich noch nicht alle aus¬
geführt sind: 1) Sage, Geschichte, Wissenschaft und Poesie, 2) Isis, Venus,
Italien und Deutschland (warum nicht lieber die Madonna oder sonst etwas
der Art?), 3) Moses, Solon, Karl der Große und Friedrich Barbarossa,
4) Architektur, Bildhauerei, Malerei und Musik. Die Bilder haben vielen
Beifall gefunden, und sowol ihre Stellungen wie ihre Gestchtszüge sind in der
Kaulbachschen Art vortrefflich ausgeführt; aber einige Bedenken möchten wir
doch dagegen haben. Einmal greift die ganze Art zu sehr der Bildhauerei ins
Handwerk. Die allegorischen Figuren sind nichts Andres als Übertragungen
vom Marmor auf die Leinwand. Dann ist die Symbolik, eben weil ste'phtlo-
sovhisch sehr weit ausholt, nicht aus dem Innern des Gemüths hervorgegangen,
sondern ein Erzeugniß der Reflexion, und die alten Madonnenbilder sind uns
doch unendlich viel lieber, als diese phantastisch aufgeputzten Theaterprinzessinnen,
die doch zum Theil so aussehen, als setzten sie sich mit Bewußtsein vor dem
Publicum in Positur. Auf dem Carton sieht daS alles viel hübscher aus. -
Auch in dem vielgefeierten Moses finden wir doch jene künstliche Steigerung
des Ausdrucks, die uns bei Kaulbach überhaupt häufig unangenehm berührt.
In architektonischer Beziehung dagegen läßt sich für diese Vertheiln«-, der
Gruppen viel sagen. Jene gewissermaßen ruhenden Figuren bilden gegen die
bewegten historischen Bilder einen angenehmen Contrast und stellen eine Har¬
monie des Eindrucks her, die auf andere Weise kaum zu erzielen wäre. — Aber
die Symbolik geht noch viel weiter. In der Farbe des FrieseS ziehen sich eine
Reihe von Arabesken zwischen den großen Wandgemälden und den allegorischen
Bildern dju, um den symbolischen Grundgedanken der Geschichte zu vermitteln.
So finden wir unter der Isis die Eroberung des alten Indiens durch Rhamses
den Großen, unter der Venus die Eroberung Persiens durch Alexander den
Großen, unter der Italia und Germania werden dann ähnliche Zwischen¬
friese in Grau angebracht werden. Den Gipfel erreicht die Symbolik in den
- gleichfalls in Grau ausgeführten Arabeskenpilastern. Diese Erfindung ist zu
charakteristisch für unsre Zeit, als daß wir sie nicht hier anführen sollten. Wir
folgen der allgemein bekannten Beschreibung von Max Schafter, indem wir
bemerken, daß mit den Buchstaben -r. die Inder, K. die Perser, e. die Aegyp-
ter, 6. die Griechen, <z. die Juden, k. die Römer bezeichnet werden., und mit
den Zahlen 1. die älteste Gottesvorstellung des betreffenden Volkes, 2. daS
oberste weibliche Naturprincip, 3. der oberste positive Gott, i. die Vorstellung
von der Weltschöpfung, s. die ältesten heiligen Bücher, 6. der älteste Gesetz¬
geber, 7. der älteste Staatenbegründer, 8. der Älteste Religionsbegründer, Philo¬
soph und Prophet des betreffenden Volks. — Hier folgt nun also das System
der allgemeinen Mythologie.
Bei den Römer» ist unter 8 statt des fehlenden römischen Weisen die ..Verpflanzung der
griechischen Kunst auf römisches Gebiet" angedeutet.
Heiliger Gott, was sind wir für gelehrte Leute! Man glaubt in der That
in einem zweiten alerandrinischen Zeitalter zu leben. Was das alles für
Namen sind! Man kann sie kaum aussprechen. Was in der romantischen
Schule mir Sehnsucht und Idee war, das wird jetzt wirklich ausgeführt. Eine
universelle Weltreligion, in der die Mythologien und Geschichten aller Völker
ihre Stelle finden. Nur leider sieht diese Mythologie wie ein großes Her¬
barium aus. Man hat die Pflanzen aus ihrem natürlichen Boden gerissen,
und sie sind vertrocknet. Man sage auch nicht, es sei gleichgiltig, ob diese be¬
scheidenen grauen Striche wirklich Arabesken oder sinnvolle Anspielungen ent¬
halten. An sich liegt freilich nichts daran, aber es charakterisirt den Geist, in
dem das Ganze aufgefaßt ist. Man hat den großen Aufschwung unsrer bil¬
denden Kunst seit dem letzten Menschenalter mit Freude begrüßt, und eS ist
in der That bewundernswürdig, was für vorzügliche Talente nach einer so
langen Periode des Stillstands plötzlich hervorgetreten sind. Aber die fast
durchaus reflectirende Richtung dieser Talente ist doch bedenklich, und es muß sich
erst entscheiden, ob die wahrhaft schöpferische Kraft mit dem reich entwickelten
Formtalent Hand in Hand geht. Es ist nicht Kaulbach allein, den das trifft.
Das ganze neue Museum leidet an dem Fehler einer zu weit gehenden In¬
tention. Es begnügt sich nicht damit, für seine Sammlungen einen angemesse¬
nen würdigen Raum herzustellen, sondern es sucht diesen Raum im Sinn der
Alterthümer selbst zu individualisiren, und das kann nicht gelingen.
Viel erfreulicher als diese symbolischen Versuche ist der Kuppelsaal, der
sich über die eine Seite des Hauptstockwerks erhebt und der drei vorzügliche
Wandgemälde enthält: die Taufe Wittekinds durch Karl den Großen nach
Kaulbachs Carton ausgeführt von Graef, die Einweihung der Sophienkirche
in Konstantinopel durch den Kaiser Justinian von Schrader und die Erhebung
des Christenthums zur Staatsreligion durch Konstantin den Großen von Stille.
Das erste gehört zu den vorzüglichsten Bildern des berühmten Meisters. Es
ist sehr einfach in reinem Stil componirt, ohne in steife Symmetrie zu ver¬
sallen, voll von natürlichem Leben und Bewegung und doch einen ruhigen
Eindruck hervorbringend. Gegen den Ausdruck der beiden Hauptgesichter hätten
wir denselben Einwand zu machen, auf den wir schon mehrfach hingedeutet
haben. Der Künstler nimmt, um Kraft und Stärke auszudrücken, einen zu
großen Anlauf; man sieht, daß es ihm Mühe macht.
Durchmustern wir noch eilig die kleinen Gemälde in den übrigen Sälen,
so verdienen das größte Lob die Landschaften in den griechisch-römischen Sälen
und im ägyptischen Tempel. Sie sind fast durchweg mit einer musterhaften
Technik ausgeführt und zeigen die außerordentlichen Fortschritte unsrer moder¬
nen Wandmalerei, die man von der Oelmalerei kaum noch unterscheiden kann.
Zum Theil stellen sie Landschaften nach der Natur bar, une man sie gegen¬
wartig steht, mit den Trümmern der Vergangenheit, zum Theil hat die Phan¬
tasie des Künstlers daS Bild der frühern Zeit hergestellt, z. B. die Akropolis, den
Tempel zu Olympia u. f. w., wobei man freilich nicht darauf schwören kann,
daß sie in der Natur wirklich so ausgesehen haben. Die Landschaften sind
von Grab. Pape, Schirmer, Biermann, Mar Schmidt, einem würdigen Ver¬
ein ausgezeichneter Kräfte. Die Ausführung ist die sogenannte enkaustische
lWachSmalerei).
Weniger gelungen scheinen uns die mythologischen Bilder, im Entwurf
wie in der Ausführung (stereochromisch). Die Maler sind: Peters, Becker.
Kaselowski und Henning. Doch ist dabei zu erinnern, daß ste auch geringere
Ansprüche machen. Viel auffallender treten uns die mythologischen Wand¬
gemälde in dem Saal der nordischen Alterthümer entgegen, ausgeführt von
Müller, Heidenreich und Richter. Sie enthalten die ganze Geschichte der Edda,
das Reich des Himmels und die Unterwelt, die Götter, Riesen und Zwerge
und was sich von allegorischen Vorstellungen noch daran knüpft. In manchen
dieser Bilder, die grade mit der größten Sorgfalt ausgeführt sind, ist eine ge¬
wisse geisterhafte Farbe, die auf den ersten Anblick besticht, aber auf die Länge
nicht wohlthätig wirkt. Es ist übrigens möglich, daß durch diese Bilder die
Kenntniß der nordischen Mythologie eindringlicher verbreitet wird, als^ durch
alle philologischen Forschungen. Wenn es früher vom Berliner hieß, er ver-,
schmähe die Reise nach der Schweiz oder nach Italien, weil er es bei Gropius
viel natürlicher und bequemer haben könne, so wird ihm jetzt auch ein wohl¬
feiler Zugang in die heiligen Hallen der Wissenschaft eröffnet und da mit der
Zelt wol das ganze berliner Publicum einmal in diesen Räumen gewesen sein
wird und sich ein großer Theil davon mit dem Schafter ausrüstet, so kann es
leicht kommen, daß einmal der Wolf Fenris und die Steinböcke Tanngnistr
und Tanngrisnir bei den Berlinern populärere Figuren sind, als Seydlitz und
was sonst vom Wilhelmsplatz her bekannt war. Ich kann die Schlußbetrach¬
tung nicht unterdrücken. Das Museum enthält einen ganz ungewöhnlichen
Aufwand von schönen und wissenswürdigen Gegenständen. Es hat sich ein
Aufwand von Talenten darin geltend gemacht, die man selten so beisammen
findet; aber man merkt ihm doch an. daß es ein berliner Product ist.
Wenn im Allgemeinen Bücher ihre Schicksale haben, so gilt dies in einer
ganz besondern Bedeutung von jenen herculanischen Rollen, die, nachdem sie
1700 Jahre in verkohltem Zustande in der Erde gelegen, nun als „Geister",
wie der neapolitanische Antiquar Jorio sagt, die gelehrte Welt schon seit hun¬
dert Jahren beschäftigen. Bevor wir von ihrer Auffindung, den Entwicklungs¬
versuchen und ihrem Inhalt reden, wird es nöthig sein, die äußerliche Beschaffen¬
heit der antiken Bücher kurz zu beschreiben.
Das Hauptmaterial, worauf im spätern Alterthum geschrieben wurde, war
das ägyptische Papier. Die langen dünnen Streifen, in welche die Papyrus¬
staude sich zerschneiden läßt, legte man neben- und übereinander, keimte sie und
konnte so Papierflächen von beliebiger Größe zu Stande bringen. Die Fabri¬
kation stieg mit dem Gebrauch, der namentlich in dem schreibseligen ersten
Jahrhundert nach Christus ins Ungeheure gegangen sein muß. Papier war
ein Hauptausfuhrartikel von Alerandrien, Fabriken gab es auch in Rom, und
man unterschied nach dem Maßstabe der Feinheit, Dünnheit und Glätte acht
verschiedene Sorten. Die gröbste, Waarenpapier genannt, war ohne Zweifel
wie unser Packpapier ausschließlich zum Emballiren bestimmt. Die übrigen
Sorten führten Namen der Kaiser uno Kaiserinnen, wie augustinisches, livi-
sches, clauvischeö. Die Schwärze, mit der man schrieb, war eine Tusche aus
Nuß. Die Alten kannten auch sympathetische Tinten, und Ovid empfiehlt als
solche in der Kunst zu lieben Milch (der Empfänger muß das Blatt mit
Kohlenstaub bestreuen), und den Saft gewisser Pflanzen. Zum Schreiben be¬
diente man sich eines Rohrs, das mit einer Art Federmesser zugespitzt wurde.
In der Regel beschrieb man die Blätter nur auf einer Seite, die Kehrseite
wurde dann höchstens zu Notizen und Brouillons, oder, wenn die Bücher als
Maculatur zum Krämer gewandert waren, zu den Schularbeiten von Kindern
benutzt. Oder man benutzte auch schon beschriebenes Papier, wie Palimpseste.
Indessen bei elegant ausgestatteten Büchern wurde die Rückseite des Papiers
mit Safran oder Ccdernöl gefärbt, und das letztere sollte zugleich einen Schutz
gegen die Motten gewähren. Die Bücher bestanden aus einem einzigen Stück
Papier von beliebiger Länge, jenachdem das Buch groß oder klein war, der
um einen cylindrischen Stab gerollt war; der Anfang des Papyrus war an
diesem Stäbe befestigt. Auf diese Fläche waren die Bücher columnenweis ge¬
schrieben, die Columnen durch kleine Zwischenräume getrennt. Der Lesende
rollte nun Columne nach Columne auf und wieder zu, bis er an die letzte
gelangte und das Buch vollständig zusammengerollt war. Die Stäbe, je nach
der Kostbarkeit des Buches aus Knochen, Holz, Elfenbein, waren oben und .
unten mit Knöpfen verziert, die aus den beiden Enden der Rolle hervorsahen.
Diese beiden Enden (dem Schnitt unsrer Bücher entsprechend) wurden be¬
schnitten, mit Bimstein geglättet und schwarz gefärbt. Die ganze Rolle um¬
wickelte man schließlich noch zur bessern Erhaltung mit einem (gelb oder pur¬
purn gefärbten) Pergament, welches unserm Einbande entspricht. > Mehre
zusammengehörige Rollen wurden auch zusammengeschnürt, wie man das in
Herculanum sieht. Man bewahrte sie in offenen cylindrischen Behältern, die
auf antiken Monumenten häufig abgebildet sind/ z. B. neben der bekannten
Sophoklesstatue im Lateran, und diese Behälter wurden in die Fächer der
Bibliotheken gestellt. Zu Senecas und Martials Zeit enthielten Bücher schon
auf der ersten Columne Porträts der Verfasser. Bücher mit Abbildungen von
Pflanzen erwähnt Plinius. Der Titel war (mit rother Farbe) auf einen Zettel
geschrieben, der oben an der Rolle befestigt wurde.
Bei der Ausstattung des Buchs kam es natürlich auf die Güte der Ab¬
schrift an, welche oft von sachverständigen Correctoren revidirt und verbessert
wurde, was dann natürlich den Werth des Buchs erhöhte. Doch hiervon, so
wie von dem antiken Buchhandel soll ein ander Mal die Rede sein. Hier
wollen wir nur noch bemerken, daß die Natur der antiken Bücher nothwendig
Zur Folge hatte, daß sie verhältnißmäßig wenig enthielten, weil die Abwicklung
endloser Rollen für die Leser äußerst unbequem gewesen sein würde. So konnten
5- B. die 24 Bücher der Jliade sehr wohl auf 2i Rollen geschrieben sein,
wahrend wir sie ,in einem kleinen Bande in der Tasche bei uns tragen können.
Hieraus sind die ungeheuren Zahlen der Bücher in den alten Bibliotheken,
namentlich der alerandrinischen zu erklären.
Jahrb ^""^5ufte'" alter Classtker, die man bis zur Mitte des vorigen
und ^ kannte, waren sämmtlich von verhältnißmäßig jungem Datum,
eine aus Papyrus; kein Wunder also, daß die Nachricht von der Ent-
^ ung einer aus Papyrusrollen bestehenden Bibliothek in Herculanum in der
Sensation machte. Die erste Kunde kam nach Deutschland
durch die Briefe Winckelmanns an Lianconi und den Grafen Brühl. Man
^ut im Jahr 1752 an dem öffentlichen Platze, wo die Statuen der Familie
gestanden hatten, ein Haus, aus dem mehre Kunstwerke ans Licht ge¬
zogen wurden, und in den, man schließlich auch auf die Bibliothek stieß. Da
diele zahlreiche epikurische Schriften enthielt, besonders von dem Epikuräer
Philodemus, so glaubte man diesen für den Besitzer ansehen zu müssen, nament¬
lich well man in dem irrthümlichen Glauben war, daß die zahlreichen Radi¬
rungen und Verbesserungen nur von dem Verfasser selbst herrühren könnten,
^aß dies durchaus falsch ist, ist oben gezeigt worden. Anfangs sah man diese
Ichlchtenwels übereinandergehäusten Kohlencylinder für verbranntes Holz an
und viele wurden weggeworfen; ein Irrthum, der um so natürlicher war, als
die Ausgrabung unter der Erde ohne Tageslicht gemacht wurde. Die Arbeiter
nannten den Ort dcMex-r nisi egrbonarn (Laden des Kohlenhändlers). All-
mälig erregte aber die Ordnung, in welcher die Cylinder aufeinandergeschichtet
waren, Aufmerksamkeit; man untersuchte nun genauer und entdeckte Buchstaben,
die bei dem starken Auftrag der Schwärze über die Fläche wahrnehmbar her¬
vorragten. Der Ort, in dem die Entdeckung gemacht wurde, war ein kleines
Zimmer, vermuthlich mit gewölbter Decke, welches zwei Menschen mit ausge¬
streckten Armen überreichen konnten. Rund herum an der Mauer waren
Schränke, und in der Mitte des Zimmers stand ein andres Gestell für Schrif¬
ten, um das man frei herumgehen konnte. Das Holz dieser Gestelle war ver¬
kohlt,, und fiel, wie natürlich, bei der Berührung zusammen. Ebenso waren die
Rollen verkohlt, die übrigens fast alle von gleicher Länge, etwa eine Spanne,
und 2—L Finger breit im Durchmesser gefunden wurden; die meisten zusammen¬
geschrumpft und runzlig, schwarz oder ganz dunkelgrau, und ihre Rundung
höckerig oder ungleich. Winckelmann vergleicht sie mit Bockshörnern, Mayer mit
gedrückten Tabaksrollen. Manche indeß waren völlig zu Staub zerfallen; auch
bei den erhaltenen ist der Papyrus im Feuer dünner geworden, als ein Mohn¬
blatt. Am leichtesten sind diejenigen abzuwickeln, die am meisten kohlenähn¬
lich sehen und eine gleichmäßige Schwärze haben, andere von kastanienbrauner
Farbe haben von Feuchtigkeit gelitten und sind theilweise zerfressen oder durch
eingeklebte Asche und Erde unbrauchbar gemacht.
Alle diese Rollen sind nur auf einer (der innern) Seite beschrieben, und
ihre Columnen durch einen fingerbreiten Raum voneinander getrennt, die erste
aufgewickelte Rolle hatte 40, die zweite 70 solche Columnen, die ungefähr
40—Zeilen lang sind. Die Schrift ist eine gewöhnliche Unzialschrift, und
wie damals in der Regel geschrieben wurde, sind die Worte ungetrennt, ohne
Accente und Interpunktion. Wenn dieser Umstand schon im Alterthum daS
Lesen erschwerte, weshalb gute Vorleser sehr geschätzt wurden, so erschwert er
um so viel mehr die Entzifferung. Den ersten glücklichen Versuch zum Ab¬
wickeln dieser Rollen machte der Pater Antonio Piaggi, serittors lirtiiio der
vaticanischen Bibliothek, der zu diesem Zweck nach Neapel berufen wurde: in¬
dem er die in einer Maschine aufgehängten Rollen von außen mit einer los¬
weichenden Flüssigkeit bestrich und mit Goldschlägerhäutchen fütterte. War dies
einen Fingerbreit längs der ganzen Rolle geschehen, so wurden Seidenfäden
an die gefütterten Stellen geklebt und allmälig angezogen und das so Abgelöste
auf Lagen von Baumwolle um eine Walze gelegt; von der Walze wurde die
Schrift dann abgewickelt und ausgebreitet. Dann erst konnte die Entzifferung
und Abschreibung ihren Anfang nehmen. Bei dieser Methode konnte in vier bis
fünf Stunden ein Finger breit längs der Rolle abgelöst werden, zu der Breite
einer Spanne war ein voller Monat erforderlich. Eine Schrift über die Musik
von 39 Kolumnen erforderte eine Arbeit von i Jahren. Aber in der Regel ging
die,Abwicklung nicht ohne neue Zerstörung der Rollen von Statten. Die Blätter
sind so überaus dünn, daß ihre Lücken immer von dem zunächst darunterliegen¬
den Blatte scheinbar ausgefüllt werden; ist nun die ganze, scheinbar einem Vlatt
ungehörige Oberfläche, mit Leim bestrichen, so wird dadurch ein Stück von dem
untern Blatte losgerissen und tritt in die Lücke des obern hinein, während das
untere. das vorher ganz war. nun ein entsprechendes Loch bekommt. Ebenso
gefährlich ist die Arbeit an den Fugen der aneinander geleimten Stücke Papier,
denn der ausgestrichene Leim kann leicht die Fuge auflösen, und durch sie bis
das folgende Blatt dringend es an das obere festkleben.
Zur Unterstützung in diesem unendlich schwierigen Geschäft schickte durch
Vermittlung des bekannten englischen Gesandten in Neapel, Hamilton, der
Prinz von Wales, damals Regent von England, den Neapolitanern seinen
Bibliothekar Hayter. Die nun mit großem Eifer betriebene Thätigkeit wurde
180K durch die französische Occupation unterbrochen, der Hof flüchtete, wie be¬
kannt, nach Palermo, und nahm unter andern kostbaren Dingen auch die ge¬
nauen Copien der neu abgewickelten Rollen mit. Diese Abschriften, die in
Sicilien schwerlich hätten edirt werden können, erlangte der englische Gesandte
Drummond, ganz oder zum Theil, um sie in England herausgeben zu lassen.
Außer diesen Copien hatten die Engländer noch eine Anzahl unangetasteter
Rollen von den Neapolitanern erhalten, zu deren Abwicklung Dr. Sickler 1817
nach London berufen wurde. Er hat über seine Abwicklungsversuche in einer
eignen Schrift ausführlich berichtet.*) Die Rollen erwiesen sich so gut wie un-
tauglich, die ganze, ehemals geglättete Oberfläche des Papyrus war bei den
meisten durch Feuchtigkeit zerstört, und mit ihr die darauf befindliche Schrift.
Da die Titel nicht nur zu Anfang sondern auch zu Ende der Schriften
stehen, kennt man den Inhalt auch der meisten nicht abgewickelten Rollen. Ge¬
sunden sind überhaupr entwickelt gegen 200. Die meisten, die man kennt,
sind von Epikuräern, und darunter 36 von Philodcmus allein. Dieser Philodemus
ist ohne Zweifel derselbe epikuräische Philosoph, den Cicero erwähnt. Er war
ein Syrer aus Gadara, siedelte sich aber nach Rom über. — Eine Anzahl von
Epigrammen von ihm ist noch erhalten, in einem derselben ladet er seinen
Freund und Schüler Piso (denselben, gegen den wir Ciceros Rede haben) ein,
den Geburtstag Epikurs mit ihm zu begehen, welcher von den Epikuräern als
ein besonderer Festag gefeiert wurde. Wir wollen einige Proben aus seiner
von der herkulanensischen Akademie herausgegebenen Schrift über die Musik
mittheilen. Geschrieben ist das Exemplar zwar nicht schlecht, obwol nicht ohne
orthographische Fehler, indessen wird das Verständniß durch fortwährende Lücken
sehr erschwert. Die Ergänzungen der Akademiker sind häufig gar nicht zu
brauchen; denn Griechisch ist von je her die schwache Seite der italienischen
Alterthumsforscher gewesen. Man muß sich begnügen, zur Noth dem Gedanken¬
gange folgen zu können.
Man irrt sehr, wenn man hofft, in dieser Abhandlung Aufschlüsse über
die Musik der Alten zu finden, eine Kunst, von der wir leider so gut als gar
nichts wissen und auch schwerlich je etwas wissen werden. Die Schrift des
Philodemus ist antimusikalisch. Er zeigt sich als einen jener völlig gehörlosen
Menschen, die ihre eigne Unfähigkeit als den normalen Zustand und die bessere
Organisation der übrigen Welt als eine Schwäche oder Einbildung ansehen,
und diese Ansicht mit einem Aufwande thörichten Scharfsinnes systematisch
durchführen. Daher trifft man unter seinen Argumenten über die gänzliche
Werthlostgkeit der Musik manche, die auch jetzt ihre Verächter im Munde zu
führen pflegen. Philodemus polemisirt gegen einen Stoiker Diogenes, dessen Ver¬
theidigung der Musik jedenfalls vernünftiger war als sein Angriff. Er bestreitet,
baß die Musik auf die Bildung des Geistes einen Einfluß üben könne. Der
Eindruck, den sie mache, sei ein rein sinnlicher. Der Natur der Sache nach
sollte eine Musik bei allen Menschen denselben Eindruck hervorbringen, weil
das Gehör bei allen dasselbe sei; wenn nichtsdestoweniger eine Melodie einigen
gefalle, andern mißfalle, so liege dies an vorgefaßten Meinungen. Er leugnet,
daß sich die Wirkung der Musik auf die Empfindung theoretisch berechnen und
feststellen lasse, denn die Musik sei keine darstellende Kunst, ebensowenig als
die Kochkunst (die die griechischen Philosophen seit Sokrates mit Vorliebe'zu
ihren Vergleichungen wählten). Sodann geht er auf die Anwendung der
Musik über, und behauptet, sie sei bei religiösen Handlungen unwesentlich,
selbst mit Schauspielen habe sie ursprünglich nichts zu thun gehabt. Es
werden nun die einzelnen Gattungen der Musik durchgenommen. Wenn Liebes¬
lieder eine Wirkung thäten, so sei sie dem Text, nicht der Komposition zu¬
zuschreiben; dasselbe sei, bei Klageliedern der Fall, die noch überdies die schäd¬
liche Wirkung hätten, die Trauer zu vermehren, die sie doch vermindern sollten,
und sogar absichtlich auf diesen verwerflichen Zweck berechnet würden. Am
schlechtesten kommen die Verfasser der hochzeitlichen Musiken (Hymenäen) weg;
der musikfeindliche Philosoph stellt sie in eine Kategorie mit Köchen und Kuchen¬
bäckern, die zu Hochzeiten gemiethet werden. Einer Melodie kann man seiner
Meinung nach durchaus keine inwohnende, die Seele bewegende Kraft bei¬
legen, wie man z. B. dem Feuer die Kraft des Brennens beilegt u. f. w.
Seine Gegner hätten angeführt, daß die Arbeit der Ruderer (und in alter Zeit
die der Schnitter und Winzer) unter Musikbegleitung verrichtet werde: aber dies
geschehe nicht etwa, weil die Musik eine anregende Wirkung ausübe, sondern
weil die Arbeit durch die Beimischung eines sinnlichen Vergnügens erleichtert
werde. Einen ähnlichen Scharfsinn in der. Absurdität entwickelt PhilodemuS,
um das Argument seiner Gegner zu entkräften, daß religiöse Hymnen gesungen
einen größern Eindruck machten als ohne Musik vorgetragen. Auch hier be¬
hauptet er, die Wirkung des Gedichts werde nicht durch die Melodie erhöht,
sondern eS werde durch diese nur eine für sich bestehende sinnliche Ergötzung
der geistigen hinzugefügt, die aus dem Gedicht hervorgehe; sodann trage die
Nebenvorstellung der Ehre, die den Göttern durch die Musik erwiesen wird, da¬
zu bei, den gesungenen Text vorzüglicher erscheinen zu lassen, als den gesprochenen'.,
Ein einziges Argument des stoischen Urwalds der Musik bekämpft PhilodemuS
einigermaßen glücklich. Diogenes hat sich auf die Achtung berufen, welche die
von ihm vertheidigte Kunst im Alterthum genossen habe. Aber diejenigen,
sagt Philodemus, welche der Meinung sind, daß die ganze von ihrem System
abweichende Menschheit sich in völliger Raserei befinde, haben nicht das Recht,
an das Urtheil derselben Menschheit zu appelliren. Uebrigens werde dies Ar-
etien des Alterthums durch die Vernachlässigung der Musik in neuerer Zeit
wieder aufgehoben. — Diese Bemerkung ist daS einzige etwa Interessante in der
ganzen Abhandlung, von der die Leser schwerlich wünschen werden, mehr als
diese Probe kennen zu lernen.
Von größerem Interesse als diese „Haarspaltereien des im Gebiet deS Ab¬
surden lustwandelnder Menschenverstandes" würde ein, wenn auch mittelmäßiges,
lateinisches Epos in Herametern sein, das die Eroberung Aegyptens durch
Octavian nach der Schlacht bei Antium zum Gegenstand hatte; umso mehr, als
es von einem den Ereignissen nahestehenden Dichter herrühren muß, denn vom
Tode KleopatraS bis auf die Zerstörung Herculanums waren nur 110 Jahre
»»flössen. Aber die Papyrusrolle, die das Epos oder vielleicht nur einen Ge¬
sang desselben enthielt, war oberhalb und zwar zum größern Theil zerstört,
und nur von 7 Columnen konnte dies übriggebliebene Drittheil entzifferrt wer¬
den, so daß wir im Ganzen nicht mehr als 37 Verse kennen, von denen die
wenigsten ganz vollständig, die meisten zur Hälfte ergänzt sind. In der That
<ki^<ze.ki momdra poeta«! Ueber den Autor'dieses Gedichts hat man nur Ver¬
muthungen, jedenfalls ist er mittelmäßig gewesen. Das einzige etwas längere
Fragment, das eine Beurtheilung erlaubt, beschreibt, wie Kleopatra mit ver¬
schiedenen Todesarten an Verbrechern erperimentirt, um den leichtesten Tod
kennen zu lernen, was auch die Historiker erzählen. Die Beschreibung ist im
höchsten Grade kahl und nüchtern, und entbehrt selbst den rhetorischen Schwung,
durch den sich Lucan und ähnliche auszeichnen.
Im Ganzen müssen wir nach den bisherigen Publicationen der herculani-
schen Rollen Winckelmann beistimmen, der daS Wort des alten Fabeldichters auf
diese Entdeckung anwendet, daß wir anstatt eines Schatzes eitel Kohlen gefür-
den haben. Zu der.unsäglichen Arbeit, die auf ihre Abwicklung und Ent¬
zifferung gewandt ist, steht der Ertrag in gar keinem Verhältniß. Ein einziges
der verlorenen Bücher des Tacitus oder Livius hätte diese ganze herculanische
Bibliothek hundertfach aufgewogen,
8„um i'iiiqn?. Die rechte Antwort auf die Polen- und die große Zeitfrage.
Zur Beherzigung für die europäischen Staatsmänner von v,-. Johann
Metzig. Hamburg, Hoffmann u. Campe. —
Die Frage der Wiederherstellung Polens ist so vielseitig behandelt wor¬
den, daß kaum noch etwas zu sagen übrigbleibt. Da indeß die Freunde
Polens ihre alten Gründe immer von neuem wieder auf den Markt bringen,
so darf man nicht ermüden, in der alten Weise zu antworten, denn das Ge¬
dächtniß der Menge ist kurz und es darf nur eine neue Zeitströmung eintreten,
so tauchen die alten Ideen, die man längst widerlegt glaubte, von neuem wieder
auf. Die große Katastrophe des orientalischen Krieges mußte die stillen Hoffnungen
und Träume der Völker aufs neue wieder wach rufen und wenn auch die Ver¬
öffentlichungen der Staatsgeheimnisse gegenwärtig viel schneller und unerwar¬
teter erfolgen, als in früherer Zeit, so werden wir doch wahrscheinlich erst nach
einer Reihe von Jahren vollständig erfahren, was sich alles in dieser Zeit im
Geheimen geregt hat. Die Enthüllungen, welche vor einigen Tagen ein eng¬
lisches Blatt über die schwedische Politik brachte, sind bereits so erstaunlich,
daß die ganzen diplomatischen Verhandlungen dadurch ein neues Ansehen ge¬
winnen. W^ir müssen es abwarten, inwieweit eine Bestätigung erfolgen wird.
Auch die Beziehungen Sardiniens zu den Westmächten sind noch lange nicht
aufgeklärt und so mag denn auch die polnische Frage in ihren Verhandlungen
vielseitig angeregt worden sein. Noch haben die „Funken, die unter der trüge¬
rischen Asche schlummern", keine Gelegenheit gehabt, sich zu Heller Flamme zu
entzünden; aber zu lange wird die Gelegenheit nicht auf sich warten lassen.
Zwar ist, wie uns die neueste Broschüre des Herrn von Larochejaquelin belehrt,
ein Bündniß Frankreichs mit Rußland und eine Christianisirung der Türkei die
Signatur der Gegenwart; allein der Kaiser der Franzosen, dessen Erfolge im
letzten Augenblick das Glück durch die Geburt eines Thronerben besiegelt hat,
liebt es nicht, sich auch von seinen Freunden in die Karten sehen zu lassen und
so läßt sich noch gar nicht berechnen, ob daS Gewicht Frankreichs im entschei¬
denden Augenblick in die eine oder die andre Wagschale fallen wird. Freilich
ist es voreilig, wenn polnische Enthusiasten mit ihrem gewöhnlichen sanguini-
sehen Wesen in Napoleon den künftigen Messias der polnischen Republik be¬
grüßen, aber die Möglichkeit eines solchen Versuchs bleibt gar nicht aus¬
geschlossen und es ist daher nothwendig, daß Deutschland fortwährend den
Standpunkt, den es dabei einzunehmen hat, im Auge behält.
Der Versasser des gegenwärtigen Buchs ist zwar kein sehr gewiegter Poli¬
tiker, er erregt vielmehr zuweilen durch die Naivetät seiner Auffassung Erstaunen
(so schreibt er z. B. einen satirischen Aufsatz, den die Grenzboten 1850 brach¬
ten und den er w exwr.8o mittheilt, im vollen Ernst der Feder eines russtschen
Staatsmanns zu); aber er scheint in seiner Thätigkeit unermüdlich zu sein, wenig¬
stens erwähnt er selbst eine Reihe von Broschüren, die er früher in derselben
Angelegenheit geschrieben und verdient insofern Beachtung. Das gegenwärtige
Buch hat er noch vor Abschluß der wiener Conferenzen geschrieben; indeß
thut ihm das insofern keinen Eintrag, als seine Gründe mehr allgemeiner
Natur sind.
Daß er die Theilung Polens als einen der größten Frevel der Geschichte
brandmarkt, daß er alle Uebel, unter denen Europa seitdem gelitten hat, mit
Inbegriff der Cholera, aus dieser Theilung herleitet, versteht sich von selbst.
Interessanter ist, wie er sich die Wiederherstellung Polens denkt. „König Jo¬
hann von Sachsen ist der legitime König von Polen, der vierte Regent aus
dem sächsischen Kurhause, welchem Polen im Jahre 1791 unter Preußens und
Englands ausdrücklicher, der übrigen europäischen Staaten schweigender Zu¬
stimmung die erbliche Krone übertragen, und da ein Erbrecht eigentlich nie ver¬
jähren kann, so bleibt es sich gleich, ob schon Friedrich August am 12. Jan.
1798, dem Todestage Stanislaus Poniatowskis, oder erst heut ein Nachfolger
sein rechtmäßiges, bisher vorenthaltenes Erbe antritt. — Das wirkliche Leben
bringt Begebenheiten, welche auf der Bühne und im Roman mitunter mühe¬
voll herangezogen werden müssen, um dem Kunstwerke Rundung und Abschluß
zu geben. Eine lange Reihe von Jahren hindurch haben die Häuser Wasa
und Sachsen um den polnischen Wahlthron, ja selbst um den leeren Titel:
„König von Polen" gekämpft. Der Kronprinz von Sachsen hat die Prinzessin
Wasa heimgeführt und werden die Ereignisse den Lauf nehmen, welchen ihnen
Gerechtigkeit und Weisheit vorzeichnen, so wirb das edle Paar, das sich über
tiefe Abgründe voll vergangenen Grauens hin die Hände gereicht, dereinst das
schönste Bild der Weltversöhnung, einen unerschütterlichen Erbthron zieren,
welcher ihre Ahnen lange entzweite, als er noch über den Wahlstürmen erbebte
und wankte."
Die Krone wäre also gefunden und es käme nur darauf an, wie
sich die bisherigen Besitzer der polnischen Lande dazu verhalten werden. Man
muß gestehen, daß der Verfasser in dieser Beziehung nicht übertrieben beschei¬
den ist. Zunächst sollen Oestreich und Preußen mit gewaffneter Hand die
Wiederherstellung Polens durchsetzen: „wozu Preußen ja noch heute durch den
Vertrag vom 10. Mai 1790 verpflichtet bleibt." Dann sollen sie herausgeben,
was sie geraubt haben. „Preußen muß herausgeben, was es ohne den Willen
Polens von diesem und nicht gemäß der freiwilligen Schenkung Sigismund
Augusts in der Lehnsurkunde über das Herzogthum Preußen in Besitz genom¬
men." Sonst waren die Polen bescheidener, sie verlangten nur das Großherzog-
thum Posen zurück; jetzt werden auch ohne weiteres die Ansprüche auf West-
preußen erhoben. „Jede Schwierigkeit schwindet, wenn die freie Stadt Danzig
unter Preußens und Polens gemeinschaftlicher Hoheit ihre alte Stellung zu
den Schwesterstädten der Hansa, Hamburg, Lübeck, Bremen, Frankfurt und
Nowgorod wieder einnimmt und ihr neutrales Gebiet so vergrößert wird, daß
Preußen nicht eines polnischen Passes bedarf, um seine Verbindung mit Königs¬
berg zu unterhalten."
Nun könnte man einwenden, daß die Erfindungen eines müßigen Kopses
über die eigentlichen Gedanken und Pläne der Polen nichts beweisen, aber es
ist in der That nicht anders. Wenn ein neues polnisches Reich errichtet wird,
so muß seine erste Aufgabe sein, die Weichselmündungen in seine Gewalt zu
bekommen, wie ja auch die Jagellonen diese Aufgabe richtig begriffen. Damals
waren sie die Stärkern, später gewann Preußen das Uebergewicht. Leider
konnte es sich seiner alten Provinz nicht anders bemächtigen, als mit Hilfe
Rußlands; allein indem es sich dieselben aneignete, führte eS nur aus, wozu
es seine ganze Geschichte drängte. Wären die Polen die Stärkern gewesen,
so hätten wir auch Königsberg verloren, und Kant wäre unter polnischer Herr¬
schaft geboren.
Um die Frage von der Wiederherstellung Polens zu beurtheilen, muß man
sich die Frage über das Recht oder Unrecht der Theilung Polens ganz aus
dem Sinn schlagen. In der Geschichte ist es mit der Abzahlung alter Schul¬
den nicht so einfach gemacht, wie im Privatleben. Man muß lediglich die ge¬
genwärtigen Verhältnisse in Rechnung bringen.
Dem projectirten polnischen Reich fehlt zunächst alle geographische Grund¬
lage. Ein aus dem gegenwärtigen Königreich Polen, dem Großherzogthum
Posen, Galizien, Lithauen, Volhynien und Podolien zusammengesetztes Reich
wäre eine wüste Ländermasse ohne Mittelpunkt, ohne Communication mit der
See, also auch ohne selbstständige Politik, und darauf angewiesen, entweder die
Ostseeprovinzen zu erobern, oder wieder erobert zu werben. In dem alten, auf
privatrechtliche Verhältnisse begründeten Staatensystem konnte so etwas ge¬
deihen; eS wurde unmöglich, sobald die übrigen Staaten den Begriff der
Souveränetät durchführten. Die Begriffe der gemeinsamen Hoheit Polens
und Preußens über die Republik Danzig, die mit den Hansestädten Hamburg,
Frankfurt und Nowgorod wieder einen Bund schließen soll, sind gradezu ante-
diluvianisch. In der Arrpndirungspolitik des vorigen Jahrhunderts, so sehr
man sie angefochten hat, lag doch ein richtiger Grundgedanke; denn nurZdie
Länder können einen Staat bilden, die zusammengehören, die man übersehen
und gemeinschaftlich bewirthschaften kann. Es ist allerdings hart für eine
Nation, darunter zu leiden, daß ihre Väter kein passendes Territorium zu ge¬
winnen wußten; aber die Geschichte ist einmal nicht sentimental.
Ebenso wichtig ist ein zweiter Umstand. Man verwechselt das gegenwär¬
tige Polen immer mit dem Polen von 1813. Rußland hat aber seit 1831 so
consequent operirt, daß von dem Kern einer polnischen Nationalität, der im
Stande wäre, den neuen Staat zu tragen, nicht mehr die Rede ist. Wenn
Napoleon I. die polnische Frage nur dazu benutzte, Recruten auszuheben, so
war das allerdings frivol gedacht; aber selbst dazu würde heute Napoleon III.
nur noch sehr wenig Gelegenheit haben. Wenn Oestreich und Preußen heute
Polen wiederherstellen wollten, so müßten sie es nicht nnr Rußland in schwerem
Kampf abgewinnen, nicht blos ihr eignes Land zerreißen, sondern sie müßten
den neuen Staat vom Fundament bis zum Gipfel selbst aufrichten. Das ist
aber zu viel verlangt. Man bringt Opfer, wenn man der Nothwendigkeit
weicht, aber aus freien Stücken sich einen Feind groß zu ziehen, das wird man
keinem Staat zumuthen.
Und was hat eigentlich die Menschheit für ein Interesse daran? Wir ge¬
hören nicht zu denen, welche die polnische Nationalität herabsetzen. Sie hat
nicht blos viele liebenswürdige, sondern auch tüchtige Eigenschaften, und es
liegt kein Grund vor, sie nicht für ebenso entwicklungsfähig zu halten, als die
andern Völker: aber'noch hat sie ihre Probe nicht gemacht, noch hat sie der
Cultur keine neuen Schätze zugeführt, und wenn dieser Umstand auch nicht
hinreicht, die Berechtigung einer bestehenden Nation in Zweifel zu ziehen, so
H er doch auch gewiß keine Veranlassung, eine untergehende Nation künstlich
ins Leben zu rufen. Fortgeschritten sind die Polen seit 1793 gewiß nicht.
Ihre einzige Beschäftigung ist seit der Zeit eine ununterbrochene Verschwörung
gewesen. Sie haben dabei viel Hochherzigkeit und ritterliches Wesen entwickelt,
aber nicht viel productive stäatenbilvende Kraft. Wenn schon 1831, wo sie
doch ein nationales Heer hatten, sich immer eine Hand wider die andere auf¬
hob, so würde das jetzt, wo sie als NevolutionSvirtuosen die schlechten Sitten
aller Länder kennen gelernt haben, in noch viel höherem Grade der Fall sein.
Wir halten die politische Zukunft Polens für hoffnungslos; ob auch die
nationale, das wird von ihren Fortschritten im bürgerlichen Leben abhängen.
Bis jetzt haben sie wenig darin geleistet; und wenn es noch ein Menschen¬
alter so fortgeht, daß sie alle anderweitige Thätigkeit auf die Zeit verschieben,
wo das Königreich hergestellt sein wird, so werden sie auch die Fähigkeit dazu
verlieren.
Der Materialismus undtzdieZchristl ich c Volksschule/ Ein Aufruf an das
deutsche Volk und seine Obrigkeiten von Theodor Weber. Prediger der
reformirten Gemeinde zu Stendal. Stendal, Franzen ki Große. —
Was wir schon lange erwartet und gefürchtet haben, daß der Lärm, mit
dem die gegenwärtigen Naturforscher ihre materialistischen Ansichten verkündigen,
zu einer öffentlichen Anklage Veranlassung geben würde, ist jetzt wirklich eingetroffen,
und zwar tritt die Anklage mit all den gehässigen und widerwärtigen Formen
auf, die mit einer Denunciation in der Regel verbunden sind. Im Anfang
scheint sich der Verfasser ganz auf dem Gebiet der Pädagogik halten zu wollen
und spricht dasselbe aus, was auch wir bereits häufig entwickelt haben, daß die Natur-
wissenschaft zwar vollkommen im Recht ist, wenn sie erklärt, auf dem Wege der
Astronomie, Chemie und Physiologie weder die Existenz Gottes, noch die
Existenz der Seele finden zu können, daß sie aber die Schranken der Wissen¬
schaft überschreitet, wenn sie die Möglichkeit leugnet, auf irgend einem andern
Wege zu diesen Ideen zu gelangen. Wir haben ausgeführt, daß das beste
Heilmittel gegen den Materialismus, d. h. gegen die Leugnung der Ideen,
ein consequent durchgeführter Idealismus ist, denn wenn man in der Geschichte,
in der Philosophie, in der Dichtkunst u. s. w. die Ideen in ihrer offenbaren
Kraft und Wirkung verfolgt, so wird man nicht daran denken wollen, ihre
Existenz in Frage zu stellen. Wer wahrhaft an die Ideen glaubt, kann auch
diesem Materialismus gegenüber keine Furcht empfinden. — Diese Zuversicht
scheint den theologischen Idealisten zu fehlen. Daß Herr Pastor Weber die
landüblichen Schimpfwörter gebraucht, daß er den Materialismus ein Evan¬
gelium des Teufels nennt, daß er in Bezug auf Moleschott sagt: „Dessen bin
ich mir bewußt, daß, wenn ich nur ein Wort zu seinem Lobe sagte, ich dann
meinen Namen in den Schmuz getreten und mein eignes, Angesicht geschändet
hätte;" daß er von Bunsen, der doch wol kein Materialist ist, behauptet, er
habe sich so weit herabgelassen, „den alten knochendürren Rationalismus, der
allerdings noch keineswegs todt, aber malhonett geworden war, und wie
eine alte abgestandene Mähre von seinen-Liebhabern im Stall gehalten
wurde, so weit aufzuzäumen und zu stutzen, daß ein reputirlicher Mann,
allenfalls auch ein Geheimerratl), sich wieder mit ihm vor Leuten sehen
lassen kann", — das alles sind wir von den Vorfechtern der kirchlichen Recht¬
gläubigkeit gegen die Ketzer schon so gewöhnt , daß es uns nicht weiter be¬
fremdet. — Aber der Herr Pastor bleibt bei den kirchlichen Bannflüchen nicht
stehen; er wendet sich an die Regierungen. „Sind sie denn," fragt er, „so
ganz kurzsichtig geworden, daß sie die Gefahr, die über unsern Häuptern
schwebt, die mit Riesenschritten immer näherkommt, nicht erkennen?" „Und so
gebe ich eS meiner hohen Regierung in ihr Gewissen und lege es meinem
theuren und geliebten Könige an daS Her,, daß sie in der Macht, und
um der Macht und um der heiligen Pflichten willen, die sie von dem aller¬
höchsten Herrn empfangen haben, und so gewaltig und entschieden, als im
Namen Gottes, sich aufmachen und Hand anlegen sollen, das Kleinod unsres
Glaubens und das Bestehen des Thrones, in dem die Spitze und der rechte
Kern aller heiligen Ordnung Gottes hier auf Erden ist, und das Bestehen der
Gesellschaft selbst von einem Untergange mit Schrecken und vor einem Greuel
der Verwüstung ohne Gleichen zu bewahren. Sie müssen das, sie dürfen hier
nicht schweigend zusehen, weil Schweigen und unthätig Bleiben eine himmel¬
schreiende Sünde wäre/' — „Was vor allem dringend nöthig wäre, ist dies,
daß Zeitschriften und populäre Bücher dieser Art, wie z. B. die Schriften von
Roßmäsler und Burmeister (daneben wird auch die Gartenlaube und ein paar
Dutzend andrer Zeitschriften genannt), von allen deutschen Regierungen unter¬
drückt und vernichtet werden..... Und wenn die betreffenden Verordnungen
erlassen sind, die sofortige Entziehung der Concession die unmittelbare und un¬
weigerliche Folge ihrer Uebertretung sein muß." — Die Gottlosigkeit der Preß-
freiheit wird sehr lebhaft hervorgehoben, und der Verfasser erklärt S. 3i : „Wir
kennen keine andre Bekenntnißfreihcit, als die Freiheit, uns zum Worte Gottes
zu bekennen; jede andre Freiheit, die der Mensch sich selbst nimmt, ist eine
Knechtschaft. . . , Wir kennen keine andre Toleranz, als gegen das, was wir
Predigen, vertreten und verfechten, und das ist Christus selbst, den die Welt
auch toleriren muß, eben weil er herrscht und weil er immerdar, auch heute
»och, im Unterliegen überwindet, so oft als sein Charfreitag wiederkehrt; aber
wir wissen von keiner Toleranz gegen allen Unglauben und gegen alle Ver¬
kehrtheit, welche wider Gottes Wort gerichtet ist." —
Das ist offen, klar und bündig gesprochen und in Beziehung auf daS, was
wir zu erwarten haben, eine willkommene Ergänzung der Stahlschen Theorie.
Nur hat sich der Herr Pastor doch nicht vollständig ausgemalt, was er fordert. An¬
griffe gegen die Religion sind schon nach unserm gegenwärtigen Strafgesetzbuch
verpönt. Der Uebelstand liegt nur darin, daß namentlich bei naturwissenschaft¬
lichen Schriften juristisch schwer zu constatiren sein wird, wo der Angriff gegen
die Religion beginnt. Die lärmende, herausfordernde Form ist leicht zu be¬
seitigen; aber ist damit etwas geholfen? Die Grundsätze des Materialismus
lassen sich, wenn man nur die directe Beziehung auf bestimmte Namen ver¬
meidet, auf das vollständigste entwickeln, ohne daß irgend ein Paragraph deS
Criminalrechts verletzt werde. Es ist dem Verfasser ja nicht blos um die Ab¬
wehr eines Skandals zu thun, sondern um den. Einfluß auf die Jugend und
deren Erzieher. Diesem ist durch Nepressivmaßregeln auf keine Weise zu
steuern.
Also die Censur! — Aber auch diese befindet sich in einer üblen Lage.
Der politische Radicalismus kann in der Presse, wenn man alle Rücksichten
bei Seite setzt, allerdings unterdrückt werden; man darf nur verbieten, irgend
etwas über Politik zu drucken. Freilich würde auch das dem Verfahren des
Straußes gleichen, der dem Jager zu entgehen glaubt, wenn er seinen Kops
versteckt, um ihn nicht zu sehen. — Aber die Censur auf dem Grenzgebiet der
Religion und Philosophie ist nicht durchzuführen. Die Materialisten können
ganz bequem alle Ausdrücke, die an die Religion erinnern, z. B. Gott, Un¬
sterblichkeit u. s. w., vermeiden. Will man etwa alle naturwissenschaftlichen
Schriften gleichfalls untersagen? '
Es muß also eine Censur der Gesinnung eingeführt werden, oder, was
dasselbe sagen will, eine Inquisition. Diejenigen Männer, von denen man
voraussetzt, daß sie materialistischen Ansichten huldigen (d. l). nach der Defi¬
nition unsers Pastors, daß sie nicht jeden Punkt der symbolischen Bücher be¬
schwören können), dürfen überhaupt nichts drucken lassen. Die einzige compe-
tente Behörde, darüber zu entscheiden, ist die Geistlichkeit. Dieser muß also die
Censur anvertraut werden. Bor jedes Lehrbuch der Naturgeschichte muß der
Verfasser ein Glaubensbekenntniß setzen.
Das wären die ersten vorläufigen Maßregeln. Nachher wird man sich
überzeugen, daß auch diese noch nicht ausreichen; denn wenn die Materialisten
auch nichts dürfen drucken lassen, so verbreiten sie'ihre Meinungen mündlich,
und einer trägt es dem andern zu. Man wird also auch den mündlichen Austausch
materialistischer Ansichten untersagen müssen, und hier tritt wieder die Schwierig¬
keit ein, für ein Gespräch unter vier Augen Zeugen aufzufinden. Am besten
ist es also auch in dieser Beziehung, nicht bei Nepressivmaßrcgeln stehen zu
bleiben, sondern zu Präventivmaßregeln überzugehen. Wer materialistischer
o'der ketzerischer Ansichten angeklagt wird, muß sich vor dem geistlichen Amt ver¬
antworten, und wer sich nicht zu vertheidigen weiß, wird verurtheilt — zum
Scheiterhaufen? — pfui doch! im 19. Jahrhundert ist man nicht so barbarisch;
aber es wird ihm untersagt, irgend eine amtliche Praris zutreiben, der Staats¬
diener wird natürlich zuerst abgesetzt, der Lehrer cassirt, dem Arzt die Ausübung
seiner Praris untersagt. Aber auch das genügt noch nicht; die Materialisten
heben ja den Unterschied deö Guten und des Bösen auf, wie man sagt, also
steht jeder Materialist im dringenden Verdacht, ein Spitzbube zu sein, und
solchen Menschen sollte man das Recht zugestehen, Handel lind Wandel zu
treiben? Natürlich haben ihre Hauptbücher ebensowenig juristischen Wertlj, wie
ihr Zeugniß vor Gericht. Eine Handlung, die mit der Religion in „irgend
einem Zusammenhang steht, dürfen sie nicht ausüben; sie dürfen z, B. nicht
heirathen; wenn aber einer vor dem Erlaß des neuen Gesetzes schon ver-
heirathet ist, so muß ihm die Erziehung der Kinder genommen werden u. s. w.
' Hoffentlich wird diese Auseinandersetzung den werthen Pastor überzeugen,
daß er in seinen Konsequenzen noch lange nicht weit genug gegangen ist; er
möge sich die unsrigen aneignen und ste dann der Behörde vorlegen.
Grade zwei Monate vor der Geburt deS größten Dichter- der neueren
Zeit, W.Shakespeare, gegen Ende deS Februars 156z, wurde sein größter Vor.
gänger und älterer Nebenbuhler, Christoph Mar'owe, zu Canterbury geboren.
Sein Vater war ein Schuhmacher, vielleicht später auch Küster an der Ma¬
rienkirche dieser Stadt. Der Sohn empfing seine Bildung auf dem dort von
Heinrich VIll. unter dem Namen „Königsschule" gestifteten Gymnasium, wel¬
ches noch besteht. Dann bezog er die Universität Cambridge, indem er daselbst
in seinem 18. Jahre (1581, in das Benet-oder Corpus-Christi-Collegium imma-
triculirt wurde, und erlangte nach zwei Jahren (1583) die Würde eines Bac-
calaureus, vier Jahre später (1587) die damals höchst ansehnliche eines Magister
Allium. Vermuthlich machte er seine Studien nicht auf Kosten seines Vaters,
sondern auf die eines Verwandten oder Gönners; und in letzterer Beziehung
hat man auf einen sehr wohlthätigen, nachher in den Ritterstand erhobenen
Kronbeamten, den „ersten Baron der Schatzkammer" Sir Royer Manword
hingewiesen, der seinen Landsitz in der Nähe von Canterbury hatte, und der
uns auch sonst in der Geschichte dieser Zeit, z. B. unter den Richtern der
Maria Stuart genannt wird. Ihm schrieb Unser Dichter im Jahr 1592 e.ne
Grabschrift in lateinischen Versen. Marlowe mag für den geistlichen Stand
bestimmt gewesen sein, scheint aber durch seine früh auftauchenden religiösen
Zweifel davon abgehalten worden zu sein, und muß sich, da wir seines ersten Stückes
schon im Jahr 1587 erwähnt finden, schon vor seiner Promotion zum Magi¬
ster, die in eben dies Jahr fällt, der damals noch sehr verachteten Laufbahn
eines Komödianten und Komödienschreibers in der Hauptstadt zugewandt haben.
, Dies sein erstes Stück, Tamerlan der Große, machte das allergrößte Auf-
sehn, zog ihm erst den Neid, dann die Freund- und Brüderschaft der andern
Komödicnschreiber zu — unter ihnen sind Robert Greene, Georg Peele und
Thomas Nass die wichtigsten — bis sie alle wieder, auch Marlowe, vor der
aufgehenden Sonne Shakespeares wie Nebel'verschwanden. Und zwar geistig
und leiblich. Denn freilich um die Zeit, als der junge Shakespeare eben von
Stratford sich nach London begab, um da, nachdem er in der Heimath in eine
gedrückte Lage gerathen war, sein Glück als Schauspieler und Dichter zu machen,
stand Marlowe als der eben erschienene Wunderstern der dramatischen Kunst
da. Freilich verflossen Jahre, ehe der unscheinbare Handwerkersohn, mit wenig
mehr als Handwerkerbildung aus einer Landstadt neben seinem gelehrten Vor¬
gänger bemerkt wurde: aber kaum war er als Dichter bemerkt, so begann
nach kurzem ungleichem Kampfe das schnelle Versinken der Gegner. Denn daS
Ursprüngliche und Tiefe hat immer die Macht, hat sie namentlich in solchen
Zeiten, die selbst tief und urgewaltig sind, und fern von allem Hirschleder
und Durchschleichen und'eitler Erbärmlichkeit. Die Zeit und das Land, die
eine. Seeherrschaft erschufen, der Vernunft und reinen Auffassung des Christen¬
thums eine feste insularische Burg errichteten, konnte auch einen Shakespeare
hervorbringen. Es ist eine große, kühne, urgewaltige Zeit, es ist ein keckes,
frisches, in Kraft übersprudelndes Volk, welche die jungfräuliche Königin um¬
ringen, und Shakespeare ist wahrlich nicht das einzige Genie seiner Tage,
wenn wir nicht blos von Dichtern reden. Welche kühne Seefahrer waren
Drake und Raleigh, welche großartige Staatsmänner Walsingham und Bur-
leigh, welch ein Philosoph Bacon! Hatte Jakobs Zeit doch noch genug Ge¬
nialität geerbt, um einen so kleinlich denkenden Monarchen übertragen zu
können! und es waren die Enkel, in denen die Seele der Großväter wieder¬
kehrte, welche die großen Dinge unter Cromwell ausführten. Dennoch
wäre es die Frage gewesen, wie sich MarloweS ' Genius hätte entwickeln
können, da die kurze Zeit seines Wirkens einen so bemerkenswerthen Fortschritt
zeigt, und es war immer für Shakespeare ein glücklicher Zufall, welcher ihm
diesen kühnen Geist schon 1S93, sechs Jahr nach seinem Auftreten, etwa drei
nach dem Shakespeares, aus dem Wege räumte, nachdem Greene, auch ein
talentvoller Dramatiker, schon ein Jahr früher gestorben war.
Von dem, was Marlowe in diesen 6 Jahren seiner Berühmtheit begegnete,
wissen wir nur wenig. Er soll Schauspieler am Vorhangslheater gewesen sein,
und bei einer nicht eben ehrenvollen Veranlassung das Bein gebrochen haben,
wenn einer Ballade zu trauen ist. Er schrieb außer einem zweiten Theile deS
Tamerlan, der den ersten weit überbot, noch i- Stücke, und vielleicht noch ein
fünftes und sechstes im Bunde mit Nass, so wie er eine lyrische Nachbildung
des Musäus und einige andere unvollendet hinterließ. Marlowe lebte ein aus¬
gelassenes Schauspielerleben, Green, Peele und Nass waren seine Genossen.
Freilich brauchen wir den Worten der viel später gedichteten Ballade keinen
Glauben beizumessen; sie lauten, wenn es der Mühe werth ist, den alten Lirum-
larum zu übersetzen:
''.'
'.,,»>,-,>>, ..
Manch Stück schrieb er zu andrer Neid
Ruhm hatt' er ohne Maßen.
Bald prunkt' er in 'nem seidnen Kleid,
Bald bettelt' er.in den Straßen.'
Freilich strotzen gleichzeitige Schriftsteller von Anführungen, namentlich seines
Tamerlan, so daß er sehr anerkannt gewesen sein muß; auch wissen wir, daß
angesehene Männer, wie Sir Thomas Walsingham (nicht der berühmte Sir
Francis W., sondern Manwords Schwiegersohn), sich seiner annahmen; aber
gewiß ist doch, daß die lockersten Vögel seine Freunde waren, und daß, als einer
von ihnen, Grame, im Jahr 1392 in Hunger und Kummer verkommen war, dieser
seinen überlebenden Gesellen eine klägliche Aufforderung zur Umkehr und Besserung
testamentarisch vermachte, welche dann sogleich von einem ähnlichen Dichter¬
ling (Chettle) unter dem Titel „Für einen Groschen Witz, erkauft mit
einer Million Groschen Neue" herausgegeben wurde. Ebenso scheint der
Vorwurf der Freigeisterei nicht unbegründet, wenn auch in dem harten Aus¬
druck Atheismus vielleicht eine Uebertreibung liegt. Denn nicht nur ermahnt ihn
der sterbende Greene aufs beweglichste, hiervon abzulassen, sondern ein Puritaner,
Namens Baue, gab sogar in Marlowes Todesjahre eine Klage auf Atheismus ge¬
gen diesen ein, welche noch unter alten Acten (von Ritson) aufgefunden worden ist.
Die Anklageschrift oder vielmehr Zeugenaussage, welche nach ihrem zweiten
(später geschriebenen) Titel 3 Tage vor des Beklagten plötzlichem Tode auf¬
genommen sein soll, enthält eine Masse der abscheulichsten Lästerungen, die
Marlowe gesagt haben soll, die gelindeste und mittheilbarste darunter ist die, daß
aile Religionen nur Erfindungen seien, um die Menschen bange zu machen,
auch mitten darunter die absurde Insinuation, als habe der Dichter das
Münzrecht als Regal- der Königin angefochten, und in Verbindung mit
einem Falschmünzer beabsichtigt, französische Kronen, Pistolen und englische
Schillinge zu verfertigen. Man hat allerdings allen Grund zu vermuthen,
daß der arme Poet die französischen Kronen und englischen Schillinge habe brauchen
können. Auch wurde dieser Rich. Baue oder. Bone schon im nächsten Jahre
aufgehängt. — Die Worte GreeneS lauten:
„Den Herren quondam Bekannten, welche ihren Witz im Verfertiger
von Schauspielen üben, wünscht R. G. einen bessern Tummelplatz und Weis¬
heit, damit sie sein Elend vermeiden.
Wenn traurige Erfahrung euch bewegen kann, ihr Herren, euch zu hüten, oder
unerhörtes Elend euch dringend auffordern kann, euch in Acht zu nehmen, (diese
Parallelisirung der Wendungen ist das Wesentlichste des euphuistischen Stils) so
werdet ihr zweifelsohne mit Kummer auf eure Vergangenheit zurückblicken, und
streben, die zukünftige Zeit in Neue zu verbringen. Wundre Dich nicht, denn
bei Dir will ich zuerst anfangen, Du berühmter Anmuthspendcr unter den
Tragikern (d. i. Marlowe), daß Greene, der mit Dir gesagt hat, wie der Thor
in seinem Herzen: Es ist kein Gott, nun seiner Größe die Ehre gibt; denn
durchdringend ist seine Macht, seine Hand liegt schwer auf mir, er hat zu mir
geredet mit Donnerstimme, und ich habe erfahren, daß er ein Gott ist, der
Feinde strafen kann.' Warum sollte Dein erlesener Verstand, seine Gabe, so
verblendet sein, daß Du seinem Schöpfer nicht die Ehre geben wolltest? Ist es
pestilentialischer Machiavclliömus, den Du studirt hast? — O alberne Thor¬
heit! Was sind seine Lehren anders, alö verwirrter Spott, fähig, binnen kurzem
das ganze Menschengeschlecht zu vertilgen? Denn, wenn so volo 8le iutxz»
diejenigen, die zum Befehlen befähigt sind, im Zaume hält, und wenn las Ki,
net'us erlaubt ist d. l). alles zu thun, was nützlich ist, so sollten nur Tyrannen
die Erde besitzen, und da sie dann sich an Tyrannei zu übertreffen streben,
einer des andern Henker werden, bis da der mächtigste alle überlebt, und
ein Streich für den Tod übrig bleibt, um in einem Menschenalter das lebende
Geschlecht zu enden. Der Anzapfer dieses teuflischen Atheismus ist todt,
und besaß in seinem Leben nie die Glückseligkeit, nach welcher er zielte, sondern
wie er in List begann, lebte er in Furcht und endete in Verzweiflung. Hu-rin
inscrutabilia sunt Oel iucliLial Diesem Mörder vieler Brüder ist daS Ge¬
wissen wie das Kains verwundet worden; dieser Verräther an dem, der sein
Leben für ihn ließ, erbte den Antheil des Judas, dieser Apostel kam so elend
um, wie Julian: und willst du, lieber Freund, sein Jünger sein? Schau auf
mich, der von ihm zu jener Frechheit überredet wurde, und du wirst darin
höllische Sklaverei finden. Ich weiß, daß die geringsten meiner Verbrechen diesen
elenden Tod verbrochen haben; aber muthwillig gegen die erkannte Wahrheit
streiten geht noch über alle Schrecknisse meiner Seele hinaus. Verschiebe nicht,
wie ich, auf diesen letzten Punkt der Noth: denn wenig weißt du, wie du
am Ende heimgesucht werben wirst." —
Der darin genannte „Anzapfer des Atheismus" und „Mörder vieler
Brüder" war nach Malones Meinung ein Universitätslehrer in Cambridge,
angestellt seit 1573 als Fellow an eben dem Collegium, zu dem Marlowe ge¬
hörte, der Magister Franz Kalt, welcher wegen seiner unchristlichen Grundsätze
im Jahr 1589 zu Norwich verbrannt worden war. — Es folgen dann ähn¬
liche Apostrophen an Lodge und Peele, die ziemlich deutlich bezeichnet sind,
und das Ganze schließt mit einer Abmahnung an alle drei vor gottlosen
Flüchen, vor Trunkenheit und Wollust, und vor der Gesellschaft der Wüst¬
linge.
Marlowe, so wie die andern Ermähnten, nahm diesen Angriff sehr übel,
und Chettle hatte Mühe, den Verdacht von sich und Nass abzuwälzen, als
habe er Theil daran; er erklärterer habe manches weggelassen, aber nichts zu¬
gesetzt. — Die Vermuthung liegt nahe, daß, da kurz darauf gerichtliche Schritte
in dieser Sache vorgenommen wurden, das allgemeine Aufsehen erst durch diese
Schrift rege geworden sei, und es wäre immerhin möglich, daß Chettle, der in
seiner Vertheidigung noch ausdrücklich bemerkt, er kenne keinen der Angegriffnen,
wolle auch einen derselben (vermuthlich Marlowe) gar nicht kennen, vedaure
aber, daß er auch Shakespeare mehr verletzt habe, als eS ihm nachher lieb ge-
Wesen sei, ein Werkzeug in den Händen von Marlowes Feinden gewesen sei,
da er darin halb seine Theilnahme an der Schrift einräumt, und daß das
ganze Testament eine niederträchtige Erdichtung sei. Wie dem nun auch sei,
der Ruf Marlowes als eines Atheisten ist aus vielen Zeugnissen offenbar:
wir werden sehen, ob seine Werke dazu Veranlassung gaben. Aber die Ver¬
folgungen waren unnütz; kurz darauf machte ein Zufall dem Leben des ver¬
schrienen Gottesleugners ein Ende. In Destford, einige Meilen von London,
halte er eine Liebschaft. Eines Tages, am 1. Juni 1593, überraschte er seine
Geliebte in der Gesellschaft eines Nebenbuhlers, Franz Archer; es kam zum
Handgemenge, Marlowe zog den Dolch ; der Gegner bemächtigte sich der Waffe,
welche nun, sei es durch Zufall oder Absicht, Marlowe durchs Auge in das Ge¬
hirn fuhr, so daß er gleich darauf starb. So endete er wild und rasch, wie
er gelebt hatte, kaum 30 Jahr alt, und die Puritaner sahen darin ein Straf¬
gericht Gottes für seine Freigeisterei. Daß Sammlungen von Histörchen dieser
Art, in denen der Finger des Herrn sichtbar geworden, auch diese enthalten, daß
sie sogar in eine Ballade verwickelt und vermuthlich da gehörig ausgeschmückt,
wurde, beweist nur die Berühmtheit des so unglücklich Angekommenen. Die
Puritaner und die städtischen Obrigkeiten waren überhaupt dem Theaterwesen
feind, es galt für eine Quelle und Gelegenheit zur Auslassung von Unordnung
aller Art, die Komödianten für liederliches Pack. Im Jahr -IL76 verbannten
der Lord Mayor und die Alderman die Theater aus dem Weichbilde der Stadt,
aber die sogenannten „Freiheiten", die anstoßenden Vorstädte, nahmen sie auf
und grade in diesem Jahr finden wir schon drei miteinander wetteifernde stehende
öffentliche Theater erwähnt und beklagt von eifrigen Predigern: das Black-
friars-, das Vorhangsschauspielhaus und das „Theater" x«r etzo^,)v. Gewiß
hatten beide Vorwürfe ihren guten Grund, und Shakespeare selbst ging infolge
seiner Verirrungen unter dieses Gesindel. Aber so gut wie er sich emporraffte
und dadurch, im Verein mit Ben Jonson, auch dem Stande des Schauspielers
und Schauspieldichters eine würdigere Stellung gab,, — denn Shakespeare,
ganz abgesehen davon, daß er die Bühnendichtung mit einem Adel der Sprache
und einer Tiefe menschlicher Weisheit begabte, wie weder vor noch nach ihm
einer — gab auch durch sein Leben ein gutes Beispiel, erwarb sich ein Ver¬
mögen und ward ein wohlhabender, begüterter Mann — so hätte auch Mar¬
lowe sich von seinen Jugendsünden reinigen können. Hat doch die Geschichte,
ich will nicht sagen Goethes und Byrons, sondern selbst des Edelsten der
Edeln, Schillers, eine Zeit der Äugendthorheit auszuweisen. — Das also wird
niemand glauben wollen, daß diese Anschuldigungen gegen Marlowe grundlos
gewesen seien.
.Versuchen wir nun, die Werke dieses merkwürdigen Mannes kennen zu
lernen, so gut dies durch Auszüge und Proben geschehen kann, welche letztere,
da es keine Uebersetzung (als eine von W> C. Müller*) in Berlin erschienene,
(aber mir nicht bekannte) gibt, von mir selbst haben angefertigt werden müssen.
Ich bitte dabei die Härte der Verse nicht gradezu für meine Ungeschicklichkeit
zu halten, sondern es kam hier auf eine treue Widerspieglung des Originals
an, und man wird daher« die weniger glatten Jamben ertragen müssen, wie
die Ligaturen bei den Gypsabgüssen antiker Kunstwerke.
Was wir noch besitzen von Marlvwe ist folgendes:
Aber wie besitzen wir es? Nur ein einziges seiner Werke (No. 1. 2.)
ist zu Lebzeiten des Verfassers gedruckt worden, der Tamerlan: 1390; nur
hier finden wir die Acte und Scenen abgetheilt. Der Tert deö Faust liegt
nur in zwei, resp. -II und 23 Jahre nach des Verfassers Tode gedruckten
Recensionen vor und da wir wissen, daß inzwischen (vor dem ältesten Druck)
zweimal von Seiten der Schauspielergesellschaft, der das Manuskript gehörte,
spätere Dichterlinge für damit vorgenommene Aenderungen bezahlt wurden,
und daß das Honorar .sogar das eine Mal über die Hälfte des für ein neues
Stück üblichen (6—8 F) nämlich 4 F betrug, so machen wir den Schluß, daß
keine der beiden vorliegenden Gestalten die echte sei, obgleich sie mehr ab¬
gekürzte als vertan gerte Überarbeitungen zu sein scheinen. Um gar nicht
von der Dido zu sprechen (1394), an der Marlowe nur Mitarbeiter war, so gilt
dasselbe aller Wahrscheinlichkeit nach in noch höherm Grade von dem „Pariser
Blutbade", obwol dieses 2-3 Jahr nach Marlowes Tode erschienen sein mag,
welches noch kürzer als der „Faust" und noch mehr verstümmelt scheint (halb
so lang als Eduard II.), wahrscheinlich nur eine schlechte Überarbeitung für
das Theater. Dies findet auf die überraschendste Weise sich bestätigt durch ein
Blatt der Originalhcmdschrifl, im Besitz des Herrn Lollicr, welches mehr als
doppelt so viel enthält, als die entsprechende Stelle im ältesten Druck. Die
beiden andern Stücke, „der Jude" und „Eduard II." haben ungefähr gleiche
Länge mit den beiden Theilen des Tamerlan, also insofern eine Wahrschein¬
lichkeit für sich, ziemlich vollständig zu sein; freilich ist der Jude, wenn auch
>n Acte (nicht in Scenen) eingetheilt, uns nur durch eine 40, sage vierzig
Jahre nach des Autors Tode gedruckte Ausgabe bekannt und zwar durch eine
von einem spätern Dramatiker ('l'K. As^vciog) herausgegebene, von seinen
Prologen begleitete. Dagegen liegt „Eduard II." in einer fünf Jahre nach Mar-
loweS Tode erschienenen ältesten und noch mehrern andern Ausgaben vor; er
ist das längste aller Stücke und die Tamerlane würden, wenn die komischen Par¬
tien nicht absichtlich (vielleicht mit Vorwissen des Verfassers) weggelassen wären,
vermuthlich demselben an Länge gleich kommen. Diese drei Stücke also sind
es, welche die größte Wahrscheinlichkeit der Authenticität für sich haben; aus
ihnen also können wir am ersten hoffen, uns ein Bild des Dramatikers zu
entwerfen. Die lyrisch-elegischen Dichtungen, ihrer Natur nach weniger der
Verstümmelung ausgesetzt und alle in den ersten sieben Jahren nach Marlowes
Tode veröffentlicht*) bilden eine dritte authentische Quelle, obwol sie fast alle
nachahmender Art sind.
Ich werde mir daher erlauben, die beiden Tamerlane, die zugleich epoche¬
machend in der Geschichte der Dichtkunst überhaupt sind, für sich zu besprechen,
werde dann die übrigen Dramen, namentlich den „Juden" und „Eduard II."
behandeln und mit der Betrachtung der lyrisch-elegischen Werke schließen.
Der Inhalt des ersten Tamerlan ist folgender:
Erster Act. Scene -l. Mycetes, der König von Persien, sein Bruder
Cosroe und fünf bis sechs andre persische Große, darunter Ti) eridamas treten
auf. Der König klagt über die Räubereien eines cythischen Schäfers Tamer¬
lan und seiner Bande und bekennt, höchst naiv, sein eignes Unvermögen zu
regieren, Cosroe habe einen bessern Kopf, als er. Dieser beklagt das Land,
daß eS keinen klugem König habe, und nachdem Theridamas mit 1000 Rei¬
tern gegen Tamerlan gesandt ist, reizt er seinen königlichen Bruder so, daß
er im Zorne abgeht. Während Cosroe jene Klagen wiederholt und von einem
der Satrapen, Mencghon, zur Empörung überredet wird, haben sich schon
einige der mit Mycetes abgegangenen Großen verschworen und sie kommen
wieder und bringen ihm die Krone. Unter prächtigen und hochtrabenden Reden
wird CoSroe gekrönt, alle seine Titel und Würden werden dabei aufgezählt.
— CoSroe will sich mit Theridamas gegen Mycetes, der immer noch eine Partei
hat, verbinden. Aber dies erfahren wir hier nicht, nachher II., 2 sehen wir,
daß Meander treu geblieben ist.
Scene 2. Tamerlan tritt auf, noch in der ärmlichen Kleidung eines
cythischen Hirten, mitsammt zwei Freunden und anderm Gefolge, alle mit Beute
beladen. Mit ihm die eben gefangene ägyptische Prinzessin Zenokrate, von
zwei Freunden begleitet. Tamerlan tröstet Zenokrate wegen ihrer Gefangen¬
nehmung, Zenokrate erwidert mit einer Bitte um Schonung; als sie nun auf
seine plötzliche kurze Frage, ob sie verlobt sei, ebenso kurz bejahend geant¬
wortet hat, sagt Tamerlan, er sei ein Herr durch seine Thaten, zwar von Ge¬
burt nur ein Schäfer, sie aber solle die Gemahlin eines Eroberers werden.
Nun wirft er die dürftige Tracht ab und steht in prächtiger Rüstung, in kupfer¬
farbenem Wamms und Beinkleidern von scharlachrothen Sammet da*) bewehrt
mit einer Streitart, so werden sich seine Freunde auch verwandeln. Einer
derselben bemerkt:
Wie königlich ein Löwe sich erhebt,
Die Klauen reckend und den Heerden drohend:
So schaut in seiner Rüstung Tamerlan.
Mir däucht, ich sehe Kön'ge vor ihm knie'n
Und, er, mit düstrer Stirn und Feuerblick
Stößt Kron' auf Kron' ab den gefangnen Häuptern.
Aber Zenokrate läßt sich nicht blenden, noch schrecken: „Die Götter, die
Vertheidiger der Unschuld, werden euch nicht helfen für die Beraubung armer
Wanderöleute und ihre beiden Begleiter bitten um Freilassung; die Güter
mochten sie behalten. Da redet der Räuber:
Verschmähe Zenokrate bei mir zu sein?
Verschmähe ihr mir zu folgen, fremde Herrn?
Glaubt ihr, der Schatz sei mehr mir werth als ihr?
Nicht all das Gold in Indias reichen Auen
Soll den geringsten Kämpfer mir erstehn. —
O, Liebliche, du mehr als Jovis Liebe,
strahlender als Rhodogcns") Silberglanz,
Blonder als Scythias reinster Hügclschnce:
Dein Selbst ist kostbarer dem Tamerlan -
Als der Besitz von Persiens Diadem,
Mein von Geburt an durch der Sterne Gnade.
Tartaren hundert sollen aufwarten dir,
Auf Rosse», flüchtiger weit als Pegasus,
Von medischcr Seide sei dein Kleid gewirkt,
Durchstickt mit köstlichen Juwelen, die
Mein eigen, reicher als die deinigen.
Milchweiße Hirsche sollen dir auf der Bahn
Des Teichs den Schlitten ziehn von Elfenbein,
Erklimmen der Eisberge Gipfelrand,
Die deine Schönheit bald in Nichts zerschmelzt.
Die Schiffe, die. zusammt fünfhundert Mann,
Auf der vielköpfigen Wolga Welle ich nahm,
Die bieten alle wir dem Mädchen an;
Und dann — uns selbst dem blonden Mädchen auch.
Seit einiger Zeit gehen der Redaction aus verschiede¬
nen Theilen Amerikas deutsche Zeitungen zu, die manche interessante Seite darbieten.
Es steht wunderlich genug aus, wenn in derselben Form, an die wir bei unsern
Localblättern gewöhnt sind, die Angelegenheiten der Sandwichinseln, des Feuerlan¬
des, Japans u. s. w. besprochen werden) wie wir die Angelegenheiten von Chemnitz
und Zwickau besprechen. Die ungenirte Form dieser Zeitungen läßt wenig zu
wünschen übrig. Es ist in dieser Beziehung schon von unsern Kollegen manche
ergötzliche Notiz mitgetheilt, namentlich aus Sau Fraucisco, wo z. B. ein erfahrener
Klopffechter nach einer genauen Taxe seine Dienste anbietet, um Beleidigungen zu
rächen oder neue Beleidigungen zuzufügen; für eine Maulschelle verlangt er
Dollars, für einen Fußtritt 173 u. f. w. ; nebenbei bedroht er einen jeden, der es
wagen sollte, sich eines andern Agenten zu bedienen, mit deu strengsten Strafen.
Die Umgangsformen dieses Ländchens sind äußerst populär. Wenn einer den andern
blos einen Schurken nennt, der wegen einer Reihe von Diebstählen verdient habe.
öffentlich ausgepeitscht zu werden, so sieht das im Vergleich zu den übrigen Artig¬
keiten nur wie eine gelinde Neckerei aus. Mit aufrichtigem Bedauern sehen wir
bekannte Männer, wie Julius Fröbel, der sich zwar zu einer falschen politischen
Richtung hatte verleiten lassen, aber in seinem Privatleben durchaus ein Gentleman
war, in diesen Ton verstrickt. — Ein sehr willkommener Beitrag für diese Studien
war uus die Neuyorkcr Zeitschrift: der Pionier, herausgegeben von Karl Heinzen.
Dieser Herr zeichnete sich sehen, in Europa durch die Feinheit seiner Umgangsformen
und die Mäßigung in seinen Wünschen aus, aber man kann nicht leugnen,, daß er
in der neuen Welt erhebliche Fortschritte gemacht hat. Indem wir einiges aus
'einer Zeitschrift mittheilen, möchten wir. wie Herr von Gerlach ans der preußischen
Tribüne, so leise als möglich reden, um weder vom Präsidenten, noch von den
Ministern, noch von den Stenographen gehört zu werden; denn was wir zu erzählen
haben, ist in der That höchst unparlamentarisch. ^- Zunächst bespricht er den be¬
vorstehenden Frieden. „Die ganze Geschichte dieses orientalischen Krieges und
Friedens bringt den Fernerstehenden in der That auf die Vermuthung, daß sich die
Bevölkerung Europas in lauter Cretins verwandelt habe, die sich, außer auf Fressen
und Begatten, auch noch auf Todtschießen und Betrügen verstehen. Freilich würde
man in Europa antworten können, daß in Amerika, wo die Intelligenz doch volle
Freiheit hat, die Cretins nicht schlechter zu gedeihen scheinen." „Man sollte in der
That glauben, die Welt sei ein Narrenhaus geworden. Es ist uns mitunter, als
hörte» wir ein Gewieher des Wahnsinns ans den Kehlen dieser ganzen erleuchteten
Versammlung, die sich Menschheit nennt." — Nun folgt einiges, was wir doch
lieber unterdrücken, um uicht 'das Mißfallen der Herren Staatsanwälte zu erregen. —
Dann berichtet er Heines Tod. „Hätte Heine als mittelloser Flüchtling in Nord¬
amerika leben müssen, er wäre wahrscheinlich im Elend gestorben. Seine einzige
Aussicht wäre gewesen, daß man seinen Sarg zwar nicht durch Stranden geehrt,
aber sein Leben mit Pöbclgeschrei beunruhigt hätte, denn er hat ja ebenfalls dieses
Land der Rohheit und des geistigen Jndiancrthnms verurtheilt, in welchem literarische
Seminolen das große Wort sühren und pöbelhafte Schmierer aus den Schild der
Gcistcsfebden erhoben werden. Man denke sich den Satyriker Heine als Mitglied
der deutschen Presse in Amerika und lese ti^e Nekrologe, die ihm jetzt mit feierlicher
BcrufSmicne die gemeinsten Hundsfötter dieser Presse widmen..Wäre er hier gestorben,
so würde ein solcher Nekrolog z, B. in der Staatszeitung wahrscheinlich also heißen:
„„er gab in letzter Zeit ein Winkelblättchen heraus, in welchem er die Bildung zu
organisiren, die Weiber und Nigger zu emancipiren, die Demokraten zu schmähen
und das Lagerbier zu beschimpfen suchte. Seine Abonnentenzahl stieg ans etliche
Hundert, weshalb er mit seinen zcitwidrigen Schreibereien kaum sein Brot und
sein Morphnm verdiente. Im Ganzen besaß er einiges Talent, aber er wußte keinen
Gebrauch davon zu machen, da er von der Geschichte und den Institutionen dieses
Landes keinen Begriff hatte. Wenn er sich der „demokratischen" Partei angeschlossen,
die. deutsche Sprache landesüblich gemixt, die geschwänzte Natur der Neger anerkannt,
für das Tickel gewirkt, Lagerbier getrunken und das Volk verstanden hätte, würde
er besser gelebt sein und glücklicher gestorben haben."" Das sind die Vorzüge
der nordamerikanischen Freistaaten., Nicht weniger liebenswürdig drückt sich der
Herausgeber über die Deutschen in Nordamerika ans. „Die Deutschen im All¬
gemeinen dienen der Sklaverei, fanatisiren sich sogar für die Sklaverei. Das be¬
weisen zwei unwiderlegliche Thatsachen: 1) die Majorität der Deutschen stimmt mit
den Sklavenhaltern für die Partei und die Kandidaten der Sklavenhalter; 2) die
Majorität der Deutschen begünstigt die deutsche Sklavenhalterprcssc um so mehr,
je gemeiner sie ist, und haßt die deutsche Freiheitsprcsse um so mehr, je besser
sie ist. So laug diese Thatsachen existiren, beweisen'sie, daß die Majorität
der Deutschen tiefer steht/ als die Sklaven, welche sie unterdrücken und Hetzen
helfen. Man bleibe also mit der Phrase von ihrem Sklavcnhaß hübsch zu
Hause und schwinge über sie die Geißel, wie ihre Herren die Geißel über
die Sklaven schwingen. Die. nordamerikanischen Deutschen im Allgemeinen haben
ein Brandmal an der Stirne; sie sind freiwillige Verbrecher, sie sind Schän¬
der des deutschen Namens und Verräther an Menschenchre und Mcnschenfreiheit.
Das beweisen ihre, Abstimmungen, das beweist ihre Presse. Deshalb bleibe jede
freie Zeitung ein fortlaufender Steckbrief gegen den großen, millivnenköpfigen Ve»
brccher, der sich nennt: „die Deutschen im Allgemeinen."— Die Schilderungen von
den Sklavenzuständen in den südlichen Provinzen werden die Leser von Onkel Tom
nicht verwundern. Auffallender möchte folgende Notiz sein. Während der letzten
Monate sind in Neuyork so viel Menschen arretirt worden, daß aus je zehn Per¬
sonen ein Arrestant kommt." — Also darum Revolution?!
— Den 2. April werden unsre Stände in ihrer, restaurir-
ten vormärzlichen Gestalt zum ersten Mal wieder zusammentreten. Die erste Kam¬
mer, in der sast nichts sitzt, als Adel, wird aller menschlichen Voraussicht nach mit
der Negierung so weit Hand in Hand gehen, als die Negierung nicht durch ihre
Stellung etwa wider ihren Willen genöthigt wird, das ständische Interesse dem des
Staats unterzuordnen. Die zweite Kammer allein wird daher der Tummelplatz der
Parteien sein und zwar vorerst ein recht wirrer, wüster Tummelplatz.
Nachdem im vorigen Sommer mit ein paar entschlossenen Maßregeln des neuen
Ministeriums Verfassung und Wahlgesetz von 1848 in ,der Hauptsache beseitigt
waren, dachte man allgemein uicht anders, als daß es nun an die organischen Ge¬
setze von 1830, 1831 und 1832 gehen werde. Man stellte sich im Volke lange
Zeit vor, die Negierung thue weiter nichts, als restauriren oder fernere Restaura¬
tionen des alten Zustandes präpariren. Allein die mächtigen Einflüsse der Gegen¬
wart haben inzwischen auch dieses Ministerium nicht unberührt gelassen.. Als im
Frühjahr zuerst von Meinungsverschiedenheiten in seinem Schoße verlautete, war es
nicht etwa das Maß der abzuschaffeudcn Errungenschaften oder die Form der an ihre
Stelle zu setzenden feudalen Einrichtungen, was Herrn von Borries mit dem
Grafen Kielmansegge, Herrn von Boehmer mit Herrn von der Decken ent¬
zweite. Es war die Erkenntniß, daß es heutzutage mit bloßer Verneinung
nicht gethan sei. Gegen die Einwände des Ministers des Innern, von Bö»
rief, entschied der König mit seinem Finanzminister, Grasen Kielmannsegge,,.daß
Hannover nicht nur endlich die lange vergeblich erbetene Landesbank, sondern auch
seinen Credit mobilier erhalten solle. Zwei neue Staatseisenbahncn, die Bremen-
Hamburger und die Seehanseu-Uclzener Bahn wurden ans das Programm der
nächsten ständischen Diät gesetzt. Im Lauf ihrer Verhandlungen mögen leicht noch
die Lüneburg-Lauenburgcr, die Nordhausen-Nordhcimer und eine Bahn von Hildes-
heim den Harz hinauf, wenigstens im Punkt der vorbereitenden Arbeiten hinzu¬
kommen. Dagegen heißt es mit ziemlicher Bestimmtheit, daß die Verminderung
der Zahl der Obergerichte, die Wicderabschaffung der Geschwornengenchtc und der
Trennung der Rechtspflege vou der Verwaltung auf der untersten Stufe neuerdings
bis aus eine spätere Gelegenheit vertagt worden seien. Also schaffen, nicht länger
zerstören, heißt die jetzige Lösung des Ministeriums.
Darum ist denn auch zu wünschen, daß die Opposition ihre bisherige Stellung
bloßer ermüdender und entkräftender Vertheidigung ausgeben möge, um von neuem
zum Augriff überzugehen. Das gute Recht der Bevölkerung den einseitigen
Neuerungen des vorigen Jahrs gegenüber zu wahren, ist in zwei Worten ab¬
gemacht. Wollen die Volksvertreter ihrem Volk in der That etwas Gutes zu er¬
reiche» suchen, so müssen sie entschlossen und vertrauensvoll aus Ziele losgehen, die
selbst innerhalb der engen Schranken von 1836 nicht außer aller Erreichbarkeit liegen.
Zunächst wird die Regierung von ihnen verlangen, so scheint es, daß sie dem König
einen seiner gegenwärtigen Civilliste entsprechenden Theil des Staatsguts anstatt der
Civilliste zu unbeschränkter Verfügung zurückgeben. Dann werden die längst geforder¬
ten, aber noch immer nicht bewilligten erheblichen Mehransgaben für das Heerwesen
abermals verlangt werden. Ferner müssen die'Besoldungen der gesammten Staats-
dienerschast gvundsatzmäßig erhöht werden. Endlich kann die Regierung nicht um¬
hin, die Entwürfe zu einer Landesbank und einer Mobiliarcreditanstalt den Ständen
vorzulegen. Anlässe genug, um den Machthabern des Schwerts zu zeigen, daß
die Macht des Geldes in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts die
Sache der Freiheit und der allgemeinen Gleichberechtigung gegen sie noch lange
nicht verloren gibt.
Aber wie soll man eine feste Handhabung irgend einer Waffe von der künfti¬
gen zweiten Kammer erwarten? Allerdings wird diese Kammer wenigstens anfangs
so bunt gemischt,, in ihrer unabhängigen Hälfte so ohne jede» Führer und ohne
jedes Feldzeichen, in ihren Verhältnissen möglicherweise so gleichgetheilt erscheinen,
daß der Regierung einige vorläufige Erfolge, zufallen mögen, ehe ein geschlossener
Körper zum Widerstand bereit ist. Dann aber mag es den gebietenden Umstän¬
den nach sogar ein Glück sein, daß Lehzen dnrch einen allerdings zu früh ein¬
getretenen Tod, Stüve und die übrigen Führer durch den Willen der Regierung
aus der zweiten Kammer ferngehalten werden. Mit ihnen wird hoffentlich der Geist
des Beharrens aus abgestoßenen Formen, der über dem formellen Recht den leben¬
digen Inhalt der Politik vergißt, ans den kommenden ständischen Verhandlungen
ferngehalten. Die ewige Aufwärmung eines Verlustes schafft das Verlorene nicht
wieder herbei. Was das Land an besessenen Freiheiten verloren hat, wird es nur
wieder gewinnen, wenn seine politischen Vertreter, anstatt trägen Geistes aus den
Tag einer neuen Erhebung zu harren, ans gesetzlicher Bahn kühn zu ihren ewigen
Zielen hin vordringen. Entschließt die Opposition sich ihrerseits zu angriffSweiscr
Kriegführung, d. h. nicht etwa zu Beschwerden und Ministcranklagen, sondern zu
zeitgemäßen Forderungen bei jeder Bewilligung von Geld, so wird sie bald nicht
nur die jetzt noch Ungewisse Mehrheit der zweiten Kammer, sondern auch die freudige
Zustimmung des ganzen Landes für sich haben. Entgegengesetzten Falls steht ihr
niemand dafür, daß sie nicht in der Kammer Schlappe über Schlappe erleide, außer¬
halb der Kammer aber unpopulärer werde, als das Ministerium.
— Indem wir die häufig ventilirte Frage nach der
Zweckmäßigkeit einer fortgesetzten Nechtsve'rwahrnng hier vorläufig bei Seite lassen,
können wir eine Bemerkung über Stüve nicht unterdrücken. Hoffentlich wird dieser
Mann, dessen kernfester Charakter in mancher Beziehung die höchste Achtung jedes
Patrioten verdient, sich allmälig davon überzeugen, daß Hannover nicht auf einer Insel
des atlantischen Oceans, sondern in Deutschland liegt; daß eine isolirte hannoversche
Freiheit eine Absurdität ist. Bei dem redlichsten Willen und der tüchtigsten Kraft hat die¬
ser Mann für die Wiederherstellung des -melen rvgimk grade so viel gethan als der lei¬
denschaftlichste Anhänger der Ritterschaft — daß man es ihm nicht dankt, ist natürlich.
Die neue Preßverordnung, welche in den ersten Tagen des Mär; zu Schwerin
im Anschluß an die Bundespreßnvrmen und im Uebrigen dem preußischen Pre߬
gesetz ähnlich erlassen wurde, lenkt den Blick des Publicums, da er nunmehr nicht
ausschließlich an Paris sesthastet, wol auch aus unsre Großherzogthümer. Wer
sie innerlich kennt, muß allerdings oftmals darüber erstaunen, daß Deutschland
sie so wenig kennt. Oder auch nicht. Denn unsre Verhältnisse sind so ab¬
geschlossen, in sich begrenzt, daß man es dem übrigen Deutschland kaum
verdenken mag, wenn es dieselben ganz auf sich beruhen läßt. Wenn das nur
auch gewisse Correspondenzfabrikanten thäten, welche nach flüchtigster Lectüre
von ein paar mecklenburgischen Zeitungen und nach nur halbem Ver¬
ständniß ihrer Notizen sogenannte mecklenburgische Berichte verbreiten, von
denen keiner in Mecklenburg entstand. Um solche destillirte Mittheilungen mit
einiger Sicherheit fabriciren zu können, wäre vor allen Dingen nöthig, daß
derartige industrielle Publicisten mecklenburgische Zeitungen zu lesen ver¬
ständen. DaS ist jedoch keine leichte Sache. Denn grade die innern Kämpfe
zwischen den verschiedenen politischen Richtungen sind für unsre Zeitungen
kaum oder doch nur mit stbyllinischen Phrasen berührbar, was man freilich
leicht begreift, wenn man auf den gesetzlichen Apparat blickt, welcher ihr ganzes
Leben beherrscht und zusammenpreßt.
Wir haben auch eine Zeit gehabt, in welcher die Preßfreiheit einige
schüchterne Flügelschläge that. Allein schon -I8ö0 bevollmächtigte eine landes¬
herrliche Verordnung das Ministerium in Strelitz zur Unterdrückung jeder Zei¬
tung, zu jeder Zeit und an jedem Orte, ohne daß eine Warnung vorherzugehen
braucht. Ursprünglich war der Zweck dieses Decrets, einige mißliebige kleine
Blätter todtzuschlagen; und diesem Zweck wurde sofort entsprochen. Gleichzeitig
erschien ein Preßgesetz. Es entspricht dem des Königreichs Baiern fast wort¬
getreu. Was sich mit dessen Paragraphen erwirken läßt, hat sich am Schick¬
sal der baierischen Presse gezeigt. Wenn nun dasselbe Verfahren hier zu Lande
nicht in der dortigen Weise erccutirt wurde, so lag dies theils daran, weil jene
Verordnung die Gelegenheit dazu größtentheils vorweggenommen hatte, theils
auch daran, daß es nicht die Art deS bequemen und gemüthlichen Mecklenburgers
ist, eine Zeitung todt zu quälen. Muß es sein, so schlägt er sie todt. — End¬
lich erschienen noch bei Gelegenheit einiger Zusätze zum Hochverrathsgesetz im
Jahr gewisse Bestimmungen, die jeden Angriff der Presse gegen jede
obrigkeitliche Person ausschließen. Da man aber des Guten nicht zu viel
haben kann, so steht noch das Bundeöpreßgesetz im Laufe dieses Jahres bevor,
an dessen Cautionen jedoch unter unsern Verhältnissen höchstens ein paar lösch-
papierne Localblättchen sterben dürften, während es außerdem schwerlich einen
Einfluß auf die Presse äußern wird. In Schwerin hat man jedoch dasselbe,
wie Eingangs erwähnt, als Märzvervrdnung bereits in Kraft treten lassen.
Daß das Bundeöpreßgesetz noch nicht so weit ist, liegt eigentlich nicht etwa
in einer principiellen Differenz über dessen Charakter zwischen Regierung und
Ständen , sondern daran, daß die Regierungen sich das Recht der Concessions-
ertheilung resp. Entziehung vorbehalten hatten, während die Stände beide Be¬
fugnisse vindicirten (13. Decbr. v. I.). Darin haben die Stände von ihrem
Standpunkt aus ganz Recht; denn nur auf diese Weise ist das Preßgesetz
erecutirbar. Alle landschaftlichen Städte d. h. solche, die den Landtag beschicken,
haben „erbvertragsmäßig" eine Menge von Privilegien, welche sie vor der
gänzlichen Abhängigkeit von der Staatsverwaltung schützen. Würde nun ein
Gesetz nach dem Negicrungsvorschlage gemacht, so würde ganz natürlich die
Opposttionslust der Obrigkeiten geweckt, welche sicherlich gar nicht zum Ent¬
stehen kommt, wenn dieselbe — ob auch auf Antrag und Wunsch der Ne¬
gierung — selbstständig und freiwillig gegen die ihnen unterstehenden Blätter
vorzuschreiten scheinen.
Dies vorausgeschickt, wird man den damaligen Protest des Syndicus
Meyer aus Rostock richtiger würdigen, welcher in manchen Organen der nicht¬
mecklenburgischen Presse wie eine liberale Wallung beurtheilt wurde. Rostock
ist unter den landschaftlichen Städten die privilegirteste und Herr Syndicus
Meyer ihr Vertreter aus dem Landtage. Die Stadt besitzt nicht nur die voll¬
ständigste Unabhängigkeit der Verwaltung und des Nechtsprechens, die Wahl
sämmtlicher Behörden ohne landesherrliches BestätigungSrecht, sondern inner¬
halb gewisser Grenzen ihre eigne Gesetzgebung für Civil- und Criminalsachen,
überdies eigne Verwaltung und Justiz. Ja für Rostock gilt kein Landesgesetz
früher, als bis der rostocker Rath es für die Stadt publicirr hat; und er
braucht kein ganzes Gesetz oder auch einzelne Bestimmungen desselben zu publi-
ciren, sofern jenes oder diese nicht mit den „vertragsmäßigen" Rechten Rostocks
übereinstimmen. Hätten also auch die Stände der Regierung in Bezug auf das
Bundespreßgesetz die verlangten Befugnisse eingeräumt, so wäre doch dies alles
für Rostock ohne Giltigkeit geblieben, weil diese beiden Rechte Acte der Ver¬
waltung in sich schließen. Was der rvstocker Syndicus that, verstand sich also ganz
von selbst und leistete blos der althergebrachten Gewohnheit Genüge. Zufäl-
literweise ist jedoch auch das einzige größere, von der Regierung unabhängige
Blatt — so weit sich dies in Mecklenburg überhaupt sagen laßt — die „Ro¬
stocker Zeitung", das in den Grvßherzogthümern verbreitetste Blatt mit etwa
viertausend Abonnenten.
In derselben Landtagssession hatte sich der Antrag des engern Ausschusses
auf eine Petition an beide Landesherren wiederholt, damit dieselben „schleunigst
geeigneten Orts in Verbindung traten, aus daß der sofortige Anschluß Mecklen¬
burgs an den deutschen Zollverein bewerkstelligt werde." Außerhalb des Landes
hat man in dem Umstände, daß der Antrag dies Mal trotz seiner endlichen Ab¬
lehnung mehr Zustimmung als früher fand, eine größere nationale Hinneigung
zu Deutschland oder auch das Starkwerden nationalpolitischer Sympathien sür
den Zollverein zu erkennen geglaubt. Vorerst glauben wir, wird die Bedeutung
eines Antrags des engern Ausschusses überhaupt überschätzt; denn es ist ein
Irrthum, wenn man diesen „Propositionen" mehr als formelle Bedeutung beimißt.
Einige Wochen vor dem Zusammentritt des Landtags versammelt sich jedes Mal in
Rostock der sogenannte „Antecomitialconvent". Diesem sind wieder die „Kreiscou-
vente" der verschiedenen Deputaten von Ritterschaft und Landschaft vorausge¬
gangen. Was nun von den Deputaten oder einzelnen Berechtigten zum Ante¬
comitialconvent als Proposition „intimirt" -.wird, wird mit dem Namen des
Antragstellers unter die „Propositionen des engern Ausschusses von Ritter- und
Landschaft" oder der Ritterschaft allein und ebenso der Landschaft allein auf¬
genommen. Propositionen des engern Ausschusses der Landschaft allein kommen
übrigens in praxi kaum mehr vor, während die der Ritterschaft fast niemals
fehlen. Außerdem enthalten aber diese Propositionen auch noch eine Masse
von Berichten über Gesetzgebung und Verwaltung im ganzen Umfange der sehr
weit ausgedehnten ständischen Kompetenz. Daß nun ein einzelner Gutsbesitzer
alljährlich den Antrag auf Anschluß an den Zollverein stellt, ist ganz richtig,
daß aber dieser Antrag unter denen des engern Ausschusses steht, hat an sich
keine allgemeinere Bedeutung.
Allerdings haben sich auf dem letzten Landtage mehr Stimmen als früher
auf dem Antrage vereinigt (27 gegen 38). Allein es waren meistens Stimmen
der bürgerlichen Gutsbesitzer, welche theils als Paroli gegen den Adel, theils
'im Gefühl der Unerträglichkeit des bestehenden Steuersystems für den Anschluß
sprachen. Der Adel ist der entschiedene Gegner des Anschlusses und zwar aus
Politischen Gründen. Wol mit Recht fürchtet er, daß durch denselben die Ne¬
gierung unabhängig von den Geldbewilligungen der Stände und damit über¬
haupt minder abhängig von der Ritter- und Landschaft werde. Darin könnte eine
constitutionelle Garantie liegen, wenn nicht eben in den parlamentarischen Körper¬
schaften grade dafür der Geist, Wille und die Menschen fehlten. Die Ausdehnung
der Initiative und ständischen Concurrenz ist principiell bedeutender, als in
irgend einem der modern konstitutionellen deutschen Staaten; der Geist, welcher
die ständischen Elemente in der größten Mehrheit beherrscht, erscheint dagegen
vollkommen mittelalterlich. Nicht um Ausbildung des constitutionellen Elements
handelt es sich den ständisch Bevorrechteten, sondern um Conservirung aller
ererbten Zustände und Mißzustände — selbst dem besten Willen der Negierung
gegenüber. Als daher, nachdem der Zvllvcreinsanschluß glücklich beseitigt
war, gegen Ende der Session die Steuerfrage wieder auftauchte, beschloß man
commissarische Berathungen derselben. Eine zwanzigjährige Erfahrung hat nun zwar
gezeigt, daß dieselben zu nichts führen. Trotzdem gab die Ritterschaft mit überwie¬
gender Majorität vorsorglich zu Protokoll, baß von den Berathungen die Frage des
Anschlusses an den Zollverein und des mecklenburgischen GrenzzolleS aus¬
geschlossen bleiben solle. Eine solche protokollarische Erklärung der Corporation
ist aber für die anzustellenden Berathungen unbedingt maßgebend. — Um jedoch
auch hierbei der Wahrheit die Ehre zu geben, können wir das Bekenntniß
nicht unterdrücken, daß die Zahl der Zollvereinsanhänger wirklich unter allen
Bevölkerungsclassen Mecklenburgs äußerst gering ist, und am spärlichsten grade
in den Grenzdistricten nach Preußen hin. Aus die nähern Gründe dieser Er¬
scheinung hier einzugehen, wäre zu weitläufig.
ES bleibt noch übrig, einiges über die hauptsächlichsten im Lande herr¬
schenden Richtungen zu sagen. Obenan steht die lutherisch orthodore und hierar¬
chische; ihr^ zunächst die absolutistisch-büreaukratische und im wunderlichen
Widerspruche zu beiden die feudale der Gutsbesitzer. Dennoch vertragen sich
gegenwärtig alle drei vortrefflich, weil sie sich einbilden, einen gemeinsamen
Feind, „die Demokratie", bekämpfen zu müssen. Demokratie heißt nämlich jede
irgendwie freisinnige Richtung, auch die gemäßigtste und loyalste, auf jedem
Gebiet des öffentlichen Lebens. Trotzdem würde schon längst, wie fast allent¬
halben, der Bureaukratismus seine beiden Alliirten überwunden haben, wenn
nicht die ritterschaftliche Partei, d. h. „der eingeborne Adel", in seinem speciellen
Interesse eine Art Damm entgegengesetzt hätte. Man kann nicht in Abrede
stellen, daß dieser „eingeborne Adel" in politischer Intelligenz und Willens¬
kraft durchschnittlich weit höher als die „bürgerlichen Gutsbesitzer" steht. Dies
war vor 1848 anders. Damals hatten die bürgerlichen Gutsbesitzer noch alle
progressiven Bestrebungen des Landes hinter sich. Allein seitdem auch diese
„kleinen Herrn" ihre Interessen mit denen des Adels identificirt haben, ist
ihre innere Kraft und ihre äußere Autorität verschwunden. Meistens im
Schlepptau deS „eingebornen Adels" zeigen sie nur selten den überlieferten
politischen und Selbstständigkeitssinn der eigentlichen Landesaristokratie; und so
ists natürlich, daß diese namentlich auch in der ständischen „Ritterschaft" die
bürgerlichen Gutsbesitzer gänzlich in Bedeutungslosigkeit zu versenken sucht.
Darin beruht der Kern jener oft genannten, doch im nichtmecklenburgischen
Deutschland selten Aar erkannten Streitigkeiten innerhalb der „Ritterschaft",
welche vom „eingebornen Adel" und den „bürgerlichen Gutsbesitzern" gebildet
wird. Sie traten auch auf dem letzten Landtag in den Vordergrund. Damals
war es ein (wahrscheinlich gar nicht in Mecklenburg wohnender) Korrespondent
der A. Allg. Ztg., welcher durch seine in fast alle Blätter übergegangenen
Mittheilungen darüber die größten Verwirrungen der Begriffe von der eigent¬
lichen Streitfrage in Cours brachte. Nach seinen Darstellungen mußte es
scheinen, als habe es sich bei den Wahlen der Landstände(i. Dez.) von Land¬
räthen, Klosterprovisoren, Deputaten bei der Militärdistrictsbehvrde und dem
Landkostencomit« :c. zwischen den bürgerlichen Gutsbesitzern und eingebornen
Rittern um Differenzen über das Wahlresultat gehandelt. Man mußte glauben,
die bürgerlichen Gutsbesitzer hätten gewissermaßen ein liberales Princip ver¬
treten. Dies war keineswegs der Fall, vielmehr Harmoniren beide Theile im
reactionären Sinn vollständig. Aber der „eingeborne Adel" ging gradezu
darauf aus, die ,.bürgerlichen Gutsbesitzer" bei den aus der gesammren ,,Ritter¬
schaft" (wie erwähnt aus beiden Körperschaften bestehend) vorzunehmenden
Wahlen vom activen Wahlrecht völlig auszuschließen. Ersterer erklärte sich
nämlich als ausschließliche Wahlcorporation und für ermächtigt,, ganz nach
eignem Ermessen neue Mitglieder in den „eingebornen Adel" aufzunehmen.
Darauf legten 20 „bürgerliche Gutsbesitzer" Protest ein, um sich alle ihnen
„dieserhalb zustehenden Rechte" zu reserviren. Nunmehr beschloß dagegen.die
Mehrheit „gesammter Ritterschaft" — unter etwa 120 Wählern waren zu dem
Wahltage freilich nur etwa 35 bürgerliche Gutsbesitzer eingetroffen — daß die
Zuziehung eines Notars zu den ständischen Sitzungen nicht statthaft sei, welche
ein bürgerlicher Gutsbesitzer, um Protest einzulegen, verlangt hatte. So war
also eine Spaltung da, doch keine Spaltung um allgemeinere politische Prin¬
cipien, sondern nur um Pmcisirung der Rechte beider Theile der „Ritterschaft".
Dieser Streit ist auch jetzt noch nicht entschieden. Vielmehr hat jede Partei
Deputirte gewählt, welche die Beilegung berathen sollen.
Geschichte der deutschen Freiheitskriege in den Jahren -18 13 und
1814 vom Major Beitzke. 3 Bde. Berlin, Duncker A Humblot.
„Bei den beständigen starken Eingriffen des Auslandes und bei unsrer
politischen Getheiltheit mangelt uns das Gefühl der unzertrennlichen Zusammen¬
gehörigkeit, der Einheit, der Macht und früherer gemeinsamer Triumphe, aus
welchen die Selbstachtung, der nationale Stolz, überhaupt die Nationalität
hervorgehen. So groß und stark wir zusammengenommen sind, so ist es in
unsre Gewohnheit übergegangen zu denken, daß Frankreich, England, Rußland
viel mächtiger sind als wir, uno daß wir in der politischen Wagschale von
Europa wenig geltend Wir haben uns leider, ohne Scham darüber zu em¬
pfinden, daran gewöhnt, unsre großen Bestimmungen vom Ausland zu erhalten,
da wir seil Jahrhunderten keine gesammtdeutsche Politik gehabt haben. So
haben wir uns immer an das viel mächtigere Ausland gelehnt, wie nach den
Freiheitskriegen an Rußland, und dabei haben wir doch Frankreich sowol wie
Rußland gefürchtet. Aus diesen verschiedenartigen Strömungen kommen dann
Dinge zum Vorschein, die in Frankreich, England, Rußland unmöglich wären.
Ohne Erröthen kann es unter uns wenigstens bei einer Partei vorkommen,'
daß diese es öffentlich bis zur Selbstentäußerung als Nation treibt. Den
eignen Souverän und das Vaterland verleugnend ist es nicht selten öffentlich
ohne Rüge geschehen, daß eine Partei einen auswärtigen Souverän als
den eigentlichen Beschützer des Vaterlandes gepriesen und anerkannt hat."
Diese ernste Betrachtung des wackern Offiziers,, dem wir das vorliegende
Buch verdanken, wird uns durch die neuesten Ereignisse um so näher gerückt,
da eine Gefahr, an die während des ivjährigen Friedens niemand dachte, sich
vor aller Augen enthüllt hat. Man war durch die lange Waffenruhe ver¬
weichlicht, und schmeichelte sich wol mit der Hoffnung, die ungeheure Entwick¬
lung der Industrie und des Creditsystems mache einen ernsthaften europäischen
Krieg unmöglich. Wie schwankend der Grund war, auf den diese Erwartungen
sich stützten, hat sich nun gezeigt. Wir sahen einen furchtbaren Krieg ent¬
brennen, wir sahen von drei Nationen die unerhörtesten, riesenhaftesten An¬
strengungen gemacht, und zwar um eines Gegenstandes willen, den man nicht
einmal genau bezeichnen konnte. Die Menschen, die in diesem Kriege gefallen
sind, zählen nach Hunderttausenden, die pecuniären Opfer nach vielen Milliar¬
den. Frankreich, Rußland und England haben ihre Kräfte erprobt, und was
namentlich die beiden erstern geleistet, muß uns ein mit Entsetzen gemischtes
Gefühl der Bewunderung einflößen. Die französische Armee hat ihren alten
Ruhm aufs glänzendste bewährt, und die russische, obgleich sie besiegt wurde,
nicht minder. Beide haben Blut gekostet, beide haben das Gefühl, ihre Kräfte
an einen unangemessenen Gegenstand verschwendet zu haben; beide hegen den
lebhaftesten Wunsch, sich durch einen realen Gewinn zu entschädigen. Zwar
steht einem Bündniß zwischen Frankreich und Nußland alles entgegen, was in
der Bildung, in der Geschichte und in den Traditionen der beiden Völker liegt;
aber beide. Staaten sind unumschränkte Monarchien, und es liegt lediglich in
dem Willen der Herrscher, wie weit sie den Neigungen ihres Volks Rechnung
tragen. So lange die erwünschte Beute, das deutsche Territorium, machtlos
und zersplittert vor ihnen liegt, kann man keinen Augenblick dafür stehen, daß
nicht das Princip den Interessen weichen muß.
Es ist nicht blos das gesteigerte Nationalgefühl, was wir aus einer Dar¬
stellung unsrer Freiheitskriege zu schöpfen haben, nicht blos daS stolze Be¬
wußtsein, wenigstens einmal in unsrer Geschichte mit selbstständiger Kraft
Großes gewagt und gewollt zu haben, sondern vor allen Dingen eine klare
Einsicht in die Zustände, die unsre Schwäche und Hilflosigkeit bedingen, und
in den einzigen Weg, der ihnen Abhilfe verheißt. Denn jene Zustande sind
nicht von heute oder gestern. Dieselben Ursachen, welche es damals dem
französischen Eroberer möglich machten, in dem Herzen Deuschlands festen Fuß
zu fassen und sich mit dem russischen Kaiser gewissermaßen über die Theilung
der Beute zu verständigen, sind noch heute vorhanden. Der Unterschied ist
nur, daß wir heute wissen, woran es uns fehlt, und daß dieses Wissen «U-
mälig im Begriff ist, sich in Gefühl und Jnstinct zu verwandeln. Der Jn-
stinct des Volks ist aber ein Facior der Geschichte, den keine diplomatische
Schlauheit beseitigen wird.
Das Buch des Major Beitzke ist mit einer ungewöhnlichen Theilnahme
aufgenommen, und es verdient dieselbe in hohem Grade. Der Verfasser ist
nicht, was man gewöhnlich einen geistreichen Mann nennt; er überrascht uns
nicht durch ungewöhnliche, schlagende Gesichtspunkte, er ist ein schlichter, ein¬
facher Soldat, der sein Handwerk gehörig versteht und der Sprache so weit
mächtig ist, um uns das, was er weiß, klar und durchsichtig darzustellen; der
Mühe und Sorgfalt darauf verwandt hat, sich aus Erzählungen und Docu-
menten in die Thatsachen, die er erzählen will, eine vollständige Einsicht zu
verschaffen, der aber niemals mit einer unnützen militärischen Gelehrsamkeit
Prunke, welche den Leser doch nur verwirrt, statt ihn aufzuklären. Vor allem
aber, er ist ein ehrliches, biederes Herz, von seinen Ueberzeugungen innig
durchdrungen und gewappnet gegen alle Sophismen einer überweisen Staats-
klugheit. Er steht das Ziel der Geschichte klar vor sich und hat den Muth,
es unumwunden auszusprechen. „Vernunft und unser eigner überschwenglicher
Vortheil fordern die Einheit; in der Reibung der Kräfte der großen Völker
Europas kann ein preußischer, bairischer, würtembergischer, reußischer Patrio¬
tismus nicht mehr genügen. Der erste Versuch zur Einheit ist mißlungen und
eS ist naturgemäß eine 'Abspannung erfolgt. Eine unabweisbare innere Natur¬
notwendigkeit wird aber dahin führen, den Versuch mit verstärkten Kräften zu,
wiederholen, bis er gelingt oder die Deutschen aus der Reihe der unabhän¬
gigen Völker für immer verschwinden."
Es ist sehr zu bedauern, daß der Verfasser den Feldzug von 1850 nicht
gleichfalls in seinen Plan mit aufgenommen hat. Die Gründe, die er dafür
in der Vorrede angibt, sind nicht stichhaltig, und wie das Buch uns jetzt vor-
liegt, fehlt ihm doch der Abschluß. Dem tüchtigen Mann ist Muße wol zu
gönnen, aber wir würden ihm doch den lebhaftesten Dank wissen, wenn er
durch einen nachträglichen Band das Werk, welches ein Lieblingsbuch der
Nation zu werden verspricht, seiner Vollendung zuführte.
Die Verwicklungen der orientalischen Frage rufen eine Reihe historischer
Untersuchungen hervor, welche die beiden letzten Jahrhunderte aus einem ganz
andern Licht betrachten, als man es sonst gewohnt war. Wenn es nun einerseits
ein Nachtheil für die objective Betrachtung ist, daß die augenblickliche Partei¬
richtung sich auch an den politischen Fragen der Vergangenheit geltend macht,
so hat es doch seinen Werth, auch diesen Gesichtspunkt so scharf als möglich
historisch zu verfolgen, wenn auch nur als Vorarbeit für den künftigen Ge¬
schichtschreiber. — Zunächst führen wir aus dem siebenten Jahrgang des histo¬
rischen Taschenbuchs eine Abhandlung von Zinkeisen an: Die orientalische
Frage im zweiten Stadium ihrer Entwicklung; eine weitere geschichtliche Studie
zur vergleichenden Politik. (Leipzig, Brockhaus.) Sie behandelt die drei ersten
Viertel des 16. Jahrhunderts, also diejenige Zeit, wo das Reich der Osmanen
in seiner Blüte stand, in einer gut erzählten Skizze, ohne Anspruch auf eine
gründlichere Durchführung. — Eine entschiedene Parteischrift ist das Werk
von Samuel Sugenheim: Rußlands Einfluß auf, und Beziehungen zu
Deutschland, vom Beginne der Älleinregierung Peters l. bis zum Tode Niko¬
laus .1. (1689—-18os); nebst einem einleitenden Rückblicke auf die frühere Zeit.
1. Bd. (Bis zum Vollzuge der ersten Theilung Polens: 1773.) Frankfurt a. M.
H. Keller. Es ist sehr zu bedauern, baß der Verfasser dem höchst interessanten
Detail, das er zum Theil aus ziemlich unbekannten Schriften genommen hat,
eine so ganz einseitige Parteifarbe gibt. Er beeinträchtigt damit nicht nur die
objective Haltung des Geschichlswerks, er schwächt auch den Eindruck aufs
Publicum, denn einer leidenschaftlichen Erregung glaubt man nicht. Seine
Schilderung Peters des Großen ist ein Ausfluß des Hasses, und obgleich die
Einzelnheiten zum großen Theil richtig sind, so verräth sie doch zugleich die
Unfähigkeit, sich in eine groß angelegte souveräne Natur zu versetzen. Peter
war unzweifelhaft ein Barbar, und man könnte von seiner angebornen Bestia¬
lität noch mehr Züge erzählen, als hier geschieht; trotzdem hat ihm nicht die
erkaufte Feder Voltaires, sondern der richtige Jnstinct der Menge den Bei¬
namen des Großen gegeben; ein Beiname, mit dem man diejenigen Fürsten
auszeichnet, die ein neues staatenbildendeö Princip in die Geschichte einführten.
Frievrich dem Großen würde es bei dem Verfasser, wenn ihm der Gegenstand
nahe läge, nicht viel besser gehen; wenigstens deuten einzelne Aeußerungen
darauf hin. Am schlimmsten sind die cynischen Ausdrücke, in denen sich der
Verfasser gefällt. Nebenbei geht er in der Kritik der Thatsachen nicht sorg¬
fältig genug zu Werke. Für die Zeit des siebenjährigen Krieges sucht er die
Ansicht durchzuführen, daß es den Russen mit ihrer Betheiligung kein Ernst
war, daß die russischen Generale den geheimen Befehl hatten, Friedrich so viel
als möglich zu schonen und die beiden deutschen Mächte sich einander auf¬
reiben zu lassen. Die ursprüngliche Quelle dieser Auffassung sind französische
Gesandtschaftöberichte von sehr zweifelhaftem Werth. Hat man so etwas aber
einmal festgestellt, so gewinnen die Thatsachen eine ganz andere Beleuchtung.
Noch auffallender wird die Sache, als der bekannte Moment eintritt, wo nach
der Ermordung Peters Hi. General Tschernitscheff im Begriff ist, sich mit den
Oestreichern zu verbinden, aber durch ein geheimes Gespräch mit Friedrich
dem Großen daran verhindert wird. Was war der Inhalt dieses Gesprächs?
Sugenheim macht die höchst überraschende Entdeckung, daß Katharine II.
Friedrichs des Großen Tochter war, und daß die Mittheilung dieses Umstandes
den russischen General zur Neutralität bewog. Um eine so unerhörte Be¬
hauptung aufzustellen, sind die Gründe, die er anführt, doch nicht schlagend
genug; trotzdem betrachtet er es als eine ganz ausgemachte Thatsache. — Für
den Klatsch jener Zeit ist übrigens das Buch eine nicht zu umgehende Quelle.
Einen ganz andern Charakter hat das Werk des verstorbenen Aveken:
Der Eintritt der Türkei in die europäische Politik des 18. Jahrhunderts. Mit-
einem Vorwort von Stüve. (Berlin, Herz.) ES umfaßt dieselbe Zeit 1699—1768.
Aber es ist eine höchst solid und gründlich gearbeitete Monographie, von der
wir sehr bedauern, daß es dem Verfasser nicht vergönnt war, sie seiner Absicht
nach bis zur französischen Revolution fortzusetzen. In Betreff der Zusammen-.
Stellung des Materials ist sie die zweckmäßigste Schrift für die Geschichte dieser,
Zeit und beruht dabei zum Theil auf selbstständigen Forschungen. — Noch
erwähnen wir daS von uns bereits besprochene Buch von Nöpell: Die
orientalische Frage in ihrer geschichtlichen Entwicklung (177^ — 1830). Breslau,
Trewendt und Graner. — Nach einer andern Seite hin wird die orientalische
Frage in dem Werk von La llerstedt behandelt: l^a ScüiliZinavie, 8es er^indes
se Los czsperanLss. l^aris, Dsntu. Das Buch ist zwar zunächst eine Partei,
Schuft, es sucht nachzuweisen, wie groß das Interesse ist, welches Schweden an
der Demüthigung Rußlands nehmen muß, weil es nur dadurch eine staatliche
Unabhängigkeit gewinnen kann. Sehr zu bedauern ist die Einseitigkeit, mit
welcher der Verfasser sür die Eiderdänen Partei nimmt, wenn er sich auch sehr
entschieden gegen den russischen Einfluß auf Dänemark und gegen die Be¬
günstigung desselben im londoner Protokoll ausspricht. Der Verfasser, ein ge-
borner Schwede, obgleich er sich in Paris aushält, geht im Wesentlichen von
der Idee der skandinavischen Union, also von einem nationalen Gedanken aus.
Dieser Gedanke wird aber so lange unfruchtbar bleiben, als sich nicht die
Skandinavier dazu erheben, die Berechtigung der deutschen Nationalität gleich¬
falls anzuerkennen. So lange sie darauf ausgehen, eine deutsche Provinz
durch die bekannten Mittel des Despotismus unter die dänische Knechtschaft
zu bringen, müssen sie sich auch aus den Despotismus stützen, gleichviel ob
dieser von Rußland oder von Frankreich ausgeht. Die Faseleien von der
ausschließlich aristokratischen Bedeutung der Erhebung in den deutschen Herzog-
thümern sollten doch endlich aufhören, und sie dürften am wenigsten in einem
Buch vorkommen, das im Uebrigen mit so viel Wärme und Sachkenntniß ge¬
schrieben ist, wie das vorliegende. — Die Broschüre deö Grafen Ficquel-
mont: Zum künftigen Frieden. (Wien, Mantz), sucht den Fehler Rußlands
vorzüglich darin, daß seine Kirche zu einseitig.und zu ausschließlich ist. Neben¬
bei geißelt sie nicht mit Unrecht die frühern Verletzungen des Völkerrechts von
Seiten Englands, die Wegführung der spanischen Kriegsschiffe, das Bombar¬
dement Kopenhagens, die Forcirung der Dardanellen und den Brand von
Navarin. Das.Buch ist etwas weitschweifig, und seine halb theologischen
Deductionen erregen kein sonderliches Interesse; aber daß der alte Staatsmann
das Recht des Gewissens als ein höheres darstellt, als das Recht der Interessen,
ist sehr an der Zeit.
Indem wir uns nun von der orientalischen Frage abwenden, haben wir
zunächst ein sorgfältig und gründlich gearbeitetes Buch zu erwähnen: Mai¬
land und der lombardische Aufstand im März 18i8 (Wien, Gerold),
das eine Menge wenig bekannter Thatsachen enthüllt, und bei dem man sich
allenfalls auch die gar zu scharf prononcirte östreichische Parteifarbe gefallen
läßt. — Die neuere Geschichte Italiens wird überhaupt mehrfach durchforscht.
.Ueber die Geschichte des Hauses Savoyen sind zwei interessante Werke er¬
schienen: Ilistorz? ok ?ieclinont von Antonio KallsnxÄ, 3 Bde., und Ne-
moris sull' Ittüis, Sel 181t sa 1850, von Viusoppe IV! c> ntanölli, 2 Bde.—
William Prescort, der berühmte Geschichtschreiber der Eroberung Mexicos,
hat die Geschichte der Regierung Philipps II. von Spanien vollendet (London,
1863. 2 Bde.) — Von Jacob Venedeys Geschichte des deutschen Volks
von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart (Berlin, Franz Duncker) ist
die 11. und 12. Lieferung erschienen. Sie enthalten den Schluß des zweiten
Band.es (887—12S6, 614 Seiten). Das ganze Werk wird vier Bände um¬
fassen.— In seiner Beschreibung der Zigeuner in den Donaufürstenthümern
Rsolaves tsixanss äar>5 iss prinoipautLS äanudiLlines), sucht Alfred
Poissonnier, Professor in Bukarest, das französische Publicum für das Loo-s
dieser schwer unterdrückten Classe zu interessiren. -- Wir haben ferner die
Vollendung eines Werkes anzuzeigen, auf dessen frühere Lieferungen wir be¬
reits hingewiesen haben: Diplomatisches Handbuch. Sammlung der
wichtigsten europäischen Friedensschlüsse, Cvngreßacten und sonstigen Staats¬
urkunden vom westphälischen Frieden bis auf die neueste Zeit. Mit kurzen
geschichtlichen Einleitungen herausgegeben von or. F. W. Ghillan.y. Nörd-
lingen, Beck. — Der Verfasser hat im Ganzen mit richtigem Takt die wichtig¬
sten Documente zusammengestellt und im letzten Bande durch ein sehr voll¬
ständiges Register deu Gebrauch derselben so erleichtert, daß sein Handbuch
für alle gewöhnliche Fälle, die nicht ein gründlicheres Eingehen erfordern, sich
als vollkommen- ausreichend erweist. — Ein Werk, welches die allgemeinste
Verbreitung verdient, sind die Geschlechtstafeln zur Erläuterung der
allgemeinen Geschichte, von Friedrich Theodor Richter (Leipzig, T. O.
Weigel). Bisher sind zwei Hefte erschienen, welche die alte Geschichte mit
Einschluß der römischen Kaiser bis inS 10. Jahrhundert enthalten. Je ober¬
flächlicher in der Regel solche Zusammenstellungen ausgearbeitet werden, desto
mehr muß man die wissenschaftliche Sorgfalt und Gründlichkeit, ja die Gelehr¬
samkeit anerkennen, welche sich bei diesem Unternehmen geltend gemacht hat. —
Die Literatur über die deutschen Freiheitskriege gewinnt fortwährend an Aus¬
dehnung wie an Bedeutung. Als eine sehr interessante Monographie, die zur
vollständigen Kenntniß jener großen Periode unentbehrlich ist, erwähnen wir
das Buch: Der Feldzug des dritten deutschen Armeecorps in Flan¬
dern im Befreiungskriege des Jahres 18 ki. Mit Benutzung amt¬
licher Quellen des Kriegsarchivs bearbeitet von Oberstlieutenant L. F. Bucher.
Nebst 2 Karten, 2 Plänen, i Tabellen und einem alphabetischen Namen-
verzeichniß aller hervorragenden Theilnehmer am Feldzuge. Leipzig, H. Coste-
noble. — Von der Geschichte der occidentalischen Kirche (Histor^ ok l^aUn
^dri8tiÄnitz' ineluÄinx >.do,t ol l>ir<z ?opss w tds ?ont,iüekte ok ^ioolas V.)
von Henry Hart Milman sind Bde. i bis 6 erschienen (von Innocenz
M. an). —
Außerdem sind noch die Fortsetzungen von Werken anzuführen, auf die
wir schon früher hingewiesen haben. — Zunächst die Geschichte Friedrich
des Großen von Franz Kugler. Mit S00 Illustrationen, gezeichnet von
Adolf Menzel. (Leipzig, Mendelssohn). — Es sind davon fünf neue Liefe¬
rungen erschienen, in. Bezug auf die artistischen Beilagen ebenso lobenswert!)
ausgeführt, als die früheren. Eine ausführliche Besprechung behalten wir uns
zum Schluß des Ganzen vor.— Ferner ist von der deutschen Geschichtsbiblio¬
thek von O. Klopp (Hannover, Rümpler) der vierte Band erschienen. Er
enthält u. a. die Wiedertäufer in Münster; John Haupten; der deutsche See-
Handel im 17. Jahrhundert; Graf Wilhelm von Schaumburg-Lippe; die Bar¬
tholomäusnacht; Oldenbarneveldt; Kurfürst August von Sachsen und sein Leib-
' > „„^.
arzt Pinccr; Kanzler Crell; die Wegnahme der spanischen Silberflotte durch
die Holländer 1628; Cota Rienzi; Schlacht bei Hastings; die Wahl Friedrich
Augusts zum König von Polen.
Die innere Krisis, in welcher sich seit zwei Jahren die vereinigten Staaten
befinden, ist eine der größten und gefährlichsten, welche die Union je durchgemacht
hat. Der nationale Gegensatz zwischen dem Süden und Norden des Landes,
den sklavenhaltenden Staaten und den freien Staaten, ist zu keiner Zeit so
scharf hervorgetreten, wie in dieser, und wenn man blos nach dem erbitterten
Charaktei' schließen soll, den er angenommen, so sind die daraus einspringenden
Gefahren nie näher und drohender gewesen. Wenn auch die Erfahrung be¬
weist, daß Krisen in der amerikanischen Politik dann immer am glücklichsten
überwunden wurden, wenn sie am meisten gefürchtet waren, so wäre es doch
nicht minder unklug, sich einem zu großen Vertrauen hinzugeben. Bei den
Völkern wie bei den Individuen verschlimmern Rückfälle das Uebel, an dem
sie leiden, und wenn nicht bei Zeiten eine radicale Hilfe angewandt wird, tritt
früher oder später der kritische Augenblick ein, den oft auch der stärkste Orga¬
nismus nicht überdauern kann. Ein solcher Moment sind für Amerika die
nächsten Monate, bis zur Wahl des neuen Präsidenten, durch welche ent¬
schieden werden wird, ob Freiheit oder Sklaverei künftighin diesen Continent
beherrschen soll. Zur Orientirung über den bevorstehenden Gang der Dinge
soll das Folgende ein kleiner Beitrag sein.
Der Gesammtausdruck der amerikanischen Politik wird gegenwärtig durch
zwei Merkmale bezeichnet. Man findet auf der einen Seite ebensoviel Schau¬
gepränge mit hohen Principien, unbedingter Unterordnung unter den souverä¬
nen Willen und die Rechte des Volkes, wie auf der andern Seite eine äußerste
Verachtung des gegebenen Worts, des Volksprincips in der Regierung und
seiner Autorität in der Repräsentation seiner Vollmachtgeber., Diese Wahr¬
nehmung findet auf die Politiker aller Parteien ihre Anwendung, mehr aber
noch auf die des Nordens, als die des Südens, da die südlichen Führer
sich nicht mehr lange die unnöthige Mühe geben dürften, mit den freien In¬
stitutionen ihres Landes Heuchelei zu treiben. Schon im Jahr 1820 sprach
Herr Randolph, einer der ersten Führer der Sklavenpartei, seine Meinung
in dieser Hinsicht durch die Verachtung aus, die er gegen die Repräsentanten
eines freien Gemeinwesens an den Tag legte, als er in einer scharfen Rede
gegen den No,rden ausrief: „El was, wir regieren sie nicht durch unsre schwär-
zen Sklaven, sondern durch ihre weißen Sklaven", unter den letzteren die so¬
genannte Zoug'Kkaoes meinend, welches ein Spitzname für die Sklavenbegünstiger
des Nordens ist, und worunter man laces oder Gesichter versteht, die bei der
leichtesten Berührung durch eine kundige Hand den gewünschten Eindruck an¬
nehmen. Das Wort bedeutet außerdem einen unreinen Menschen von rohem
Stoff, der zu jedem Zweck verwendet und nach Belieben gekauft und verkauft
werden kann.
Die ganze Sippschaft der äongdkaoss. die gegenwärtig als die Autoren
des Nebraskacoups figuriren, eines Coups, den sie eine politische Zerstreuung
nennen, und welcher die bürgerliche Ruhe der Republik bedroht, hat ihren Ein¬
zug aus die Bühne des öffentlichen Lebens unter dem Banner Jefferson ge¬
halten. Sie sind mit den Versicherungen ihrer Ergebenheit gegen die Sache
der Humanität und Freiheit, welche Jefferson zum Gründer des amerikanischen
Gemeinwesens gemacht hat, noch ebenso verschwenderisch wie damals, aber ihre
Handlungen sind ihren Worten wie ihrer Anhänglichkeit an ihren Lehrer schnur¬
stracks entgegengesetzt.
Die ersten Acte der Schöpfer der amerikanischen Politik waren die Beseitigung
der königlichen Autorität und die Proklamation der Souveränetät des Volkes.
In dieser Umkehr des Princips wurde das Wesen des Staates ein der Sklaverei
fremdes und entgegengesetztes. Der Lehre gemäß, daß alle Menschen gleich
geschaffen seien, mit dem unveräußerlichen Rechte des Lebens, der Freiheit und
dem Streben nach persönlicher Wohlfahrt, mußte die Existenz der Sklaverei als
ein ebenso großes Nebel und Unglück für den Sklaven wie für seinen Besitzer
empfunden werden. Das Volk der verschiedenen Staaten fühlte dies. Man
begann unmittelbar die Befreiung der Sklaven durchzuführen. Die nördlichen
Staaten entließen ihre Sklaven. Der Congreß beschränkte das Uebel, indem
er es mit Beistimmung aller Staaten von dem ganzen Territorium ausschloß,
das ihm von den Staaten überlassen wurde. Die Konstitution, welche gleich-
Zeitig mit diesem Beschluß in Berathung war, forderte zum Festhalten an dieser
Ausschließung aus und ermächtigte durch eine andere Clausel künftige Congresse
Zur Ausdehnung derselben. Der nächste Schritt war die Aufhebung des
Sklavenhandels. Der sklavenfeindliche Geist der Gesetzgebung wurde fortgesetzt
>u dem Missouricompromiß, in dem Terascompact, und in dem Compro-
"uß von 1830, durch welche alle der Ausdehnung der Sklaverei im Wege deö
Vergleichs zwischen Norden und Süden bestimmte Grenzen gezogen wurden.
Von der Unabhängigkeitserklärung an bis vor den Douglasbetrug war jeder
Act der föderalen Negierung in der Absicht gemacht worden, das Umsichgreifen
der Sklaverei über die freien Territorien zu verhindern. Die Gründer deö
Systems der Union waren noch weiter gegangen und hatten auf die Aus-
merzung der Sklaverei in den sklavenhaltenden Staaten gedrungen. Washing-
ton strebte, wie aus seinen Briefen hervorgeht, seit lange darnach in seinem
eignen engeren Vaterland und besonders in Maryland. Als ein Zeichen von
dem Ernst der Ueberzeugungen, die er mit sich ins Grab nahm, und als ein
Beispiel für seine Zeitgenossen, war sein letzter Wille ein Act der Emancipation
seiner Sklaven. Jefferson, unter dessen Führung die demokratische Partei sich
organisirte, arbeitete als Mitglied des Comites für die Revision der Gesetze
von Virginien einen Plan zur allmäligen Emancipation und Colonisation der
Sklaven aus. Er sprach die Prophezeihung aus, daß, wenn nicht bei Zeiten
Maßregeln in dieser Hinsicht getroffen und „die Sache ihrem eignen noth¬
wendigen Gange überlassen würde, das menschliche Gefühl vor den Aussichten
zurückschaudern müsse, die sich eröffnen. Wir würden, fügte er hinzu, vergeblich
nach einem Beispiel in der spanischen Deportation und Vertilgung der Mooren
suchen. Dieser Vorgang würde unsern Fall weit hinter sich lassen." Auch er
stellte, wie Washington, in seinem letzten Willen eine Mahnung und ein Bei¬
spiel für seine Landsleute auf. Bezeichnender für den Geist, der bis vor kurzem
die Union bei der Anschauung der Sklavcnfrage durchwehte, sind die Worte
desselben Randolph, den wir erwähnt, als er im Jahr 1826 gegen die Ein¬
mischung der Abolitionisten in die Angelegenheiten des Südens sprach und die
wir vollständig hersetzen, da sie südliches Wesen und Charakter zugleich treffend
charakleristren.
„Sir, ich weiß, eS gibt hier Herren nicht allein aus den nördlichen, son¬
dern auch aus den südlichen Staaten, welche glauben, daß diese unglückliche
Frage — denn eine solche ist es — der Negersklaverei, welche die Verfassung
vergebens versucht hat, nicht durchblicken zu lassen, indem sie das Wort ver¬
mied, niemals öffentlich erwähnt werden sollte, besonders nicht im Kongreß und
noch weniger an diesem Platze. Sir, bei allem gebührenden Respect gegen die
Herren, welche dieser Meinung sind, weicht' ich von ihnen tot» caelo ab. Sir,
das ist ein Ding, das nicht verborgen werden kann. Das ist kein trocken
fauler Fleck rot), den Sie mit einem Teppich zudecken können, bis Ihnen
das Haus über dem Kopf zusammenstürzt. Sie mögen ebensogut versuchen,
einen im Ausbruch begriffenen Vulkan zu verbergen, er kann nicht verborgen
werden. ES ist ein Krebs in ihrem Gesicht, der soLunclurri artem geheilt werden
muß. Er darf nicht von Quacksalbern rurirt werden, die niemals weder die
Krankheit noch den Patienten gesehen haben und über den atlantischen Ocean
herüber ihre Recepte schicken; aber er wird es werden, wenn sie ihn in Ruhe
lassen wollen, und ich habe meinen Antrag auf dirses Princip des Gehenlassens
gestellt.
Die vorliegende Frage ist diese, ist dies ein Gegenstand von unausweich¬
licher Tragweite? — Ich stelle diese Frage nicht an Sie, Sir; ich weiß, was
Ihre Antwort sein wird; ich weiß, was die An.twort jedes Ehemannes, Vaters,
Sohnes und Bruders in allen Staaten des Südens-sein muß; ich weiß, daß
davon die Ehre jedes Mädchens und jeder Frau abhängt — einer jeden Frau,
ob Gattin oder Witwe, zwischen dem Fluß des Ohio und dem Golf von
Mexico; ich weiß, daß davon der Lebensfaden des Säuglings abhängt, der in
der Wiege liegt, unwissend, was um ihn her geschieht. Nro nicht die der
Weißen blos; denn sollen wir nicht auch todten, — sollen wir nicht die
Scenen wiederholen, die in Guatemala und andern Orten vorfielen? — aus¬
genommen mit verschiedenem Erfolg; — denn, wenn wir mit unsrer Ueber-
legenheit an Zahl, Verstand und Muth gestatten könnten, hier wie dort be¬
siegt zu we.rden, so würden wir die Sklaven zu unsern Zuchtmeistern und als
Ehemänner unsrer Frauen verdienen. Das ist die unausweichliche Folge, welche
das Mitglied von Enrolina in demselben Lichte ansieht, wie ich —- und die
auch Sie, Sir, also betrachten und welcher jedes südliche Gefühl entspricht, —
eine Saite, die, wenn sie von der zartesten Hand berührt wird, zu dem Herzen
eines jeden Menschen in diesem Lande forttönt. Ich wünsche, ich könnte der
Wahrheit gemäß behaupten, daß sie zu der entgegengesetzten Reihe gehöre, —
daß sie eine geringe Gefahr sei; aber es ist eine große Gefahr — eine Gefahr,
die immer zugenommen hat, fortwährend zunimmt, und die vermindert werden
muß, oder sie wird zu einer sachgemäßen Katastrophe führen.".
„Seit meiner frühesten Kindheit, waren alle meine Gefühle und Instincte
der Sklaverei in jeder Gestalt zuwider, der Unterwerfung des Willens eines
Menschen unter den eines andern, und seitdem ich Clarksons berühmtes Pam¬
phlet gelesen, wurde ich, mir schaudert noch, ebenso toll, als Clarkson selbst.
Ich las mich in diese Tollheit hinein, wie ich mich in einige Agriculturver-
besserungen hineingelesen habe, aber wie ich mich aus diesen wieder heraus¬
gearbeitet, so arbeitete ich mich auch aus jener wieder heraus. Zu jener Zeit,
wo der Abolitionismuö den Sklavenhandel für Seeräuberei erklärte, hatten wir
ebensogut das Recht ihn als Verrath zu erklären, wenn die Verfassung nicht
schon den Begriff von Verrath definirt hätte, — es war ebensosehr Piraterie
als Verrath."
„Das Uebel wird seinen Verlauf haben — es hat ihn in den nördlichen
Staaten schon gehabt; es ist im Begriff, ihn in Maryland zu nehmen. Das
natürliche Ende der Sklaverei ist die Unvorteilhaftigkeit ihrer zu theuern Arbeit.
Den Augenblick, wo die Arbeit aufhört dem Herren zu nützen, oder bald nach¬
dem sie diesen Punkt erreicht hat, wird, wenn der Sklave nicht dem Herrn
entlaufen will, der Herr dem Sklaven entlaufen; das ist die Geschichte des
Uebergangs von der Sklaverei zur Freiheit, in dem Frohnverhältnisse Eng¬
lands. Die freigebornen Engländer waren einst Klebae a-lsoriM, wie die
Leibeignen in Polen. Befinden sich die letztern nicht in Nußland und Polen
grade jetzt und aus denselben Ursachen in diesem Uebergange?" —
Man sieht', daß Washington, Jefferson, die Verfassung und ihre gesetz¬
gebende Körperschaft, ebenso den Verfall und nicht das Wachsthum der Sklave¬
rei für die Wohlfahrt des Landes ersprießlich hielten, wie Nandolph und die
südliche Partei seiner Zeit. Selbst diese nahm damals keinen Anstand, die
Sklaverei für Seeräuberei und Verrath an den Gesetzen der Humanität zu er¬
klären. Seitdem aber hat sich vieles geändert und wenn man die Aeußerungen
der südlichen Wortführer und ihrer Organe hört, so muß man glauben, daß
das gerade Gegentheil die Ansicht und Politik des Südens geworden ist. Der
MeNriicmä LncnrK'ör, z. B. das Hauptorgan der südlichen Doctrin, und der
einst das Verdienst hatte, das einzige Blatt zu sein, welches Jefferson während
seiner Zurückgezogenheit von den Geschäften las, antwortet jetzt denen, welche
Jeffersons Principien vertreten, folgendermaßen:
„Sie fangen ihre Argumentation mit der Behauptung an, daß die Skla¬
verei ein moralisches und religiöses Unrecht sei und der Süden hat bisher diese
Prämisse zugegeben und die Sklaverei als eine Ausnahme von der herrschenden
Regel, oder wenn ein Unrecht, als ein geschäftliches Abkommen zwischen dem
Norden und Süden zu rechtfertigen gesucht. Die Gesetze Gottes und der
Natur sind aber unveränderlich und der Mensch kann mit ihnen
nicht H and.el treiben. Während es bei weitem mehr in die Augen springt,
daß eher Neger als Weiße Sklaven sein können, denn sie sind blos zur Arbeit
und nicht zum Regieren geschickt, so ist doch das Princip der Sklaverei
an und für sich selbst recht, und beruht auf keiner Verschieden¬
heit der Leibe s beschaffe üben. "
Diese Aufstellung der „unveränderlichen Gesetze Gottes und der Natur",
welche das Recht der Sklavenproduction als über einer menschlichen Ueberein-
kunft stehend behauptet, ist eine leichte Lösung, der Schwierigkeiten, welche de-
allgemeinen Herrschaft des Nullificationssystems gegen die Verfassung in dem
Weg standen. Was sind maxng, ekarta, constitutionelle Schranken, Verträge
und Absindungen zwischen den Staaten, um die Ausdehnung der Sklaverei
zu verhindern, wenn sie „den unveränderlichen Gesetzen Gottes und der Natur"
zuwiderlaufen? Es ist Unsinn, wenn mau von dem Missouricompromiß als
einem bindenden Vergleich spricht — es besteht überhaupt nichts zu Recht, als
die neue Lehre der Nichtintervention, welche in ihrer'gegenwärtigen Auslegung
bedeutet, daß die Gesellschaft durch kein Gesetz dazwischentreten soll, wenn der
Stärkere den Schwächern zum Sklaven mache, einerlei, was seine Farbe und
Abstammung sei.
Als die südlichen Verschwörer und nördlichen clouKlckaoes unter ihnen
fanden, daß der Kansasbeschluß, welcher die Frage der Sklaverei an die Wahl¬
urne der Ansiedler verwies, sich als eine Intervention herausstellte, die gegen
„die häusliche Institution" entschied, so beschlossen sie ihr eignes Gesetz nach
dem neuen Princip der Gewalt geltend zu machen, indem sie den Bürgerkrieg
anfingen. In dem gegenwärtigen Augenblick wenden sie alle Mittel und allen
Einfluß, den sie in den Regierungen der Union und der Einzelstaaten gewonnen,
dahin an, um ihrei; Willen durchzusetzen. Der Präsident war von Anfang bis
zu Ende der Verschworene und Mitschuldige in dem elenden Complot. Noch
ehe er in Washington zur Installation eintraf, war Atchison durch seine Freunde
angewiesen worden, in Missouri zu erklären, daß Bendorf, ihres Gegners
Freunde, von den Amtsstellen ausgeschlossen würden und daß die Freunde At-
chisons ausschließlich alle Plätze einnehmen sollten. Es war dies eine Anerkennung
von dem Haupt der Negierung, daß der Einfluß der Nullificationspartei von
Missouri gesichert wäre, während ihr Führer bestrebt war, die Repeal des
Missouricompromisses der Nebraskabill anzuhängen. Als die letztere Bill
passtrt war, wurden die Ernennungen der Beamten in Kansas mit der Wei¬
sung gemacht, Atchison in seiner Thätigkeit in dem Territorium zu unterstützen.
Er blieb daselbst, indem er den Vorsitz im Senat aufgab und eröffnete seine
Umtriebe durch Drohungen gegen freie Einwanderer, durch Lynchgerichte, durch
Einschüchterungen jeder Art, und als diese mißlangen, durch Behinderung der
Occupation des Landes. Er wies die Ansprüche der Ansiedler mit den Waffen
zurück, verjagte die Abstimmenden von den Stimmorten und confiscirte die
Wahlurnen; ließ hierauf zusammengelaufenes Gesinde! aus Missouri wählen
und führte unter den Auspicien einer Faustrechtslegiölatur ein Usurpationssystem
durch, wonach nur solche Beamten des Territoriums gewählt wurden, welche
dem Volkswillen Hohn sprachen. Um den Weg zu dieser Tyrannei offen zu
halten, wurde Reeber, welcher seine Adhäsion vor seiner Ernennung zum
Gouverneur erklärt hatte, aber eine solche Willkür nicht sanctiomren wollte, be¬
seitigt, indem der Präsident von Anfang an diese Pläne nicht nur gewährte,
sondern sie Schritt für Schritt unterstützte. Jetzt, nachdem Atchison sein Werk
durchgeführt hat, kommt er in den Congreß und sagt, er habe Gewalt anwen¬
den müssen, um die Ruhe im Lande aufrecht zu halten. Nicht genug, er
bringt eine Botschaft ein, in welcher er offen zugesteht, daß Usurpation statt¬
gefunden hat und in welcher er die durch dieselbe geschaffene Legislation der
Missouribanbiten als. ein Fall accompli anzuerkennen auffordert. Der Prä¬
sident aber hat die Stirn, dem Congreß die Unterstützung Atchisons zuzu-
muthen, indem er die Bewilligung seines Gehaltes empfiehlt und einen Rei¬
nigungseid vorschlägt, welcher im Widerspruch mit der Constitution jeden Wähler
seines Stimmrechts beraubt/ Diese Zumuthung ist insofern von großer Be¬
deutung, eilf sie eine Insinuation an den Süden ist, wie der Präsident sich zu
der Entwicklung der Dinge zu stellen gedenkt. Er wird die bewaffnete Macht
der Union nicht anwenden, um Atchison in der Fortsetzung seines Werkes zu
stören, sondern ihn im Gegentheil durch die erstere nöthigenfalls in Schutz
nehmen. Atchison seinerseits fährt fort, Recruten in Missouri zu werben und
sich solche von den südlichen Staaten schicken zu lassen; er hat in einem Briefe
nach Georgia offen seinen Willen erklärt, Kansas zu einem Sklavenstaate zu
machen und die Legislaturen und Gouverneure des Südens wurden aufgefordert,
ihm mit Geld und Leuten beizustehen.
Wir haben keinen Zweifel, daß das Denouement des Complots, welches
mit den Regierungsmitgliedern verabredet worden ist, Anfang nächsten Juni
herbeigeführt werden wird, um die Nomination in Cincinnati, die zu dieser
Zeit vor sich gehen soll, zu beeinflussen. Der Süden und die nördlichen clouxk-
lÄctzs der Versammlung werden dann in den Händen von Präsident Pierce
als Oberbefehlshaber der Truppen der vereinigten Staaten in Kansas und in
Atchison als Untergeneral die Macht der Regierung vereinigt finden und sich
leicht bedeuten lassen, daß, um den Staat zu retten, für die nächste Prästden-
tur niemand anders als sie wieder gewählt werden dürfte. Dieser Vortheil
ist wenigstens der einzige, den Mr. Pierce über seinen Nebenbuhler Mr. Bu-
chanan, welcher der versteckte Alliirte des Südens ist und den Fehlern der
Partei durch seine Gesandtschaft nach London ausgewichen ist, erlangen kann.
Andrerseits werden alle diejenigen, welche die furchtbare Verantwortlichkeit
fühlen, die auf die Urheber dieses unedlen Bürgerkriegs fällt, sich bestreben,
neue Namen von einiger Bedeutung, die nichts damit zu thun haben, auf die
Liste zu bringen und dürfte der jetzige prästdentielle Sklavenmäkler vergeblich aus
die Dankbarkeit und Verbindlichkeit derjenigen zählen, denen er sich verkauft
und zu deren Nutzen er die Würde, die er einnimmt, so tief beschmuzt hat.
Aber das wird die Partei nicht abhalten, ihren gefaßten Plan, der noch viel
weiter geht und nichts weniger zum Zweck hat, alö eine selbstständige Con-
föderation der Sklavenstaaten, mit Missouri und Kansas in der Mitte und
Kalifornien, Nikaragua und Mexico als Grenzlinie, weiter zu verfolgen. Die
Herrschaft der Sklavenmacht würde dann der der andern Staaten „ebenbürtig"
sein, wie Herr Brooke meinte und von Cuba aus, welches als letztes An¬
hängsel betrachtet wird, könnte man dem Norden die Zunge zeigen.
Gibt es aber keine Schranken und Hindernisse, die der Verwirklichung
dieses ungeheuern Planes im Wege stehen? Wirb .der reiche, feste und be¬
völkerte Norden nichts thun, um der Ausbreitung dieses „Krebses in seinem
Gesicht" entgegenzutreten?
Die Antwort auf die erste Frage ergibt sich von selbst aus der Annahme
des Falles. Eine solche Conföderation würde nothwendig zu einem Bruch und
Kriege in der Union führen. Was aber bei einem solchen das Schicksal des
Südens und seiner vermeintlichen Macht sein würde, ist nicht schwer zu er¬
rathen. Die erste und nothwendige Folge davon würde die Aufhebung der
Sklaverei sein, entweder einseitig durch die Sklaven, die insurgirt würden und
davon liefen, oder mit Bewilligung ihrer Herren, welche sie emancipiren mu߬
ten, um sie als bewaffnete Macht gegen den Feind zu verwenden. Das letztere
war das Resultat der spanisch-amerikanischen Kriege und das erstere würde
nicht blos von den freien Staaten des Nordens versucht werden. Auch Frank¬
reich, England und Spanien würden einer Occupation von Cuba nicht ruhig
zusehen, ohne die schwarze Schar seiner Bevölkerung zu entfesseln und ihr
Hilfe zu senden. Napoleon sagte in seinen Memoiren von Se. Helena, wo
er von dem Verlust und der Rückkehr Se. Domingos unter seine Fahnen
spricht: Die Republik würde ^eine Armee von 25—30,000 Schwarzen haben,
welche ganz Amerika zittern machen würden. Der Ausgang kann in der That
kaum zweifelhaft sein.
Was die zweite Frage betrifft, so hängt dieselbe von der Stellung
der Parteien und den Platformen ab, welche als Resultat aus ihren
Reorganisationsbestrebungen hervorgehen wird. Neben der gouvernementalen
Partei der aristokratischen Sklavenlreiber gibt es jetzt nur zwei große Partei¬
gruppen, die in Erwägung kommen. Das sind die Knownothings und die
Republikaner, welche in diesem Augenblick beide in vorbereitenden Conventio¬
nen in Philadelphia und Pittsburg versammelt sind. Bis jetzt hat nur die
Versammlung der ersteren, welche sich nicht mehr Knownothings oder Nati-
visten, sondern die amerikanische Partei schlechtweg oder par sxesUsnLö nennen,
ein bestimmtes Ergebniß geliefert, welches darin besteht, daß die Gesellschaft
ihrer principiellen Auflösung entgegengeht. sowol der Artikel, welcher die
einundzwanzigjährige Naturalisation fordert, als derjenige, welcher gegen den
katholischen Glauben gerichtet ist, wurden durch Beschluß und Zulassung von
denselben entgegengesinnten Delegaten zur Convention beseitigt, so daß nur
noch der Artikel im Sinne der Nebraskabill als Malliirungspunkt der Partei
übrigbleibt. Es ist sehr die Frage, ob derselbe Anziehungskraft genug besitzen wird,
die Partei ferner zusammenzuhalten, da derselbe sie ohne die beiden andern der
Negierung direct in die Arme führt und von dem Augenblick an, wo dieses voll¬
ständig klar wird, die ganze Genossenschaft zu einer Bande von bloßen Stellen¬
jägern herabsinken muß, was sie ohnedies in den Augen vieler stets war. Die
ganze Lage ist aber dadurch ungemein vereinfacht worden, indem sämmtliche
alte Parteiunterschiede vor dein einen und großen Gegensatze verschwinden,
der sich in den zwei Worten: Sklaverei oder Freiheit, Piercewirthschaft oder
constiMtionelle Negierung zusammenfaßt. Die republikanische Partei bildet das
Gefäß zur Aufnahme aller Elemente, welche die Opposition gegen die erstere¬
ins Leben ruft und sie hat den ersten Erfolg durch die Wahl Banks als
Sprechers in dem Hause der Repräsentanten gefeiert, welche eine standhafte An¬
strengung erfordert hat, die auf einen harten und mühseligen Kampf und von
noch ungewissem Ausgang hindeuten. Nach dem augenblicklichen Eindruck zu
urtheilen, hat es den Anschein, als ob beide der streitenden Parteien im Volke
sich gleich ständen und die nächste Präsidentenwahl daher nicht durch dieses
vollzogen werden, sondern dem Repräsentantenhaus zufallen würde, wo In¬
triguen und irgend eine das Gleichgewicht anstrebende Fraction den Ausschlag
geben wird.
Ernst Wagners sämmtliche Werke. Dritte Auflage in sechs Bän¬
den. (Leipzig, Ernst Fleischer.) — Friedrich Heinrich Jacobis aus¬
gewählte Werke. Neue Ausgabe in drei Bänden. (Leipzig, Ernst Fleischer.)
— Die vorliegende Ausgabe enthält die Schriften von Ernst Wagner ganz,
nebst der Biographie von Mosengeil und der Correspondenz; von Jacobi da¬
gegen nur Woldemar, Allwill und eine kleine Auswahl aus den Briefen.
Ueber die Bedeutung dieser beiden Schriftsteller in der Geschichte des Romans
haben wir uns an einem andern Ort ausführlich ausgesprochen. Beide ge¬
hören in das Zeitalter der gesteigerten Gefühlsschwelgerei, wo man mit einer
ängstlichen Aufmerksamkeit alle Regungen der Seele überwachte, so unbedeutend
sie sein mochten und sich nicht selten veranlaßt sah, um der Darstellung willen
die wunderlichsten Empfindungen von der Welt künstlich hervorzurufen. Dazu
kommt noch bei Wagner eine fieberhaft gesteigerte Sinnlichkeit, die zuweilen zu
recht unschönen Ausbrüchen führt. Keiner von ihren Romanen kann Anspruch
auf die Bezeichnung eines classische» Werks machen; dagegen werden sie doch
die meisten unsrer Tagesproducte überleben. Der Grund tagt nicht blos
darin, daß Jacobi ein geistvoller Mann war, der uns alle Augenblicke durch
tief eingehende Bemerkungen überrascht und daß Wagner ein großes malerisches
Talent besaß, sondern hauptsächlich darin, daß sie aus innerm Drange, in
dem Bewußtsein zwingender Nothwendigkeit schrieben, während heutzutage der
Entschluß zu schreiben sehr häufig dem Bewußtsein über das, was man schrei¬
ben will, vorausgeht. Jacobis und Wagners Werke sind Naturprodukte und
ebendeshalb von Wichtigkeit für die Literaturgeschichte. Es war Wagner ein
ebenso heiliger Ernst mit der Errichtung einer allgemeinen deutschen Kunst¬
anstalt und mit der Einführung der Obstbaumzucht zur Veredlung der Volkö-
cultur, als es Jacobi Ernst war mit seiner Entwicklung der Gefühlspflicht.
Beide gehören einer unreifen Phase der Empfindung an, aber als solche sind
sie zugleich Zeugen eines historischen Processes, Wagner, der leidenschaftliche
Verehrer Fichtes, nicht minder, als Jacobi, der Feind aller kritischen Philo¬
sophie. An Erfindung und Schärfe der Beobachtung stehen sie ihrem Zeit¬
genossen Jean Paul bei weitem nach; an künstlerischem Gefühl dagegen über-
treffen sie ihn und namentlich bei Wagner finden wir jene Form schon in völli¬
ger Vollendung, welche noch die unsrige ist. —
Norika, das sind Nürnbergische Novellen aus alter Zeit.
Nach einer Handschrift des sechzehnten Jahrhunderts herausgegeben von
August Hagen. Zweite, durchgesehene Auflage. Leipzig, I. I. Weber. —
Die Handschrift ist nur eine poetische Fiction. Die Sammlung enthält No¬
vellen, die im Geist des Zeitalters von Albrecht Dürer gedichtet sind und die
von einem eifrigen Studium jener Zeit und einer warmen Liebe für die Kunst
Zeugniß ablegen. — /
Die Leute von Seldwyla. Erzählungen von Gottfried Keller.
Braunschweig, Vieweg K Sohn. — Wir haben bei Gelegenheit des grünen
Heinrich das außerordentliche Talent des Dichters hervorgehoben, zugleich aber .
die krankhafte Richtung bedauert, die dieses Talent genommen hat. Auch in
den vorliegenden kleinen Novellen, die im Wesentlichen der Gattung der Dorf¬
geschichte angehören, fehlt es nicht an barocken-Einfällen , aber der günstige
Eindruck überwiegt. Seldwyla ist ein närrischer Schweizerort, dessen Einwohner
sich durch Unstetigkeit und Unsicherheit des Lebens einen üblen Ruf erworben
haben, doch ist die Schilderung dieses Orts im Ganzen nur ein ziemlich gleich¬
seitiger Nahmen sür die einzelnen Bilder, denn Charaktere, wie die hier ge¬
schilderten, so sehr sie auch den Anstrich von Sonderlingen haben, würde man
doch auch anderwärts wieder antreffen. Der Dichter verschmäht das Hilfsmittel
des Dialekts, welches Jeremias Gotthelf und zum Theil auch Auerbach an¬
gewandt haben, um einen frischen, lebendigen Naturlaut hervorzubringen.
Dasz es ihm trotzdem gelingt, auch in der äußern Form naiv zu sein, wird
man aus dem folgenden Bilde entnehmen können, das Pancraz der Schmoller
von seiner ersten Liebe entwirft. „Es war ein wohlgestaltetes Frauenzimmer
von großer Schönheit; doch war sie nicht nur eine Schönheit, sondern auch
eine Person, die in ihren eignen seinen Schuhen stand und ging und sogleich
den Eindruck machte, daß es für den, der sich etwa in sie verliebte, nicht
leicht hinter jedem Hag einen Ersatz oder einen Trost für diese gäbe, eben weil
es eine ganze und selbstständige Person schien, die' so nicht zum zweiten Male
vorkommt .... Indessen war sie sehr gebildet in allen schönen Dingen, da
sie nach Art solcher Geschöpfe die Kindheit und bisherige Jugend damit zu¬
gebracht, alles zu lernen, was irgend wohl ansteht und sie kannte sogar fast
alle neuern Sprachen, ohne daß man jedoch viel davon bemerkte, so daß un-
wisiend.e Männer ihr gegenüber nicht leicht in jene schreckliche Verlegenheit ge¬
bethen, weniger zu verstehen, als ein müssiges Ziergewächs von Jungfräulein.
Ueberhaupt schien ein gesunder und wohl durchgebildeter Sinn in ihr sich mehr
dadurch zu zeigen, daß sie die vorkommenden kleineren oder größeren Dinge,
Borfälle oder Gegenstände durchaus zutreffend beurtheilte und behandelte, und
dabei waren ihre Gedanken und Worte so einfach lieblich und bestimmt,' wie
der Ton ihrer Stimme und die Bewegungen ihres Körpers. Und über alles
dies war sie, wie gesagt, so kindlich, so wenig durchtrieben, daß sie nicht im
Stande war, eine überlegte Partie Schach spielen zu lernen und dennoch mit
der fröhlichsten Geduld am Brete saß, um sich von ihrem Vater unaufhörlich
überrumpeln zu, lassen. So ward es einem sogleich heimathlich und wohl zu
Muthe in ihrer Nähe; man dachte unverweilt, diese wäre der wahre Jakob
unter den Weibern und keine bessere gäbe es in der Welt." — Leider ent¬
spricht die weitere Entwicklung dieses Charakters nicht den Erwartungen. Das
so liebenswürdig geschilderte Mädchen verwandelt sich plötzlich in eine Kokette
des gemeinsten Schlages, eine Verwandlung, die uns verstimmt, ohne uns zu
überzeugen. Ueberhaupt tritt in dieser Novelle, so gut sie erzählt ist, doch die
Neigung zum Bizarren, Uebertriebener hervor. — Desto gelungener ist die
zweite Geschichte: Frau Regel Amrain, eine der besten Dorfgeschichten, die wir
kennen und den vorzüglichsten von Jeremias Gotthelf an die Seite zu stellen.
— Einen trüben Eindruck hinterläßt die dritte Geschichte: Romeo und Julie
auf dem Dorf; die Geschichte der Verarmung zweier Familien durch einen un¬
sinnigen Proceß; aber sie ist von einer hinreißenden Naturwahrheit und die
wilde, leidenschaftliche Bewegung des Schlusses, der heidnische Tod der beiden
Liebenden läßt uns über manches Bedenkliche hinwegsehen. — Eine tolle, über¬
müthige Laune herrscht in der Erzählung: die drei gerechten Kammmacher, die
außerdem noch den'Vorzug realistischer Wahrheit hat, wenn auch der Schluß
etwas ins Hoffmannsche Gebiet übergeht. — Trotz mancher Bedenken gegen
seine Richtung gehört Gottfried Keller doch zu denjenigen Dichtern, auf die wir
die meiste Hoffnung setzen. —
Kaiserglück. Historischer Roman aus dem dreizehnten Jahrhunderte
von Gotthardt Alfred (G. A. Luther.) Vier Bände. Leipzig, Kollmonn.
— Die Hohenstaufen kommen, wie es scheint, wieder in die Mode. Der Ver¬
fasser des vorliegenden Romans bat ziemlich vollständige Studien gemacht, aber
es ist ihm nicht gelungen, sie zu einem lebendigen Kunstwerk zu ver¬
arbeiten. —
Elisabeth oder Lebenswege. Von Anna von Berg. A Bände.
Weimar, T. F. A. Kühn. — Die Erzählung empfiehlt sich durch ihre anspruchslose
Haltung, durch die sorgfältige Ausarbeitung des Einzelnen und durch die ge¬
sunde, frische Lebensanschauung. Wenn sie auch eine tiefere Bedeutung nicht
beanspruchen darf, so ist eine solche Lectüre doch unendlich jenen schlechten
französischen Moderomanen vorzuziehen, durch welche die Phantasie unsers
Volks corrumpirt wird. —
Aus dem Leben und Dichten in Oesterreich. Gedichte und Novellen
"von Eh. L. Danis, L. Deutschinger, B. Schellinger, F.Wellen und I. P. Wie-
dermann. Herausgegeben von Benedict Schellinger. Wien, N.^Lechners
Universitätsbuchhandlung. — In dieser glänzend ausgestatteten Sammlung ist
wenigstens einiges vorhanden, was Hoffnungen erweckt, wenn man annimmt,
daß man es meistens mit jungen Dichtern zu thün hat. Doch überwiegt im
Ganzen das Mittelmäßige. —
Das Haus Picard oder Fünfmalhunderttausend Francs Renten.
Sittenroman von Dr. Louis Veron. Aus dem Französischen übersetzt von
August Schrader. Leipzig, Kollmann. — Der Roman hat in Paris großes'
Aufsehen gemacht, wol hauptsächlich um des Verfassers willen, denn weder im
Inhalt noch in der Bearbeitung ist etwas wesentlich Neues. Daß der schwin¬
delnde Erwerb auf der Börse den glücklichen Bankier zu unsolider Wirthschaft
verleitet, und worin diese Wirthschaft besteht, das hat uns schon Balzac aus
der einen, Sue und Dumas auf der andern Seite hinreichend auseinander¬
gesetzt. Natürlich ist auch dies Mal, wie bei allen neuern französischen
Romanen, die Tendenz eine moralische. Die soliden Kaufleute sollen vor
Schwindelgeschäften gewarnt werden; aber wir fürchten, daß dieser Zweck nur
halb erreicht wird, denn die Genüsse des Lurus sind mit einem so glänzenven
Farbenaufwand dargestellt, und die Verirrungen scheinen so leicht zu umgehen,
daß man mehr die Sehnsucht nach glänzenden Reichthümern, als die Be¬
friedigung an einem beschränkten Loose aus diesem Buche schöpfen wird. Das
moderne Babel hat von Zeit zu Zeit seine moralischen Anwandlungen, aber
das sind nur flüchtige Regungen des Gewissens, die ohne Nachwirkung blei¬
ben. Der Taumel des Gewinns und des sinnlichen Genusses »ist zu mächtig
geworden, und wer nicht mit dem Reichsten wetteisern kann, hält sein Leben
für verloren. —
Einkehr und Umkehr. Roman von Julius Hammer. A Bände.
Leipzig, Brockhaus. — Der Verfasser, der durch seine Gedichte so vielen Bei¬
fall erworben hat, ist mit seinem ersten belletristischen Versuch nicht glücklich
gewesen. Vieles wird er bei einem neuen Roman besser machen können, wenn
er sich mehr an vie Gesetze der Kunst erinnert. Der Roman ist eine Erzäh-
ümg, c>le den Leser bis zum Ende hin spannen soll. Die Einzelnheiten der¬
selben müssen alle auf diesen Zweck berechnet sein. Es ist ein Fehler, wenn,
wie es hier geschieht, schon in der Mitte des Buchs die Spannung völlig
"ufhört, wenn Detailumstände, die aus den Fortgang der Handlung keinen
Einfluß haben, und auch an sich nicht interessant sind, in breiter Ausführlich¬
keit vorgetragen werden, wenn die Handlung durch unbedeutende Kunstgespräche
retardirr wird, wenn gleich zu Anfang, wo wir erst mit der Natur der handeln¬
den Personen bekannt gemacht wervcn sollen, große Katastrophen- eintreten,
wenn der Verfasser, anstatt die Natur seiner Personen in der Handlung und
»n Gespräch zu entfalten, uns seine eignen Reflexionen über sie mittheilt u. s. w.
Das alles sind sehr entschiedene Fehler, und sie werden weder durch Neichthi/in
der Erfindung, noch durch Tiefe der Beobachtung gut gemacht. Der Roman
würde mit vielen andern von gleichem oder, gar minderem Werth mitlaufen,
aber grade da der Verfasser bereits einen geachteten Namen hat und ein lobens-
werthes Streben zeigt, halten wir es für unsre Pflicht, ihm zuzurufen, daß
sein Versuch völlig mißglückt ist. Möge er dieses Urtheil an dem Urtheil von
Männern, auf die er persönlich etwas gibt, prüfen, um, wenn er sich davon
überzeugt, entweder einen ganz neuen, ernstern Anlauf zu nehmen, oder von
eiyem Wege abzulassen, der ihm keine Frucht verspricht. —
Narren des Glücks. Historischer Roman von Edmund Lobedanz.
3 Bde. Leipzig, Brockhaus. — Der historische Theil des Romans, die Ge¬
schichte Struensees, die von unsern Belletristen schon so häufig bearbeitet ist, .
daß dem neuen Erfinder kaum noch etwas übrigbleibt, ist mißlungen. Besser
ausgeführt ist der eigentlich novellistische Inhalt, wenigstens waS die Schilde¬
rung und die Erzählung betrifft; die Charakteristik dagegen hat viele Schwächen,
und das tritt um so auffallender hervor, da die Erfindung häufig ans Un¬
geheuerliche streift. Was uns bei dem geschickten Uebersetzer der Sakuntala ge¬
wundert hat, ist die geringe Aufmerksamkeit, die er auf den Stil verwendet.
Seine poetische Sprache ist mitunter von großer Schönheit, seine Prosa aber
fast durchweg nachlässig, und man steht die leichte Arbeit heraus. Für einen
künftigen Versuch wäre es gut, wenn er aus die Gruppirung der Thatsachen
und die allmälige Entwicklung der Charaktere eine größere Aufmerksamkeit ver¬
wendete. — «-
Leipziger Lesecabinet (Leipzig, Einhorn). — Von allen Sammlungen
belletristischer Art, die in neuester Zeit in so ungewöhnlicher Zahl auftreten,
ist die vorliegende äußerlich am glänzendsten ausgestattet. Sie scheint sich vor¬
zugsweise auf Uebersetzungen zu legen, doch fehlen auch die Originalwerke
keineswegs. Das ausgedehnteste Werk in den uns vorliegenden Heften ist
der Roman von Ludwig Bechstein: Die Geheimnisse eines Wundermanns.
Der Wundermann ist der aus Goethes Annalen wohlbekannte helmstedter Pro¬
fessor Beireis, von dessen sonderbaren Grillen und Einbildungen der Dichter
eine so höchst ergötzliche Schilderung gegeben hat. Bechstein hat mehre Kuriosi¬
täten jener Zeit zur lebhaftem Ausmalung seines Charakters benutzt; ob aber
die Geschichte durch die breitere Ausführung an Frische und Lebendigkeit ge¬
wonnen hat, muß dahingestellt bleiben. — Sehr anziehende Schilderungen aus
dem Hirtenleben der Gebirgswüsten enthält das Buch von Mellin: Schwe¬
dens Nomaden (übersetzt von Schirf). — Eine wunderliche Erfindung ist ein
Roman aus der Ritterzeit von Scribe: der Pathe des Amadis, oder die
Liebe einer Fee (übersetzt von Dietzmann). Wir haben in diesen heitern,
phantastischen Arabesken trotz der echt pariser Einleitung kaum unsern alten
Freund vom Gymnase oder vom Theatre frau^ais wieder herauserkannt. —
Einzelne sehr seine Striche .enthält das Nvvellenbuch von Franz Dingelstedt;
vier Erzählungen aus den Jahren 18iÄ und -I8j3. Wie der Dichter über
seine Leistungen denkt, hat er in dem Widmungssonett ausgesprochen, das wir
hier mittheilen, weil uns bei Dingelstedt häufig ein ähnliches Gefühl über¬
kommt.
Wie wunderlich ist unser beider Leben:
Wir sind im strengen Bann der Pflicht gefeit,
Mit nnsreni inneren Beruf entzweit,
Und äußerlich vou Glück und Glanz umgeben!Will unser Herz sich jugendlich erheben,
So flüchtet es in die Vergangenheit
Und heißt um sich, voll herber Seligkeit,
Der Kunst, der Dichtung Schattenbilder schwebe».In solchem Sinne bring ich Dir dies Buch;
Ich weiß am besten, ohne Selbstverblendung:
Es blieb, wie alles, was ich schrieb, Versuch.Geht doch durch unsre wahlverwandte Sendung
Bei gleichem Segen anch derselbe Fluch:
Am Ende sein, »och fern von der Vollendung!
Ijib1i()>,Kho.u«z intern ationals. Zruxöll-Zs I.eipniF, KikssUnA,
8etmv<z ^ Comp..— Die neuen Lieferungen enthalten eine gut erzählte Dorf-
geschicl. te von Paul Meurice, l.czs l^rum8 et« villa^ö. Der brutale Klopffechter,
der Held dieser Erzählung, ist sehr charakteristisch gezeichnet und die Staffirnng
ist anziehend. — Jda von Düringsfeld, gegenwärtig Baronin von Neinsberg,
hat zum ersten Mal einen französischen Roman geschrieben: MKo VoUKi. Die
Motive der Erfindung sind äußerst gewagt (eine mehrmonatliche Liebe zu einer
verheirateten Frau, ohne daß weder sie noch ihr Gatte etwas davon merken,
bis endlich die Erklärung in Gegenwart deS letzter» geschieht). — Frau Gräfin
Dass beginnt einen Roman: NirZentoisklle ^obespierr«, in welchem sie ver¬
sucht, dem innern Entwicklungsgang jenes berüchtigten Schreckensmannes auf
die Spur zu kommen, und seine ursprüngliche Anlage dabei so gut schildert,
als irgend möglich. — A. Dumas setzt seine „großen Männer im Schlafrock"
fort. Seine Darstellung Nicheliens enthält eine ganze Menge sehr amüsanter
Anekvoten, die man sonst selten zusammen findet und vie ihm, wie es scheint,
von allen Seiten her zugetragen werden. Eine anmuthige Künstlergeschichte: Fa l-
cvne von Madame Lacroir, ganz im Stil unsers Hoffmann, die früher im
Pays erschien , durch eine 'Vorrede ihres Mannes, des Bibliophilen Jacob
Zugeführt, in welcher sich dieser ziemlich bitter über die Reiseeindrücke Italiens
ausspricht. —
Der Abgeordnete Mathis hat in Beziehung auf die Prcßangelegenheiten einen
Antrag eingebracht, der in seinen Motiven so gründlich ausgearbeitet und in seinen
Anforderungen so gemäßigt ist, daß selbst die Kreuzzeitung nicht umhin konnte, ihm
beizupflichten und die Erklärung abzugeben, daß ihre Partei denselben unterstützen
würde. Wir wollen abwarten, ob dies Versprechen in Erfüllung gehen wird. Wenn
es irgend eine Angelegenheit gab, wo man, abgesehen von allem Partcistandpunkt,
sein Interesse an der rechtlichen Entwicklung des Staats zeigen konnte, so ist es
diese. Nur einen sehr wichtigen Punkt hat der .Abgeordnete in jenem Antrag nicht
berührt, nämlich die Frage nach der Kompetenz der verschiedenen Gerichte in Pre߬
angelegenheiten. Wir können uns diese Auslassung nur daraus erklären, daß
wahrscheinlich die einheimische Presse den Uebelständen, die wir näher bezeichnen
werden, nicht unterliegt. Doch ist uns darüber nichts Genaueres bekannt, und die
häufigen Confiscationen von berliner Blättern z. B. in Minden, die dann, soviel
wir wissen, zu einer Anklage vor dem minderer Gericht führen, sprechen dagegen.
Wie dem auch sei, auch die sogenannte ausländische d. h. deutsche Presse hat ihre
Rechtsansprüche, und wenn man diese, sofern sie von den anßerprcußischen Ver¬
legern aufgestellt werden, nicht gelten lassen will, (was doch gewiß gegen die Natur
der deutscheu Bundesverhältnisse ist), so muß man wenigstens ans die Rechtsansprüche
der preußischen Abonnenten Rücksicht nehmen. Die auswärtige Presse ist nach den
Bestimmungen der' bestehenden Verfassung ebenso den rechtlichen und gesetzlichen
Formen unterworfen, wie die preußische, und das Gesetz muß nach allen Seiten
hin aus eine gleichmäßige Weise ausgeübt werden. — Im gegenwärtigen Augen¬
blick verhält es sich damit folgendermaßen.
Jede preußische Staatsanwaltschaft ist berechtigt, jede anßerpreußische Schrift
nach vorläufiger Confiscation in Anklagestand zu setzen, und jedes preußische Ge¬
richt hat das Recht, darüber zu erkennen. Aus diese Weise kann eine Schrift gleich¬
zeitig unzählige Mal zur Untersuchung gezogen werden, und die Erkenntnisse der
Gerichte können darüber verschieden, ausfallen., Ueber die Cvmpctenzverhältnisse
derselben ist gesetzlich nichts festgestellt, und sobald nur eines dieser Gerichte die
Verurtheilung ausspricht, hat jede Polizeibehörde das Recht, die Vernichtung der
vorgefundenen Exemplare zu decretiren, nicht etwa blos im Bezirk des Gerichts¬
sprengels/ von dem das Erkenntniß ausgegangen ist, sondern in der ganzen Mon¬
archie.
Das ist offenbar ein ungesunder, mit den gewöhnlichen Rechtsbegriffen, wie sie
auch in Preußen gelten, nicht vereinbarer Zustand, der noch durch einen zweiten
.Punkt erschwert wird. — In allen übrigen Processen steht dem Angeklagten, wenn
er in erster Instanz verurtheilt ist, die Appellation offen. In den Prcßangelegen¬
heiten ist sie zwar gesetzlich nicht ausgeschlossen, aber sie wird dadurch illusorisch
gemacht, daß die Angeklagten in der Regel von dem Proceß gar nichts erfahren.
Wir berichteten vor einigen Jahren von einem Preßproceß, der in Berlin gegen
uns verhandelt wurde. Das berliner Stadtgericht theilte unserm Verleger die An¬
klage mit, wir reichten eine Vertheidigung ein und wurden freigesprochen. Der
Staatsanwalt appellirte, das Kammergericht, das in zweiter Instanz zu entscheiden
hatte, beobachtete dasselbe Verfahren, wie das Stadtgericht, und auch hier erfolgte
die Freisprechung. In vielen andern Fällen ist aber nichts dergleichen geschehen;
namentlich in Minden wurden sehr viele von unsern Nummern confiscire, einige
davon von der Staatsanwaltschaft freigegeben, andere, wie wir hören, freigesprochen,
in einem Fall (wegen eines elbinger Artikels) erfolgte die Verurtheilung. Von
allen diesen Processen ist uns nichts mitgetheilt worden, wir sind erst lange Zeit
darnach durch anderweitige Mittheilungen darauf aufmerksam gemacht worden. Jener
Artikel war von der Art, daß wir in zweiter Instanz mit fester Zuversicht auf eine
Freisprechung rechnen durften; es war uns aber unmöglich, dieses Rechtsmittel an¬
zuwenden, weil wir von dem ganzen Proceß nichts wußten. Neuerdings ist etwas
Aehnliches erfolgt, wie wir aus einer gerichtlichen Verordnung erfahren haben, die
uns von befreundeter Hand mitgetheilt ist, und die wir hier Mittheilen, weil sich
mehre ernsthafte Betrachtungen daran knüpfen.
An die Buchhandlung Löwenstein K Comp. Nachdem das Königl.
Kreisgcricht zu Pr. Stargard durch Erkenntniß vom 10. d. Mes. aus Grund
des §. -100 des Ser. G. Bades und des ez. 30 vom 12. Mai 1851 auf Ver¬
nichtung des Artikels „die letzte Session der preußischen Kammern", abgedruckt
in der zu Leipzig bei S. Hirzel heraufkommenden Zeitschrift „der Grenzbote
Jahrgang 14 Semester II. Ur. 39 Seite i89 u. f. f." sammt den Platten und
Formen auf welchen sich derselbe befindet, erkannt hat, sind die bei Ihnen unterm
19. Scptbr. d. I. in Beschlag genommenen Sechs Exemplare der im Verlage
von S.'Hirzel zu. Leipzig erschienenen und „die letzte Session der preußischen
Kammern" betittelten Druckschrift vernichtet worden.
Erstens erfahren wir also aus dieser Verordnung, welche uns dnrch einen Zu-
fall zu Gesicht gekommen ist, daß das Gericht von Pr. Stargard einen Artikel der
Grenzboten verurtheilt hat. Der Artikel war nach unsrer Ueberzeugung so ruhig
gehalten, daß in einer zweiten Instanz unsre Freisprechung außer Zweifel stand.
^ war darin von der Regierung in keiner Weise die Rede, sondern nur von einer
Partei in der zweiten Kammer, ja selbst von dieser war in den gemäßigtsten Aus¬
drücken gesprochen; da wir aber von dem gegen uns eingeleiteten Verfahren nicht
benachrichtigt worden sind, so war uns dieses Rechtsmittel versagt.
Viel merkwürdiger ist aber ein zweiter Umstand. Weil das Kreisgericht in
Pr. Stargard einen Artikel der Grenzboten mit der Ueberschrift: „Die letzte Session
der preußischen Kammern" verurtheilt hat, deshalb erkennt der Obcrprocurator
von Elberfeld zu Recht, daß eine Broschüre, welche denselben Titel führt, und welche
um Verlage von S. Hirzel zu Leipzig erschiene» ist, vernichtet werden soll. Wo
ist hier nun der Rechtszusammenhang? Etwa in dem gleichen Titel? oder weil
beide in dem gleichen Verlag erschienen sein sollen? Zwar ist das ein Irrthum,
denn die Grenzboten erscheinen nicht, wie der Oberprocuratvr meint, bei S. Hir¬
zel, sondern bei 'F. L. Herbig, wie es mit gesperrten Lettern der Verordnung ge¬
mäß am Schluß des Heftes bemerkt ist; aber wenn auch das der Fall sein sollte,
und wenn die Broschüre einen ähnlichen Grund der Anklage bieten sollte, wie der
Artikel, so ist sie doch wieder ein neues Object und erfordert daher ein neues Er¬
kenntniß.
Wir haben diesen Fall nur als ein Beispiel angeführt, daß eine gesetzliche
Feststellung der Competenzverhältnisse zwischen den verschiedenen Gerichten der
preußischen Monarchie in Bezug aus die Prcßverhältnisse durchaus nothwendig ist,
und fordern daher den geehrten Antragsteller dringend auf, diese Seite'des Gegen¬
standes gleichfalls ins Ange zu fassen.
In Bezug aus Zeitschriften wird die Wichtigkeit einer solchen gesetzlichen Fest¬
stellung noch dadurch erhöht, daß durch die Verurtheilung einer einzelnen Nummer
das Ministerium des Innern das Recht erhält, die ganze Zeitschrift zu verbieten.
Nun läßt sich zwar nicht annehmen, daß es in Fällen so ganz untergeordneter Art
von dieser Befugnis; Gebrauch machen wird, aber der Uebelstand ist dabei der, daß
der Minister unmöglich den ganzen Inhalt einer Zeitschrift vcrfolgew kann, daß er
sich also auf Berichte anderer verlassen muß, und diese, wenn keine feste gesetzliche
Basis da ist, können von den verschiedensten Motiven ausgehen.
Wir wollen edler auf das tausendfältig behandelte Thema von Preßfreiheit und
dergleichen nicht eingehen. Wir sind der Ansicht, daß die Vergehen der Presse
ebenso bestraft werden müssen, wie jedes andere Vergehen, und daß der Begriff
und die Thatsache des Vergehens durch das Gesetz und durch den Richterspruch fest¬
gestellt wird; aber wenn die Presse denselben Beschränkungen ausgesetzt ist, wie
jede bürgerliche Thätigkeit, so muß sie auch denselben Rechtsschutz genießen, und
daß ein solcher stattfinde, liegt ebensosehr im Interesse der Regierung, wie im
Interesse der Presse selbst.
Seit der Thronbesteigung des gegenwärtigen Königs von Preußen, nament-
lich aber seit dem vereinigten Landtag von 184? nahm die deutsche Presse einen
sehr erfreulichen Aufschwung, der nur scheinbar durch das wüste demokratische Ge¬
schrei von 18i'8 unterbrochen wurde, denn die großen Blätter haben damals mit
nur wenigen Ausnahmen auf das entschiedenste die Sache der Ordnung und der
rechtlichen Freiheit vertreten. Seit einigen Jahren finden wir darin einen merklichen
Rückschritt. Die Blätter sind, wie man sagt, zahmer geworden; ans welchen
Gründen, das sagt die neuerdings in dem Hans der Abgeordneten besprochene Er¬
klärung des Buchhändlers Dumont, der wol jedes deutsche Blatt etwas Aehnliches
an die Seite setzen könnte. Ist diese Zahmheit, die darin besteht, daß man die
Sache nicht mehr gerade ausspricht, sondern sie dnrch gchcunnißvolle Winke, unklare
Redensarten und dergleichen andeutet, vorteilhafter für den Staat? Unsittlicher ist
sie gewiß, denn sie gewöhnt die Schriftsteller an lügenhafte Formen, nährt in ihnen
einen geheimen Groll und erfüllt sie mit der Vorstellung des Märtyrerthums. Aber
auch die Regierung findet dabei nicht ihre Rechnung; denn die Masse des Publi-
cums ist vollständig davon unterrichtet, wie es mit der Presse steht, und wenn es
heute in den Zeitungen liest: „Man spricht in unterrichteten Kreisen viel von einer
Begebenheit, die wir nicht wohl mittheilen können, die aber, falls sie verbürgt
wäre, ein gewisses Aufsehen zu erregen wohl geeignet sein dürfte;" so ist die Phan¬
tasie jedes Lesers geschäftig, sich das Fürchterlichste auszumalen, eine kleine gegen
die Liberalen angestiftete Blnthochzeit, oder was es sonst sein mag, während die
Begebenheit vielleicht ganz einfach darin bestand, daß ein betrunkener Kanzelist aus
einem Bierhause herausgeworfen wurde. Es ist das wirklich nicht übertrieben. Wir
stehen in dieser Beziehung ganz wie vor dem Jahr 1840; und was war die Folge
davon? Es hatte den Reiz des Pikante», oppositionell zu sein, und viele wohl¬
gesinnte Männer, die, wenn alle Verhältnisse klar ausgesprochen wären, sich auf
Seite der Regierung gestellt haben würden, intriguirten gegen dieselbe, um ihrer
Phantasie Beschäftigung zu geben. Wenn man die Presse vollständig unterdrücken
kann, wie es in Rußland geschieht, so ist das Regieren freilich bequemer, denn die
Presse macht zwar nicht die öffentliche Meinung, aber sie trägt doch wenigstens da¬
zu bei. Eine geknebelte Presse dagegen, die zeigen kann, daß man sie knebelt, ist
verderblich für den Staat, denn das Volk ist im Durchschnitt hochherzig gestimmt,
»ud wenn es vielleicht den lauten Redner ausgelacht hätte, so schenkt es dem ge¬
knebelten, schon weil er geknebelt ist, sein Mitleid. Wo wirkliche Preßfreiheit
herrscht (Ausnahmezustände geben wir zu, aber die sind jetzt wahrlich nicht vor¬
handen), wird sich nur derjenige geltend machen können, der von der Sache, über
die er redet, wirklich etwas versteht; Redensarten dagegen, wie die vorhin ange<
führte, kann sich jeder Dilettant ausdenken, und leider droht die Presse wieder in
jenen Dilettantismus zu versinken, aus dem sie sich mit so vieler Mühe heraus¬
gearbeitet hat.
Soll also die Presse ein organisches, mit dem Staat verbundenes nützliches
Institut sein, so stelle mau sie unter den Schutz des Gesetzes; man gebe strenge
Gesetze, mau übe sie streng ans, aber man binde sich selbst an Regel und Gesetz.
Jedes Gesetz, welches es möglich macht, Gründe politischer Opportunität an
Stelle der Rechtsgründe zu setzen, ist ein zweischneidiges Schwert; es ist ein sehr
starkes, destructives Moment, welches sich unfehlbar geltend macht, sobald man dnrch
irgend eine ernste Frage einmal aus dem Schlendrian des gewöhnlichen Lebens
herausgetrieben wird. —
Wir hatten in einem frühern Artikel die amerikanischen
Zeitschriften erwähnt, die uns von Zeit zu Zeit zugesandt werden. Die neueste
Rnmmer des San Francisco Steamerjvnrnal, redigirt von Julius'Fröbel, enthält
wehre charakteristische Artikel, charakteristisch für die Zustände, wie sür den Verfasser.
In dem politischen Leitartikel wird die staatliche Entwicklung Californiens in einem
sehr günstigen Licht betrachtet, und es werden namentlich die Vorzüge gegen die
alten puritanischen Staaten, die allgemeine Toleranz u. s. w. lebhast hervorgehoben.
Dann folgt aber unter der Ueberschrift: Einladung zur Einwanderung, folgender
Normalbries eines californischen Ansiedlers an einen answanderuugslustigen Freund
in Europa.
„Es freut mich ungemein, aus Deinem Letzten zu ersehen, daß Du gesund bist
und Dich entsetzlich cNnuyirst. Dies sind grade die Eigenschaften, welche Dich zu
einer Ortsveränderung qualificiren und Dich zu einer Reise nach Kalifornien be¬
wegen sollten. Dn bist doch sonst nicht vom guten Geist verlassen, aber wie ist es
möglich, daß Dn Dich noch immer nicht zu einer Uebersiedelung in diese gesegneten
Auen entschlossen hast? Neuyork, Philadelphia, Hamburg, Bremen, London sind
'eine schone Gegend, aber es kauu keine Vergleichung mit San Francisco aushalten.
Hast Du Dich etwa durch Zeitungsnachrichten über unsre Zustände zurückschrecken
lassen? Es ist wahr, es kann Dir gleich bei Deiner Ankunft passiren, daß Du mit
sammt dem Wagen, der Dich und Dein Gepäck nach dem nächsten Hotel bringen
soll, durch die Planken der Straße brichst und Dich plötzlich mit Deinen Koffern
in den kühlen Wellen der Bai befindest — aber an Deinem Gepäck wird nicht
viel verloren sein, und wenn Du schwimmen kannst, so kannst Dn Dich ja bis an
den nächsten Pfahl retten und Dich dort festhalten, bis mau Dir Hilfe bringt. Den
andern Tag hast Du die Genugthuung, diesen Fall in 26 Zeitungen verschiedener
Sprachen ^erzählt und von scherzhaften Bemerkungen begleitet zu finden. Theil-
nehmende Leute werden Dir außerdem tröstend versichern, daß der Hacktreiber Dir ver¬
muthlich circa ->0—20 Schilling zu viel abgefordert und auf Zahlungsverweigerung ein
Loch in den .Kopf geschlagen haben würde, wäre die Fahrt nicht so glücklich unter¬
brochen worden. Es ist wahr, Du kannst hier sechs Monate umherlaufen, ehe Dn
Beschäftigung findest, aber niemand hindert Dich, während dieser Zeit ökonomisch zu
leben; Du kannst ein Breterhciuschcn hinter unsern Sandhügeln beziehen, wo Dich
niemand stört, und in der Stadt kümmert sich niemand, ob Du wohlgenährt und
gut gekleidet oder ausgehungert, abgeschabt und zerrissen erscheinst. Doch die Um¬
stände können sich ändern und Du kannst zu Geld kommen. Es ist wahr, es kann
Dir begegnen, daß, wenn Du Dein Geld um 9 Uhr auf die Bank trägst, diese
Bank um 9'/» geschlossen und nie wieder geöffnet wird und Du so arm bist wie
zuvor — aber Du brauchst ja Dein Geld nicht ans die Bank zu tragen, Du
kannst es verspielen oder vertrinken, oder wenn das Deinem Geschmack nicht zu¬
sagt, so wirst Du Freunde genug finden, die Dein Geld gern in Gewahrsam
nehmen und in irgend einem soliden Geschäft anlegen. Sind sie unglücklich, so
kannst Du sie nicht tadeln; sind sie glücklich, so hast Du bald die Genugthuung,
Dein Geld in Honolulu, Callao, Sidney oder andern interessanten Himmelsstrichen
zu wissen, was Dich mit einem gewissen Gefühle des Stolzes zu erfüllen nicht er¬
mangeln wird. Es ist wahr, es kann sich ereignen, daß Dir jemand des Abends
ans der Straße im Halbdunkel den Hut vom Kopfe schießt, und, wenn er Dein
Gesicht sieht, sich entschuldigt, daß er sich in der Person geirrt habe — aber wenn
Du ein Philosoph bist, so wirst Du froh sein, daß es der Hut und uicht der Kopf
selbst war, und wirst die Einladung, mit Deinem unbekannten Freund einen Trink
zu nehmen, nicht ausschlagen. Dafür hast Du die.Genugthuung, unter Umständen
eine solche Höflichkeit, ohne lästige Dazwischenkunft Dritter, mit einer ähnlichen
Höflichkeit erwiedern zu können. Der Einzelne wird hier so wenig als möglich in
seiner persönlichen Freiheit beschränkt, und Du wirst wissen, daß das Princip der
Nichtintervention einer der leitenden Gedanken des Jahrhunderts ist. Doch was
soll ich weitläufig sein? Du wirst sehen, daß sich gegen jeden Vorwurf ein Vorzug
unsres hiesigen Lebens setzen läßt. Du wirst deshalb meinen Vorschlag nicht länger
verwerfen und ohne Verzug Vorbereitungen treffen, herüberzukommen, um einer so
aufgeklärten Gemeinschaft, wie die San Franciscvs, anzugehören."
Um eine Probe dieser Zustände zu geben, fügen wir noch die folgende Er¬
zählung hinzu. „Aus dem vorgestrigen Bencfizball der Miss Jane Wetter in Mrs.
Piques Assembly Hall bestellte ein junger Mann, wie wir hören früher Clerk in
der^County Treasurers Office, während des Essens eine Flasche Champagner, welche
ihm vom Kellner, einem Franzosen Namens Bernhard, gebracht wurde. Nach kurzem
mahnte der letztere um das Geld, woraus ihm der Besteller erwiderte, daß er ihm
I Dollar bereits bezahlt habe und der dritte Thaler in der County Treasurers
Office abgeholt werden könnte. Als der Kellner später auf der Treppe seine Mahnung
wiederholte, zog der Clerk ein Messer und versetzte demselben mehre Stiche in die
Seite. Der -Clerk — wir konnten seinen Namen nicht erfahren — verfügte sich
hierauf in den Saal, wo Miss Wetter vermuthlich über den Vorfall mit ihm einige
Worte wechselte. Er schlug infolge dessen Miss W. nieder. Ein Herr Newmann
trat dazwischen, um den Rasenden von weiteren Thätlichkeiten abzuhalten, wurde
aber durch einen Messerstich in die Seite und einen in den Hals verwundet. Es
ist unbegreiflich, daß der Unmensch noch Gelegenheit hatte, sich unbelästigt aus dem
Balllocal zu entfernen. -—- Der Kellner liegt schwer krank im Hospital, Hr. New--
manu befindet sich noch im Hanse der Mrs. Pique, da er wegen seiner Wunden
nicht transportirt werden konnte. — Der gefährliche junge Mann ist noch nicht ge¬
fänglich eingezogen.
Der Parlamentarismus, wie er ist^ von
L. Buch er. (Berlin, F. Duncker.) — Durch einenZnfall sind wir erst einige Zeit nach dem
Erscheinen dieses Buchs in der Lage, es zu besprechen, doch besteht das Interesse des¬
selben noch immer fort, theils an sich, da es der Verfasser nicht für einen bestimmten
Zeitpunkt eingerichtet hat, sondern es ganz allgemein hält, theils weil er fortfährt,
durch seine Korrespondenzen aus London in der deutschen Presse einen Ton anzu¬
geben, den wir nur mit Hilfe dieses Buchs verstehen.Wir müssen es hier gleich
aussprechen, daß wir diesen Ton lebhast bedauern. Bucher ist nicht etwa ein leicht¬
sinniger demokratischer Phraseur, sondern ein geistvoller Mann, der gründliche
Studien gemacht hat und es sich angelegen sein läßt, überall in den Kern der
^ache einzudringen. Gewiß ist vieles, vielleicht das meiste von dem, was er über
die englischen Zustände berichtet, vollkommen begründet, und er übersieht nnr, daß
eine Zeitung ganz andere Perspectiven.verlangt, als ein Buch. Nur in den selten¬
sten Fällen nimmt man ein Zeitungsblatt in die Hand, um sich eine gründliche
Detailbildnng anzueignen; theils will man die Neuigkeiten erfahren, theils sich in
der leitenden politischen Stimmung dnrch neue Gesichtspunkte befestigen. Wenn
uun in einem vielgelesenen Blatt, welches seinem Ursprung nach demokratisch, in
seiner bleibenden Tendenz auf alle Fälle liberal ist, die parlamentarischen Zustände
desjenigen Staats, der die Freiheit in seinem innern Leben am meisten entwickelt
hat, fortwährend in einer Farbe geschildert werden, die in vieler Beziehung an die
Farbe der Kreuzzeitung erinnert, so entspricht das gewiß nicht dem Zweck eines
Parteiblattes, dnrch concrete Anschauungen die Partei in ihren Principien zu be¬
festigen. Denn man mag sich noch so häusig wiederholen, daß die Grundsätze von
den Thatsachen nicht abhängig sind, daß durch die schlechte Entwicklung des parla¬
mentarischen Wesens in allen wirklich bestehenden Staaten der Begriff des Parla-
wentarismns noch lange nicht widerlegt ist: — das Volk geht auf so feine Di-
stinctionen uicht ein, und wenn es sich daran gewöhnt, die parlamentarischen Zustände
aller wirklichen Staaten (denn so weit geht es in der That) als verrottet anzu¬
schauen, so wird ihm die schwache Aussicht auf die Möglichkeit einer der Zukunft
vorbehaltenen parlamentarischen Form nicht sehr tröstlich sein. Und zudem geben
diese Schilderungen doch nicht die volle Wahrheit. Das englische Leben hat sehr
viele Licht- und sehr viele Schattenseiten. An den ersteren wird anch Bücher selbst
nicht zweifeln; aber er wendet seine Studien lediglich aus die letztern, und wenn
dagegen an und für sich nichts zu sagen wäre, so ist es doch höchst bedenklich, diese
Studien ohne die fortwährende Erinnerung, daß sie eben uur einseitig sind, dem
unvorbereiteter Publicum mitzutheilen. In England selbst hat eine radicale Oppo¬
sition keine Gefahr; denn wenn auch'dort eine Partei aufs leidenschaftlichste gegen
das Bestehende ankämpft und alle Hilfsmittel der Dialektik und Rhetorik anwendet,
es so schwarz als möglich darzustellen, so weiß doch jedermann, daß das uur ein
Partcimcmövcr ist, und diejenigen, die es anwenden, Wissens am besten. In dem
Lärm, den sie aufschlagen, alle feste Ordnung cinzureißeu, liegt ein gewisses Be¬
hagen, denn es fällt ihnen nicht ein, an die Möglichkeit dieses Einreißcns zu
glauben. Sie fordern das Unerhörteste, um etwas Mäßiges zu erreichen. Wir
Deutschen dagegen sind für diese Art politischer Sophistik noch nicht gerüstet genug.
Wir glauben jeder Uebertreibung aufs Wort. Es fehlt uns der Halt einer festen
politischen Ueberzeugung, welche die Extreme corrigirt; und so können wir denn
eine Reihe von Journalisten beobachten, die in den Bucherschen Ton mit aller
Blindheit einer halbreifen Bildung einstimmen. So namentlich der bekannte Cor-
respondent für das Magazin der Literatur des Auslandes und der Deutschen Allgemeinen
Zeitung, von dem man wirklich zuweilen vermuthen sollte, er sei fürs Irrenhaus
reif, wenn nicht seine Aufsätze leere Stilübungen in der Bucherschen Manier wäre».
Es wäre aber zu wünschen, daß die Redactionen den trunkenen Phantasien ihrer
Korrespondenten wenigstens einiges Maß anlegten.
In dem vorliegenden Buch setzt der Versasser die Stimmung eines deutschen
Correspondenten in London sehr richtig auseinander. „Es ist eine große Schwierig¬
keit, daß der Deutsche unter den obwaltenden Verhältnissen zu viel Gemüthsaffec-
tionen in die Beschäftigung mit England mitbrachte, sehr natürlich, vielleicht sehr
edel, aber unzweifelhaft sehr verwirrend.....Glaube und Hoffnung wollen
sich irgendwo anklammern .... Ja glauben, das ist das rechte Wort, für wahr
halten ohne objective Gründe ..... England erfordert Lernen, Lernen'erfordert
Zeit, und die Zeit wird knapp."
Vollkommen richtig. Aber grade so ists auch Bücher gegangen. - Seine Schil¬
derungen aus England und seine Studien gehen aus einer GemüthSaffectivn her¬
vor. Er ist verwundert und verstimmt, daß so vieles dort anders ist, wie er sich
gedacht hat, und über diese Verstimmung wird er nicht Herr. Dazu kommt die
eigenthümliche Anlage seines Denkens. Er reflectirt sein, aber sein dialektisches
Talent wird durch keine feste Richtung geleitet. Seine Combinationen gehen nicht
aus einem innern organischen Gesetz hervor, sondern sie heften sich zufällig an ein¬
ander. In dem Eiser einer neuen Entdeckung vergißt er vollständig den Weg, den
er bisher eingeschlagen, und dreht sich im Kreise herum. Bei manchem Capitel,
dessen einzelne Bemerkungen wir mit großen Interesse lasen, mußten wir uns zum
Schluß fragen: Was hat er eigentlich gesagt? und wir konnten keine Antwort finden,
denn es ist ein Hin-' und Herreden ohne Plan und Zweck, im strengsten Sinn des
Worts eine abenteuerliche Irrfahrt des Gedankens. Zu einer ruhigen Beobachtung
der Thatsachen, die wie ein Dagucrreotyp die Gegenstände abbildet, ohne alle vor¬
gefaßte Ansicht und ohne Zweck, hat er nicht das geringste Talent, und daß er sich
darüber täuscht, ist eben das Schlimme bei der Sache. Schon in der Unruhe des
Stils verräth sich seiue leidenschaftliche Natur. Eine Menge Maximen, Apercus,
Einfälle u. s. w. drängen sich durch seinen Kopf; die Beobachtung kommt da¬
zwischen, und aus dem alleu entsteht ein Durcheinander, welches jeden Leser in die
vollständigste Verwirrung stürzen muß. — Die Hoffnung, aus dem Ganzen etwas
lernen zu wollen, muß man bald aufgeben; dagegen wird mau im Einzelne» viele
nützliche Beobachtungen daraus schöpfen können. Wir wollen aus einzelne solcher
Anschauungen hinweisen. ,
„Seit einigen Jahren wird mit großem Geräusch eine neue Mähr verkündet.
Der Staat soll abgeschafft und durch eine auf Freiwilligkeit gegründete Gesellschaft
ersetzt werden. Da der Staat aber nicht Lust hat. sich abschaffen zu lassen, so
will man einstweilen einen Vergleich mit ihm eingehen. Man erzählt ihm, seiue
Aufgabe sei, Ruhe und Ordnung zu erhalten, und man wolle ihn darin nicht
stören; dasür möge er sich aber um Erwerb und Verkehr nicht bekümmern. Die
Freihändler haben eine ganz entschiedene Zärtlichkeit sür den Despotismus, wahr¬
scheinlich mit dem Hintergedanken, daß irgend eine List der Idee ihn betrügen und
am Ende abthun werde." — Das Letzte ist nun freilich übertrieben, aber der Ge¬
danke im Allgemeinen ist sehr beachtenswerth und eine wesentliche Kritik der National-
zeitungspartei. Sobald man im Staat nichts weiter sieht, als eine Anstalt zur Garantie
des Privatverkehrs, die so wenig als möglich intcrveniren dürfe, sobald^ man die
höchsten Zwecke des Menschenlebens nur als Mittel zu niederen, materialistischen
Zwecken betrachtet, ist man in der größten Gefahr, im gegebenen Fall das Höhere
dem Niederen zu opfern.
„Ein Volk ist frei, wenn seine Gesetze seinen Bedürfnissen adäquat sind.
Das kann der Fall sein bei Zuständen, die, an den robeSpierrcschcn Menschenrechten
gemessen, sich sonderbar genug aufnehmen. Völker können auf sehr niedrigen
Kulturstufen frei und bei sehr hoher Entwicklung unfrei sein. Die Gefahr für
die Freiheit beginnt in dem Augenblick, da das Volk irgend jemandem die Be-
fugniß delegirt, Regeln des Verhaltens aus der Natur der Dinge, aus deu Be¬
dürfnissen abzuleiten." Auch diese sehr richtige Betrachtung würde nur dann erst
das rechte Licht erhalten, wenn sie mit dialektischer Gründlichkeit weiter ausgeführt
wäre. Zu unserer Ueberraschung sind wir aber plötzlich mitten in der historischen
Schule. „Die Aufzeichnung, Formulirung der Gesetze ist der Sündenfall der
Nechtsentwickluug. Sie läßt schließen, daß das Volk zum Bewußtsein seiner Ge¬
setze gekommen ist, angefangen hat, darüber zu reflectiren; und das wird nicht
eher geschehen, als bis massenhafte Auflehnungen vorgekommen, die Nichtigkeit,
Zweckmäßigkeit der Regeln bestritten ist, sei es infolge neuer wirthschaftlicher
Verhältnisse, oder der Berührung mit anderen Völkern." Zu unsrer noch größern
Ueberraschung heißt es aber gleich darauf wieder: „Die moderne Staatsanschauung
'se ein Stück Mythologie, und die Doctrin der conservativen Staatsrechtslehrer ' in
Deutschland die Vergötterung der Staatsvolypcn." Und zwar geht dieser Satz
nicht xtrog natürlich aus dem Gange der Entwicklung hervor, sondern er springt
unvorbereitet durch die Gewalt des souveränen Einfalls hinein. Bucher selbst ist
viel mehr in die Theorie des Staatspolypen verwickelt, als er glaubt. Er
findet den Grund der gegenwärtigen Abschwächung des parlamentarischen Lebens
darin, daß man nicht mehr instinctartig nach dem Herkommen verfährt, sondern
überall codiftcirt. Er findet die tollsten Mißbräuche und Ungehörigkeiten, die noch
wie ein Ballast die freie Entwicklung des politischen Lebens verkümmern, voll¬
kommen in der Ordnung, weil keine Codification dabei ist, und sieht in jedem
Versuch, sie abzustellen, eine Abschwächung des Princips. Auch hier sind im Ein¬
zelnen bei der Schilderung der bisherigen Parteien viele interessante Bemerkungen.
So ist z. B. die Schilderung der Peeliten musterhaft. Neu war uns die Erzäh¬
lung, daß Peel in seinem ersten Ministerium der Aristokratie die Erhaltung der
Kornzölle deshalb zusagte, um von ihr dafür die Zustimmung zu seinen Bank¬
operationen zu erhalten.
Die bisherige Verfassung beruhte nach Bücher darauf, daß die beiden organi-
strten Parteien sich in der Negierung des Landes ablösten. Dadurch, daß seit dem
Koalitionsministerium in der That die Sonderung der Parteien aufgehört hat, soll
auch die Verfassung unmöglich geworden sein. „Die innere Rechtsgeschichte Eng¬
lands erzählt den tausendjährigen Verfall eiues einfach großen Gebäudes. Seine
heutige Verfassung ist die ephenbewachsene und geflickte Ruine. Einige Spaten¬
stiche legen die Grundmauern bloß, aber an dem, was steht, muß es dem flüchtigen
Blick oft zweifelhaft bleiben, ob das Gemäuer die grüne Decke trägt, oder das
Nankengcflecht deu Stein an seiner Stelle hält. Seit zwanzig Jahren wird neu
gebauet, mit Lärm genug, aber mit wenig Plan und noch weniger Originalität.
Der Neubau ist symbolistrt in dem Palaste in Westminster, der Millionen ver¬
schlingt, nie fertig, nie bewohnbar wird, dem Plagiat aus allen Zeiten, allen
Ländern. Den venetianischen Palästen ist die Wasserseite abgesehen, die nach der
Themse blickt. Aber sobald das Fundament aus dem Fluß emporgestiegen, springt
das Gebäude entsetzt zurück. Der Strom, als filberfluteud gepriesen, so lange das
gemeine Recht sorglich die Najaden schützte, ist die große Kloake geworden, während
der Parlamentarismus sich abmüht zu ersetzen, was er zerstört. Gothisch soll das
Bilderwerk sein; aber statt der Mannigfaltigkeit der Formen, welche die Liebe und
der Humor der alten Meister schuf, peinigt uns das Einerlei der Schnörkel, das
Erzeugniß der Maschine, stereotyp wie die Bewohner des Babel, über dessen Rauch-
fänge die bedeutungslosen Thürme wegsehen." Das ist recht fein stilistrt und
klingt vortrefflich, ist aber doch, um uns in gutem Deutsch auszudrücken, nicht ge¬
hauen, nicht gestochen. Wäre Bucher reiner Beobachter d. h. gäbe er nichts, als
das unmittelbar Angeschaute, so dürsten wir wegen des Resultats mit ihm nicht
rechten. Wenn er sich aber so ungeheure Behauptungen erlauben will, so reichen
dazu die zerstreuten Beobachtungen, die er uns mittheilt, nicht aus. Es ist eine
Stimmung, die ihm im Kopf liegt, und die' seinen Beobachtungen die Farbe
gibt; nicht etwa der wirkliche Eindruck der Beobachtungen. Seit der Zeit ihres
wirklichen Bestehens d. h. seit 1689, hat die Verfassung Großbritanniens viel
schwerere Krisen durchgemacht, als die gegenwärtige Zersetzung der Parteien,
und ihr inneres kräftiges Leben wird die neue Gefahr ebenso bestehen, wie es die
frühern bestanden hat. — Bücher hat mehr Esprit, als gesunden Menschenverstand,
mehr Reflexion, als Anschauung, mehr Stimmung, als Erfindung; er ist glänzend
im Verneinen, aber höchst unbedeutend in der positiven Deduction. Er nennt sich
selbst einen Demokraten, er ist aber eigentlich, um ein altes Stichwort wieder auf-
zunehmen, ein Ritter vom Geist, nur mit dem Unterschied, daß er wirklich Ge.ist
hat. Er besitzt nicht eine Ueberzeugung, sondern er sehnt sich nach einer Ueber¬
zeugung, und er mag von der Hohe seiner dialektischen Bildung noch so vornehm
an/ die schlichten Männer herabblicken, die eine Ueberzeugung haben, ohne sie dia¬
lektisch begründen zu können: — im Handeln sind sie ihm doch überlegen; und
wenn er wicdir einmal Gelegenheit finden sollte, am politischen Leben unmittelbar
Theil zu nehmen, so wird er vorher sehr genau mit sich zu Rathe gehen müssen,
ehe er sich wirklich darauf einläßt, denn das politische Leben ist nicht dazu da, eine
Ueberzeugung zu suchen, sondern sie zu bethätigen.
ki,» j(!»in;««o ils UoUörv ,1!>I' I.!>«Z>'0IX (IM'Iiu-
I'into .laeoli) 5>uvio <>u IjuIIel. lips meo»i>>!>lililo«, ^is,:« o» vor« ^lo U»Iiü>'<;.
liruxvllos 8-I.<z>l>iug5 liicssling, Lclmvo ^ C-on,,. — Aus dem sogenannten classischen
Zeitalter der französischen Poesie ist Mvlivre noch immer der nationalste Dichter.
Vielleicht ist ihm unter allen seinen Zeitgenossen nur Lafontaine an die Seite zu
stellen. Die Literaturgeschichte wird Corneille und Racine immer mit großer Ach¬
tung nennen, da kein Grund mehr vorhanden ist, ihre Autorität für die freie Ent¬
wicklung der Kunst zu fürchten; aber wenn neuerdings eine geistvolle Schauspielerin
sich'bemüht hat, sie wieder auf der Bühne einzubürgern, wenn man sogar wieder
in ihrer Weise zu dichten anfängt, um die romantischen Ucberschwenglichkeitcn los
zu werden, so trägt dieses Bestreben zu sehr den Stempel des Gemachtem an sich,
um Dauer zu verheißen. Der jetzige Klassicismus in Frankreich ist nichts Anderes,
als ein Ausdruck des Ueberdrusses. ' Die romantische Schule hatte sehr , viel ver¬
heißen, aber es ist wenig davon in Erfüllung gegangen. Eine wirklich schöpferische
Kraft ist nicht vorhanden, und so sieht man sich denn in der Vergangenheit um,
und sucht das Veraltete neu aufzuputzen. Wenn man denjenigen einen Roman¬
tiker nennen darf, der aus Abneigung gegen das moderne Wesen im Geist und in
der Form einer überwundenen Bildungsstufe zu dichten versucht, so gehören Ponsard
und Nisard ganz entschieden zu den Romantikern. — Mit Molidre hat es eine
andere Bewandtniß. Die neuern Dichter siud viel geschickter in der Kunst, eine
spannende Intrigue zu erfinden, die Ereignisse zu gruppiren, eine epigrammatische
Lösung vorzubereiten, und was man sonst durch Studium und Bildung sich an¬
eignen kann; aber ihr wirklicher Lebensinhalt steht dem ihres großen Vorbildes un¬
endlich nach. Die Kernsprüche Mvliöres sind noch im Gedächtniß des ganzen Volks,
denn sie treffen noch immer das Wesen der Sache, und seine Charakterbilder, so
sehr das Aeußerliche der Sitten sich geändert hat, sind noch immer typisch sür die
Franzosen. Nur ist es wunderlich, wie man den neuen Idealismus in das Bild
des alten Dichters zu verweben sucht. Fast allgemein ist unter seinen Stücken
gegenwärtig der Misanthrop das gefeiertste, jenes seltsame Bild des Uebergewichts
der Leidenschaft über den Verstand, und aus dem trüben Eindruck, den der Schluß
macht, leitet man die Berechtigung her, das Schicksal des Dichters selbst als ein
tragisches aufzufassen. In diesem Sinn hat G. Sand vor einigen Jahren Moliöre
zum Gegenstand eines Trauerspiels gemacht und hat viel Beifall dafür eingeerntet.
-,
In der That ist es eine geistvolle Arbeit, trotz der nachlässigen Komposition, aber
die Umstände/ die sie ans dem Leben des Dichters anführt, sind verfälscht. —
Gleichzeitig erscheinen eine Reihe gelehrter Untersuchungen über das Leben Mvliüres.
Das ausführliche Werk von Taschcreau hat bereits drei Auflagen erlebt, und
Aime- — Martin und Bazin haben nach derselben Richtung gearbeitet. Das vor¬
liegende Werk hat die Aufgabe, die Lücken der früheren für die Jugendzeit des
Dichters zu ergänzen. Wir führen einzelne Umstände daraus an. — Ums Jahr
16ii lernte Moliere die Schauspielerin Madeleine Bejart kennen, die den Versuch
machte, ihre Truppe in Paris zu fixiren. Sie war damals etwa Jahr alt
und die anerkannte Maitresse des Baron von Modene, von dem sie 1638 eine
Tochter hatte. Die zweite Tochter wurde 166 3 geboren, kurz bevor Mvlivre der
Nachfolger des Baron von Modene wurde. Diese Tochter wurde später seine Frau.
Ein gleichzeitiger Schriftsteller erzählt, daß die Mutter damals das Glück vieler
jungen Leute in Languedoc machte; bei einer so verwirrten Galanterie war es
schwer zu bestimmen, wer der Vater ist. Zu den spätern Liebhabern der Bvjart
gehörte unter andern auch Corneille. Uebrigens wetteiferte Moliere an Vielseitig¬
keit des Herzens mit seiner Geliebten. Er war gewohnt, mehre Liebschaften zu
gleicher Zeit zu haben. Man hat also Unrecht, in ihm das Urbild des Misan¬
thropen zu suchen. — Wir heben nur noch eine Notiz hervor im Betreff des stei¬
nernen Gastes, auf dessen spanisches Vorbild wir vor einigen Wochen hingewiesen
haben. In der moliereschcn Bearbeitung hieß der Bediente Sganarelle. Diese
Figur nahm der Dichter aus seinem frühern Stück: le l^ani im^in-ni-o mit her¬
über, welches großen Beifall gefunden hatte. Die Maske war dem Italienischen
nachgebildet, aber aus die französischen Verhältnisse angewandt, und drückte den .
Tvpns des leichtgläubigen Bürgers aus, der mit einer närrischen Eitelkeit und einem
eingefleischter Vorurtheil ausgestattet ist, zugleich aber auch mit einer gewissen
Dosis verschmitzter Beobachtung. — Das mitgetheilte Ballet hat insofern Interesse,
als es von der feinsten Gesellschaft der Zeit aufgeführt wurd^e; an sich ist es nicht
von Bedeutung.
I^es l'omnes illustres par« ^. v am-»r ti n e. Aline. tlo Sevigne. —
Ilvloiso. vruxsllos K Koipiiig. Kio«-jung, Lelmee K, Komp. — Das Buch ist, wie
in neuester Zeit alles, was Lamartine schreibt, voll von Declamationen und soge¬
nannten geistreichen d. h. überraschenden, aber mir halb wahren Bemerkungen; von
geschichtlichem Gehalt dagegen ist wenig daran zu finden. —
lus toire ac Ja lit6r» eure kraueaise sanfte g o no ern em cri t et e juli¬
ier, pur ni. ^it'reel Keltement. ?nris, I^eeollre. — Der Verfasser gehört zu
der legitimistischen Partei, die sich gegenwärtig mehr mit religiösen, als mit poli¬
tischen Hoffnungen trägt. Sein Werk ist fast durchaus Tendenzschrist. Er sucht
nämlich bei allen Schriftstellern, die er darstellt, nnr nachzuweisen, in wie weit sie
zur Entwicklung der religiösen Ideen beigetragen haben, und danach bestimmt er
ihren Werth. Es ist an sich eine dankenswerthe Aufgabe, diese Seite des Gegen¬
standes hervorzuheben; aber einmal darf man daraus nicht eine vollständige Ge¬
schichte machen wollen, wobei die richtigen Perspectiven ans eine ganz unerhörte
Weise verrückt werden, sodann darf man der Beobachtung nicht so viel Vorurtheile
entgegenbringen, als der Verfasser des vorliegenden Buchs. Der Verfasser einer
Literaturgeschichte hat die Aufgabe, eilten Seiten seines Gegenstandes gerecht zu
werden. Will er nur die religiöse Seite hervorheben, so mag er eine Kirchen-
geschichte schreiben. Freilich geht die französische Kirchengeschichte mit der franzö¬
sischen Literaturgeschichte nicht Hand in Hand. Die Kirche hat in ihrer Art ein
sehr reiches, namentlich in den untern Volksschichten festgewurzeltes Leben; aber die
Literatur steht außerhalb derselbe», und was sich in ihr von religiösen Anwand-
lungen vorfindet, ist entweder ästhetische Caprice (wie bei Chateaubriand und
V. Hugo) oder Rücksicht auf politische Convenienzen.
Ij o » u in-> reli »i 5 ize «on tomps, een<Jo8 sur I-, se>ol«Nu en ffrnneo ->,i
>U xliuiliom v !ji>;cle ,1'-,pre« >> e» ,,l venin en >.s i n v it > > >,>>, ^. ,l e o in s n i e.
Viir-i». — Eine ebenso gründliche als geistvolle Arbeit, deren Studium für die
Kenntniß der französischen Literatur im Rcvolutionszcitalter unerläßlich ist. Sie
wurde zuerst von der Kevue ,le8 ,1o„x minutes mitgetheilt.
I. !> eile tlo Nie,, c> o »sin«, /.uguslin. U»cI„oUc>n vauvvlle 6v «. KmiI «>.
K->iij«ol, nvso u»e inlrocluelion et clef mildes. — Das größere Publicum kennt
vom heiligen Augustin nur die Konfessionen; für das Verständniß des Christenthums
aber und seiner Stellung zur Welt d. h. zur römischen Welt, dem unheiligen
Reich der Erde, ist diese Schrift ebenso wichtig. — Es ist ein Uebelstand bei der
Geschichte des Christenthums. daß fast jeder Geschichtschreiber von einer bestimmten
vorgefaßten Meinung ausgeht, der ungläubige wie der gläubige, und daher in
seinen Quellen nur dasjenige aufsucht, was seinen Zwecken dient. Eine objective,
Darstellung, welche nicht -i i'rim-i deducirt (also weder nach dem Glaubensbekennt¬
nis des Nationalismus, noch nach dem der symbolischen Bücher), sondern die Quellen
ü> ihrer ganzen Fülle aufzufassen sich bemüht, ist noch nicht geschrieben. Man kann
die Versuche, jene Quellen zu povularisiren. wenigstens als Vorarbeiten dazu be¬
trachten, denn auch der geistreiche Schriftsteller empfängt einen Theil seiner Eindrücke
von der öffentlichen Meinung, die unbewußt in ihm selbst lebt; und wenn man also
das Publicum daran gewöhnt, die Geschichte des Christenthums objectiv aufzufassen
so erleichtert man auch dem Geschichtschreiber die Mühe. — In der Nvvne ,>!s
>>v"x me»nie5 vom -13. März finden wir darüber eine interessante Abhandlung on
Paul Janet, der auch aus die modernen Versuche, die Stadt Gottes in Frankrnch
wiederherzustellen, näher eingeht.
Malavika und- Agnimitra. Ein Drama des Kalivasa in fünf Acten.
Zum ersten Male aus dem SanskrU übersetzt von Albrecht Weber. Berlin,
R- Dümmler. — Der Text des indischen Dramas wurde 18i0 in Bonn dnrch de>,
Schweden Tullberg herausgegeben. Obgleich es den Namen Kalidasa ans dem Titel
^ägt, entschied sich die Mehrzahl der Kenner dasür, daß es nicht von dem Dichter der
Sakuntala herrühren könnte und verlegte es in ein weit späteres Zeitalter. Der gelehrte
Übersetzer, der sich früher gleichfalls dieser Ansicht zuneigte, hat seitdem seine Mei¬
nung geändert und findet sowpl ans sprachlichen, als aus innern Gründen, daß die
beiden Schauspiele wol denselben Verfasser haben könnten, den er beiläufig
in .die Periode vom 2.—4. Jahrhundert n. Chr. versetzt. Was die sprach¬
lichen Gründe betrifft, so mögen die Gelehrten darüber rechten; in Bezug auf den
poetischen Gehalt, so weit sich derselbe aus der wortgetreuen Uebersetzung beurtheilen
la'ße, finden wir in der That einen ganz ungeheuern Abstich. Das indische Kolorit,
die zarte Blumensprache, die fieberhaft gesteigerte Sinnlichkeit, die trotzdem etwas
Verschämtes hat, ist beiden gemeinsam. Dagegen ist in der Komposition der Sa- '
kuutala etwas Phantastisches und Symbolisches, von dem wir in der Malavika
seine Spur finden. Es ist vielmehr ein regelrecht durchgeführtes Jntriguenstück,
welches sich mit unsrer neuern Komödie gar wohl vergleichen läßt; und wenn wir
das Kolorit und die fremdartige» Sitten bei Seite lassen, so wurden Terenz, Mo-
Mre, Kotzebue und wie die neuern Lustspieldichter der verschiedenen Ordnungen
sonst heißen, in dem Dichter dieses Stücks gar wohl ihren Kollegen herauserkennen.
Der Hof des Königs Agnimitra erinnert auffallend an den Hof Ludwigs XV. Es fehlt
nicht an den verschiedenen Cotillons, die unter diesem Namen regierten. Wir wollen
den Inhalt kurz angeben. — Der König hat zwei Gemahlinnen, Darini und Jra-
vati, von denen die erste den höhern Rang behauptet, während die zweite, die
frühere Favorite, größere Leidenschaft zeigt. Die erste hat soeben eine junge schöne
Sklavin erhalten, Malavika, die sie ihres Talents wegen von einem Balletmeister
zur Ballettänzerin ausbilden läßt. Der lüsterne König sieht ihr Bild und verliebt
sich sofort. Die Königin, die es merkt,, bietet nun alles ans, um die Sklavin von
ihm fern zu halten. Ein verschmitzter Bramine, der Rathgeber und Hanswurst des
Königs,' findet ein Mittel, sie ihm vorzustellen. Zwei Tanzmeister müssen wegen
ihrer Kunst in Streit gerathen und den König zum Schiedsrichter ausrufen. Das
Urtheil kann natürlich nicht anders gefällt werden, als daß die beiden Tanzmeister
ihre Schülerin vorführen. Die Königin kann es nicht wohl hindern und macht die
Bemerkung: „Wenn der Gemahl auch in seinen Regierungsgeschäften solche Ge-
schicklichkeit zeigt, dann steht es gut mit ihm." Die Tänzerin stellt sich nun vor,
halb nackt, und die verschiedenen Schönheiten ihres Leibes werden gezeigt und aus¬
führlich besprochen. Die Scene ist nun freilich ganz indisch. Der König ist krank
vor Liebesgram und versäumt es, seiner zweiten Gemahlin die gewöhnliche zärtliche
Aufmerksamkeit zu schenken. Denn, meint er, Frauen sind schon von Natur klug,
wie sollte jene nicht merken, daß mein Herz einer andern ergeben ist, wenn ich' auch
>>och so schön mit ihr thäte? Es ist besser, man läßt ganz das gewohnte Liebcs-
spel, als daß man scharfblickender Frauen huldigt, stärker als früher, doch lcideu-
sclzaftslos. Trotzdem läßt er sich doch bestimmen, Jravati in einen Lnstwald zu bestellen.
Se tritt auf, nachdem sie sich vorher in Liebesrausch versetzt, aber das Rendezvous wird
u.iterbrocheu. Die erste Königin hat sonst die Aufgabe, eine besonders schone Blume durch
Serühruug mit ihrem geputzten Fuß zum schnellern Blühen zu treiben. Sie hat
sich zufällig den Fuß verletzt und beauftragt daher Malavika, es an ihrer Stelle zu
thun. Die junge Dame wird auf der Bühne chausstrt, und der verliebte König,
der das mit ansieht, kann sich nicht zurückhalten und bittet sie, ihn doch auch mit
dem Fuß zu berühren. Jravati, die die Scene belauscht, tritt wüthend auf und
bricht in die heftigsten Schmähungen aus. Der König bittet um Verzeihung; sie
entreißt sich ihm, und als er ihr zu Füßen fällt, schlägt sie uach ihm mit ihrem
Gürtel. „Du bist ja reizender als je," ruft er ihr nach, immer noch auf den
Knieen; „zürnst Dn w«l noch Deinem Sklaven?" Aber sie geht ab mit den Worten:
„Das sind nicht die Füße der Malavika, die Deine freudige Sehnsucht erfüllen
könnten!" „O über die Ungleichmäßigkeit der Liebe!" seufzt der indische Ludwig XV.
„Mein Herz fühlt jetzt zu ihr sich wirklich hingezogen!" — Jravati zeigt sofort die
Geschichte der ersten Königin an, und diese läßt die Sklavin einsperren, indem sie
dem Schließer befiehlt, sie nur gegen Vorzeigung ihres Siegelrings loszulassen. Da
der König keinen Machtspruch wagt, so muß anch hier der verschmitzte Bramine
wieder aushelfen. Er klagt, er sei von einer Schlange gebissen, und dieser Biß
könne nnr durch das Amulet geheilt werden, welches sich im Siegelring der Königin
befinde. Er erhält den Ring und befreit damit die. Gefangene. Der König eilt
sofort wieder zum Rendezvous, belauscht sie in verschiedenen Attitüden und macht
die Bemerkung, daß sie den Unterricht des mimischen Künstlers sehr gut benutzt
habe, da sie so geschickt Zorn und Kummer auszudrücken wisse. Er macht ihr nun
offen sein Geständniß; sie erwidert: „Aus Furcht vor der Königin wage ich es nicht,
wie gern ich auch möchte." — „Du brauchst Dich nicht zu fürchten!" — „Habe
ich doch selbst den Herrn, der sich jetzt nicht fürchtet, bei dem Aublick der Königin
in derselben Lage gesehen." -— Der König wird zudringlich, es erfolgt ein ver¬
liebter Kampf, bis ihn die eifersüchtige Jravati wieder unterbricht. Der König ist
in großer Angst, wird aber ans der Klemme durch einen Umstand befreit, der noch
über Kotzebue hinausgeht. Ein Bote tritt aus: „Herr! die Prinzessin Vasuiaxmi
ist ihrem Ball nachlaufend von einem gelben Affen gewaltig erschreckt worden. Sie
sitzt ans dem Schoße der Königin, wie eine Ranke in. Winde zitternd, und will
sich noch immer nicht erholen." Natürlich muß der König sofort hinlaufen, um
das Kind zu beruhigen. — Die Verwicklung führt zu einem guten Ausgang. Die
Königin wird durch drei Umstände gerührt: einmal wächst jene Blume in unerhörter
Mlle auf, und sie hat für diesen Fall der Sklavin eine Belohnung versprochen;
sodann ergibt sich, daß diese Sklavin eigentlich eine Prinzessin ist; endlich kommt
die Nachricht an, daß ihr Sohn aus einem Feldzug (der König gleicht auch darin
Ludwig XV., daß er seine Heere nicht selbst sührt) gesund geblieben ist. Sie
schmückt also Malavika selbst als Braut und ertheilt dem furchtsamen König die Er¬
laubniß, sie als dritte Gemahlin heimzuführen.
Wenn uns erlaubt ist, zwei sehr entlegene Kunstgebictc zu vergleichen, so
möchten wir den Dichter der Sakuntala zu dem dieses spätern Dramas ungefähr in
dasselbe Verhältniß stellen, wie Aeschylus zu Euripides.
Classische Vorschule. Sorgfältige,
geschichtlich geordnete Auswahl des Edelsten und Schönsten aus der poetischen
Literatur der Grieche» und Römer. Nach den besten Uebersetzungen herausgegeben,
"ut literargeschichtlichen Einleitungen, kurzen Umrissen der Mythologie und der
Metrik, so wie mit den nöthigen Erläuterungen begleitet von U>, Löwenthal.
Fünf Bände. Frankfurt a. M., Literarische Anstalt. >— Die Sammlung enthält
im ersten Bande große Partien ans der Ilias und Odyssee in der voßschcn
Uebersetzung, dann Auszüge aus den Hymnen, aus dem Frvschmäusekrteg, dem
Hesiod, den orphischen Hymnen, so wie aus den verschiedenen Lyrikern; die Ueber-
setzungen Pindars sind von Seeger, Herder und W. von Humboldt. Im zweiten
Band folgen wieder große Fragmente aus den Stücke» von Aeschylus, Sophokles,
Euripides und Aristophanes in Uebersetzungen von Donner, Humboldt, Voß u. s. w.
Der dritte Band enthält die römischen Dichter/ Virgil, Horaz, Ovid, Seneca,
^"penal, Plautus, Terenz, Lucrez u. s. w. — Was nun bei dieser Sammlung
zunächst in Frage kommt, ist die Berechtigung des Herausgebers zum Wiederabdruck
größerer Stücke aus andern Büchern. Daß poetische Uebersetzungen demselben
Recht verfallen, wie eigne Dichtungen, unterliegt keinem Zweifel, und so würde
man gegen eine Anthologie aus Uebersetzungen so lange nichts einzuwenden haben,
als es jedem Sammler freisteht, von deutschen Gedichten aufzunehmen, was ihm
beliebt. Aber es muß doch alles eine gewisse Grenze haben, und diese ist nament¬
lich im ersten Bande, der zum großen Theil vossische Uebersetzungen enthält,, ent¬
schieden überschritten. Zudem bleibt es fraglich, ob die Kenntniß größerer epischer
und dramatischer Gedichte durch solche Auszüge wesentlich gefördert wird. Eine
vollständige Literaturgeschichte wird es doch nicht, denn von den eingestreuten literatur-
historischen Notizen weiß man nicht recht, für welches Alter sie berechnet sind, und
einen wirklichen Genuß hat man doch erst, wenn man die Ilias, oder den Philok-
tet, oder was es sonst sei, vollständig liest. An guten Uebersetzungen fehlt es ja
keineswegs, und so war auch von dieser Seite kein Bedürfniß vorhanden. Wenn
der Herausgeber meint, daß diese Sammlung der Jugend nützlicher sein wird, als
die verweichlichende Romanlectüre, so ist das wol ganz richtig, aber daraus allein
kann uoch nicht die Berechtigung eines solchen Unternehmens hergeleitet werden.—
Sophokles, König Oidipus. Uebersetzt und erklärt von Oswald Mar-
bach. Zweite verbesserte Auflage. Leipzig, Arnoldische Buchhandlung. — Sophokles
Philoktetes. Uebersetzt und erklärt von Oswald Marbach. Leipzig, Arnol¬
dische Buchhandlung. — Der Uebersetzer hat den Dialog in fünffüßigen Jamben,
die Chöre regelmäßig in vierfüßigen gereimten Trochäen übersetzt. Mit dem ersten
sind wir einverstanden, da sich der Trimetcr in der deutschen Sprache nicht ein¬
bürgern will. Desto entschiedener müssen wir das letztere verwerfen, weil dadurch
in die lebhast bewegte dramatische Sprache etwas Eintöniges und schläfriges kommt,
das dem Wesen der alten Tragödie widerspricht. Die Sprache ist geschickt gehand¬
habt und nicht unpoetisch, aber zuweilen gar zu sehr modernisirt. —
Sämmtliche Tragödien des Euripides. Metrisch übertragen von
Franz Fritze.' Erste Lieferung: Hekabe. Berlin, H. Schindler. — Ein se.hr
ernst aufgefaßtes und gründlich durchgeführtes Unternehmen, dem wir den besten
Erfolg wünschen. Der Uebersetzer hat sich die schwierigste Aufgabe gestellt, er be¬
müht sich, das Versmaß anch in den Chören mit der größten.Treue wiederzugeben,
aber sein sicherer Geschmack und sein Talent führt ihn über diese Schwierigkeiten
wenigstens so weit hinweg, als es dem modernen Dichter überhaupt vergönnt sein
mag. Böckh, der große Kenner des griechischen Alterthums, hat sich über diese
Uebersetzung sehr rühmend ausgesprochen und-wir können uns vom Standpunkt
der deutscheu Literatur diesem Urtheil nur anschließe». Bei der Vollendung des
Werks kommen wir noch einmal daraus zurück. >
Das Junifest der quartöil^ roviov^von 1833 enthält eine interessante Aus¬
wahl von Anzeigen in londoner Zeitungen, von der Mitte des 17. Jahrhun¬
derts bis auf die heutige Zeit. In der That werfen diese Annoncen so zahl¬
reiche Schlaglichter auf die Zustände der betreffenden Perioden, charakterisiren
die Bedürfnisse, die Vergnügungen, die Betriebsamkeit der verschiedenen Zeit¬
alter so deutlich, daß sie einen unverächtlichen Beitrag zu einer Cultur¬
geschichte dieser beiden Jahrhunderte liefern: wir wollen daher aus dieser
Sammlung die charakteristischsten und interessantesten Exemplare mittheilen.
Die erste Zeitung, die diesen Namen verdient, erschien in London 1622,
unter dem Namen „Wöchentliche Neuigkeiten" (wecket^ ne^of); sie enthielt
jedoch nur wenige Brocken von fremden Nachrichten und gar keine Anzeigen.
Die Periode der politischen Kämpfe und bürgerlichen Unruhen zeitigte die Ent¬
wicklung der Tagespresse, aber um so weniger war sie der Benutzung derselben
Zu Anzeigen günstig. Die erste eigentliche Anzeige findet sich im Jahr 1632
in dem Parlamentsblatt ^erouiius poMicm8: eS ist die Anzeige eines pane¬
gyrischen Heldengedichtes, verfaßt bei Cromwells Rückkehr aus Irland, unter
dein Titel: Irenocria Kriitrrlatoria. Von nun ab bis zur Restauration ist der
Merkur voll von Bücheranzcigen mit den seltsamsten Titeln, als: „Bibelmark",
„Einige Seufzer aus der Hölle oder das Geächz einer verdammten Seele",
„Erzengel Michael gegen den Drachen oder ein feuriges Geschoß geschleudert
durch das Reich der Schlange". Dann aber zeigen zahlreiche Beschreibungen
enUausener Lehrlinge und Dienstboten, oft mit Angabe sonderbarer Diebstähle,
die sie, vor ihrer Entweichung verübt haben, daß diese Classe vor 200 Jahren
mindestens nicht besser war, als jetzt. Kaum eine Woche vergeht ohne solche
Steckbriefe. Ein ganz unverhältnißmäßig großer Theil der beschriebenen Individuen
>>» siebzehnten und im ersten Theil des achtzehnten Jahrhunderts ist pocken¬
narbig. Im Jahr 1639 enthielt der Merkur die erste Anzeige von einem ent-
laufener Negerknaben, welche damals vermuthlich von Portugiesen importirt
wurden; denn der directe Negerhandel begann in England erst 1680. Die
folgenden Jahrgänge der Zeitschriften zeigen, wie reich das fashionable England
an solchen schwarzen Pagen gewesen ist. Um diese Zeit wurden zahlreiche
Pferdediebstähle annoncirt, deren Häufigkeit während der Republik und im folgen¬
den halben Jahrhundert vielleicht durch den infolge der Bürgerkriege eingetretenen
Mangel und den dadurch gesteigerten Werth dieser Thiere zu erklären ist. In
der Zeit Cromwells waren bereits Diligencen auf allen Hauptstraßen ein¬
gerichtet (vorher hatten die Posten nur Briefe befördert) und eine Anzeige im
Merkur von I6S8 enthält ihre Abfahrtszeiten, Richtungen und Fahrpreise.
Beiläufig gesagt, war die Beschaffenheit der Wege von der Art, daß die Rei¬
senden in der Regel einen Führer haben mußten.
Im Jahr 16L8 findet sich im Merkur die erste Anzeige des Thees, die
wir wörtlich mittheilen wollen: „Das ausgezeichnete und von allen Aerzten ge¬
billigte Chinagetränk, von den Chinesen Tesa genannt, von andern Nationen
Tay alias Tee, wird in dem Kaffeehause zum Sultaninkopf verkauft, Swen-
tings Nares, bei der königlichen Börse."
Nun sind wir bei dem Punkt angelangt, wo Karl II. mit seinen hungrigen An¬
hängern im Triumphe in Dover landete. Die Anzeigen während der Zeit, in welcher
Mont der Restauration den Weg bahnte, geben einen genauen Barometer für
die Stimmung in dieser kritischen Conjunctur. Der alte puritanische Geist
macht sich nicht mehr bemerkbar; Vagegen zeigt sich auf allen Seiten der Eifer,
von dem ersten Sonnenschein der königlichen Gunst Vortheil zu ziehn oder den
königlichen Zorn zu beschwichtigen.' Versammlungen werden angekündigt von
Personen, die sequestrirte Güter gekauft haben; um beim König wegen Bestäti¬
gung dieser Besitzthümer zu Petitioniren; Aldermen vertheidigen sich in den Zei¬
tungen gegen die Beschuldigung, daß ihr Name in der Liste der Personen zu finden
sei, die „über dem verstorbenen König zu Gericht saßen"; die Werke von „ehe¬
maligen" Bischöfen kommen wieder zum Vorschein und „die Thränen, Seufzer,
Klagen und Gebete der Kirche von England" erscheinen in den Spalten der
Blätter. Mitten in dieser wirbelnden Geschäftigkeit für die neue Sache finden wir
einen Namen, der der alten treu bleibt. Am 8. März 1660, als schon der Scepter
Karls II. seinen Schatten von Breda herüberwarf, liest man im Nerourius
Milieus folgende Anzeige: „Der fertige und bequeme Weg, eine freie Re¬
publik einzurichten, und die Vorzüglichst derselben , verglichen mit den Nach¬
theilen und Gefahren der Wiedereinführung des Königthums in diese Nation.
Der Verfasser I. M. Worin, da auf Grund der Eile des Druckers , die
Druckfehler nicht zur rechten Zeit kamen, man bittet, folgende Irrthümer zu
verbessern." Folgen fünf Druckfehler. Die Ruhe, mit der der blinde Sänger
des Verlornen Paradieses bei der Veröffentlichung dieser hastig geschriebenen
Schrift für die schon Verlorne Sache zu Werke geht, ist verehrungswürdig. Zwei
Monate später war er ein geachteter Flüchtling und seine Schriften wurden
auf Befehl des Parlaments durch den Henker verbrannt.
Drei Monate darauf inserirt ein mit Karl zurückgekehrter armer Cavalier
sein gestohlenes Gepäck, nach dessen genauer Beschreibung es heißt: „alles dies
gehört einem Herrn, (einem nahestehenden Diener seiner Majestät) der zu lange
eingekerkert und seiner Güter beraubt gewesen ist, um jetzt bestohlen zu werden,
wo jedermann hofft, seines Eigenthums froh zu werden." Bald sangen sich
auch die Gewohnheiten und Liebhabereien des Königs an im Merkur bemerk¬
lich zu machen, der jetzt nicht mehr IVIsreurwg politieus > sondern Nercurws
Mklicms heißt. Seine Spalten, nun ganz unter allerhöchster Direktion, athmen
giftigen Haß gegen die Puritaner und dienen nebenbei zu Erkundigungen nach
gestohlenen Lieblingshunden seiner Majestät. Eins von diesen Inseraten dürste
von der Hand des Königs selbst herrühren: „Wir müssen Euch abermals
dringend ersuchen, Euch um einen schwarzen Hund zu bemühn, halb Wind¬
spiel, halb Hühnerhund; kein Weiß an ihm, nur ein Streif auf der Brust
und der Schweif ein wenig gestutzt. Es ist seiner Majestät eigner Hund und
ward ohne Zweifel gestohlen, denn er war nicht geworfen, noch gezogen in
England und würde seinen Herrn nicht verlassen. Wer ihn findet, mag es
irgend jemand in Whitehal anzeigen, denn der Hund war besser bei Hof
bekannt, als der Mann, der ihn stahl. Werden sie denn nie aufhören, Seine
Majestät zu berauben? Soll er nicht einen Hund halten? Die Stelle dieses
Hundes, (obgleich besser als manche sich denken) ist die einzige Stelle, um die
niemand sollicitirt." Später erkundigt sich seine Majestät noch nach verschiedenen
andern Ködern und dann machen Prinz Rupert, Buckingham'oder Mylord Albe-
marle ihre abhanden gekommenen Hunde in der London Gazette bekannt. Mit dem
König waren alle von den Puritanern verdammte Sports wiedergekehrt, auch
einige Anzeigen von gestohlenen Falken stehen in der London Gazette. Dies
Blatt ist das einzige in jenen Tagen begründete, das noch besteht; es war
damals schon das officielle Hofblatt und hat diesen Charakter beibehalten.
Auch dieses enthält neben Nachrichten aus dem Auslande, königlichen Procla-
mationen u. f. w. Anzeigen verschiedener Art; besonders haben sich die da¬
maligen Quacksalber seiner Spalten bedient, um ihre Geheimmittel anzupreisen.
Nervenpulver, Specifica für Podagra, Rheumatismen, alle Lungenkrankheiten
und Pest, vortreffliche Zahnpulver werden empfohlen und die Leser am Schluß der
Anzeigen gewarnt, sich vor Fälschern in Acht zu nehmen, welche diese Mittel
„zur Schädigung der Gentlemen und großem Betrug des Volkes" nachmachen.
Unter diesen Wohlthätern der Menschheit, die ihre Hilfe durch die Zeitungen an¬
bieten, ist auch — der König. Er macht am l i. Mai 166i folgendes bekannt.
„Seine geheiligte Majestät hat erklärt, daß es Ihr königlicher Wille und Absicht
ist, mit der Heilung der Leute von den Skroph'ein während des Monats Mai
fortzufahren und dann bis zu nächstem Michael auszusetzen. Ich habe daher
den Befehl erhalten, dies anzuzeigen, damit die Leute nicht in der Zwischenzeit
Zur Stadt kommen und ihre Mühe verlieren." Der Glaube, daß in der Be-
rührung des Königs eine Heilkraft gegen skrophulöse Leiden liege, mochte
wol durch Fälle scheinbaren Erfolgs unterstützt werden. In der That kann
die Aufregung, welche die armen Kranken in der königlichen Gegenwart em->
pfänden, zuweilen als geistiges Tonikum gewirkt haben; in einer großen Zahl
von Fällen jedoch muß man die Wirkung dem Goldstück zuschreiben, das der
König jedem Patienten schenkte. Jedenfalls blühte diese königliche Praxis bis zu
Annas Zeit, mit deren Tode sie einging; die Regenten des Hanfes Braun¬
schweig machten keinen Anspruch, diese medicinische Begabung zu besitzen^ da
sie auch nur kraft eines Parlamentsbeschlusses auf den Thron gekommen waren.
— Gleichzeitige Anzeigen von Merkwürdigkeiten und Seltenheiten zeigen
die Neigung des Publicums zum Wunderbaren und Fremdartigen. In
einer Sammlung, die „von Personen von großer Gelehrsamkeit und hohem
Stande viel besucht und bewundert wurde" wurden als besonders interessant
hervorgehoben: eine „auserlesene" ägyptische Mumie mit Hieroglyphen, der
große Hüftknochen eines Riesen, ein Mondfisch, ein tropischer Vogel u. s. w.
In der London Gazette von 1664 findet man: „Eine wahrhafte Darstellung
des Nhonoserous (sie) und Elephanten, so kürzlich von Ostindien nach London
gebracht wurden, nach dem Leben gezeichnet, sorgfältig in mex?.o-tintv geätzt
und auf ein großes Stück Papier gedruckt."
In dem nächsten Jahr hören alle diese Anzeigen auf: eS ist das Jahr
der großen Pest. Alle, die es vermochten, flohen frühzeitig aus der angesteckten
Stadt, diejenigen, welche blieben, bis die Krankheit allgemeine Verbreitung
gewonnen hatte, durften sie nicht mehr verlassen, da ihnen der Lordmayor das
Gesundheitsattest verweigerte, um die Ansteckung nicht in die Provinzen ver¬
schleppen zu lassen. Wie im Cholerajahr 185t die Spalten der Times, waren
die der Zeitungen von 1663 mit Anzeigen von Antidoten und unfehlbaren
Mitteln angefüllt; eines davon, das man im Grünen Drachen in Cheapside
bekommen konnte, kostete nur sechs Pence die Pinke. Die Pest erlosch mit
dem großen Brande, der am 2. September 1K6S ausbrach und 13,000 Häu¬
ser in Asche legte. Sonderbar genug,' obwol diese furchtbare Calamität die
ganze Bevölkerung obdachlos machte und in den Feldern in improvisierten Woh¬
nungen zu campiren'zwang, zeigen sich nur äußerst geringe Spuren eines so
ungeheuern Ereignisses in den Blättern. Nichts beweist deutlicher, wie wenig
Gebrauch damals noch die handeltreibende Bevölkerung von der Presse machte.
Ein Brand, der auch nur zum hundertsten Theil so zerstörend wirkte, würde
heutzutage alle Spalten der Zeitungen mit den neuen Adressen der Kaufleute
füllen. — Die übrige Zeit von Karls Regierung ist durch keine charakteristi¬
schen Anzeigen mehr bezeichnet; aber schon einige Jahre vorher finden wir die
Mode der monströsen Lockenperücken eingeführt, die sich bis zur Mitte des
folgenden Jahrhunderts erhielten. Die „Newes" von 1663 enthalten folgende
Aufforderung. „Sintemal George Grey, Barbier und Perückenmacher, gegen¬
über der Windspieltavcrne in Black Fryers, London, verpflichtet ist, einige aus¬
gezeichnete Personen von sehr hohem Rang und Stande mit seiner Arbeit zu
bedienen: so wird deshalb aus seinen Wunsch bekannt gemacht, daß jeder, der
langes blondes Haar (lwxc-n Iisir) zu verkaufen hat, sich zu dem besagten
George Grey verfügen mag, und sie sollen zehn Schilling für die Unze be¬
kommen und für andres langes schönes Haar nach dem Preise von sieben und
fünf Schilling die Unze."
Den „wilden Carneval der Restauration", wie Macaulay die Zeit Karls II.
nennt, charakterisirt nicht blos die tiefste Korruption und die äußerste Frechheit
der Sitten, sondern diese und die folgende Negierung sind auch durch eine
Rotzige Verachtung der Gesetze und einen auffallenden Hang zu Attentaten
ans Sicherheit und Leben befleckt. Am 22. December 1679 bezeichnet unter
andern die London Gazette ein Attentat auf den ruhmreichen John Dryden, der
am 18. d. M. in der Rosenstraße, Coventgarden von verschiedenen unbekannten
Männern „barbarisch angegriffen und verwundet wurde". Fünfzig Pfund wer¬
den dem versprochen, der die Thäter anzeigt; ist er ein Mitschuldiger oder mittel¬
bar betheiligt, so geruht seine Majestät ihm in Gnade Verzeihung zu versprechen:
2n dieser Periode fing das romantische Verbrechen des Straßenraubs an in
Aufnahme zu kommen. Folgende Bekanntmachung zeigt, daß Männer von
hoher gesellschaftlicher Stellung unter Umständen nicht verschmähten, sich den
Rittern der Heerstraße beizugesellen. ,,Sintemal Herr Herbert Jones, Sach¬
walter in der Stadt Monmouth, wohlbekannt als mehrjähriger Untersheriff
>u derselben Grafschaft, kürzlich zu verschiedenen Malen die Briefpost beraubt
hat, die von besagter Stadt nach London geht und verschiedene Schriften und
Briefe herausgenommen und jetzt vor der Gerechtigkeit geflohen ist und aueh
maßlich sich unter den neu aufgehobenen Truppen versteckt hat" — wird dem
Entdecker dieses juristischen Highwaymen eine Belohnung (von nur einer
Guinee) versprochen.
Den Geschmack, den die jacobitischen Zeiten an Bechern fanden, verrathen
Zahllose Nachforschungen nach Verlornen oder gestohlenen silbernen Humpen und
unaufhörliche Verkäufe von Claret und Canariensect. Man bediente sich
damals bei Auctionen nicht des Hammers, sondern die Verkäufe erfolgten
durch einen ,,Zoll Lichtkerze"; ein Gebrauch, der seine Erklärung in dem
gleichzeitigen, von Macaulay so viel benutzten Tagebuch von Pepys findet. Er
^'zählt, wie ergötzlich es bei einer SchiffSauction gewesen, zu sehn, wie lang¬
sam die Leute anfangs im Bieten sind, wie sie aber, wenn die Kerze im Aus¬
gehen ist, schrien und nachträglich streiten, wer dgS meiste geboten habe. Einer
der Mitbietenden hatte eine Bemerkung gemacht, die ihn in den Stand setzte,
immer im letzten Augenblick zu bieten und so die andern zu schlagen, er hatte
nämlich beobachtet, daß, sobald das Licht im Begriff ist, zu verlöschen, der
Rauch niedergeht. — Beiläufig gesagt, hat diese Art von Auction noch vor
nicht langer Zeit auf der Insel Zarte stattgefunden, ist also dort vermuthlich
noch in Gebrauch. Als die' Reliefs von Phigalia daselbst zum Verkauf
standen, erfolgte der Zuschlag auf das Gebot, welches das höchste war, als
die Kerze ausging, die während der Auction gebrannt hatte.
Die Liebhaberei für Auctionen, die unter Anna zur Manie ausartete,
begann in dieser Periode. Fortwährend werden Bücher und Gemälde auf
diese Art zum Verkauf angekündigt. Es war etwas von der Aufregung des
Spiels darin, was dem Geschmack der Restaurationsperiode zusagte. Uebrigens
aber erscheinen bis zur Revolution die Anzeigen immer nur noch zu dreien und
vieren, höchstens ein Dutzend in einem Blatt und verrathen immer noch nicht,
daß sie aus einer großen Handelsstadt hervorgegangen sind. Hin und wieder
sucht ein Capital Placirung, aber viel häufiger sind es Bruchbänder und Zahn¬
pulver, die empfohlen werden, manchmal ist auch eine Wohnung eines noble-
man in der Stadt zu vermiethen. Folgende Anzeige gibt ein Beispiel von der
seltsamen Art, in der damals Feuerversicherungen geleitet wurden. „Da am
24. des letzten Monats ein Brand stattgefunden hat, durch -den mehre Häuser
der freundschaftlichen Gesellschaft in Asche gelegt sind, zu dem Werth von
963 Pfund, so wird hierdurch allen Mitgliedern besagter Gesellschaft bekannt
gemacht, daß sie ersucht werden, in dem Bureau Faulcon Court in Fleck Street
ihren respectiven Antheil von besagtem Verlust einzuzahlen, welcher sich auf
fünf Schilling und einen Penny für jede hundert versicherte Pfund beläuft,
und zwar vor dem -12. August. London 6. Juli -1683." Daneben wiederholen
sich die alten Erkundigungen nach gestohlenen Hunden und Pferden. Der
„Puff" war noch nicht erfunden.
Mit der Revolution brach für das ganze nationale Leben eine Morgen¬
röthe an. Das Land athmete wieder frei, der Volksgeist fing an, sich aufs
kräftigste zu regen. Unternehmungen aller Art traten ins Leben und warfen
ihre Schattenbilder aus die Spalten der Blätter, die jetzt in Format und an
Zahl reißend zunahmen; in den nächsten vier Jahren nach der Revolution
wurden 26 begründet.. Unzählige Pamphlets gaben in allen Formen dem
Jubel über den Triumph der Freiheit Ausdruck und der derbe Humor, der bis
jetzt unterdrückt worden war, machte sich nach Herzenslust Luft^ Unter den
„Orangekarten", welche die-letzte Regierung und die Erpedition Wilhelms von
Oranien darstellen, finden sich alle Hauptscenen dieser denkwürdigen Zeit ver¬
ewigt, von „Mylord Jeferies, wie er im Westen die Protestanten sängt" und
„Ein Jesuit, wie er gegen unsre Bibel predigt", bis zu dem „Uebergang der
Armee zu dem Prinzen von Orange" und den „Porträts unsers gnädigen
Königs Wilhelm und Königin Mary".
Im Jahr 1692 wurde ein Versuch gemacht, der beweist, daß man anfing,
den Werth der Publizität für Geschäftsangelegenheiten zu würdigen. Es warb
eine Zeitung begründet: „Der City Merkur, gratis herausgegeben für die Be-
förderung des Handels", die sich zwei Jahre behauptete und nichts als An¬
zeigen enthielt. Der Verleger vertheilte wöchentlich tausend Exemplare an die
damaligen Hauptpunkte des Verkehrs, Kaffeehäuser, Tavernen und Buchläden.'
Indeß ein Versuch, der selbst in der Zeit fehlgeschlagen ist, wo „Times" mit
doppelten Beilagen erscheint, konnte damals noch weniger gelingen: es ist
vielmehr zu bewundern, daß das Interesse an Anzeigen bereits groß genug
war, um dem City Merkur so lange das Leben zü fristen.
In derselben Zeit ward ein Versuch gemacht, die gedruckte Zeitung mit
dem ältern schriftlichen Bericht über Neuigkeiten zu comviniren. Das alte Ge¬
werbe der schriftlichen Berichterstattung blühte auch nach der Begründung der
Zeitungen noch lange fort; natürlich war es in, einer Zeit der Unruhe und
Aufregung sicherer, Nachrichten über die Tagesereignisse schriftlich als mündlich
mitzutheilen, um so mehr, als viele solche Berichte von leidenschaftlichen Partei¬
gängern abgefaßt wurden. Die Cavaliere schlangen oft ihre Briefe, wenn sie
gefangen genommen wurden, herunter; und noch eristiren einige von Prinz
Rupert, auf denen tiefe rothe Flecken von der verzweifelten Anstrengung zeigen,
mit der ihr Träger sie zu vertheidigen suchte. Nach der Revolution fing die
Abstattung schriftlicher Nachrichten als Gewerbe an zu verschwinden, ovwol
noch im Jahr 1709 die Redaction der „Abenbpost" ihre Leser erinnert, „baß
für schriftliche Nachrichten drei oder vier Pfund jährlich zu bezahlen sind."
Denn noch immer erfüllten die Zeitungen nicht den Zweck ihrer Bestimmung,
der für die Leser in den Provinzen ein Hauptzweck war: das politische und
sociale Geklatsch des Tages mitzutheilen. Diesem ohne Zweifel lebhaft gefühl¬
ten Bedürfniß verdankt ein Plan, die alte und neue Methode zu comviniren,
seine Entstehung, der in der „.fliegenden Post" von 1694 folgendermaßen
Angekündigt wird. ,,Wenn Herren beabsichtigen, ihre Freunde oder Correspon-
denten in der Provinz durch den Bericht über die öffentlichen Angelegenheiten
Zu verpflichten, können sie dies für zwei Pence durch I. SaluSbury in der
aufgehenden Sonne zu Cornhill, auf einem Blatte guten Papiers, wovon die
Hälfte weiß ist und worauf sie ihre Privatgeschäfte oder die wesentlichen Tages-
neuigkeiten schreiben können." Man sollte glauben, daß es die Pflicht der
Redaction gewesen wäre, „die wesentlichen Tagesneuigkeiten" mitzutheilen;
vermuthlich war dies eine Veranstaltung, deren sich besonders die Jacobiten
bedienten, um Nachrichten durch die Post in Umlauf zu bringen, ohne den
Verleger zu compromittiren. Solche Blätter, halb gedruckt, halb geschrieben,
bewahrt das britische Museum noch in großer Anzahl.
Sonderbar ist es, daß die Zeitungen nicht früher zu Theateranzeigen be-
nutzt worden sind. Die erste ist vom Jahr 1701, eine Annonce, des Lincolns
Jnn Theaters in der „englischen Post". Aber schon wenige Jahre nachher
folgen die größern Häuser diesem Beispiel, und die,Blätter enthalten nun
regelmäßige Verzeichnisse sämmtlicher Aufführungen., Im Jahr -1709 erschien
der berühmte „Plauderer" (wtlor), welchem der „Zuschauer" und „Wächter"
(Kuaiclian) schnell folgten. Die erste Ausgabe des Plauderers enthielt An¬
zeigen, wie eine gewöhnliche Zeitung, welche die Moden des Tages und die
Thorheiten der Aristokratie außerordentlich deutlich wiederspiegeln. Hier zeigt
sich besonders die Manie für Lotterien. Alle Arten von Gegenständen wurden
so veräußert. „Eine Sechs-Pence-Lotterie von Spitzen", „Hundert Pfund für
eine halbe Krone", „Ein Penny Einsatz für eine große Pastete", „Drei Pence-.
Lotterien von Häusern", werden angekündigt, Kutschen, Handschuhe, Brillen,
Chocolade, ungarisches Wasser, indische Waaren, Fächer auf diese Weise los¬
geschlagen. Dies Fieber, das zehn Jahr später den berühmten Südseeschwin¬
del erzeugte, wurzelte in der Restaurationszeit, erreichte seine Blüte unter
Anna und zeitigte seine Früchte unter Georg l.
Im Anfange des achtzehnten Jahrhunderts kam das Boren auf. Bis zur
Zeit Georg I. scheint die „edle Kunst der Selbstyertheidigung" in der geschick¬
ten Handhabung der Klinge bestanden zusahen. Folgende Anzeige (von 170-1)
ist charakteristisch für den» Geist der Zeit. „Eine Kunstprobe (trM ok sKM)
ausgeführt in seiner Majestät Bärengarten, am nächsten Donnerstag, zwischen
folgenden Meistern: Edmund Button, Meister der edlen Wissenschaft der Ver¬
theidigung, der kürzlich Herrn Hasgit und den Kämpfer des Westens nieder¬
gehauen hat, und vier andre außerdem, und James Harris aus Her-
fordshire, Meister der edlen Wissenschaft der Vertheidigung, der um 98 Preise
gefochten hat und niemals überwunden worden ist, mit den gewöhnlichen Waffen,
präcise zwei Uhr Nachmittags." Aber die Barbarei der Zeit, in der ein Klopf¬
fechter sich rühmte, sechs Menschen niedergehauen zu haben, warb womöglich
noch durch die der folgenden übertroffen, die die Faust an die Stelle der Klinge
setzte und Weiber statt Männer in den Kreis treten sah. Sonderbarerweise
fanden grade die frühesten Borpartien, von denen Nachrichten eristiren, zwischen
Kämpfern statt, die dem schönen Geschlecht angehörten. In einer Zeitung von
-1722 steht folgende Herausforderung. „Da ich, Elisabeth Wilkinson von Cler-
kenwell, mit Harras Hysield Streit gehabt habe und Genugthuung verlange,
lade ich sie ein, mich aus der Bühne zu treffen, um mit mir um drei Guineen
zu boren: jede Frau soll eine halbe Kron in der Hand halten, und die erste,
die das Geld fallen läßt, verloren haben." Dies war ein geistreiches Mittel,
um das Kratzen §u verhindern. Die Herausgeforderte antwortete wie folgt:
Ich, Harras Hyfield von Newgate Market, habe von der Entschlossenheit von
Elisabeth Wilkinson gehört, und werde, wenn Gott will, nicht verfehlen,
ihr mehr Schläge als Worte zu geben. Ich verlange tüchtige Schläge und
keine Gunst von ihr, sie mag sich gefaßt machen, ordentlich gepufft zu werden.
Eine andere Herausforderung, aus dem Jahr 1728, ist noch merkwürdiger.
Anna Field, Eseltreiberin, „wohlbekannt durch ihre Geschicklichkeit im Boren
zu ihrer Selbstvertheidigung" fordert Mrs. Stokes „genannt die europäische
Kämpferin", von der sie beleidigt worden ist, zu einem Boren um zehn Pfund
heraus. Die europäische Kämpferin entgegnet, das) sie zwar in dieser Weise
keinen Kampf bestanden habe, seit sie vor sechs Jahren mit der berühmten
Borerin von Billingsgate 29 Minuten gehört und einen vollständigen Sieg er¬
rungen; sie wolle jedoch die Ausforderung annehmen, und zweifelt nicht, daß
die Schläge, die sie der andern Dame ertheilen wird, für dieselbe schwerer zu
verdauen sein werden, als irgend welche, die sie ihren Eseln ertheilt hat. Andre
Anzeigen dieser Zeit beziehn sich auf Hahnenkämpfe, die manchmal die Woche
durch dauern sollen, Stierhetzen, wobei die Stiere mitunter durch Feuerwerk
rasend gemacht wurden, um dann von Hunden zerrissen zu werden. Man
erinnert sich an Hogarths Darstellungen solcher Scenen. Von solcher Bru¬
talität war sogar die Galanterie der Zeit nicht einmal frei. Im allgemeinen
Anzeiger von 1748 wird eine Dame, die am letzten Dienstag im Covent-
gardenschauspielhause war, und daselbst einen Schlag mit einem Stück
Holz empfing, aufgefordert, falls sie unverheirathet ist, den Einsender an
einem bestimmten Orte zu treffen, um „etwas zu erfahren, das sehr zu ihrem
Vortheil ist, und zwar in allen Ehren, indem ihre Bereitwilligkeit ihrem ge¬
horsamsten Diener zum dauernden Vergnügen gereichen würde." Dieser Lieb¬
haber mußte, wie es scheint, zu der angegebenen Annäherungsweise seine Zu¬
flucht nehmen, um einen Eindruck zu machen, und, fühlte sich dann veranlaßt,
auf seine Art die Ehrenhaftigkeit seiner Absichten zu versichern, um ein Rendez¬
vous mit der Dame herbeizuführen. Zu der Rohheit und Verdorbenheit der
damaligen Sitten trug die Liederlichkeit des Hoff unter den beiden ersten
Georgen bei, noch mehr aber die Laxheit der Ehegesetze. Eine Kapelle in
Mayfair und eine im Fleck waren die Gretnagreens dieses Zeitalters, wo sich
Kinder zu jeder Tages- und Nachtstunde sür ein paar Kronen trauen lassen
konnten. Man.sagte, daß in dem ersten dieser „Heirathsläden" jährlich
600 Personen getraut wurden. Man kann sich die Folgen dieser Art die Ehe
einzugehn vorstellen. Die Zeitungen von der Thronbesteigung des Hauses
Braunschweig an bis zu Georg lit. sind gefüllt mit Anzeigen von Ehemännern,
die das.Publicum warnen, ihren weggelaufenen Frauen Credit zu geben. Neben
diesen schönen Flüchtlingen werden fortwährend weggelaufene Neger annoncirt:
der Geschmack an Farbigen scheint auf England von Venedig übergegangen zu
sein, das sie in der neuern Zeit wol zuerst durch seine Verbindung mit Afrika
und Indien in Europa einführte.
Im Jahr-I7i6 wurde der allgemeine Anzeiger (Keneritl aüvczrtiser) begrün¬
det, drr erste erfolgreiche Versuch, ein Blatt ausschließlich mit Ankündigungen
zu füllen. Seine Spalten, in denen die Annoncen nach Classen geordnet und
durch Striche abgetheilt sind, sind die ersten, die einen modernen Anstrich haben.
Regelmäßig ist die Abfahrt von Schiffen angekündigt, und diese altmodischen
Fahrzeuge segeln in grader Linie die Spalte nieder. Endlich hatten die Handels¬
angelegenheiten die Oberhand gewonnen. Noch immer gibt es Erkundigungen
nach einem „scharlachnen Schnurrock", einem „Degen" u. s. w.; auch die
Theater kündigen sich an (es war der Anbruch der Zeit, welche die größten Schau¬
spieler Englands auf der Bühne sah), aber im Vergleich zur Vergangenheit
hören die Lustbarkeiten und Thorheiten der Stadt nun auf, sich durch das
Medium von Annoncen bemerkbar zu machen. Das große Erdbeben von
Lissabon erregte einen solchen Schreck, daß Maskeraden gesetzlich verboten wur¬
den. Auch Puppentheater, Seiltänzer, Auctionen von Chinaporzellan und
öffentliche Frühstücke sangen nun an seltner zu werden, da die Ladies Betty
und Sally und wie sie sonst hießen, die diese Vergnügungen patronisirten, sich
verschrumpft, verwelkt und mit Schönpflästerchen beklebt von der Bühne zu¬
rückzogen. Die Aeußerungen des politischen Geistes, so weit sie sich in Anzeigen
bemerkbar machen, beschränken sich aus Zweckessen, z. B.: „Halbmondtaverne,
Cheapside. Nächsten Sonnabend am 16. April, als am Jahrestag der ruhm¬
reichen Schlacht von Culloden, werden „die Sterne" sich im Mond um sechs
Uhr Abends versammeln. Deshalb werden die auserlesenen Geister ersucht
sich einzufinden und das Vergnügen vollständig zu machen. Endymion."
Fünfundzwanzig Jahr nach diesem Datum waren die meisten der noch be¬
stehenden Morgenblätter bereits begründet, und da ihre für Annoncen be¬
stimmten Spalten den gegenwärtigen schon sehr ähnlich sehn, so würde es kein
Interesse haben, sie im Detail zu verfolgen. In unserm Jahrhundert begann
die Kunst der Anzeigen ihre Höhe zu erreichen. Packwood, der vor einigen
30 Jahren seine Streichrieme für Rasirmesser so unauslöschlich in Den Geist
jedes bärtigen Individuums der drei Königreiche prägte, war der Führer in der
Bahn. Er gab auf die Frage nach dem Verfasser seiner Annoncen die be¬
rühmte Antwort: „Nun Herr, wir halten einen Dichter!" Doch die Palme in
der Kunst des Puffs wird einstimmig dem verstorbenen George Robins zu¬
erkannt, seine Anzeigen waren in der That künstlerisch geschrieben, es war
Genialität darin^ Einst hatte er die Schönheiten eines Landsitzes als so be¬
zaubernd geschildert, daß er nöthig fand, seine Schilderung durch irgend einen
Fehler zu entstellen, damit das beschriebene Paradies nicht für diese Welt zu
schön gefunden würde. „Aber, seufzte dieser Hafis des Geschäfts, es sind zwei
Schattenseiten dabei, daß der Boden zu dick mit Rosenblättern bestreut ist und
die Nachtigallen zu viel Lärm machen." Mit ihiü starb die Poesie des Puffs.
Er hatte freilich unverächtliche Nachahmer. Auch illustrirte Puffs wurden vor
20 Jahren in die Zeitungen aufgenommen. Allbekannt ist der Holzschnitt von
George Cruikshank, wo die erstaunte Katze sich in dem Stiefel spiegelt, der mit
der angepriesenen Glanzwichse von Warren gewichst ist. Doch in unsern Tagen
erst Hut es sich völlig herausgestellt, was unumschränktes Vertrauen auf die
Macht der Annoncen für Wirkungen hervorbringt. Die folgenden Summen,
die von den kühnsten Geschäftsleuten für diesen Posten jährlich ausgegeben
werden, müssen auch die gesteigertsten Vorstellungen übertreffen. „Professor"
Helloway (Pillen u. tgi.) 30,000 Pfund Sterling, das Kleidermagazin von
Moses und Sohn 10,000, Rowland und Co. (Makassaröl u. tgi.) 10,000 u. s. w.
Es scheint unglaublich, sagt der englische Referent, daß el.n Haus im Stande
ist, für die bloße Anpreisung von Quacksalbereien eine Summe auszugeben,
welche dem Einkommen manches deutschen Fürstenthums gleichkommt. Die
Presse hat trotz ihres riesigen Wachsthums in den letzten Jahren in ihrem Ge¬
biet nicht mehr Raum genug für den reißend anschwellenden Strom des Puffs.
Omnibusse, Cabs, Eisenbahnwagen und Dampfboote werden von ihm über¬
flutet. Madame Tussaud bezahlt der Atlasomnibuscompagnie 90 Pfund monat¬
lich für das Recht, ihre Zettel in deren Wagen anzukleben. Sie werden mit
Tinte aus das Steinpflaster geschrieben, in großen Buchstaben unter die Brücken¬
bogen und auf jede Preis gegebene Mauer gemalt. Die Emissäre von Moses und
Sohn lassen ganze Bibliotheken in die Fenster der Wagen regnen, die von
den Bahnhöfen kommen, und die Krone von allem ist, daß Warrens Wichse
über eine verwitterte Inschrift auf der Säule des Pompejus, bezüglich auf
Psammetich, gemalt ist, wie Thackeray in seiner Reise von Cornhill nach Kairo
erzählt.*)
Einige Angaben über die Zahlen der Annoncen in „Times" werden nicht
unerwünscht sein. Am 24. Mai 185S enthielt sie in ihrem gewöhnlichen
Format 2573. Darunter waren 129 Schifföanzeigen, mit Bestimmungen für
jeden Hafen in allen Welttheilen. In der endlosen Rubrik „Gesucht" waren
i29 Dienstgesuche, von der genteelen Kammerjungfer od.er der „ausgelernten"
Köchin, die nur solche Dienste anzunehmen geruhen will, wo zwei männliche
Diener gehalten werden, bis zu der demüthigen Spülmagd. In einer andern
Spalte werden die Hämmer von 136 Auctionen geschwungen; wieder eine
andre enthält die Anzeigen von 193 Büchern, von denen viele „in keiner Pri¬
vatbibliothek fehlen sollten", wie die Verleger versichern. 378 Häuser, Läden
und Etablissements werden angeboten, und l^i- Vorsteher und Vorsteherinnen
von Kosthäusern, „Damen, die mehr Raum in ihren Wohnungen besitzen, als
sie bedürfen", machen genteele Anerbietungen von Pensionaten. Ebensoviel
Lehrer und Lehrerinnen wünschen Beschäftigung. Für das Haar, die Haut, die
Füße, die Zähne und den inwendigen Menschen wird die freundliche Behand¬
lung von 36 „Professoren" angeboten, welche unfehlbare Mittel für alle Uebel
besitzen, denen das Fleisch anheimgefallen ist. Den Rest füllen die Ausrufe
von den verschiedensten Geschäftsleuten, deren Stimme sich aus allen Spalten
wie die der Verkäufer auf einem Jahrmarkt erheben. Mitten in diesem Ge¬
wühl und Getreide ertönen herzzerreißende Laute aus der Tiefe der Seele,
Ausbrüche von Unwillen, werden leidenschaftliche Thränen vergossen. Hier
sucht ein Vater seinen Verlornen Sohn und möchte ihm um den Hals fallen,
eine Mutter mit gebrochenem Herzen fordert ein entlaufenes Kind zur Rückkehr
auf, eine verlassene Gattin sucht nach ihrem Gefährten. Liebende, die ihre
Empfindungen vor widrigen Verwandten verbergen müssen, correspondiren in
räthselhaften Inseraten oder in Ziffern. Ernstgemeinte und mystificirende Ehe¬
gesuche wechseln miteinander. Ein schöner junger Mann von guter Familie,
gewöhnt sich in den höchsten Sphären der Gesellschaft zu bewegen, ist in einer
verzweifelten Lage, eine reiche Heirath ist für ihn der einzige Ausweg. Das
Inserat ist von einem seiner Freunde gemacht. Seine Dankbarkeit würde
grenzenlos sein. Die Anzeige ist „an Mädchen von Vermögen" gerichtet;
schlechte Witze werden verbeten. Ein ländlicher Witwer von 63 sucht eine
solide Frau, die, wenn sie will (it öde lites) i0 —SO Jahre alt sein kann. Er
hat fünf Kinder und wünscht keine zweite Familie. „Eine brave Frau würde
den Vorzug erhalten, die zugleich die Schweine in Acht nehmen könnte." Ein
junger Mann, im Begriff nach Südaustralien auszuwandern, möchte sich zuvor
mit einer Dame verbinden, die das Putzmachen und Schneidern versteht und
60—100 Pfund besitzt. Noch eine Anzahl von charakteristischen Annoncen ist
aus verschiedenen Jahrgängen von „Times" gewählt. Ein Mann bietet sich
als Diener an, der sich in der besten und der schlechtesten Gesellschaft bewegt
hat, ohne von einer von beiden angesteckt zu sein, er ist nie ein Diener ge¬
wesen, ist moralisch, mäßig, in mittlerem Alter, kennt seine Stellung, jeder Theil
der Welt ist ihm gleich. Er kann einem Kapitalisten behilflich sein, sein Ein¬
kommen zu vermehren. Er kann Secretär oder Kammerdiener bei jeder Dame
und jedem Herrn sein. Er kann Rath geben und schweigen, singen, tanzen,
spielen, fechten, boren, eine Predigt halten, eine Geschichte erzählen, ernst und
munter, komisch und erhaben sein, und überhaupt alles thun, vom Kräuseln
einer Perücke bis zum Stürmen einer Festung, aber niemals um seinen Herrn
zu übertreffen, (Times 1830). — Unter dem Titel „Des mächtigen Engels
mitternächtiges Gebrüll" kündigt ein Prophet den Untergang der Welt auf
einen bestimmten Termin, nach Daniel 8, ö—12 an, und da dieser eintritt,
ohne daß die Prophezeihung sich erfüllt, erklärt er, sich um ein Jahr verrechnet
ZU haben (1851). Eine Dame sucht bei einem Witwer oder einzelnen Herrn
eine Stelle, wo sie den Haushalt beaufsichtigen oder bei Tische Präsidiren will.
Sie ist angenehm, hübsch, sorglich, wünschenswerth Engländerin, witzig, generös,
— nun folgen noch 20 Epitheta, worunter „philosophisch, ruhig und ranthip-
Pisch, eisersüchtig". Die Würde und der Titel eines Barons sind für die un¬
beträchtliche Summe von 1000 Pfund zu verkaufen. Eine junge Dame hat
die Leidenschaft, ihr Zimmer mit Briefmarken zu bekleben; 16,000 hat sie be¬
reits durch die Güte ihrer Freunde zusammengebracht, die aber nicht hinreichen,
sie bittet „gutmüthige Personen" um Beiträge. Für ein Sommertheatcr und
eine wandernde Truppe werden eine erste Liebhaberin, ein singendes Kammer¬
mädchen, ein ersterer, niederer Komiker u. s. w. gesucht. Folgendes ist wört¬
lich. „Gesucht. Mann und Frau, um ein Pferd und eine Milchkammer zu
beaufsichtigen, von religiöser Richtung ohne sonstige Obliegenheit?'
Die Buntheit der Timesannoncen ist nicht minder erstaunlich als ihre
Menge. Ein dünner Strich trennt eine Aufforderung zu einem Darlehn von
Millionen von dem traurigen schwachen Ruf der Frau „aus gebildetem Stande",
die in einer Kinderstube Dienste ^thun will, „um eines, Obdachs willen". Feurige
Liebe erhebt ihre Stimme dicht neben der Anzeige einer Neuangekommenen
Ladung lebendiger Schildkröten oder der Adresse eines WanzenvertilgerS'. Die
arme Dame, die Boarders aufzunehmen wünscht,.„blos um der Gesellschaft
willen" findet ihr Gesuch an der Seite einer Prophezeihung, die alle Gesell¬
schaft überhaupt in Frage stellt, nämlich, daß die Welt in der Mitte des näch¬
sten Monats enden muß. Oder der Leser wird benachrichtigt, daß er für die
Einlage von 12 Postmarken erfahren kann, „wie man sein Glück macht", neben
dem Versprechen von 300 Pfund für den, welcher dem Einsender eine An¬
stellung verschafft. Times, sagt der englische Referent, spiegelt jedes Bedürfniß
wieder und appellirt an jedes Motiv, das aus unsre complicirte Gesellschaft
einwirkt. Und warum das? Weil sie überall ist, wie der Sperling oder die
Haussiiege. Der Portier liest sie in seiner Loge, der Herr in seinem Studir-
zimmer, der Luftfahrer nimmt sie in die Wolken mit, und der Kohlengräber in
die Tiefe seiner Mine; der Handwerker an seiner Bank/ der Goldgräber in
seinem Loch, der Soldat im Laufgraben brüten über ihren breiten.Blättern.
Sie ist das nationale Blatt von England psr exce-IIenos. In dem Zimmer
der Redaction zeigt man eine sonderbare Figur, die durch eine unregelmäßige
Linie die Höhe deS Absatzes Tag für Tag und Jahr für Jahr angibt, und
die Strömungen der politischen Stimmung und den Druck, der öffentlichen Anf¬
ügung so genau markirt wie ein Barometer die atmosphärischen Veränderungen.-
I8i5 setzte sie täglich 23,000 Exemplare ab; am 28. Januar.18i6, wo der Be¬
richt Pxxls über die Korngesetze erschien, stieg sie aus öl,000 und fiel dann
wieder auf das gewöhnliche Niveau. Sie begann 18i8 mit 29,000 und stieg
am 29. Februar auf 63,000. 1852 war der Durchschnitt am Anfang 36,000
und die größte Höhe erreichte der Absatz am 19. November durch den Nekrolog
des Herzogs von Wellington. Jetzt M ihr täglicher Absatz bereits auf
60,000 Exemplare gestiegen I Diese ungeheure Zunahme ist die Ursache der ent¬
schiedenen Richtung der Anzeigen nach ihren Spalten. Indessen sind ihre
Mittel so groß, daß sie ohne Schaden einen bedeutenden Theil des dadurch
bedingten Einkommens opfern kann. Im Jahr 18i5, als die Eisenbahnmanie
auf ihrer Höhe war, war das Anzeigcblatt der Times mit Bahnprojecten
überschwemmt, und die Tageseinnahmen für Annoncen, die am 6. September
2839 Pfund 1» Schilling betragen hatte, stieg am-18. October auf 6687 Pfund
4 Schillinge. Aber während dieser selben Zeit brachte das Blatt dauernde
Leitartikel gegen den Schwindel in seinen eignen Annoncenspalten; die Folge
war, daß die Tageseinnahme für Annoncen «in 1. November bereits auf
3230 Pfund 6 Schillinge 4 Pence gefallen war.
Wenn die Times der universelle englische Anzeiger ist, wenden sich andre
Zeitungen mit ihren Anzeigen an bestimmte Classen, wie Morning Post an
die Aristokratie, Dells Life an die Liebhaber von Sports, das Athenäum an
die literarische Welt u. f. w. Die Jllustrated News haben unter den Wochen¬
blättern den höchsten Absatz: 170,000 Eremplare. Im Jahr 1851 erschienen
in den drei Königreichen überhaupt 2,336,593 Annoncen in den öffentlichen
Blättern, und diese Zahl hat seit Aufhebung der daraufgelegten Steuer be¬
deutend zugenommen. Die Jnsertionsgebühren sind am geringsten in Times
und Eraminer, am höchsten in der Jllustrated News.
Vürr8 Lolieetion ok ^meriesn sul-hors. l.lip7.ig, ^. Dürr. —
In der amerikanischen Literatur beginnt seit einigen Jahren ein ungemein
reiches Leben. So viel Leser auch die Zeitungen und Broschüren absorbiren,
um der Nachdrücke und Uebersetzungen nicht zu gedenken, so behauptet doch
auch die ursprüngliche Phantasie ihre Rechte, und wenn die Nachbildung der
europäischen Dichtkunst eine große Rolle spielt, so treten doch regelmäßig
Elemente ein, die man als specifisch amerikanisch bezeichnen muß. Den aus¬
gedehntesten Umfang nimmt der Tendenzroman ein, bei welchem die religiöse
oder politische oder auch volkswirthschaftliche Färbung den novellistischen Inhalt
fast ganz zurückdrängt. Einen wie ansehnlichen Umfang diese Literatur ein-
nimmt, kann man schon aus den deutschen Uebertragungen entnehmen, die bei
Kollmann erscheinen und die eine mäßige Bibliothek vollständig ausfüllen
würden.
Zu einer ganz andern Classe gehören diejenigen Dichter, denen wir in
der gegenwärtigen Bibliothek begegnen. Während in den Romanen die posi¬
tive Ueberzeugung in Bezug auf Staat und Kirche mit einer dogmatischen
Sicherheit auftritt, verlieren wir uns hier in die Nebel des Skepticismus, in
das bunte Traumland der romantischen Phantasie. ES ist eine Reihe stiller,
träumerischer Denker und Dichter, die ihre geistige Nahrung mehr in Deutsch¬
land, als in der Heimath geschöpft haben, und die anscheinend einen unbedingten
Gegensatz gegen den Volkscharakter der nordamerikanischen Freistaaten bilden; und
doch werden sie mit Eifer gelesen, ja man kann sagen, verschlungen. Es ist
also nicht eine Erscheinung, die dem Zufall angehört, sondern die eine wesent¬
liche Gemüthsrichtung in der Entwicklung des amerikanischen Charakters be¬
zeichnet. In dem Leben und Treiben der Menschen herrscht der Materialismus,
die Selbstsucht und der harte endliche Verstand in einer schrankenlosen Aus¬
dehnung, und doch scheint allmälig das Gefühl der Leere einzutreten, man sehnt
sich nach etwas Geistigen, nach einem Glauben oder auch nur nach einem
träumerischen Ideal, um sich selbst und den Mechanismus des irdischen Trei¬
bens zu vergessen.
Von Longfellow, dem bedeutendsten Dichter dieser Richtung haben wir
schon in einem frühern Artikel eine kurze Schilderung gegeben. Es ist seitdem
von ihm ein neues Werk erschienen: ^lie sonx ok Uianatlla, welches bereits
von Adolf Vöttger (Leipzig, F. L. Herbig) ins Deutsche übersetzt ist. Die
Uebersetzung verdient unbedingtes Lob, der poetische Ton des Originals ist
richtig getroffen, ohne daß der deutschen Sprache irgendwie Gewalt angethan
wäre. Freilich kommt dies Mal.das Original dem Uebersetzer zu Hilfe, denn
ist durchaus deutsch gedacht und ohne die herderschen Bearbeitungen spani¬
scher Romanzen wäre Longfellow wahrscheinlich ebensowenig auf diese Form
gekommen, als auf die Herameter der Evangeline, wenn er nicht vorher Her¬
mann und Dorothee studirt hätte. Das Original hat außerordentlichen Bei¬
fall gefunden; es sind, wie wir hören, in Amerika binnen zwei Monaten zwölf¬
tausend Exemplare verkauft worden. — Der Gegenstand ist der wunderlichste,
den der Dichter bisher bearbeitet. Es sind, wie er im Prolog andeutet, reli¬
giöse Stammsagen der Indianer, die er in den Zusammenhang einer epischen
Dichtung verwebt hat. Indeß glauben wir nicht mit Unrecht zu vermuthen,
daß von dem Indianischen nicht viel übriggeblieben ist, als die barbarischen
Namen und einige groteske Bilder, und wir würden deshalb davor warnen,
die Mythologie der Indianer aus diesem Gedicht studiren zu wollen. Die
Figuren haben keine merkliche Consistenz; bald sind es Götter, bald Winde,
bald Menschen, das geht alles bunt ineinander über und man kommt zu keiner
klaren Anschauung. Aber als übermüthiges phantastisches Spiel hat das Ge¬
dicht einen großen Werth und man wird von den träumerisch verworrenen
Bildern angezogen, auch wenn man sie nicht'festzuhalten vermag. — Zu An¬
fang kommt der große Geist auf die Erde nieder, bricht von einem rothen Felsen
ein Stück ab, woraus er einen Pfeifenkopf formt, nimmt dazu ein Schilfrohr
und fängt an zu rauchen; der Rauch steigt allmälig immer höher, bis er an
den Himmel anstößt und von da ab langsam über die Berge und Wälder hin¬
abrollt. Die Stämme vernehmen den Ruf ihres Herrn , sie erscheinen vor
seinen Augen, werfen ihren Kriegsschmuck ab und rauchen die Friedenspfeife.
Er ermahnt sie zur Einigkeit und verspricht ihnen einen Retter zu schicken und
nun fängt jenes Gemenge von Göttern und Winden an, das uns an die
Herennacht in Atta Troll erinnert, wo die Eisbären mit den Gespenstern einen
Tanz ausführen. Von den Kämpfen des Gottes Hiawatha in den verschiede¬
nen Gebieten der Natur wollen wir schweigen und nur auf den Kampf mit
dem König der Fische hindeuten, den Stör, der den Gott mit sammt dem
Kahne, auf welchem dieser sitzt, verschlingt.
In die sanfte Höhlung nieder
Tauchte Häuptlings Hiawatha,
Wie ein Stamm am schwarzen User '
Niederschießt in wilde Strömung;
Fühlt vom Dunkel sich umgeben,
Tappt umher erschreckt und staunend,
Bis er in dem tiefen Dunkel
Einen mächtgen Herzschlag fühlte.
Und in seinem Zorne schlug er
Mit der Faust das Herz des Fisches,
Fühlt' der Fische macht'gen König
Durch die Fiebern all erbeben,
Hört' das Wasser um ihn gurgeln,
Wie er wälzend es durchtaumelt,
Matt und schwach und krank am Herzen. — -—Wieder schnappt' der Stör im Wasser .
Und erbebte, ward dann ruhig,
Trieb ans Land und knirscht' an Kieseln.
Hiawatha hört' ihn lauschend
An des Flusses Ufer knirschen,
Fühlt' ihn aus den Kieseln stranden,
Wußte, daß der Fische König
Todt dort lag am Flußgestade.
Und er hört' darauf ein Schwirren
Wie von vielvereinten Flügeln,
Hört' ein wild verworrnes Schreien,
Wie wenn Raubgevögel streitet,
Eines Lichtes Schein erglänzen
Sah er durch des Fisches Rippen,
Sah der Möven Angen glitzern,
Durch die Oeffnung .aus ihn schauend,
Hört', wie sie sich sagten: „Seht hier
Unsern Bruder Hiawatha!"
Die Möven machen den Spalt mit den Krallen etwas weiter und so wird
Hiawatha aus dem Leib des Fisches befreit. Eine gewisse poetische Naturkraft
wird man in diesen und ähnlichen Schilderungen nicht verkennen.
Der zweite in der Reihe amerikanischer Dichter ist Nathaniel Haw-
thorne. Er wurde 4809 zu Sälen im Staat Massachusetts geboren und trat
in eine socialistische Gesellschaft, LrooK-ehren, ein, die aber bald Bankrott machte,
worauf er sich in die Literatur warf. Zuerst gab er eine Reihe von Skizzen
und kleinen Novellen heraus, die unter dem Titel: l'wiLstolü wieg und No3hos
kron .an viel man8<z 1837, 1842 und 1846 gesammelt wurden. In den
meisten dieser Erzählungen herrscht trotz lebhafter sinnlicher Anschauung ein
zarter Mysticismus; man wird zuweilen an Hoffmann erinnert, doch besitzt der
amerikanische Dichter eine viel größere Bildung und geht von umfassenden
allegorischen Perspektiven aus. Er hat diese Art Dichtung noch später sort¬
gesetzt, z. B. in der Novelle: „das Schneebild", (1862) und zwar mit stets
gesteigerter Mystik. Einen allgemeinen Anklang fanden die beiden Romane:
»der Scharlachbuchstabe^ und „das Haus mit sieben Giebeln" (1851). In
dem ersten wird das Problem behandelt, inwieweit eine aus das Ehrgefühl
berechnete Strafe auf das Gemüth des Menschen einwirkt. Die Behandlung
ist zwar nicht erschöpfend und wird zuweilen durch mystische Ueberschwenglich-
keiten verwirrt, aber der Rahmen ist sehr poetisch, die Localfarbe vortrefflich
und die innere Wärme des Gemüths bricht zuweilen wohlthuend hervor. Der
Zweite Roman schildert den hundertjährigen Erbzwist zwischen einer aristokrati¬
schen und einer plebejischen Familie. Die künstlerische Gruppirung ist schwach,
an abenteuerlichen Erfindungen fehlt es auch nicht, und ein trüber, schwer-
müthiger Ton drückt die ganze Geschichte nieder; aber die psychologische Analyse
ist meisterhaft, und in einigen Genrebildern waltet ein bezaubernder Realis¬
mus.— Der letzte seiner Romane: Ite LUltwüg,1e Komanee, 1852, ist der
schwächste. Es sind die Erinnerungen an lZrooli-t'arm darin verwebt, aber der
unbefriedigende Ausgang dieses philanthropischen Versuchs macht sich auch in
ber poetischen Farbe geltend. In der einen der beiden Hauptpersonen, dem
fanatischen Philanthropen Hollingsworth ist folgende Moral durchgeführt. Der
Gesellschaft im Ganzen kann ein philanthropischer Beruf durch den energischen
Drang, der damit verknüpft ist, nützlich sein; für daS Individuum aber, dessen
herrschende Leidenschaft er in einen Kanal treibt, ist er gefährlich. Durch
einen unnatürlichen Proceß preßt er den Saft des Herzens zusammen und
verwandelt ihn in Gift, indem der eine leitende Gedanke alle andern Empfin¬
dungen des Gemüths zum Schweigen bringt. Die Heldin Zenobia, die in
der Liebe zu diesem rauhen Fanatiker untergeht, erinnert durch einige Züge an
Margarethe Füller, die geistvolle Frau, die gewissermaßen an der Spitze dieser
romantisch-skeptischen Schule steht. Sie ist aber mit poetischer Freiheit aus¬
geführt. Priscilla, das schwächere Weib, ist nur der Schatten dieser stolzen
Heroine. Wenn auch einzelne Züge der Leidenschaft in diesem psychologischen
Gemälde mit kühner Virtuosität ausgeführt sind, so ist in der Entwicklung
des Ganzen doch zu wenig Spannung, um ein bleibendes Interesse hervor¬
zurufen.
Ein junger Dichter, der ziemlich schnell einen ungewöhnlichen Ruf ge¬
wonnen hat, ist Donald Mitchell, der unter dem Namen Il. Marvel schreibt.
Er ist ums Jahr ^1823 geboren, der Sohn eines presbyterianischer Pfarrers,
machte 1848 eine Reise durch Europa und kehrte dann nach seinem Vater¬
lande zurück, wo er 1830 seine Kvveries ok a baodelor und ein Jahr darauf
sein vrsam Mo, g, istis ok ete si/asons herausgab. Es sind Skizzen, Re¬
flexionen, Beobachtungen, lyrische Phantasien u. s. w. bunt durcheinander,
voll Gemüth und Empfindung, wobei nur zu bedauern ist, daß das Bewußt¬
sein dieser Eigenschaften etwas zudringlich hervortritt. Der Stil erinnert am
meisten an Sterne, einigermaßen durch Washington Irving temperirt.
Ein höchst merkwürdiger Dichter ist Edgar Poe, sowol wegen seiner eig¬
nen eigenthümlichen Gemüthsrichtung, als wegen seines Erfolgs. Er war
1811 geboren, schon als Kind verwaist und von einem wohlwollenden Kauf¬
mann, Allan, adoptirt. In seinem fünften Jahre nahm ihn sein Adoptiv-
vater nach England mit, wo er bis 1822 blieb. Nach seiner Rückkehr zog er
sich durch das wüste Leben auf der Universität den Unwillen seines Pflege¬
vaters zu, der ihn früher sehr verzogen hatte, und wurde von ihm bei seinem
Tode enterbe. So war er darauf angewiesen, von literarischen Arbeiten zu
leben, und er hatte darin auch viel Glück. Schon 1833 gewann er mit einer
Novelle einen Preis; seit 1835 rissen sich alle Journale um seine Theilnahme,
die ausgezeichnet gut bezahlt wurde; aber er hatte sich dem Trunk ergeben und
führte ein so zügelloses Leben, daß es niemand lange mit ihm aushielt. Er
ging von einem Journal zum andern über, entzweite sich mit all seinen Freun¬
den und lebte häufig in der äußersten Noth. Trotzdem nahm sich die gute
Gesellschaft noch immer seiner an, bis er 1849 starb. Die Einzelnheiten, die sein
Biograph aus seinem Leben erzählt, erinnern auffallend an Grabbe, dem er
auch in Beziehung auf sein Talent sehr ähnlich ist, und könnten von unsern
Wcltschmerztheoretikern benutzt werden, ihre Doctrin weiter auszubilden, daß
Zügellosigkeit und Genialität immer zusammenfallen. — Seine Gedichte machen
einen seltsamen, im Ganzen häßlichen, unheimlichen Eindruck; aber sie sind
nicht ohne plastisches Talent und zeigen einen sehr entwickelten Sinn für
Melodie, wenn sich auch dieser zuweilen, wie in dem langen Gedicht: die
Glocken, in leere Lautspielereien verliert. Den meisten Ruf unter seinen Ge¬
dichten hat die Ballade: der Rabe. Sie wird in sämmtlichen Anthologien ab¬
gedruckt, und die neuromantische Schule Amerikas feiert in ihr die höchste
Blüte der Dichtkunst und eine neue Phase der Entwicklung. Wir finden in
ihr wol eine Virtuosität'des Reims, der wir aus der englischen Poesie nichts
Aehnliches an die Seite stellen können, daneben aber eine ganz unerhörte
Sinn- und Geschmacklosigkeit. Der Dichter sitzt im Zimmer in allerlei Ge¬
danken, ein Rabe kommt herein und krächzt den fortwährenden Refrain:
Nimmermehr! Der Dichter zerbricht sich den Kopf, was das zu bedeuten habe,
aber ohne es zu errathen, und so erfahren wir es ebensowenig. Diese Faselei
hat sechzehn Strophen, von denen wir als Probe die erste mittheilen.
proc upnn » mutui^in, clroar^, wliile I ponlleroll, oval »n6 «?e«r^,
Ovki' man^ a qiuiinl, auel ein'ion» ovinus c»f lorgolLon lors —
VVIiiliz l noctclocl, mehrt^ ngppinA, suctttonl;' llioro came i> t»sininF,
^Vs os some one Ahnt,!^ roppinA, rüppinge al^ cbambor door -—
-.'ub homo visilor/^ I mnttoreci, „tiinniiig »t eknmder cioor —
Ort^ U^is arti no^binx; mors."
Als Gegensatz gegen dies sinnlose Reimgeklapper heben wir ein zweites
Gedicht hervor: Ins concjueror vorm, welches trotz seines wüsten Inhalts
und seiner abscheulichen fratzenhaften Tendenz doch eine gewisse poetische Kraft
nicht verleugnet, denn seine gräßlichen Phantasiebilder entspringen aus der
Angst des Herzens.
I^c»! 'I,i8 .1 Aulii rigide
Willi!» tuo lonosamo I»t>or ^v-n'»!
unA<!l lui-onx, lxzwinßvll, boiliglil.
I» veils, »ni> «Irownucl in leurs,
8it^ in !> UisiUriz, w hev
^ ulu^ ot nopo-z unä to»rs,
WKitv et,o ^ orvkvslrs - Kreal-Ke» snsullx
't'Ko mu!?lo ot' tuo «nliorvs.Nimks, in tuo im-in ol" Va»et on Ili^Il,
UuUsr arti mumblN low,
^>la bitlior »mal Ul!U^>!r it^f —
Ali'ö mummei,« >.In^, ^vllo Lome an^l
^t liiclcling ot v»8t l'ormlv«« tliing«
'I'lind 8l>ne til« scenvrv to anii sro,
l^iinping iron orU tlioir Loiulor wing«
Invisidlv Wo!'I'Kat molle^ clram» — oll, ve sure
It sksll not Ko korgot!
Witii its ?I,i>nlom on»8va for voor, morv,
s crow6 tuae soll-L it not,
?'tuo?igli g oirclo tust voor rsturnetli in
?'o t>>e soll — sans suol,
^n«I muvlr ol Uaclnoss, »n<I woro ok 8in,
^mal Horror tlo 'soul of tuo plot.Lud SLö > mulet lng mirvio rout
^ Lili^'IinA skspe intrudo!
^ vloocl-rkll tliing eilst writkos trollt out
Zconio solituiio!
It vvriUios! — it wiitlios! — will morlsl nsng«
'I'Ko mimo5 Izeeoma its kooci,
^mal tus sngels soll i»t voi'min sungs
In numiin Zol-ö iwouod.Ont — out uro tuo liZIits — out i>!I!
^Vnii, voor vam quivoring form,
Ins euitilin, a sunersl pulk,
t^omos clourn >viel tke rasli ol' u storm,
^Nit tuo onFolü, i>11 NAlIicl »mal ^v»n,
Uprising, unveiling, uksirm
'1'Iiat tuo olu^ i» elle trugsclf, „Umi,"
^ut its dkro tke ^onsjuerol' Worin.*)
Der schauerliche Ton dieses Gedichts geht durch alle übrigen. Zuweilen
erhebt sich der Dichter zu der Trauer über ein bestimmtes Weh, in der Regel
ist es aber nur das Grauen vor der Vernichtung, daS alle seine Nerven in
fieberhafte Spannung versetzt. Selbst wo ihm einmal ein freundliches Bild
entgegenlacht, breiten sich bald die Nebel des Todes darüber, und die Hölle
mit ihren fratzenhaften Gestalten drängt sich in das Reich des Lichts. So in
Ulalume, der Geisterpalast (Me n^roa pat-ioe), die Stadt in der See, das
Traumland, JSrasel u. s. w. Wir führen nur noch eins an, um zugleich auf
die metaphysischen Extravaganzen des Dichters hinzudeuten.
IIiei-L !»K son<z sjnsliliss — S0M6 meorporiU« tlnngs
IKst Kavo .1 cloulils Ule, wbieli um« is in»<le
> t^i<z ol du.it loin einen^ wkieli spring«
ki'ron mattcir -ma ii^de, ovineecl in soli«! »ni Staat«.
liiere is a tvvo-total Silence — sea ->uti skoro —
Le>l>7 fuit soal. 0no clwslls in lonel^ pi-et-os,
?1e>öl^ widu -^i'öff o'öl-gi-voor; suae solenn xi-Sees,
8ome Iiumim momarios orei te.irsul loro,
Kender Ma torrorloss; Iiis unent's „»lo »höre".
lie is tlro eorporato Lilonee: clieaä Kien not!
powoi- Ir.itK >><z ol von in Iiimssll;
LiU slmulcl some>. ni-gelte fato (untimely tot!)
Lring tuot ta MLLt Kis sliaclovv (namoless c-it,
IK»t Il-mntLll, elf lo^e rsgions wliore Iiatn trou
tout os nur,) enmmcincl tnvsels to Koa
Unheimlich genug sind auch die Erzählungen Cr-ales okmMsr^); doch macht
sich darin noch eine andere Eigenschaft geltend, ein ganz sonderbarer, ins Detail
eingehender Pragmatismus. So hat die längste dieser Erzählungen: der Gold¬
käfer, viele einzelne Züge, die wie die Gedichte ins Mysteriöse und Grauen¬
volle überspielen, aber das Merkwürdige ist die Ausführlichkeit, mit der die
willkürliche Erfindung detaillirt wird. Jemand findet eine alte Handschrift in
Chiffern. Durch künstliche Combinationen kommt er dazu, die Chiffern zu
enträthseln; wenn sich aber sonst die Romanschreiber einfach damit begnügten,
diesen Umstand anzugeben, so wird jetzt die Methode der Entzifferung haarklein
berichtet; und so ist eS mit der Aufspürung geheimer Orte, die an gewissen
räthselhaften Zeichen erkannt werden u. s. w. Kurz, es ist nicht die schaffende
Phantasie, die sich geltend macht, sondern die scharfsinnige Combination; eS
ist eine Mischung von trockener Prosa und wilder Phantastik, wie sie uns
zuweilen bei Balzac begegnet, nur daß dieser unendlich mehr Bildung und
Anschauung hat. Es liegt doch ein gewisses Vergnügen am Absurden darin, und
das Bestreben, das Unglaubliche plausibel zu machen. — Die darauffolgenden
Criminalgeschichten sind mit großem Talent erzählt. In diesem Genre kommen
überhaupt die vorhin erwähnten Eigenschaften am meisten zur Geltung. Frei¬
lich möchte die Berechtigung der ganzen Gattung sehr zweifelhaft sein. —
Ganz unerhört ist die Erfindung in einem Roman: die Geschichte deS Arthur
Gordon Pym von Nantucket, enthaltend die Details einer Empörung und
schauderhaften Metzelei am Bord der amerikanischen Brigg Grambus auf dem
Wege zur Südsee, Juni 1827, mit einem Bericht über die Wiedereinnähme
des Schiffs durch die Ueberlebenden, ihren Schiffbruch und furchtbare Hungers¬
noth, ihre Befreiung durch den britischen Schooner Jane Guy, die kurze
Kreuzfahrt dieses letzteren Fahrzeugs in dem antarktischen Ocean, ihre Ge¬
fangenschaft und die Niedermetzelung ihrer Mannschaft in einer Inselgruppe
im 84. Grad südlicher Breite, nebst den unglaublichen Abenteuern und.Ent¬
deckungen noch weiter südlich, wozu dieses traurige Schicksal Veranlassung
gab. — Wenn man bedenkt, daß das alles erfunden ist, so muß man der
Mühe und Geschicklichkeit des Verfassers, die trockene, geschäftsmäßige Form
eines Schiffstagebuchs beizubehalten, alle Anerkennung zu Theil werden lassen;
wenn man sich aber nach dem Zweck fragt, wenn man die völlige Absurdität
mancher von diesen mit der größten Breite ausgeführten Erfindungen erwägt
(z. B. die Aufsindung einer Reihe unterirdischer Grotten in dem eingebildeten
Eiland Tsalal, die äthiopische, ägyptische und arabische Buchstaben bedeuten
und die seltsamsten Geheimnisse ausdrücken sollen; wenn man ferner auf das
Zucken des Grauens Aufmerksamkeit wendet, des Grauens vor einem unbe¬
stimmten Etwas, welches sich in schnell verschwindenden Phantasiebildern aus¬
drückt: — so steht einem im eigentlichsten Sinn deS Worts der Verstand still. —
Aber auch dies wird noch übertroffen durch das sogenannte prosaische Gedicht:
Eureka, ein Versuch über daS materielle und geistige Universum, in welchem
der Verfasser den humboldtschen Kosmos zu ergänzen und folgenden Lehrsatz
durchzuführen sucht: In der ursprünglichen Einheit des ersten Wesens liegt
die secundäre Ursache aller Dinge nebst dem Keim ihrer unvermeidlichen Ver¬
nichtung. Zum Schluß kommt er zu der Anschauung, daß Gott, der zugleich
materielle und geistige Gott, jetzt nur noch in der zerstreuten Materie und
in dem Geist deS Universums eristirt, und daß die Sammlung dieses zerstreuten
Stoffs zugleich die Wiederherstellung deS rein geistigen und individuellen Gottes
sein wird. Nur durch diese Anschauung, meint der Philosoph, begreifen wir
die Räthsel der göttlichen Ungerechtigkeit, deS unerbittlichen Schicksals; nur in
dieser Anschauung wird die Existenz des Uebels verständlich, ja noch mehr, sie
wird erträglich. Unsre Seelen empören sich nicht länger gegen ein Leid, wel¬
ches wir uns selbst aufgelegt haben (denn jede Seele ist ihr eigner Gott, ihr
eigner Schöpfer), zur Förderung unsrer höchsten Zwecke und zur Ausdehnung
unsrer Freude. Es gibt Erinnerungen, die uns während unsrer Jugend heimsuchen.
Sie nehmen zuweilen eine unbestimmte Gestalt an und sprechen zu uns in
dumpfer Stimme: „Es war eine Epoche in der Nacht der Zeit, da ein noch
eristirenbes Wesen eristirte, eins aus der absolut unendlichen Zahl ähnlicher
Wesen, welche die absolut unendlichen Reiche deS absolut unendlichen Raumes
bevölkern. Es war und ist nicht in der Macht dieses Wesens, ebensowenig wie
in der unsrigen, durch wirklichen Zuwachs den Genuß seiner Existenz zu ver¬
größern, da die Quantität des Glücks stets dieselbe bleibt. Aber so wie es
in unsrer Macht steht, unser Vergnügen auszudehnen oder zu concentriren, so
kommt eine ähnliche Fähigkeit diesem göttlichen Wesen zu, welches so seine
Ewigkeit in beständigem Wechsel von Selbstsawmlung und Selbstzerstreuung zu¬
bringt. -Das Universum ist nur seine gegenwärtige Ausdehnung; er fühlt jetzt
sein Leben durch eine Unendlichkeit unvollkommener Genüsse, durch die Genüsse
jener unzähligen Dinge, die man als seine Geschöpfe bezeichnet, die aber in
der That nichts Anderes sind, als Jndividualisationen seiner selbst. All diese
Geschöpfe, sowol diejenigen, die man besehe nennt, als diejenigen, denen man
das Leben abspricht, aus keinem andern Grunde, als weil man es nicht wahr¬
nimmt, haben in größer», oder geringerm Maß eine Fähigkeit der Freude und
des Schmerzes; aber die allgemeine Summe ihrer Empfindungen ist genau
der Umfang der Glückseligkeit, der dem göttlichen Wesen mit Recht zukommt,
wenn es sich in sich selbst sammelt. Diese Geschöpfe sind alle mehr over min¬
der bewußte Intelligenzen; bewußt zunächst ihrer eignen Identität, bewußt
sodann, wenn auch nur durch einen schwachen Schimmer, ihrer Identität mit
Gott. Das erste Bewußtsein wird immer schwächer, das zweite immer stärker
Werden, bis endlich diese Myriaden individueller Sterne in einen Stern zu¬
sammenschmelzen. Dann wird der Mensch aufhören, sich als Mensch zu fühlen,
"ut in jene grauenvoll triumphirende Zeit eintreten, wo er sein Sein als das
Aehovahö erkennen wird. Bis dahin laßt uns im Sinn behalten, daß alles
Leben ist, Leben im Leben, das kleinere im' größeren und alles im göttlichen Geist."
Man steht, daß die Naturphilosophie auch in Amerika Anklang findet,
daß Schopenhauer auch dort feilte Geistesverwandten herauserkennen wird, und
daß wir Deutsche aufhören, das Privilegium der Metaphysik zu haben —
"der, wie Balzac etwas weniger höflich sich ausdrückt, wir erfreuen uns nicht
"lehr ausschließlich deS Vorrechts, absurd zu sein.
i»<z l'avenir potiti^uoclsl'^ngloliii'ro P»I' III von>.e (>e Uonl-iilvmbei ^
I'un <los ^un^alUe cle I'^c^ittlvmiv srsn^iiise. I'uris, Diäior. -—
Wenn der Friede der liberalen Partei manche Enttäuschung und manchen
unmittelbaren Nachtheil bringt, so kann sie doch auch einen nicht zu gering an¬
zuschlagenden Gewinn daraus ziehen. Sie wird nämlich einen zweifelhaften
Verbündeten los und ihre Principien können mit ihren Sympathien wieder
Hand in Hand gehen.
In dem Kampfe des Westens gegen den Osten mußte sie natürlich für
den erstern Partei nehmen, nicht aus Vorliebe für das türkische Reich, nicht
aus Begeisterung für den Kaiser Napoleon, auch nichr, weil sie jenen Kampf,
wie damals der technische Ausdruck hieß, als einen Kampf der Civilisation
gegen die Barbarei auffaßte, sondern weil Rußland ihr gefährlichster Feind ist,
und weil man deshalb jede Schwächung der russischen Macht und jede Locke¬
rung des Bündnisses unserer Fürsten mit dem russischen Kaiser als einen Ge¬
winn für die Sache der deutschen Freiheit betrachten muß. Der russische Ein¬
fluß war es hauptsächlich, der Deutschland in den Zeiten der Restauration
von der Bahn des Fortschrittes abhielt, wahrend gleichzeitig in materieller Be¬
ziehung Nußland durch sein Absperrungssystem unsre Ostseeprovinzen ruinirte.
Rußlands Drohung war es, die unsern Fortschritten in Schleswig-Holstein
Stillstand gebot; Rußlands Einfluß war es endlich, der daS restaurirte Oestreich
befähigte, nach Unterwerfung Ungarns die letzte Hoffnung einer, wenn auch
verkümmerten deutschen Wiedergeburt zu zerstören. Da kam die orientalische
Krisis und alles nahm eine andre Wendung. Es entstand ein ernster Conflict
zwischen den Mächten, die das londoner Protokoll unterzeichnet und damit die
Hoffnungen Deutschlands zu Boden getreten hatten. Der Conflict führte zum
Kriege, der Krieg führte zum Bruch zwischen Oestreich und Nußland, zu einem
kälteren Verhältniß zwischen Preußen und Rußland. .Das war ein unmittel¬
barer Gewinn, aber noch viel größere, unberechenbare Vortheile standen in
Aussicht.
Es durfte angenommen werden, daß Kaiser Nikolaus nie nachgeben würde.
Es durste ferner angenommen werden, daß England und Frankreich allein nie
im Stande sein würden, den stolzen «Selbstherrscher durch äußere Noth dazu
zu zwingen. Wollten sie also den Krieg dennoch glücklich zu Ende führen, so
mußten sie früher oder später die Hilfe Deutschlands erkaufen und der Kauf¬
preis konnte kein andrer sein, als die Aufhebung des londoner Protokolls-
Indem sich ferner unsre deutschen Fürsten an die Volkskraft wandten, mußte»
sie dem Volk nothwendig wieder näher treten, und innere Reformen, vielleicht
auch eine Verbesserung der staatsrechtlichen Verhältnisse des deutschen Bundes
standen in Aussicht.
Dies waren unsre Hoffnungen; denn was in aller Welt ging uns der
Sultan an? was konnte uns daran liegen, ob die Griechen oder die Türken
die Oberhand behielten, ob der Schlüssel des heiligen Grabes der abendländi¬
schen oder morgenländischen Kirche anheimfiel, ob die Walachei sich der russi¬
schen Knute oder dem türkischen Säbel fügen oder ob sie sich untereinander
aufreiben dürften. Das alles konnte uns völlig gleichgiltig sein und wenn
nicht durch die Eroberung Konstantinopels die russische Macht verdoppelt und
infolge dessen die Gefahr, die uns von dorther drohte, ebenfalls verdoppelt würde,
so hätten wir auch gegen die Eroberung Konstantinopels durch die Russen nichts
einzuwenden gehabt. Als ein abendländischer Gesandter dem türkischen Mini¬
ster eine weitläufige Auseinandersetzung der europäischen Conflicte gab, ant¬
wortete dieser sehr phlegmatisch: Es ist meinem Herrn vollkommen gleichgiltig,
ob das Schwein den Hund oder der Hund das Schwein beißt. Wenn wir
nicht gebildete Europäer wären, würden wir eine ähnliche Bemerkung machen:
ob Pope oder Mufti, es liegt nicht viel daran.
Der Tod des Kaisers Nikolaus hat dem Kampf eine andre Wendung ge¬
geben , wenn auch die Umwandlung sich erst im Laus eines Jahres entwickeln
konnte. Gewiß war der klügste Entschluß des russischen Staats, um jeden
Preis Frieden zu schließen und noch dazu scheint der Preis nicht sehr hoch
gewesen zu sein, denn Rußland mochte zugestehen, was man verlangte, so
lange seine reale Macht nicht geschwächt war, konnte es seine Pläne immer von
neuem wieder aufnehmen^ in der festen Ueberzeugung, daß eine Combination wie
die gegenwärtige nicht so leicht wieder zü Stande zu bringen sei. — Aber
Kaiser Nikolaus hätte diesen Frieden dennoch nicht geschlossen. Er hätte kein
Manifest an sein Volk erlassen, worin er erklärte, sein Zweck sei erreicht, die
Christen im Orient seien befreit und um dieses Zwecks willen habe er sich zu
einer Regulirung der Grenzen in Bessarabien und zu einer Ausgleichung der
Kriegsrüstungen am schwarzen Meer gern bereit erklärt.
Der Gewinn des Krieges bleibt immer bedeutend genug. Rußlands Macht
'se zwar nicht durch die Friedensbedingungen, aber durch den Krieg sehr be¬
deutend angegriffen. Das stolze Selbstvertrauen seines Volks ist gebrochen,
dum wenn man ihm auch erklärt, daß alle Zwecke des Krieges erreicht seien,
^ ist noch nicht gebildet genug, um diese Erklärung zu verstehen und in ihrem
vollen Umfange zu würdigen. Nußland mag noch so eifrig daran gehen,
Eisenbahnen zu bauen, damit in einem künftigen Krieg seine Truppen nicht
"Uf langen, zwecklosen Märschen umkommen, es bedarf einer geraumen Zeit,
^es zu erholen und für die nächsten Jahre haben wir von dieser Seite Nuhe.
Viel wichtiger ist die veränderte Stellung Rußlands zu den deutschen
Fürsten. Die russischen Staatsmänner werden Oestreich die Rolle, die es in
dieser Angelegenheit gespielt, nie vergessen, und die östreichischen Staatsmänner
wissen das sehr gut und werden danach ihre Rechnung machen. Die Scheu
vor Rußland hat sich verloren, und wenn auch noch die Kreuzzeitung den Kaiser
Nikolaus wie einen Vater betrauert — Kaiser Nikolaus lebt nicht mehr und
auch Neupreußen wird versuchen müssen, aus eignen Füßen zu stehen. Viel¬
leicht wird sich sogar eine Gelegenheit darbieten, daß auch wir uns daran er¬
innern, den Grenzverkehr etwas zu reguliren.
Wenn Rußland seinen Zweck nicht erreicht hat, so können die Westmachte
das ebensowenig von sich rühmen. Der Mann ist wirklich krank, die Diagnose
des Kaisers Nikolaus war vollkommen richtig; ja er ist kränker als je, und die
Zeit ist nicht sern, wo ein neuer Versuch gemacht, die Civilisation mit der
Barbarei in einen neuen Conflict geführt werden muß. Bis dahin haben wir
Zeit, uns zu stärken, um die glückliche Gelegenheit besser benutzen zu können,
als wir es dies Mal gethan.
Das Bündniß Englands mit Frankreich wird zwar daS Interesse, aus dem
es entsprungen ist, nicht unbedingt überdauern, die Reibungen werden nicht
ausbleiben, schon jetzt macht sich in der englischen Presse eine gewisse Verstuu-
mung fühlbar und da man diesseit des Kanals sehr leicht zu reizen ist, so kann
man eher das Wachsthum, als das Abnehmen dieses Mißbehagens voraus¬
setzen. Aber das Bündniß zwischen England und Frankreich ist jetzt eine histo¬
rische Thatsache geworden, die in der Erinnerung fortwuchern und fruchtbare
Keime hervorbringen wird. Daß jenes Bündniß im Interesse beider Länder
lag, hat schon die Julimonarchie eingesehen, aber damals beschränkte sich die
entslUe eorclials auf den freundlichen Verkehr zweier Familien. Jetzt haben
die beiden Heere gegen den gemeinschaftlichen Feind gefochten und man mag
von der Stimmung und Erinnerung der Völker so viel oder so wenig halten,
als man will, eS ist jedenfalls ein nicht gering anzuschlagendes Moment, vor¬
ausgesetzt, daß ihm die wirklichen Interessen nicht in den Weg treten; und das
ist nicht der Fall. Die Interessen der beiden Länder gehen in der That Hand
in Hand. Das eine kann- ohne das andre seine Macht nicht frei entwickeln
und die Regenten der beiden Länder denken frei genug, um große Verhältnisse
groß aufzufassen. Niemand aber hat ein größeres Interesse an der Aufrecht¬
haltung dieses Bündnisses, als Deutschland, denn so lange dasselbe fortbesteht,
wird Frankreich nie daran denken können, seine ehrgeizigen Absichten gegen
Deutschland auszuführen, und wenn die Begierde nach dem Rhein noch immer
vorhanden ist, die Wachsamkeit der Engländer wird es'unmöglich machen,
dieser Begierde Folge zu leisten.
Aber das.Bündniß Englands mit Frankreich heißt nicht so viel, als ein
Bündniß mit dem Bonapartismus, und das ist ein Punkt, auf den wir heute
vorzugsweise die Aufmerksamkeit unsrer Leser hinleiten möchten. Der Unter¬
schied ist von der größten Wichtigkeit.
Nach dem Staatsstreich des December ging fast durch die ganze gebildete
Welt ein Schrei der sittlichen Entrüstung; man konnte nicht Ausdrücke finden,
die stark genug waren, um den Unwillen gegen die Sache und gegen die Per¬
son an den Tag zu legen. Diese Stimmung legte sich mehr und mehr; viel
that dazu die Einsicht in das feste, geschlossene, thatkräftige Wesen des Präsi¬
denten , mehr noch der Erfolg, der allen Unternehmungen ein neues Gewand
umzulegen Pflegt. Der Unwille verwandelte sich allmälig in Befremden, das Be¬
fremden in verwunderten Beifall, und als nun der orientalische Krieg ausbrach
und die bekannten Stichworte von dem Kampf der Civilisation gegen die Barbarei
verbreitet wurden, fehlte nicht viel an einem Ausbruch des allgemeinen Enthusias¬
mus. Diese Veränderung in der Gesinnung dehnte sich bis auf die äußerste Rechte
aus, bis auf die Legitimisten, die unverhohlen zu erkennen gaben, daß eine
Legitimität, die nicht den Muth hat, zur That zu greifen, nicht viel zuZbedeuten
habe und daß die Familie Bonaparte im Laufe der Zeit sich fast ebenso in die Reihe
der Aristokratie erhoben habe, als die Familie Bourbon. Der Kaiser von Frank¬
reich , dem man nicht lange vor dem Ausbruch des Mriegs selbst die Allianz
mit einer enterbten Königsfamilie mißgönnt hatte, stand gegen das Ende des¬
selben al-s der mächtigste Herrscher Europas da; und wenn man im Anfang
seine Herrschaft nach Monaten hatte berechnen wollen, so zweifelt jetzt kaum
jemand mehr an der Begründung einer neuen Dynastie. Die legitimsten
Herrscher Europas nehmen keinen Anstand, in dem intimsten Verkehr mit
einem Mann zu stehen, der sich selbst als den Parvenu unter den Monarchen
bezeichnet hatte, und als der König von Algier mit all den Ceremonien geboren
wurde, die man der Etikette Ludwig XIV. abgelernt hat, wurde er von nam¬
haften Poeten als das Christkind begrüßtwelches der Welt die Erlösung
bringen werde. In einem Lande, wo der Katholicismus Staatskirche ist, nahm
man keinen Anstand, zu blasphemiren, um recht eindringlich der neuen Gewalt
Zu huldigen.
Durch die vereinten Bemühungen der Demokratie und der Reaction war
das konstitutionelle Wesen bei der'großen Masse des Publicums in Verruf
gekommen. Man hatte keine unmittelbaren Erfolge gesehen, man war der
hoffnungslosen Anstrengungen müde und verdachte es einem unternehmenden
Mann nicht länger,> wenn er sich von dem Aberglauben an diese Form nicht
irren ließ und mit kühner Hand durchgriff. Hatte er es doch durch diesen
kühnen Griff möglich gemacht, auf eine viel imponirendAe Weise die Sache
der Civilisation gegen die Barbarei zu vertreten, als es dem constitutionellen
Regiment jemals möglich gewesen sein würde. Die Begriffe von Recht und
Unrecht hatten in den letzten Jahren so häufig gewechselt, daß der Grund-
sah: der Zweck heiligt die Mittel, keinen Anstoß mehr erregte. — Noch schlimmer
wurde die Sache, als das erste Jahr des Krieges die Schwächen der englischen
Militärversassung an den Teig brachte. Sofort wetteiferten die Demokraten
mit den Absolutisten, England als einen Staat darzustellen, der seinem Unter¬
gang entgegengehe, und seine Verfassung, die man bisher als das Palladium
der Freiheit geehrt, als eine chaotische, zusammenhanglose Masse veralteter Mi߬
bräuche zu brandmarken.' Da die englische Presse nicht gewöhnt' ist, sich irgend
einen Zügel anzulegen, so fanden diese Stimmen auch bei ihr Anklang, und
während sonst jeder echte Engländer das entschiedenste Mißtrauen gegen stehende
Heere zeigt, schien es jetzt beinahe so, als wolle man der Möglichkeit einer
tüchtigen Heerentwicklung so manche der alten Rechte und Freiheiten opfern;
wenigstens mußte es das Ausland so auffassen, welches nicht daran denkt, daß
die Engländer es mit ihren Worten nicht so genau nehmen; daß sie um so
dreister und rücksichtsloser an ihrer Verfassung rütteln, je fester sie von ihrer
Unerschütterlichkeit überzeugt sind.
Diese Verirrung ist jetzt, Gott sei Dank! vorüber. Die ruhige Ueber-
legung tritt wieder in den Vordergrund, und man begreift, daß der augen¬
blickliche Erfolg nicht ausreicht, über festgewurzelte Institutionen zu entscheiden,
an denen die Fortdauer einer Nation hängt. Die augenblickliche Noth ist
vorüber; man ist nicht mehr gezwungen, um des Erfolgs der französischen
Waffen willen den Bonapartismus mit in den Kauf zu nehmen. Bei den
Engländern regt sich wieder der Stolz ihres reichen historischen Lebens, und
in Frankreich taucht eine zwar nicht laute, aber entschlossene und folgerichtige
Opposition gegen den Bonapartismus auf, als deren geistvollsten Vertreter wir
den Verfasser des vorliegenden Buchs mit Freuden begrüßen.
Aber man möge uns nicht mißverstehen. Für uns ist der Bonapartismus
nicht identisch mit der Regierung des Kaiser Napoleon und seinem Hause.
Die Dynastie kann bestehen auch ohne ihn, so wie sich die charakteristischen
Erscheinungen, die sich an jenen Begriff knüpfen, auch in andern Ländern und
Regierungen zeigen. Der Bonapartismus ist überall vorhanden, wo der Ge¬
walthaber das, was ihm für augenblicklich zweckmäßig gilt, über das Recht
setzt, und wo das Volk seine Freiheit gering anschlägt, wenn ihm dafür mate¬
rielle Vortheile geboten werden. Der Bonapartismus ist die Erneuung des
alten Systems im römischen Kaiserreich, wo die höchsten Angelegenheiten der
Menschheit in der Art eines Glücksspiels entschieden wurden.
Dagegen glauben wir, daß sich eine freie Verfassung im Lauf der Zeit
unter der Familie Bonaparte ebensogut entwickeln kann, wie unter der Familie
Bourbon. Wir sind weder Anhänger Sr. Majestät Heinrichs V., noch des
Hauses Orleans, am wenigsten, wenn dasselbe sich wirklich der ältern Linie
unterwerfen sollte; wir wünschen, daß Frankreich eine neue Revolution erspart
würde, die doch niemals zu einem verständigen Resultat führt, wir wünschen
daher die Befestigung des jetzigen Regiments; aber wir wünschen sie nur unter
der Bedingung, daß sie die allmälige Entwicklung freier Staatsformen nicht
ausschließt; und daß das nicht nothwendig der Fall ist, dafür gibt uns die
vorliegende Schrift eine erfreuliche Bürgschaft.
Das Buch ist, abgesehen von seiner positiven Richtung, eine durchgehende
Satire gegen den Bonapartismus. Mit jenem Raffinement, wie es nur fran¬
zösischen Aristokraten eigen ist, weiß Montalembert in die scheinbar unschuldig¬
sten Bemerkungen einen Stachel zu legen, der um so schmerzhafter trifft, je
gelassener sich der Schriftsteller dabei geberdet. Schon die Bezeichnung, die
sich Montalembert auf dem Titel gibt, ist charakteristisch, denn jene Vierzig
sind in der That, seitdem die politischen Notabilitäten schweigen müssen, das
Centrum der stillen, aber consequenten Opposition. Es ist die Bildung Frank¬
reichs, die sich gegen das anscheinende Recht der Thatsachen empört. Wir
halten es nicht für unmöglich, daß dem Kaiser endlich gelingen wird, mit der
Zeit diese Opposition zu versöhnen, gegen welche die gewöhnlichen Mittel der
Gewalt nicht viel ausrichten können: aber diese Versöhnung setzt Concessionen
voraus, welche der Entwicklung Frankreichs nur günstig sein können. Noch
klebt an der neuen Monarchie der Makel ihres Ursprungs. Sie wurde durch
unen Handstreich gebildet, und die Werkzeuge dieses Handstreichs wollten be¬
lohnt sein. Sie haben zum Theil noch immer die Gewalt in Händen. Aber
das Kaiserthum ist jetzt für den Augenblick gesichert genug, um ihrer entbehren
SU können; sein Ansehen ist in Frankreich wie in Europa gestiegen, und es
hängt nur von ihm ab, sich den Kreisen der überlieferten Bildung wieder zu
nähern und so sein Reich an die Traditionen des alten Frankreich wiederan¬
zuknüpfen. Warum sollten die Legitimisten und Orleanisten auf Thronpräten¬
denten ihre Hoffnungen richten, die ihnen zum Theil ganz fremd geworden
sind, und deren Wiederherstellung durch höchst bedenkliche Stürme zu erkaufen
sein würde? Die Opposition gegen das Kaiserthum wird nur fortdauern, so
lange sich dieses in starren Formen firirt; wenn es sich bildungsfähig zeigt,
werden sich die widerstrebenden Elemente mehr und mehr ihm a-nschmiegen.
Was Montalembert zu Gunsten der großbritannischen Einrichtungen sagt,
zunächst seine Beziehungen aus Frankreich. Er zeigt, daß freie Forme»
unvergänglich sind, und daß sie das beste Mittel gewähren, die Widersprüche,
d>e in ihnen selbst liegen, in einem natürlichen Proceß auszugleichen; aber
d>e Darstellung ist keineswegs blos tendenziös, sie geht aus gründlicher, geist¬
voller Sachkenntniß hervor. Seine Gesichtspunkte sind nicht durchweg neu,
"ber sie sind in scharfer Logik geordnet, prägnant ausgedrückt und durch leb¬
hafte Anschauungen vermittelt. Man freut sich über die'Festigkeit eines hellen,
klaren Verstandes, der sich durch keine Sophismen, durch keine mikroskopischen
Untersuchungen irren läßt. Diese Mikroskopie ist die Krankheit unsrer heutigen
Wissenschaft; man kann von ihr im vollsten Sinn des Worts sagen, daß sie
den Wald vor Bäumen nicht sieht.
Das Buch ist auch für Deutschland von hohem Werth; fast Wort für
Wort lassen sich die, darin vertretenen Grundsätze auf unsre eignen Zustände
anwenden, und es sind nicht blos die Ansichten, sondern vor allem der feste,
hoffnungsvolle, männliche Ton, was uns anzieht und bewegt. — Man be¬
denke nur, von welcher Seite diese edle, kräftige, aufgeklärte Vertheidigung
des Liberalismus ausgeht! Herr von Montalembert gilt als einer der Haupt-
sührer der ultramontanen Partei; er sucht seine Ansichten in dieser Beziehung
auch gegen das Ende des Buchs hin geltend zu machen, er findet den Grund
der britischen Größe zum Theil darin, daß'die Spuren der alten katholischen
Periode sich noch in den neuen Einrichtungen des Landes erhalten haben, und
er glaubt ein allmäljgcs Zurückstreben des englischen Volkes zum Katholicis¬
mus wahrzunehmen; aber die Weisungen, die er seinen Glaubensbrüdern gibt,
sind durchaus verständig. Er' ermahnt sie, sich von den Traditionen des. 16.
und 17. Jahrhunderts mit Abscheu abzuwenden, überall die Fahne der Glaubens¬
freiheit aufzustecken, niemals die nationale Sache der religiösen zu opfern,
und sich immer zuerst daran zu erinnern, daß sie Engländer sind, ehe sie für
ihre Kirche wirken.
Auch in dieser Auffassung liegen noch immer viele Illusionen. Die ka¬
tholische Kirche hat stets die Fahne der Freiheit aufgesteckt, wo sie in der
Minorität war; sobald man ihr die Gewalt in die Hände gab, wurde sie in¬
tolerant. Die Siege der katholischen Kirche im 16. und 17. Jahrhundert sind
nicht, wie Montalembert meint, durch die stillwirkende Kraft des Geistes,
sondern überall durch die rohe Gewalt erfolgt. — Indeß es ist über jene Ge¬
schichten Gras gewachsen, und wir wollen uns freuen, daß im Schoß der
uns feindlichen Kirche dasselbe Streben sich geltend macht, welches unser Leit¬
stern ist. Wenn die beiden Kirchen miteinander wetteifern, den Völkern Frei¬
heit und Recht zu bringen, ihre natürliche Entwicklung zu fördern, sie mit dem
Erdenleben auszusöhnen, so wird aus diesem Wettstreit eine reifere Frucht her¬
vorgehen, als aus dem frühern Mißbrauch materieller Mittel zu angeblich
heiligen Zwecken. Nur müssen die Vertreter der Kirche nickt vergessen, daß
bis jetzt die Wirklichkeit ihren Idealen noch nicht entspricht, daß die katholische
Kirche, wo sie sich in ihrer vollen Kraft entfaltet, wie in Italien und neuer-
drngS in Oestreich, noch immer freiheitsfeindlich ist. Ehe daher die Herren
Montalembert und Reichensperger unternehmen, im Namen der Freiheit für ihre
Kirche Propaganda zu machen, mögen sie erst dahin zu wirken suchen, daß inner¬
halb ihrer Kirche das Princip, das sie vertreten, zur wirklichen Geltung komme-
Sicilien und Neapel. Tagebuch einer Reise während des Winters 1853 bis
-I85i im Gefolge Sr. Königlichen Hoheit des Prinzen Georg, Herzogs
zu Sachsen, von l)r. Albert Gustav Carus. Würzen, Vcrlags-
comptoir. —
Von diesem interessanten und gut geschriebenen Buch werden wir unsern
Lesern am besten dadurch eine Vorstellung geben, daß wir ein Fragment dar¬
aus mittheilen. — Die Reisenden sind in Civitavecchia aufgestiegen und setzen
ihren Weg nach Rom zu Wagen fort. „Längs des herrlich brandenden, tief
dunkelbauen Meeres, das durch die verschiedensten Fischerkähne sehr belebt war,
fuhren wir hin, die Aloes, Feigencactus, Oleander, Lorbeer und Buchsbaum
werden schon häufig, bei Marinolo begrüßen wir die erste Palme, wie schlank
erhebt sich neben einem alten Wartthurm am Meere dieser prächtige Wuchs,
wie winken uns die mächtigen Blätter glückliche Reise zu, dann bei Se. Severo
das malerisch alte Castell, die alten verfallenen Brücken, die großen Heerden
der langhaarigen weißen Ziegen, in den mit leichtem Zaun eingefaßten Fel¬
dern die prächtigen weißgrauen Stiere, von alten Hirten und treuen großen
Hunden bewacht; große Raubvögel schweben in Menge über dieser Oede, in
der man nur selten ein Wohnhaus sieht, dann wieder große Pferdeheerden,
blühende wilde Rosenhecken, alles so eine ganz andre Gegend und Landschaft.
Bei Palo, einer großen befestigten Kaserne der Franzosen, ist Poststation, und
da ging man auf der ziemlich breiten Straße buchstäblich in Düngerhaufen,
um aus der miserabeln Locanda ein Glas Wasser zu erlangen. Nun verläßt
man daS Meer, fährt durch bebautes Ackerland, wo überall Trümmer alten
Gemäuers hervorragen, gelangt dann in die eigentliche römische Campagna, ein
wellenförmiges Terrain, zwischen immergrünen Eichen, Buchen, Haselgcstrciuch,
an einer einsam gelegenen Locanda vorbei, sonst nicht ein einziger Ort von
irgend Bedeutung. Gegen 4 Uhr war es, als wir die Höhe eines kleinen
Hügels erreicht hatten, ich plötzlich in weiter Ferne eine große Kuppel her¬
vorragen sah; ich hatte mich nicht getäuscht, denn auf meine dem Po¬
stillon gestellte Frage erwiderte dieser o San l'ielro! und dies war ja unser
Ziel. Von nun ab blieb uns diese herrliche Kuppel fast immer vor Augen,
obgleich wir erst fünf Stunden später in die ewige Stadt einfuhren. Durch
prächtige kleine Hohlwege, mit Schlingpflanzen reich bewachsen, gewiß rechtes
Terrain für Räubereien und an immer wechselnden landschaftlichen Bildern
vorüber fliegt unser Wagen schnell dahin. Die Straße wird belebter, die so
°se gemalt gesehenen römischen zweirädrigen Karren, von tüchtigen Stieren ge¬
igen, auch eine Heerde Büffel von Campagnolen getrieben, begegnet uns,
einzelne Villen werden schon sichtbar; leider hat aber auch die Dunkelheit zu-
genommen und so langen wir nach 8 Uhr an der Porta Cavallegiri Roms
an. Hier gab es nun unangenehmen Zeitaufenthalt mit Paß- und Visitations¬
angelegenheiten und so ständen wir eine gute Zeit an den Pforten dieser Welt¬
stadt, die sich erst nach Verabreichung drei stipulirter scutis öffneten. Wir
fuhren durch ein paar winklige kleine Straßen, als wir plötzlich zur Linken
große Säulenreihen, durch Lampen erhellt, sahen, und durch diese durch große
prächtig sprudelnde Fontainen; ,,Herr Gott, das ist ja der Petersplatz," er¬
scholl es aus einem Munde. Dann ging es eine lange, breite Straße ent¬
lang, und bald gab es ein zweites Kunstwerk zu bewundern; wir fuhren an
der Engelsburg vorbei, welche selbst in diesem feuchten Nachthimmel sich mäch¬
tig präsentirte, über die Tiber, verschiedene Straßen entlang, an Obelisken
uno Säulen, Kirchen und großen Palästen vorüber. Die Straßen aber alle
todt und öde, in einzelnen Cas^S wenige Gäste; und nachdem wir an ver¬
schiedenen Hotels vorgefahren, aber nirgend Zimmer bekommen, fanden wir
endlich am spanischen Platze im Hotel de l'Europe im vierten Stock noch leid¬
liches Unterkommen. Als wir dann beim Souper unsern Feldzug für den
morgenden Tag beriethen, ertönte von der Straße heraus Gesang, wir eilen
ans Fenster, eine Brüderschaft bestattet einen Todten, die langen weißen, ver¬
kappten Gestalten, Kerzen haltend, Gebete absingend, tragen im offnen Sarge
ein junges Mädchen, voran ein Geistlicher mit Chorknaben, das Crucifix ragt
über den Zug empor; so biegt der Cvnduct in ziemlich schnellem Schritt in
eine Straße ein. In solcher Regennacht^ machte dies einen gar unheimlichen
Eindruck.
Am andern Tage wurden wir durch die Bedienten vom Platz veranlaßt,
die sirtinischc Kapelle auszusuchen, wo der Papst mit sämmtlichen Cardinälen
heute ein besonderes Kirchenfest feierte. Da zu den Ceremonien in dieser Ka¬
pelle man im schwarzen Frack erscheinen muß, so änderten wir schleunigst unsre
Toilette und fuhren durch enge winklige Straßen, an der Engelsburg vorüber,
zu den prächtigen Kolonnaden des Petersplatzeö, wo die Schweizer standen,
meist große, schöne Männer, in altdeutscher Tracht mit langen Hellebarden;
wir gehen einen langen Gang an der Statue Konstantins des Großen vorbei,
steigen die prächtige, mit Säulen gezierte, oben schmaler werdende Treppe (ein
Kunststück des Bernini) hinaus und gelangen in die Sala regia. Dieser große,
prächtige, mit schönem Marmvrfußboden getäfelte Saal ist mit reicher Stucca-
tur an Decke und Wänden, großen Fresken von Vasari und Zuccari'geschmückt.
Hier hatte sich eine große Anzahl Herren und Damen schon versammelt; letztere
meistens Fremde, worunter viele ausgezeichnet schöne Gesichter, waren in
schwarzer, feinster Toilette, mit einem schwarzen Spitzenschleier, der auf der
Brust zusammengesteckt ist, sehr malerisch anzusehen. Die dienstthuenden päpst¬
lichen Kammerherren erscheinen, in schwarzer spanischer Tracht, ganz wie der
Marquis Po^sa bei uns auf dem Theater erscheint, in der Hand einen kurzen
silbernen Stab mit eben solchem großen Knopf, um den Hals tragen sie eine
breite goldene Kette, dazu waren es grade ein paar recht hübsche Leute, denen
diese Tracht vortrefflich stand. Jetzt erscheint eine Abtheilung Schweizer und
nachdem der Führer an der großen Eingangsthür zur sirtinischen Kapelle
angeklopft und eine von innen an ihn gerichtete Frage beantwortet, Hort man
aufschließen und die Thüren werden geöffnet. Ein Schauer ergriff mich, als
ich in diese Kapelle eintrat, von der ich so viel gehört und die so wunderbare
Kunstwerke enthält. Ein eignes Halbdunkel war über die Kapelle verbreitet,
nur auf dem Altar und dem Sängerchor brannten Kerzen. Wir hatten Zeit,
ehe die eigentliche Ceremonie begann und der Papst erschien, uns recht zu
orientiren. Unmittelbar vor dem großen Gitter, welches die Kapelle in zwei
ungleiche Hälften theilt und welches die Frauen nicht überschreiten dürfen, denn
hier fängt die Clausur an, hatten wir Platz genommen, gerade vor uns das
jüngste Gericht, über uns die prächtigen Propheten und Sybillen, die Schöpfungs¬
geschichte von Michel Angelo, nur Beleuchtung fehlte, um diese Wunderwerke
gehörig betrachten zu können. Werden wir ja aber später noch öfter Gelegen¬
heit haben, hierher zurückzukehren. Bald erschien die päpstliche Nobelgarde, nach
Und nach folgten die Cardinäle, zuerst ein noch ziemlich junger mit ausdrucks¬
vollen, doch noch mehr weltlichem Gesicht, darauf ein Kapuzinercardinal mit
langem weißem Bart, außerordentlich ehrwürdig, dabei von ernstesten Aus¬
druck in seinen Mienen. Dieser trug noch die Kapuzinerkutte, nur aus etwas
feinerem Stoff, so auch einen braunen Pelzmantel, dazu aber die scharlachnen
Strümpfe und Kappe, während die übrigen Cardinäle die langen, schweren, lila-
Indenen Gewänder mit weißem Hermelinmantel und den übrigen Cardinals-
lnsignien trugen. Nach und nach versammelten sich immer mehr von
Cardinälen, die stets von zwei Kammerdienern in schwarzseidenen Eöcarpins
und langen seidenen Mänteln, hereingeleitet wurden, und nachdem sie
vor dem Allerheiligsten ihr Gebet verrichtet, auf ihre Plätze, die erhöht
an den Wänden waren, sich niederließen, nachdem von ihren Dienern ihnen
erst eine Art Toilette gemacht worden war. Wie verschiedene Gesichter
sah man da, doch muß ich sagen, daß die größere Zahl derselben recht be¬
deutend aussah; die berühmtesten wurden uns genannt, und unter diesen habe
ich mir die Namen Tosti, d'Andrea, della Genga, Barberini, Piccolomini,
Mastai Feretti (der Vetter des Papstes), Wiseman, Altieri und den Cardinal-
staatSsecretär Antonelli, aufgezeichnet. Dann öffnet sich neben dem Altar eine
kleine Thür, Schweizer erscheinen, Nobelgarde, päpstliche Diener in altdeutscher
Tracht von kirschbraunem schwerem Seidendamast, mehre Monsignores in
violetten langen Gewändern, darüber ein kurzes Chorhemd von sein gefaltetem
gestickten Batist, mehre Bischöfe und andere höhere Geistliche, Mönche, und
zuletzt erscheint der Papst. Eine große schöne, etwas wohlbeleibte Gestalt, von
angenehmem, freundlichem Gesichtsausdruck, sehr lebendigen Augen, so schritt
t^lo nono, über die ganze Versammlung den Segen austheilend, langsam die
Stufen herab; die versammelte Menge fiel auf die Knie, und so auch wir, ein
schöner einfacher Gesang ertönte von den Sängern der sirtinischen Kapelle und
ich gestehe, daß mir sehr feierlich zu Muthe war, und ich diesen Segen des höch¬
sten katholischen Kirchenoberhauptes für mich und die Meinigen in andächtiger
Stimmung aufnahm. — Bekleidet war der Papst in langen weißen Unter-
gewand, darüber ein reich mit Gold gesticktes, schweres orcmgenes Obergewand,
die goldgestickte > Papftmütze auf dem Kopf. Vor dem Altar verrichtete er sein
Gebet, dann schritt er die Stufen des links stehenden heiligen Stuhles hinauf,
und nachdem die Cardinäle der Reihe nach zum Kusse des Ringes, die übrigen
Geistlichen zum Fußkuß gekommen waren, begann die Messe, wobei außer-
orventlich schöne Gesänge, nur von etwas scharfen Sopranstimmen gesungen
wurden. Der Eindruck, den mir die verschiedenen Ceremonien, das Anräuchern
der Cardinäle, das sich Begrüßen und Küssen derselben, das andere Gewänder
Anziehen und förmliche Ankleiden machte, war mehr theatralisch, als kirchlich.
Zwar wurde mir gesagt, daß alles dies seine hohe Bedeutung' und für den
Katholiken von größter Wichtigkeit sei, für mich aber war es unverständlich.
Nachdem die Messe vorüber, bestieg ein Dominikanermönch die Kanzel, eine
kleine ,etwas erhöhte, mit Brustlehne umgebene Rednerbühne, die Cardinäle und
Geistlichen setzten sich auf den Treppenstufen nieder, und mit dem größten
Feuereifer sing dieser beredte Mönch an in lateinischer Sprache, die aber wegen
der römisch-italienischen Aussprache nur in einzelnen Worten verständlich war,
eine Predigt zu halten. Ich hatte unterdeß Zeit, mich an den prachtvollen
Deckenmalereien Michel Angelos zu erbauen, so wie an den wirklich schönen
Gesichtern der zahlreich anwesenden fremden Damen zu erfreuen. Gegen 11 Uhr
verläßt der Papst die Kapelle und so auch wir. In der Sala regia wechseln
die Cardinäle abermals ihre Kleider, lange scharlachene Mantel und Hüte sind
jetzt die Tracht, und so schreiten sie die Treppen herab, wo ihre großen Staats¬
karrossen sie aufnehmen. Meist sind dies rothe, große viersitzige'Kutschkästen
mit vielfachen Bronzeverzierungcn, zwei starke schwarze Rosse mit rothen Quasten,
Federbüschen und Riemenzeug werden von den in altfranzösische Livree mit
großen Dreimastern gekleideten wohlhävigen Kutschern gezügelt, zwei, oft drei
ebenso gekleidete Diener, wovon der eine den immensen großen rothen Regere
Schirm, ein besonderes Vorrecht der Cardinäle, der sie bei jedem Wetter be-.
gleiten muß, trägt, steigen hinten auf, und so waren wol einige zwanzig solcher
Staatskutschen aufgefahren. Nachdem wir endlich durch die Menschheit uns
Platz gemacht, gingen wir auf den Petersplatz und fanden uns von der
immensen Größe und Schönheit dieses Platzes wunderbar überrascht. War ja
der prächtigste Sonnenschein, in den Fontaine» die herrlichsten Regenbogen
sichtbar und der Platz voller Menschen belebt. Denkt Euch einen von zwei
Säulengängen, jeder mit vier Reihen fünfzig Fuß hoher, dorischer Säulen
umfaßten runden Platz, in dessen Mitte der hundertunddreizehn Palmen hohe
glatte Obelisk und die aus großen granitenen Becken mächtigen Wasserstrahl
auswerfenden Springbrunnen, die an die Säulengänge sich anlehnenden
offenen Corridore, die an der Fapade der Kirche enden, die große, breite, zum
Se. Peter allmälig aufsteigende Freitreppe, dahinter die Fa?abe und die sich
leicht darüber in die Lüfte erhebende Kuppel dieser Peterskirche, Abbildungen
in Stich und Farben hatte ich viele dabon gesehen, aber nicht eine gab einen
Begriff dieser Großartigkeit. Wir stiegen dann die große Freitreppe, zwischen
den kolossalen Marmorstatuen der Apostel Peter und Paul hinauf und traten
in die große Vorhalle durch die Mittelthür ein, und schon hier wird man von
dem Reichthum der Marmor- und Goldverzierungen überrascht. Das Schiff
des heiligen Petrus von Giottos Composition in Mosaik über dem Haupt¬
eingang war daS Erste dieser Arbeiten, was ich sah. An den schönen Bronze¬
thüren fielen mir bei der sehr trefflichen Arbeit die mythologischen Gegenstände,
wie Leda mit dem Schwan, der Raub des Ganymed u. s. w. auf, welche den
Haupteingang zu dieser ersten und größten katholischen Kirche schmückten. Mir
machte das'Jnnere der Kirche selbst gleich beim Eintritt den ungeheuersten Ein¬
druck. Halte ich doch so oft gehört, daß beim ersten Besuch die immensen
Verhältnisse gar nicht so überraschend auf den Beschauer wirken sollten. Lange
blieben wir am Eingang stehen und sahen staunend in diese Pracht und
Größe hinein; von welcher Kleinheit erschienen uns die am Grabmal des
heiligen Petrus gehenden und knienden Menschen, und wie eigen wirkte durch
das in der Mitte des Kreuzes sich erhebende Tabernakel durch, das über den
heiligen Stuhl durch orange Glorie, in deren Mitte der heilige Geist in Ge¬
stalt einer Taube, enifallende Licht. Ueber uns das 286 Palmen hohe, von
vergoldeten Facetten bedeckte Gewölbe, der mit prächtigen Marmorarten be¬
kleidete Fußboden, alles das setzte uns in das größte Erstaunen, was sich aber
bei Betrachtung des wunderbaren Kuppelbaues noch um vieles steigerte. Ehe
wir' in den Kuppelbau selbst hineintraten, wurde unsre Aufmerksamkeit auf die
sich zum Fußkuß der Statue des heiligen Petrus drängende Menge gezogen.
Hier geht kein guter Katholik, der vornehmste so wie der geringste vorbei, ohne
dieser, aus dem Erze des Jupiter Capitolinus unter Leo dem Großen im fünf-
Jahrhundert gegossenen Statue den rechten Fuß zu küssen, so daß dieser
allerdings kaum mehr die Form eines Fußes erkennen läßt. Ehe nun der
Kuß selbst applicirt wird, reinigt jeder alle Mal mit Schnupftuch, Rockärmel
»der dergleichen den Fuß des Heiligen von der vorher geschehenen Ehrenerwei-
sung. Nun traten wir in den von vier Riesenpfeilern getragenen Kuppelbau,
dem Meisterwerke Michel Angelos; in den vier Nischen der Pfeiler befinden
sich kolossale Figuren verschiedener Heiligen, über diesen in Mosaik die vier
Evangelisten, und um das ungeheure Gewölbe laust in Riesenschrift auf Gold¬
grund: ^'u es ?etrus et super pstram wan asctifiokdo eoelesimn meam, und
die Galerie, auf der die zufällig anwesenden Leute wie kleine Zwerge erschienen.
Darüber noch andere Mosaiken und endlich schließt dieser Wunderbau sich in
der Laterne. Darunter nicht ganz in der Mitte befindet sich der Hauptaltar
mit der Tumba, in welcher die Neste der Apostel Peter und Paul ruhen. An
diesem Altar lesen nur der Papst und Cardinäle bei hohen Festen die Messe.
Ueber dem Altar, dessen Platte aus einem einzigen ungeheuren Marmorstück
besteht, wölbt sich der bronzene Tabernakel mit enormen gewundenen Säulen,
mit Laub und Arabesken geziert, reich vergoldet, zu dessen Anfertigung Urban Viti.
das Erz von dem Porticus und der inneren Decke des Pantheon nehmen ließ.
Vor dem Altar geht eine Doppeltreppe zur Tumba herab, die mit den unter¬
irdischen Grotten in Verbindung steht, das Ganze ist von einer Ballustrade,
mit prächtigen Steinarten bekleidet, umgeben, und hier brennen Jahr aus
Jahr ein 12Ä Lampen. An der Bronzethür der Tumba kniet Pius VI., eine
recht schöne Statue Canovas. Die ganze Ballustrade ist von andächtig Beten¬
den förmlich belagert, so daß man Mühe hatte, einen Blick in diese Räume zu
werfen. Dann durchwandelten wir die verschiedenen Schiffe und Seitenkapellen,
wo überall prächtige Mosaikgemälde, so die Transfiguration Rafaels, den Erz¬
engel Michael im Kampf mit dem Satan von Guido Reni, die Communion
des heiligen Hieronymus von Domenichino, und Grabmäler der Päpste, und
in der letzten Kapelle am Eingange die berühmte Pieta von Michel Angelo
sich befinden. So sehr mir der Leichnam des auf dem Schoße der Maria
liegenden Christus gefiel, so wenig konnte mir die Stellung und der Ausdruck
der Mutter gefallen, mir hatte die ganze Haltung etwas sehr Unnatürliches;
die Beleuchtung dieser Gruppe ist übrigens eine so mangelchaste, daß sie wol
eine andere Aufstellung verdiente. Ganz eigen aber berührte mich in dieser
enormen Kirche das verschiedenartige Treiben; hier kamen Landleute, die wo¬
möglich vor jeder Kapelle niederkmeten und Wände und Stufen küßten, da
kamen vornehme Damen in eifrigem Gespräch mit den sie begleitenden Herren,
so im Vorübergehen sich bekreuzend, d.ort wieder die verschiedensten Mönchs¬
orden, die geistlichen Collegien in langen rothen, weißen, schwarzen Priester¬
gewändern, da wieder eine Amme mit dem Säugling auf dem Arme, der laut
seine Stimme erschallen ließ und nur erst nach Darreichung der Brust sich be¬
ruhigte.. Zwischen allem diesem Treiben fehlte es auch nicht an großen und
kleinen Hunden, die diese Kirche zu ihrem Tummelplatz auscrsahen, Engländer
mit ihren langlockigen Damen, in ihren Reisehandbüchern eifrig studirend und
rücksichtslos schreiend, in den Beichtstühlen Priester, mit den Vorübergehenden
Conversation machend, und aus einer Kapelle, wo Messe gelesen wurde, ertönte
die Glocke, dann wieder Orgel und Gesang: — eben nur die ungeheure Größe
dieser Kirche machte dieses Leben und Treiben, wie in einem kleinen Stadt¬
theile, möglich, aber freilich wollte mir der Art Treiben, nach meinen Begriffen
der Kirche, nicht recht gefallen.
Was die Negierung von den Ständen will, wissen wir jetzt.
Die Verfassung soll nur im Finanzcapitel durchgreifend abgeändert werden. Das
hannoversche Finanzrecht soll die 1848 entstandenen Beeinträchtigungen der könig-
lichen Ansprüche und der freien Bewegung der Regierung wieder ausscheiden. Für
die Ausdehnung des Heerwesens sowol in seiner numerischen Stärke als in seiner
technischen Ausstattung, und für die Erhöhung der Beamtengehalte sollen namhafte
Summen mehr bewilligt werden. In allen diesen Punkten hofft die Reg-ierung
steh „nicht fruchtlos an die Stände zu wenden", wie der König in jenem die
Eröffnungsrede ungefähr wiederholenden Trinkspruch sagte, mit dem er am S. April
bei seiner eignen Tafel die „wahren landständischen Vertreter seines Königreichs"
begrüßte und Gott bat, ihre Herzen zu lenken, damit „so in ruhigen wie in be¬
wegten Zeiten alle sür einen um den welfischen Thron sich scharen zu seiner Stär¬
kung und zu seinem Schutz."
Als die königliche Verordnung vom 1. August 1833 im Octroyirungswege
vorläufig die landständische Verfassung nach dem Landesvcrfassungsgesetz von 18iO
wiederherstellte, hielt sie es noch sür nöthig, zu versprechen, daß den nächsten Stän¬
den Abänderungsvorschläge im Sinn der veränderten Zeit vorgelegt werden sollten.
Die restaurirte Adclskammer, dachte man, würde wenigstens eine Anzahl von Ver¬
tretern der nichtadligen Grundbesitzer in sich aufnehmen, und das Wahlrecht zur
»weiten Kammer über die jetzigen beispiellos engen Schranken hinaus erweitert
werden. Mau täuschte sich, denn die Verfaffnngsvorlagc der Regierung ist ihrem
wateriellen Inhalt nach die unbedeutendste von allen. Anstatt den Wahlkörper der
ersten Kammer auf eine irgend zahlreichere und bedeutendere Menge als die paar
hundert Rittergutsbesitzer des Königreichs zu erstrecken, will die Regierung blos
dem König das Recht zur Ernennung von- zwölf Mitgliedern der ersten Kammer
beigelegt sehen. Die zweite Kammer wird dem ministeriellen Entwurf zufolge gar
keine wesentliche Veränderung erfahren. Was aber damit gegeben- ist, soll gegen
gesetzliche Umgestaltung durch die stärksten Vorkehrungen gesichert werden. Eine
^erfassungsbestimmung wird, wenn es nach dem Willen des Ministeriums geht, nur
dadurch abgeändert werden können, daß auf zwei nacheinander folgenden Landtagen
beiden Kammern bei Anwesenheit von drei Vierteln aller Mitglieder zwei Drittel
der Anwesenden sich für sie erklären. In einer Zeit, die so rasch lebt wie die
Gegenwart, ist die Aufrichtung solcher Schranken um das zufällig bestehende Recbts-
Scbäude herum, zumal wenn dieses so wenig von der allgemeinen Sympathie der
-^ewohner erfüllt ist, wie augenblicklich in Hannover, nichts als eine Anweisung an
le unzufriedene Masse, ihre Hoffnung besserer Zustande auf ein unvorhergesehenes
^reigniß zu richten.
Die durchgreifende Abändrung des Finanzcapitels, welche der König nach der
Thronrede „zu bewirken entschlossen" ist, richtet sich theils gegen die jetzige Civilliste
als „unvereinbar mit dem monarchischen Princip", theils gegen die Grenzen
und den Gebrauch des ständischen Bewilligungsrechts. Domänen und Regalien
sollen zu einem Fideicommiß des königlichen Hauses vereinigt, und bis zum Be¬
lauf von 600,000 Thlr. zunächst für dessen Bedürfnisse verwandt werden. Mit
andern Worten, die Krone wünscht die Vortheile des Zustandes von 1833, wo sie
das Krongut unabhängig verwaltete, mit den nicht geringeren Annehmlichkeiten des
Zustandes nach 1848, der ihr für eine bestimmte hinlänglich hochgegriffene Summe
ihres Bedarfs auf ewige Zeiten den ganzen Credit des Landes gab, zu verbinden.
Sie bezieht jetzt außer den Zinsen von 600,000 Pfund Sterling in englischen
drciprocentigen Cvnsols 313.888 Thlr. 21 Gr. 4 Pf. Civilliste, und wünscht in
Anbetracht des „gesunkenen Gcldwcrths" diese Summe auf 600.000 Thlr. erhöht
zu sehen. Daß der gesunkene Geldwerth die Steucrkraft der gesammten Bevölke¬
rung in stärkerem Grade geschwächt haben muß. als er den Bedarf des reichsten
Havshalts im Lande steigern kann, wird bei dieser dreifachen Forderung ohne
Gegenleistung nicht berücksichtigt. Aber noch mehr. Während das Land die Ci¬
villiste so erheblich hinaussetzen, den unterscheidenden Charakter einer Civilliste
gleichzeitig fahren lassen soll, wird den Ständen ferner zugemuthet, das Ausgabe¬
budget künftig nur nach Hauptdicnstzweigen in großen Summen, nicht im Einzelnen
zu bewilligen. Das älteste Recht deutscher Landstände, an ihr gutes Geld Bedin¬
gungen über dessen Verwendung zu knüpfen, wird in der „Oase deutscher Freiheit"
zum ersten Male ernstlich in Frage gestellt.
Die Forderungen für das Heerwesen sind so mannigfaltig und so überraschend
hoch, daß es der Mühe lohnen wird, sie sammt dem Inhalt der sie betreffenden
ständischen Verhandlungen demnächst einmal besonders zusammenzustellen, zumal bei
dem allgemeinen Interesse, das sie für ganz Deutschland und für jeden deutschen
Einzelstaat besitzen.
Um die Beamtengehalte den Werthveränderungen der letzten Jahre anzupassen,
werden im diesjährigen Budget, das nach der Octroyirung vom 1. August 1863
wieder auf zwei Jahre sich erstreckt, 110 — 120,000 Thlr. mehr erfordert. Aber
die Volksschullehrer, welche die Unzulänglichkeit ihrer Einkünfte längst zu massen¬
hafter Auswanderung oder Bernfsveränderung gedrängt hat, werden mit einer
bloßen Verheißung abgespeist. Die niederen Bcamtenclassen, in denen die, gegen¬
wärtige Theuerung vielfach bereits zu wirklicher Noth, wenigstens zu den empfind¬
lichsten Entbehrungen geführt hat, erhalten theils gar keine Zusicherungen ans Er¬
höhung, theils nnr vorübergehende Thcuerungszulagcn, theils bloße Anwartschaften
auf die Zukunft, theils endlich Zusätze zum Gehalt von wenigen Procenten. Die
Minister dagegen steigen von 4000 Thlr. auf 6000 Thlr., ja diese Verbesserung
um fünfzig Procent ist für so dringend gehalten worden, daß man sie sich schon
seit dem 30. Juli 1833 beigelegt hat, und von den Ständen nunmehr Nachbe¬
willigung verlangt. Nicht minder werden die Landdrosten, die Chefs der sechs
Mittelbehörden in der Provinzialverwaltung, von 3000 auf 3300 Thlr. und mehr,
je nach persönlichem Verdienst, gesteigert. Amtmänner, Rcgicrungsräthe, Obcr-
gerichtsräthe, und ihnen gleichstehende Staatsdiener der höheren Classen werden
nicht dadurch verbessert, daß ihre niedrigsten oder ihre durchschnittlichen, sondern
dadurch, daß ihre höchsten Gehaltssätze wachsen. Die zweite Kammer wird - die
Sache hoffentlich umdrehen, und die niederen Schichten der Staatsdienerschaft vor
Bankrott, Verzweiflung und Elend zu retten suchen, ehe sie einen Pfennig sür
die Vermehrung eiteln Glanzes in den Straßen und auf den Parkets der Residenz
hergibt.
Es kann von niemand geleugnet werden, daß Nußland auf
die entschiedenste Weise um Frankreichs Freundschaft buhlt. Graf Orloff läßt keine
Gelegenheit vorübergehen, ohne dem Kaiser Napoleon Achtung und Verehrung zu be¬
weisen. Es ist jetzt auch kein Geheimniß mehr, wie Orloff sich des Beistandes vom
Frauzosenkaiser zu versichern gewußt, um gewissen Forderungen von dessen Alliirten
zu entgehen. Er hat die Sache Rußlands einfach in die Hände Napoleons gelegt,
indem er diesem seine Jnstructionen zeigend, ihn erkennen ließ, daß Rußland blos
pro l'ol-mu discutire, im Grunde aber in der Nothwendigkeit sei, um jeden Preis
Frieden zu machen. Wir wissen, daß Graf Orloff der Fürstin Lieven ihren häufigen
Verkehr mit den Feinden der Regierung zum Vorwürfe gemacht und daß er sich
geweigert habe, auf den Ball Pozzo de Borgo's zu gehen, weil dieser dem Grafen
sagte, bei ihm sei die wahre Gesellschaft von Paris zu sehen d. h. diejenige,
welche nicht nach den Tuilerien geht.
So schmeichelhaft das Entgegenkommen Rußlands sür den Kaiser sein muß,
da es dem Triumphe der französischen Waffen und anch der französischen auswärtigen
Politik die Krone aussetzt, so können doch einem scharfsichtigen Manne wie Louis
Napoleon die Motive der russischen Diplomatie nicht entgehen. Was bleibt dem
Zaren denn anders übrig, als der Versuch, sich so innig als möglich an Frankreich
anzuschließen? Die heilige Allianz ist gesprengt; sie ist gesprengt durch die ver¬
änderte Weltlage, aber vor allem durch das Benehmen Oestreichs, das Nußland, dies
sprechen alle Diplomaten, alle Aristokraten des russischen Reiches aus, ebenso schmerz¬
lich berührt, als die Demüthigungen, denen es sich unterziehen muß.
Wir stehen keinen Augenblick an, die Möglichkeit einer russisch-französischen
Allianz der englischen Negierung allein zuzuschreiben, was wir auch sonst immer
von der Persönlichkeit, die Frankreichs Schicksal lenkt, denken mögen. Englands
Staatsmänner haben den Krieg nicht im Sinne der öffentlichen Meinung ihres
Landes geführt und sie haben auch nicht bedacht, daß, auf einem gewissen Punkt
"»gelangt, sie die Aufgabe haben würden, Frankreich sür die Fortsetzung des diplo¬
matischen Krieges, dessen Resultat ohne allen Zweifel nur zu Englands Vortheil
ausgefallen wäre, in Asien wie im baltischen Meere, eine Entschädigung zu bieten.
Als der Zeitpunkt da war, überraschte sie die natürlichste Frage von der Welt, sie
tergiversirtcn und die Annahme des erstern Ultimatum ergab sich als eine Noth¬
wendigkeit von Seiten der Westmächte sowol als von jener Rußlands. Letzteres
ahnten die Engländer in der That ebensowenig als irgend jemand in Europa und
ste schmeichelten sich damit, der Kaiser werde durch die Weigerung des Zaren sich
gezwungen sehn, den Krieg in der begonnenen Weise fortspielen zu lassen, ohne daß
ste gezwungen sein würden, den Preis dafür zu bezahlen, aus den Frankreich An¬
spruch machte. Hieraus ergibt sich die weitere Folge von selbst, daß aus den Cor-
ftrenzen Louis Napoleon, obgleich in der Hauptsache fest zu England haltend, dessen
Forderungen Nußland gegenüber so weit mäßigte, als dies möglich gewesen war,
ohne dem Frieden ganz die Vortheile zu nehmen, die er Europa ohne Zweifel ge¬
währt. Lord Clarendon hat die Stellung Englands aus dem Kongresse durch eine
Ironische Huldigung, die im Friedeusvorwvrt Ausnahme sand, verewigt. Aber auch
Louis Napoleon ließ sich durch das .Compliment, das größte Verdienst an dem
Friedeusacte vom 30. März zu haben, nicht täuschen. Er erklärte vielmehr vor
allen Bevollmächtigten in der Friedeusaudienz vom genannten Tage, daß der Friede
durchaus im Einklange sei mit den Grundsätzen, die Lord Clarendon von der
Tribüne des Oberhauses herab als die seinigen und der Regierung noch vor dem
Friedensschlüsse verkündigt hatte.
Während der Friedensverhandlungen hat England mit Ausnahme der Grcnz-
berichtigung in Bessarabien, der transkaukasischen Festungen und einen Augenblick
lang auch mit Ausnahme der Reorganisation der Donaufürstenthümer fortwährend
zu Frankreich gehalten und hätte der Präsident seine Ausgabe besser verstanden,
das, cordiale EinVerständniß wäre noch solider geblieben. Die Uebereinstimmung
hat sich während der letzten Sitzungen in zwei sehr wichtigen Fällen geltend ge¬
macht. England und Frankreich haben mit gleichem Nachdruck die Räumung der
Donaufürstenthümer durch Oestreichs Truppen verlangt. Letztere Macht mußte ver¬
sprechen, den Rückzug innerhalb der ersten vierzig Tage nach dem Austausch der
Ratifikationen zu bewerkstelligen und es wurde dem wiener Bevollmächtigten nicht
verhehlt, daß die Westmächte entschlossen sind, an die Nichtausführung dieser For¬
derung einen Kriegsfall zu knüpfen. Das hat auch gewirkt, aber die Energie der
Westmächte Oestreich gegenüber scheint hiermit erschöpft und es blieben ihre Be¬
mühungen hinsichtlich der Legationen ohne Erfolg. Nachdem Louis Napoleon nach seinem
System der persönlichen Einwirkung und der Privatverhandlung mit den vorzüglich
interessierten Staatsmännern dem Grasen Buol die Donaufürstenthümer für die
Lombardei vergebens angetragen hatte (wir verbürgen die Genauigkeit dieser An¬
gabe), kam die Räumung der Legationen in der letzten Sitzung (vom Dienstag)
zur Sprache. Als katholische Macht hatte Frankreich mit aller Schonung gegen das
Papstthum vorzugehen, ließ es aber keineswegs an einer objectiven Darstellung der
Unfähigkeit der geistlichen Regierung sehlen. Noch nachdrücklicher, weil dies Mal
ohne jeden Rückhalt, fiel die Kritik der neapolitanischen Negierung aus, und Gras
Walcwski ließ die versammelten Conferenzmitglieder einen Blick in die Denkweise
seines Herrn werfen. Rußland entschuldigte sich mit dem Mangel an den erforder¬
lichen Weisungen, und Oestreich erklärte, jedes Zugeständniß in.Bezug aus Italien
zurückweisen zu müssen, da auch das geringste den Besitz der italienischen Provinzen
in Frage stellen könnte. Lord Clarendon sprach mit der beredte» Verzweiflung, mit
der man. für eine Verlorne Sache spricht und seine Rede hat um so mehr Ein¬
druck hervorgebracht (wenn auch keinen Erfolg erzielt) als der englische Minister
ohne jeden Rückhalt sprach. Es handelte sich in der That nicht mehr darum, zu
überzeugen, es galt die Verantwortlichkeit an künftigen Ereignissen von den Schul¬
tern der Westmächte abzuwälzen. Seine Darstellung der Zustände in Italien soll
eine so plastische gewesen sein, wie sie die farblose Auseinandersetzung in diplo¬
matischen Conferenzen niemals bietet, und Lord Clarendon nahm ungefähr die Hal-
tung ein, wie ein Oppositionsreduer im Parlament. — —
Unter den moralischen Epidemien, welche das Menschengeschlecht zu ver¬
schiedenen Zeiten heimgesucht haben, ist der Glaube an Hererei gewiß eine der
seltsamsten, wie er durch die aus ihm hervorgehenden Herenversolgungen, zu den
traurigsten Resultaten führte. Nachdem er sich gleich einem finstern Schalten
durch das ganze Mittelalter durchgezogen, zeigte er sich kurz vor dem Augenblick,
wo er der wachsenden Intelligenz erlag oder, von ihrem Lichte verscheucht, in die
untersten Schichten deS Pöbels sich zurückzog, mit verdoppelter Jntenstvität.
Bis gegen das Ende des siebzehnten Jahrhunderts war keine alte Frau, wenn
sie nur recht häßlich war, ihres Lebens sicher, da man annahm, daß der böse
Feind, aus einem angebornen Mangel an ästhetischem Sinn sich vorzugsweise die
mißgestaltetsten Werkzeuge aussuche; der Herenvroceß bildete einen der wich¬
tigsten Theile der Criminalpraris, und in England, wo die Krankheit mit be¬
sonderer Wuth grassirte, war sogar ein eigner Generalhcrenfinder angestellt,
der sich von Amtswegen mit der Untersuchung aller Fälle beschäftigen mußte,
in welchen man diabolische Einflüsse witterte. Auf die Entdeckung eiger „Ver¬
bündeten des Satan" wurde ein Preis von zwanzig Schilling gesetzt, und es
fehlte natürlich von nun an nicht an Leuten, die sich mit aller Energie einem
so lucrativen Handwerk widmeten. Ein einziger Denunciant, der später in
Schottland wegen Meineides gehangen ward, bekannte, daß er zweihundertund¬
zwanzig Frauen auf solche Weise ums Leben gebracht habe; in Esser wurden
auf das Zeugniß eines gewissen Hopkins in einem einzigen Jahr mehr als
^chzig vermeintliche Hexen hingerichtet, und die Gesammtzahl der armen alten
Weiber, die auf Grund dieser abgeschmackten^ Anklagen einen oft von grau¬
samen Qualen begleiteten Tod erlitten, wird von einem gleichzeitigen Autor
auf 3-—zooo angegeben.
Von England aus siedelte die Herenriecherei nach der neuen Welt über,
wo manche Umstände sich vereinigten, ihr Umsichgreifen zu begünstigen. Von
ihrem Vaterlande getrennt, aus allen ihren heimathlichen Verhältnissen heraus¬
gerissen und auf eine fremde Küste geworfen, wo sie unter einem rauhen Himmel
und ohne die Hilfsmittel der modernen Cultur mit den Mühseligkeiten und
Entbehrungen des Colonistenlebens zu kämpfen hatten; von wilden Jndianer-
stammen umringt, welche die Niederlassungen der „bleichen Gesichter" mit Feuer
und Schwert verheerten, und von klimatischen Krankheiten decimirt, welche
ihnen verderblicher wurden, als die Tomahawks der Moheganer und Pequots.
mußte die von Natur ernste und melancholische Gemüthsart der Pilgerväter
einen noch tieferen Schatten annehmen. Die geheimnißvollen Töne, die aus
dem Dunkel des schaurigen Urwaldes zu ihnen drangen, klangen in ihr Ohr
wie Geisterstimmen ans einer überirdischen Welt, und die Phänomene einer
fremden Natur, für die ihnen jede wissenschaftliche Erklärung fehlte, erschienen
ihnen wie ein seltsamer Spuk, hervorgebracht durch die Machinationen jenes
alten Widersachers, der es von jeher geliebt hatte, die Kinder Gottes zu ver¬
suchen und zu ängstigen. Wie der EroduS Moses und seiner Hebräer nach
dem gelobten Lande mußte ja auch die Ansiedlung des neuen Israel in dem
neuen Kanaan von Zeichen und Wundern begleitet sein, die sich jedoch nicht
auf eine Neproducirung biblischer Vorgänge beschränkten, sondern eine barocke
Mischung mittelalterlicher Traditionen mit Erinnerungen aus der Heidenzeit
und dem classischen Alterthum enthielten. Die Wildnisse Neuenglands bevölker¬
ten sich für die gläubigen Puritaner mit Scharen von Dämonen, Kobolden,
Hexen und andern übernatürlichen Wesen, von denen die guten Leute viel aus¬
zustehen hatten und über deren Treiben ein in der socialen und literarischen
Geschichte Amerikas berühmter Mann, der Geistliche Malser zu Boston, in
einem merkwürdigen Werke Rechenschaft gibt, das längst zu den bibliographi¬
schen Seltenheiten gehört und uns jetzt in einem für die von John Russell
Smith herausgegebene Library ok 01Ä ^utlaors veranstalteten Abdruck vor¬
liegt.") -
Jncrcase Malser, oder CrescentiuS Matheris, wie er sich zu unterschreiben
pflegte, wurde im Jahr 1639 zu Dvrchester in Massachusetts geboren und er¬
hielt seinen Namen von dem großen Zuwachs der Colonie, der mit seiner Ge¬
burt zusammentraf. Von seinem Vater, einem geachteten Prediger der Puri¬
taner, den die Unduldsamkeit Lands über das Weltmeer getrieben hatte, für
den geistlichen Stand bestimmt, wurde er, da es in Neuengland zur Zeit noch
an gelehrten Anstalten fehlte, schon in früher Jugend der Obhut eines Land¬
manns anvertraut, der ihn nach Dublin führte, wo er sich mit Eifer dem
Studium der alten Sprachen, der Philosophie, Theologie und rabbinischen Ge¬
lehrsamkeit widmete und in seinem neunzehnten Jahr promovirte. Der An¬
schluß an die herrschende Kirche hätte ihm eine glänzende Laufbahn eröffnet;
er zog eS vor, nach seinem Geburtslande zurückzukehren und ein Pfarramt in
Boston anzunehmen, welches er einundsechzig Jahr lang bis zu seinem Tode
verwaltete. Die Regierung Neuenglands hatte damals einen in hohem Grade
theokratischen-Charakter, dessen Spuren noch immer nicht ganz verwischt sind;
das Meetinghouse, schreibt Bancroft, war der Mittelpunkt, um welchen sich
das Volk versammelte; die Stimme des Geistlichen oder der „Minister", wie
man sie nannte, war auch in weltlichen Angelegenheiten entscheidend; alle
Staatsschriften wurden von ihnen verfaßt, sie waren die Hauptredner bei den
Wahlen und städtischen Zusammenkünften und nicht selten die Bevollmächtigten
bei diplomatischen Verhandlungen. So spielte anch Malser in den politischen
Wirren seiner Zeit eine einflußreiche Rolle; als der berüchtigte Kitt von
Karl II. zum Gouverneur der Colonie ernannt wurde und in der despotischen
Weise zu Hausen begann, die den Beamten der Stuarts eigen war, sandten
die Nachkommen der Pilger den frommen und beredten Mann mit ihren Klagen
und Vorstellungen nach England, wo er Zutritt zum Könige gewann und Zu-
sicherungen von ihm erhielt, die das gewöhnliche Loos hoher Versprechungen
theilten, und als mit der Revolution ^von 1688 auch für Neuengland eine
glücklichere Aera anbrach, gelang es ihm, die Erneuerung des zerrissenen Frei¬
briefs der Colonie bei Wilhelm III. auszuwirken, dem er dagegen im Geist
eines Innocenz oder Gregor die Würde eines „Kaisers von Amerika" verhieß.
Daß ein solcher Mann'seine Mußestunden mit Untersuchungen über Dämono¬
logie und schwarze Kunst ausfüllte, beweist, welches Interesse dergleichen Fragen
für seine Mitbürger besaßen, und in der That fiel die Herausgabe seines
Buchs in eine Periode, wo der Aberglaube, der die Colonisten aus der alten
Welt nach der neuen begleitet hatte, einen Ausbruch des Fanatismus hervor¬
rief, welcher zu ähnlichen Blutscenen führte, wie diejenigen, von denen ihre
frühere Heimath Zeuge war, und welcher eine der dunkelsten Seiten in den
Annalen ihres neuen Vaterlandes bildet.*)
Das Buch, das, wie sein Titel besagt und in der Vorrede näher aus¬
einandergesetzt wird, zum Zweck hat, „Bericht zu geben von vielen be¬
merkenswerthen und sehr denkwürdigen Begebenheiten, die sich in dieser
letzten Zeit besonders in Neuengland ereignet haben und das erhabene Wal¬
len der Vorsehung beurkunden," zerfällt in zwölf Abschnitte, wovon die
drei ersten merkwürdige, von mehr oder minder wunderbaren Umständen be¬
gleitete Fälle von Rettung aus FeuerSgefcchr und Wassernoth erzählen, der
vierte aber sich in ,,philosophischen" Betrachtungen über Antipathie und
Sympathie, über Talismane und Amulete ergeht und von den Wirkungen
^'s Donners und des Blitzes handelt, der mitunter vom Satan, mitunter je¬
doch auch von guten Engeln erzeugt wird. Dergleichen Erörterungen, dienen
"is passende Introduction zu dem Hauptinhalt des Werkes, in welchem von
„übernatürlichen Dingen", von Heran und Zauberern, von Geistererscheinungen
und anderen Manifestationen diabolischer Kräfte die Rede ist, derßn Authentici¬
tät der Verfasser mit großem Eifer gegen die Angriffe der Skeptiker vertheidigt,
an denen es auch in jenen Tagen nicht ganz fehlte. „Wie Avicenna, Averroes
und andere atheistische Philosophen früherer Zeit/' sagt er, „behaupten die
Sadducäer unsrer Tage, daß es keine Geister gibt, und daß alle Berichte über
dieselben entweder MÄrchen oder durch natürliche Ursachen zu erklären sind.
Außer vielen andern aber hat sie der gelehrte Portius ^in viss. cle operativ-
riibus vssmcmum) hinlänglich widerlegt.. Und gleich wie es die Erfahrung
anderer Zeitalter und Regionen lehrt, so haben auch die Dinge, welche die
göttliche Vorsehung gestattet und angeordnet hat, daß sie sich in unsrer Mitte
zutrugen, es, selbst wenn die Schrift schwiege, über alle Frage gestellt, daß es
Teufel gibt, welche diese niedere Welt heimsuchen. Wahr ist es allerdings,
daß die Macht Satans und seiner bösen Engel durch die Vorsehung Gottes
begrenzt ist, so daß sie keinem Menschen oder Wesen und noch viel weniger
einem seiner Diener schaden könne, ohne die Erlaubniß dessen zu haben, der
die Herrschaft über sie alle ausübt. Es ist ein merkwürdiger Fall, den ChyträuS
über Luther erzählt, daß, als der Herzog von Sachsen den letzteren nach einem
verborgenen Orte hatte bringen lassen und er von seinem unversöhnlichen
papistischen Feinden gesucht wurde, sie mit Schwarzkünstlern zu Rathe gingen,
um zu finden, wo Luther sich versteckt habe, die Hexenmeister aber gestanden,
daß sie ihn nicht entdecken könnten. Unstreitig wußten die Teufel, wo Luther
sich verborgen hielt, nur wollte Gott ihnen nicht erlauben, es zu offenbaren.
Trotzdem löst bisweilen der Herr seiner heiligen und weisen Zwecke halber,
die Kette, mit der die Löwen der Hölle festgebunden sind. Die Wahrheit hier¬
von wird durch manche schreckliche Beispiele bezeugt, unter welchen die körper¬
liche Besitznahme von Menschen durch den Satan nicht das geringste ist.
Mitunter hält eS zwar schwer, zwischen natürlichen Gebrechen und satanischer
Besessenheit zu unterscheiden, so daß man Personen, die wirklich besessen waren,
nur von einer natürlichen Krankheit belästigt glaubte, ohne den Finger des
bösen Geistes darin zu bemerken. Cornelius (as ^dclitis Ksrum Lausig, lib. 2,
cap. "16) spricht von einem gewissen jungen Edelmann, der von seltsamen Kon¬
vulsionen ergriffen wurde, die ihn wenigstens zehnmal täglich befielen. In
diesen Parorismen hatte er den freien Gebrauch seiner Sprache und seiner Ver¬
nunft; andernfalls würde man seine Krankheit für nichts weiter, als eine ge--
wohnliche Epilepsie gehalten haben. Viele Mittel wurden von geschickten
Aerzten, zu seiner Erleichterung angewendet, aber ganze drei Monate lang ohne
Erfolg; da begann plötzlich ein Dämon aus dem unglücklichen Patienten zu
sprechen, und zwar nicht nur in lateinischen, sondern auch in griechischen
Perioden, von welchen der Leidende selbst keine Kenntniß hatte; und der Dämon
enthüllte viele Geheimnisse, sowol der Aerzte, als auch der übrigen anwesenden
Personen, sie verspottend ob ihrer eitlen Bemühungen, einen Menschen zu
heilen, von dem er Besitz genommen habe. Es gibt verschiedene Autoren
(insbesondere Balduinus in seinen Gewissensfällen und Darret in seiner Ge¬
schichte der sieben Besessenen in Lancashire), welche es versucht haben, eine Be¬
schreibung und Charakteristik der Besessenen zu entwerfen, und von ihnen werden
folgende Erscheinungen als Kennzeichen des Bescssenseins angeführt: -I.Wenn
das betreffende Individuum verborgene Dinge, entweder vergangene oder zu¬
künftige offenbart, die ohne übernatürlichen Beistand nicht bekannt sein können.
2. Wenn es in fremden Sprachen redet oder Fertigkeit in Künsten und Wissen¬
schaften zeigt, die von ihm nie erlernt worden. 3. Wenn es Lasten tragen
und Dinge verrichten kann, welche die menschliche Kraft übersteigen, i«. Wenn
Worte ohne Hilfe der Sprachwerkzeuge ausgestoßen werden oder wenn man
Personen reden hört, deren Zunge und Lippen regungslos bleiben, so ist dies
ein Zeichen, daß ein böser Geist aus ihnen spricht, ö. Wenn der Körper
starr wird. 6. Wenn der Bauch sich plötzlich aufbläht und augenblicklich wieder
einschrumpft."
„Die Erfahrung," docirt Malser weiter, ,,hat nur zu oft bewiesen, daß
es Menschen in der Welt gibt, die mit der Hölle in Verbindung stehen. Man
hat notorische Zauberer gekannt, die sogar anderen die Ceremonien lehrten,
mittelst deren sie ihren Verkehr mit Dämonen unterhielten. Das Buch des
Trithemius 6s Ssptem lrUeIIixLiUÜ8 und die Schriften Cornelius Agrippas
über occulte Philosophie, in welchen diese verruchten Greuel nur allzugenau
beschrieben werden, befinden sich in Vieler Händen. Es eristiren noch mehre
andre Bücher, welche ausdrücklich von der Art und Weise, sich mit Dämonen
in Verbindung zu setzen, handeln, deren Titel, so wie die Namen der Autoren,
die sie veröffentlicht haben, ich absichtlich unerwähnt lasse, damit nicht vielleicht
jemand, in dessen Harpe diese Abhandlung geräth, sie aus gottloser Neugier
Zum Verderben seiner Seele aufsuchen möge. Auch hat man weltbekannte
Geschichten von Leuten, die ihre paisclrl oder dienstbaren Geister hatten, welche,
bald in der einen, bald in der andern Gestalt sie überall begleiteten; so in
alten Zeiten Apollonius von Thyana, in neueren Michael save und Josephus
Niger. Cardanus (6s 8ubI,iMatk, lib. XIX., p. 963) schreibt gleichfalls, daß
sein eigner Vater dreißig Jahr nacheinander mit einem solchen Hausgeist ver¬
gehen war. Ebenso hatte Christoph Wagner einen in der Gestalt eines Affen,
der ihn sieben Jahre lang begleitete, was auch bei Tolpardus der Fall war,
welche beiden letzteren endlich bei lebendigem Leibe von dem Teufel entführt
wurden, teil? sie ihre Seelen verschrieben hatten. Auch gibt es eine wahre
laußer der romantischen) Geschichte von Faust. Der vortreffliche Camerarius
erzählt in seinen Horas Subseeivas seltsame Dinge über ihn, die er von Leuten
gehört hatte, welche Faust kannten und Augenzeugen seiner magischen und dia¬
bolischen Täuschungen gewesen waren. Derselbe hatte ebenfalls einen dienst¬
baren Geist, in der Gestalt eines Mönchs, der ihm während eines Zeitraums
von vierundzwanzig Jahren folgte. Auch von Hciusdorfius und Lonicer wird
Faust erwähnt und Melanchthon versichert, daß er ihn gekannt habe, so daß
Raudens der Unwissenheit überführt ist, wenn er behauptet, ein solcher Mensch
habe nie in der West eristirt. Mit einem Wort, es ist unleugbar, daß es
Menschen gegeben hat, die in Sprachen reden und über Wissenschaften dis-
curriren konnten, die sie nie gelernt hatten; die Geheimnisse offenbarten, ver¬
borgene Schätze zu Tage förderten, gestohlene Güter aufspürten und die Diebe
anzeigten und unvernünftige Geschöpfe, ja Statuen und Bilder veranlaßten,
zu reden und verständliche Antworten zu geben. Von den jüdischen Tcraphim
wurde das oft gethan: siehe K. 8c>l. .lurodi in Ilos. III., 4; 8oIäen cle Oiis
Kyriis, pars 1, L»p. 2; Ilion. contra, Ksntss, lib. lit., oap. 1t>i. Solches
aber läßt sich nicht unter Mitwirkung bloßer natürlicher Ursachen ausführen
und es ist daher unzweifelhaft, daß, wer dergleichen ausübt, mit dem Satan
un Bunde stehen muß. Demgemäß haben sich auch viele dieses Verbrechens
Angeklagte eines Einverständnisses mit dem Teufel für wirklich schuldig aner¬
kannt, wovon Bodinus, Codronchus, Delrio, Jacqueriuö, Nemigius und andere
eine Menge Beispiele anführen. Hier zu Lande (in Amerika) haben einige Per¬
sonen versichert, daß sie vor mehr als fünfzig Jahren in einem andern Welt¬
theile einem Mann gekannt haben, der von dem ehrgeizigen Verlangen ver¬
zehrt wurde, für einen weisen Mann zu gelten, und zu dem der Teufel mit
dem Versprechen kam, daß er bald in hohem Ruf der Weisheit stehen solle,
wenn er einen Pact mit ihm schließen werde, dessen Bedingungen darin be¬
standen, daß, wenn die Leute sich bei ihm Rathes erholten, er suchen müsse,
sie zu überreden, daß es weder Gott, noch Teufels noch Himmel, noch Hölle
gebe, worauf nach Ablauf einer bestimmten Frist seine Seele dem Teufel zu¬
fallen sollte. Diese Bedingungen wurden angenommen, und da der Mann
hiernach fortfuhr, ein sehr ehrbares Leben zu führen, niemandem Uebles zu¬
fügte und vielen Gutes that, und allmälig den Namen eines Mannes von
außerordentlicher Weisheit erlangte, so kam man von sern und nah herbei,
ihn um Rath zu fragen, und seine Worte wurden von dem gemeinen Volk als
Orakel verehrt. Und seinen Vertrag erfüllend, verbreitete er bei jeder Gelegen¬
heit insgeheim die Grundsätze des Atheismus, ohne daß man argwöhnte, baß
er ein Hexenmeister sei. Aber wenige Wochen, ehe die vom Teufel festgesetzte
Zeit ablief, ward er von unaussprechlicher Gewissensangst ergriffen, so daß er
die geheimen Verhandlungen offenbarte, die zwischen ihm und dem Teufel statt¬
gefunden. Denjenigen, die ihn besuchten, rief er oft mit gräßlichem Brüllen
zu, er wisse jetzt, daß es einen Gott und einen Teufel, einen Himmel und eine
Hölle gebe. So starb er als ein klägliches Exempel ivon dem gerechten und
furchtbaren Gerichte Gottes. Und jedes Zeitalter erzeugte neue Beispiele von
solchen, die nach ihrem eignen Geständnis; gleich fluchwürdige Bündnisse mit
dem Fürsten der Finsterniß geschlossen haben."
An solchen Beispielen hatte nun, wie Malser des Breiteren auseinander¬
setzt, auch die noch so junge Geschichte Neuenglands keinen Mangel; sie war
vielmehr aus Gründen, die wir oben berührt haben, übernns reichlich damit
bedacht. Im Jahr 1662 wurde eine gewisse Anne Cole, „eine Person von
wahrer Frömmigkeit und ehrbaren Wandel", die zu Hartford in Connecticut
lebte, von seltsamen Parorismen befallen, „in welchen ihre Zunge von einem
Dämon benutzt ward, um Dinge auszudrücken, von denen sie selbst nichts
wußte," und welche dadurch ihren Klimax erreichten, daß die Patientin Hol¬
ländisch zu sprechen begann, was deutlich verrieth, daß sie vom Teufel geplagt
wurde. Indessen konnte der böse Feind gegen die Beschwörungen des Reverend
Mr. Stone und andrer frommer Männer nichts ausrichten; er sah sich im
Gegentheil gezwungen, durch den Mund der Anne Cole die Personen namhaft
ju machen, welche unter seiner Leitung der armen Dulderin so arg zugesetzt
hatten. Auf Grund dieser Aussage wurde „eine liederliche und unwissende
Frau, Namens Greensand, die zur Zeit als der Hexerei verdächtig gefangen
saß," vorgenommen und gestand, mit der Folter bedroht, alles, was man von
ihr verlangte, d. h. daß sie wirklich eine Liaison mit dem Gottseibeiuns unter¬
halte. „Auf die Frage, ob sie einen förmlichen Pact mit ihm geschlossen habe,
antwortete sie, daß sie dieses nicht gethan, sondern ihm nur versprochen, ihn
Zu begleiten, wenn er sie abholen würde, was mehre Mal geschehen sei. Der
Teufel habe ihr gesagt, daß sie um Weihnachten ein lustiges Rendezvous haben
würden und baß bann ber Pact geschlossen werden solle. Sie erklärte ferner, daß
>hr der Teufel zuerst in der Gestalt eines Rehs oder eines Hirschkalbs erschienen und
um sie herumgehüpft sei, so daß sie sich nicht sehr erschrocken habe; er sei all-
mälig vertraulicher geworden und habe endlich mit ihr zu sprechen begonnen.
(Hier wird der Verfasser unübersetzbar.) Sie - erzählte, daß die Hexen nicht
weit von ihrer Wohnung ihren Versammlungsort hätten; daß die einen in
eurer, die andern in einer andern Gestalt erschienen; so sei eine von ihnen in
^r Form einer Krähe mitten unter sie hineingeflogen. Infolge dieser Ans¬
age, zu deren Unterstützung noch andere Beweise hinzukamen, wurde die Frau
hingerichtet; ebenso ihr Ehemann, obgleich er sich nicht als schuldig bekannte."
-^'e anderen, "von Anne Cole denuncirten Personen suchten ihr Heil in der
Flucht, nachdem man ein paar von ihnen, einen Mann und eine Frau, u w
fauler an Händen und Füßen gebunden in den Fluß geworfen hatte, da es
"ne notorische Thatsache ist, baß Heren und Hexenmeister nicht ertrinken, wes¬
halb man sich ebensooft genöthigt sah, sie zu verbrennen. Auch diese beiden
„schwammen auf dem Strom nach Art einer Boje, zum Theil über, zum Theil
unter dem Wasser. Ein Zuschauer, welcher glaubte, daß jeder auf solche Weise
Gebundene von dem Strom getragen werden müsse, erbot sich, es selbst zu ver¬
suchen; aber nachdem man ihn in gleicher Manier sacht auf das Wasser gelegt
hatte, sank er augenblicklich unter. Dies war allerdings kein rechtlicher Be¬
weis gegen die verdächtigen Individuen; da sie jedoch überlegten, daß ein
Strick ihnen die Luftröhre zuschnüren könne, obgleich das Wasser eS nicht ver¬
mochte, so nahmen sie eiligst Reißaus und man hat seitdem hier zu Lande nicht
wieder von ihnen gehört." — ,,So behandelt Satan seine Clienten!" ruft der
Verfasser am Schlüsse dieser Geschichte aus. Er fügt hinzu, daß, nachdem die
der Hexerei Angeklagten hingerichtet worden oder sich geflüchtet hatten, Anne'
Cole von ihrer Krankheit vollständig hergestellt wurde und viele Jahre bei
guter Gesundheit verlebte, indem sie sich als eine fromme Christin zeigte.
Ein ähnlicher Fall trug sich bald darauf im Städtchen Groton (Massachu¬
setts) zu, „bei dem der Satan offenbar die Hand im Spiel hatte," der aber
einen weniger tragischen Ausgang nahm. ,,Es lebte in dieser Stadt eine
Jung/ran, Namens Elisabeth Knap, die im Monat October, Anno-1671, in sehr
seltsamer Weise befallen wurde, bald weinend, bald lachend, bald gräßlich brüllend,
mit heftigen Bewegungen und Verrenkungen des Körpers und dem Geschrei: Geld!
Geld! Im folgenden November würde ihre Zunge mehre Stunden hintereinan¬
der in der Form eines Halbzirkels nach dem Gaumen herausgezogen und konnte
nicht davon entfernt werden, obgleich mehre es mit den Fingern versuchten.
In einigen ihrer Anfälle vermochten sechs Männer kaum, sie festzuhalten, und
sie sprang heulend und schauderhaften Anblicks im Hause umher. Am 17. De¬
cember wurde ihr die Zunge bis zu einer enormen Länge aus dem Munde
herausgezogen, und jetzt begann sichtbar ein Dämon aus ihr zu reden. Man
hörte sie viele Worte, in welchen sich die Labialbuchstaben befanden, ohne
Hilfe der Lippen aussprechen; ein klarer Beweis, daß die Stimme nicht die
ihrige war. Bisweilen schienen die Worte aus ihrer Kehle zu kommen, wenn
der Mund geschlossen war; bisweilen bei offenem Munde, aber ohne daß die
Sprachwerkzeuge gebraucht würden. Die von dem Teufel gehaltenen Reben
waren hauptsächlich Schmähungen und Verunglimpfungen des Mr. Willard,
eines damaligen würdigen und frommen Pastors der Kirche zu Groton.-Eben¬
so ergoß sich der Dämon in den abscheulichsten und ruchlosesten Blasphemien,
indem er sich selbst über den Allmächtigen stellte. Endlich rief das Mädchen
in einem ihrer Anfalle aus, daß eine Nachbarin ihr erscheine" und daß diese
die Ursache ihrer Leiden sei. Die also angeklagte Person war eine gottergebene,
heilige Frau, die sich alsbald aus den Rath ihrer Freunde zu der Unglücklichen
begab, und obgleich diese mit geschlossenen Augen dalag, so konnte sie doch
(so mächtig war die Einwirkung Satans aus sie) verkünden, wer gekommen sei.
und die Berührung jener Frau von der eines jeden andern unterscheiden. Aber
das gottbegnadete Weib, das von einem boshaften Teufel also beschuldigt und
geschmäht worden, betete ernstlich für die Besessene und in Gemeinschaft mit
ihr; wonach letztere gestand, daß der Teufel sie verführt habe, indem er sie
ohne Ursache Uebles von ihrer guten Nachbarin denken ließ. Auch klagte sie
später niemals über ähnliche Erscheinungen oder Belästigungen; sie erkannte
vielmehr, daß es der Teufel selbst war, dex unter der Maske anderer sie gequält
und ihr dann eingeredet habe, daß es nicht von ihm, sondern von diesen herrühre."
Mitunter begnügten sich auch die Heren und ihre diabolischen Helfers¬
helfer mit neckischen Streichen, die ihnen wahrscheinlich zur Kurzweil oder als
Jntermezzos zur Erholung von ihren wichtigen Beschäftigungen dienen mochten
So wurde im Jahr, 1679 die Wohnung eines gewissen William Morse in.
Newberry von einem Hauskobold alarmirt, der allerlei Schabernack trieb, über
welchen der Beängstigte ein förmliches, Tagebuch gehalten hat. Am 3. Decem¬
ber „hörte er und seine Frau des Nachts ein Gepolter auf dem Dache ihres
Hauses, als hätte man Steine und Knittel mit großer Heftigkeit gegen dasselbe
geworfen; er stand auf, konnte aber nichts sehen, worauf er die Thüren fest
verschloß und wieder zu Bette ging. Um Mitternacht hörte der Mann ein
Schwein, welches einen großen Rumor im Hause machte; er stand also von
neuem auf und fand ein großes Schwein im Hause, obgleich die Thür zuwar;
als er diese aber öffnete, lief daS Schwein davon." Ob besagtes Schwein
der Teufel in proprls, pors-ung,-oder nur ein Medium war, dessen sich der Böse
zur Verirung der armen Sterblichen bediente, wird nicht ausdrücklich angegeben
und bleibt dieser interessante Punkt mithin zweifelhaft.
Ein ander Mal „wurden fünf mächtige Steine und Ziegeln von einer
unsichtbaren Hand in das Haus hineingeworfen, während die Frau das Bett
machte; die Bettstelle wurde in die Höhe gehoben, die Bettleiste aus dem
Fenster geschleudert und die Katze ihr nachgeworfen; ein langer Stab tanzte
den Kamin herab, ein gebrannter Ziegel und ein Stück Bret von einem Wetter¬
dach kam durch das Fenster hereingeflogen u. s. w. Eine Zeitlang konnte
die Familie ihr Abendbrot nicht ruhig verzehren, indem die Asche von dem
Herde vor ihren Augen in ihre Speise, ja auf ihre Köpfe und ihre Kleider
geworfen wurde, so baß sie in ihre Schlafkammer sich flüchten mußte, aber auch
dort keine Ruhe hatte; denn einer von den Schuhen des Mannes, die er
unten gelassen, wurde ihm, mit Asche und Kohlen gefüllt, nachgeworfen; das
^icht wurde ausgelöscht, und als Mann und Frau, mit dem kleinen Knaben
Zwischen ihnen, im Bett lagen, fiel ein großer Stein, drei Pfund von Gewicht,
aus der Dachluke aus sie herab, und sie wurden mit einem Hopfensack geschlagen,
bis die Hopfen auf dem Fußboden zerstreut waren, worauf man den Sack hin¬
warf und sich entfernte."
Der eben erwähnte Knabe, der Enkel des Hausherrn, spielte, wie es
scheint, eine hervorragende (active oder passive?) Rolle in- diesen Scenen, die
in unverkennbarem Zusammenhang mit jenen Phänomenen stehen, die unser auf¬
geklärtes Jahrhundert unter dem Namen des Tischrückens und Geisterklopsenö
anstaunen gelernt hat. Als er einst bei seinem Großvater saß, „fing er plötz¬
lich an, sich heftig zu bewegen, worauf der Mann ihn zwischen seine Beine
nahm; aber der Stuhl tanzte auf. und nieder und hätte beinah sowol den
Mann als den Knaben ins Feuer geschleudert, und nachher ward das Kind
in solcher Manier umhergeworfen, daß man befürchten mußte, es würde ihm
das Gehirn zerschmettert werden, indem der Mann ihn umsonst festzuhalten
suchte. Der Knabe wurde nunmehr zu Bett gebracht; alsbald aber ließ sich
FM fürchterlicher Lärm vernehmen, und als man fragte, was es gebe, ant¬
wortete er, daß sein Bett auf und nieder springe. Wie sie (der Mann und
seine Frau) hinaufgingen, fanden sie zuerst alles ruhig; ehe sie aber lange dort
gewesen, sahen sie das Kopfbett zittern und das Bettzeug zur Erde fliegen;
kaum hatten sie den Knaben wieder zugedeckt, als die Laken abermals fort¬
huschten, so daß sie, um nur Ruhe zu haben, ihn endlich aus dem Bette
nahmen."
Analoge Erscheinungen wurden um dieselbe Zeit in andern Theilen Neu¬
englands bemerkt, wie in Portsmouth, Hartford und bei den Salmon Falls,
wo ein böser Geist sich der Gattin des Antonio Hortado unter der Gestalt
eines alten Weibes in einer weißen Haube und kurzem blauen Mantel zeigte.
Die Glaubwürdigkeit dieser Berichte wird uns von dem Versasser mit einem
immensen Aufwand von Gelehrsamkeit vordemonstrirt, indem er alles, was
ältere und neuere Autoren über Dämonen und Dämonologie geschrieben haben,
zur Unterstützung seiner Thesis benutzt und endlich, sich auf die heilige Schrift
berufend, durch Hinweisung aus die Here von Endor, die Zweifler glücklich zum
Schwelgen bringt.
Man'wird sich aus diesen Mittheilungen überzeugt haben, daß Malser
in vollem Maße den Aberglauben theilte, an dem seine Zeitgenossen laborirten;
für ihn war die Welt mit Heren und Zauberern, mit Agatho- und Kako-
dämonen, mit redenden Fischen und Vögeln und mit inspirirter Pferden und
Ochsen angefüllt. Aber trotz der Begierde, mit der er den Wundergeschichten
lauschte, die ihm erzählt wurden, und der naiven Einfalt, mit der er sie als
lautere Wahrheit registrirre, muß man doch anerkennen, daß es dem guten
Mann nicht ganz an Kritik fehlte; er gibt zu, daß manches, was von über¬
natürlichen Einflüssen herzurühren scheine, auf Sinnentäuschung beruhe oder
gradezu durch Taschenspielerkünste hervorgebracht sei, und verwirft die ,,eitlen
Lehren" der Kabbala und „jenes großen Schwarzkünstlers Pythagoras" über
den Gebrauch gewisser Zeichen und Formeln als Beschwörungsmittel und über
die einigen Kräutern beigelegte Eigenschaft, die Geister anzulocken oder zu
vertreiben. Und in einem Zeitalter wie das unsrige, wo die Tischverrückthcit
und Gcisterklopffechterei die Reise um die Welt gemacht hat, wo Psychographie
und Somnambulismus grassiren und Mormonen und Jrvingianer ihr Wesen
treiben, wo Crucifixe Blut schwitzen und Madonnenbilder Thränen vergießen
und wo die „Leibhaftigkeit" des Teufels sich von neuem zum Dogma unsrer
reformirten Kirche erhebt, dürfen wir den ehrlichen alten Puritaner nicht zu
streng beurtheilen, wenn er in denselben Irrwahn verfiel, den die Fortschritte
der Cultur noch heute nicht ganz auszurotten vermocht haben.
von Professor Karl Schwarz. Leipzig, Brockhaus. —
Der Verfasser hat die neueste Bewegung auf dem Gebiet der Theologie
mit warmem Eifer selbst durchgemacht, er ist aber von den praktischen Tendenzen
derselben nicht so umstrickt gewesen, daß er nicht ein völlig unbefangenes Ur¬
theil bewahrt hätte. Neben der vollständigen Kenntniß seines Gegenstandes
besitzt er eine reiche philosophische Bildung und zugleich das Talent, das mit
großer Feinheit aufgefundene Ncrvengeflecht dieser Bewegung auch dem un--
kundigen Auge bloßzulegen. Obgleich er zwischen den guten und schlechten
Richtungen der Theologie einen Unterschied macht, hat er doch ein gebildetes
Verständniß auch für die guten Seiten seiner Gegner und das ehrliche Be¬
streben, denselben gerecht zu werden. Ueber das letzte Resultat seiner Ueber¬
zeugung sind wu nicht ganz mit ihm einverstanden und hätten deshalb auch
gegen die Art, wie er die neuesten Leistungen der Theologie bespricht und wie
er sich die zukünftige Entwicklung denkt, manches einzuwenden; für alles Vor¬
hergehende aber können wir uns zuversichtlich seiner Leitung anvertrauen. Wir
durchmustern an seiner Hand, wenn, auch nur flüchtig, das umfassende Gebiet
der religiösen Entwicklung des neunzehnten Jahrhunderts.
Der alte Rationalismus, der zu Ende des vorigen Jahrhunderts herrschte,
litt nicht, wie man ihm nachzusagen pflegt, an einem Uebermaß der Vernunft,
sondern an einer mangelhaften Ausbildung derselben. Er lehnte sich gegen
die Uebernatürlichkeit der Dogmatik auf, aber nur um die gemeine Natürlich¬
st, eine lare Moral und einen nüchternen Pragmatismus an die Stelle zu
setzen. Er konnte das Christenthum nicht kritisiren, weil ihm die Bildungs-
»ivinente fehlten, es zu verstehen/
Zwei Umstände waren es, welche eine Wiedergeburt der Religion herbei-
führten: der ästhetische Bildungstrieb unsrer classischen und romantischen Dich-
ter und das Gefühl der ernsten, gemeinsamen Noth in den Zeiten der fran¬
zösischen Kriege, Fast jeder von den Dichtern und Philosophen, die sich damals
an der Literatur betheiligten, trug sein Scherflein zur Wiederherstellung der
Kirche bei. Bei weitem die wichtigsten Beiträge aber erfolgten von Hegel und
Schleiermacher.
Hegel entdeckte durch seine Speculation den tiefen Inhalt der christlichen
Vorstellungen. Es war natürlich, daß man in der ersten Freude über diese
Entdeckung in den Wahn verfiel, das Dogma und die Speculation gingen
wirklich an allen Punkten zusammen und wären nur der Form nach verschie¬
den, daß man also den ganzen Inhalt der Vorstellung ohne kritische Prü¬
fung in den Begriff verlegte. Mit seinem Widerwillen gegen allen abstracten
Idealismus stellte sich Hegel entschieden auf Seite der Restauration. Die
Kehrseite jenes Positivismus war eine Begriffsvergötterung, welche der Ge¬
schichte alles Blut aussog, so daß nicht lebendige Charaktere, sondern todte
Begriffsformen die Ereignisse bestimmten. Indem Hegel in seiner Construction
mit dem ganz Allgemeinen und Unbestimmten begann, mußte auch der ur¬
sprüngliche Gott bei ihm als das Leere und Inhaltlose erscheinen, und eine Er¬
füllung trat erst ein, als er sich in dem Menschen entfaltete. In dieser Be¬
ziehung ist die Lehre der Junghegelianer, daß der Mensch die wahre Dar¬
stellung Gottes sei, in Hegel bereits dedicirt.— Wir bemevken zu dieser Dar¬
stellung , daß in der Entwicklung der hegelschen Philosophie der Fortschritt
vom Positivismus zur Negation nicht ganz so in gerader Linie stattfand, als
es hier angegeben wird. Die Richtung der Restauration Me nicht in Hegels
erste Periode, sondern erst in die zweite.
Einen umgekehrten Verlauf nahm die schleiermachersche Theologie. Sie
begann kritisch zersetzend und pantheistisch und endigte im christlichen Glauben.
— In Schleiermachers erstem Auftreten zeigt sich fast nur das ästhetische Be¬
dürfniß nach religiösen Gefühlen, dieselbe Virtuosität der Empfindung, welche
auch die religiösen Versuche der romantischen Schule charakterisiert. Schleier¬
macher ging nicht von der Theologie aus, sondern von der weltlichen, der
Theologie entgegengesetzten Bildung; aber er hat eine nachhaltigere Wirkung
ausgeübt, als seine Vorgänger, Herder, Jacobi u. f. w., weil er es''verstand,
die Ströme dieser Bildung wirklich in das Bett der Theologie abzuleiten und
so eine innere Reform der Theologie vorzubereiten, während jene außerhalb
der Theologie stehen blieben. „Schleiermacher war im Leben wie in der Wissen¬
schaft der Repräsentant der Subjektivität, der Mann, der rastlosesten Beweg¬
lichkeit, des beißendsten Witzes, wie deS erregbarsten Gefühls. Es war in
ihm eine wunderbare Federkraft des Geistes, eine dialektische Viriuosität nicht
allein des Wissens, sondern auch deS Wollens. Aber bei dieser funkensprühen-
den Dialektik, bei dieser rastlosen Beweglichkeit seines sittlichen Strebens offen-
harte sich zugleich eine tiefe Innerlichkeit, in welche das freie dialektische Spiel
immer wieder zunickgelenkt wurde. Es war in ihm eine seltene Vereinigung
von tiefer und sublimer Religiosität und unendlich beweglicher Verstandes-
reflerion." — Man kann sagen, daß Hegel die alte Orthodoxie vergeistigte,
Schleiermacher den alten Pietismus. Darum ging der erste vorzugsweise auf
die spekulativen Dogmen aus, die Dreieinigkeit u. s. w., während Schleier¬
macher den ethischen Inhalt der Erlösung in den Vordergrund stellte. Sämmt¬
liche Richtungen der Theologie wurden von ihm befruchtet, die äußerste Rechte
wie die äußerste Linke, Tholuck wie Strauß. Auch wo sie gegen ihn kämpften,
kämpften sie mit seinen Waffen. — Fast ebenso wichtig, wie sein Idealismus
der religiösen Empfindung wurde seine Kritik der biblischen Geschichte. Man
hatte in der rationalistischen Zeit vergebens sich abgemüht, die Widersprüche wie
den Zusammenhang der verschiedenen Evangelien genügend zu erklären. Den
wichtigsten Fortschritt hatte Gieseler gemacht, welcher an Stelle des schriftlichen
Urevangeliums ein mündliches setzte; eine Annahme, die'um so größern An¬
klang fand, als sie mit der wolfschen Analyse des Homer sich nahe berührte.
Auch Schleiermacher geht aus von einer mündlichen Ueberlieferung, die aber
nicht durch apostolische Leitung, sondern absichts- und reflerionSlos entstand.
Sie bildete sich gleich zu Anfang in zwei Hauptmassen, dem Kreis von Gali-
läa und von Jerusalem. Diese mündliche Ueberlieferung wurde bald firirt
durch Aufzeichnung einzelner Theile. Aus der verschiedenartigen Verbindung
dieser kleinen Schriftstücke (Diegesen) ist die Differenz unsrer gegenwärtigen
Evangelien zu erklären. Die Verfasser derselben sind nur Sammler und Be¬
arbeiter des vorgefundenen Materials, keiner von ihnen hat ans eigner An¬
schauung geschöpft. Im Ganzen liegen die Thatsachen zu Grunde, manche
Einzelnheiten dagegen sind mythisch, theils wegen der Trübheit der Quellen,
theils aus Wundersucht. Dagegen steht das Evangelium Johannes auf histo¬
rischem Boden. Hier haben wir nicht eine spätere Zusammenfügung münd¬
licher und schriftlicher Ueberlieferungen, sondern Selbsterlebtes. Der Augen-
Znige tritt uns überall mit klarer Lebendigkeit entgegen. — Diese Kritik, die
gegen die apostolischen Briefe mit ebenso großer Rücksichtslosigkeit ausgeübt
wurde, als gegen die platonischen Dialoge, fand ihren Fortsetzer und Vervoll-
stcmdiger in De Wette. Der Charakter seines kritischen Verfahrens ist der des
parteilosen, ruhigen Erwägens, das häufig ohne irgend einen Abschluß in
Zweifel stehen bleibt.
sowol Hegel als Schleiermacher standen auf dem Boden der classischen
"sthetischen Bildung, obgleich sich namentlich bei dem letztem der Einfluß der
'unern sittlichen Wiedergeburt des Volks lebhaft geltend macht. Entschiedener
trat dieser Einfluß bei der Wiederherstellung der Orthodoxie hervor. Ein großer
Theil der modernen Rechtgläubigen war in der Burschenschaft gebildet. Es
war ein Streben nach Volkstümlichkeit, daß sie ein recht massives, derbes
Christenthum im Sinne Luthers versuchten. Ihnen erschien diese ganze Theo¬
logie zu spiritualistisch, zu dünn und fein gespitzt, zu gefühlig und unbestimmt,
daß sie wol dem Gebildeten und Geistreichen, nicht aber dem realistischen Sinn
des Volks zugemuthet werden dürfe; und daraufkam es doch grade an, das
Volk in Masse wieder mit Religion zu erfüllen. Bei einzelnen Repräsentanten
jenes volkstümlichen Bedürfnisses, namentlich bei Claus Harms, war die
Religion echt und ursprünglich, sehr bald mischten sich aber unreine Elemente
dazu, vor allem der immer mehr um sich greifende Restaurationstrieb. Wie
viel bequemer war es, die alten Fundamente aus dem Schutt hervorzusuchen,
auf den Symbolen der Reformationszeit den kirchlichen Bau aufzurichten, als
ihm einen tief und sicher gegründeten Unterbau zu geben! — Der Fortschritt
der modernen Orthodoxie gegen die alte war die Hereinziehung des Gemüths-
lebens in den Wortglauben, während in dem früheren Pietismus sich beide
Richtungen getrennt hatten. Dagegen ist die moderne Orthodoxie überall
durchzogen von den Gedanken und Anschauungen der Gegenwart, sie ist
angefressen von dem Gift der Philosophie, welche sie bekämpft und während
sie sie im Innern verabscheut, schmückt sie sich mit den Formen ihrer Bildung.
Namentlich entlehnt sie von ihr die Verachtungsphrasen gegen den flachen
Rationalismus. — Aus dieser unmittelbaren Beziehung auf die Bildung er¬
klärt sich auch der fanatische Haß gegen dieselbe. Alle großen und classischen
Producte der Kunst und Wissenschaft, an denen sich der deutsche Geist seit
einem halben Jahrhundert erhoben, sollten in den Staub getreten, sie sollten
vom Standpunkt der kirchlichen Erbsündenlehre beurtheilt und dadurch in ihrem
wahren Werth als glänzende Laster erkannt werden. — Der Unterschied
gegen den frühern Supranaturalismus trat namentlich in der scharfen Be¬
tonung zweier Punkte hervor: der Lehre von der völligen Verderbniß der
menschlichen Natur, in welcher nicht einmal die Empfänglichkeit für das Gött¬
liche übriggeblieben und von der völligen Verfinsterung der menschlichen Ver¬
nunft, die unfähig sei, göttliche Dinge zu erfassen. Damit hing zusammen
das unbedingte Festhalten am Buchstaben der Schrift, der Haß und die Pro-
scription aller historischen Kritik. — Zuletzt wurde von den Vertretern der
Kirche namentlich die juristische Seite hervorgekehrt und der Grundsatz: sei
im Besitz und du bist im Recht den Nationalisten entgegengehalten.
Der bisherigen Halbheit in der Kritik wurde ein Ende gemacht durch das
Leben Jesu von Strauß. Es laufen hier alle bisherigen kritischen Forschungen
zusammen, aber sie werden zugleich vervollständigt, geschärft, zugespitzt, zusam¬
mengefaßt, auf einen Grundgedanken zurückgeführt. In dieser Nothwendigkeit des
ganzen Verfahrens, das sich wie ein Naturproceß vollzieht, in dieser affectlosen
Objectivität, mit.welcher der Verfasser gleichsam zurücktritt vor seinem Werk und
nur der Rechenmeister ist, welcher die einzelnen Posten aufführt nud zusammen¬
zählt, lag das Jmponirende oder vielleicht richtiger das Erschreckende des Buchs.
Es stand mit der harten Gleichgültigkeit des Schicksals da, es war die Schlu߬
rechnung gezogen in der Kritik der evangelischen Geschichte und die Inventur
lautete auf: Bankrott. — Der speculative Ausgangspunkt ist der der Imma¬
nenz von Gott und Welt, welche für die Wunder, die äußerlichen und
aphoristischen Eingriffe in die Welt keinen Raum übrigläßt. Nur ein andrer
Ausdruck für diesen Gedanken war die Bestimmung, daß die Menschwerdung
Gottes in Christo nicht eine einzige sei, sondern eine allgemeine, daß alles,
was von ihm als Einzelnem ausgesagt werde, von dem Gattungsbegriff der
Menschheit gelte. Das kritische Resultat ist das negative, daß die Evangelien
nicht das sind, wofür sie sich ausgeben, daß in dieser sogenannten Geschichte
alles unklar und widerspruchsvoll ist, daß der Mythus an allen Punkten sie
ergriffen hat. Frühere Ausleger hatten bereits den Mythus zur Erklärung be¬
nutzt, aber nur für Nebendinge und das Außenwerk der Geschichte. Es zeigt
sich dagegen bei unbefangener Betrachtung der verschiedenen Evangelien, daß
das Zeugniß des einen so viel oder so wenig werth ist, wie des andern. Nir¬
gend vermögen wir festen historischen Boden zu gewinnen. Der Schlüssel
dieser Mythologie ist das alte Testament mit seinen messianischen Vorstellungen
und Hoffnungen: das Bild des wirklichen Messias wurde durch die Züge des
geweissagtcn und gehofften ausgeschmückt. Als historischer Kern bleibt nur
das übrig, was Jesus gesprochen.
Unter den Gegnern, die augenblicklich in Masse auftraten, hob Steude
in Tübingen die Bedeutung des Historischen im Leben Jesu für die ganze Ent>
Wicklung der Kirche hervor. Es sei unbegreiflich, daß ein gekreuzigter Jude
die christliche Kirche gestiftet habe. Strauß replicirte daraus, es sei vielmehr
schlechthin unbegreiflich, wie die Juden einen Mann, der am hellen lichten Tage
so ungeheure Wunder that, kreuzigen konnten.
Die neue Orthodoxie erklärte Strauß für eine der erfreulichsten Erschei¬
nungen auf dem Gebiet der neuen theologischen Literatur, weil sie der volle
und unzweideutige Ausdruck alles bis dahin nur noch unreifen Unglaubens sei.
Nur in völliger Umkehr von diesem Wege, nur in der Unterwerfung unter
den Buchstaben der Schrift, nur in der Annahme ihrer buchstäblichen Echtheit
sei Rettung. Die Evangelische Kirchenzeitung sagte von Strauß, er hab? daS
Herz des Leviathan, so hart wie ein Stein und so sest wie ein Stück vom
untersten Mühlstein, und wenn er nicht ausdrücklich des Heiligen Spotte, so
schwebe ihm doch immer der Spott auf den Lippen. Er laste mit Ruhe und
Kaltblütigkeit den Gesalbten des Herrn an und seinem Auge entquelle nicht
einmal die Quelle der Wehmuth.
Wir übergehen die weitern Gegner und Fortsetzer der Straußfeder Kritik
und machen nur noch auf die Charakteristik Tholücks und Neanders aufmerk¬
sam. Beide sind musterhaft.
Die tübinger Schule bezeichnet der Verfasser als einen sehr wichtigen
Fortschritt über Strauß hinaus. Das straußsche Buch hatte keine sichere
Grundlage gefunden. „Es war ein leichtes und luftiges Gebäude, keck hingestellt,
ohne daß ihm eine sichere und dauerhafte Grundlage gegeben. Es war eine
Kritik der evangelischen Geschichte versucht, ohne daß eine Kritik der einzelnen
Evangelien, ihres Alters und Ursprungs vorausgegangen. Es war diese Kritik
bei dem negativen Resultate angelangt, daß alle evangelische Geschichte unsicher
geworden; aber es war nicht die letzte Aufgabe jeder Kritik, die Sonderung
des Echten von dem Unechten, des Historischen von dem Unhistorischen voll¬
zogen, es war nicht die Grenzlinie zwischen Geschichte und Mythus gefunden.
Endlich war das Resultat deshalb ein so dürftiges, weil es in der bloßen Un-
geschichtlichkeit bestand, nicht aber den Nachweis enthielt, wie die einzelnen
Evangelien zu diesen Ungeschicklichkeiten gekommen, welches das Charakteristi¬
sche, der verschiedenen Evangelien, welche die ihnen zu Grunde liegende Tendenz,
die Art ihrer Entstehung und Composition. Der Grund aller dieser Mängel
war der, daß die Kritik eines breitern historischen Unterbaues entbehrte." Der
Verfasser setzt nun ausführlich auseinander, in welcher Weise die tübinger
Schule diesen Uebelständen abgeholfen habe. Hier müssen wir uns aber einigen
Einspruch erlauben.
Wenn Strauß aus jene Fragen die Antwort schuldig blieb, so lag der
Grund keineswegs darin, daß er ihre Wichtigkeit verkannte, sondern in seiner
Ueberzeugung, es lasse sich eine Antwort überhaupt nicht geben. Das ist
grade das Wesen eines mythischen Zeitalters, daß sich die einzelnen Elemente
Desselben nicht mehr ermitteln lassen. Die äußeren Anhaltpunkte für die
Evangeliengeschichte, gleichzeitige heidnische Schriftsteller, die darauf Bezug
nehmen u. s. w., fehlen gänzlich; man muß sich daher lediglich nach innern
Gründen entscheiden und diese Methode gibt der Subjectivität einen gar zu
freien Spielraum. — Die tübinger Schule ging von der an sich ganz richtigen
Grundanschauung aus, das Christenthum sei nicht ein von vornherein fertiges,
sondern es habe sich allmälig entwickelt. Das jüdische Element war die
Schranke, welche das weltbürgerliche paulinische Christenthum erst nach langen
inneren Kämpfen durchbrechen konnte. Die dogmatischen Parteigegensätze des
Petrinismns und Pauliniömus sind der Schlüssel für die Literatur des ersten und
zweiten Jahrhunderts, also auch für das Verständniß der kanonischen Schriften
und der Frage nach ihrem Alter und Entstehungskreise. Diese Schriften stehen
entweder noch unter der ganzen Heftigkeit des unmittelbaren Gegensatzes, wie
die paulinischen Briefe einerseits und die Apokalypse andrerseits, oder sie ge¬
hören schon der spätern Tendenz an, den Gegensatz zu verwischen. So sind
die meisten der kanonischen Schriften Tendenzschriften und ihre Tendenz ist
vorzugsweise eine vermittelnde. Unsre kanonischen Evangelien sind keineswegs
die ältesten und ursprünglichsten Evangelienbi.ldungen; ihnen geht ein älterer
Stamm voraus, der Ausdruck des strengen rigoristischen Christenthums. Man
hat ihn durch Auslassungen und Einschiebungen später der veränderten Tendenz
angepaßt.
Die Richtigkeit dieser Auffassung vorausgesetzt, bleibt es doch sehr bedenk¬
lich , dieselbe lediglich nach innern Gründen im Detail auszuführen. Es ist
charakteristisch, daß die Resultate der Schule, abgesehen von der Apostelgeschichte,
wo freilich nur eine Quelle vorliegt, grade so divergiren, wie die Arbeiten der
frühern Kritik. Wenn also auch das Resultat, man wisse nicht genau, wie es
mit der Zusammensetzung des Einzelnen beschaffen sei, nur ein negatives ist,
so ist es doch befriedigender, als der scheinbare Positivismus einer schnellferti¬
gen Antwort, die nicht durch hinreichende Beweise gestützt wird.
Dessenungeachtet stimmen wir dem Verfasser darin vollkommen bei, daß
sich mittelbar aus diesen Studien ein sehr großer Gewinn ergibt. „Wie „viel
oder wenig sie Wissenschaft von allen Ergebnissen dieser Kritik stehen lassen
mag, die von hier ausgegangene Anregung ist eine außerordentliche gewesen.
Es ist die Literatur der beiden ersten Jahrhunderte von den kritischen Gold¬
suchern von neuem ausgewühlt und nicht so leicht irgend ein Goldkörnchen
übersehen worden. Namentlich sind die Untersuchungen über die alten petrini-
schen Evangelien, die Clementinen, den Justinus Martyr und seine Denkwürdig¬
keiten der Apostel, den Marcion, sämmtliche apostolische Väter, den Montanis¬
mus, die Gnosis, die Passahstreitigkeiten u. s. w. u. s. w- mit großer Gründ¬
lichkeit geführt und die meisten dieser Fragen in ein ganz neues Stadium ge¬
beten.....Diese sich in einem engen historischen Kreise bewegenden Arbeiten,
welche mit mikroskopischer Genauigkeit auch die geringsten Data untersuchen
und kritisch analysiren, erinnern an die gleichzeitige mikroskopische Richtung in
den Naturwissenschaften und das ungeheure Aufgebot von Fleiß und Beobach¬
tung, welches hier verwandt wird." — Nur darf man freilich dabei nicht ver¬
gessen, daß in dem Gebiet der Naturwissenschaften die mikroskopische Beobachtung
wirkliche Gegenstände zeigt und daß es Mittel gibt, die künstlichen Gläser von
aller falschen subjektiven Farbe zu befreien, während man in der Theologie
nothwendigerweise mit subjectiven Voraussetzungen operiren muß, so daß es
u» höchsten Grade nothwendig ist, die mikroskopische Beobachtung durch jene
großen Perspektiven, wie sie uns die Philosophie der Geschichte und die welt¬
liche Geschichtschreibung überhaupt an die Hand gibt, zu ergänzen, um nicht
falsche Dimensionen zu sehen.
Von der historischen Kritik wendet sich der Verfasser zu dem philosophisch¬
dogmatischen Proceß. — Der Straußfeder Dogmatik wird er nicht ganz gerecht.
„Die ganze Dogmatik", sagt er, „erscheint als ein innerer Bildungs- und
Zerstörungsproceß, als ein resultatloses Entstehen und Vergehen, wobei nament¬
lich alle Erscheinungen der sich rückbildenden Metamorphose, die versteckten
Widersprüche, die allmälige Zernagung aller festen Fäden des Dogma durch
den Zweifel mit erschreckender Wahrheit vorgeführt werden." „Es zeigt sich,
wie seine Kritik eine nur auflösende, das Resultat ein nur negatives bleibt.
Seine Dogmatik ist gar keine Dogmatik, sondern nur eine Kritik der einzelnen
Dogmen.....Die Kritik ist hoffnungslos blasirt, angefressen von dem aus¬
dörrenden Geist der hegelschen Philosophie, ohne alle Frische und Tapferkeit
einer eignen und positiven persönlichen Ueberzeugung, ohne die Kraft lebendiger,
durch alle Zerstörungen hindurchschauender Intuition!" Das ist im höchsten
Grade ungerecht. Strauß wollte ja gar keine Dogmatik schreiben, sondern nur
einen Nachweis von dem allmäligen Umbildungsproceß der Dogmen aus der
Form der Vorstellung in die Form des Begriffs, bei welchem Proceß ihr
inneres Wesen verloren ging. Wenn seine Deduction falsch ist, so darf das
nicht durch Vorwürfe gegen seinen Muth, an dem eS ihm wahrhaftig nicht
fehlt, sondern'durch wissenschaftliche Gründe nachgewiesen werden. Ebenso un¬
gerecht ist der folgende Vorwurf. „Der Grundirrthum ist der, daß die Reli¬
gion mit der religiösen Vorstellung identificirt wird. Die religiöse Vorstellung
ist aber nichts, als die unvollkommenste, die der großen Masse angehörende
Form des Wissens von der Religion. Diese unreine, äußerliche, dualistische
Form des Wissens soll aufgehoben werden in die höhere, in die wahrhaft
wissenschaftliche, die philosophische. Die religiöse Vorstellung soll also durch
die negative Kritik hindurchgehen und aufgehen in die Philosophie; nicht so
die Religion." — Das ist doch wunderlich! Einmal hat es die Kritik der
Dogmatik nicht mit der Religion an sich, sondern mit der Religion, wie sie
in der Form der Vorstellung erscheint, zu thun; die Religion an sich gehört
in ein andres Capitel. Sodann versteht man nicht recht den Zusammenhang
dieser Behauptung mit den vorhergehenden Deductionen, aus denen sich doch
ergab, daß jeder Versuch, die Dogmen in Philosopheme zu übersetzen, an sei¬
ner innern Unmöglichkeit scheitern mußte.
Dagegen stimmen wir mit dem, was über Feuerbach gesagt wird, voll¬
ständig überein. „Es ist in Feuerbach ein gewaltiger Durchbruch der Sinn¬
lichkeit, des Anschauungsvermögens, der Leidenschaft, des ganzen lebensvollen
und genußbedürftigen Menschen durch die unerträgliche Alleinherrschaft der Logik
eingetreten____ Er selbst hat lange die Fesseln der Logik getragen und schleudert
sie nun von sich mit der Leidenschaft eines Rasenden. Er sieht überall Be¬
schränkung der Natur, Unnatur, falschen Spiritualismus, Idealismus u. s. w."
— Sehr sein ist namentlich der Widerspruch entwickelt, der in Feuerbach selbst
zwischen dem künstlich anerzogenen subjectiven Idealismus und dem Naturalis-
mus besteht. — Nach der Kritik des Radicalismus geht der Verfasser auf
die sogenannte Vcrmittlungstheologie über.
„Dieser vielfach abgeschwächte und verdeckte, dieser, ich möchte sagen, ver¬
schämte Supranaturalismus, der eine tiefinnerliche Abneigung gegen die Wunder
hat und so viel nur immer möglich von ihnen im Einzelnen beseitigt, ohne
doch den Wunderbegriff im Ganzen los zu werden, ist deshalb besonderer Ver¬
folgung bis in seine letzten Ausgänge werth, weil die Phrase in diesen
Kreisen eine so schreckliche Herrschaft gewonnen hat und weil durch eine schärfere
Analyse der hier geltenden Stichworte die Besprechung eines großen und
wichtigen Theiles unsrer modernen Dogmatik überflüssig gemacht wird." —
Wir wollen die Wichtigkeit dieser Untersuchung nicht in Abrede stellen,, aber
wir können nicht leugnen, sie ist ziemlich ermüdend. Es liegt das nicht in
der Schuld des Verfassers: Non-entitälen zu classistciren ist immer ein un¬
dankbares Geschäft, obgleich man es zuweilen nicht umgehen kann. Weit an¬
ziehender ist die Kritik der neulutherischen Orthodoxie, die bereits in Hengstenberg
einen Erzketzer sieht und die mit vollen Segeln der alleinseligmachenden Kirche
zusteuert. Es ist in diesen Figuren, so unbequem sie im wirklichen Leben sind,
ein gewisser handgreiflicher Realismus, der unwillkürlich den Humor heraus¬
fordert.
Mehr als im Anfang des Werks macht sich gegen den Schluß hin eine
gewisse Unsicherheit im theologischen Standpunkt des Verfassers geltend. Dar¬
aus erklärt sich auch, daß er wohlgesinnte, aber höchst unbedeutende Schrift¬
steller mit Schonung, ja mit Vorliebe behandelt, z. B. den sogenannten deut¬
schen Theologen. Er hat früher so lebhaft gegen die blos negative Richtung
der frühern Kritiker geeifert, daß er sich seinerseits verpflichtet fühlt, einen
Positiven Abschluß zu versuchen; aber dieser Abschluß hat keine feste Grund¬
lage. Er verheißt eine Theologie der Zukunft, die zugleich speculativ, historisch
und ethisch sein soll.— An Speculation soll sie enthalten: „die Ueberwindung
des supranaturalistischen, unserm ganzen Denken fremd gewordenen Schemas;
die klare Erkenntniß, daß der Inhalt des Christenthums bei einer solchen Be¬
seitigung nichts verliert, als die Form der Aeußerlichkeit, der Willkür u. s. w."
^ Das ist eine wunderliche Speculation, der man von vornherein vorschreiben
will, was sie für ein Resultat gewinnen soll ! Es wird doch wol wieder eine
"cuc Scholastik daraus werden. — Historisch soll sie sein, insofern sie auch
die kanonischen Schriften den Maßstab strenger Kritik anlegt, aber auch
insofern sie sich „in die Vergangenheit vertieft, jede Zeit und ihre Schöpfungen
Alles ihren eignen Maßen mißt, für die Größe und Herrlichkeit des prvduetiv
religiösen Lebens, der neuen Quellpunkte göttlicher Offenbarung das Auge
offen hält." — Inwiefern unterscheidet sich also die Theologie der Zukunft von
der Geschichte im eigentlichen Sinn? Diese soll doch auch die Augen sür alle
die schönen Dinge offen erhalten, die uns hier beschrieben Werdens oder soll die
Theologie der Zukunft etwa von vornherein von der Ueberzeugung ausgehen,
in dem Urchristenthum ,oder sonst in irgend einer Phase desselben seien die
Quellpunkte der göttlichen Offenbarung wirklich vorhanden? Dann ist sie
wol noch Theologie, aber nicht mehr historisch. — Ebenso bedenklich ist es mit
der ethischen Bedeutung der Theologie der Zukunft. Es werden auch hier dir
größten Errungenschaften in Aussicht gestellt, aber der Verfasser vergißt folgende
einfache und entscheidende Frage zu beantworten: Soll der Inhalt der Moral
aus dem Inhalt des Christenthums hergeleitet, oder soll, er unabhängig
von demselben entwickelt werden? Im letztern Fall wird die Voraussetzung,
beides müsse zusammenfallen, eine wissenschaftlich nicht zu rechtfertigende sein.
In dieser Beziehung stehen wir gegen den Verfasser auf der Seite von
Hengstenberg und Leo, auf der Seite von Strauß und Feuerbach. Die Spe-
culation, die historische Kritik, die wissenschaftliche Moral muß voraussetzungs-
los sein. Wenn sie in ihrem letzten Resultat zu der Ueberzeugung kommt,
der Inhalt des Christenthums sei der richtige, so ist das um so besser; aber
anfangen kann sie mit dieser Ueberzeugung nicht, sonst hört sie auf, freie Spe¬
kulation oder historische Kritik zu sein. Es hilft nichts, das Resultat von
Strauß ist trotz seiner negativen Haltung das richtige. Die beiden Gebiete
müssen sich unabhängig voneinander entwickeln. Indem aber die Wissenschaft
das Recht der freien Entwicklung bewahrt, muß sie zugleich bekennen, daß die
eigentliche Religion, die Gemüthswelt des Glaubens, uicht in ihren Bereich
füllt. Wir verkennen die Uebelstände dieses Dualismus nicht, wir können
ihn aber nicht vermeiden, wenn wir bei der Wahrheit stehen bleiben wollen.
Deutsches Staatswörterbuch. In Verbindung mit deutschen Gelehrten her¬
ausgegeben von !>,-. I. C. Bluntschli, ordentlichem Professor an der
Universität München. Unter Mitredactiou von Karl Brater. Erstes
Heft. Stuttgart und.Leipzig, Expedition des Staatswörterbuchs. —
Das welkersche Staatslerikon hat der Sache des Liberalismus so außer¬
ordentliche Dienste geleistet, daß man es sehr erklärlich finden muß, wenn die
historische Schule sich versucht fühlt, diese Wirkungen durch ein ähnliches, wenn
auch von einer entgegengesetzten Tendenz ausgehendes Unternehme!, zu para-
lysiren. Nur ist in Bezug auf encyklopädische Werke die Reaction gegen den
Liberalismus entschieden im Nachtheil. Die öffentliche Meinung ist ihr nicht
günstig und es kostet also nicht geringe Mühe, solchen Versuchen nur über-
Haupt Eingang und Aufmerksamkeit zu verschaffen. Wollte sie mit ihrer Vollen
Meinung herausrücken, so würde sie nur Gelächter oder Unwillen erregen
und wenn sie sich in Gründe und Deductionen einläßt, so ist nicht immer
von vornherein anzunehmen, daß ihre Resultate mit ihren ursprünglichen
Absichten übereinstimmen werden. Indeß verdient ein solches Unternehmen
auch insofern die Aufmerksamkeit des liberalen Puhu'anus, als das welkersche
Lerikon sich in der That verbraucht hat. Der Liberalismus hat seit der Zeit,
da es geschrieben wurde, eine innere sehr tief eingreifende Entwicklung durch¬
gemacht. Er hat sich von den Resultaten der historischen Schule vieles an¬
geeignet und die Abstractionen, mit denen man im ersten Viertel des laufen¬
den Jahrhunderts ausschließlich operirte, haben keine Kraft mehr.
Aus dem ersten Heft, welches uns vorliegt, ist natürlich aus die Haltung
des Ganzen noch kein bestimmter Schluß zu ziehen. Der Name des Heraus¬
gebers und sein Parteistandpunkt ist bekannt genug, indessen hat er selbst viel¬
fältige Entwicklungen durchgemacht und von seiner ehemaligen Rohmerschen
Mystik wird wol bei ihm nicht mehr die Rede sein. Das vorläufige Ver-
zeichniß von Mitarbeitern enthält keineswegs lauter Conservative in der moder¬
nen Bedeutung des Worts; es sind mehre Namen von gutem liberalen Klang
darunter, außerdem mehre Namen, bei denen man nicht recht begreift, in wel¬
chem Zusammenhang sie mit einem staatsrechtlichen Unternehmen stehen, wenn
nicht etwa locale Gründe obwalten. Der einzige Artikel von größerem Um¬
fang, der einen bestimmten Parteistandpunkt einnimmt, ist vom Herausgeber
selbst und handelt über den Adel. Er ist so mäßig gehalten, daß wir ihm in
den meisten Punkten beipflichten können, wenn wir auch namentlich in Bezug
auf die Art und Weise, wie er sich eine Reform des deutschen Adels denkt,
von ihm abweichen. Statt uns indeß auf eine Kritik einzulassen, wollen wir
hier kurz diejenigen Gesichtspunkte zusammenstellen, welche uus bei einer der
wichtigsten Tagesfragen die leitenden zu sein scheinen.
Daß der Adel im Allgemeinen unpopulär ist, nur nicht bei reichen bürger¬
lichen Damen, die gern gnädige Frau werden wollen, ist eine unbestreitbare
Thatsache; vielleicht ist sogar der letztere Umstand ein nicht uuwesentliches
Motiv jener Unpopularität. Als die preußische sogenannte Nationalversamm¬
lung die völlige Abschaffung des Adels in Angriff nahm, erfreute sie sich der
lebhaften Zustimmung der überwiegenden Majorität; ja wir sind überzeugt,
baß unter den Konservativen im Bürgerstande, die aus Furcht vor der Re¬
volution dem ausgesprochenen Absolutismus das Wort reden, daß unter den
^genannten Henkern die überwiegende Mehrheit mit der Abschaffung des Adels
vollkommen einverstanden sein würde. Man kann sich nicht leicht eine kon¬
servativere Natur vorstellen, als den ältern Niebuhr, und doch zieht sich durch
seine Briefe ein geheimer, tiefer, leidenschaftlicher Haß gegen den Adel:
ein Haß, der sich auf seinen Sohn nicht fortgeerbt zu haben scheint,
wenn man dem bekannten Schriftstück über den Depeschendiebstahl trauen
darf.
Die Abneigung gegen den Adel entspringt aus zwei sehr verschiedenen Moti¬
ven , die man nicht miteinander verwechseln darf. DaS erste ist der dem Men¬
schen angeborene Neid gegen jede Bevorzugung, in der er keine innere Noth¬
wendigkeit findet; am meisten gegen eine solche Bevorzugung, die nicht aus¬
zugleichen ist. Wenn man schon den reicheren Mann beneidet, so kann man
sich doch damit trösten, daß man durch Fleiß und Geschicklichkeit ihm nach¬
eifern kann. Der Adel dagegen läßt sich nicht erwerben; man kann zwar ge¬
adelt werden, aber damit erlangt man noch keine Ahnen, die von ihrem Schloß
aus die Pfeffersäcke geplündert hätten^ man entbehrt also grade die Hauptsache.
— Man darf diesen Neid nicht ohne weiteres moralisch verurtheilen, denn er
ist natürlich, er ist ein Moment der politischen Entwicklung. Aber man darf
sich auch von ihm nicht bestimmen lassen, denn das politische Urtheil soll nicht
nach der Leidenschaft, sondern nach der Vernunft gehen. — Ein zweites Motiv
bezieht sich nicht auf den Adel im Allgemeinen, sondern auf denjenigen Adel,
der die übrigen Stände unterdrückt. Dieses Motiv ist nicht blos durchaus
gerechtfertigt, sondern es ist auch so mächtig und wirksam, daß man mit der
größten Zuversicht voraussagen kann: jeder Adel, der im System der Unter¬
drückung beharrt, bereitet sich dadurch allmälig selbst den Untergang.
Um in der Adelssrage unbefangen zu urtheilen, muß man vor allem von
dem Gedanken ausgehen, daß der Adel eine Thatsache ist. Eine Thatsache
läßt sich durch einen Federstrich nicht wegschaffen. Es war von Seiten der
preußischen Nationalversammlung ein ungeheurer Irrthum, daß sie glaubte,
den Adel durch ein Decret aufheben zu können. Die Grundlage des Adels ist
das sociale Vorurtheil und gegen Vorurtheile kämpft man nicht mit Gesetzen.
Dagegen ist es von Seiten des Bürgerstandes nicht nur vollkommen ge¬
rechtfertigt, wenn er nach der Abschaffung aller Standesunterschiede strebt,
sondern der Adel, wenn man ihm einigermaßen sein Verhältniß zur Gegenwart
klar macht, muß ihn darin aufs eifrigste unterstützen. Das Institut des Adels, weil
es vorzugsweise auf socialen Vorurtheilen beruht, ist unabhängig von gesetzlichen
Bestimmungen; ja es wird um so mehr gedeihen, je weniger es sich solcher Krücken
bedient. Denn nur aus jenen Privilegien entspringt die Abneigung, mit
welcher ihn der wohlgesinnte Theil der Nation betrachtet; und wenn diejenige
Partei, die sich gern als Vertreterin des Adels bezeichnet, eS wirklich dahin
bringt, eins nach dem andern jener verrosteten Vorrechte wiederherzustellen, so
wird die natürliche Folge eine Reaction sein, deren Tragweite sich gar nicht
berechnen läßt. Was der Adel an Titeln der Macht gewinnt, verliert er an
wirklicher Macht.
Das alte Landrecht nannte den Adel den ersten Stand im Staat; die
gegenwärtige preußische Verfassung dagegen enthält den Paragraphen: Alle
Preußen sind vor dem Gesetz gleich; Standesunterschiede finden nicht statt.
Die äußerste Rechte beantragte die Streichung des Paragraphen; sie ist zwar
^dies Mal in ungeheurer Mehrheit verworfen, aber das ist noch kein Grund, daß
sie nicht in einer der nächsten Sessionen durchgehen könnte. Es ist daher
nothwendig, auf die Frage fortwährend seine Aufmerksamkeit zu richten.
Auch dies Mal geht die äußerste Rechte, wie gewöhnlich, scheinbar von der
Abneigung gegen allgemeine unbestimmte Paragraphen ans. Allein jener
Paragraph ist ganz und gar nicht unbestimmt, er bezieht sich auf die angeführte
Bestimmung deS allgemeinen Laudrechls, die damit aufgehoben wird. , Die Be¬
stimmung des Landrechts, daß der Adel der erste Stand im Staate sei, drückte
nicht blos ein Factum aus, sondern eine gesetzliche Garantie für die Fortdauer
dieses Factums, die durch anderweitige Bestimmungen, z. B. erimirle Gerichts¬
barkeit, verschiedene Behandlung bei Jnjurienprocessen und dergleichen, näher
bestimmt wurde. Die Verfassung hebt die Garantie auf, sie will aber das
Factum selbst nicht aufheben. Der Adel möge immerhin der erste Stand im
Staate sein, aber er möge es durch sich selbst werden; der Staat soll ihm keine
Hilfe leisten. Und damit ist allerdings allen gerechtfertigten Klagen des Bürger-
stanveö abgeholfen und der Adel auf seine eignen Hilfsquellen angewiesen.
Wenn es aber irgend etwas gibt, was den Stand als solchen erhalten und för¬
dern kann, so ist es, daß man ihn zwingt, auf eignen Füßen zu stehen. Wir
wollen, um das zu belegen, ins Einzelne eingehen.
Noch immer gilt der Edelmann allein für hoffähig, während seine aus¬
schließliche Berechtigung zum höher» Militärdienst aufgehört hat. Hier zeigt
sich so recht, wie wenig es nöthig, ja wie schädlich es ist, einem Verhältniß,
welches aus der Natur der Dinge hervorgeht, gesetzliche Sanction und dadurch
einen gehässigen Anstrich zu geben. So lange der Zugang zu den Ofsizier-
stellen dem Bürgerlichen gesetzlich verschlossen bleibt, wird er es alö eine Zu¬
rücksetzung bitter empfinden, und die Stellung der Offiziere gegen das Publi-
cum wird dadurch erschwert. Sobald mau ihm aber die Schranken eröffnet,
wird der Eintritt eines Bürgerlichen in das Militär immer eine seltene Aus¬
nahme sein; denn durch seine ganze Erziehung ist seinen Wünschen und Hoff¬
nungen eine andere Richtung gegeben, und praktisch betrachtet ist jedes andere
Geschäft ergiebiger. Der Adel wird stets den Stamm des deutschen Offizier¬
standes bilden, und es ist im Ganzen auch am vorteilhaftester für den Staat,
der dadurch eine traditionelle Kriegsschule, einen bestimmt ausgeprägten Corps-
geist und meh.enbei wohlfeile Ererciermeister erhält. Um diese Zustände zu er¬
halten, bedarf es keines äußerlichen künstlichen Mittels. Ebensowenig ist ein
Zudrang der Bürgerlichen zum Hofdienst zu befürchten. Gewiß muß es dem
Monarchen ebenso freistehen, wie jedem Privatmann, sich seinen Umgang ans
den Kreisen zu wählen, die ihm zusagen; aber durch das sogenannte Gesetz
der Etikette, welches den Hofvienft auf einen bestimmten Staub beschränkt,
nimmt er sich seine eigne Freiheit, ohne etwas zu gewinnen. Jene Etikette
schreibt sich aus ven Zeiten Ludwigs XlV. her, wo man die Majestät des
Throns dadurch sicher zu stellen glaubte, daß man ihn so unnahbar als möglich
machte. Der Erfolg hat gelehrt, was diese Kasteneintheilung fruchtet. Der
Bürgerstand verabscheut,« den gestimmten Hof, weil er ihm versagt war, und
der Adel wußte sein leeres Leben nicht besser auszufüllen, als durch Verbreitung
skandalöser Geschichten über jenen Hof, dem er zu nahe stand, um ihn zu
achten. Es ist ein altes Sprichwort, daß es für den Bedienten keinen Helden
gibt; es ist weder für die Monarchie noch für den Adel ein Gewinn, wenn
man ven letztern ven Dienst im'"eigentlichsten Sinn als höchste Ehre zu be¬
trachten gewöhnt. — Schwieriger wirv die Concurrenz in dem sehr wichtigen
Punkt des Gutöbesitzeö auszuschließen sein. Den Bürgerlichen gravezu von
dem Kauf eines Rittergutes auszuschließen, wirv ernstlich wol kaum noch der
äußersten Adelsfractiou einfallen, so sehr sie es im Geheimen wünschen mag.
Hier kreuzen sich bei ihr die widersprechendsten Empfindungen, denn einerseits
ist sie zu sehr ne die Mysterien des modernen Geldverkchrs eingeweiht, um an
die Möglichkeit eines solchen Verbots zu denken, andererseits fühlt sie recht
wohl, daß seit der Einführung des freien Güterkaufs die Ritterschaft aufgehört
hat ein Stand zu sein. Man fragt sich häusig, worin eigentlich der Unter¬
schied zwischen der äußersten Rechten und der ministeriellen Rechten liegt, ab¬
gesehen von der Metaphysik des Parteistandpunktes, die viel zu tiefsinnig ist,
um von der Mehrzahl der Parteigenossen auch nur verstanden zu werden. Am
einfachsten könnte man ihn dahin definiren: die ministerielle Rechte will die
absolute Herrschaft der Regierung in allen Kreisen des Lebens, die äußerste
Rechte will dasselbe, mit Ausschluß ver Rittergüter. Theoretisch wird zwar hin
und wiever davon gesprochen, es sollen auf dem Wege der Corporation or¬
ganische Bildungen hervorgehen, die endlich in ihrer höchsten Spitze die Staats¬
regierung enthalten; paß aber praktisch niemand daran denkt, zeigt am deut¬
lichsten das Verhalten der äußersten Rechten bei Gelegenheit der rheinischen
Gemeindeordnung., Freilich will der Adel regieren, aber nicht als stänvische
Corporation, sondern in ver hergebrachten bureaukratischen Form. Für sich als
Stand verlangt er nur Ungenirtheit in seinen Privatverhältnissen. Wenn diese
Ungenirtheit auch zuweilen zu Uebertreibungen führt, wie sie in der Rede des
Grafen Pfeil und in einem gleich darauf folgenden Criminalproceß zur Sprache
kamen, so könnte man eS doch bis zu einer gewissen Grenze hin billigen, voraus¬
gesetzt, daß den andern Lebenskreisen eine ähnliche Ungenirtheit zu Theil
würde. Aber dazu wird sich die äußerste Rechte am allerwenigsten hergeben,
denn in jeder Unabhängigkeit bürgerlicher Kreise steht sie die anbrechende Re¬
volution. An diesem Widerspruch wird die Partei zuletzt untergehen.
So lange der Adel seine Interessen dadurch zu vertheidigen sucht, daß er
sie von den Gesammtinteressen des Staats sondert, werden seine Bestrebungen
fruchtlos bleiben, denn er kann sich selbst der Logik der Zustände nicht entziehen,
und diese geht über Wünsche und Illusionen gleichgiltig hinweg. Es ist ge¬
wiß ein begreiflicher und menschlich achtungswerther Wunsch, ein Gut in den
Händen der Familie zu erhalten, so daß sich die Beziehung zum Lande, der
Stand und die Gesinnung regelmäßig vom Vater auf den Sohn forterben;
aber diesen Wunsch durch Einrichtung von Majoraten gesetzlich zu firiren, ist
darum fruchtlos, weil dieses Institut den allgemeinen Gesetzen der Landwirth¬
schaft, wie sie sich in Deutschland praktisch herausgestellt haben, widerstreitet.
Der Edelmann ist durch die Natur der Dinge dahin getrieben, Industrieller
und Kaufmann zu werden, wie seine andern Mitbürger. Will er trotzdem die
Vorzüge feines Standes erhalten, so kann daS nur auf dem Wege des bürger¬
lichen Geschäftsbetriebs geschehen.
Was wir bisher angedeutet, bezog sich alles auf den Grundsatz, daß daS
Fortbestehen des Adels in der alten Form nur dann möglich und wünschens-
werth ist, wenn er sich lediglich auf seine eigne Kraft stützt, und die äußerliche
künstliche Hilfe des Staats verschmäht. Bei freier Concurrenz hat er noch
immer die besten Mittel in der Hand, sich, ohne Neid zu erregen, als erster
Stand im Staate zu behaupten. Zieht er aber um sich eine chinesische Mauer,
so reizt er dadurch nur den gesammten Bürgerstand zum Angriff, und in diesem
würde sich doch früher oder später das Recht deS Stärkern geltend machen.
Darum ist es auch unbedacht, wenn man neuerdings versucht, den Adel auf
dem Wege der Association zu heben, die sich dann Mit Beihilfe des Staats
als Corporation firiren soll; denn durch dieses Streben nach Ausschlie¬
ßung macht man den gesammten Bürgerstand zum Feind der bestehenden
Ordnung.
Eine zweite ebenso wichtige Bedingung für das Fortbestehen des Adels
ist, daß er wirklich die nationale Gesinnung in ihrer reinsten Forw repräsen-
tirt. Hier ist nun verhältnißmäßig der östreichische und preußische Adel gegen
den übrigen deutschen Adel sehr günstig gestellt, denn er kann in der That
eine nationale Gesinnung, eine historische Idee, eine große Vergangenheit und
eine hoffnungsreiche Zukunft repräseniiren. Ebenso ist der niedere Adel gegen
den hohen Adel im Vorzug, und das ist ein sehr bedenklicher Umstand, den
man bei einem Vergleich mit England nicht außer Acht lassen darf. Ein
Vaterland hat der hohe Adel wol, aber das Vaterland ist vorläufig politisch
nicht constituirt, es ist bis auf weiteres ein geographischer Begriff. In der
englischen nobility lebt der ganze Stolz einer ersten Weltmacht. Welcher
substantielle^Stolz sollte wol in unsern Standesherren, mediatistrten Fürsten u. s. w.
leben? Er hat den Stolz seines Standes, aber nicht den Stolz der Nation.
Wenn irgend jemand Ursache hat, nach der Herstellung eines einigen Deutsch¬
lands zu streben, so ists der hohe Adel. Leider hat aber grade in diesem Stande
die Idee am wenigsten Wurzel geschlagen.
Aber auch der preußische Adel ist trotz seiner günstigeren Stellung, durch
den verhängnißvollen Einfluß der Kreuzzeitungspartei auf einem sehr schlimmen
Wege. Auf der einen Seite verliert er die hochherzige ritterliche Farbe mehr
und mehr, er betreibt die Börsengeschäfte, und was sonst dazu gehört, mit dem¬
selben Eifer, wie die eigentlichen Geschäftsleute, und Motive des Erwerbs drängen
sich vernehmlich über die eigentlich adeligen Motive hervor; auf der andern hält
er es für seine Parteipflicht, in Bezug auf Religion und Politik der öffent¬
lichen Meinung so stark als möglich ins Gesicht zu schlagen. Man vergleiche
das Verhalten der preußischen Tones im Jahr 18S0 mit dem Verhalten der
englischen Tones im Jahr 1855, und es ist alles gesagt. Die stolzen briti¬
schen Lords hatten vom Gesichtspunkt ihrer Standesinteressen gewiß mehr
Hinneigung zu Kaiser Nikolaus, als zu Kaiser Napoleon; aber vor dem
nationalen Interesse verstummte das Standesinteresse vollständig, und der
britische Adel hat wie ein Mann an der Spitze der nationalen Bewegung ge¬
standen. Wenn dies Verhältniß sich nicht auch in Deutschland wiederherstellt,
wenn der Adel nicht wirklich der Träger der nationalen Idee wird, so wird
unsre Zukunft, wie fern sie auch noch liegen mag, demokratisch sein.
Diesen Gesichtspunkt im Vergleich mit England muß man vorzugsweise
im Auge behalten, wenn man an eine Reform und Befestigung des Adels
denkt. Die sonstigen Versuche, den deutschen Adel dem Vorbild deö englischen
nachzubilden, Versuche, die sich auch in dem bluntschlischen Wörterbuch geltend
machen, sind zum Theil wohlgemeint, aber sie widersprechen der Natur des
deutschen Rechts. Der Adel liegt bei uns in der Geburt, nicht im Besitz, und
jeder Versuch, die jüngeren Söhne aus dem Kreis deö Adels zurückzudrängen,
würde dem Widerstreben des gesammten Standes begegnen und fruchtlos sein.
Im Jahr 4840 machte man den Versuch, die neuen Adelsverleihungen an die
Fortdauer des ritterschaftlichen Grundbesitzes zu knüpfen. Der Versuch wurde
augenblicklich wieder aufgegeben, weil er allen unsern Sitten, Gewohnheiten
und Neigungen widersprach. Wenn man die Begriffe Adel und Junkerthum
in der Weise sich entgegensetzen will, daß sich in dem erstem der Standesvor¬
zug zugleich an den wirklichen Besitz, in dem zweiten lediglich an die Geburt
knüpft, so ist für Deutschland Adel und Junkerthum identisch.
Aber wir machen einen andern Unterschied. Nach uns artet der Adel
dann zum Junkerthum aus, wenn er sich durch Vorrecht und Privilegien von
seinen Mitbürgern absondert und wenn er dem Inhalt des nationalen Willens
ein Standesinteresse entgegensetzt. Wo die Bildung der Nation im Adel den
würdigsten Ausdruck findet, wird er sich als der erste Stand im Staate be¬
haupten; wo er sich ihm entgegensetzt, wird er untergehen.
Es wäre unnütz, in diesen Blättern noch einmal darzulegen, worin die
Licht- und Schattenseiten der leipziger Gewandhausconcerte zu suchen sind,
da den Lesern der Grenzboten die vorjährigen Aufsätze hierüber wol noch im
Gedächtniß geblieben sein werden. Der Ruf der Gewandhausconcerte ist so
wohl begründet, ihre Verdienste um die Kunst so mannigfach, daß sie als eine
Autorität vor ganz Deutschland dastehn. In Rücksicht auf diese ehrenvolle Stel¬
lung hat nun vergangenes Jahr sich eine gewichtige Stimme vernehmen lassen,
die erfüllt von dem Wunsch auch für deren ferneres Regiment im Gebiete der
musikalischen Kunst sich nicht scheute, aus die Mängel derselben hinzuweisen,
auf ein gewisses unfertiges, halbschüriges Wesen aufmerksam zu machen, das
sich diesem sonst so ausgezeichnetem Institut angedrängt hat. Man hätte er¬
warten sollen, daß bei der Einsicht, mit welcher jener Freund und Kenner der
Musik seine Wünsche für die Zukunft dieser Anstalt aussprach, bei der schlagenden
Beweiskraft seiner Behauptungen, die unparteiisch Lob wie Tadel mit sich führten,
sich eine größere Bereitwilligkeit würde gezeigt haben, solchen gerechten Anforde¬
rungen nachzukommen, als es im Laufe dieses Winterhalbjahres wirklich der
Fall gewesen ist. Wir enthalten uns einer nochmaligen Darlegung der dort
gerügten Unvollkommenheiten, da wir nur hinter der Klarheit und Ent¬
schiedenheit jener Aufsätze zurückbleiben würden und begnügen uns,-auf die
Nichtachtung so wohlgemeint.en Rathes aufmerksam zu machen.
Es würde freilich einige Anstrengung, ja auch wol einige Kämpfe kosten,
die Anstalt dem Ideal zuzuführen; ein Asyl zu schaffen, in dem die Genien
deutscher Kunst eine beständige Auferstehung feiern, aber nicht ein Wirthshaus
für wandernde Kunstjünger! Könnten diese Zeilen dazu beitragen, die Anstalt,
die sich zu einer in ihrer Arr einzigen stempeln ließe, davor zu bewahren, daß
sie ihrem Zerrbilde entgegenschlendert. So nämlich muß ich das beharrliche
Festhalten eines Standpunktes nennen, der, wenn er auch durch einen großen
Meister herbeigeführt wurde, nicht die Grenze sein darf, bis zu der das In¬
stitut ausbildbar war und über den hinaus kein weiterer Schritt zur Voll¬
kommenheit möglich wäre. Wem 'Concertabendc aus früherer Zeit in der Er¬
innerung sind, der wird, wenn er die epochemachende Zeit, in der Mendelssohn
die Seele des Institutes war, dagegen hält, leicht einsehen, wie eigen¬
thümlich die classischen Werke unsrer großen Musiker, trotz der tüchtigen Weise
der Aufführungen, die man vom Gewaudhausconcert gewöhnt war, wie frisch,
wie neubelebt diese Werke jetzt hervortraten. Eine Menge bisher nur unvoll¬
kommen benutzter Vortragsmittel, deren treffliche Wirkung der scharfe Verstand
des Dirigenten genau zu berechnen wußte und vor deren Uebertreibung und
unziemlicher Anwendung sein durchgebildeter Geschmack ihn sicher stellten, traten
hervor und ein ungetheilter dauernder Enthusiasmus für die Gabe, wie für die
Anmuth des Gebens war das Resultat. Wer möchte nicht von Herzen wünschen,
dieses Vermächtniß Mendelssohns für immer erhalten zu wissen! Allein schon hier
machen wir auf eine Gefahr aufmerksam; die beste Absicht, der Art und Weise
des Meisters genug zu thun, hat gar nicht selten die Anwendung jener Mittel
so gesteigert, daß unbefangene Hörer sich über die Schärfe der musikalischen
Accentuation wundern mußten. Eine Verwendung der musikalischen Vortrags¬
mittel in dieser Weise grenzt an Manier. Wie der geschickte Vorleser dem ^
Werke des Dichters so viel von der eignen Persönlichkeit mittheilt, daß eine
originelle Belebung stattsinvct, so entzückte Mendelssohn uns durch die Ver¬
jüngung, welche die einzelnen Kunstwerke in seiner eignen Seele erfuhren. We¬
niger erinnert man sich einer zweiten Wirksamkeit des großen Künstlers, in welcher
wir ihn von jeher gern mit Lessing verglichen haben. Mendelssohn war ein ge-
schworner Feind des Zopfes und der Pedanterie und so weit hier sein Arm
reichte, räumte er schonungslos ans. Es wäre nicht schwer, aus der literari¬
schen Geschichte der Musik unsrer Tage eine große Anzahl sogenannter Lieblings¬
stücke des Publicums anzuführen, die vor Mendelssohn ihres Beifalls gewiß,
nach seinem Erscheinen ihren Rückzug in die innersten Räume musikalischer
Bibliotheken antreten mußten; die Tragweite aber auch einer solchen Persön¬
lichkeit sollte ihre Grenzen haben, es blieben noch immer Dünste und Nebel
genug übrig, die eine Reinigung der musikalischen Atmosphäre auch fernerhin
dringend empfehlen. Der ästhetische LibertiniSmus, der gar eine große Gemeinde
zählt, damit zusammenhängende Bedürfnisse, die der Notenhandel bereitwillig
pflegt und befördert, sind es, die uns noch heutigen Tages mit einer Masse
mephitischen Qualmes beschwerlich werden. Sonach darf sich niemand wundern,
wenn nach Mendelssohn noch viel.zu thun übrig geblieben ist, sicher wäre es
weniger gewesen, wenn er länger unter uns seine ruhmvolle Bahn hätte
wandeln sollen. Deutlich genug aber sollte ich meinen, hätte er gezeigt, welche
Idee er von eier Aufgabe des Instituts gehabt und daß er am wenigsten geglaubt
hat, die absolute Höhe erreicht zu haben. Er wollte es nicht nur zu einem
Muster technischer Ausführung, sondern vor allem zu einem Muster des Geschmacks
erheben; zur Trägerin reiner, unbefleckter Kuustfreiheit, zur Darstellerin jenes
Ideals, das wir als deutsches Geisteöeigenthum ansprechen dürfen. Zum Fest-
halten dieser Idee, die den jetzigen Lenkern des Instituts nicht immer gegen¬
wärtig geblieben ist, gehören zwei Elemente, die in der Persönlichkeit des
gegenwärtigen Dirigenten freilich ganz vorzüglich vertreten sind, gründliche
musikalische Bildung und Begeisterung für das Ewig-Frische, für die nie ver¬
altende unerschöpfliche Schönheit der Werke unsrer großen Meister. Es ist eine
Probe der Tüchtigkeit, nach Mendelssohn denselben Platz so auszufüllen, als es
geschieht und wir wüßten in der Energie der Direktion keinen zweiten ihm unter
den Lebenden zur Seite zu stellen. Allein über die Wahl des Auszuführenden
müßte er strenger wachen, als es geschieht. Der Vorwurf der Einseitigkeit,
der möglicherweise von einem Publicum erhoben werden könnte, das ebenso¬
oft, öfter sogar seine Augen als seine Ohren abonnirt, würde nur zum Lobe
ausschlagen. Was soll man aber sagen, wenn man die diesjährigen Pro¬
gramms durchgeht? Noch immer ein Anblick, der unwillkürlich an die
Kleidung einer bekannten italienischen Volksmaske erinnert. Hält man etwa
an den Programms fest, aus Pietät gegen ähnliche unter Mendelssohns Re¬
giment? Mendelsohns Umänderungen des Progamms geschahen sehr weise,
nicht gewaltsam, davor schützte ihn die Gediegenheit seiner Bildung. Es
empfahl sich aber eine ästhetische Nichtigkeit nach der andern und betrat
das Repertoir nicht wieder. Das, was von Unbedeutenden, Schlechtem
aber stehen blieb, ließ er nicht gewähren aus Nachgiebigkeit oder schwach-
gemuther Toleranz, sondern aus Klugheit, weil er wußte, daß man in
dieser Arbeit mit wenig Gutem schon weit reicht; seine Sorge wäre aber
sicher geblieben, allmälig nichts mehr zur Aufführung kommen zu lassen,
das nicht ohne alle Nebenrücksicht ein Meisterstück genannt zu werden ver¬
diente. Man wende nicht ein, daß ein Institut, wie das hiesige, die Aufgabe
> habe auch die Leistungen der Gegenwart im Auge zu behalten und dem Puhu-,
cum vorzuführen. Diese Obliegenheit wird durchaus nicht in Abrede gestellt,
allein unbegreiflich bleibt es, beim Durchlaufen der Programms dieses Winter¬
halbjahres zu bemerken, daß man lediglich einer meist nur ungenügenden Virtuosität
wegen einundzwanzig Stücke vorgeführt hat, die ich noch ehre, wenn ich sie gedanken¬
lose Sammelsurien elender musikalischer Phrasen nenne. Was sollen solche Gift-
schwämme, neben den edelsten Gaben mozartischer oder beethovenscher Muse.
Um solchen Preis ist die höchste Virtuosität zu theuer gekauft. Solcher Nich¬
tigkeiten wegen, die ihr Fortbestehen nur der irrthümlichen Ansicht verdanken,
als gehöre zu einem leipziger Gewandhausconcert die'Leistung eines Virtuosen
"der Sängers als nothwendiger Bestandtheil, bleiben drei Simphonien Beet¬
hovens unausgeführt. Man sieht mit Bedauern auf dem Programm des
zweiten Concerts, hinter der Simphonie von Haydn die Ziffer VIl., denn nur
n'renat noch war es möglich, eine der zahlreichen Simphonien dieses Meisters
vorzuführen. Warum? weil man die Pflicht hatte, eine Anzahl ganz mit
Recht zu antiquircnder früherer Paradestücke zur Langenweile jedes seiner ge¬
bildeten Kunstverständigen aus dem Notenschrank hervorzusuchen; 'wie ökonomische
Hausfrauen nicht gern sehen, w«?um liebes Gut verkommt, und mit liebens¬
würdiger Unverschämtheit Abgestandenes unter Frisches mengen.
Viel lieber einige Simphonien von Haydn mehr im nächsten Jahr und
dafür das Andante mit dem Paukenschlag weniger affectirt vorgetragen, als
es dieses Jahr geschah. Haydn hätte sicher ein Lächeln nicht unterdrücken
können, wenn er den grundcinfachen Gedanken seines Andante mit allen Tücken
des Piano und Crescendo hätte vortragen hören. Was gäbe ich drum, wenn
ich drei oder vier Ouvertüren dieses Winterhalbjahr nicht nöthig gehabt hätte
mit anhören zu müssen, dafür aber bei Beethovens Coriolanouverture, in den
mächtigen Fortestellen mehr Violintöne gehört hätte, als jenes unangenehme
Geräusch, welches entsteht, wenn der Geiger ein Forte erzwingen will, das
nicht in den Grenzen seines Instruments liegt. Von Mozarts Simphonien
erschienen auch nur zwei; eine dritte in dem Ertraconcert zur Mozartfeier mit
musterhafter Ausführung, so wie wir hier auch des Doppelconcertö für Violine
und Bratsche desselben Meisters gedenken wollen, theils wegen der Schönheit
des Stückes, theils wegen dessen vortrefflicher Ausführung. Dergleichen konnte,
nur in Leipzig gehört werden. Prüft man den Werth der Stücke, welche
im Laufe der Abonnementconcerte zur Aufführung kamen, um der Virtuosität
der Spieler, Geiger und Bläser ihr Recht zu verschaffen, so zählt man beinah
zwei Dutzend, von denen kaum ein Drittel musikalischen Werth besitzen, volle
zwei Drittel aber nie darauf Anspruch machen dürfen, daß man ihnen neben
Beethoven und Mozart auch nur ein halbes Ohr schenkt; ebensowenig wie
den der Sängerwegen zugestandnen rossinischen, bellinischen, donizettischen
Tiraden, mit denen jene Stücke in gleicher Linie stehen und zu deren Ver-
gleichung die Programms so reichliche Auswahl lieferten. Dreimal ver¬
nahm man auch Brocken jener extremen Geister, deren Musik der Gegenwart
durchaus unverständlich ist, denen man also doch sicher den größten Gefallen
erwiese, wenn man sie sammt ihren Leistungen der Zukunft anheimgäbe; aber
auch diese Erfahrungen sollten dem Publicum nicht erspart werden.. Ich habe
das Verhältniß genau berechnet: die Zahl der Meisterwerke, derer von
geringerem Werth und die völlig werthloser verhielt sich wie 4:3:2. Es
wäre doch wol möglich, die letztern allmälig ganz verschwinden zu lassen.
Schwieriger ist es, sich mit der zweiten Reihe in ein richtigeres Verhältniß zu
setzen. Die unter dieser Kategorie begriffenen Compositionen nämlich streifen
in ihrer einen Hälfte an die besten, in ihrer andern aber kann man ein all-
mäliges Sinken zur Mittelmäßigkeit und tiefer herab sicher nicht in Abrede
stellen, wenn man auch nur den Maßstab mcndelssohnschen Geschmacks an sie
legen wollte, der den Leitern der Concerte doch sicher zu Gebote steht; also aus
der Zahl dieser Werke würde eine besser zu begründende Auswahl zu treffen
sein; auf keinen Fall dürsten sie das Uebergewicht haben.
Zum Schluß noch eine kurze Bemerkung über die Quartettaufführungen.
Es sind zur Ausführung dieser nur dem deutschen Genius eignen musikalischen
Werke so ausgezeichnete Mittel vereinigt, daß man hochgestellte Anforverungen
befriedigt findet. Aber auch hier klingen wir noch einmal an die vorjährigen
Aufsätze über diese sonst so vortrefflichen Aufführungen an. Es sind in sechs
Abenden an zwanzig Stücke zur Aufführung gebracht worden, die bis aus
wenige den besten ihrer Art beigezählt werden müssen. Nichtsdestoweniger
vermißt man schmerzlich das Interesse für die letzten Quartette Beethovens,
diesen ihrem phantasievollen Gehalt nach immer noch räthselhaften Schöpfungen.
Warum wird dem Publicum so Köstliches vorenthalten? An dem Vorgeiger
kann es unmöglich liegen, da grade für diese Stimme eine mehrfache, zur
Lösung der schwierigen Aufgabe vollkommen befähigte Besetzung unter den Mit¬
gliedern des Quartetts geboten ist. Dank den Leitern dieser Mustkabende sür
die Feier von Mozarts Geburtstag, erstens durch ein Quartett, dessen Aus¬
führung vortrefflich war, zweitens durch ein Quintett, bei dem uns nur ein
allzurafstnirtes, pey Eindruck beeinträchtigendes Pianospielen, so wie ein fast
französisch kokett zu nennendes Märtirer der Figuren des ersten und zweiten
Satzes störte, uno drittens durch eine den ganzen Mozart spiegelnde Serenade
gefeiert wurde. Es setzt eine volle Hingabe des eignen Wesens an das Genie
eines Meisters voraus, wenn das Resultat so befriedigend ausfallen soll, wie
bei Aufführung dieser in schönster Harmonie der Mitwirkenden zu Gehör ge¬
brachten Harmoniemustk; es war recht eigentlich eine Serenade an den Geburts-
lager selbst. Leider müssen wir diese Hingabe und das eindringende Verständniß
in das Werk des Meisters der Aufführung des L «Zur-Quintetts von Beethoven,
mit welchem die Reihe der Abende schloß, völlig absprechen, der Vorgeigende
schien für diese Leistung von dem guten Geiste der Musik wie aufgegeben und
es that uns leid, mit diesem Eindruck den Saal verlassen zu müssen.
Da diese Zeilen durchaus nur aus derselben Idee geflossen sind, wie
die Aufsätze, die diese Gegenstände vergangenes Jahr besprochen haben, so setzen
wir voraus, daß niemanv daran Anstoß nehme, der sich etwa persönlich berührt
fühlen möchte, da uns nur die Sache, aber nicht die einzelne Persönlichkeit am
Herzen lag.
I^LS ciomvcliiznnsL it'aut.rc!soi8, >!»r ^Visönc! IIc>u5-
sa^e, 2 la. LiuxvUös ot l^eip/.i-
A, KiLL-jlinA, LvIiiivL et Loup. — Noch in unsern
Tagen gehört das Loos einer Künstlerin, die wirklichen bedeutende» Erfolg hat, zu
den glänzendsten, die dem Weibe beschieden sein können. Freilich ist es zuweilen
auch nur glänzendes Elend, denn sobald der Idealismus und der Taumel der
Jugend vorüber ist, stellen sich Enttäuschungen ein, die Erfolge bleiben ans, und
die gefeierte Künstlerin geht entweder unter, wenn sie leichtsinnig war, oder sie ver¬
liert sich in ganz gemeine prosaische Berechnung. Wenn man bei der Rachel die
fieberhafte Hetzjagd nach dem Gelde aufmerksam verfolgt hat, kann man sich doch
eines gewissen Mitleids nicht erwehren, daß eine so reich begabte Natur so ganz
alle Poesie verliert. — Noch glänzender war das Loos der berühmten pariser
Künstlerinnen im vorigen Jahrhundert, weil die vornehmen Herren, die ihnen hul¬
digten, einer feinern aristokratischen Form angehörten und leidenschaftlicher in ihrer
Hingebung waren, als die heutigen Mäcene. Damals hatte das Bankgeschäft den
Adel noch nicht in den Hintergrund gedrängt. — Der gegenwärtige Director des
Theatre frau^ais gibt uns im vorliegenden Buch eine interessante Zusammenstellung
der Schauspielerinnen, die in den beiden vergangenen Jahrhunderten Paris ent¬
zückt haben. — Er beginnt mit Marie Dcsmares, geb. 164-1 zu Rouen in
einer Familie aus der Noblesse de robe, die sich aber ihrem künstlerischen Beruf
nicht widersetzte. Sie wurde früh an einen dicken Herrn von EhampmeSlü ver-
heirathet. Die Liebe erwachte erst, als sie 1670 deu jungen Dichter Racine kennen
lernte, der sie nnn zu ihren bedeutendsten Leistungen inspirirte. Sie wurde ihm
untreu, sobald sie ihn genügend benutzt hatte, und wandte sich dem höhern Adel zu.
Bei ihrem Tode -1693 erfaßte sie die Furcht vor der Hölle, und sie bekehrte sich
feierlich. — Es folgt die Tänzerin Marianne von Eamargo, geboren -17-16 zu
Brüssel aus einer altadeligen spanischen Familie, durch die Prinzessin von Ligne-1726
aufs Theater gebracht, und während eines Menschenalters die gefeierte Gottheit der
schönen Welt. Sie starb -1770. Als sie eine alte Frau war, besuchte sie einmal
eine Gesellschaft der damaligen Freigeister. Sie fanden ihren Salon sonderbar
möblirt. Die Tänzerin selbst war in allen ihren Rollen abgebildet, daneben Christus
aus dem Oelberg, eine Magdalena am Grabe, verschiedene Madoimcnbildcr, eine
Venus, die drei Grazien, und dazwischen Rosenkränze und Amulete. Sie fragten
sie, wer ihr unter ihren Liebhabern am werthesten gewesen sei, und sie erzählte eine
rührende Geschichte von einem Edelmann, der im Duell geblieben war. — Aurore
de Livry wurde durch Voltaire beim Theater eingeführt und blieb ihm bis an sein
Lebensende befreundet; doch hinderte sie das nicht, nachdem sie den Marquis von
Gvuvernet geheirathet hatte, eine Fromme zu werden. — Ein tüchtigerer Charakter
war Justine Duronceray, geb. -1727, mit dem Operndichter Favart verheirathet und
von ihm -1749 im italienischen Theater eingeführt. Sie starb -I77-I. — Den
glänzendsten Ruf unter diesen Künstlerinnen hatte Mademoiselle Clairon, oder wie
sie eigentlich hieß, Elaire de la Tute, geboren -1723, in ihrer Jugend von einer
armen, boshaften und bigotten Mutter schwer gemißhandelt, später in fast ungetheil-
ter Herrschaft über die Bühne bis 1762. Sie sagte von der Pompadour: sie ver¬
dankt ihr Königthum dem Zufall, ich das meinige dem Genie. Später war ihr
Stern im Sinken. Trotz ihrer ungeheuren Einnahmen kam sie doch nicht aus, sie
versuchte -1773 ihre Vermögensverhältnisse bei dem Markgrafen von Ansbach wieder
herzustellen, es gelang ihr nicht und sie starbin der größten Armuth im Jahr 1802.
Die Schilderung, welche der Herausgeber von ihr gibt, erinnert in mancher Be¬
ziehung an die Rachel: „Sie war schön, edel, stolz und kalt wie der antike Mar¬
mor; sie konnte nicht meinen, ihr Schmerz brach in wüthende Leidenschaft aus, und
sie konnte nnr vier Saiten anschlagen: Verachtninz, Unwille, Stolz und Heroismus.
Sie verstand mehr zu hassen, als zu lieben, und wenn sie als Weib ihre Stunden
der Leidenschaft hatte, so hat ihr das, mehr die Kunst und das Studium eingegeben,
als ihr Herz." — Ebenbürtig reiht sich an sie Sophie Arnould, geb. 17i>0. Sie
hatte ein ungeheures Vermöge» erworben, als die Revolution es zerstreute. Später
verschaffte ihr alter Freund Fouchü ihr eine Pension. Sie starb 1802 und be¬
kannte aus dem Sterbebett ihrem Beichtvater ihre frühern Leidenschaften. Als sie
ihm von den eifersüchtigen Wuthausbrüchen ihres vornehmsten Liebhabers erzählte,
bemerkte der gute Pfarrer: Meine arme Tochter, was für böse Zeiten haben Sie
durchgemacht! — Ach, rief sie mit Thränen in den Angen, es war die gute Zeit,
ich war so unglücklich! — Adrienne Lecouvrcnr verlebte ihre Jngend in großer
Dürftigkeit. Das romantische Ende, welches die bekannte Tragödie von ihr erzählt,
wird durch dieses Buch widerlegt. Sie ist sehr prosaisch an einer zu starken Dosis
Jpecacuanha gestorben. — Madeleine Ganssin war die Tochter eines Kutschers des
Schauspielers Baron von einer Köchin der Mlle. Lecouvreur. Sie trat 1731 auf
dem hauptstädtischen Theater ans und schuf die besten Rollen Voltaires, Zaire und
Alzire. Sie heirathete in spätern: Alter einen Tanzmeister, der sie sehr schlecht be¬
handelte und starb 1767. — Mlle. Vadv, die 1776 debütirte, war die Tochter
eines Tänzers, der in weiblichen Rollen aufgetreten war. — Einen nicht unwich¬
tigen Einfluß hatte die Tänzerin Guimard. Ihr Fuß wurde von den damaligen
Bildhauern nicht selten modcllirt. Sie war nicht schön, sie war mager wie eine
Spinne, aber sie zeichnete sich durch ihre gewaltigen Sprünge ans; vielleicht hatte
sie Aehnlichkeit mit der Grahu. Sie wurde berühmt durch den Luxus ihrer Haus-
einrichtung und durch den Geschmack ihrer Toiletten. Ihre Soupers wäre« die ge¬
suchtesten in ganz Paris. Der Prinz von Soubise war ihr Sklave und die Königin
Marie Antoinette zog sie bei allen Angelegenheiten ihres weiblichen Haushalts zu
Rathe. Seit 1780 wurde sie mehr und mehr vergessen; sie heirathete zuletzt einen
Lehrer am Konservatorium und - starb in stiller Zurückgezogenheit. — Noch eine
Anekdote von der Molisre wollen wir nachtragen. Ein Herr vom Hof war
in sie verliebt, und eine Zwischcnträgerin wußte es so hinzurichten, daß ihm wie
dem Eardinal Rohan eine Person in die Hände gespielt wurde, die seiner Geliebten
lehr ähnlich war. Als er sich dadurch verleiten ließ, gegen die wirkliche Moliere
Zudringlichkeiten zu versuchen, verstand diese es falsch, sie ohrfeigte ihn zuerst und
belangte ihn dann vor Gericht, und dieses fällte 1673 den Spruch, daß die falsche
Moliere vor dem Hause der echten entkleidet und öffentlich ausgepeitscht werden
sollte, was auch in zweiter Instanz bestätigt wurde.
Hannovers politisch esMagewerk. VonZeinem
Weltbürger. Bremen, Strack. — Der Verfasser vertritt im Wesentlichen die Ansicht,
die anch von unserm Korrespondenten aus Hannover ausgestellt ist; aber er gibt
ihr eine Ausdehnung, der wir nicht beipflichten können. ' Er ertheilt der hannover-
schen Opposition den Rath, die Veränderung des Rechtszustandes als eine vollendete
Thatsache zu betrachten und den nutzlosen Kampf nicht weiter zu verlängern. „Eine
Vertheidigung, in der man des beharrlichsten Widerstandes ungeachtet durch über¬
legene Gewalt von Stellung zu Stellung rückwärts gedrängt wird, schwächt un¬
ausbleiblich die Zahl wie den Muth der Anhänger mit jedem neuen Zurückweichen
mehr. Die Menschen ertragen es nicht, mit der gewissen Erwartung des Unter-
liegens vor Augen dennoch im Kampfe treulich auszuhalten. Sie entziehen sich
lieber vorzeitig einer Bahn, auf der nur das Gewissen sie zurückhalten sollte, wäh¬
rend Erfolge und Ehren allerdings aus jeder andern eher in Aussicht stehen. . . . .'
Die Hannoveraner jagen auf andern Wegen nach den mannigfaltigen Gütern der
Erde, als ihre heutigen politischen Vertreter; aber diese, die dünn gesäete Minder¬
heit, gehorchen der Tradition ihrer persönlichen Vergangenheit. . . . Nicht die
Mehrheit muß sich zum Glauben der Minderheit bekehren, sondern die Minderheit.
Ohnehin eröffnen sich ihr aus der bisherigen Fährte nur die trostlosen Aussichten
einer Reihe von kleinen Niederlagen ohne Ehre, Sinn und Werth." —- „Ans den
Tag gewaltsamen Umsturzes harren, heißt die Aussichten zu friedlicher und eben¬
darum dauerhafter Verbesserung unsrer Zustände unnöthigerweise hinausschieben,
denn während man alle Hoffnung aus ein Ereigniß setzt, zu dessen Beschleunigung
man so gut wie nichts thun kann, verlernt man das Gute von einer verständigen
und beharrlichen Anwendung derjenigen Mittel'erwarten, über die jeder Mensch Ge¬
walt hat. .... Die große Zahl derjenigen, welche seit dem März des Jahres -1848
einen Anlauf zu thätiger Theilnahme am Staatsleben genommen haben, ist in
Hannover nicht minder als in andern deutschen Ländern nur deshalb so vollständig
von der Bahn des öffentlichen Lebens zurückgetreten, weil sie es bequem fanden,
einer allerdings unwiderstehlichen Gewalt mit dem Troste zu weichen, daß eine Zeit
wiederkehren werde, die Gewalt durch Gewalt verjage. Dieser Trost ist für das
wahre Heil des Vaterlandes unheilvoller, als der gegenwärtige Druck. ....
Revolution im innern Staatsleben, Krieg im Leben der gesitteten Völker sind Mittel,
die 'Vor dem Richterstuhl des erleuchteten und menschlichen Jahrhunderts kaum
irgend ein Zweck mehr heiligen kann." — Es liegt in diesen Grundsätzen vieles,
illas wir billigen, was wir selbst bereits mehrfach ausgeführt haben. Die liberale
Partei soll niemals auf eine Revolution speculiren, denn das ist eine Rechnung mit
unbekannten Factoren; aber damit ist noch nicht gesagt, daß sie jedes beliebige
Ereigniß als solches für legal anerkennen soll. Der Verfasser gehört zur
Schule der absoluten Freihändler, oder bestimmter gesagt, der politischen Materia¬
listen, denen das materielle Gedeihen des Volks, die Wirthschaft, Verwaltung,
Handel, Geldverkehr, Eisenbahnen und dergl. viel wichtiger sind, als die ideellen
Güter des Volks, namentlich der öffentliche Rechtszustand. Wenn aber gewiß aus
der einen Seite die Idealisten Unrecht haben, die jene positive Grundlage des
öffentlichen Lebens vollkommen ignvrjren, so ist der Materialismus noch viel schäd¬
licher für die öffentliche Sittlichkeit, denn er macht das Volk zur 'Knechtschaft reif.
Der Materialismus des Volks kommt dem Bonapartismus der Staatsgewalt ent¬
gegen. Wenn ein Despot für das Gedeihen seiner Unterthanen auf seine Art sorgt,
so wird der Materialist sich zufrieden geben. Nebenbei sind die Ansichten über das
Wohl des Volks auch in materieller Beziehung doch sehr verschieden. Der Verfasser
verlangt die Einführung des Freihandels (Bruch mit dem Zollverein), die Ver¬
äußerung der Domänen, Concessionirung der Banken, einen festen Eingriff in die
unhaltbaren Zustände des Harzes u. s. w. Das alles sind Dinge, über welche
bei den Kundigen verschiedene Ansichten obwalten, und die Constituirung einer
Partei aus dem Boden materieller Interessen ist daher nicht leichter, als aus dem
Boden des Rechts. Manche von diesen Interessen sind sogar lediglich auf dem Ge¬
biet der Politik zu verfolgen; wie z. B. eine freie Presse möglich sein soll ohne
Herstellung des Rechtszustandes, ist nicht recht abzusehen. Aber die Hauptsache
bleibt immer, das materielle Wohl eines Volks ist nicht sein höchstes Gut. Wenn
ein Volk den Rechtsstaat gewinnt, so ist das wichtiger, als wenn es einige Eisenbahnen
mehr bekommt, und ein zweckmäßiges Steuersystem durch die Einführung eines
bureaukratischen Regiments zu erkaufen, heißt die Waare zu theuer bezahlen. Neben¬
bei geht ja doch das eine mit dem andern immer Hand in Hand. Wie will man
z. B. ein zweckmäßiges Steuersystem herstellen, welches den Interessen einer herrschen¬
den Classe widerspricht, wenn man diese Classe nicht politisch in die Stellung zu¬
rückdrängt, die ihr zukommt? — Man kann auch für die Herstellung des Rechts-
zustandes arbeiten, ohne deshalb ans die Revolution zu speculiren, ja ohne der
Benutzung der noch vorhandenen Rechtsmittel zu entsagen. Wie viel auch oder
wie wenig der Rechtstitel werth sein mag, eine Partei verliert ihren Credit, wenn
sie allen Rechtsboden aufgibt; und im gegenwärtigen Falle liegt ja die Sache so
außerordentlich einfach, daß man nicht begreift, wie eine Meinungsverschiedenheit
stattfinden kann. Wie die liberale Opposition im Einzelnen operiren soll, darüber
haben wir kein Urtheil, denn dazu müßte man mitten in der Sache stehen. Aber
das scheint uns nothwendig, daß sie an dem historisch gewordenen, praktisch bewähr¬
ten und ausführbaren Rechtsboden festhält; daß sie fortfährt, das Volk an denselben
zu gewöhnen, und sich bemüht, das Staatsoberhaupt gleichfalls für diese Ueberzeugung
zu gewinnen. Es ist möglich, daß das gegenwärtige System >so lange Dauer ge¬
winnt, daß die alte Verfassung in Vergessenheit geräth, und dann wäre es frucht¬
los, dabei stehen zu bleiben. Sie aber ohne weiteres aufzugeben, weil man im
Augenblick nichts dafür thun kann, wäre eine Uebereilung, mit der man zugleich die
ganze Grundlage der Partei aufgäbe. —
— Mit großer Freude haben wir
auf der permanenten Kunstausstellung zu Leipzig das neue Gemälde des denkenden
und vielseitig gebildeten Künstlers angesehen, das gegen seine frühern Leistungen
einen ganz ungewöhnlichen Fortschritt enthält. Der Gegenstand ist der Einzug der
Destreichcr in Venedig. Im Hintergründe sieht man das Heer, an der Spitze die
Generalität, der die Muuicipalbchördcu die Schlüssel der Stadt überreichen. Die
Mitte des Vordergrundes nehmen Verwundete, Hungernde, Sterbende:c. ein; links
im Vordergrund sind einige mitleidige östreichische Soldaten, die ihnen Nahrungs¬
mittel bringen. Rechts entfernen sich die Leiter der besiegten Revolution aus' der
Stadt. Die Wahl des Gegenstandes ist nicht sehr glücklich; indeß muß man dabei
in Rechnung bringen, daß jedes Gemälde zugleich einen äußerlichen Zweck hat.
Wenn der Künstler über die Wahl seines Stoffs nicht ganz feci verfügen sann, so
hat er wenigstens die Aufgabe, ihm so viel künstlerische Seiten als möglich abzu¬
gewinnen und das ist Pacht dies Mal vollkommen gelungen. Wer seine frühern
Bilder kennt, wird den Fortschritt namentlich in zweierlei finden: in der freien
lebendigen Bewegung der Figuren und in der klaren, künstlerischen Anordnung des
Hintergrundes. Die Architektur ist mit großem Geschmack benutzt; die unschönen
Formen des Exercitiums, so wie des bürgerlichen Fracks so geschickt gruppirt, daß sie
das Auge nicht beleidigen; das Leiden, der Hunger, die Verwundung ze. ist mit
einer außerordentlichen Discretion behandelt; man wird bewegt und gerührt, aber
nicht dnrch unschöne Verzerrungen, wie sie bei den modernsten Realisten nach fran¬
zösisch-belgischen Muster nur zu sehr eingerissen sind, verletzt. Der Inhalt der
Handlung spricht sich klar und übersichtlich ans, der Ausdruck ist im Ganzen der
Tendenz angemessen / die Bewegung der Linien ist geschickt. — Als Fehler möchten
wir folgende bezeichnen: die Gruppe der Auswanderer ist mißlungen. Bei einem
Gemälde, dessen Zweck die Verherrlichung des östreichischen Ruhms ist> kann man
freilich nicht erwarten, daß die Revolutionärs zu Helden gemacht werden; aber
einen bestimmten Charakter mußten sie doch haben und es wäre besser gewesen,
wenn der Künstler sie als verzweifelte Banditen dargestellt hätte, als jetzt, wo vorn
die Familie eines verschmitzten bankrotten Wncherers, hinten ein deutscher Idealist
in komödienhafter Haltung die Revolution repräsentiren sollen. Die Satire ist dem
Künstler nur bis zu einer gewissen Grenze erlaubt, wenn er nicht aus dem Gebiet
der Kunst heraustreten will. Vollends der Junge im Vordergrunde. der dem
Reisenden die Reisetasche trägt, entspringt lediglich dem Wunsch, eine malerische
Localfigur anzubringen, was gar nicht nöthig war, da der prächtig ausgeführte
kleine Lazzarone links vollkommen genügte. — Die Mittelgruppc, die sonst durch¬
weg zu loben ist, leidet doch an einer gewissen Einförmigkeit in den Gesichtern.—
Endlich ist der Vordertheil des Gemäldes zu wenig mit dem Hintergrund ver¬
mittelt; es bleibt ein zu großer leerer Raum, wodurch die Ausstellung der Ver¬
wundeten !c. den Anschein der Künstlichkeit erhält. — Trotz dieser Ausstellungen
im Einzelnen begrüßen wir doch das Gemälde als einen Fortschritt zum Bessern,
der noch Bedeutenderes in Aussicht stellt.
Briefe von Schillers Gattin an einen vertrauten
Freund. Herausgegeben von Heinrich Düutzcr. Leipzig, Brockhaus. —-
Charlotte von Schiller erscheint in den> wenigen Briefen, welche in den Memoiren
ihrer Schwester, der Frau von Wolzogen, enthalten sind, so liebenswürdig und bei
aller Bescheidenheit geistig so reich« begabt, daß wir nicht ohne Interesse an die
Lectüre dieser Sammlung gingen. Unsre Ausbeute ist aber sehr gering gewesen.
Frau von Schiller zeigt sich zwar überall als vortreffliche und gescheidte Dame, aber
zur Erhärtung dieses Umstandes siud doch 367 Seiten, in denen, offen gesagt, gar
nichts steht, etwas zu viel. Mit Ausnahme von etwa ö0 Seit.n fallen alle diese
Briefe (der Freund ist Knebel) in die Jahre 1812—1826, dem Todesjahr Char¬
lottens, wo die Literatur aus dem Kreise von Weimar und Jena herausgetreten
war und Charlotte keine Gelegenheit mehr hatte, die innern Beziehungen derselben
ins Auge zu fassen. Um uns aber für ihre Ansicht über neu erschienene Bücher
Interesse einzuflößen, dazu ist ihr Urtheil doch nicht bedeutend genug, und vollends
ihre Kinder und sonstigen Verwandten interessiren uns gar nicht. Die Pietät ist
eine schone Sache, aber es ist doch gut, in allen Dingen Maß zu halten. —
De in litlei mein-e nac!»c>nil>no et cle ssnellsues rui-ciel, I>>I,I!ogi«>>Iiiciue8 ne co
«erirv. ?«r 0et »ve velvpierre. — Wir theilen aus dieser höchst interessanten
Sammlung ein Fragment mit, welches von einem schottischen Philologen herrührt
und auf eine höchst wunderliche Weise das Vvlksidiom mit dem lateinischen verbindet.
^uno ineipivnle Ilus>>ick>,it)it> snowvrv nullum
I?t xelu intensum «U'vLlu^ eoverndit sliäus,
Liziistmiterc^lo Ilttle I^oz's, sullent et pileliell -iliout «no^v-Izi>1>8>
Quorum not-»-few liunALt et>e e^os ol Ltuclentes.
Irritati, Ltuclvntes cliürgedimt s>eliee>um to kullo u>i
l^nlle l>o^s, seel l!l>urlies relusül^unt «o lor lo lin, et)vn
(^omplem>nim Ltuilente» iipsiellüIz-nU „?e<1ick>toros". '
Ltudentos iniliFNgnt, reverderant com^Junere».
Kum multi Iiomines „dluek^uuräs" eini gentlvmou vocant,
KiiKer-» et Kutcliei-s et IinIIie.-! et eolliers, atros
Le ulinsz, eessiitoi'es ^ni Joe>is veelesiüv lrv^neue
?i'«zu ^Inn'all et InvvjZiUe eum it« mluiilei-oug al^hö.
^^s/n>It!i»t Ltuilentes «tielii« et umliereliluls.
^,I1it 'em Il.lib! Ille 'em I>ur<I!" Lliautnnt, „iluwnutot; >>öl>pie5,
Ki>t!>uno5!s>ne w,'in>8;" u^siellnnt et vurios vile term-z,
Ltiulente« »uclieliunt, seil tlevil -in iinswer re>>n»sit.
Zwölf Frauenbilder ans der Goethe-Schiller - Epoche. Von Arnold
Schlonbach (Hannover, Nümplcr). — Die dargestellten Frauen sind die Herzogin¬
nen Amalie und Louise von Weimar. Goethes Mutter, Schillers Frau und ihre
Schwester, Frau von Stein und Frau von Kalb, Sophie Laroche, Angelica Kauf¬
mann, Frau von Stael, Nadel und Bcttiue. Das Buch ist eine Kompilation aus
leicht zugänglichen Quellen, aber sehr lesbar geschrieben und daher für das größere
Publicum geeignet. —
—- Nachdem die orientalische Frage vorläufig beseitigt
lst, drängen sich die Händel zwischen den nordamerikanischen Freistaaten und Gro߬
britannien in den Vordergrund. Wir behalten uns einen ausführlichen Bericht
darüber vor und machen hier vorläufig uur auf ein Werk aufmerksam, in welchem
die eine Seite der Frage am ausführlichsten besprochen ist, auf die Bemerkungen
über Centralamerika von E. G. Squier. Der Verfasser war seit 1860 Ge¬
schäftsführer der vereinigten Staaten in Centralamerika und ist einer der eifrig¬
sten Verfechter der amerikanischen Eroberungspolitik. Seine Ansichten sind daher
höchsten Grade parteiisch, da in dieser Frage England im entschiedenen Recht
^- Aber man findet darin ein sehr reichhaltiges Material. — Die Biographie
Perus von H epworth Dixon ist in einer neuen Ausgabe erschienen und wieder-
holt noch einmal schärfer alle die Ausstellungen, die man gegen die Charakter¬
schilderung von Macaulay machen kann. Es ist sehr zu bedauern, daß der be¬
rühmte Historiker in diesem Punkt sich dem Eindruck sprechender Thatsachen eigen¬
sinnig verschließt. — Die Belagerung von Kars ist in einem eignen Werk von
Humphrey Santons dargestellt. — Eine Ausgabe der italienischen Ge¬
schichtschreiber vom 6. bis zum 16. Jahrhundert nach Provinzen und Perioden
geordnet <Mi 8c:nUc»'> <z .I'iVloiiumvnU «Illlli» öl.nriil Il,»Inn>'> ist von Unsitte
Gennarclli soeben in Angriff genommen. Die erste Lieferung derselben ist viel¬
versprechend.
— Die stille Mühle. Eine Geschichte aus Deutsch-Böhmen
von Elfried von Taura. Hannover/ Rümplcr. — Unter dem Pseudonym ver¬
birgt sich einer von den unglücklichen Maigcfangenen in Waldheim. Der Umstand
ist um so mehr hervorzuheben, da die. Erzählung keine wilde Leidenschaft, sondern
die Ruhe.eines mit sich selbst versöhnten Gemüths athmet. Der Verfasser ver¬
leugnet seine Sympathien für den Fortschritt keineswegs, aber er sucht ihn mehr
in der fortschreitenden Bildung des Privatlebens, als in allgemeinen.Umgestaltungen.
Wenn auch die Erfindung nicht bedeutend ist, so hinterläßt die Geschichte doch einen
wohlthuenden Eindruck. — Wir bemerken nur noch, daß die Novelle als gekrönte
Concurrcnznovelle im hannöverschen Courier erschienen ist. —
Die kleine Gräfin nach dem Französischen des Octave Feuillee und
hier sind Baustellen zu verkaufen nach dem Französischen des Edmund
About, Deutsch von Rudolph Menger. Stettin, Graßmann. — Die erste
Erzählung enthält die Geschichte einer leichtsinnigen jungeu Dame, die sich gewisser¬
maßen ans Widerspruchsgeist in einen ernsthaften, steifen, etwas pedantischen Mann
verliebt, der sie verschmäht und deren Leidenschaft sich zuletzt so steigert, daß sie
daran stirbt. Das Gemälde ist mit einer Naturwahrheit und Anmuth ausgeführt,
die Bewunderung verdient. — Die zweite Erzählung ist weniger bedeutend, sie ist
gewissermaßen eine Apologie der Prosa. Ein Maler, dessen Solidität von aller
künstlerischen Uebertreibung weit entfernt ist, macht eine reiche Partie, die Tochter
eines Regierungsrathes, der, obgleich er eine Million im Vermögen besitzt, sehr
eingeschränkt lebt und dessen philisterhafte Bedenklichkeiten zu einigen liebenswürdigen
Intriguen Veranlassung geben.
Der Fürst „Mein Liebchen" und seine Parteigänger. Historischer
Roman ans der letzten Hälfte des 18. Jahrhunderts von W. Bachmann.
Zwei Bände. Berlin, Decker. — Der Roman, sagt der Verfasser in der
Vorrede, ist das Werk eines Koryphäen der Literatur des Auslandes, es ist aber
bereits ein Decennium verflossen, seitdem er sich unter seiner Anonymität einen
seltenen Ruf in dem ganzen gebildeten Osten geschaffen, ohne daß eine deutsche
Übersetzung davon erschienen wäre. — Nun ist es aber ganz wunderlich, daß er das
Werk gar nicht angibt, ja nicht einmal sagt, ob es ein polnisches oder russisches
Werk ist, obgleich man freilich nach dem Inhalt das Erstere vermuthen muß. —
Die Geschichte spielt in der Zeit des Königs Stanislaus Poniatowski und schildert
den Kampf zwischen der altpolnischen und der sranzöfircnden Partei. Es verdient
die Lobsprüche, die ihm der Bearbeiter ertheilt, in vollem Maße. Die Localfarbc
ist von großem Interesse, die Charaktere sind mit einer festen männlichen Hand
gezeichnet und das Ganze erhält einen ungewöhnlichen Reiz durch die Verbindung
von ehrlicher patriotischer Wärme und humoristischer Weltkenntnis;. Der Zweck ist
eine Verherrlichung der altpvlnischen Aristokratie, die bcdürsnißlos und in dem
Glauben ihrer Väter ausgewachsen aus ihren Gütern'lebte und der Entsittlichung,
die vom Hofe ausging, einen ebenso lebhaften Widerstand entgegensetzte, als den
immermehr um sich greifenden demokratischen Ideen. Die Partei ist nicht die unsrige,
aber wir freuen uns an der großen Naturwahrheit in der Darstellung derselben.
Der Fürst derselben ist Karl Radziwill, das Haupt, der altpvlnischen Partei. Der
Herausgeber hat sein Buch mit einem Porträt desselben geziert. Das Buch ver¬
dient auch in Deutschland allgemeine Aufmerksamkeit, es wird manche schiefe Urtheile
über die polnischen Zustände berichtigen, derw obgleich eine Apologie, ist es doch
nicht im mindesten geschmeichelt. —
Träumereien eines Junggesellen oder ein Buch des Herzens. Von
Il. Marvel. Aus dem Englischen. Hannover, Meyer. — Eine gute Ueber-
setzung des von uns bei Gelegenheit der amerikanischen Literatur bereits besproche¬
nen Werks. —
1i it» Il<N Il no i u rü »lion nie Leipzig, Xies»In>g Le Leliuüo.)— ?u>L>>ürio
In l'6<z du ^urdi», pur In ^vini,o8so vusli (3 Bde.) — Die Novelle hat eine sehr
bestimmt ausgesprochene Tendenz, nämlich nachzuweisen, daß es sür die Gesellschaft »
höchst verderblich ist, wenn man Kindern unbemittelter Leute eine Erziehung gibt, die
über ihren Stand hinausgeht, denn man mache sie dadurch nur zu Spitzbuben oder
zu Träumern. Es ist ein eigenthümlicher aristokratischer Dust in diesem Buch;
es sehlt nicht viel daran, daß das Bürgerthum gradezu mit der Gemeinheit iden-
tificirt wird. Einen seltsamen Contrast gegen diese Tendenz bilden einzelne Episoden,
in denen sich zeigt, daß nnter Umständen doch auch Edelleute Handlungen begehen,
die ins Zuchthaus führen. — Einen viel erfreulicheren Eindruck machen die unter
dem Titel: >>i>n!> lus >)vis gesammelten Novellen von Thorn. Allerliebste kleine
Genrebilder, von einem guten Humor eingegeben und dabei sehr anspruchslos
gehalten.
Neueste Sammlung ausgewählter
griechischer und römischer Klassiker verdeutscht von den berühmtesten Ueber-
setzcrn. Stuttgart, Hoffmannsche Verlagsbuchhandlung. — Mit diesem tüchtigen,
seinem Zweck vollkommen entsprechenden und mit Sachkenntnis; ausgeführten
können wir uns durchweg einverstanden erklären. Die Buchhandlung hat alles
Mögliche gethan, kenntnißreiche und geschickte Arbeiter zu gewinnen, und es
^ ihr auch im Wesentlichen gelungen. Die früheren Lieferungen haben wir
bereits besprochen, von den neuen erwähnen )vir folgende. Der Tacitus ist vom
^hmnasialdireetor Noth in Stuttgart übersetzt. Fertig sind das Buch über die
Redner, die Germania und Agricola; von den Annalen sind die sechs ersten Bücher
Übersetzt (wobei der Uebersetzer die Nippcrdeysche Ausgabe zu Grunde gelegt hat),
^le Lücken sind aus andern Schriftstellern mit Sorgfalt und Verstand ergänzt.
Seine Grundsätze spricht der Verfasser im Vorwort aus: „Was die Zugänglichkeit
^ Form betrifft, so wird jeder Uebersetzer lateinischer Prosaiker dem Leser gewisse -
Zumuthungen machen müssen, welche bei Übersetzungen aus neuen Sprachen bei¬
nahe ganz wegfallen. Eine Uebersetzung Sallnsts »der des Tacitus, die man wie ein
deutsches Orginal lesen könnte, würde den nationalen und den persönlichen Charakter
der Schriftsteller ganz verwischen. Im Ausdruck und im Periodenbau, wenn auch weniger
in der Wortstellung, muß die deutsche Uebersetzung dem lateinischen Original nahe
stehen, wenn dessen Charakter nicht unter der Übertragung leiden soll. Und das ists
eben, was ganz besonders der Uebersetzer des Tacitus Lesern obengedachter Art zumuthen
muß: sie können den eigentlichen Charakter des Schriftstellers nur dadurch mittelst
einer Übersetzung erfassen, daß sie sich durch längeres und langsames Lesen in die
fremdartige Form erst hineinfinden. Übrigens habe ich mich für verpflichtet gehalten,
da, wo entweder die Deutlichkeit oder des Autors Eigenthümlichkeit Preis gegeben
werden mußte, diese letztere, nachzusetzen." — Daran schließt sich die Übersetzung
der Tusculanen von Dr. Kühner, und des aristotelischen Werks über die Theile
der Thiere von Professor Karsch, mit sehr reichhaltigen Anmerkungen. Von der
Übersetzung des Plutarch sind bis jetzt drei Bändchen erschienen. Zu den plato¬
nischen Dialogen von Prantl ist der Phädrus getreten. Minckwitz beginnt die
Übersetzung des Aristophanes mit den Vögeln, wie er in der Vorrede angibt, mit
hauptsächlicher Rücksicht aus die metrische Genauigkeit. — Die Übersetzung des
Horaz von Binder ist vollendet. — Wir wünschen der weitern Fortsetzung des Unter¬
nehmens das beste Gedeihen. —
In Bezug aus unsre Anzeige der „Classischen Vorschule" gehn uns von dem
Herausgeber derselbe», Hr. Löwenthal, folgende facttsche Bemerkungen zu. „Zuvör¬
derst bemerke ich, daß ich bald nach dem Drnckbeginne meines Werkes, um mich bei
meinen Mittheilungen aus deu Übersetzungen antiker Dichter gewissenhaft vor jedem
ungesetzlichen Eingriffe in fremde Verlagsrechte zu hüten, einem geachteten Rechts-
gelehrten, der eine der höchsten Richtcrstellcn in einem deutschen Mittelstaate be¬
kleidet, den ganzen Plan meines umfangreichen Unternehmens mittheilte und mich
über die in Betreff fremden Verlagseigenthums von mir zu beobachtenden Grenzen
bei ihm Raths erholte. Indem ich seinem Gutachten streng folgte, glaube ich schon
deshalb in meiner „Classischen Vorschule" keinem fremden Rechte zu nahe getreten
zu sein. — Übrigens habe ich es bei dieser juristischen Beruhigung keineswegs bewen¬
den lassen, sondern mich noch außerdem wegen des größten Theils der umfassenderen
Mittheilungen in meinem Werke, des speciellen Zugeständnisses der be¬
treffenden Verleger versichert; wo ich dies (in wenigen Fällen) anfangs aus
Vergeßlichkeit unterlassen hatte, glaubte ich dann mit Gewißheit aus die großartige
oder collegialisch-freundliche Gesinnung der Beteiligten zählen zu dürfen. Bei einigen
andern Übersetzungen kam mir die Verjährung des Vcrlagseigenthums zu Statten."
Wenn die Benutzung der fremden Übersetzungen mit Einwilligung der Verleger
geschehen ist, so erledigt sich unser Bedenken von selbst; übrigens haben wir nicht
grade von der juristischen Seite der Sache gesprochen, die in Deutschland noch an
vielen Unklarheiten leidet, und ans die wir ein weiteres Eingehen uns vorbehalten.
Die ungewöhnliche Ausdehnung, welche in diesem Augenblick das Gebiet
der Literaturgeschichte gewinnt, erklärt sich aus dem dunkeln Gefühl, daß es
mit der Blüte dessen, was man früher ausschließlich Literatur zu nennen
pflegte, vorüber ist. Die leidenschaftlichsten Vertreter der neuesten Poesie
können sich doch der Betrachtung nicht erwehren, daß die Darstellung in der
Regel erst da beginnt, wo das Ereigniß seinen Abschluß gefunden hat. Auch
im Lauf eines sogenannten classischen Zeitalters finden sich wol literaturhisto¬
rische Versuche, aber diese gehen, abgesehen von der Behandlung älterer Perio¬
den, vorzugsweise darauf aus, für vorhandene Richtungen und Ideale Ge¬
währsmänner und Vorbilder aufzusuchen. Das war z. B. die Richtung der
schlegelschcn Periode. Was damals in der Literaturgeschichte geleistet wurde,
ging mitten aus der Bewegung der specifischen Literatur heraus, die sich be¬
mühte, für ihren Lebenstrieb neue Kräfte zu sammeln. —- Seit Gervinus ist
die Sache eine andre geworden. Der Geschichtschreiber sieht sich die Literatur
wie ein Object gegenüber; er betrachtet sie kritisch, sei es nun, um sie anzu¬
greifen oder sie zu vertheidigen. Der Gegenstand erregt nicht mehr an und für
sich selbst ein Interesse, sondern als geistiger Ausdruck einer bestimmten Cultur¬
entwicklung , deren letztes Resultat er entweder mit Befriedigung oder mit Ver¬
druß empfindet. ' Jeder Literaturhistoriker geht jetzt von einer bestimmten politi¬
schen Gesinnung aus, auch die Jungdeutschen, die als Ritter vom.Geist wenig¬
stens Revolutionäre im Allgemeinen sind, wenn ihnen auch kein bestimmter
Gegenstand der Revolution vorschwebt. Die Frage nach dem Werth eines
Kunstwerks an und für sich läßt sich freilich nicht umgehen, daneben tritt aber
immer noch die zweite hervor: was für einen Einfluß hat es auf unsre wirkliche
nationale Entwicklung gehabt, oder inwiefern ist es ein Zeugniß für ein bestimm¬
tes Moment unsrer nationalen Entwicklung? und dieser Standpunkt ist un¬
zweifelhaft der richtige, wenn man ihn nur so weit zu beschränken weiß, daß er
das objective ästhetische Urtheil nicht beeinträchtigt. Wer würde z.B. in unsern
Tagen sich noch dazu hergeben, den Werth Shakespeares oder Calderons ledig¬
lich nach formalen Principien der Aesthetik zu prüfen? Wer würde nicht die
Nothwendigkeit fühlen, auf ihren sittlichen Inhalt einzugehen und die Wechsel¬
wirkung zu betrachten, die zwischen ihren sittlich-religiösen Voraussetzungen
und ihren poetischen Idealen besteht? Ja, je entschiedener sich der Literatur¬
historiker auf diesen Standpunkt versetzt, desto unbefangener kann er in seinem
ästhetischen Urtheil zu Werke gehen; er kann dem spanischen Dichter eine voll¬
ständige poetische Ehrenerklärung geben, wenn er nur vorher vorausschickt, daß
sein poetisches Ideal auf Kosten der höhern sittlichen Ideen sich entwickelte.
Dieser historische Standpunkt rst ebensoweit von dem einseitig moralisirenden
Pragmatismus, als von der affectlosen Objectivität entfernt, welche den Wahn
hegte, die Kunst sei nur um der Kunst willen da.
Je verwickelter aber die Beziehungen sind, die von diesem historischen
Standpunkt aus die Literatur mit' dem Leben verzweigen, desto schwieriger wird
die Darstellung, desto nachsichtiger wird man gegen jeden Versuch sein müssen,
in dem man wenigstens den redlichen Willen herauserkennt. ' Am besten fühlt
das, wer selbst einen Versuch der Art unternommen hat, wie z. B. der gegen¬
wärtige Berichterstatter.
Leichter hat es derjenige Geschichtschreiber, der nach der Schlosserschen Methode
die Literatur gewissermaßen nur als eine Episode der politischen Geschichte be¬
trachtet. Versucht man dagegen die Literatur sür sich selbst darzustellen, so er¬
geben sich Schwierigkeiten, von denen der politische Geschichtschreiber keinen
Begriff hat.
Für die eigentliche Geschichtschreibung läßt sich ein bestimmtes Ideal denken,
das man zwar nie erreichen, das man aber als feststehend betrachten und dem
man unablässig nachstreben kann. Jedes wahrhaft historische Werk muß in
seiner Art ein Kunstwerk sein, das auf den Kundigen wie auf den Unkundigen
eine gleich wohlthuende Wirkung macht. Das Maß, welches die Erzählung, die
Schilderung, die Charakteristik, das Urtheil einzunehmen haben, läßt sich aus
der Natur der Sache heraus bestimmen; der Geschichtschreiber hat nicht nöthig,
sich ein bestimmtes Publicum mit bestimmten Voraussetzungen -des Wissens und
der Bildung vor Augen zu halten. Von gelehrten Forschungen reden wir
natürlich ebensowenig, als von Compenvien oder von der sogenannten popu¬
lären Literatur. Bei einem classischen Geschichtswerk, wie es z. B. Macaulay
geliefert hat, wird die Freude dessen, der die Geschichte daraus erst lernt, von
der Freude dessen, der sie bereits kennt, sich nur so unterscheiden, wie etwa
einer, der den Faust zum ersten Mal, von dem, der ihn zum zwanzigsten Mal
liest.
Ganz anders der Geschichtschreiber der Literatur. Die politische Geschichte
kann ihren Gegenstand vollständig darstellen, sie kann gewissermaßen nach den
Grundsätzen der epischen Dichtung zu Werke gehen; die Literaturgeschichte kann
es nicht, sie muß das Maß dessen, was sie darzustellen unternimmt, nicht aus
der Sache selbst, sondern hauptsächlich aus dem Bildungsgrad ihres Publicums
entnehmen. Ein geschichtlicher Charakter läßt sich vollständig darstellen, ein
Kunstwerk nicht. Der Literaturhistoriker muß daher nothwendig eine gewisse
Kenntniß seines Gegenstandes voraussetzen oder wenigstens zu derselben an¬
regen wollen, weil ohne dieselbe seine Bemühung fruchtlos ist.
Indem nun jeder Geschichtschreiber sich bemüht, diejenigen Seiten seines
Gegenstandes hervorzuheben, die ihm zur heilsamen Entwicklung des gebilde¬
ten Publicums und damit indirect der Dichtkunst nothwendig erscheinen, ent¬
steht nicht blos durch die Verschiedenartigkeit der Färbung, sondern auch durch
das verschiedene Motiv der Auswahl eine gewisse Verwirrung!» die nur dadurch
ausgeglichen werden kann, daß nebenbei auch noch eine rein sachgemäße ten¬
denziöse Darstellung besteht. Den günstigsten Standpunkt zu einem solchen Unter¬
nehmen nimmt der Lehrer ein, der sich hüten wird, seine Schüler zu einem
voreiligen Urtheil herauszufordern, dessen Streben vielmehr vor'allen Dingen
darauf geht, ihnen das Material in möglichster Vollständigkeit und systematischer
Ordnung vorzulegen. In dieser Beziehung ist das Lehrbuch der Literatur-
geschichte von Koberstein die wesentliche und nothwendige Ergänzung aller neuen
Bearbeitungen dieses Gegenstandes, Gewinns nicht ausgeschlossen, denn auch
dieser, obgleich er ausführlicher referirt und sich mehr auf die Zeiten einläßt,
die außerhalb des Streits liegen, geht doch von einer sehr bestimmten Tendenz
aus und gibt daher seinem Bericht eine Farbe, die nicht ausschließlich aus der
Natur des Gegenstandes hervorgeht.
Die erste Ausgabe des Kobersteinschen Lehrbuchs erschien 1827, die dritte
1837, die vierte wurde 186ö begonnen, 18S1 fortgesetzt und der Verfasser hat
noch nicht bestimmen können, wann der Schluß erscheinen wird. Es liegt in
dieser allmäligen Entstehung des Buchs namentlich für den praktischen Gebrauch
desselben etwas sehr Mißliches und je höher wir den Werth dieses vortrefflichen
WerkH anschlagen, je wärmer wir seine Verbreitung vertreten, desto lebhafter
müssen wir. wünschen, daß Verfasser und Verleger etwas dazu thun, es dem
Publicum zugänglicher zu machen. Was bisher erschienen ist, besteht aus 1828
starken Seiten, die unbroschirt ausgegeben werden. Die letzte Lieferung bricht
mitten im Satz ab. Es ist weder ein Jnhaltsverzeichniß, noch ein Register da
und die Ueberschriften der Seiten nützen auch nichts, da sie weiter nichts geben,
als die Anzeige der Periode. Dazu kommt noch serner, daß namentlich in der
neuern Zeit die Anmerkungen so anwachsen, daß zuweilen auf mehren Seiten
nur eine Zeile Text, zuweilen auch gar keine sich findet. Zur eigentlichen Lectüre'
>se das Buch nicht eingerichtet, und das Nachschlagen wird unmöglich gemacht.
Da nun gar nicht zu berechnen ist, in wie langer Zeit die Vollendung des
großen und schwierigen Werks erfolgen wird, so ist es nothwendig, diesen Uebel¬
ständen wenigstens vorläufig einigermaßen abzuhelfen und das kann sehr ein¬
fach dadurch geschehen, daß der Verfasser einen vorläufigen Abschluß macht,
wenn er auch dabei weiter nichts gibt, an den Schluß des begonnenen Ca¬
pitels, und mit demselben eine sehr ausführliche Jnhaltsanzeige verbindet. Das
Buch hat ohnehin schon jetzt einen Umfang, daß, auch wenn man eS in zwei
Abtheilungen sondert, nicht viel mehr hineingeht, und bei der Genauigkeit, mit
der die Details der neuern Literatur besprochen werden, läßt sich voraussehen,
daß der Umfang eines etwaigen dritten Bandes nicht viel kleiner ausfallen
wird.
Wir bemerkten vorher, der Versasser nehme den Standpunkt eines Lehrers
ein, aber freilich nicht eines Lehrers für die Schüler, sondern für die Lehrer.
Mit einer Gewissenhaftigkeit in der Detailforschung, die man in diesem Gebiet
sehr selten antrifft , ja die zuweilen ans Mikroskopische streift, hat Koberstein
alle Vorarbeiten benutzt, alle Quellen eingesehen, so daß man das Buch in
dieser Beziehung ein Marimum nennen kann. Wenn er hin und wieder nach
unsrer Ansicht zu weit geht und über der Genauigkeit und Gründlichkeit, die
Uebersicht etwas verkümmert, so ist dieser Uebelstand nicht sehr hoch anzuschla¬
gen, denn das Buch ist nur für solche geschrieben, welche sich die Uebersicht
auf andrem Wege verschaffen können.
Wie ungeheuer die Erweiterung der vierten im Verhältniß zur dritten
Auflage ist, wird man daraus ersehen, daß derselbe Inhalt, der sich in jener
auf 1800 Seiten ausdehnt, in dieser etwa nur 300 Seiten umfaßt und zwar
sind diese Erweiterungen unverhältnißmäßig mehr in Bezug auf die neue, als
auf die alte Literatur angebracht. Der Versasser hat die Erweiterung auf die
Weise ausgeführt, daß er den alten Text und die alte Paragraphcneintheilung
mit wenig Ausnahmen beibehält und die Zusätze in die Anmerkungen verlegt.
Die Schönheit der äußern Form wird dadurch zwar stark beeinträchtigt uno wie
schon bemerkt, die Lectüre des Textes erschwert, indessen möchten wir doch der
Ansicht sein, daß die Methode im Allgemeinen die richtige war. Die Grund¬
züge, wie sie die vorige Ausgabe feststellte, haben sich in der Hauptsache als
bewährt ergeben.
Wenn wir die Darstellung eine objective, parteilose nannten, so meinten
wir damit keineswegs, daß der Verfasser nicht über jede bestimmte Phase der
Literatur und über jede literarische Leistung ein bestimmtes Urtheil haben sollte;
das Urtheil tritt nur hinter das historische Referat und die historische Kritik
zurück. Was den Inhalt seiner Ansichten betrifft, so freuen wir uns, daß
derselbe im Wesentlichen mit den von uns vertretenen übereinkommt. Wenn
seine Auffassung der sogenannten romantischen Periode günstiger erscheint, als
die unsrige, so hat das einen sehr natürlichen Grund. Koberstein arbeitet sich
zu jener Periode durch die dürren Steppen des -17. und 18. Jahrhunderts durch
und muß daher in dem romantischen Idealismus neben dem classischen Idealis-
mus einen erfreulichen Fortschritt erblicken, während wir von der wissenschaft¬
lichen, politisch-philosophischen Bildung der Gegenwart ausgehend, die noch
Keineswegs sicher gestellt, vielmehr noch in heftigem Streit begriffen ist, in
der Romantik den gefährlichsten Feind erblicken, den wir bis zu seiner ersten
Wurzel hin zu verfolgen und auszurotten haben.
Das Werk von Koberstein darf in keiner Bibliothek eines Literaturfreundes
fehlen; wir aber, die wir in unsern literaturgeschichtlichen Versuchen vorzugs¬
weise auf Princip und Darstellung ausgehen, können dem würdigen Veteranen
nur Dank wissen, daß er uns die Mühe erleichtert hat, denn wir werden
unsern Zweck um so vollständiger erreichen (welcher Richtung wir auch an¬
gehören mögen), je weniger wir nöthig haben, uns mit dem Detail des Stoffs
zu beladen. In den meisten Fällen wird in dieser Beziehung eine Hinweisung
auf Koberstein genügen, dessen stofflicher Inhalt dem radicalen Geschichtschreiber
ebenso dienen kann, wie dem conservativen. —
Diese Tabellen, die vorzugsweise nach Koberstein bearbeitet sind, zeichnen
sich sowol durch ihre Vollständigkeit, als durch ihre für den praktischen Ge¬
brauch sehr bequeme Uebersichtlichkeit aus. Doch hat der Verfasser dieselben
eigentlich nur bis zum Jahr -1820 sortgesetzt, denn die spätern Jahre sind
äußerst summarisch behandelt und können mit dem Vorhergehenden nicht ver¬
glichen werden. Das Buch ist als eine zweckmäßige Ergänzung des Kober-
steinschen Werks namentlich in dessen gegenwärtigen Zustand zu empfehlen.—
Das Buch, dessen ersten Band wir bereits früher angezeigt haben, ver¬
dient von den Freunden der Literatur eine größere Beachtung, als ihm bisher
SU Theil geworden zu sein scheint. Es ist das Resultat sehr gründlicher Stu¬
dien, wird von achtungswerthen sittlichen und ästhetischen Principien ge-
tragen, von denen man zuweilen abweichen muß, die aber zu fruchtbarem Nach¬
denken anregen und es ist mit jener Wärme geschrieben, die nur aus dem Be¬
wußtsein einer guten Sache hervorgeht. Man erlaube uns, zunächst die Fehler
anzuzeigen, welche die rühmliche Stellung des Buchs innerhalb der Literatur
einigermaßen verkümmern, um uns alsdann lediglich mit dem Princip, das es
vertritt, zu beschäftigen.
Der Verfasser beabsichtigte nicht, eine vollständige Literaturgeschichte zu
schreiben, sondern nur diejenige Seite des Gegenstandes hervorzuheben, mit
der er sich in seinen Studien vorzugsweise beschäftigt hatte. In wissenschaft¬
licher Beziehung ist das sehr anerkennenswerth, denn die Wissenschaft wird a,n
besten dadurch gefördert, daß jeder Schriftsteller nur dasjenige dem Publicum
mittheilt, was ihm eigen angehört. Aber für die Darstellung ist es ein nicht
wegzuleugnender Uebelstand. Man kann nur dasjenige historisch darstellen,
was sich in einem innern organischen Zusammenhang entwickelt, und so groß
der Einfluß der philologischen Studien aus die deutsche Dichtung gewesen ist,
so läßt er sich doch nicht so bestimmt von den übrigen Neigungen und Ein¬
flüssen absondern, daß er ein für sich bestehendes Ganze bildete. Daher hat
sich der Verfasser auch nicht streng an seine Aufgabe gehalten. Er schildert
theilweise auch diejenigen Richtungen der Literatur, die in gar keiner oder nur
einer sehr mittelbaren Beziehung zum Alterthum stehen, aber er schildert sie nicht
vollständig und sie machen daher den Eindruck des Episodischen. Sollte der
Titel genau sein, so müßte er etwa so lauten: Geschichte der deutschen Poesie
mit besonderer Hervorhebung der Einflüsse des Alterthums und Nachweis, daß
dieselbe nur gedeihen kann, wenn das Alterthum» wieder, wie in der goelhe-
schillerschen Zeit, zu Grunde gelegt wird. — Das Werk im Großen und
Ganzen aufgefaßt ist eine Tendenzschrift, und es wäre zweckmäßiger gewesen,
wenn der Verfasser ganz offen und unbefangen mit seiner Tendenz hervorgetreten
wäre und alles, was nicht dazu gehört, fallen gelassen hätte.
'Ein zweiter Fehler hängt mit dieser Unsicherheit des Plans zusammen. Der
Verfasser scheint seinen Stoff in bestimmten Rubriken vorher geordnet und für
jede Rubrik längere Zeit hindurch Collectaneen gesammelt zu haben. Als Vor¬
studien sind solche Collectaneen sehr zweckmäßig, aber bei der Ausarbeitung
müssen ihre Spuren sorgfältig verwischt werden, und das ist nicht geschehen,
wenigstens nicht in dem hinreichenden Maß. Einzelne Capitel sind freilich
aus einem Guß, aber manche Seiten machen vollständig den Eindruck der
Mosaikarbeit. Es ist, als ob der Verfasser jene Collectaneen, die aus ver¬
schiedenen Zeiten herrühren, einfach nebeneinander hätte abdrucken lassen. —
Daraus ist vielleicht auch eine ganz eigenthümliche Manier zu erklären. Zu¬
weilen citirt der Verfasser wörtlich, und gibt an, daß das von dem oder dem
gesagt worden sei; aber er fügt nicht hinzu, ob es richtig oder falsch ist; und
wenn er sich einmal kritisch darüber äußert, so versteht man nicht recht, wie diese
Kritik in den Zusammenhang paßt. So bemerkt er einmal, und zwar mit dem
entschiedenen Ausdruck der Mißbilligung, daß die Kritiker sehr hart mit Hebbel
umgegangen seien, und unmittelbar darauf bringt er eine ziemlich lange Aus¬
einandersetzung, worin er mit Hebbel viel härter umgeht, als irgend ein früherer
Kritiker. Zum Ueberfluß setzt er noch hinzu, daß die Kritiker viel zu gut von
Hebbel gesprochen hätten. — Das ist die Weise der Mosaikarbeit. Er hat sich
die eine wie die andere Bemerkung gelegentlich bei seiner Lectüre notirt, wo
sie vielleicht in Betreff des besondern Eindrucks ganz am Ort war, dann aber
hat er vergessen sie zu verarbeiten und theilt sie dem Publicum so mit, als ob
es in den Gang seiner Lectüre eingeweiht wäre. — Diese beständige Bezug¬
nahme auf frühere Kririker halten wir ganz für überflüssig.' Der größere Theil
derselben ist dem Publicum vollkommen unbekannt, und die beste Beseitigung
falscher Ansichten ist die stillschweigende, indem man die richtigen Ansichten aüs-
einanderktzt. Auch die Scheu vor Plagiaten darf diese Bezugnahme nicht
rechtfertigen, denn so tief liegen die Gedanken, durch welche man sich in der
neuen Literatur orientiren kann, keineswegs, daß sie nicht jeder Kritiker von
gesunder Bildung und ruhigem Urtheil, selbst finden könnte. Hat einmal ein
früherer Schriftsteller ein« so glückliche und frappante Wendung gefunden, daß
man darüber nicht hinausgehen zu können meint, so citire man ihn; im Uebrigen
aber spreche man ruhig in seinem eignen Namen, denn wollte man mit der Be¬
zugnahme gründlich verfahren, so würde man bei der ungeheuren Ausdehnung
dieses Feldes gar kein Ende finden.
Die Fehler liegen, wie man sieht, mehr in der Form. Was den Inhalt
betrifft, so müssen wir dem Verfasser, wo er sich auf seinem eignen Gebiet be¬
wegt, für manche neue Auseinandersetzungen dankbar sein. In Anderem, na¬
mentlich in Bezug auf die neueste Literatur können wir ihm um so unbefangener
beipflichten, da wir Aehnliches bereits selbst gesagt haben. Daß bei einem
Gegenstand, der so vielfache Seiten darbietet, wie die Literatur, eine vollstän¬
dige Uebereinstimmung im Einzelnen nicht stattfinden wird, läßt sich voraus¬
sehen. Am auffallendsten war uns die Charakteristik der Schillerschen Dramen,
bei denen sich der Verfasser nicht blos in der Auslegung, sondern auch in der
Werthschätzung vollständig vergriffen zu haben scheint. Daß die Jungfrau von
Orleans für den Kulminationspunkt der Schillerschen Dramatik ausgegeben, und
d"ß die zu Grunde liegende sittliche Idee vollständig gebilligt wird, hat uns
nicht wenig überrascht; aber freilich hängt dieser Fehlgriff mit der Einseitig¬
keit im Princip dieser Literaturgeschichte zusammen, auf das wir jetzt näher
""gehen.
Der Verfasser billigt die Leistungen der goethe-Schillerschen Periode im
Großen und Ganzen; er mißbilligt ebenso die neueste Dichtung. In beiden
stimmen wir mit ihm überein. Aber er billigt zugleich das Princip der
goethe-Schillerschen Periode und stellt es als das allein richtige dar, und er
mißbilligt das Princip der neuesten Poesie: in beiden, weichen wir von
ihm ab.
Er hat sich einmal darüber gewundert, daß wir im Grunde mit der rea¬
listischen Richtung der neuen Poesie einverstanden sind Und doch ihre einzelnen
Leistungen verwerfen. Der Grund liegt darin, daß Princip und Ausführung
nicht immer zusammenfallen. Einmal stehen die neuern Dichter an Talent den
ältern nach, sodann haben sie sich zu falschen Consequenzen verleiten lassen, -
wie das in einer Zeit des Sturmes und Dranges nur zu natürlich ist. Die
Fehler, in welche sie aber verfallen sind, gehen keineswegs mit Nothwendigkeit
aus ihrem Princip Hervor.
Jede echte Poesie muß nach unsrer Ueberzeugung aus dem innern Leben
der Nation heraus schöpfen, wie das Sophokles, Dante, Cervantes, Shake¬
speare, Calderon, Molisre u. f. w., kurz alle großen Dichter, mit Ausnahme
der deutschen wirklich gethan. Goethe hat es in seiner ersten Periode gleich¬
falls versucht; er ging aber in seiner zweiten davon ab und bemühte sich im
Verein mit Schiller nach dem Vorbild der Alten ohne alle Rücksicht auf. den
Inhalt seines eignen Volks zu dichten. Diesen Versuch halten wir für ver¬
werflich, und wenn beide Dichter dennoch innerhalb desselben sehr große, zum
Theil mustergiltige Kunstwerke geschaffen haben, so war das nicht wegen, son¬
dern ungeachtet ihres falschen Princips, und um das bestimmter auszudrücken: -
sie haben so weit Großes und Unvergängliches geleistet, als sie das Alterthum,
wie es aus den Gymnasien geschieht, lediglich als formales Bildungselement,
als gymnastische Kunstschule benuyt haben; sie haben fehlgegriffen, so weit
sie darüber hinausgingen und in vollem Ernst Griechen zu werden versuchten.
Man vergleiche Hermann und Dorothee mit Alcris und Dora, Wallenstein
mit der Braut von Messina: dort haben die Dichter aus ihren Vorbildern nnr
gelernt, wie man sinnliche Klarheit und schönes Maß verbindet; sie haben
einen deutschen Stoff, deutsche Gesinnung und Empfindung in der plastischen
Vollendung, die sie bei den Griechen gelernt, dargestellt. Hier greifen sie da¬
gegen nach einem griechischen Stoff, nach griechischer Gesinnung und Empfin¬
dung und sind infolge dessen nur den Gelehrten verständlich geworden. In
Aleris und Dora, wie in der Braut von Messina sind viele wunderbare
Schönheiten, Schönheiten, die aus dem verborgensten geheimnißvollen Quell
'der Dichtung entspringen; aber sie können vom Volk nicht genossen werden,
denn das Volk empfindet anders als der Dichter, und hat Recht, anders z»
empfinden. Noch auffallender ist das bei Schillers lyrischen Gedichten; doch
begnügen wir uns mit dieser bloßen Hindeutung, da wir uns an einem andern
Ort ausführlicher darüber ausgesprochen haben. Merck hat einmal den Unter-
schied der goethischen Dichtung von der Dichtung der Idealisten sehr scharf
charakterisirt. Jener suchte die Wirklichkeit zu idealisieren, diese das Ideal zu
verwirklichen, und aus dem letztern käme nur dummes Zeug heraus. In
diesem Sinn nennen wir uns Realisten d. h, wir glauben, daß der Dichter
von dem, was er erlebt, empfunden, erlitten, gehofft, ausgehen muß. Wir
glauben ferner, daß er nur das wahrhaft erleben und empfinden kann, was
mit der allgemeinen sittlichen Substanz, auf der er wurzelt, in Verbindung
steht, d. h. daß der reale Boden, auf dem die classische Dichtkunst aufblühe, der
nationale Boden sein muß.
Aus diesem letztern Zusatz kann der Versasser erkennen, daß die pessimistische
Verirrung der neuesten Dichtung, die er ganz richtig charakterisirt, keineswegs
aus dem Princip des Realismus entspringt. Realität fällt nicht..mit Sonder¬
barkeit zusammen, im höheren Sinn schließen sich vielmehr diese beiden Be¬
griffe einander aus. Wer die Sonderbarkeit, die als Gegensatz gegen den all¬
gemeinen Begriff und das allgemeine Gefühl nur in der komischen Poesie ihre
Stelle findet, als tragisches Motiv benutzt, zeigt eben damit, daß er nicht auf
nationalem d. h. nicht auf realem Boden steht.
Wollen wir deshalb den Einfluß des Hellenismus auf unsre eigne Dich¬
tung verkümmern? — Nichts könnte unsrer Absicht ferner liegen.
Die griechisch-römische Bildung ist einmal wirklich eine Hauptquelle unsrer
eignen Cultur; sie ist der eine Factor derselben, das christlich-germanische Prjn-
cip ist der andere; wir werden also nur unsrer wirklichen Geschichte gerecht,
wenn wir' den einen Factor so gut zur Geltung bringen, als den andern.
Wenn z. B. die Romantiker versuchten, im Sinn Wolframs von Eschenbach
zu dichten, so entfernten sie sich von unsrer geschichtlichen Bildung viel weiter,
als diejenigen, die den Virgil oder Horaz zum Vorbild nahmen.
Das Alterthum ist ferner ein nothwendiges Correctiv gegen die Ueber¬
treibungen einer einseitigen, gegen die Verworrenheit einer unklaren Bildung.
Mit Recht legt man auf unfern Schulen die griechisch-römische Literatur zu
Grunde, denn nur in ihr lernt der noch Unentwickelte Klarheit, Maß, Plastik
der Anschauung und Folgerichtigkeit des Denkens. Noch viel nothwendiger ist
dieses Studium für denjenigen, welcher der Nation als Lehrer und Dichter
vorleuchten will. Die philologische Bildung ist durch nichts zu ersetzen und
ihre Vernachlässigung rächt sich unausbleiblich, wenige besonders glückliche
Fälle ausgenommen, durch Rohheit und Unnatur.
Aber wie der Knabe auf der Schule nicht deshalb Lateinisch und Griechisch
lernt, um sich in dieser Sprache auszudrücken, oder um den griechischen Göttern
Altäre aufzurichten, sondern um in dieser Gymnastik des Geistes zu lernen,
wie er den sittlich-historischen Stoff, der ihm von anderer Seite her überliefert
ist, gestalten soll, so muß es auch mit dem Dichter geschehen. In der Schule
der Griechen soll der Dichter sein Auge schärfen, seine Hand üben, aber das
Material und den Gegenstand seiner Kunstwerke muß er aus seinem Vater¬
land nehmen. Ganz mit Recht bemerkt der Verfasser, daß, wenn man das
Christenthum als das Lebensprincip der neuern Zeit auffaßt, die antike Bildung
mit demselben sehr wohl vereinbart werden kann. Wenn man sich aber dem einen
oder dem andern Princip ausschließlich hingibt, so führt das zuerst zu einer heftigen
Reaction, dann zu einem Taumel in den Ansichten, zuletzt zu einem Skepticis¬
mus, in dem man lediglich nach dem Wunderlichen greift, kurz zu der ganzen
Entwicklung, die wir seit ->79i- wirklich durchgemacht haben. Als Reaction
gegen das gräcisirende Weltbürgerthum trat die Romantik ein, die im Anfang
nur im Interesse der Freiheit und Vielseitigkeit gepflegt, dann als Herrscherin
proclamirt wurde, bis man endlich, nachdem sich die eine Krücke so morsch er¬
wiesen hatte wie die andere, zu dem unvermeidlichen Entschluß kam, aus eignen
Füßen zu stehen. Bis jetzt ist das noch nicht recht gelungen, weil wir den
freien Gebrauch unsrer Gliedmaßen erst wieder lernen mußten; aber das ist
durchaus kein Grund, aufs neue nach der alten Krücke zu greifen.
Nur noch eine Bemerkung zur Abwehr von Mißverständnissen. Wir haben
anderwärts auseinandergesetzt, daß Goethe und Schiller mit vollem Recht sich
auf daS Griechenthum stützten, weil ihnen das damalige deutsche Leben nichts
bot. Wir sind aber jetzt in einer weit günstigern Lage, und wenn unsre pessi¬
mistischen Dichter das verkennen, wenn sie uns unsre Gegenwart so schildern,
als wären wir im Lazarett) oder im Tollhaus, so liegt das nur darin, daß sie
an Bildung des Geistes und Herzens hinter ihrer Zeit zurückgeblic'ben sind.
Dichter mit einer reifern Bildung werden kommen und dem Princip des Rea¬
lismus die richtige Wendung geben d. h. sie werden zeigen, daß real keines¬
wegs dasjenige ist, was der Idee widerspricht. Spuren einer bessern Absicht
sind ja überall schon, vorhanden.
Fouchs sagte zu Napoleon I.: „Ich besitze nicht die Kunst, in den Herzen
zu lesen. So oft also ein Mensch sein Leben opfern will, um das Ihre an-
Masten, habe ich kein Mittel, es zu verhindern. Dafür kann ich Ihnen
aber verbürgen, daß bei jeder von zwei Individuen angezettelten
Conspiration einer davon in mein e in Vertrauen sein wird." Ueber¬
haupt bleibt Fouah« das Modell eines Polizeidirigenten, wie Talleyrand das
Muster eines Diplomaten ist. Es ist nicht uninteressant, einige Züge aus dem
Leben und Wirken dieses Mannes grade während Bonapartes Regierung in
Erinnerung zu bringen.
Am 21. August -1812, als Bonaparte schon zum lebenslänglichen Consul
und zum Präsidenten des Senats ernannt wär, begab er sich mit einem
glänzenden Gefolge nach dem Lurembourg. Die Bevölkerung verhielt sich kalt und
schweigsam, was den Consul kränkte; er schrieb diese Aufnahme der Unge¬
schicklichkeit der Polizei zu und machte Fouchs bittere Vorwürfe. Fouchv er¬
innere daran, daß ihm Bonaparte ausdrücklich vorgeschrieben habe, keine
Manifestation zu veranstalten. Hierauf fügte er mit affectirter Leichtigkeit
hinzu: „Trotz der Verschmelzung der.Gallier mit den Franken sind wir doch
noch immer das nämliche Volk; wir sind noch immer jene alten Gallier, die
man darstellt, als könnten sie weder die Freiheit noch die Unterdrückung er¬
tragen." Bonaparte unterbrach die Unterhaltung, die in diesem Tone fort¬
dauerte, indem er ausrief: „Es ist Bizarrerie und Laune in dem, was man
die öffentliche Meinung nennt, ich werde sie besser zu machen wissen." Wir
haben nicht gehört, daß Napoleon III. Aehnliches ausgesprochen hat, es ist aber
gewiß, daß er diesen Gedanken gehegt und daß trotz der eisernen Consequenz,
mit welcher in freiheitlicher Beziehung gegen die Neigung des Landes regiert
wird, das Bestreben, die Meinung zu gewinnen, die meisten Handlungen der
Regierung leitet und namentlich zum Kriege gegen Nußland geführt hat, wie eS
Noch zu andern Handlungen leiten wird. Ebenso gewiß ist die Ansicht Fouchös
vom Charakter der Franzosen auch jene der meisten Staatsmänner, welche all-
mälig ans Ruder gekommen sind. Fouchv wurde dem Consul unbequem, weil
er sich in alle Angelegenheiten mischte und mit Hilfe seiner Polizei, die ihre
Agenten in allen Schichten der Gesellschaft hatte, dies auch thun konnte. Er
beschloß, das Polizeiministerium zu unterdrücken, und die Maßregel wurde,
ohne daß Fouah6 etwas davon wußte, ausgeführt und der ehemalige Polizei-
minister wurde zur Senatorie von Air ernannt. Am folgenden Tage übergab
ihm Fouchv ein Memoire, aus dem zur Ueberraschung Bonapartes hervorging,
daß der Polizeiminister eine Reserve von 2/i0'0,l)00 Franken in seinem
Ministerium habe. Bonaparte überließ ihm die Hälfte davon >als Geschenk.
Fouah«, der sein Ministerium ohne alle Fonds übernommen hatte, schaffte sich
Geld, indem er das Laster jeder Gestalt zollpflichtig machte, und trotz der zahl¬
losen Menge von Agenten, die er unterhielt, blieb ihm noch eine so große
Summe übrig, als er zum ersten Male aus dem Ministerium trat. Die Kaiserin
Josephine, der er oft heilsame Rathschläge gegeben hatte, weinte, als sie von
dem Manne Abschied nahm, der später der erste werden sollte, um sie auf die
Scheidung von ihrem Manne vorzubereiten. Die Verschwörung von Georges
und Pichegru zeigte die Unfähigkeit von Fouches Nachfolgern. Er mußte
dem Kaiser rathen und führte das bekannte Ende herbei. Dagegen mißbilligte
Fouchv die Hinrichtung deS Herzogs von Enghien und er war es, der bei dieser
Gelegenheit den bekannten Ausspruch that: Es war ärger als ein Verbrechen,
es war ein Fehler, obgleich man diesen Satz einem andern Staatsmann zu¬
geschrieben hat. Bonaparte dachte mittlerweile daran, die Monarchie zu sei¬
nem eignen Nutzen herzustellen und der Ausführung dieses Planes ging auch
die Wiederherstellung des Polizeiministeriumö voraus. Die auswärtige Polizei
wurde neu organisirt und hatte zur Aufgabe, die Emigranten und die be¬
freundeten Mächte zu überwachen, so wie die Meinung in den feindseligen
Staaten zu bearbeiten. Fouah66 Polizei .stand in dieser Periode so sehr in
Credit, daß er Diplomaten, Senatoren, Staatsräthe, große Herrn der
Emigration und Schriftsteller in seinem Solde hatte. Da die Presse sich nicht
regen durfte, machte Fouche allein Napoleon auf alle Uebelstände aufmerksam
und er unterließ es nie, denn bei aller Willkür und Absolutheit wollte er
auch die heilsame Seite der Polizei nicht brach liegen lassen. Fouah« hatte
auch keine geringe Meinung von seinem Amte und in einem Kreisschreiber an
die Bischöfe sagte er diesen: Es ist mehr als eine Aehnlichkeit zwischen meinen
und Ihren Funktionen, meine Aufgabe ist, den Vergehen zuvorzukommen, um
sie nicht bestrafen zu müssen, die Ihre, dieselben im Herzen zu ersticken.
Weiter unten heißt es: „unser gemeinschaftlicher Zweck ist die Sicherheit des
Kaiserreichs aus dem Schoße der Ordnung und der Tugenden hervorgehen
zu machen." ,
Fouchv zeichnete sich namentlich durch den Scharfsinn aus, womit er die
Gedanken des Kaisers errieth. Bonaparte hatte seine liberalen Velleitäten
und als Fouche Collin d'Harleville die Bewilligung verweigerte, eines seiner
Stücke zu drucken, erhielt der Minister einen Verweis durch den Moniteur,
der da sagte: „wo wären wir, wenn es in Frankreich erst eines
Censors bedürfte, um seine Gedanken drucken zu lassen!" Fouchv
wußte, was das zu bedeuten hatte' und regelte den Dienst der Censoren.
Frankreich versöhnte sich indessen mit Napoleon und nach der glänzenden
Campagne von Austerlitz und nach dem Frieden von Preßburg war die
öffentliche Meinung ganz auf der Seite Napoleons. Fouchv ermangelte nicht,
Nachdruck auf diese so sehnsüchtig vom Kaiser erstrebte Veränderung zu legen.
„Sire," sagte er ihm, „Austerlitz hat die alte Aristokratie erschüttert, das
Faubourg Se. Germain conspirirt nicht mehr!" Napoleon war entzückt über
diese Nachricht und gestand seinem Minister, daß er in allen Schlach¬
ten und in allen Gefahren stets die Meinung von Paris und des
Faubourg Se. Germain vovAugen habe. Der alte Adel war auch in
der That nicht minder zahlreich in den Tuilerien vertreten als jetzt. Fouchv
widersprach dem Kaiser oft. Nach der Schlacht von Eylau drang er auf Herbei¬
führung des Friedens, wie er spater gegen die Erpedition nach Spanien rieth,
aber jedes Mal, wenn die Machtherrlichkeit des Kaisers in Frage kam, war er dessen
Ansicht. Als Napoleon von Valladolid aus eine Note gegen den gesetzgebenden
Körper in den Moniteur einrücken ließ und denselben blos eilten Rath nannte,
glaubte Napoleon gegen Fouches Gedanken zu handeln. Später befrug er ihn
hierüber: „So oft ein Körper sich das Recht anmaßt, allein den Souverän
vorzustellen, muß man ihn auflösen und hätte Ludwig XVl. so gehandelt, dieser
unglückliche Fürst lebte und herrschte heute noch." „Was, Herzog von Otranto
und mir däucht doch, daß Sie einer von denen gewesen, die Ludwig XVI. auss
Schaffst geschickt haben?" „Jawol, Sire, erwiderte Fouah«, ohne sich zu besin¬
nen, und das war der erste Dienst, den ich Ihnen geleistet habe." Graner aus
Cassaignac sagte jüngst von der Republik, daß ihr einziges Verdienst um das
Land gewesen, daß sie das Kaiserreich möglich gemacht. Nach der Schlacht
von Wagram, als der Kaiser von Wien kam, hatte er in Fontainebleau mehre
Conferenzen mit seinem Minister, in denen er sich bitter über die Haltung von
Paris beklagte. Fouah« selbst mußte ihm gestehen, daß nach der Schlacht von
^ßling die Emissäre aus dem Faubourg Se. Germain das Gerücht ausge¬
sprengt hätten, Napoleon sei verrückt geworden. Der Kaiser drohte, gegen diese
unverbesserlichen Royalisten mit Strenge zu verfahren, da sie ihn immer
mit einerHand zerrissen, während sie mit der andern verlangten.
(Und heute?) „Hüten Sie sich wohl, antwortete FvuchtZ, das ist so die Tra¬
ktion, das Faubourg intriguirt und verleumdet, und das ist in der Ordnung.
Wer wurde ärger verleumdet, als Cäsar von den Patriciern Roms? Ich bürge
Ew. Majestät dafür, daß sich unter diesen Leuten weder ein Brutus noch ein
Cassius finden wird." Könnte der Minister des Innern nicht so geantwortet
haben? Und kann man sich erklären, daß die Regierung ein so großes Gewicht
auf die Boutaden des Faubourg Se. Germain legt, nachdem die Erfahrung die
Unfähigkeit und Verrottetheit dieser Partei genugsam gelehrt hat? Ja wenn
die Russen oder Deutschen Frankreich für sie erobern wollten! Das 'Gewicht,
welches man auf die öffentliche Meinung legt, ist selbstverständlich und daß
L. Philipp die Legitimisten fürchtete, ist begreiflich, aber diese Leute, „die mit
einer Hand zerreißen, während sie mit der andern bittstellern", sind keinem
Regime gefährlich. Wenn die Furcht doch besteht, so ist diese aus dem
eignen Bewußtsein der Situation zu erklären, nicht aber aus der politischen
Rolle, welche die Legitimisten alö Partei im Lande spielen. Ein anderer
Grund, warum diese Nadelstiche des noblen Viertels empfindlich sind, ist in
gewissen persönlichen Eitelkeiten zu suchen.
„Bei der Auffassung und Beurtheilung eines bedeutenden Menschen hat
man sich vor zwei entgegengesetzten Fehlern zu hüten. Einerseits, daß Man
die Anlegung eines objectiven sittlichen Maßstabes nicht ganz unterlasse, offen¬
bare Laster, unehrenhafte Gesinnungen und eine schädliche hieraus folgende
Handlungsweise lediglich als Thatsachen darstelle, welche die Eigenthümlichkeit
des Mannes bezeichnen und als solche wie eine Art von Schickung und fatali¬
stischer Vorausbestimmung genommen werden müssen. Andrerseits aber davor,
daß man das Urtheil über einen Mann nicht lediglich abschließe nach dem Er¬
gebniß, welches die Prüfung seiner Sittlichkeit liefert, ohne daß Rücksicht ge-'
nommer werde auf das, was er gewirkt und namentlich, was er in der That
Gutes gethan hat. Die erste Art, angeblich eine hoch über den menschlichen
Schwachheiten und Zufälligkeiten stehende Unparteilichkeit, bringt in die Gefahr
einer verwaschenen Gleichgiltigkeit gegen Tugend und Gemeinheit, entzieht der
Geschichte ihr Richtercunt und nimmt den Reiz zur Selbstüberwindung und zu
außerordentlichen Leistungen, welcher in dem gerechten Lob und Tadel der
Mir- und Nachwelt liegt. Und je glatter und gefälliger eine solche Darstellung
ist,, je künstlicher die Mischung der Farben, damit ja keine einzelne schreiend
hervortrete, desto gefährlicher ist das ganze Beginnen. Das entgegengesetzte
Verfahren ist zwar menschlich richtiger, und achtungswerth, wenn ungesundes,
sittliches Urtheil und nicht eine närgelnde Ueberspannung das Wort, führt,
allein sie ist ungeschickt, weil die Menschen in der Regel nicht blos einseitig
schlecht sind, und sie ist politisch irrleitend, weil sie zu einer falschen Beurthei¬
lung des menschlichen Handelns und also auch dessen, was man in künftigen
ähnlichen Fällen zu vermeiden hat, führt." — ,
Der Verfasser spricht diese Grundsätze bei Gelegenheit der Charakteristik
von Gentz aus; er bethätigt sie aber durch sein ganzes Buch, ja er zeigt die
entschiedene Neigung, vorzugsweise die positive Seite der Charaktere und
Schriftsteller hervorzuheben, was einen um so erfreulichem Eindruck macht, da er
wohl befähigt wäre, ein strengeres Urtheil zu fällen. — Was den historischen
Inhalt deS Werks betrifft, so verzichtet er von vornherein auf vollendete Ab-
runoung. Er hat zwar nach allen Seiten der staatsrechtlichen Literatur ge¬
arbeitet, aber doch einzelne Zweige derselben nicht mit jener Gründlichkeit studirt,
die zu eiuer systematischen Darstellung bei dem Mangel aller größern Vor¬
arbeiten nothwendig wäre. Anstatt daher nach einem System zu streben, hat
er sich damit begnügt, eine Reihe größerer Monographien zusammenzustellen, die
aber bereits einen großen Theil des Systems erschöpfen und die weitere Vollen¬
dung einem Spätern überlassen. Wir wollen den Inhalt, den er uns bietet,
kurz durchmustern.
Nach Erledigung der einleitenden Gesichtspunkte sucht er zunächst die
eigentliche Staatswissenschaft von der Gesellschaftswissenschaft zu sondern, welche
letztere er von seiner Aufgabe völlig ausschließt. Zugleich gibt er eine kurze
Uebersicht des bisherigen Verhaltens der Staatswissenschaft ,zu deu Disciplinen,
die sich erst cillmälig zu einer neuen Wissenschaft gestalteten, da sie sich bisher
Mehr mit subjectiven Idealen, als mit objectiver Untersuchung der vorhandenen
Kräfte beschäftigen. Jene Scheidung führt er nun in der Art durch, daß er
den größten Theil des Rechts der Stände, der Gewerbgenvssenschaften und der
Kirche an die Gesellschaftswissenschaft abtritt. „Für das philosophische Staats¬
recht bleibt, außer den allgemeinen Grundsätzen über den der Gesellschaft zu
gewährenden Schutz und über die unter ihren verschiedenen Kreisen zu haltende
Ordnung, das Privatrecht nur noch dann ein Gegenstand der Erörterung,
wenn der Staat nach allgemeinen Grundsätzen des Einheilsgedankenö in die
Zwecke und Formen des einen oder des andern der zwei Zustände eingreifen
muß." — Dann geht er a-uf die Encyklopädien und Systeme der Staatswissen-
Ichaft über, nicht in historischer Ordnung, sondern nach äußern Kennzeichen
gMppirt. — GZ folgen darauf die idealistischen Schriften, welche einen Staat,
wie er sein soll, gewissermaßen a priori zu constnüren unternehmen: Platos
Republik, die Utopia, die civitas solis u. s. w. Auch hier behält er nicht
breiig die historische Folge bei, sondern theilt seinen Stoff in zwei Abtheilungen,
die Schilderungen freigeschaffener Zustände und die Jdealisirung bestehender Ein-
richtungen. Zu den letztern rechnet er z.B. die Cyropädie und den Telemcich-
Er schließt seine Darstellung mit folgender Betrachtung. „Von einem unmittel¬
baren Gewinn für das Leben kann wol nicht die Rede sein. Es hat sich nie
begeben, daß irgend ein Staat sich die in einem Romane geschilderten Ein¬
richtungen zum Muster genommen hätte. Und es wird sich dies auch wol
schwerlich je zutragen. Dem praktischen Staatsmanne ist in der Regel schon die
Form, in welcher diese Gedanken vorgetragen werden, völlig antipathisch, wenn
er überhaupt Kenntniß von dem Dasein solcher luftigen Gebilde nimmt. Ueber-
dies sind die bisher hauptsächlich gemachten Borschläge, nämlich Gütergemein¬
schaft mit allgemeiner Arbeit auf Rechnung der Gesellschaft, und Lockerung, wo
nicht gar Aufhebung der Ehe und Familie, keineswegs von der Art, daß sie einem
über die Natur des Menschen und die Grundlagen der Gesellschaft mit sich im
Klaren befindlichen Manne irgendwie wünschenswert!) und ausführbar erschei¬
nen könnten. Allein damit ist nicht gesagt, daß dem Staatsromane nicht den¬
noch ein mittelbarer Einfluß auf das Leben zugeschrieben werden könne.
Und man ist in der Thal wohl berechtigt, einen solchen in nicht unbedeutendem,
wenn schon nicht genau meßbarem Grade anzunehmen. Einige dieser Bücher
sind doch sehr viel von den Gebildeten aller europäischen Völker gelesen worden
und wenn auch keinen andern Eindruck, so müssen sie doch die Ueberzeugung
beigebracht haben, daß die in der Wirklichkeit bestehenden Staatseinrichtungen
nicht die einzig denkbaren und gerechten seien, vielmehr mannigfachem Uebel
und Elende Raum, wo nicht gar den Ursprung geben." — Auf die Staats¬
romane folgt eine Geschichte des philosophischen Staatsrechts in ihren Grund¬
zügen entwickelt, jedoch so, daß das allgemeine konstitutionelle Stciatsrccht
und das Völkerrecht davon gesondert werden. — Für das Alterthum und
das Mittelalter ergibt sich diese Sonderung ganz von. selbst, ohnehin sind
diese Perioden sehr kurz und summarisch behandelt. Für die neuere
Zeit dagegen hat sie ihre Uebelstände, denn daß Ballanche, Burke, Hal¬
ler u. s. w. vor Montesquieu durchgenommen werden, daß Wel<ter und
Leo in einem Abschnitt stehen, Stahl, Haller, Jarcke u. s. w. im andern, ist
gewiß ein Uebelstand; und hier dürfen wir uns nicht versagen, in der schein¬
baren Systematik den Mangel an System zu rügen. Wäre das Buch lediglich
eine Encyklopädie zum Nachschlagen, so wäre die einzige Anforderung, die
man daran zu stellen hätte, eine Klarheit und Ueberstchtlichkeit der Anordnung-
Aber es macht doch zugleich wenigstens hin und wieder den Anspruch auf
historische Darstellung und daraus geht bei der Zerstreuung des Stoffes der
Uebelstand hervor, daß der Verfasser sich häufig wiederholen muß, ein Uebel¬
stand, der sich um so empfindlicher geltend macht, da der Verfasser, ohnehin zur
Breite geneigt ist. Wir müssen ihm dankbar sein für das reiche Material, das
er uns gibt, wir freuen uns an dem sichern und gediegenen Urtheil, aber wir
wünschten doch, daß er auf die Form mehr Mühe verwandt hätte. Eine zweck¬
mäßige Anordnung der staatsrechtlichen Literatur konnte nur in der Weise er¬
folgen, daß der ganze Stoff in die Hauptperioden zerlegt und für fete Periode
die einzelnen Abtheilungen getrennt.wurden. Eine ausführliche Jnhaltscmzeige
und ein Register, welches wir ohnehin jetzt schmerzlich vermissen, hätte dann zu
Orientirung das Uebrige gethan.
Wenn sich diese Uebelstände bei dem allgemeinen Theil des Buchs sehr
fühlbar machen, so ist das bei den eigentlichen Mo nographien, die daraus folgen,
bei weitem weniger der Fall. Diese Monographien enthalten das Slaatsrech-
der Eidgenossenschaft, der vereinigten Staaten von Nordamerika, Großbritanniens
und des deutschen Bundes. Namentlich die letzteren sind mit einer Ausführlich¬
keit und Gründlichkeit behandelt, die nichts zu wünschen übrig läßt, wobei der
Verfasser zugleich die historischen Schriften berücksichtigt, die sich, wenn auch
nur indirect, an die staatsrechtlichen Fragen anlehnen, Den Schluß bildet die
Charakteristik zwölf deutscher Staatsgelehrten: der beiden Moser, Pütter,
Schlözer, Mariens, Klüber, Gentz, Zachariä, Haller, Rotteck, Jarcke und
Eichhorn, in denen sich nicht blos das gesunde Urtheil, sondern auch das erste
Erforderniß einer treffenden Charakteristik, der scharfe Blick für das Wesentliche
geltend macht. Und somit begrüßen wir denn das Buch als eine Bereicherung
der Literatur, sowol in Bezug auf die Kenntniß, als auf die Verbreitung rich¬
tiger Urtheile und Gesinnungen mit Freuden und beschränken die Ausstellungen,
die wir machen mußten, durch die Betrachtung, daß der Verfasser selbst sich über
die formale UnVollkommenheit seines Werks nicht getäuscht hat. — In dasselbe
Gebiet der Literatur reiht sich ein andres verdienstliches Werk, welches wir
hier gleichfalls hinzufügen, da wir ihm nur eine flüchtige Besprechung widmen
können:
Der Zweck des Verfassers ist nicht eine Darstellung der bestehenden Ver¬
hältnisse,, sondern eine Auseinandersetzung dessen, was für die Entwicklung
des vernünftigen Staatslebens wünschenswert!) und nothwendig ist. Allein es
ist nicht im Stil eines Idealisten geschrieben, der seine Wünsche und Hoff¬
nungen über die Wirklichkeit hinwegsetzt, sondern in der ruhigen Weise eines
bewährten Staatsmannes, der in die Wirklichkeit zu sehr eingelebt ist, um ihr
"ndre Forderungen entgegenzubringen, als die sich unmittelbar aus ihr ergeben.
geht von der Individualität des Menschen aus, leitet aus derselben seine
Stellung zur Familie, zur Gemeinde, zur Gesellschaft überhaupt her, entwickelt
dann daraus den Begriff des Staats (das organische Wesen im Volk, dessen
Wille über den Willen der einzelnen Volksangehörigen waltet, um das fried¬
liche und der menschlichen Natur angemessene Beisammenleben derselben und
das friedliche Bestehen des Volks und seiner Angehörigen neben andern Völkern
und deren Angehörigen zu, vermitteln), und von diesem Begriff aus construirt
er sämmtliche Zweige der Verwaltung, des Rechts und des Volkslebens über¬
haupt. Die einzige Ausstellung, die wir zu machen haben, ist der überwiegende
Formalismus der Darstellung, durch dessen Wegfall das Ganze an Kürze und
Prägnanz wesentlich gewonnen haben würde.
Oestreichs Helden und Heerführer von Maximilian I. bis aus die
neueste Zeit, in Biographien und Charakterskizzen aus und nach den besten
Quellen und O-uelleuwerken geschildert von C. A. Schweigerd. Mit vielen
nach den besten vorhandenen Originalportraits gearbeiteten Stahlstichen. Vier
Bände. Würzen, Verlagscomptoir. —
Der nächste Zweck dieses sehr umfangreichen Buches war, den östreichischen '
Patriotismus durch die Darstellung seiner frühern Heldengröße zu entflammen.
Dieser Zweck ist erreicht, dem Verfasser sind von Seiten Radetzkys und anderer
Heerführer sehr schmeichelhafte Aufmunterungen zu Theil geworden, die Aner¬
kennung von Seiten der Staatsgewalt hat auch nicht gefehlt, und das Buch
hat große Verbreitung gefunden. Für uns, die wir außerhalb Oestreichs stehen,
ist die Hauptfrage, welche Stellung das Buch innerhalb der historischen Literatur
einnimmt. Als ein Geschichtswerk im eigentlichen Sinn kann es nicht betrachtet
werden, die Parteifarbe ist zu prononcirt, und die apologetische Tendenz geht
weit über die kritische hinaus. Dagegen hat es als Sammelwerk einen nicht
unbeträchtlichen Werth. Dem Verfasser hat zum Theil durch die Gunst der
Staatsbehörden ein sehr reiches Material zu Gebote gestanden, und wenn er
dasselbe nicht auf die Weise kritisch verarbeitet hat, wie es zu wünschen gewesen
wäre, so hat er eS doch ziemlich vollständig wiedergegeben. Für die Geschichte
eines andern Staats wäre das kein großes Verdienst, aber zur Geschichte
Oestreichs fehlen noch fast alle Vorarbeiten und man muß daher schon, sehr
zufrieden sein, wenn man nur irgend einen-Anhaltepunkt gewinnt. In dem
vorliegenden Buch hat man wenigstens eine sehr ausführliche Erzählung, die
für die neuere Zeit auf authentische Berichte gestützt ist, und ein ziemlich voll¬
ständiges Verzeichnis! der Quellen, aus denen man weitere Belehrung schöpfen
kann. Eine willkommene Zugabe sind die Porträts, sehr zahlreich, nach den
besten Originalen entworfen und künstlerisch befriedigend ausgeführt. — Uns
hat diese Uebersicht über den militärischen Ruhm Oestreichs zugleich die Fragen
der Zukunft näher gerückt, die immer ernster und bedeutender für die allgemeine
Entwicklung der Weltgeschichte sich herandrängen. Man möge uns gestatten,
bei dieser Gelegenheit einigen Bemerkungen über den Verruf Oestreichs und die
Wünsche, die wir im Interesse der allgemeinen Cultur dafür hegen müssen, Raum
zu geben.
- Derjenigen Partei, der auch wir angehören, welche in Preußen den Kern
einer nationalen deutschen Entwicklung sieht, ist Oestreich häufig ein Stein des
Anstoßes gewesen, und man hat es daher nicht selten ungerecht beurtheilt. Die
Zusammensetzung der östreichischen Monarchie ist so gegen alle Analogien der
Geschichte, daß man sie schon um des Systems willen gern als etwas Unhalt¬
bares bezeichnen möchte. Daneben waren die Erscheinungen, welche sein
innerer Entwicklungsproceß hervorrief, nicht immer der erfreulichsten Art. Wenn
man auch mit dem Verstände für die Regierung Partei nahm, so war das
Herz doch nicht selten auf Seiten der Unterdrückten, und wir waren nicht selten
geneigt, mit Marquis Posa auszurufen:
Sie haben Recht, Sie müssen! daß Sie können,
Was Sie zu müssen eingesehn, das ist,
Was mich mit schaudernder Bewunderung durchdrungen.
Aber wir haben nie zu denen gehört, die Oestreichs Untergang prophezeiten,
weil seine Banknoten unter pari standen. Wir haben uns nie durch die ritter¬
lichen Formen der Magyaren, der Polen, der Czechen u. s. w. verleiten lassen,
ihnen deshalb eine politische Berechtigung beizumessen. Wir haben die Noth¬
wendigkeit einer starken Monarchie in jenen Gegenden begriffen, die sonst der
wildesten Anarchie zur Beute anheimfallen müßten. Wir haben in Oestreich
eine kräftige Vormauer gegen die Uebergriffe Rußlands, wir haben es als
eine wesentlich deutsche Macht geehrt, die den Beruf habe, die deutsche Cultur
im Osten zu verbreiten. Wir sind von der festen Ueberzeugung ausgegangen,
die auch noch besteht, daß eine dauerhafte Regeneration Deutschlands nur durch
ein inniges EinVerständniß zwischen Oestreich und Preußen herbeigeführt wer¬
den kann. > "
Bis zum Abschluß des pariser Friedens suchte man alle Conflicte, die nicht
in unmittelbarer Beziehung zu der großen orientalischen Frage standen, so viel
als möglich zu vertuschen. Es gab sogar eine Zeit, wo man mit einer ge¬
wissen Mischung von Ueberraschung und Befriedigung Oestreich als den Ver¬
bündeten der westmächtlichen Tendenzen begrüßte, wo man überzeugt war, daß
infolge dessen auch eine innere Wiedergeburt des Staats im liberalen Sinn
Zu erwarten sei. Diese Aussichten sind nicht in Erfüllung gegangen; in dem
Augenblick, wo die Entscheidung drängte, trat Oestreich von der activen Mit¬
wirkung zurück, und wenn auch während des Friedensschlusses die offi-
nickte Stellung, die es einnahm, günstiger genannt werden konnte, als die
Stellung Preußens, so macht sich doch nach Beendigung dieser Angelegenheit
die Realität der Dinge, der Verhältnisse zu fühlbar, als daß man jenen offt-
ciellen Aeußerlichkeiten ein großes Gewicht beilegen könnte. Abgesehen von
dem Ehrenpunkte, ist es ziemlich gleichgiltig, welche Stelle im Vertrag Oestreich
und Preußen einnehmen. Ein dauerhaftes Bündniß zwischen Oestreich und
den Westmächten ist ebensowenig zu Stande gekommen, als zwischen Preußen
und denselben; und wenn auch die Westmächte im Ganzen Veranlassung haben,
mit der Haltung Oestreichs in den vergangenen Jahren zufriedener zu sein,
als mit der Haltung Preußens, so bietet die Lage Oestreichs doch viel mehr
Gelegenheit, Netbungen und Conflicte herbeizuführen, als die Lage Preußens.
Es war ganz in der Ordnung, daß man während des Congresses ein ernst¬
hafteres Eingehn auf die italienischen Angelegenheiten vermied, denn sie gehör¬
ten entschieden nicht vor dieses Forum. Desto dringender wird sich jetzt das
Bedürfniß herausstellen, auch dieser Seite Europas seine Aufmerksamkeit zu¬
zuwenden, und von dem Entschluß, den Oestreich fassen wird, hängt wesentlich
die weitere Entwicklung Europas ab. Zwar wissen wir sehr wohl, daß man
durch Wünsche und Ideen die Ereignisse nicht leitet, daß jeder Staat sein
eignes Lebensmotiv hat, dem er folgt, gleichviel ob es der Entwicklung des
übrigen Europas heilsam ist oder nicht. Auf die Haltung Oestreichs werden
die Wünsche Deutschlands keinen unmittelbaren Einfluß ausüben; dennoch ist
eS von Wichtigkeit, sich klar darüber zu werden, waS Deutschland von Oestreich
zu hoffen und zu fürchten hat, damit Vorkommendenfalls wenigstens in Deutsch¬
land die Ansichten nicht wieder auseinandergehen.
Abgesehen von den innern Verbesserungen der bedeutendsten und hoffnungs¬
vollsten Sphäre der östreichischen Thätigkeit, wenn sie ihre Aufgabe richtig ver¬
steht, ist das Machtgebiet Oestreichs nach drei Seiten hin zu untersuchen, nach
Italien, Deutschland und dem Osten.
Was Italien betrifft, so stand es unter der metternichschen Regierung fast
ausschließlich unter der Herrschaft Oestreichs. Der alte Waffenruhm dieses
Staats hat mehrfach Gelegenheit gefunden, neue Lorbeer» zu erwerben, und
selbst für die Civilisation war diese Herrschaft nicht ganz ohne Frucht., denn
abgesehen von Sardinien, sind die östreichischen Besitzungen in Italien in
materieller Hinsicht entschieden die am besten verwalteten. Die Frage dagegen,
ob Oestreich aus dieser Herrschaft einen realen Gewinn davongetragen hat,
müssen wir verneinen. Die bedeutenden Einnahmen, die ihm aus jenen Ge¬
genden zuflössen, wurden fast aufgewogen durch die vermehrten Ausgaben, die
ejn fortwährend schlagfertiges Heer nothwendig machte. Das Wichtigste ist
aber, daß Oestreich, auch wenn seine Verwaltung die weiseste und gerechteste
sein sollte,' in Italien niemals populär werden wird. Nicht blos die revolu-
tionäre Partei, sondern die konservative wird es immer mit Schmerz und Un¬
willen empfinden, unter fremder Herrschaft zu stehn, und der Besitz wird daher
immer den Charakter einer militärischen Occupation an sich tragen. „Es ist
hier mit Italien ganz anders, als, etwa in Ungarn oder Polen, wo Oestreich
es mit einer dünn gesäeten, noch immer erst halb entwickelten Bevölkerung zu
thun hat, der es an Cultur in jeder Weise überlegen ist, und der es sich als
Wohlthäter erweisen kann, auch wo es Gewalt gebraucht. Die italienische
Nation dagegen hat schon früher der Cultur die wichtigsten Dienste geleistet,
und eine so schlechte Rolle sie in allen Aufständen des vergangenen Jahr¬
hunderts spielte, sie hat doch noch alle Elemente in sich, um sich wieder zu dem
Charakter einer Nation zu erheben. Alle frühern Versuche gingen von der
radicalen Partei aus, die zu jeder bleibenden Organisation unfähig war, und
es gab keinen Staat, der ernsthaft mit Oestreich rivalistren konnte, da Frank¬
reich erst durch die Restaurationsherrschaft, dann durch die innern Zerwürfnisse
aus seiner natürlichen Bahn entführt war. Diesen wichtigen Unterschied dürfen
wir nicht vergessen, wenn wir über die gegenwärtige Lage der Dinge ein rich¬
tiges Urtheil fällen wollen. Es hat sich jetzt in Italien selbst ein kräftiger
Staat gebildet, den allmälig die gesammte nationale Partei als ihren Vor¬
kämpfer betrachten wird, und Frankreich hat seine alten napoleonischen Tradi¬
tionen wieder aufgenommen, um sie nicht wieder aufzugeben. Wir sind nicht
im entferntesten der Ansicht, daß Frankreichs Einmischung in die Verhältnisse
Italiens von philanthropischen, humanen Absichten ausgehen wird; aber Frank¬
reich ist nicht im Besitz, es wird sich also, um Einfluß zu gewinnen, aus die
oppositionelle Seite werfen müssen, namentlich so lange es im Bunde mit Eng¬
land verharrt. Oestreich dagegen ist genöthigt, um seine eignen Besitzungen
und namentlich die Secundvgenituren seines Hauses zu erhalten, aufmerksam
jeden Versuch eines politischen Fortschritts zu überwachen und zur Beseitigung
desselben sich stets mit den conservativsten d. h. unpopulärsten Mächten Italiens
Zu verbinden. Dies muß wiederum eine Rückwirkung auf Oestreich selbst aus¬
üben, und die Nothwendigkeit, z. B. im Kirchenstaat die bestehende Gewalt in
ihrer ganzen Ausdehnung zu schützen, dehnt sich dann auf die Kirche über¬
haupt aus. Ein freieres Verhalten gegen die Kirche in Oestreich selbst, ge¬
wiß das nothwendigste Mittel, um die vorhandenen Kräfte zur Geltung zu
bringen, ist im höchsten Grade unwahrscheinlich, so lange für Italien das
Bündniß mit der Kirche eine Nothwendigkeit ist. '-^cum daher, abgesehen von
der Negierung, das östreichische Publicum heute wie im Jahr -1848 mit ge¬
rechtem Stolz auf die Waffenthaten seines Heers in Italien hinblickt, und
d'e Herrschaft des Kaisers vis seine eigne Herrschaft empfindet, so muß es
sich doch zunächst klar machen, ob der reale Gewinn diesem idealen entspricht.
Wir wiederholen es, diese und ähnliche Betrachtungen werden und können
auf die östreichische Regierung nicht bestimmend einwirken. Niemand gibt frei¬
willig auf, was er besitzt, und ob im nächsten Menschenalter die in Italien
angesammelte Kraft stark genug sein wird, um äußerlich eine Veränderung des
Zustandes herbeizuführen, darüber können wir heut noch gar nichts ausmachen.
Wir wollten nur so' viel feststellen, daß, wenn wir Oestreich als unsern Stamm¬
genossen und den Mitkämpfer für Deutschland betrachten, dies nicht in Bezug
auf Italien geschehen kann.
Ganz anders verhält es sich mit dem Osten. Daß Oestreich einen Jn-
stinct für seine große Aufgabe in diesen Gegenden hat, zeigt sein Verhalten
während des ganzen Krieges, zeigt das Widerstreben, mit dem es gegenwärtig
die Donaufürstenthümer räumt. Nur hat es die Mittel zum Fortschritt nicht
ernst genug vorher erwogen.
Die orientalische Krisis, die dies Mal, so gut oder, so schlecht es gehen
wollte, vertagt ist, wird über kurz oder lang von neuem eintreten, sei es, obste
durch die innere Schwäche des türkischen Reichs, oder durch den Ehrgeiz der frem¬
den Mächte herbeigeführt wird. Falls es nun zur Theilung kommt, liegt es im
Interesse Deutschlands, liegt es im Interesse der türkischen Provinzen selbst,
daß so viel als cköglich davon in die Hände Oestreichs fällt. Indem sich
Oestreich nach dieser Seite hin erweitert, kämpft es für unsre eigne Sache.
Wenn man ihm nun zum Vorwurf machen wollte, daß es nicht energisch genug
seine Absichten verfolgt hat, so darf man aus der andern Seite nicht verschweigen,
daß Deutschland zum Theil selbst daran schuld ist. Wenn wir von der Herr¬
schaft Oestreichs an der Donau Vortheil ziehen wollen, so ist es billig, daß wir
ihm auch bei der Erwerbung derselben unter die Arme greifen. Möchte, wenn
ein ähnlicher Fall eintritt, Deutschland, möchte namentlich Preußen seine Auf¬
gabe richtiger verstehen. Es ist, um alles andere bei Seite zu lassen, für
Deutschland, für Preußen von der höchsten Bedeutung, nach welcher Seile hin
die Spitze des mächtigen östreichischen Schwerts sich richtet. ,
Indem wir uns nun zu Deutschland selbst wenden, kommen wir an
den schwierigsten Punkt, den wir begreiflicherweise nur oberflächlich berühren
können; und doch liegt der richtige Weg auch hier auf der Hand. Alle Welt
ist darüber einig, daß die ungenügende Stellung Deutschlands den übrigen
Staaten gegenüber aus dem Dualismus zwischen Oestreich und Preußen ent¬
springt, weil jeder der beiden Staaten, um das Gleichgewicht zu erhalten,
jeden Versuch des andern, seinen Einfluß zu erweitern, so viel als möglich zu
vereiteln sucht. Alle Welt ist ferner darüber einig, daß dieser Dualismus nicht
in der Weise aufzuheben ist, daß einer der beiden Staaten ti-e Herrschaft allein
an sich reißt. Nur in einer kurzen Zeit der frankfurter Aufregung dachte man
flüchtig an die Möglichkeit, Preußen die Kaiserkrone über ganz Deutschland
anzubieten. Nur in der Zeit nach Olmütz, schmerzlichen Angedenkens, trug
man sich flüchtig mit der Idee, die Hegemonie über ganz Deutschland Oestreich
zu überlassen.
Wenn nun der Ehrgeiz keiner der beiden Mächte so weit geben kann, die
Hegemonie über Deutschland ausschließlich zu führen, wenn die gemeinschaft¬
liche Ausübung der Hegemonie nur dazu führt, daß der Einfluß der einen
Macht den Einfluß der andern aufhebt : — liegt nicht der Ausweg nahe, daß
in Bezug auf die Hegemonie über Deutschland jeder der beiden Staaten sich
eine bestimmte Sphäre seines Einflusses auserwählt, daß beide' sich darüber
einigen und sich redlich darin unterstützen? War es wol natürlich, daß Preußen
in Baden, daß Oestreich in Holstein intervenirte? Wir glauben, daß, wenn
man die ruhige Ueberlegung über das Spiel der Leidenschaften walten läßt,
sich eine Einigung, die mit den bestehenden staatsrechtlichen Formen und
mit dem Wohl dxs ganzen Deutschland in Einklang steht, wol wird finden
lassen.
Wie dem auch sei, Oestreich bleibt ein höchst bedeutender Factor in der
deutschen Geschichte, der, wenn man ihn außer Rechnung läßt, die ganze Rech¬
nung verwirrt. Daß es das Gefühl lebhaft anregt, ist nicht das kleinste Ver¬
dienst des von uns besprochenen Buchs. —
Nachtrag. Früher, als man erwarten konnte, beginnen die Enthüllungen
nicht blos über den Friedensvertrag selbst, sondern auch über die Verhand¬
lungen, die denselben begleitet haben. Wer jenes Document unbefangen be¬
trachtet, wird nicht ableugnen wollen, daß Rußland in der That eine ungeheure
Niederlage erlitten hat, eine Niederlage, wie sie bisher in seiner ganzen Ge¬
schichte nicht vorgekommen ist. Es ist aus allen seinen Positionen zurück»
geschlagen, es hat nicht nur seine ausschweifenden Ansprüche, nicht blos seine
bisher allgemein anerkannten Rechte aufgeben müssen, sondern es hat auch
einen ganz ernstlichen Machtverlust erlitten. Die weiteren Hoffnungen, die
sich an den Ausbruch des Krieges knüpften, sind zwar getäuscht worden, aber
diese mußten schon von dem Augenblick an als chimärisch erscheinen, wo man
zu der Ueberzeugung gekommen war, daß Oestreich und Preußen sich an dem
Kriege nicht betheiligen würden d. h: seit den letzten wiener Konferenzen.
Was England und Frankreich für sich allein gegen Nußland ausrichten konn¬
ten, haben sie in der That erreicht, denn an wirkliche Eroberungen konnten
sie kaum denken; und der einzige Punkt, der namentlich unter den Engländern
Mißvergnügen erregen wird, daß nämlich von einer Entschädigung für die
Kriegskosten keine Rede ist, hatte seine ernsten Bedenken. Mit einer gewissen
Dstentation wird jetzt verkündet, daß Rußland sofort an die Ausführung eines
großen Eisenbahnnetzes gehen wird, um den Mängeln seiner bisherigen Krieg¬
führung abzuhelfen; und wir wollen die Gefahr, die uns von dieser Seite
droht, nicht verkennen. Indeß wird sie wenigstens zum Theil dadurch auf-
gewogen, daß Nußland eine ziemlich bestimmte Erkenntniß von der Grenze
seiner Kraft gewonnen hat und wenigstens in der nächsten Zeit Anstand neh¬
men wird, eine ähnliche Gefahr, wie die, der es jetzt entgangen ist, zu pro¬
vociren.
Fragen wir, wer bei dem Kriege am meisten gewonnen hat, so ist es
persönlich freilich der Kaiser der Franzosen, der als der mächtigste der Herrscher
Europas in den Acten des Friedensschlusses sichtlich hervortritt. Als Staat
dagegen hat Oestreich den größten Vortheil erlangt. Die freie Dvnauschiffahrt
kommt ihm hauptsächlich zu gut, und die Beseitigung des russischen Einflusses
über die Donaufürstenthümer und Serbien gibt ihm die unbedingte Hegemonie
in jenen Gegenden in die Hand. Oestreich hat den kleinsten Einsatz eingelegt
und das größte Loos gezogen.
Aber grade darin liegt eine große Gefahr, wenn es durch diesen augen¬
scheinlichen Vortheil verleitet werden sollte, seine Kräfte zu überschätzen. Wenn
Rußland schon alle Ursache hatte, ihm wegen seiner Haltung während des
Krieges zu zürnen, so wird diese Stimmung unendlich verstärkt durch das reale
Interesse. Was Nußland verloren, hat Oestreich gewonnen; gegen Oestreich
werden also natürlich die nächsten Versuche Rußlands gerichtet sein. Gleich¬
zeitig ist die Spannung mit England nicht vermindert, sondern vermehrt. Zwar
hat die äußere Politik Englands selten einen großartigen Zuschnitt, aber die
italienischen Verwicklungen liegen zu nahe, als daß nicht die Regierung Gro߬
britanniens schon um der Sympathien ihres Volks willen ihren Haupteinfluß
nach dieser Richtung wenden sollte. Frankreich steht ihm zwar in dieser Be¬
ziehung ganz anders gegenüber, aber wir sind doch überzeugt, daß dem Kaiser
alles daran gelegen sein wird, das Bündnis) mit England aufrecht zu erhalten,
denn er wird nicht, wie das ununterrichtete Publicum, durch die äußere" Er¬
scheinung geblendet; er weiß am besten, wie gewaltig die Hilfsquellen Eng¬
lands sind, wie wenig er bei einem Kriege gegen England gewinnen kann,
wie wichtig das Bündniß zur Befestigung seiner eignen Dynastie ist. Jetzt be¬
darf er des Papstes,, wenn auch nur aus persönlichen Motiven, und wird sich
daher mit dem Feind des Papstes, dem piemontesischen Staat, nicht näher ein¬
lassen. Aber jenes Bedürfniß ist nur ein momentanes, das Interesse dagegen,
das ihn an alle Parteien fesselt, welche der östreichischen Herrschaft über Italien
entgegenstreben, ohne der Revolution zu huldigen, ist ein bleibendes, und seine
Wirkung wird daher die augenblicklichen Sympathien überdauern.
Das Schicksal hat auch dies Mal wieder den alten Ruf von dem östreichi¬
schen Glück bewährt. Möchte es diesem Staat zugleich Besonnenheit einflößen,
wie daS Uebermaß des Glücks bei den Alten; möchte er namentlich sich klar
machen, wo er seine echten und natürlichen Freunde zu suchen hat.
Fechner, Ueber die physikalische und philosophische Atomenlehre. Leipzig, 1835. —
Wir müssen heute unsern Lesern zumuthen, uns in einen der schwierig¬
sten Theile der Naturforschung zu folgen. Den nächsten Anlaß gibt uns hierzu
die aus den Zeitungen einigermaßen bekannt gewordene Rede Liebigs gegen
den Materialismus. Auch wir gehören bekanntlich zu den Gegnern dieser
Irrlehre, aber durchgehends erscheinen uns die gegen sie vorgebrachten Gründe
nicht stichhaltig. Viele, welche zwar eine Umkehr der Wissenschaften im Sinne
Stahls als sophistischen Trug erkennen, scheuen sich doch, den Materialisten
gewisse nicht grade streng beweisbare, aber höchst wahrscheinliche Sätze ein¬
zuräumen; aus Furcht vor unsittlichen Folgerungen halten sie die wissenschaft¬
lichen Schlüsse an einer Grenze zurück, welche zu überschreiten sie keine Nöthigung
zwar, aber ohne jene Besorgniß auch kein Bedenken finden würden. Solche
Zurückhaltung verschreien dann die Materialisten.als Heuchelei und weltliche
Furcht, benutzen aber inzwischen die Gelegenheit, das ihnen überlassene
Gebiet mit ihren halbwahren und unwahren Hypothesen auszubauen.
Bei solcher Auffassung konnte die Rede unsers großen Chemikers unsern
Beifall nicht gewinnen. Wir meinen, daß die Physik und Mathematik dem
Materialismus schon den wissenschaftlichen Boden genommen hatte, als er ent¬
stand und daß jeder wissenschaftliche. Fortschritt seine Nichtigkeit immer klarer
darlegen wird. Liebig dagegen hat die bereits zu Grabe getragene Lebenskraft
wieder zu erwecken versucht und die Naturkundigen dadurch nicht wenig in Ver¬
wunderung gesetzt. Soll nämlich „Lebenskraft" ein Begriff, nicht ein bloßes
Wort sein, so müßten doch bestimmte Gesetze, nach welchen sie wirkte, zu ent¬
decken sein; niemand aber hat bisher auch nur versucht, eine Theorie der Lebens¬
kraft aufzustellen. Ueberdies sind alle früher der Lebenskraft zugeschriebenen
Erscheinungen, insoweit sie überhaupt eine weitere Erklärung gefunden haben,
auf andre bekannte physikalische Kräfte zurückgeführt worden; Liebig selbst hat
sich unter andern durch Erklärung der thierischen Wärme aus einem unmerk¬
lichen Verbrennungsproceß der Nahrungsmittel im Blute um-die Physiologie
ein großes Verdienst erworben. Ohne alle theoretische wie praktische Begrün¬
dung erfunden, wurde also „Lebenskraft" gleichbedeutend mit „unbekannter
Ursache" und wenn sich Liebig aus die Unmöglichkeit beruft, ein organisches
Wesen chemisch darzustellen, so ist das durch das Obwalten unbekannter Ursachen
in den Organismen hinreichend erklärt; jedenfalls könnten wir die Unmöglich¬
keit erst dann für eine absolute erklären, wenn uns alle Bedingungen bekannt
wären.
Die Auferweckung schon abgethaner Hypothesen ist offenbar nicht geeignet, ma-
terialistische Behauptungen zu widerlegen, zu diesem Zwecke muß man die
Sache mit Fechner von der Höhe der Wissenschaft aus betrachten. Die Pro¬
pheten des Stoffs haben nämlich ganz vergessen zu sagen, waS denn eigentlich
Stoff sei; sie werden den Ausführungen von Helmholtz in seiner berühmten
Schrift über Erhaltung der Kraft sich nicht entziehen können. „Ebenso fehler¬
haft ist es, sagt letzterer, die Materie für etwas Wirkliches, die Kraft für einen
bloßen Begriff erklären zu wollen, dem nichts Wirkliches entspräche; beides
sind vielmehr Abstraktionen von dem Wirklichen, in ganz gleicher Art gebildet;
wir können ja die Materie eben nur durch ihre Kräfte, nie an sich selbst wahrneh¬
men." Die Vorstellung der Materialisten also, daß die Materie das Wesent¬
liche und die Kräfte von dieser abhängig, eine Eigenschaft, ein Product derselben
sei, ist eine irrige und überhaupt, wie wir sehen werden, die Existenz einer
Materie im gewöhnlichen Sinne, d. h. betrachtet als ein noch außer' den
Kräften vorhandenes Etwas, sowol unbeweisbar, als unwahrscheinlich.
Wir können Fechner um so mehr als unparteiischen Gewährsmann betrach¬
ten, da er nicht gegen den Materialismus, sondern gegen die Philosophie zu
Felde zieht; es kommt ihm namentlich darauf an, die Existenz von Atomen im
Gegensatz zu einer continuirlichen Erfüllung des Raumes mit Materie nach¬
zuweisen. Im physikalischen Theile seiner Abhandlung hat er die überzeugend¬
sten Beweise für diese Ansicht einem an ihn gerichteten Briefe von W. Weber,
dem berühmten göttinger Physiker, entnommen. Diese beruhen namentlich auf der
Beschaffenheit des Aethers, jener feinsten aller Substanzen, welche den sonst leeren
Weltraum erfüllt, alle Körper durchdringt und durch Schwingungen das Licht
und die Wärme hervorbringt. Die Undulationstheorie, welche die Gesetze
dieser Schwingungen ausspricht und jetzt (zwei Jahrhunderte nach ihrer ersten
Aufstellung, durch Huyghens) nach vielen Controversen und Aufwand von
Scharfsinn für und wider (selbst Newton war ihr Gegner) mathematisch 'be¬
wiesen ist, fordert es, den Aether als aus discreten kleinsten Theilen zu¬
sammengesetzt und nicht als Continuum zu denken. Leichter verständlich ist
Webers Grund für die völlige Begrenzung der Atmosphäre, welche nach astro¬
nomischen Beobachtungen in einer Höhe von 10 — 1i Meilen über der Erd¬
oberfläche endet. Die Luft dehnt sich bekanntlich in dem Maße aus, in welchem
sie verdünnt wird und erfüllt die Glocke einer Luftpumpe selbst im verdünntesten
Zustande immer ganz gleichmäßig. Man sollte also denken, daß sie sich ver¬
möge dieser ihr eignen Erpansivkraft auch noch oben in dem lustleeren Welt¬
raum bis ins Unendliche ausdehnen werde. Besteht aber die Lust aus einzelnen
kleinen Massen, die sich abstoßen und bei der Ausdehnung sich voneinander
entfernen, .so vermindert sich nach einem allgemeinen physikalischen Gesetz mit
der immer größer werdenden Entfernung der einzelnen Theilchen von einander
ihre gegenseitig abstoßende Kraft und es kommt ein Punkt, in welchem die An-
Ziehung der Erde oder die Schwere, der Theilchen ihrer Abstoßung das Gleich¬
gewicht hält; sie können sich dann nicht weiter von der Erdoberfläche ent¬
fernen/
Wir haben hier besonders der Zusammensetzung des Aethers und der
Luft aus kleinsten Theilen gedacht, weil bei diesen Körpern die Vorstellung
am schwierigsten ist. Bei den flüssigen und festen Körpern ist es leichter, sie
aus einzelnen Partikeln zusammengesetzt zu denken und Beweise dafür zu finden,
welche man bei Fechner nachlesen kann. Wir wollen hier nur der merkwürdigen
Weinsäure und Gegcnweinsaure (Antitartrylsciure) gedenken, welche sonst ganz
identisch die Polarisationsebene des Lichts nach entgegengesetzten Richtungen
drehen und gleiche, aber in ihrer Form wie zwei Handschuhe entgegengerichtote
Krystalle Mdcn. Diese Erscheinung erklärt man sich aus einer verschieden¬
artigen Anordnung der sonst gleichen kleinsten Bestandtheile; sie sind, sagt
Fechner, den Händen zu vergleichen, von denen die eine alles links, die andre
rechts dreht.
Da sich nun die Nichtigkeit der vorgetragenen Ansichten kaum bezweifeln
läßt, so wird man sich die Materie aus kleinsten Theilen zusammengesetzt
denken müssen'; man hat diese, wenn sie sich chemisch nicht weiter zerlegen
lassen, Atome, sonst Moleküle genannt, so daß ;. B. das Eisen als chemisch
einfacher Körper aus Atomen, der Rost, eine Verbindung des Eisens mit
Sauerstoff, aus Molekülen bestehen würde; letztere wären dann wieder aus
Atomen zusammengesetzt. „Man denkt sich, sagt Wöhler, die Materie nicht'als
unendlich theilbar, sondern man nimmt an, daß die Masse eines jeden Körpers
aus kleinsten, durch die Sinne nicht wahrnehmbaren, untheilbaren Theilchen
oder Atomen von unveränderlicher Größe, Gestalt und Gewicht bestehe. Die
einfachen Körper oder Grundstoffe sind hiernach Aggregate von einfachen Ato¬
men, die zusammengesetzten Körper Aggregate von mechanisch ebenfalls un¬
theilbaren zusammengesetzten Atomen." In diesen Worten ist die Vorstellung
enthalten, welche sich auch die Materialisten von den Atomen machen; sie gehen
nur noch einen Schritt weiter, indem sie die Naturkräfte diesen kleinen Klümp-
chen als Eigenschaften zulegen und jedes einzelne zu einem kleinen selbststän¬
digen Götzen machen.
Aber es ist leicht, daS Trügerische in Wöhlers Ausdruck zu erkennen; wir
sollen nämlich ohne allen Beweis glauben, daß alle Atome, also auch die der
Luft, wol gar des Aethers, mechanisch nicht mehr theilbar seien, ja wir sollen
dies sogar den Molekülen, die doch chemisch zerlegbar sind, zugestehen. Grade
dies zu glauben aber haben die größten Mathematiker und Physiker der Neu¬
zeit sich geweigert; Fechner gibt ein Citat aus MoignoS Kosmos, welches über¬
setzt folgendermaßen lautet: „Nach Newton," sagte Cauchy in einer seiner
Vorlesungen, „sind die Grundbestandtheile der Körper solid, hart und nuper-
änderlich in Ausdehnung und Form. Diese Ansicht verträgt sich aber nicht
mit einem von Mitscherlich beobachteten Phänomen. Dieser entdeckte nämlich,
daß die Krystalle unter dem Einflüsse der Wärme ungleiche Verbreiterungen in
den verschiedenen Richtungen zeigen und daß die Neigungen ihrer Seiten sich
verändern; um dies zu erklären, muß man aber nothwendig annehmen, daß unter
dem Einflüsse der Wärme die Grundbestandtheile sich nicht allein von einander
entfernen, sondern auch wirklich ihre Form verändern... Ampere seinerseits hat
gezeigt, daß für die Erklärung mehrer, aus die Vereinigungen von Gasen be¬
züglichen Erscheinungen ausreichend sei, die Molekülen der verschiedenen Körper
zusammengesetzt zu denken aus mehrern Atomen, deren Dimensionen im Ver¬
hältniß zu den sie trennenden Zwischenräumen unendlich klein wären. . . Könn¬
ten wir also die Grundbestandtheile der Körper wahrnehmen, so werden sich
unsern Blicken gewissermaßen Konstellationen darbieten und vom unendlich
Großen zum unendlich Kleinen übergehend, würden wir in "den letzten Theilchen
der Materie, wie in der Unendlichkeit des Himmels Kranftcentra ohne Aus¬
dehnung nebeneinander gestellt sehen. . . Nach Ampöre müssen aber die
Dimensionen der Atome, in welchen die molekularen Kraftcentra sich befinden,
nicht nur als sehr klein im Verhältniß zu den sie trennenden Zwischenräumen,
sondern gradezu als null betrachtet werden; mit andern Worten, diese Atome,
welche die wirklichen einfachen Wesen sind, aus denen die Materie besteht,
haben keine Ausdehnung. . . Es scheint beim ersten Anblick, daß einem Stück¬
chen Materie die Ausdehnung nehmen es vernichten heißt, aber nach einiger
Ueberlegung begreift sich leicht, wie die Materie, obgleich aus einfachen Atomen
zusammengesetzt, doch die Eigenthümlichkeiten, welche ihre Gegenwart offenbaren,
wie Ausdehnung, Undurchdringlichkeit, Berührbarkeit :c. behalten muß. So
betrachten wir in der mathematischen Theorie des Lichts die Lichtempfindung
als hervorgebracht durch die Fortpflanzung der Bewegung von Aetheratomen,
welche keine Ausdehnung haben und auseinander aus sehr kleinen Entfer¬
nungen wirken. — Wenn es also dem Schöpfer gefiele, nur die Gesetze zu
ändern, nach welchen die Atome sich anziehen oder abstoßen, so könnten wir
augenblicklich die härtesten Körper einander durchdringen, die kleinsten Stoff-
theilchen unermeßliche Räume einnehmen, die beträchtlichsten Massen auf den
kleinsten Umfang einschrumpfen, ja das Weltall sich, so zu sagen, in einem
Punkte concentriren sehen." Ferner schreibt Weber in dem schon angeführten
Briefe, den uns Fechner wol ganz hätte mittheilen können: „Es kommt darauf
an, in den Ursachen der Bewegungen einen solchen constanten Theil auszu¬
sondern, daß der Rest zwar veränderlich ist, seine Veränderungen aber blos
von meßbaren Raum- und Zeitverhältnissen abhängig gedacht werden können.
Auf diesem Wege gelangt man zu einem Begriff von Masse, an welcher die
Vorstellung von räumlicher Ausdehnung gar nicht nothwendig haftet. Corse-
quenterweise wird dann auch die Größe der Atome in der atomistischen Vor¬
stellungsweise keineswegs nach räumlicher Ausdehnung, sondern nach ihrer
Masse bemessen, d. h. nach dem bei jeden Atom constanten Verhältnisse, in
welchem bei diesem Atom die Kraft zur Beschleunigung immer steht. Der Be¬
griff von Masse (so wie auch von Atomen) ist hiernach ebensowenig roh und
materialistisch, wie der Begriff von Kraft, sondernist demselben an Feinheit und
geistiger Klarheit vollkommen gleich zu setzen."
Diejenigen Leser, welche sich weiter für die Sache interessiren, müssen wir
auf Fechners Schrift selbst verweisen; daß dieselbe an großer Weitschweifigkeit
leidet, bedauern wir um so mehr, als es, nach einzelnen Abschnitten zu urthei¬
len, völlig im Willen des geistreichen Verfassers gestanden hätte, diesen unan¬
genehmen Fehler zu vermeiden; man darf sich dadurch indessen nicht abschrecken
lassen. Indessen wird wol schon aus Obigem einleuchtend geworden sein, daß
dem Materialismus jede wissenschaftliche Basis mangelt und daß die größten
Physiker—Ampere, Weber, i^auchy, Faraday— übereinstimmend ganz andere
Ansichten über das Wesen der Materie hegen. Auf den ersten Blick erscheint zwar
die Idee, daß die Materie aus ausdehnungslosen Punkten und Kraftcentris
bestehe, unglaublich und man meint, handgreifliche Gegenbeweise zu haben,
aber diese zerfallen bei näherer Ueberlegung in nichts. So widerlegt Fech-
ner Liebigs Behauptung, daß die Atome nicht unendlich klein sein könnten,
weil sie Gewicht besäßen, sehr leicht, da das Gewicht eine'gegenseitige An¬
ziehung der Körper, also die Wirkung einer Kraft ist und mit der Ausdehnung
gar nichts zu schaffen hat. Die Kräfte der Körper allein machen sie uns
wahrnehmbar; ihre Schwere, ihr Klang, ihre Wärme, ihr Verhalten zum Licht,
ihr Widerstand u. s. w. beruhen auf physikalischen Kräften und, um die Körper
zu verändern, bedarf es wiederum der Kräfte, sei es unsers Körpers oder unsrer
Maschinen. Gehen wir also der sinnlichen Wahrnehmung auf den Grund, so
bemerken wir immer nur Kräfte, die aufeinander wirken und weiter nichts. Die
Erfüllung des Raums durch die Materie widerspricht dem offenbar nicht, da
ja ihre Grundbestandtheile nicht nichts, sondern eben in den Raum hinein¬
gesetzte Kraftpunkte sind, die also mit ihren Wirkungen auch den Raum er¬
füllen müssen.
Aber die Physiker bleiben nicht dabei stehen, die Materie aus Kräften zu¬
sammenzusetzen, sie wollen serner noch die anscheinend verschiedenartigen Kräfte:
Schwere, Elektricität, Wärme u. f. w. auf eine einzige Kraft zurückführen.
Namentlich ist Faraday von dieser Idee geleitet worden und verdankte ihr, wie
er sagt, seine wichtige Entdeckung des Diamagnetismus, nach welchem eben
allen Körpern und nicht blos dem Eisen (und diesem verwandten Stoffen)
magnetische Eigenschaften zukommen. Auch das wichtige Naturgesetz von der
Erhaltung der Kraft, welches Helmholtz in seiner oben erwähnten Schrift im
Jahr 1847 zuerst entwickelt hat, strebt auf die Vereinfachung der Naturkräfte
hin. „Wir wollen hier zunächst zeigen, sagt der Verfasser, daß das Princip
von der Erhaltung der lebendigen Kräfte ganz allein da gilt, wo die wirkenden
Kräfte sich auflösen lassen in Kräfte materieller Punkte, welche in der Richtung
der Verbindungslinie wirken und deren Intensität nur von der Entfernung
abhängt; in der Mechanik sind solche Kräfte gewöhnlich Centralkräfte genannt
worden. Es folgt daraus wiederum auch rückwärts, daß bei allen Wirkungen
von Naturkörpern aufeinander, wo das besprochene Princip ganz allgemein
auch aus alle kleinsten Theilchen dieser Körper angewendet werden kann, als
einfachste Grundkräfte solche Centralkräfte anzunehmen seien." —
Gehen wir nach diesen Voraussetzungen auf das Wesen des Geistes über,
so müssen wir zwei Behauptungen aufstellen, deren Richtigkeit schwerlich zu be-
streiten ist. Die erste ist die, daß er eine Kraft ist, d. h. ein unbekanntes Etwas,
welches sich nach bestimmten Gesetzen bewegt; die zweite die, daß diese Gesetze
mit den physikalischen Gesetzen übereinstimmen. Beide Sätze werden durch die
ganze Mathematik bewiesen, denn unmöglich könnte zwischen den Resultaten
unsres vernünftigen Denkens, welches in der reinen Mathematik ja nur mit
Begriffen operirt, und den Naturerscheinungen ein so inniger Zusammenhang
stattfinden, wenn nicht beide dieselben Gesetze befolgten oder, wenn man will,
derselben Kraft entstammten. An den mathematischen Ariomen läßt sich die
Identität beider sogar gewissermaßen unmittelbar erkennen; nehmen wir z. B.
den Lehrsatz, daß durch zwei Punkte nur eine einzige grade Linie möglich ist,
so läßt sich der Beweis ausdrücken, sowol daß keine zweite grade Linie denkbar,
als auch daß dieselbe nicht ziehbar sei; beides gibt dasselbe Resultat, denn waS
mathematisch nicht denkbar ist, kann in der Wirklichkeit nicht eristiren und jede
physikalische Theorie ist falsch, wenn ihre mathematischen Consequenzen sich in
der Wirklichkeit nicht bestätigen; es sind schon viele Naturerscheinungen dadurch
entdeckt worden, daß sie nach der Theorie nothwendig eristiren mußten. Aber
auch die Erfahrung bestätigt unsre Theorie, wir haben schon gesehen, daß alle
organischen Thätigkeiten, welche früher der Lebenskraft zugeschrieben wurden,
wirklich von physikalischen Kräften abhängen und die großartige Entdeckung von
Du Bois-Reymond, daß die Thätigkeit der Nerven auf Elektricität beruhe, hat
das Walten physikalischer Kräfte selbst in den unmittelbaren Werkzeugen der
Seelenthätigkeit nachgewiesen. In der That kann auch die Seele, soweit man
sie auch ins Innere des Gehirns zurückverlegen mag, nichts Anders als eine
physikalische Kraft sein, da sie doch irgend wo mit den physikalischen Kräften,
welche den Körper notorisch beherrschen, in Wechselwirkung treten, ihnen also
gleichartig sein muß.
Dieser Satz ist es grade, den man nach unsrer Meinung den Materia¬
listen zugestehen muß, insoweit diese denselben überhaupt aufgestellt haben,
denn ursprünglich betrachteten sie den Geist nicht als Kraft, sondern als ein
bloßes Product der Materie; unsre Ansicht würde sich dagegen so ausdrücken
lassen, daß der Körper ein Product des Geistes sei. Nach unsern Voraus¬
setzungen ist aber diese Ansicht zu materialistischen Folgerungen offenbar un¬
brauchbar; sie sagt vielmehr zunächst aus, daß unser mathematisches oder, was
dasselbe sagen will, streng logisches Denken über jeden Gegenstand, also auch
über Moral und Recht, den Werth von Naturgesetzen besitzt, sie muß conse-
quenterweise dasselbe von der reinen Gemüthsthätigkeit, also dem Gewissen, be¬
haupten (wie wir das schon in einer früheren Nummer dieser Zeitschrift aus¬
geführt haben), sie führt endlich aus die Idee einer Urkraft, auf den Begriff
von Gott.
Schließlich müssen wir noch diejenigen, welche von todten Naturkräften
im Gegensatz zum lebendigen Geiste zu sprechen gewohnt sind, darauf aufmerk¬
sam machen, daß diese Unterscheidung keinen Sinn mehr gibt. Sie wurde
nur deshalb gemacht, weil man die sogenannten todten Naturkräfte auf die
unorganische Natur beschränkt glaubte, mit der Entdeckung des Gegentheils
mußte sie natürlich wegfallen. Wir haben gar keinen Grund, die physikalischen
Kräfte zu mißachten, da wir nicht wissen, was sie sind und woher sie kommen,
dagegen, wie wir Gott uns denken, gezwungen sind zu glauben, daß er mittelst
derselben die Welt regiert.
Wir beginnen die Anzeige der neuen Beiträge, die uns in der gewöhn¬
lichen Zahl vorliegen, mit der siebenten Auflage der Gedichte von Alfred
Meißner (Leipzig, Herbig). Sie haben sich ihr Publicum bereits erobert,
und wenn sie im Anfang von einzelnen Seiten überschätzt wurden, so sind sie
jetzt im Ganzen so richtig gewürdigt, daß weitere Bemerkungen überflüssig
werden. — Dasselbe gilt von den Liedern des Mirza-Schaffy von Friedrich
Bodenstedt, die in vierter Auflage erscheinen (Berlin, Decker). Wir versäu¬
men auch dies Mal nicht, ein Sprüchlein daraus anzuführen:
Es hat einmal ein Thor gesagt,
Daß der Mensch zum Leiden geboren worden;
Seitdem ist dies, — Gott seis geklagt! —
Der Spruch aller gläubigen Thoren worden.Und weil die Menge aus Thoren besteht,
Ist die Lust im Lande verschworen worden,
Es ist der Blick des Volkes kurz. ,
Und lang sind seine Ohren worden.
Sehr schöne Einzelheiten enthalten die Gedichte von Theodor Storm
(2. Aufl. Berlin, Schindler). Wir heben ein kleines Scherzgedicht daraus her¬
vor, im Interesse der verschiedenen Lyriker, die allen Seufzern der Kritik zum
Trotz in ihrer Arbeit forfahren.
Hör mir nicht auf solche Geschwätze,
Liebes Herz, daß wir Poeten
Schon genug der Liebeslieder,
Ja, zu viel gedichtet hätten.Ach, es sind so kläglich wenig,
Denn ich' zählte sie im Stillen,
Kaum genug, dein Nadelbüchlein
schicklich damit anzufüllen.Lieder, die von Liebe reimen,
Kommen Tag sür Tage wieder;
Doch wie zwei Verliebte sprechen:
Das sind keine Liebeslieder.
Die Soldatenlaunen von einem östreichischen Reiter (Darmstadt, Leske) sind
nicht im Tone eines Landsknechts geschrieben, sie behandeln vielmehr das
Soldatenleben mit viel behaglicher Ironie. — Die Gedichte von Curt Oswald
(Aus voller Seele, Dresden, Adler Dietze) enthalten einige recht innige
Klänge, die nur zuweilen durch Heinesche Anflüge verkümmert werden. — Die
Gedichte von Bruno Strahlau (Klänge aus dem Norden. Hannover, Rümpler)
schließen mit dem Nachwort:
Ist bald ein Lied gar frei gesungen,
Bald eins in bitterm Ernst erklungen,
So möget ihr es mir vergeben:
Denn in der Dichtung ruht das Leben.
Und nur nach Wahrheit ging mein Streben. —
Ein christlicher Dithyrambus von Kirchhofs: Israel und die Völker (Kiel,
Akademische Buchhandlung) ist in der Schillerschen Manier gehalten. — Eine
Uebersetzung des hohen Liedes von Blauhand (Berlin, Nelke) sucht in das alte
Gedicht eine gewisse logische Ordnung zu bringen. Wir möchten das Unter¬
nehmen nicht ganz von Willkürlichkeit freisprechen. — Zwei Gedichtsammlungen
von Gustav Bernhard (Leipzig, Roßberg) und Robert Nitzsche (Altona. Lehm-
kuhl), die in stilistischer Beziehung viel zu wünschen übrig lassen, haben uns
insofern interresstrt, als sie zeigen, daß eine gemüthliche Beschäftigung mit der
Poesie wenigstens theilweise sür ein verkümmertes Leben tröstet. — Zwei
Sammlungen: „In einsamen Stunden. Erbauliches und Beschauliches in
Liedern". 2. Aufl. und: Saat und Garben. Zur Beachtung und Betrach¬
tung aus deutschen Prosaikern. (Berlin, Guttentag), sind durch ihren Inhalt,
wie durch ihre Ausstattung zu zierlichen Geburtstagsgeschenken für junge
Damen qualificirt. Noch erwähnen wir das poetische Märchen: Rübezahl,
von Ludwig Köhler, abgedruckt aus dem Weihnachtsbaum für arme Kinder,.
(Hildburghausen, Bibliographisches Institut) und: Liebe, Wein und Mancher¬
lei, persische Lieder nach Dschamis Tevt zum ersten mal deutlich gegeben von
Moriz Wickerhauser. Leipzig, Brockhaus. Ueber die Nachbildungen der
orientalischen Gedichte im Deutschen haben wir uns schon ausgesprochen. — Eine
vortreffliche Uebersetzung (Gotha, Sehende) des von uns bereits ausführlich be¬
sprochenen Quickborn von Klaus Groth, welches mit Recht in Deutschland
allgemeine Bewunderung erregt hat, müssen wir um so ehrender anerkennen, da
es sehr schwer ist, bei der Uebersetzung aus dem Plattdeutschen ins Hochdeutsche
die poetische Form zu bewahren. — C. G. Scherenberg hat ein neues Ge¬
dicht veröffentlicht: Abukir, die Schlacht am Nil. (Berlin, Alexander Duncker.)
Im Ton gleicht es ganz Waterloo und Leuthen, doch erregt es weniger In¬
teresse, vielleicht lediglich deshalb, weil der Genre am meisten der Neuheit
seinen Erfolg verdankt. — Ein Festidyll von Friedrich Dörr: Christabend,
ist im Stil der Vossischen Luise. Die Erzählung spielt in Schleswig. (Halle,
Anton). — Georg Crabves Lehrgedicht: Die Zeitung ^-1789) ist von Karl
Abel (Berlin, Huber) vortrefflich übersetzt. — Schließlich erlauben wir uns
die ebenso bescheidene als dringende Bitte, uns bis zur Zeit der Christbe-
scheerung keine lyrischen Gedichte einsenden zu wollen, da wir nicht im Stande
sind, sie zu lesen. .
Die Kammern haben sich am 19. April von der Regierung
bis zum 20. Mai vertagen lassen, nachdem sie stebcnzehn Tage hindurch beisammen
gewesen sind, und ihr'e Ausschüsse arbeiten inzwischen emsig fort. . Da alle wich¬
tigen Vorlagen der Regierung zunächst an die Ausschüsse verwiesen sind, so haben
bisher weder die Gegensätze hart aneinanderstoßen, noch die Parteien sich scharf
scheide« können. Beides wird nicht lange ausbleiben, wenn jenseits des. 20. Mai
erst die Berichte und Anträge der Ausschüsse vorliegen.
Die erste Kammer war vom ersten bis zum letzten Augenblick von dem Ge¬
fühl erfüllt, daß sie auch in Nebendingen einer Regierung keine Verlegenheiten
oder Mühen bereiten dürfe, der sie ihr Auferstehung von den Todten verdankt.
Die schwachen Regungen von Widerspruch, die sich bei der Vorlegung der Aus¬
nahmsgesetze zur Herstellung eines politischen Staatsgerichtshoss und zur Beschrän¬
kung der schwurgcrichtlichen Zuständigkeit zeigten, wurden auf der Stelle vom dem
Unwillen der Mehrheit erstickt. Dagegen richtete das oppvsttivnslustigste Mitglied
dieser Kammer am 10. April eine ziemlich vom Zaun gebrochene Standrede an
das hannoversche Volk, worin diesem mitgetheilt wurde, daß seine unglückliche
Oppositionslusi in Bezug auf jedes denkbare Ministerium an allem Unheil Schuld
sei, und daß das Ministerium Stüve seiner Unpvpnlarität im eignen Lande erlegen
sein würde, wenn es uicht zufällig aus andern Ursachen gestürzt worden wäre.
Unsre deutschen Brüder, die bis vor Jahresfrist uicht selten Grund zu haben,
glaubten, über das pharisäische Behagen der Hannoveraner an ihrer specifischen
niedersächsischen Glückseligkeit die Nase zu rümpfen, werden erstaunt sein zu hören,
daß wir eigentlich niemals mit unserm Staatsleben im mindesten'zufrieden gewesen
sind. Im übrigen scheint es nicht, als ob in unserm Herrenhause Parteien von
politischer Bedeutung beständen. Die Abweichungen in den Ansichten möchten wol
darin aufgehen, daß die Minderheit lediglich mit dem Gesetz und die Mehrheit
nöthigenfalls auch blos auf das königliche Nvthrecht gestützt dem vereinigten Adel
des Königreichs die Domäne des politischen Einflusses für ewige Zeit zu sichern
trachtet.
Ungleich wichtiger sind die innern Verhältnisse in der zweiten Kammer/ Da
die Negierung augenblicklich nichts als den Adel unbedingt für sich hat, und die
bürgerlich geborene Staatsdienerschast, so weit deren natürliche Abhängigkeit reicht,
so verstand es sich von selbst, daß alle unabhängige Mitglieder dieser Kammer in
eine einzige Partei zusammenfielen, so lange nicht bestimmte grundsätzliche Fragen
dringlicher Art die Elemente sich nach ihrer geistigen Wahlverwandtschaft zu grup-
piren zwangen. Die Präsidentenwahlen, die Wahlen zu sämmtlichen Ausschüssen
sind hiernach von einer immer gleichen Mehrheit (50:32 im Durchschnitt) ent¬
schieden worden. Die fünf ehemaligen Minister Graf Bennigsen, v. Münchhausen,
Braun, Windthorst,, und TH. .Meyer konnten nach außen wol an der Spitze dieser
stets einigen Mehrheit zu steheu scheinen, denn man setzte ihrer zwei auf den Stuhl
des Vorsitzenden, machte einen zum Generalsyndikus, und theilte sie so amtlich den
verschiedenen Ausschüssen vol allen übrigen Abgeordneten zu. Aber in den ver¬
traulichen Zusammenkünften dieser buntgemischten, nur durch die Noth zusammen¬
gewürfelten Partei ging es fast von Haus ans ganz anders her. Wie sehr auch die
linke Seite der Kammer von allen irgend leidenschaftlichen Köpfen und extremen
Parteigängern gesäubert erscheint, so war doch schon jetzt uicht selten die Gefahr
nahe, daß eine entschiedene Erklärung über den Staatsstreich vom -I. August 18so
oder eine ähnliche Demonstration der Entschiedener die kaum vereinigte Mehrheit
sprengen würde, indem die fünf Exminister sammt ihren nächsten Anhängern ent¬
schlossen waren, die Zurückhaltung in Worten und Werken bis auf den höchsten
vor der Ehre bestehenden Grad zu treiben. Eine einzige Veranlassung zM Ent¬
scheidung würde daher aus der bisherigen Oppositionspartei eine liberale Linke
unter der Führung der beiden Obergcrichtsanwälte v. d. Horst und Oppermann,
und eine conservative, jedoch antiministerielle Mitte haben hervorgehen lassen. In
der letzteren würden sich wahrscheinlich ebenfalls zwei Bestandtheile bis zu aber¬
maliger Trennung der Gegensätze zusammengefunden haben: die hannoverschen
Pceliten oder Bethmann-Hollmegiancr, nämlich die frühern Minister, administrativen
Talente, und Jünger von Stüve, und das Halbdutzend katholische Volksvertreter,
uuter dem frühern Justizminister Windthorst, hoffnungsvoller Keim einer katholischen
Partei.
Die Verfassungsfrage im engern Sinn wird die Opposition freilich noch nicht
auseinandertreiben, da grade die ehemaligen Minister sich am nachdrücklichsten gegen
jede jetzt vorzunehmende Abänderung des Bestehenden im Sinne der gegenwärtigen Re¬
gierung ausgesprochen haben. Die Ordnung der königlichen Civilliste und des
ständischen Bewilligungsrechts auch schwerlich, es sei denn daß das Ministerium sich
zu weitgehenden Ablassungen von seinem eignen Entwurf bereit zeigte, um die
Gemäßigtsten an sich zu ziehen. Die peinliche Frage, ob der Stciatsgerichtshof und
die Beschränkung der schwurgerichtlichen Zuständigkeit bei verweigerter Genehmigung
einer einzigen Kammer rechtlich fortbestehen könne, wird voraussichtlich praktische
Bedeutung gewinnen, alsdann die zweite Kammer mit der ersten und mit der Ne¬
gierung entzweien, aber nicht die verschiedenen Parteien der Opposition. Diese
wird dagegen mindestens drei der Exminister von sich abfallen sehen, wenn der
Bericht des sogenannten Schulausschusscs zur Berathung kommt. Diesem Ausschuß
sind zwei Gesetzentwürfe der Negierung zugewiesen worden, von denen der eine
eine finanzielle Verbesserung der Volksschulstellen, der andre die Befreiung der Geist¬
lichen und Lehrer hinsichtlich der von ihnen blos benutzten Grundstücke ihrer Pfrün¬
den von allen öffentlichen Lasten und Diensten an der Stirne trägt, während ihre
gemeinschaftliche geheime Absicht die ist, den Lehrer immer abhängiger von seinem
geistlichen Obern, beide aber, die Geistlichen und die Lehrer, immer unabhängiger
von ihren Gemeinden zu machen. Wie es also mit diesen Vorlagen werden wird,
ist ungemein zweifelhaft. Die Verwirrung aber wird erst angehen, wenn das Bud¬
get mit seinen zahlreichen Anhängseln ans dem stillen Schoße des Finanzausschusses
hervor auf die Tagesordnung der öffentlichen Sitzungen gelangt. Dann werden
Lehzens Tod und Stüves Abwesenheit ihre empfindlichsten Wirkungen äußern, nicht
sowol der mangelnden Sachkenntniß wegen, als weil sie der Kammer keinen aner¬
kannten Führer in Finanzsachen hinterlassen haben, um den sich die rathlose Menge
derjenigen scharen könnte, denen vor eigner Erforschung des Finanzwesens graut.
Zufälligkeiten, und nicht eine feste von Grundsätzen geleitete Mehrheit, werden da¬
her leider wahrscheinlich über die inhaltsschweren Anträge zum Budget, in denen
die wahre Bedeutung der Session liegt, entscheiden.
Handbuch der höhern 'Kunstindustrie. Für Gewerbtretbende und
Künstler, so wie für Lehranstalten. Umfaßt in Heften die Abbildungen der hervorragendsten
Werke dieses Kunstzweiges aus alter und neuer Zeit. Der Text enthält: die Erklärung
und Kritik der Werke und die daraus abgeleitete Theorie, nebst Anleitung zu eignem
Schaffen von I. H. Wolfs, Professor an der kurfürstl. Akademie der bildenden
Künste zu Cassel. Dritte Lieferung. Göttingen, G. H. Wigand. — Die vor¬
liegende Lieferung ist die Krone der Leistungen, welche aus diesem ebenso glänzen¬
den als nützlichen Unternehmen hervorgegangen find. Die Auswahl der Gegen¬
stände ist von dem feinsten Geschmack eingegeben, die technische Ausführung meister-
haft, eine wahre Ehre für die Entwicklung unsrer Kunstindustrie und der Preis
(A^/z Thlr. für die Lieferung) unverhältnißmäßig billig. Jede Lieferung besteht
aus sechs Tafeln. Die erste Tafel enthält den Entwurf zu einem Lehnsessel und
einem Sopha, die zweite die Thür de la Vierge von Notre-Dame zu Paris, ein
Bruchstück der Pantheonthür in Rom, einen Theil der Kirchthür von Ravello, die
untern Füllungen der Thür von Se. Vincent de Paul zu Paris lind drei Rosetten
der Pantheonthür; die dritte Tasel die mittlere Partie der Eisenbeschläge an den
Thürflügeln der Se. Annenpsorte von Notre-Dame; die vierte Tafel fünf antike
Kandelaber; die fünfte Tafel fünf Fontainen ans antiker und moderner Zeit; die
sechste Tafel ein antikes Basrelief, die Akantnsdccoration aus dem Museo degli
Ufizi zu Florenz. — Der geistvolle Verfasser hat die neueste Industrieausstellung
in Paris für seine Zwecke mit großer Aufmerksamkeit durchmustert, immer von dem
Princip ausgehend, daß die Hauptformen jedes Gegenstandes der Kunstindustrie
durch ein Ursprüngliches, durch eine der Natur entlehnte Kernform oder durch das
Hinzutreten eines naheliegenden äußern Mittels in eine bestimmte Gestaltung gleich¬
sam genöthigt erscheinen müssen. — So fern der Gegenstand unsrer Aufgabe zu
liegen scheint, so ist doch die Art und Weise, wie ihn der Versasser behandelt,
derjenigen verwandt, in welcher wir aus dem Gebiet der Kunst und des sittlichen
Lebens das Geistige und Ideale überall in dem nächstliegenden und Wirklichen auf¬
zusuchen streben. Mit einer wahren Freude haben wir in den hinzugefügten Ab¬
handlungen gesehen, wie auch im Alltäglichsten der künstlerische Sinn sich zu
bethätigen vermag. — Wir machen zunächst auf die Abhandlung über die Thüren
aufmerksam. In ihrer Gestaltung soll vor allem eine gewisse Leichtigkeit und Be¬
quemlichkeit vor das Auge treten; sie sollen neben der schweren, stabilen, unverrück¬
baren Mauerfläche gleichsam als der nur zeitweilige Verschluß der Eingang gewährenden
Wandöffnungen erscheinen; die Mittel, sie in diesen Eigenschaften darzustellen, bieten
dann zugleich die Motive zu ihrem Schmucke, wie denn bei echt künstlerischen Werken
die Anforderungen des Zweckes und der Decoration immer in dieser Wechselwirkung
stehen werden. — Diesen Grundsatz hält der Versasser fest, indem er die verschie¬
denen Formen der Thüren näher erörtert. — Wenn man sich in den ältesten Zeiten
damit begnügte, die Eingang und Licht gewährenden Thüröffnungen der Gebäude,
ihrer einzelnen Abtheilungen und Räume häufig nur mit Teppichen zu verhängen
oder auf andre Art zeitweise zuzustellen, so mußte doch dieser ursprüngliche Gebrauch
bald einem praktischeren Verfahren weichen, welches zu dauerndem und sicherm Ver¬
schluß der Eingänge leicht bewegliche Tafeln erfand, die nach Willkür den Eingang
gestatteten oder verwehrten. Solche Thüren oder richtiger Thürflügel (in der Regel
je zwei) wie sie noch heute üblich und unentbehrlich sind, wurden nun schon im
frühesten Alterthume sowol, als in allen spätern Zeiten angewandt; und zwar bildete
sich eine zweifache Constructionsart derselben aus, deren jede ihre volle Berechtigung
hatte, so daß sich die Benutzung beider Arten in ihrer ursprünglichen Gestaltungs¬
weise bis auf unsre Tage erhalten hat. — Die antike Construction der Thürflügel
rahnt mit kräftigen Streifen die für den Zweck erforderliche oblonge Fläche ein
und verbindet diesen Nahmen im Innern durch ebensolche i'n Höhe und Breite sich
kreuzende übcreinandcrgeplattete Streifen, so daß dadurch Füllungen entstehe», die
entweder durch Gitterwerk geschlossen werden, (insofern noch zugleich das Einfallen
des Lichts beabsichtigt wird) oder durch zwar feste, aber ganz dünne und leichte
Tafeln. Durch diese Behandlungsart war das Mittel gegeben, der Thüre in der
Stärke der fest verbundenen Streifen die nöthige Dauer und Festigkeit zu ver¬
leihen, während doch andrerseits die der bessern Beweglichkeit wegen erwünschte
Leichtigkeit derselben daneben bestehen konnte. Dieser structiven Bildung gemäß,
die die eigentliche antike ist, gestaltet sich der Schmuck dieser Thüren rein constructionell;
denn die Rosetten, mit denen wir sie verziert sehen, stellen nichts Anderes dar, als
die geschmückten Köpfe der mächtigen durchgreifenden Schrauben, Nägel oder Bolzen,
mittelst deren die Nahmenstücke unverrückbar aufeinander befestigt werden und der
Bilderschmuck erscheint als" einzelne Figurentafcln, mit denen die zwischen den Rah-
menstückcn übrig gebliebenen Oeffnungen zugesetzt sind. — Die zweite Constructions-
weise, deren Erfindung der vorgothischen Zeit angehört, mußte diese Praktik auf¬
geben, weil der veränderte obere Abschluß der Thüren, die aus dem römischen
Bogen hervorgehende romantisch-byzantinische Ueberwölbung der Thüröffnungen, das
Anbringen des oberen Zapfens unstatthaft machte. Sie bildet nun die ganze erforderliche
Fläche durch einzelne dicht nebcneinandergereihte senkrechte Streifen oder schmale
Tafeln, (hier aus Holz, während die auf uns gekommenen antiken Rahmenthüren
meistens aus Metallstreiscn zusammengesetzt wann, obschon auch diese Thürgattung
ursprünglich aus Holz gedacht ist); diese Tafeln werden sodann durch einen sie
in horizontaler Richtung überziehenden Schmuck — zu welchem die Mctallbanden,
mittelst deren sich die Thüre aus sichtbare und deshalb um fo befriedigendere Weise
in ihren Angeln bewegt, das Motiv geben — aneinander befestigt, gleichsam sicht¬
bar zusammengeheftet oder verklammert. — So verschieden dieses Verfahren von
dem eben beschriebenen antiken zu sein scheint, so beruht es doch, wenn wir es
genau betrachten, ganz auf demselben der Natur entlehnten System, wonach bei
Zarten und leichten Gegenständen eine partielle Verstärkung eintreten muß, wenn sie
des nöthigen Haltes nicht entbehren sollen. Eben so wie das Blatt der Rippen
bedarf, wie der Flügel aller befiederten Geschöpfe durch den Kiel der einzelnen
Federn gehalten wird, ebenso ist auch in der Kunstform eine theilwetse rippenartige
Verdickung dünner Flächen nicht nur in der That ihrer Haltbarkeit zuträglich, son¬
dern sie verleiht thuen auch den Anschein von Stärke, von Kraft, neben der Leich¬
tigkeit und Beweglichkeit des Ganzen. Hiernach erscheinen nun. die Rahmenstreisen
der antiken Thüren als das Rippenwerk, als der Kern des Ganzen, dessen Inter¬
vallen nur in zarter Weise, sei es nun durchbrochen oder durch zierliche Bildertafeln
ausgefüllt wurden. — Bei den zuletzt besprochenen Thüren dagegen übernimmt der
über die FlächeHcmsgcgossene und hervortretende, sie also partiell verstärkende Schmuck»
die Rolle der Blättcrrippen, während die untergelegte und von ihm zusammen¬
gehaltene Fläche hier zwar auch sichtbar (durch die sich deutlich zeigenden Fugen
nämlich) aus schmalen Streifen besteht, aber nnr deshalb, weil das dabei verwandte
Material, das Holz, nur in diesem Volumen gegen Umgestaltung durch Werfen,
-3'ehen :c. gesichert ist. Diese schmalen Holzstreifen haben also nichts gemein mit
denen der andern Constructionsweise. Jene erfüllen grade die entgegengesetzte
Function. Hier bilden sie die Unterlage des Rippenwerkes, während sie dort selbst
als Rippen hervortreten. — Um nun zu untersuche«, wie diese beiden Constructions-
"Um für unsre Zeit zu verwerthen sind, faßt der Versasser genauer ihre beider-
seitigen Vorzüge und Mängel ins Ange. — Was die erste betrifft, so läßt sich
nicht leugnen, daß die nur eine grade Fläche ohne Abschluß, ohne Einfassung
bildende Thür auch bei dem reichsten Metallschmuck noch etwas Strenges und
Herdes, behält, ja daß sie grade durch diese Armirung mit Eisen einen sehr ernsten,
sast finstern Charakter annimmt. Die Anwendung dieser mittelalterlichen Thür¬
gattung wird daher hauptsächlich auf das Aeußere der Gebäude beschränkt sein, wo
eine gewisse Kraft und Derbheit am Platze ist. Namentlich aber eignet sie sich zu
Kirchthüren, insbesondere zu den Voihallen derselben, weil die Banden und der
damit verbundene Schmuck (wenn nicht eine für das Constructionellc unnöthige
Wiederholung aus der Kehrseite der Thürflügel stattfinden soll) immer nur auf einer
Seite erscheint und dieser Mangel, z. B. bei der Hauptthür einer Kirche am wenig¬
sten fühlbar wird, da diese, einmal geöffnet, sich nicht eher wieder schließt, bis der
innere Raum von Menschen leer ist und sie diesen wieder vor Profanation ze. zu
sichern hat. — Ferner werden diese'Thüren vorzugsweise angewandt werden müssen,
wenn eine bogige Oessnung zu schließen ist, und auch da, wo der obere Abschluß ganz
fehlt, wie etwa bet den Eingängen einer Umfassungsmauer ze., indem die Streifen
der Rahmeuthüren weder — wenn nicht gegen die Natur des Holzes, aus dem sie
ursprünglich gedacht sind, verstoße»' werden soll — in runde Formen übergehen
können, noch auch die ganze Bildung einer nochmaligen völligen Anschließung auf
allen Seiten durch das Thürgcwänd entbehren zu können scheint. — Die antiken
Thüren erscheinen nicht nur leichter, zierlicher, sondern können auch in der That mit
dem Minimum von Material dauerhaft construirt werden, mit kräftigen Streifen
und dünnem Füllwcrk; sie gewähren den Vortheil, daß man ihre Füllungen nach
Willkür theilweise uur durch Gitter zu schließen braucht, um noch Licht oder Luft
einfallen zu lassen; sie erhalten durch den Rahmen schon in sich einen Abschluß,
eine gewisse Vollendung, etwas Fertiges; sie geben, wie schou angeführt, den Raum
zu beziehungsreicheu Bildwerken, wir werden also am häufigsten zum Gebrauche
derselben uns hingeführt sehen, namentlich bei innern Räumen, wo eine größere
Zierlichkeit und ein heiterer Charakter vorherrscht. Verwahren müssen wir uns
aber bei diesem Ausspruche gegen die Zulässigkeit der jetzt allgemein üblichen Thüren
mit verleimtem Rahmenwerk und glatten Füllungen und das Ganze mit weißer
Oelfarbe übertüncht! Es ist dies unstreitig das widerwärtigste, handwerksmäßigste
und gedankenloseste Machwerk, welches sich, wie so manches andre Mißverstandene
aus antiker Zeit (z. B. die glatten Friese u. tgi.) bei uns eingebürgert hat.
Ueberall, wo die Mittel gestatten, über das Allernothdürstigste hinauszugehen, wo
also von Kunstansprüchen die Rede sein kann, sollten diese Thüren durchaus ver¬
bannt sein. Es ist ja auch so leicht, ihrem ursprünglichen Sinne gerecht zu werben,
ohne einen übermäßigen Aufwand;-wir müssen nur immer daran festhalten, daß
der Zusammenhalt der Rahmcnstücke bei ihrer Kreuzung und Ueberplattung äußerlich
sichtbar gemacht werden muß durch Schraubenköpfe u. tgi., und daß' die entstehende
Füllung als ein in den Rahmen zum Verschlüsse der Oeffnung eingesetztes Bild¬
werk erscheinen müsse, möge dieses nun aus Ranken oder Gitterwerk bestehen, welches
noch Luft und Licht einlassen soll, mögen es Bildertafeln zu völligem Verschließen
sein; oder, wo beides aus dem einen oder dem andern Grunde nicht zulässig ist,
können wir uns mit eingesetzten Tafeln von einer edlern Holzgattung begnügen,
welche an sich etwa durch.Masern oder Flammen ein der Umrahmung einigermaßen
würdiges Bild abgibt, das sogar eine Art Relief durch die lichteren und dunkleren
Färbungen erhalten und so die Fläche bereichern und decoriren kann. Dabei wird
es wünschenswert!) sein, wenn der Nahmen als der hervortretende Theil in dem
Grundtone überhaupt Heller gehalten ist, als die zurücktretenden Füllungen. Wenn
die natürlichen Farbentöne die plastischen Formen auf entsprechende Weise unter¬
stützen, dann wird das Kalte und Farblose bei den Gegenständen unsrer Umgebung
am wirksamsten und am angemessensten verbannt. ^— Man sieht schon aus diesen
fragmentarischen Bemerkungen, mit einem wie feinen künstlerischen Sinn der Ver¬
fasser das Handwerk zu adeln versteht und wie segensreich daher sein Buch in die
Fortentwicklung dieses Zweiges der. Cultur eingreifen muß.
Eine Wanderung durch die Gemäldesammlung des Städti¬
schen Kunstinstituts von I. D. Passavant. Frankfurt a. M., H. Keller.
^ Eine ähnliche, zweckmäßige und einsichtsvolle Uebersicht wünschten wir auch den
andern zahlreichen, zum Theil sehr werthvollen Kunstsammlungen Deutschlands, da¬
mit durch die Zusammenstellung derselben eine Kenntniß unsrer Schätze im größern
Publicum verbreitet werde. Es ist das um so Wünschenswerther und nothwen¬
diger, da auch diesem Zweige unsers Culturlebens die Concentration mangelt.
Der Feldzug in der Krim 18SL—18S5 dar¬
gestellt in einer Sammlung von fast ausschließlich officiellen Berichten beider kcimpsen-
den Parteien, Heft. Enthaltend die Monate Juli, August und Septcmper->8os
bis. zur Erstürmung Sebastvvols. Nebst zwei Planskizzen der Schlacht an der
Tschcrnaja und der Erstürmung Sebastvvols. Leipzig, F. L. Hcrbig. — Mit diesem
Heft ist nun die Sammlung geschlossen, in welcher man die Gesammtgeschichte des
orientalischen Krieges von Beginn desselben bis auf die Einnahme von Sebastopol
in actenmäßigcr Darstellung verfolgen kann. — Die orientalische Frage. In
Briefen eines russischen Veteranen von 1812. 'Herausgegeben von P. Ostafiero.
Erster Theil. Breslau, Kern. — Die Briefe sind natürlich im allcrentschicdensten
russischen Sinn geschrieben und suchen die Sache der Westmächtc so lächerlich und
verächtlich als möglich darzustellen. Im gegenwärtigen Augenblick, wo in der Krim
der russische Oberbefehlshaber einen feurigen Toast aus Se. Majestät den Kaiser
Napoleon, auf Ihre Majestät die Königin Victoria und auf Se. Majestät den König
von Sardinien aufbringt, wo seinerseits der Marschall Pelissier mit erheblicher
Rührung versichert, er hege vor keinem Monarchen eine so unbedingte Verehrung,
als vor dem Kaiser Alexander, wo die feindlichen Vorposten, die sich bisher mit
Flintenschüssen begrüßten, sich freundlich ihre Cigarren anzünden, wo man in Paris,
in Wien, in Konstantinopel von weiter nichts hört, als von Bällen und Festlich¬
keiten, wird man auch in der russischen Regierung diesen Ton nicht mehr billigen.
Indeß kann man von einem gescheiten Feinde immer viel lernen, und so werden
auch diese Briefe zur aufmerksamen Lectüre zu empfehlen sei». — Es ist im Gan¬
zen doch ein sehr unheimliches Gefühl. Ueber hunderttausend Leichen düngen den
Boden der Krim, der jetzt den Russen wieder eingeräumt wird und der Mar¬
schall Pelissier versichert, er hege vor keinem Monarchen eine so unbegrenzte Ver¬
ehrung, als vor dem Kaiser Alexander, der russische Oberseldhcrr hält feurige
Lobreden auf den Kaiser Napoleon, und in Paris, Wien und Konstantinopel tanzt
und jubilirt man. — Man fühlt sich doch zuweilen versucht, in die Stimmung Ham¬
lets auszubrechen, als der Clown ans dem Gottesacker seine schlechten Witze machte. —
Die Dona ufürsten es üm er. Die staatlichen Verhältnisse der Moldau
und Walachei in geschichtlicher Zusammenstellung der auf das öffentliche ReM
bezüglichen Verträge. Vou I. F. Neigebaur. Breslau, Kern. — Das Buch ent¬
hält nicht eine fortlaufende historische Entwicklung, sondern einzelne Abhandlungen über
die Zustände der Donaufürstenthümer, welche der Verfasser bekanntlich in einem längern
amtlichen Aufenthalte studirt hat. — Die Heirath des Markgrafen Carl
von Brandenburg mit der Markgräfin Katharina von Balbiano.
Nach Urkunden in dem königlichen Archive und in Privatarchiven zu Turin zu¬
sammengestellt von I. F. Neigebaun Breslau, Kern. — Eine interessante
Episode aus der Geschichte der Höfe am Ende des 17. Jahrhunderts. Die all¬
gemein gehaltene historische Einleitung über die Deutschen in Italien hätte sich der
Verfasser ersparen können. — Der hansische Stahlhvf in London. Ein
Vortrag, gehalten im Saal des goldenen Sterns zu Bonn am 11. März 1836.
Von Reinhold-Pauli. Bremen, Strack. — Der Vortrag verdient nicht blos
wegen seines höchst interessanten geschichtlichen Inhalts, sondern auch wegen seiner
musterhaften Form allgemeine Beachtung. — Leon de Modena, Rabbiner zu
Venedig (1S71 —1648) und seine Stellung zur Kabbalah, zum Talmud und
zum Christenthum!, zugleich als Denkstein an dem frischen Grabe Jsaak Samuel
Roggios. Von or. Abraham Geiger, Rabbiner der Jsraelitengemeinde zu
Breslau. Breslau, Kern. — Ein Beitrag zur Culturgeschichte des 17. Jahr¬
hunderts, der uns um so willkommener sein muß, je weniger bisher die allgemeine
religiöse und literartsche Entwicklung der Zeit vom bestimmten Standpunkt des
Judenthums aus betrachtet worden ist. — Professor Daniel Völters Karte
von der europäischen Türkei, Griechenland, Montenegro und den
ionischen Inseln, nebst den angrenzenden Landestheilen von Rußland, und
Oestreich, nach den neuesten Quelle» (Kiepert, Viquesnel, Blondel u. s. w.) Ver¬
hältniß 1:4,400,000. Eßlingen, C. Weychart. (Preis 8 Ngr.) — Diese für
gewöhnliche Bedürfnisse sehr brauchbare Karte ist vorzugsweise nach Kiepert be¬
arbeitet.— Hermäen aus dem Alterthume in Bezug auf Politik und
Gesetzgebung. Von Ur. ^ur. F. G. Eckenberg. I. Theil. Politik. Nord¬
hausen, F. Förstemann. — Das Buch zeigt eine große Belesenheit, aber wenig
durchgreifende und folgerichtig angewandte Principien. —
— Am 21. April wurde Heft 17 in Leipzig durch den
Rathsdiener in der Buchhandlung und den öffentlichen Localen confiscire, jedoch am
28. April wieder zurückgegeben.
Die Naturgeschichte des Volks als Grundlage einer deutschen So¬
cialpolitik. Von W. H. Nie si. Drei Bände. Zweite vermehrte Auflage.
Stuttgart und Augsburg, Cotta. —
Ein Buch, welches einen so außerordentlichen Zugang bei fast allen
Schichten des Volks gefunden hat, wie das vorliegende, kann nicht ohne Werth
sein. Der Geschmack deö Tages, vor allem aber der Wunsch einer großen
politischen Partei, ihre egoistischen Interessen auch vom Standpunkt der Bil¬
dung und Menschenliebe aus zu rechtfertigen, erklärt vieles, allein doch nicht
alles; und in der That finden sich unter Richis Beobachtungen sehr viele, die
uns durch Feinheit deö Blicks und durch Lebendigkeit der Darstellung anziehen,
freilich hart daneben auch andre, in die wir beim besten Willen keinen halt¬
baren Sinn hineinlegen können. Dürfen wir also beim Eingang unsrer Kritik
einen allgemeinen Wunsch aussprechen, so wäre es dieser , daß Riehl seine
Arbeit in der feuilletonistischen Form, in der sie ursprünglich gedacht war, ge¬
lassen und nicht durch den Schein einer systematischen Durcharbeitung eine
falsche Vorstellung erweckt hätte. Er erzählt selbst in der Einleitung, seine
Arbeit sei nicht gemacht, sondern geworden, er sei nicht mit einem bestimmten
Princip, mit einer bestimmten Ueberzeugung daran gegangen, sondern aus viel¬
seitigen Beobachtungen habe sich ihm ein Princip erst allmälig und natur¬
wüchsig entwickelt und so sei durch Aneinandergliederung des Einzelnen ein
organisches Ganze entstanden.— Auf diese Weise kann sich eine Ueberzeugung
entwickeln, aber kein wissenschaftliches Lehrgebäude. Zu diesem gehört noch ein
zweiter Proceß. Wenn man sich aus vielen einzelnen Anschauungen eine
Meinung entwickelt hat, so muß man alsdann die Richtigkeit derselben an
allen Fällen prüfen; man muß dasjenige, was gegen dieselbe spricht, ebenso
gewissenhaft zusammenzählen, als dasjenige, was sich dafür zu entscheiden
scheint, und erst durch einen genauen Vergleich dieser beiden Reihen wird sich
ein Facit ziehen lassen. — Diese Arbeit hat Riehl nicht gethan. Er ist bei
seinen ursprünglichen Beobachtungen stehen geblieben und hat die Lücken ent¬
weder durch willkürliche Einfälle ausgefüllt oder er hat sie auch ganz unbeach¬
tet gelassen. Die M.^agelhastigkeit dieses Verfahrens hat er wohl gefühlt; aber
anstatt sie offen einzugestehen, anstatt sich damit zu begnügen, einzelne Bau¬
steine zusammenzutragen, aus denen dann ein Späterer etwas Ganzes auf¬
bauen möge, hat er sie durch einen hochfahrenden Ton zu verstecken gesucht,
der ihm nicht ziemt, denn das Buch wimmelt von Widersprüchen und läßt uns
fast überall im Stich, wo wir eine entscheidende Folgerung erwarten. Von
Zeit zu Zeit blickt er spöttisch auf die Nationalökonomen, die bei einem ein¬
seitigen Standpunkt stehen bleiben und daher leicht alles berechnen können.
In der That, der Standpunkt der Nationalökonomie ist ein einseitiger, weil
er von gewissen Rücksichten abstrahiren muß, obgleich auch hier neuerdings
durch Roschers Arbeiten der concreten Ansicht des Lebens ihr volles Recht
widerfährt: aber die Hauptsache ist, die Nationalökonomie rechnet mit Factoren,
die sie im Einzelnen genau erforscht und deren Zusammenhang sie sich klar gemacht
hat; die angebliche neue Wissenschaft der Socialpolitik dagegen läßt sich in
der Auswahl wie in der Anwendung ihrer Beobachtungen vom Zufall bestim¬
men. Man wird das Buch mit großem Vergnügen lesen, aber man wird nicht
überzeugt werden. — Zuweilen ist es komisch, wie Riehl zwei widersprechende
Einfälle ganz einfach nebeneinander stellt, ohne sich darüber zu erklären, wel¬
chen von beiden er für richtig erachtet. So schildert er im dritten Band, S. -172,
die Vortrefflichkeit des Hausregiments, welches sich nicht blos auf Dienst¬
boten, sondern auch auf die Hausthiere erstreckt. Er wird bei dieser Schilde¬
rung ganz poetisch. „Gegenüber unserm Hunde sind wir die allwaltenden
Götter, schicksalspinnende Dämonen; darum vertraut der echte Hund blind sei¬
nem Herrn." Nun kommt ihm aber ein andrer Gedanke in den Sinn: „Was
freilich ein Hund im stillen Sinne denkt, wenn er die srevliche Hand des
Herrn leckt, die ihn maltraitirt, das hat uns bis jetzt noch keiner gesagt."
Diesen Gedanken, den er nicht unterdrücken kann, setzt er in Parenthese hinzu,
und ohne zu merken, daß dadurch seiner Beweisführung gradezu die Spitze
abgebrochen ist, fährt er fort: Darum u. s. w. Diese Gemüthsverfassung, sich
einer für den leitenden Gesichtspunkt wesentlichen Betrachtung dadurch zu ein¬
schlagen, daß man sie einfach fallen läßt, mag für den humoristischen Dichter
sehr geeignet sein, für die Wissenschaft ist sie es jedenfalls nicht. Riehl glaubt
dadurch eine höhere Stufe der wissenschaftlichen Kunstform erstiegen zu haben,
daß er die gerade Linie derselben durch humoristische Kreuz- und Quersprünge
verziert. Diese Manier ist heutzutage nicht selten, sie ist aber durchaus ver¬
werflich, denn in der Wissenschaft fördert nur derjenige Weg, bei dem man
keinen Schritt zurückmachen darf.
Wir gehen nach diesen allgemeinen Bemerkungen auf das Einzelne über.
Da die Entstehung des Buchs nach dem Geständniß des Verfassers selbst eine
zufällige ist, so wird es uns verstattet sein, die Ordnung desselben umzukehren und
mit dem zu beginnen, was man gewöhnlich als das Ursprüngliche der geselli-
gen Zustände betrachtet, mit der Familie d. h. mit dem dritten Bande deS
Buchs.
Den sehr richtigen Grundgedanken, daß schon in dem physiologischen
Unterschied zwischen Mann und Weil, sich zeigt, daß die Menschen nicht zur
absoluten Gleichheit bestimmt sind, führt nicht mit etwas mehr Eifer aus, als
nöthig wäre. ' Es gibt zwar, hirnverbrannte Subjecte, die in ihrer Doctrin
nichts davon zu wissen scheinen, daß der Mann zeugt, während daS Weib ge¬
biert, aber gegen diese ist es unnöthig, zu Felde zu ziehen. Riehl thut es auch
nur, um geschwind einen falschen Schluß einzuschieben (S. S). „In dem
Gegensatz von Mann und Weib ist die Nngleichcirtigkcit der menschlichen Be¬
rufe und damit auch die sociale Ungleichheit und Abhängigkeit als ein Natur¬
gesetz aufgestellt." Das ist ein Satz, den Herr von Gerlach mit großem Ver¬
gnügen lesen wird. Aber wo in aller Welt findet sich eine Logik, nach der
folgender Schluß erlaubt wäre: „Das Weib ist von Natur dem Manne ungleich,
folglich sind auch die Männer einander ungleich." Uebrigens läßt nicht den
Satz wieder fallen; aber es ist doch nicht gut, durch Anklebuug solcher Partei¬
stichwörter sich der vornehmen Welt zu empfehlen.
Ueber den Gegensatz der beiden Geschlechter finden sich sehr viel feine und
sachgemäße Bemerkungen. In barbarischen, uncultivirten Zuständen sind die
Weiber vom Manne nicht qualitativ, sondern quantitativ unterschieden, daher
die Frauen die Knechte deö Mannes; in einer übertriebenen Civilisation da¬
gegen ist der Gegensatz der Geschlechter auf die Spitze getrieben. So war es
in dem heuchlerischen, unsittlichen Minnedienst des Mittelalters, so ist es zum
Theil wieder in uusern Tagen, wo es für unweiblich gilt, wenn man nicht
von dem Anblick einer Spinne Krämpfe bekommt. ,,So zwingen wir die ge¬
bildete Frau, entweder in reiner Unthätigkeit zu verharren oder die Schranken
ihres Geschlechtes zu durchbrechen und ihrem Thätigkeitstrieb in Dingen, die
außerhalb des Hauses liegen, Genüge zu leisten. Die feinste Spitze der Ge¬
sittung biegt sich hier wieder zur ursprünglichen Barbarei zurück, und die Dame
des europäischen Salons verbringt gar oft ihr Leben ganz in derselben Weise,
wie das ungebildete Weib des orientalischen Harems, dessen Tagesarbeit ersüllt
ist, wenn es sich geputzt, gebadet, mit Oelen und Pomaden gesalbt und zum
Zeitvertreib ein wenig gestickt oder gewebt hat." — Diese Ueberverfeincrung
der Weiblichkeit übt die nachtheiligsten Einflüsse auf unser ganzes Leben aus.
So wird die Literatur und Kunst für Frauen und von Frauen immer selbst¬
ständiger; sie wirkt bereits auf unsre gesammte Entwicklung in Wissenschaft
und Kunst leise, aber sicher zurück. Unsre ganze Belletristik ist unter den
Pantoffel gekommen. Das massenhafte Aufsteigen weiblicher Berühmtheiten
und ihr Hervordrängen in die Oeffentlichkeit ist allemal das Wahrzeichen einer
krankhaften Nervenstimmung des Zeitalters. Namentlich in der vornehmen Welt
strahlen die Einflüsse der Ueberweiblichkeit von den Frauen auch auf die Män¬
ner über, und das Uebermaß der Sonderung der Geschlechter droht sich dadurch
wieder auszugleichen, daß der feine Mann weibisch wird, ein Milchgesicht an
Leib und Seele. Mit der Frivolität geht bald die religiöse Heuchelei, ver¬
schwommene pietistische Schönseeligkeit Hand in Hand und die Büßerinnen
selbst unterwühlen den sittlichen Ernst des religiösen Geistes. Von Frauen
ist der Rongecultus und ähnliches ausgegangen. So haben gar viele über¬
weibliche Frauen auch im ersten Rausche unsrer letzten revolutionären Bewegung
sofort ihren natürlichen Geschlechtsberuf des Beharrens und Bewahrens ver¬
gessen und den Radicalen begeistert zugejubelt. Die Demokraten mit ihren
jungen, stattlich bebarteten Wortführern , mit ihren Turnerscharen, den wallen¬
den Fahnen und wogenden Federn, den malerischen Volksversammlungen, den
prächtig declamirenden Volksrednern stellten mehr dar, als sie thaten und waren.
Der weiblichen Natur entging diese Wahlverwandtschaft nicht. Die gesetzten,
glatt rasirten, conservativen Männer dagegen, deren Chorführer in den Par¬
lamenten einen bedenklich starken Beitrag zur Statistik der Glatzköpfe lieferten,
stellten für ein Frauenauge äußerlich wenig oder nichts dar. Aber auch die
politische Lehre der Demokraten entsprach jenem merkwürdigen radicalen Natur¬
recht der Gesellschaft, welches sich bei den Frauen sofort da ausbildet, wo sie
das feste geschichtliche Recht der Überlieferten Sitte aufgeben. Anstatt also
so viel von der Emancipation der Frauen zu reden, sollten wir lieber daran
denken, uns von den Frauen zu emancipiren.
Dies ist, abgesehen von einzelnen, theils passenden, theils unpassenden
Nebenbemerkungen der Gedankengang des Buchs, dem wir im Wesentlichen
beipflichten. Es kommt jetzt nur darauf an, für die richtig aufgedeckten Schä¬
den auch die richtige Abhilfe zu finden und hier ist Riehl rathlos.
Zunächst sollte man denken, daß die weibliche Erziehung ins Auge gefaßt
werden müßte. Wenn die Frauen eine ganz andre Logik haben, als wir, so
liegt das zum großen Theil an ihrer falschen Erziehung. Man gewöhnt sie
an Virtuosität des Gefühls, an Schnellfertigkeit des Urtheils, aber man ent¬
zieht ihnen die gründliche Kenntniß auch des geringfügigsten Gegenstandes. ES
fehlt ihnen jene Zucht des Gedankens, die für das Denken überhaupt noth¬
wendig ist.
Statt in einer verbesserten Erziehung sucht aber der Verfasser das Heil¬
mittel in einer veränderten gesellschaftlich-politischen Stellung der Familie. Die
Frauen sind ihrer Natur wie ihrer Bestimmung nach conservativ, die bevorzug¬
ten Träger der socialen Unterschiede, allein ihre Natur wie ihr Beruf findet
nur im Kreise der Familie die volle Ausbildung. „Die Familie muß politisch
emancipirt werden, dann sind die Frauen emancipirt."
Das klingt fast wie ein delphischer Orakelspnlch und nicht zählt zwar
vielerlei auf, was er nicht thun wolle, aber das, was wirklich zu thun sei,
läßt er im Dunkeln. Sein einziger Vorschlag kommt daraus heraus, die pas¬
sive Wählbarkeit zum Parlament auf Ehemänner zu beschränken. Zu welchem
Zweck? Etwa um die Zahl der Ehelosen zu vermindern? Im Gegentheil,
Riehl wünscht eher eine Verminderung der Ehen; denn wer sich keinen genü¬
genden Hausstand gründen kann, soll auch nicht heirathen. Die Zahl der Ehe¬
losen soll bleiben, soll sich sogar noch vermehren, aber — — alle Ehelosen
sollen genöthigt werden, sich als dienende'Glieder einer Familie anzuschließen!
Das ist also der Weisheit letzter Schluß. Soll man sich nun darüber
ärgern oder lachen? nicht schildert mit großer Beredtsamkeit die Nachtheile,
die es für ein Mädchen hat, als Gouvernante oder von ihrer Hände Arbeit,
oder von Schriftstellern zu leben. Wovon soll sie aber denn leben, wenn sie
nichts hat? Ist denn die Stellung eines Dienstmädchens ehrenvoller, als die
einer Gouvernante? Soll die Familie sie umsonst aufnehmen, um sie als
ein unschädliches Hausthier in den Stall zu sperren, dem jeder Angehörige
der Familie gelegentlich einen Fußtritt gibt? — Herr nicht, Herr nicht, es
ist viel leichter, bunte Zustände bunt auszumalen, als auf ernsthafte Fragen eine
vernünftige Antwort zu geben, und Sie, dessen Antwort in einem mitleidigen
Achselzucken besteht, haben keine Ursache, sich über die Nationalökonomen, die
wenigstens eine bestimmte Antwort suchen, so geringschätzig auszudrücken. —
Auch ist grade in dieser Beziehung der bittre Hohn gegen die amerikanischen
Zustände übel angebracht. In dem stolzen Selbstgefühl des amerikanischen
Dienstboten seinem Brodherrn gegenüber mag einige Uebertreibung liegen; es
ist aber doch jedenfalls besser, als die Sitte der guten alten Zeit, wo der Brod¬
herr seine Dienstboten, der Meister seine Lehrlinge von Morgens bis Abends
Prügelte, um sich eine angenehme Motion zu machen. Das Proletariat ist ein
großes Uebel, aber die Leibeigenschaft ist ein viel größeres-
An diese allgemeinen Auseinandersetzungen über daS Wesen der Familie
und des Hauses schließt sich ein höchst liebenswürdiges und interessantes Genre¬
bild über die bürgerliche Baukunst. An sich würde es nichts schaden, daß
nicht nur der leitende Gedanke, sondern auch zum Theil die einzelnen Bilder
aus Reichensperger entlehnt sind, da der Verfasser mehre eigne sehr artige
Einfälle hinzugethan hat; aber es würde doch schicklich gewesen sein, auf die
Quelle hinzuweisen. Die Schilderung der Wohnungen aus der guten alten
Zeit im Vergleich mit den gegenwärtigen Kasernen ist allerliebst, aber die
Hindeutung auf eine praktische Anwendung dieser Grundsätze ist nur komisch
Zu nennen. Wenn nicht den Wunsch ausspricht, daß jede Familie ihr eignes
Haus habe, so stimmen wir diesem Wunsche im höchsten Grade bei; aber wenn
er sich erkundigen wollte, was in einer großen Stadt der Boden kostet, so würde
er sehr bald einsehen, daß das nur fromme Wünsche sind. Nur sehr reiche
Leute können in unsern Tagen ein eignes Haus haben. Nebenbei halten wir
es doch für einen großen Gewinn, daß die modernen Häuser ihren Bewohner»
Luft und Licht verstatten. Die beständige Kellerluft und die Finsterniß in den
alten Häusern mag etwas Romantisches haben, aber der Gesundheit war sie
gewiß nicht förderlich. Auch daß jeder Einzelne, sobald er mündig geworden ist,
sich nach einer eignen Stube sehnt, wo er sich zu Hause fühlt und wo er
unumschränkter Herr ist, halten wir für einen wesentlichen Fortschritt unsrer
Bildung.
Daß unsre sogenannte classische Literatur dem hohen Werth des Familien¬
lebens nicht gerecht geworden ist, wird sehr richtig hervorgehoben; auch in dieser
Beziehung sind wir besser, als unsre Bäter. Wunderlich genug klingt eS,
wenn aus der einen Seite das deutsche Kneipenleben als ein anerkennenswerthes
Streben, im Schoß einer Familie zu sein, gefeiert und gleich darauf als die
Zerstörung deS deutschen Familienlebens gebrandmarkt wird. Nicht ist eben
nicht Herr über seine Einfälle; auch darin spricht er sich als Feuilletonist aus. —
Ganz wunderlich ist die Vertheidigung der alten halbtollen Schmausereien und
des sinnlosen Lurus, der früher bei den großen Familienfesten Sitte war, und
dem die Polizei mit Recht gesteuert hat. Das wahre Vergnügen an diesen
Festen, war gering und es wurde mit schweren Opfern erkauft.
Daß Riehl die mehr und mehr einreißende Subjektivität beklagt, und die
Unsitte, seine Privatgefühle in Tagebüchern aufzuzeichnen, anstatt die wirklichen
Denkwürdigkeiten der Familie zu firen, lächerlich macht, ist sehr zu loben; nur
vergißt er dabei, daß dieses psychologische Raffinement einen ältern Ursprung
hat, als die französischen Romane; er vergißt, daß in der katholischen Kirche
seit der Zeit der Kasuisten die Beichtväter förmlich darauf eingeübt wurden, in
den Beichtkindern die abnormsten Gefühle zu entwickeln, sie aus ihnen heraus¬
zulocken oder in sie hinein zu dichten. Die Selbstschau unsrer jungen Damen
(denn bei Männern sind Tagebücher doch wol selten) ist sehr lächerlich, aber
sie hat doch nicht jenen üblen Beischmack, der aus der Forschung nach geheimen
Gedankensünden hervorgeht. Riehl ist eifrig beschäftigt, die Vorzüge der
katholischen Kirche hervorzuheben; er möge sich einmal die Anweisung für
die Beichtväter zu verschaffen suchen, es gehört das auch in eine Naturgeschichte
des Volks.
Von dem dritten Band springen wir sofort zum ersten über, der den Titel
führt: Land und Leute. Er besteht aus einer Reihe von Genrebildern, die
im Grunde unter sich keinen weitern Zusammenhang haben, als den ähnlichen
Gegenstand. — Das Capitel über das Volk als Kunstobject, d. h. über die Dar¬
stellungen des Volks in Literatur und Malerei, ist vortrefflich, obgleich auch
hier wieder manche Beobachtungen falsch sind. So stellt er z. B. zwischen den
deutschen und den französischen Zeitungen den Gegensatz auf, daß die letzteren
in der Regel oder wenigstens oft ausschließlich politisch sind, während bei den
erstem die socialen Beziehungen das Hauptinteresse bilden. Er möge einmal
eine gut redigirte französische Zeitung, wie das Journal des Dvbats, ins Auge ^
fassen, so wird er finden, daß die specifische Politik weit hinter den Klatsch aus
dem Privatleben zurücktritt, und daß die größte Feinheit nicht auf die politischen
Leitartikel, sondern auf diese Chronik der socialen Neuigkeiten verwandt wird.
Eine ausschließliche politische Zeitung, wie.die deutsche Zeitung es war, kennt
eben nur Deutschland. — Es folgen eine Reihe niedlicher Idyllen: Feld und
Wald, Wege und Stege, Stadt und Land, die als solche sehr angenehm zu lesen
sind, die aber nicht den Anspruch darauf machen sollten, irgendeinen Beitrag zur
wissenschaftlichen Lösung der socialen Fragen zu bieten. Die durchgehende Polemik
gegen die Nationalökonomen ist sehr übel angebracht, da die Volkswirtschaft bei
uns längst aufgehört hat, einseitig mit mechanischen Productionökräften zu rechnen.
Die moralische Bedeutung der volkswirthschaftlichen Einrichtungen wird von der
neuern Wissenschaft ebenso in die Wagschale gelegt, wie die materielle. Zu¬
weilen erregt Riehl durch seine humoristische Form das peinliche Gefühl der
Unsicherheit, ob er im Spaß oder Ernst spricht. Man höre folgende Deduction
Seite 6-1: „Man sagt verschiedenen tiroler Gemeinden nach: sie hätten in alter
Zeit ihre Straßen absichtlich nicht an den Bergen her, sondern über die Berge
geführt, damit die Reisenden und ihr Geld recht lange im Land bleiben und die
Fuhrleute gehörig für Vorspannpferde zahlen möchten. Das gemahnt an die
Politik deutscher PostVerwaltungen, welche unbedenklich auch die krumme Linie
als die kürzeste zwischen zwei Punkten annahmen, wenn es galt, einem im
geraden Wege liegenden auswärtigen Postbesitzer ein paar Kreuzer Transilporto
abzuzwacken und die Briefe möglichst lang im eignen Bezirk zu behalten. Es
steckt aber auch ein tieferer Sinn hinter jener angeblichen Praxis der Tiroler.
Als man in alten Zeiten Straßen baute, individualisirte man das Laut>; die
Straße schuf eine Masse neuer Ansiedelungen, neue Städte, neue Dörfer.
Wenn wir dagegen heutzutage die echt modernen Straßen, nämlich Chausseen,
Eisenbahnen und Dampfschifflinien anlegen, so centralisiren wir das Land;
diese Straßen ruiniren die kleinen Städte, schaffen dagegen den großen einen
riesigen Zuwachs an Macht und Ausdehnung. Der Fußweg, der Feldweg,
die alte Heerstraße führten die Städte ins Land hinein; unsre neuen wunder¬
baren Straßenbauten des Weltverkehrs führen die Stadt zur Stadt und —
Land in die Stadt. Darum war es im Geiste des mittelalterlichen Weg¬
bausystems durchaus nicht widersinnig, die Reisenden aus möglichst langer Linie
un Lande herumzuführen." — Der wunderliche Eindruck dieser Auseinander¬
setzung wird noch dadurch verschärft, daß nicht den Städten im vollen Ernst
Rath gibt, die Straßen krumm zu bauen.
Jetzt folgt der Glanzpunkt des Buchs, die Schilderung der einzelnen Land-
schaften, die der Verfasser genau kennen gelernt hat, namentlich des Rheingaus,
der südlichen Districte des Vaterlandes, Rügens und des Westerwaldes. Zwar
leiden auch diese Schilderungen an dem Bestreben einer falschen Verallgemeine¬
rung, aber es werden uns so viel interessante Blicke in das wirkliche Volks¬
leben eröffnet, daß wir dem Verfasser nur dankbar sein können. Zudem stimmen
wir in politischer Beziehung im Wesentlichen seinen Ansichten bei.
Riehl findet in der deutschen Volks- und Staatenentwicklung drei Gruppen:
das centralisirte Norddeutschland, das centralisirte Süddeutschland und das indivi-
dualisirte Mitteldeutschland. Zu dem ersten wird man außer Preußen, in dem jene
Centralisation den klarsten Ausdruck gewonnen hat, auch Hannover, Mecklenburg
und Holstein rechnen, die durch ihre geographische Lage, wie durch die Volkssitten
eigentlich dazu bestimmt sind, mit dem preußischen Ländergebiet zu einem Staat
vereinigt zu werden. Riehl setzt sehr richtig auseinander, wie die Existenz eines
charakterlosen Mitteldeutschland, dessen dauerndes Interesse darin liegt, sich dem
schwächeren Großstaat anzuschließen und den stärkeren entschlossen zu bekämpfen,
das Elend Deutschlands hervorgerufen habe, daß der norddeutsche und der
Süddeutsche, so scharf sie sich anscheinend entgegengesetzt sind, dennoch im
innern Kern ihres Wesens zueinander viel mehr Verwandtschaft haben, als zu
den Mitteldeutschen. Freilich bricht er auch hier wieder seiner Entwicklung
die Spitze ab. Aus suum Schilderungen geht unwiderleglich hervor, daß
die Existenz Mitteldeutschlands nur eine Scheineristenz ist. Statt aber zu
der natürlichen Folgerung zu kommen, daß der Lauf der Geschichte wahr¬
scheinlich diese unorganische Masse einer der schon entwickelten organischen
Staatenbildungen zuführen wird, kommt er plötzlich auf den Einfall, Mittel¬
deutschland werde doch wol aus sich heraus ein eignes Lebensprincip ent¬
wickeln. — Der Definition der Kleinstaaterei treten wir bei. „Der.kleinste
Staat ist kein Kleinstaat, so lange der Verwaltungsauswand zu den Verwal¬
teten, so lange die beanspruchten politischen Rechte zu den politischen Leistungen
in richtiger Proportion stehen. Es kann sogar ein großer Staat zur Klein¬
staaterei herabsinken, wenn er mehr zu sein prätendirt, als er wirklich sein kann."
Nur möchten wir der Deutlichkeit wegen hinzusetzen, baß zu jenen beanspruchten
politischen Rechten, die nothwendigerweise auch eine Macht verlangen, auch
die unbedingte Souveränetät zu zählen ist.
Die Darstellung der kirchlichen Verhältnisse enthält im Einzelnen viel
Schönes. Es ist gut, daß laut und vernehmlich constatirt wird, daß die kirch¬
liche Macht noch wirklich besteht. Vortrefflich ist die Würdigung des Strauß-
feder Mürklin. „Als er glaubt, daß die Wissenschaft über den materiellen In¬
halt der Religion hinausgehend das letzte Wort gesprochen habe, da kann er
nicht mehr predigen. Und nun beginnt bei ihm erst recht jener innere Kampf,
der eine so große Rolle in der Sittengeschichte der neuern Zeit spielt. D>e
Gegner drängen zu dem Geständnis), daß er nicht mehr auf kirchlichem Boden stehe,
auf Niederlegung des Amtes. Die Ehrlichkeit der eignen Ueberzeugung tritt in
Widerstreit mit jedem Wort, jeder Handlung seines geistlichen Berufs. Was
soll der mit sich selbst Zerfallende beginnen? .... In diesem innern Kampfe
vereinsamt der gequälte Denker vollends. Das Volksbewußtsein wird ihm
immer fremdartiger, das öffentliche Leben gleichgiltig. . . . Dieser falsche
wissenschaftliche Aristokratismus, den die kleinen politischen Thatsachen, aus
denen sich übrigens die großen zusammensetzen, kalt lassen, weil sich nicht so¬
fort ein philosophischer Verstand darin entdecken läßt, hat sich an der ganzen
gebildeten Welt schwer gerächt. . . . Sie wußte nicht, was beginnen, als
plötzlich die rohe Masse das große politische Wort nahm. ... Es ist die
Buße für die Vereinsamung, in welche sich der Gebildete und vollends der Ge¬
lehrte von dem Volksleben zurückgezogen hat, seinen Gedankenkämpfen in stolzer
Abgeschlossenheit nachgehend." — Trotz seiner vielfachen Beschäftigung mit dem
Volksleben nimmt aber Riehl selbst doch einigermaßen diese Stellung deS ein¬
samen Gebildeten ein. So z. B. wenn er dem Protestantismus die principielle
Toleranz gegen den Katholicismus zuschreibt. Der echte Protestantismus ist
ebenso intolerant gegen die katholische Kirche als diese gegen ihn; nur der Jn-
differentismus und die Doctrin gestehen dem Gegner das ebenbürtige Recht der
Eristenz zu. (Schluß folgt.)
Zu den vielen verfehlten Hoffnungen, welche die von allen Seiten sehn¬
suchtsvoll erwartetete und mit freudiger, allgemeiner Theilnahme begrüßte po¬
litische Reorganisation unsres Kaisertums uns hinterließ, gehört ohne Zweifel
das Jnslebentreten jener nothwendig gewordenen Reformen, welche den Zustand
des östreichischen Beamtenwesens den Verhältnissen unsrer Zeit entsprechend um¬
wandeln sollten. Eine Broschüre, welche -I8i8 die grellsten Mißstände deS
damaligen Beamtenthums beleuchtet, liegt vor uns, und gewährt uns einen
interessanten Vergleich mit den gegenwärtigen Zuständen, aus dem wir daS
wenig trostreiche Resultat ziehen, daß alles so ziemlich beim Alten geblieben
>se- Noch immer spielt das ProtectionSwesen die Hauptrolle bei der Be¬
setzung von Dienststellen und Beförderungen; noch immer muß der mittelloseste
Beamte, wenn er auf sein Ansuchen übersetzt wird, die Reiseauslagen aus
Eignen bestreiten; noch immer besteht das grellste Mißverhältniß in der üblichen
PensionSnorm zwischen dem minder besoldeten Beamten und dem höher besoldeten
ü. s. w. — Am traurigsten ist die Lage der Beamten des Grundsteuerkatasters.
Die erste Abtheilung derselben befaßt sich mit der gcmeindewcisen Feldausnahme
und Mappirung des allen Grundeigenthümcrn zugehörigen Areals mit all seinen
produktiven und unproductiven Culturgaitungcn, und mit der Berechnung
und dem protokollarischen Ausweise sämmtlicher Parcellen, und legt den Grund
zu einer gleichförmigen, durch Flächengehalt und Bodenbvnität bedingten Be¬
steuerung. Der zweiten Abtheilung liegt die Pflicht ob, den durch die Er¬
fahrung bestimmten, factischen jährlichen Ertrag jeder Culturgattung zu er¬
mitteln, welcher sodann die Norm zur Bemessung der entfallenden Steuer darbietet.
Dem ehemaligen k. k. Hofrath Baron von Knorr gebührt das Verdienst,
den östreichischen Grundsteuerkataster in seiner gegenwärtigen Vollkommenheit
in das Leben gerufen zu haben, was seiner Zeit (im Jahr 1819) nicht ohne
vielfache Stürme geschehen konnte, da ein Theil der mit den Grundzügen der
neuen Steuerregulirung noch nicht hinlänglich vertrauten, größeren Grund¬
besitzer mit großer Entschiedenheit gegen dieselbe protestirte. — Der Schöpfer
dieses ebenso segensreichen als großartigen Unternehmens war trotz des Um-
standes, daß man die mit der Durchführung des neuen Steuersystems betraute
Beamtenkategorie als eine provisorische erklärte, dennoch daraus bedacht,
die zukünftige Existenz derjenigen ihrer Mitglieder sicher zu stellen, welche ihrem
äußerst beschwerlichen und mühevollen Berufe die. Kräfte und die meiste Zeit
ihres Lebens geweiht hatten. Er entwarf den Plan zur Gründung eines
Pensionssondes, an welchem die Katastralbeamten sich durch periodische, ver¬
hältnißmäßig sehr geringe Beiträge betheiligen sollten. Die Verwirklichung
dieses Planes, welcher bei der bekannten Festigkeit und Energie seines Be¬
gründers sicher zur Ausführung gekommen wäre, unterblieb jedoch, da der
Hofrath von Knorr (1832) in den Reichsrath berufen wurde, und die Leitung
der Katastralangelegenheiten in die Hände seines Nachfolgers legte.
Seit jener Zeit bis zum gegenwärtigen Augenblicke ist kein ähnlicher Ent¬
wurf mehr in Anregung gebracht worden, und der Lohn, welcher den Katastral¬
beamten nach einer vieljährigen treuen Pflichterfüllung, und nach einem Leben,
überreich an Mühen und Entbehrungen, — erwartet, ist eine kleine jährliche
Gnadengabe von höchstens 200 si., deren Erlangung ihm übrigens die Will¬
kür seines unmittelbaren Vorgesetzten noch überdies bedeutend erschweren, oder
selbst auch unmöglich machen kann.
Die Unzulänglichkeit der jährlichen Gnadengabe, selbst wenn dieselbe keiner
weitern Verkümmerung unterworfen wird, wohl erkennend, fand die oberste
Katastralbehörde eS gerathen den unterstehenden Beamten in einem vor drei
Jahren erschienenen Circulare den wohlmeinenden Rath zu ertheilen, sich,
wenn Alter und Abnahme der Kräfte ihnen die fernere Erfüllung ihrer Be-
rufspflichten nicht mehr erlauben sollte, bei Zeiten ein anderweitiges, ihre
Existenz sicherndes Unterkommen zu suchen. — Die tiefste Demüthigung aber
blieb dem Katastralbeamten in einem Paragraph? des für ihn entworfenen
Gebührenregulativs aufgespart. Dieser besagt, daß die Finanzlandesdirection
nur in besonders rückfichtswürdigen Fällen dem erkrankten Katastralbeamten
den Fortbezug seiner Gebühren während der Krankheitsdauer der zweiten vier¬
zehn Tage gestatten könne. Nach dieser Zeit jedoch tritt eine Schmälerung auf
zwei Drittel seines Gehaltes ein, dessen Bezug nach Verlauf der nächsten vier¬
zehn Tage, also sechs Wochen nach dem Beginn der Krankheit gänzlich
aufhört.
Bei so bewandten Umständen wird es nicht Wunder nehmen, daß die
Glieder jener bedaurungswürdigen Beamtenkategorie seit Jahren bemüht waren,
die höchste ihnen vorgesetzte Behörde für die Stabilistrung ihrer Körperschaft
zu gewinnen, ein Verlangen, welches um so berücksichtigungswerther erscheint,
als die vollständige Durchführung der Steuerregulirnng noch einen sehr großen
Zeitraum erfordert, da die größere Hälfte unsres Kaiserstaates, die Provinzen
Galizien, Ungarn, Siebenbürgen, Kroatien und ein Theil von Tirol mit Aus¬
nahme der erstgenannten noch gar nicht in Angriff genommen sind. Die
Evidenzhaltung der bereits in der Katastralvermcssung und Schätzung voll¬
endeten Provinzen erfordert ebenfalls eine bedeutende Anzahl technischer Organe,
die nur der erwähnten Körperschaft entnommen werden können, weshalb die
etwaige Besorgniß, daß man die, nach völliger Beendigung unsres Steuer¬
systems in allen Kronländern disponibel werdenden Kräfte nicht entsprechend
verwenden könne, sich als ungegründet herausstellt. Allein diese Versuche
waren bisher vergeblich.
Wundern aber müssen wir uns, daß unser erleuchtetes Ministerium, dem
allein eine endgiltige Entscheidung in dieser Sache zukommt, derselben noch
keine nähere Würdigung zu Theil werden ließ, um so mehr, da die Früchte
der neuen Steuerregulirung durch den gegenwärtigen um Millionen Gulden
vermehrten Steueretat deutlich genug am Tage liegen. Bei allen Anlässen, wo
es galt, dem allgemeinen Wohl ein Opfer zu bringen, that man der in Rede
stehenden Beamtenschaft die Ehre an, sich nach Kräften hierbei zu betheiligen,
und ihren loyalen Sinn auf möglichst glänzende Weise zu bethätigen wie z. B.
bei Gelegenheit der Subscription aus das bekannte Nationalanlehen. Als aber
im December v. I. die Gnade unsres erhabenen Monarchen in huldvoller Be¬
rücksichtigung der allgemein herrschenden Theuerung den Staatsbeamten aller
Kategorien, (den provisorischen wie den definitiven) einen angemessenen
Theurungszuschuß zu bewilligen geruhte, da waren die Katastralbeamten die
ewzigen, die sich der Allerhöchst gewährten Gnade nicht zu erfreuen hatten,
was wol schwerlich in der Absicht unsres gütigen, für das Wohl aller Stände
gleich besorgten Landesvaters gelegen sein mag.
Wir haben den vorstehenden Klagen, über deren Einzelnheiten wir natür¬
lich von hier aus kein Urtheil haben können, dennoch Raum gegeben, weil sie
sich auf einen allgemeinen Nothstand beziehen, der über kurz öder lang einmal
zur Sprache kommen muß. Es sei uns erlaubt, mit einigen Worten darauf
hinzudeuten.
Der Werth deS Geldes hat sich in den letzten Jahren wesentlich verändert.
ES kommt nicht darauf an, hier die Gründe zu erörtern, genug die Thatsache
steht fest. In allen Theilen Deutschlands sind die nothwendigen Lebensbedürf¬
nisse, Lebensmittel, Wohnung und dergl., beträchtlich theurer geworden, in den
größern Städten in einer erschreckenden Weise. Dazu kommt der fieberhafte
Trieb nach erhöhten Genüssen und deren Universalmittel, dem Gelderwerb, der
voraussichtlich in den nächsten Jahren bei der schwindelhafter Vermehrung der
Creditanstalten eine immer größere Ausdehnung gewinnen wird. DaS Geld ist
an Werth gesunken, und doch ist es für den Unbemittelten schwerer geworden,
eS zu erwerben..
Gewerbtreibende, und was sonst in diese Classe gehört, haben daS Mittel
in Händen, wenn sie auch vorübergehend darunter leiden, allmälig das Ver¬
hältniß wieder auszugleichen, indem sie den Preis ihrer Waare erhöhen. Auch
derjenige Theil des Proletariats, der von Handarbeiten lebt, so schrecklich die
augenblickliche Noth sein mag, gewinnt doch mit der Zeit wieder festes Terrain,
denn die freie Concurrenz, d'e im Augenblick freilich das Uebel vergrößert,
hebt eS mit der Zeit wieder auf.
Viel empfindlicher wird die Noth für diejenige Classe von Menschen, die,
von früh auf an eine einseitige Richtung der Thätigkeit gewöhnt, zu jeder
andern unfähig geworden sind, und die ihre ganze Stellung zu gewissen Aus¬
gaben zwingt, die. dem Proletarier erspart bleiben. Wir meinen vorzugsweise
die schlechtbesoldeten Beamten. Sie waren schon früher so gestellt, daß sie nur
durch Aufbietung aller möglichen Rechenkünste eristiren konnten. Sie können
es jetzt nicht mehr, denn der Preis der Lebensbedürfnisse ist gestiegen und ihre
Einnahme ist nicht erhöht. Das gewöhnliche Mitleid wird zunächst durch daS
physische Leiden hervorgerufen, aber das in»ralische ist viel bitterer. Der arme
Beamte kann unmöglich in Hemdsärmeln herumgehen, wie der Holzhacker; er
kann eS nicht ertragen, wenn seine Frau, wenn seine Töchter barfuß auf der
Straße herumlaufen; er wird Anstand nehmen, seine Tochter als Köchin in
Dienst zu geben, und wer vom abstract nationalökonomischen Standpunkt über
dieses Bedenken spottet, der kennt das menschliche Herz sehr wenig.
Freilich ist eS ganz richtig, daß unser ganzes Beamtentum auf ungesun¬
der Grundlage beruht. ES ist in der Ausdehnung, die es in Deutschland ge¬
wonnen hat, nachtheilig sür die productive Kraft deS Volkes im Allgemeinen,
am nachtheiligsten für den Beamten selbst, der durch eine lange Gewohnheit
zu einer einseitig arbeitenden Maschine herabgesetzt den freien Gebrauch seiner
Gliedmaßen und Geisteskräfte verloren hat und nicht mehr im Stande ist, nach
einer andern Richtung hin thätig zu sein. Wir sind vollkommen mit denen
einverstanden, die in der Ueberzeugung, daß viel zu viel Papier unnütz ver¬
schrieben wird, eine wesentliche Beschränkung des Beamtenthums herbeizuführen
wünschen. Wir hoffen, daß mehr und mehr die Staatsbeamten sich in
Communalbeamte verwandeln werden, und daß damit der Nimbus eines
königlichen Officianten aufhört, der bisher so viele thörichte Jünglinge ver¬
lockte.
Aber diese Umwandlung wird so schnell nicht durchzuführen sein, da wir
erst allmälig lernen müssen aus eignen Füßen zu stehen, und da bisher die
verschiedenen politischen Parteien, welches Symbol sie auch auf ihre Fahne
schreiben mögen, der Durchführung desselben doch fast ohne Unterschied auf dem
hergebrachten bureaukratischen Wege nachstreben. Der Staat, der es zu¬
gelassen hat, daß ein Beamtenproletariat sich bildet, übernimmt damit still¬
schweigend die Verpflichtung, wenigstens bis zu den Grenzen der Möglichkeit
dafür zu sorgen.
Sehr charakteristisch ist das in dem obigen Artikel mitgetheilte Rescript an
die Katastralbeamten, sie sollten, sobald sie amtsunfähig wären, bei Zeiten
dafür sorgen, sich einen andern Lebenserwerb zu verschaffen. Aber dazu sind
sie nicht mehr im Stande. Ihr Arm ist zu schwach geworden, um Holz zu
hacken oder Steine zu klopfen, ihr Kopf hat eine zu einseitige Richtung ge¬
nommen, um sich in etwas Anderes zu finden.
Wir sind gewiß nicht der Ansicht, daß der Staat aller Noth abhelfen soll.
Sobald man sich eine Aufgabe stellt, die über die Kräfte geht, restgnirt man
sich sehr schnell darauf, gar nichts zu thun; aber innerhalb der Sphäre seiner
Wirksamkeit muß der Staat das Seinige thun; er muß seine eignen Beamten
standesmäßig besolden; ja wir gehen in unsern Anforderungen noch weiter.
Wenn man z. B., über den schrecklichen Nothstand der Schullehrer geklagt und
den Staat zum Einschreiten aufgefordert hat, so war die gewöhnliche Antwort,
es seien das keine Staatsbeamten, und der Staat könne in die Rechte und
Pflichten der Communen nicht eingreifen. Dieselbe politische Partei, die sonst
den Gemeinden alle Selbstständigkeit entziehen möchte, und die Kategorie der
Beamten, die dem Ministerium unbedingte Unterstützung schuldig seien, bis auf
die Gebirgsführer und Schweinehirten ausdehnt, sängt hier, wo es gilt, thätig
^"zugreifen, sofort von der Souveränetät der Communen zu träumen an. Die
Sache steht aber so, daß der Schulunterricht von Staatswegen für eine
Zwangspflicht erklärt wird, und da er sich außerdem das Aufstchtsrecht über
"lie Schulen vorbehält, so geht er damit hie Verpflichtung ein, seine Anfor-
derung, die wir übrigens auch für ganz gerechtfertigt halten, durch den Nach¬
weis der Möglichkeit zu stützen. So wie er die Communen zwingt, überhaupt
Schulen zu halten, so kann und soll er sie auch zwingen, dieselben so zu hal¬
ten, daß sie dem Staat von Nutze» sind. z. B. die Schullehrer so zu besolden,
daß sie weder hungern noch schmarotzern dürfen.
Bei aller Vorliebe für die Communalfreiheit können wir nicht umhin, hier
beiläufig die Bemerkung zu machen, daß der Staat in der Regel für die
Schulen eine bessere Behörde ist, als die Commune. Grade in dieser Be-
ziehung geht die Commune häufig von kleinlichen, materialistischen Gesichts¬
punkten aus, die dem Staat fremd sind. Wenn wir daher auch nicht so weit
gehen, die Uebernahme des Schulwesens dnrch den Staat im Allgemeinen zu
wünschen, so können wir es doch nur für gerechtfertigt halten, wenn er nach
dieser Richtung hin sein Aufsichtsrecht viel schärfer und eindringender ausübt,
als in andern Dingen, welche die Commun viel besser versteht, z. B. Gas¬
beleuchtung, Straßenpflaster, Gossen u. s. w.
Man möge diese flüchtigen Bemerkungen vorläufig hinnehmen; der Ge¬
genstand ist zu ernst, als daß wir nicht ausführlicher darauf zurückkommen
sollten. ,
- Die Uebersetzung Macaulays von Butan (Leipzig, T. O. Weigel) schreitet
rüstig vorwärts. Wir machen unsre Leser noch einmal darauf aufmerksam,
indem wir eine Probe mittheilen und wählen dazu den Hof des verbannten
Jacob it. Nach dem Scheitern seiner Bestrebungen war seine „Fömmigkeit"
immer leidenschaftlicher geworden und er fastete und geißelte sich, bis seine
geistlichen Führer genöthigt waren, einzuschreiten.
Es ist schwer, sich einen traurigeren Ort zu denken, als Se. Germains
war, wie er seinen Hof daselbst hielt und doch gab es in ganz Europa kaum
eine beneidenswerthere Residenz, als die, welche der großmüthige Ludwig denen,
die seinen Beistand angefleht, angewiesen hatte. Die Wälder waren prächtig,
die Luft rein und gesund, die Aussichten weit und angenehm. Kein Reiz des
Landlebens fehlte und die Thürme der prächtigsten Stadt des Festlandes wa¬
ren in der Ferne sichtbar. Die königlichen Gemächer waren mit Tapezier- und
Tischlerarbeit, mit Silbervasen und Spiegeln in vergoldeten Rahmen reich ge¬
schmückt. Eine Pension von mehr als 40,000 Pfund Sterling wurde jährlich
aus dem französischen Schatze an Jacob bezahlt. Er hatte eine aus einigen
Feldsports zu ergötzen wünschte, so stand ihm eine weit kostbarere Einrichtung
zu Gebote, als die, welche ihm gehört hatte, wie er an der Spitze eines großen
Königreichs stand, ein Heer von Jägern und Falknern, ein großes Zeughaus
von Flinten, Speeren, Hifthörnern und Zelten, meilenlange Netze, Hatzhunde,
Fuchshunde, Windhunde, Koppeln für den Eber und Koppeln für den Wolf,
Gerfalken für den Reiher und Hagerfalken für die wilde Ente. Sein Audienz-
zimmer und sein Vorzimmer war im äußern Ansehn so glänzend, als wie es
zu Whitehall war. Er war noch immer von blauen Bändern und weißen
Stäben umgeben. Aber über dem Schlosse und der Domäne brütete ein fort¬
währender Trübsinn, die Wirkung zum Theil von bitterem Zurückwünschen und
verzögerten Hoffnungen, hauptsächlich aber von dem elenden Aberglauben, der
vollständigen Besitz von seinem eignen Geiste genommen hatte und der von fast
alle denen erheuchelt wurde, die nach seiner Gunst strebten. Sein Palast hatte
das Aussehen eines Klosters. Innerhalb des geräumigen Bauwerks befanden
sich drei gottesdienstliche Stätten. Dreißig bis vierzig Geistliche wohnten in
dem Gebäude und ihre Zimmer wurden von den Hochadligen und Gentlemen,
die dem Schicksale ihres Souveräns gefolgt waren und die es hart fanden,
daß sie, während so viel Raum unter seinem Dache war, genöthigt sein sollten,
in den Dachstuben der benachbarten Stadt zu schlafen, mit Neid betrachtet.
Unter den Murrenden war der glänzende Anton Hamilton. Er hat uns eine
Skizze des Lebens zu Se. Germains hinterlassen, eine flüchtige Skizze zwar,
aber des Künstlers nicht unwerth, dem wir das hochvollendetste und lebendigst
gefärbte Gemälde des englischen Hofes aus den Tagen, in denen der englische
Hof am muntersten war, verdanken. Er klagt, daß das Dasein eine Runde
religiöser Uebungen wäre, daß eS, um im Frieden zu leben, nothwendig wäre,
den halben Tag in Andacht oder in dem äußern Scheine der Andacht zu ver¬
bringen: daß, wenn er seine Schwermuth durch Einarhmcn der frischen Luft
jener herrlichen Terrasse, die auf das Thal der Seine herabblickt, zu verscheu¬
che» versuchte, er durch das Geschrei eines Jesuiten vertrieben wurde, der
nnige protestantische Loyale aus England gefaßt hatte und ihnen bewies, daß
kein Ketzer in den Himmel kommen könne. In der Regel, sagte Hamilton,
haben Menschen, die unter einem gemeinsamen Unglück leiden, ein starkes
Gemeingefühl und sind geneigt, einander gute Dienste zu leisten. Zu Se. Ger-
mains war dem nicht so. Da war alles Uneinigkeit, Eifersucht, Bitterkeit des
Geistes. Feindseligkeit verbarg sich unter dem Schein der Freundschaft und
des Mitleids. Alle die Heiligen des königlichen Hofstaates beteten fürein¬
ander und verleumdeten einander von früh bis Abends. Hier und da mochte
>n dem Gedränge der- Heuchler ein zur Verstellung zu hochgesinnter Mann be¬
merkt werden. Aber ein solcher Mann, wie vortheilhaft er sich auch anderwärts
dkr schönsten Soldaten in Europa bestehende Ehrenwache. Wenn er sich an
bekannt gemacht haben mochte, war gewiß, von den Insassen jenes düstern
Aufenthalts mit Geringschätzung behandelt zu werden.
So war der Hos Jacobs nach der Schilderung eines Römisch-Katholischen.
Gleichwol, wie unangenehm jener Hof für einen Römisch-Katholischen gewesen
sein mag, für einen Protestanten war er unendlich unangenehmer. Denn der
Protestant hatte, als Zugabe zu der ganzen Düsterheit, über die der römische
Katholik klagte, einen Haufen von Kränkungen zu erdulden, von denen der
römische Katholik frei war. Bei jeder Mitbewerbung zwischen einem Pro¬
testanten und einem Römisch-Katholischen wurde der Römisch-Katholische vor¬
gezogen. Bei jedem Streite zwischen einem Protestanten und einem Nömisch-
Katholischen wurde vorausgesetzt, daß der Römisch-Katholische Recht habe.
Während der ehrgeizige Protestant sich umsonst nach Beförderung umsah, wäh¬
rend der genußsüchtige Protestant sich umsonst nach Vergnügen umsah, sah
sich der ernste Protestant umsonst nach geistlicher Belehrung und Tröstung um.
Jacob hätte ohne Zweifel mit Leichtigkeit für jene Mitglieder der englischen
Kirche, welche um seiner Sache willen alles geopfert hatten, Erlaubniß er¬
langen können, in der Stille in irgend einem bescheidenen Betzimmer zusammen¬
zukommen und das Brot und den Wein des heiligen Abendmahls aus den
Händen eines von ihrem eignen Klerus zu empfangen; aber er wünschte nicht,
daß seine Residenz durch solche gottlosen Riten befleckt würde. Or. Dennis
Granville, der lieber die reichste Dechanei, das reichste Archidiakonat und eine
der reichsten Pfründen in England aufgegeben, als die Eide geleistet hatte, gab
tödtlichen Anstoß, indem er um Erlaubniß bat, den. Verbannten von seiner
eignen Gemeinschaft Gebete vorzulesen. Gein Gesuch wurde abgeschlagen und
er wurde von den Kaplanen seines Herrn und ihren Anhängern so gröblich
insultirt, daß er Zenölhigt war, Se. Germains zu verlassen. Damit nicht
irgend ein andrer anglikanischer Lehrer ebenso belästigend sein möge, schrieb
Jacob, seine Agenten in England zu benachrichtigen, daß er wünschte, es
möchte kein protestantischer Theolog zu ihm kommen. In der That auf den
eidweigernden Klerus wurde in seinem'Palaste mindestens ebensoviel gestichelt
und geschmäht, wie in dem seines Neffen. Wenn irgend jemand einen An¬
spruch hatte, zu Se. Germains mit Achtung erwähnt zu werden, so war es
sicherlich Sancroft. Gleichwol hieß es, daß die Frömmler, die dort beisammen
waren, von ihm nie anVers als mit Abneigung und Widerwillen spräche»-
Das Opfer der ersten Stelle in der Kirche, der ersten Stelle in der Peerschast,
des Palastes zu Lambeth und des Palastes zu Croydon, eines ungeheueren
Patronats und eines Einkommens von mehr als 5000 des Jahres wurde nur
für eine dürftige Sühne des großen Verbrechens gehalten, eine bescheidene
Vorstellung gegen die verfassungswidrige Jndulgenzerklärung gethan zu haben-
Es wurde erklärt, daß Sancroft grade ein solcher Verräther und grade ein
solcher Reuiger wäre, wie Judas Ischarioth. Der alte Heuchler hätte, ward
gesagt, während er Ehrfurcht und Liebe für seinen Herrn affectirt hätte, den
Feinden seines Herrn das verhängnißvolle Zeichen gegeben. Wie das Unheil
geschehen und nicht wieder gutzumachen gewesen sei, hätte sein Gewissen an-'
gefangen, ihn zu quälen. Er hätte, wie sein Urbild, sich getadelt und geweh¬
klagt. Er hätte, wie sein Urbild, seinen Reichthum denen vor die Füße ge¬
worfen, deren Werkzeug er gewesen sei. Das Beste, was er jetzt thun könnte,
wäre, die Vergleichung vollständig zu machen, indem er sich hängte.
Jacob scheint geglaubt zu haben, der stärkste Beweis von Güte, den er
Ketzern, die um seinetwillen Vermögen, Vaterland, Familie aufgegeben, gewäh¬
ren könnte, wäre, sie auf ihren Sterbebetten von seinen Priestern belagern zu
lassen. Wenn irgend ein kranker Mann, hilflos an Körper und Geist und
betäubt von dem Geklingel schlechter Logik und schlechter Rhetorik, sich eine Hostie
in den Mund stecken ließ, so wurde dem Hofe triumphirend ein großes Werk
der Gnade verkündigt und der Neubekehrte wurde mit dem ganzen Pompe der
Religion begraben. Wenn aber ein Royalist von dem höchsten Range und
dem fleckenlosesten Charakter unter Behauptung fester Anhänglichkeit an die
Kirche von England starb, so wurde ein Loch in den Feldern gegraben und
in tiefer Nacht wurde er hineingeworfen und wie ein Stück Aas zugedeckt. So
war die Todtenfeier des Earl von Dunfermline, der dem Hause Stuart mit
Gefahr seines Lebens und zum gänzlichen Ruin seines Vermögens gedient, der
bei Killiecrankie gefochten und der, nach dem Siege, die noch athmenden Reste
Dundees von der Erde gehoben hatte. Bei Lebzeit war er schmachvoll behan¬
delt worden. Die schottischen Offiziere, welche lange unter ihm gedient, hatten
umsonst gebeten, daß, wenn sie zu einer Compagnie formirt würden, er ferner
ihr Befehlshaber sein möge. Seine Religion war für einen leidigen Unfähig¬
keitsgrund erachtet worden. Ein werthloser Abenteurer, dessen einzige Empfeh¬
lung es war, daß er ein Papist war, wurde vorgezogen. Dunfermline fuhr
eine kurze Zeit lang fort, sich in dem Cirkel zu zeigen, der den Fürsten umgab,
dem er nur zu gut gedient hatte; aber es führte zu nichts. Die Frömmler,
die den Hof beherrschten, verweigerten dem ruinirten und seines Vaterlandes
verlustigen Lord die Mittel des Unterhalts; er starb an gebrochnem Herzen
und sie verweigerten ihm selbst ein Grab.--
Die Fehler von Jacobs Kopf und Herzen waren unheilbar. Nach seiner
Ansicht konnte zwischen ihm und seinen Unterthanen keine Gegenseitigkeit der
Verpflichtung bestehen. Ihre Pflicht war, Eigenthum, Freiheit, Leben zu
^^gen, um ihn wieder auf den Thron zu setzen und dann geduldig zu tragen,
!v"S er ihnen anzuthun beliebe. Sie konnten vor ihm so wenig Anspruch auf
Verdienst machen, als vor Gott. Wenn sie alles gethan hatten, so waren sie
ünmer noch unnütze Knechte. Das höchste Lob, das dem Royalisten zukam, der
sein Blut auf dem Schlachtfelde öder auf dem Schaffte für erbliche Monarchie
vergoß, war einfach, daß er kein Verräther sei. Nach all der strengen Schule,' die
der entsetzte König durchgemacht hatte, war er noch ebenso geneigt, die englische
Kirche zu plündern und zu erniedrigen, wie an dem Tage, wo er den knienden Kol¬
legialen von Magdalene gesagt hatte, sie sollten ihm aus den Augen gehen, oder
an dem Tage, wo er die Bischöfe in den Tower schickte. Er pflegte zu erklären,
daß er lieber ohne England wiederzusehen, sterben, als sich herablassen würde,
mit denen zu capituliren, denen er zu befehlen hätte. In der Deklaration vom
April 1692 erscheint der ganze Mensch ohne Verhüllung, voll von seinen ein¬
gebildeten Rechten, unfähig zu begreifen, wie irgend jemand außer ihm irgend
welche Rechte haben könne, beschränkt, halsstarrig und grausam. Ein andrer
Aufsatz, den er in derselben Zeit entwarf, zeigte, womöglich noch klarer, wie
wenig er durch eine scharfe Erfahrung gewonnen hatte. In diesem Aufsatze legte
er den Plan dar, nach welchem er zu regieren beabsichtige, wenn er wieder ein¬
gesetzt werden sollte. Er stellte als Regel auf, daß ein Commissär des Schatzes,
einer 'der zwei Staatssecretäre, der Knegssecretär, die Mehrzahl der Hofbeamten
des Hofstaats, die Mehrzahl der Kammerherren, die Mehrzahl der Armeeoffi¬
ziere stets römische Katholiken sein sollten.
Die Beschreibung ist nicht ohne die entsprechenden Parallelen aus der
neuern Zeit. Mehr und mehr sängt man auch in den bisherigen legitimistischen
Kreisen an, das Princip der abstracten Legitimität aufzugeben, in der Erkennt¬
niß, daß die Geschichte an abgestorbenen Formen sich nicht entwickeln kann.
Der Bruch mit den Prinzipien des Landrechts und das Endziel der
«von dem Geheimen Justiz- und Oberconsi'stvrialrath Professor IN'. Stahl
verkündeten sittlichen und religiösen Reaction in der E h e sche it un g ssrage.
Zur Ehrenrettung des Landrechts dargelegt aus den Verhandlungen der ersten
Kammer. Breslau, Kern. —
Wenn wir die Bemühungen der reactionären Partei, die Scheidungsgründe
zu erschweren, Bemühungen, die in Preußen schon seit Savignys Zeit un¬
unterbrochen sortgesetzt werden, bis zu ihrem Princip verfolgen, so wird sich
ergeben, daß sie die Ehe als ein inisschließlich kirchliches Institut betrachtet,
während das Landrecht den doppelten Charakter derselben, den bürgerlichen und
den kirchlichen, anerkennt, seinerseits aber, wie eS in der Natur der Sache liegt,
nur auf den ersteren Rücksicht nimmt.
Die Partei nennt sich gern die historische Schule; sie ist aber dies Mal,
wie in den meisten andern Fällen, so unhistorisch als möglich.
Einmal hat das deutsche Volk, lange ehe es zum Christenthum bekehrt
wurde, die Ehe gekannt, es hat sie im Wesentlichen in derselben Weise auf¬
gefaßt, wie wir sie auffassen.
Sodann wird es schwierig sein, das Eherecht z. B. deS preußischen
Staats aus kirchlichen Principien herzuleiten, da die staatsrechtlich aner¬
kannten Kirchen nicht etwa blos in Nebendingen, sondern im Grundprincip
voneinander abweichen.
Betrachten wir zunächst die gesetzlich anerkannten Confessionen im preußischen
Staat. Bis zu den letzten Decennien bestanden zwei gleichberechtigte Kirchen,
die evangelisch-unirte und die römisch-katholische. Daneben eristirten noch nicht
unirte reformirte Gemeinden, namentlich die französischen. Bei der Thron¬
besteigung des jetzt regierenden Königs wurde den nicht ünirten Lutheranern,
und zwar mit vollem' Recht, gleichfalls die Anerkennung des Staats zu Theil.
Als man die Zügel der sogenannten Landeskirche, d. h. der unirt-evangelischen,
straffer anzog, entschädigte man diejenigen Prediger und diejenigen Gemeinden,
welche sich mit den bestehenden Vorschriften der Landeskirche in ihrem Gewissen
nicht einverstanden erklären konnten, durch die Berechtigung, sich zu eignen Ge¬
meinden abzusondern. Es gingen daraus zunächst die sogenannten Deutsch¬
katholiken hervor, dann die sogenannten Freien Gemeinden, die zwar vom
Staat vielfach beunruhigt wurden, aber auf alle Fälle noch sorteristiren. Von
anderweitigen Sekten, den Jrvingianern, Gichteliancrn u. s. w., haben wir
keine nähere Kunde, doch sind als constituirte und organisirte Gemeinden noch
die Herrnhuter und Mennoniten in Betracht zu ziehen. — Zu diesen ver¬
schiedenen Confessionen und Sekten sind neuerdings noch zwei andere gekommen.
Zur allgemeinen Ueberraschung ist nämlich von Seiten des Kirchenregiments
ausgesprochen und so weit als thunlich durchgeführt worden, daß die Union
nicht als eine Verschmelzung, sondern nur als eine Befreundung betrachtet
werden solle. Die evangelisch-unirte preußische Landeskirche zerfällt demnach
gegenwärtig in drei Abtheilungen: 1) in die unirt-lutherische, 2) in die unirt-
reformirte, 3) in die unirte ohne weitern Zusatz. Dazu kommen dann als
anerkannte Confessionen 6) die nicht unirte lutherische, S) die nicht unirte re¬
formirte; außerdem die vorhin erwähnten Sekten, inclusive der geduldeten Licht¬
freunde und Deutschkatholiken. Endlich sind noch die Juden in Erwägung zu
Ziehn. Man hat zwar über den Grad der Emancipation, der denselben zu
Theil werden soll, verschiedene Ansichten, aber darüber sind doch wenigstens
alle einig, daß sie das Recht haben, sich untereinander zu verheirathen. — Nach
der neuesten Theorie würden sich also die Verhältnisse in Bezug auf das Ehe-
recht folgendermaßen gestalten.
Das Recht, zu trauen, haben die Geistlichen der römisch-katholischen, der
uuirt-lutherischen, der unirt-reformirten,, der unirten Konfession im Allgemeinen;
ferner die Geistlichen der nichtunirten lutherischen und der nichtunirten refor-
mirten Confession, der Herrnhuter und Mennoniten, endlich die jüdischen
Rabbiner. Wie es mit den Engeln und Viceengeln der Jrvingianer beschaffen
sein soll, ist uns nicht bekannt. Den Geistlichen der Lichtfreunde und Deutsch¬
katholiken soll nach der strengen Theorie das Recht der Trauung versagt sein.
Nach derselben Theorie darf der Staat dem Gewissen der einzelnen Geist¬
lichen keinen Zwang anthun. Der Geistliche, der eine neue Ehe zu sanctioniren
mit seinem Gewissen nicht für vereinbar hielt, konnte dazu nicht gezwungen
werden. So weit ging man bis noch vor wenigen Jahren, man erkannte das
individuelle Gewissen der Geistlichen als letzte Instanz an.
Jetzt ist man weiter gegangen; zwar nicht dem Staat, wol aber dem
Kirchenregiment räumt man allerdings einen Zwang auf das individuelle Ge¬
wissen ein; man verwehrt den Geistlichen, seinem individuellen Gewissen ge¬
mäß eine neue Ehe zu sanctioniren, sobald diese mit den allgemeinen kirchlichen
Principien unvereinbar ist.
Welches sind nun die allgemeinen kirchlichen Principien? Die Frage ist
nicht müßig, denn wenn auch die Neulutheraner sich den Katholiken so viel
als möglich nähern, so bleibt doch zwischen ihnen ein himmelweiter Unterschied
bestehen. Erstens ist die Ehe bei den Katholiken ein Sacrament, bei den Pro¬
testanten nicht. Man mag von Seiten der Neulutheraner den annäherungs-
weise sacramentalen Charakter des Instituts so scharf hervorheben, man mag
die Scheidungsgründe so sehr erschweren, als man will, immer fehlt der pro¬
testantischen Ehe das Kriterium des Sacraments, die Jndelibilität. Auch die
neuesten neulutherischen Anträge lassen die wirkliche Scheidung (mithin das
Recht, eine neue Ehe einzugehen) auf Grund des Ehebruchs gelten. Zweitens
geht das katholische Kirchenrecht von andern Bedingungen einer wirklichen Ehe
aus, als das protestantische. Nach dem katholischen Kirchenrecht sind viele
Ehen wegen verbotener Verwandtschaftsgrade und dergl. null und nichtig, deren
Giltigkeit nach lutherischem Kirchenrecht außer Frage steht. Es wird daher un¬
möglich sein, aus zwei in der Hauptsache einander widersprechenden Systemen,
ganz abgesehen von den noch weiter abweichenden Normen der übrigen Sekten,
ein gemeinsames Recht herzuleiten. Nun wird zunächst kein Prediger einer
der anerkannten Confessionen ein Paar einsegnen noch einsegnen dürfen, welches
nicht zu seiner Kirche gehört. Ob es zu seiner Kirche gehört, ist wieder nicht
landrechtlich, sondern kirchenrechtlich festzustellen. Mit dem Gewissen manches
Geistlichen wird es unvereinbar sein, jemand zu seiner Kirche zu rechnen, der
im Lauf einer bestimmten Zeit nicht das Abendmahl genommen hat, und das
Kirchenregiment wird voraussichtlich dieses Gewissen bestätigen. Kein katholischer
Geistlicher darf eine gemischte Ehe einsegnen, in der sich nicht das Ehepaar-
verpflichtet, alle Kinder katholisch erziehen zu lassen. Dem protestantischen
Geistlichen werden bald ähnliche Verfügungen auferlegt werden. — Bei allen
diesen Verhältnissen befindet sich noch die katholische Kirche am besten, denn
sie hat ein einfaches handgreifliches Recht, über das man nicht in Zweifel sein
kann. Dagegen walten in der protestantischen Kirche abweichende Ansichten
ob, und zuletzt wird man hier, man möge uns diese triviale Redensart ver¬
zeihen, nicht wissen, wer Koch, wer Kellner ist.
Nun gleichen sich zwar solche Uebelstände in der Praxis stets einigermaßen
aus, und wenn es sich um einen bestehenden Rechtszustand handelte, so würde
sich das noch ertragen lassen; aber es handelt sich um die Einführung eines
neuen, den bisherigen protestantischen Sitten und Gewohnheiten widersprechen¬
den Rechtszustanrcs, und da wird wol eine sorgfältige Ueberlegung nothwendig
sein, ehe man sich freiwillig die Hände binden läßt. Das Landrecht hat zwar
nicht die entscheidende principielle Lösung gefunden, welche der Kirche und
dem Staat gleichmäßig zu ihrem Rechte verhilft, nämlich die Civilehe, aber sie
ist doch von allen denkbaren Provisorien das erträglichste und zweckmäßigste.
Wenden wir uns nun zu der ernsthaftesten Seite des Eherechts, zu der Schei¬
dungsfrage, so treten wir hier in Beziehungen ein, die nicht den Charakter der
größern oder geringern Opportunist haben, sondern die tief in den innersten
Kern deS sittlichen Lebens eingreifen.
- In dieser Beziehung spricht der Verfasser der vorliegenden Broschüre ein
sehr ernstes, aber durchaus richtiges Wort: das Unsittliche der Stahlschen
Theorie liegt darin, daß nach ihr auch die tiefste sittliche Zerrüttung deS ehe¬
lichn, Lebens kein Scheidungsgrund ist, sondern nur die Verletzung des ehe¬
lichen.Verhältnisses „nach seiner Naturseite," d. h. der fleischliche Ehebruch und
die räumliche Absonderung durch bösliche Verlassung.
Mit welcher Folgerichtigkeit dieses falsche Princip durchgeführt ist, erkennt
man, wenn man die Scheidungsgründe erwägt, die nach dem Antrag der hoch¬
kirchlichen Partei aus dem Landrecht getilgt werden sollen. Das Landrecht
gestattet die Scheidung auf Grund des Wahnsinns. Der Abgeordnete Stahl,
sowie der Minister der geistlichen Angelegenheiten stellen dagegen auf, daß der
Wahnsinn die Liebe der Eltern zu den Kindern nicht tilgt, also auch nicht die
eheliche Liebe. Hier sind zwei Beziehungen miteinander verwechselt, die ein¬
ander ganz fern liegen. Das Band deS Bluts hört nie auf, die Ehe dagegen
ist etwas Gewordenes, welches daher von den endlichen Zuständen abhängig
bleibt. Am schönsten und edelsten wird es freilich sein) wenn die Treue auch da
fortdauert, wo keine Beziehung des Geistes mehr stattfindet. Aber das Gesetz
'se nicht dazu da, schöne und edle Gefühle zu firiren, sie zur Pflicht zu machen.
Durch den Wahnsinn ist factisch das geistige Band gelöst, es muß daher auch
die gesetzliche Lösung möglich gemacht werden. — Aber noch charakteristischer
sind die andern Bestimmungen. Das Landrecht gestattet die Scheidung wegen
eines unversöhnlichen und aus erheblichen Gründen entstandenen Hasses. Um
richterliche Willkür abzuschneiden, specialisirt es diese Gründe. Die hochkirch¬
liche Partei macht dagegen die Einwendung, daß so etwas nur selten objectiv
constatirt werden könne. Ein wunderlicher Einwand, denn die Scheidung er¬
folgt ja nur, wenn die Thatsache allerdings constatirt werden kann. Andauernde,
das ganze Leben zerrüttende Trunksucht hört auf, ein Grund der Scheidung
zu sein; ja was man als den Gipfel der Paradorie betrachten kann, das Gesetz
soll dem einen Theil auch in dem Fall die Scheidung versagen, wenn der an¬
dere ein schimpfliches Gewerbe ergreift. — Um also in der sogenannten Doctrin
consequent zu bleiben, wird nicht blos das Lebensglück, sondern auch die Sitt¬
lichkeit der Individuen aufgeopfert.
Alle diese Bestimmungen sind so erstaunlich, daß man sie sich nur aus der
Hitze erklärt, mit welcher die moderne lutherische Orthodoxie alle Brocken zu¬
sammensucht, aus denen sie hofft, ein Surrogat jener Autorität herstellen zu
können, die sie bei der katholischen Kirche so sehr beneidet. Die katholische
Kirche hat in der absoluten Autorität des Papstes und in der Tradition jene un¬
umstößliche Sicherheit, die man bei uns aus der Zusammenstellung einzelner,
aus dem Zusammenhang gerissener Bibelstellen nicht wird herstellen können.
In dem katholischen Frankreich gilt noch der Code Napoleon, das liberalste
unter allen Gesetzbüchern in Bezug auf die Ehescheidung, welches doch der
Autorität der Kirche nicht den geringsten Eintrag thut, denn es trennt die bür¬
gerliche Ehe von der kirchlichen. Sobald man auch bei uns die bürgerliche
Ehe eingeführt haben wird, möge man die Bestimmungen des Kirchenrechts so
straff anziehen, als man will, sie werden die freie Entwicklung der menschlichen
Beziehungen nicht beeinträchtigen.
Gewiß ist der Leichtsinn, mit dem so häufig die Ehen geschlossen werden,
und der dann zu dem Wunsch einer Trennung führt, ein höchst sträflicher;
gewiß ist die Neigung der neuern Zeit, das Gefühl über die Pflicht hinaus¬
zusetzen, verwerflich. Die Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft ist die Fa¬
milie und je leichtsinniger man das Recht derselben behandelt, desto schwanken¬
der wird das Fundament des Staats. Aber das Gesetz muß die Thatsachen
anerkennen. Es gibt leider Ehen, deren Fortdauer nicht blos namenloses
Elend über die Betheiligten bringt, sondern sie sittlich vernichtet. Das Gesetz
muß die Möglichkeit geben, diese Ehen zu lösen, und es muß der Sitte über¬
lassen, den Mißbrauch dieses Rechts zu hintertreiben. Wenn die öffentliche
Meinung so weit kommt, in jeder Scheidung einen Makel für die Betheiligten
zu erblicken, so wird das gedeihlicher für die Heiligkeit der Ehe sein, als der
Eingriff des Gesetzes. Es wird bei uns zu viel regiert und niemand ist eifri¬
ger in der Kodifikation, als die doctrinären Feinde der Codification, den be¬
rühmten Verfasser des Buchs über den Beruf unsrer Zeit zur Gesetzgebung an
der Spitze. Hat doch neuerdings ein Anhänger dieser Theorie den Antrag
gestellt, die Ehe überhaupt von der obrigkeitlichen Erlaubniß abhängig zu
machen. So lange noch diese büreaukratische Voraussetzung, daß der Staat
immer besser wissen müsse, was dem Einzelnen frommt, als der Einzelne selbst,
in den Köpfen unsrer Gesetzgeber spukt, wird der sogenannte organische Natur¬
wuchs des Staats, den die sogenannte historische Schule zu vertreten behauptet,
eine leere Chimäre bleiben.
Graf Esser. Trauerspiel in fünf Acten von Heinrich Laube,
als Manuscript gedruckt. — Wir wollen das Drama, welches jetzt fast überall
durch die Aufführung bekannt ist, nicht ausführlich besprechen. Der Dichter
hat auch dies Mal wieder sein Verständniß der theatralischen Mittel auf eine
glänzende Weise bethätigt; er hat auch dies Mal wieder darin fehlgegriffen,
daß er mit diesen Mitteln einen zu großen Aufwand treibt. Namentlich zeigt
sich das im letzten Act, wo die eigentliche Spannung vorüber ist und die
pathologische Entwicklung der tödtlich verletzten Gemüther beginnt. Die zweite
Auflage der Ophelia hätte sich der Dichter wol ersparen mögen. In der un¬
endlichen Reihe von Dramen, welche diesen wunderlichen Stoff behandeln, be¬
hauptet das laubesche einen ehrenvollen Platz. Wir können uns zwar nicht
rühmen, alle diese Versuche gelesen zu haben, aber doch einen ziemlich großen
Theil (noch neuerdings außer dem werlherschen Concurrenzstück das Drama
eines jungen Dichters , Lohmann). Wir nennen den Stoff wunderlich, weil
»ach unsrer Ueberzeugung eine verliebte alte Frau, mag es auch die Königin
Elisabeth sein, höchstens ins Lustspiel gehört, denn als tragisches Motiv be¬
nutzt macht sich die Unnatur der Situation auf eine' beleidigende Weise geltend.
Zudem kommt für unsern neuern Dichter noch die Schwierigkeit einer Concur-
renz mit Schiller. Schiller hat sehr weise das Alter der Königin ziemlich un¬
bestimmt gelassen; einem Dichter des Esser dagegen ist das nicht möglich, denn
in diesem Punkt würde ihn jeder Schüler corrigiren. — Wir wollen das Drama
vorzugsweise dazu benutzen, nachträglich auf eine große literarische Fehde ein--
zugehen, die wir bisher ignorirt haben, weil sie uns gar zu abgeschmackt vor¬
kam. Laube selbst hatte in der Bachert-Werther-Frage den Fehler gemacht, eine
literarische Deduction zu geben, wo man eine einfache amtliche Erklärung er¬
wartet hat; aber die Deduction an sich war vollkommen richtig. Die Jagd
Nach Plagiaten und Reminiscenzen geht im Theater wie in der Musik haupt¬
sächlich von solchen aus, die in der einschlagenden Literatur sehr wenig be-
wandert sind, und denen daher bei zwei Dichtern, deren Bekanntschaft sie zu¬
fällig machen, eine Ähnlichkeit auffällt, die vielleicht die gemeinsame Eigenschaft
von hundert Dichtern ist. Was den Esser betrifft, so sind alle Combinationen
dieses Stoffs bereits so vollständig erschöpft, daß, wer etwas ganz Neues geben
wollte, gradezu Unsinn geben müßte. Laube hat uns über die Genesis seines
Stücks vollkommen richtig aufgeklärt. Er hat frühere Behandlungen des
Stoffs zunächst vom Standpunkt eines Theaterdirectorö betrachtet, es sind ihm
erhebliche Verstöße gegen das Gesetz des Dramas und des Theaters darin auf¬
gestoßen, und da er zugleich dramatischer Dichter ist, so hat sich in seinem
Gemüth die ganze Fabel auf eine neue Weise krystallisirt, und er ist an eine
neue Bearbeitung gegangen. Aus dieser Methode wird zwar selten ein Drama
ersten Ranges hervorgehen, aber sie ist vollkommen berechtigt. Shakespeare hat
es- häufig nicht anders gemacht, und wie Goethe und Schiller, darüber dachten,
kann man in den dramaturgischen Blättern des erstern nachlesen. Es kommt
nur darauf an, daß der Dichter die vorgefundenen Motive nicht mosaikartig
zusammenklebe, sondern sie organisch durcharbeitet, und das ist sowol im Esser
als im Fechter von Ravenna geschehen. Wer den Fechter von Ravenna auf¬
merksam anhörte, konnte an dem Dichter nicht zweifeln, wie wir denn auch
augenblicklich ausgesprochen haben, kein anderer als Halm könne der Verfasser
sein. Ebenso ist es mit dem Esser. Laube hat einen sehr prononcirten Stil,
eine sehr deutlich zu unterscheidende Methode der Scenirung und Charakteristik,
und diese wird man hier auf jeder Seite herauserkennen. Das Drama ge¬
hört ihm ganz und gar an, so wie der Fechter von Ravenna ganz Halm an¬
gehört, und wenn beide Dichter durch eine frühere Lectüre, die sie nachher ganz
vergessen haben, wirklich zu einzelnen Motiven angeregt sind, so will daS um
so weniger sagen, da sie auch in diesem Fall jene Stücke unendlich verbessert
haben und da die Motive mit Nothwendigkeit in ihren Zusammenhang ge¬
hören. Aber es ist auch sehr möglich, daß das gar nicht geschehen ist. Der
Zufall spielt darin häufig eine ganz sonderbare Rolle, oder vielmehr die Bil¬
dung, der Geschmack und die Neigung einer Zeit prägt sich in den verschiedenen
Individuen, wenn nicht ganz besonoere Umstände dazwischen treten, so gleich¬
mäßig aus, daß der nämliche Stoff auch die nämlichen Erfindungen nach sich
zieht. — Bei der unerträglichen Dürre unsres jetzigen Theaters wäre sehr die
Frage/ ob man nicht den Plan Goethes und Schillers wieder aufnehmen
sollte, alte vergessene Stücke durch sreie zeitgemäße Bearbeitung wieder auf das
Repertoir zu bringen. Mit Stücken, die zur Zeit der Tantieme geschrieben sind,
geht das freilich nicht, und Dichter, die einen mit Recht oder Unrecht gefeierten
Namen haben, würden sich dergleichen auch verbitten; aber die Manen todter
oder vergessener Poeten hätten doch kein Recht zur Empörung. So sind z. B. >n
den kotzebueschen Lustspielen eine Reihe vortrefflicher, namentlich höchst wirt-
sauer Motive, dagegen ist die Gemeinheit zuweilen unerträglich, und die Form
und der Stoff oft auch in anderer Beziehung veraltet. ES ist gar kein Grund
vorhanden, warum man dergleichen nicht in einer geschickten Metamorphose
wieder auf die Bühne bringen sollte; und grade Männer wie Laube, welche
das Handwerk wie die Kunst verstehn, wären dazu am besten geeignet. Frei¬
lich ist eine Zeit der raschen lebendigen Production vorzuziehen; aber man
kann sich doch kaum mehr darüber täuschen, daß unsre Zeit nicht eine solche
ist. Schlecht gerechnet neun Zehntel aller gedruckten Dramen sterben vor der
Geburt d. h. sie werden weder gespielt noch gelesen, und von den übrigen hat
wiederum bei weitem die größere Hälfte einen nur momentanen oder localen
Erfolg. Der Trieb zur Production ist seit Ende der dreißiger Jahre ungeheuer
groß, das Talent ist aber nicht in gleichem Maße gewachsen, und man
darf daher eine Beeinträchtigung desselben durch Wiederaufnahme deS Alten
nicht befürchten. — Wir wollen noch auf ein verwandtes Gebiet, hindeuten,
auf die Jnscenesetzung beliebter Romane, wie es namentlich Frau Birch-
Pseiffer fast fabrikmäßig betreibt. Kunstwerke im ernstern Sinn werden freilich
nicht daraus hervorgehen, und man kann es einem ernsten Dichter wie Auer-
bach nicht verdenken, wenn er sich über die Verstümmelung eines Stoffs, den er mit
so vieler Liebe bearbeitet, ereifert. Wenn wir aber fragen, ob der Kunst oder dem
Dichter ein Nachtheil daraus geschieht, so möchte die Antwort doch wol verneinend
ausfallen. Es ist doch immer besser, so allerliebste Scenen, wie sie in Dorf und Stadt
vorkommen, auch wenn ein abgeschmackter Schluß daran geklebt ist, auf dem Thea¬
ter zu sehen, als Originalerfindungen ohne Sinn und Verstand, und der Verleger
der Frau Professorin wird wahrhaftig auch keinen Schaden davon gehabt haben,
daß jeder deutsche Jüngling und jede deutsche Jungfrau das Lorle und den Wa¬
deleswirth auf dem Theater hat schwäbeln hören und auf ihre nähere Bekanntschaft
neugierig war. — Es wurde damals von Gutzkow darauf aufmerksam gemacht,
daß es doch unbillig sei, wenn Frau Birch-Pfeiffer aus dem Geist und Talent
eines Andern Geldgewinn zöge. Allein dieser Gesichtspunkt kann doch nicht
maßgebend sein, denn es ist zwar sehr wünschenswert!), daß die Dichter für
ihr Talent und ihre Arbeit auch den äußern Lohn empfangen, aber einmal
können sie sich im Ganzen jetzt nicht darüber beklagen, (ein gut einschlagendes
Theaterstück bringt zwei- bis dreitausend Thaler ein, während Lobecks Aglao-
phamus mit fünf Thalern der Bogen bezahlt wurde und bei den meisten
Torlchungen die Philologen froh sind, wenn der Buchhändler ihre Werke um¬
sonst verlegt); andrerseits lassen sich geistige Producte doch nicht geradezu nach
dein industriellen Maßstab verwerthen. Wendet man einmal diesen Gesichts¬
punkt an, so muß man auch sagen: Waare ist Waare. Auch in der Industrie
wird nicht immer die Tüchtigkeit und Solidität, sondern ebenso häufig die
Mode bezahlt. Es gibt in dieser Beziehung keinen objectiven Werthmesser,
denn das Endurtheil der Nachwelt kann der Dichter nicht abwarten. Bezahlt
wird, was gefällt, ^und die Gesetzgebung hat wenigstens in Bezug aus das
Theater jetzt dafür gesorgt, daß wirklich bezahlt wird. Der Grund des Ge¬
fallens ist oft ein zufälliger, mit der Zeit aber corrigirt sich daS. Aber immer
noch wärmt man den Mythus von dem verhungernden Schiller auf, während
man doch aus seinen Briefen nachlesen kann, daß er nach blos sechs Jahren
erfolgreicher Wirksamkeit und einem sehr bequemen Leben schon ernsthaft anfing
für die Familie zurückzulegen. Wir wollen hier von dem Vergleich der In¬
dustrie ganz absehen, weil hier nicht blos der Verstand, sondern auch das
Capital arbeitet. Man vergleiche aber einmal die Lage der höheren Beamten
(die höchsten Spitzen ausgenommen), die doch wahrhaftig auch einer geistigen
Ausbildung bedürfen und geistig arbeiten, mit der Lage unsrer Schriftsteller,
und man wird finden, daß die letztere unverhältnißmäßig besser ist. — Wenn
man die höchsten Spitzen vergleichen will, so nehme man z. B. das erste Jahr
der konstitutionellen Zeitung in Berlin, welches dem Redacteur in der Theorie
3000, in der Wirklichkeit -18,000 Thlr. einbrachte. — Freilich sind unsre Schrift¬
steller noch nicht in der Lage der beliebten französischen, die bei einer durch¬
schnittlichen Jahreseinnahme von 100,000 Franken fortwährend darüber klagen,
daß sie Hungers sterben müssen. Indeß, wenn wir so weit gekommen sind,
wird es sehr die Frage sein, ob es dann besser mit uns steht. — Man ver¬
zeihe diese Digression, die freilich nicht unmittelbar zum Gegenstande gehört.
Es war nothwendig, einmal diese Frage zu berühren.
Die neue Welt. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen, mit
einem Vorspiel: Goethes Ankunft in Walhalla. Von Arnold
Rüge. Leipzig, Brockhaus. — Wir waren nicht wenig verwundert, unsern
alten Freund in dem neuen Gewände wieder anzutreffen, Saul unter den
Propheten! — Rüge sagt in der Vorrede, Varnhagen habe gegen d^'e Tendenz
allerlei einzuwenden gehabt: „Uebrigens ist er mit der Form der Ausführung
so sehr zufrieden, daß er-sich dadurch an Goethes Tasso erinnert findet, was
in der That in Varnhagens Munde sehr viel sagen will und überhaupt sehr
viel gesagt ist." — Wir können uns dem Urtheil Varnhagens nicht anschließen.
Mit der Tendenz, daß eine sogenannte geniale Lebensauffassung, die sich den
sittlichen Gesetzen entzieht, verwerflich ist und unter Umständen zu tragischen
Conflicten führt, sind wir vollkommen einverstanden; in der Ausführung da¬
gegen werden wir nicht an Goethes Tasso, sondern an den alten Redacteur
der Jahrbücher erinnert, der, sehr geschickt in der Dialektik, vollkommen un¬
behilflich war, wenn es an die Gestaltung ging. Seine Charaktere sind
wesenlose Tendenzfiguren, und nebenbei ist die Tendenz eine sehr unklare.
Das Stück, obgleich, es in der Februarrevolution spielt, setzt eine Zeit voraus,
in welcher die äußern Bande der Ehe wegfallen, so daß die Treue durch
sittliche Freiheit ersetzt wird. Die Personen, an welchen dieses Institut der
Zukunft dargestellt wird, sind aber sammt und sonders in ihren innern Em¬
pfindungen so haltlos und dabei von so kleinstädtischen Perspektiven eingeengt,
daß man ihnen nur den Rath geben kann, es bei der alten christlichen Ehe
bewenden zu lassen, und da ihnen der subjective Halt der Pflicht fehlt, mit
dem objectiven vorlieb zu nehmen. — Rüge ist eigentlich nur durch einen
Zufall in die Reihe der Revolutionärs geworfen worden, und wenn er in
seinen Phantasien auch in Bezug auf die Liebe zuweilen über die Schnur
haut, so ist er doch im innersten Kern eine echt bürgerliche Natur, die sich in
den beschränkten Verhältnissen des Herkommens am glücklichsten würde gefühlt
haben. Vielleicht führt ihn seine allmälige Entwicklung auch noch auf diesen
richtigen Standpunkt zurück. —
Ein Mord oder der falsche Müller. Lustspiel in 3 Acten von"
Karl Löffler. Berlin, I. Petsch. — Eine Posse in echtfranzösischer Manier,
sehr unterhaltend und mit so dreisten Strichen gezeichnet, wie man es in
Deutschland selten gewohnt ist. —
?i6rre l^evassor. ?ar LKarlss I.oeffler. Oeuxisme viZition om^s
c>u portrait ac I.Spa88or. lZerlin, ,l. ?<ztscd. — Wir haben den Künstler in
Berlin gesehen. Er trqgt komische Lieder vortrefflich vor, ist ein Virtuos im
Costümiren und spielt mit der ganzen^ Lebhaftigkeit und Ungenirtheit des fran¬
zösischen Naturells. Eigentlich feine Komik haben wir bei ihm nicht gefunden.
H-ildebran d. Ein historisches Drama. Franks, a. M, Sauerländer. —
Der Verfasser hat sich in eine laute Begeisterung für den Begründer der
römischen Hierarchie hineingeschwindelt; aber er kann die Voraussetzungen
seiner Bildung nicht verleugnen und schiebt daher seinem Helden Motive
unter, vor denen sich dieser im höchsten Grade entsetzen würde, wie das heut¬
zutage so häufig geschieht. Das Stück verbindet das Unangenehme, was
jeder Tendenzschrift anklebt, mit dem zweiten Uebelstand, daß nicht eine un¬
mittelbar drängende Naturkraft, sondern eine künstliche Reflexion aus ihr spricht.
Die Liebesleugner. Lyrisches Lustspiel von Wilhelm Jordan.
Frankfurt a. M., Sauerländer. —- Das Drama behandelt das Thema der Donna
Diana, doch so, daß der spröde Stolz dies Mal aus beiden Seiten des Liebes¬
paares vorhanden ist. Die Sprache hält nicht durchweg den Ton, aber sie ist
an vielen Stellen von einer unzweifelhaften musikalischen Schönheit. Das drama¬
tische Leben des Stücks ist ziemlich gering, wie denn überhaupt die Gattung des
lyrischen Dramas ebensowenig zu empfehlen sein dürfte, als das sogenannte all¬
gemein-poetische Costüm, welches freilich sür den Lustspieldichter leichter und be¬
quemer zu handhaben ist, als der Realismus des modernen Lebens. Mit geist¬
reichen Schattenspielen ist die deutsche Bühne nicht zu reformiren. —
Drei Dramen von Elise Schmidt. Berlin, Allgemeine deutsche Verlags-
anstcllt. — Die Dichterin trat bekanntlich zuerst in den röthscherscben Jahrbüchern
mit dem Judas Ischarioth auf, einem dramatischen Gedicht, welches wir für eine
der tollsten Verirrungen der jungdeutschen Poesie halten, das aber, wie wir
aus dem Umschlag ersehen, von berühmten Kritikern anders beurtheilt wird:
„Dieses großartige Gedicht, von dem Gottschall sagt, daß es an die Säulen
des Himmels rüttle, das Rosenkranz neben die Perlen des britischen Dichter-
konigs stellte, von dem Ludwig Tieck erklärte, daß es zu dem Bedeutsamsten,
Charaktervollsten gehöre, das ihm auf seinem langen Lebenswege begegnet
sei u. s. w." Die vorliegenden drei Dramen: Der Genius und die Gesellschaft,
Macchiavelli und Peter der Große sind schon insofern ein Fortschritt, als sie sich
mit realen, bestimmten Gegenständen beschäftigen, die individuell darstellbar sind,
also in das Gebiet der Kunst gehören. — Bereits bei Besprechung des ersten
Stücks haben wir hervorgehoben, daß in der Weise ihres Schaffens die begabte
Dichterin eine auffallende Aehnlichkeit mit Gutzkow verräth. Doch zeichnet sie
sich in einer Beziehung vortheilhaft vor ihm aus, die Stücke sind nicht eine
Mosaikarbeit aus einzelnen Effecten, sondern sie sind nach einem bestimmten
Plan gemacht, der aus der Sache hervorgeht. Dagegen hat Gutzkow wieder
den großen Vorzug einer umfangreicheren Weltkenntniß .und einer ziemlich aus¬
gedehnten Belesenheit. Seine Einfälle, wenn sie sich auf die negative Seite der
menschlichen Natur beziehen, wie sie uns in der wirklichen Erscheinung ent¬
gegentritt, sind zuweilen sehr treffend und witzig; bei Elise Schmidt dagegen
sehen die realistischen Schilderungen eines Lebens, welches sie nicht kennt und
die Anspielung auf Bildungsfragen, mit denen sie sich nur sporadisch beschäftigt
hat, ziemlich ungeschickt aus. Die Sprache ist um so manierirter, je mehr die
Dichterin nach poetischen Bildern zu haschen sucht, je mehr sie über der lyri¬
schen Erstase vergißt, dramatisch zu charakterisier,. So gibt sie z. B. einmal
die Anweisung, ein junges Mädchen solle mit holden Fingern beschwörende
Zeichen über einen Becher machen, was wol von den Schauspielern schwerlich
durchgeführt werden kann. — Die drei Dramen bewegen sich auf dem histori¬
schen Gebiet. Elise Schmidt hat die Geschichte nach ihren dramatischen Be¬
dürfnissen zure.ehe gemacht, und da sich über das Recht des Dichters, mit den
Thatsachen nach Belieben umzuspringen, hin und herstreiten läßt, so wollen
wir diese Frage hier ganz bei Seite lassen und uns nur die Anforderung vor¬
behalten, daß die Veränderungen aus der innern Natur des Dramas hervor¬
gehen müssen. — Gleich im ersten Drama, welches die Geschichte des Lord
Byron enthält, finden wir einen starken Verstoß gegen diese Anforderungen.
Was es im Einzelnen mit den Scheidungsgründen Byrons für eine Be-
wandtniß hatte, ist nicht vollständig ausgemacht; für diejenigen aber, welche
geneigt sein sollten, in dieser Frage sich entschieden aus die Seite des Dichters
zu stellen, bleibt daS Abschiedsgedicht Byrons, in welchem er sich vor seiner
Gattin weinend in den Staub'wirft, ein schwer zu erklärender Umstand. Elise
Schmidt hätte dieses Gedicht gradezu ignoriren können; statt dessen schildert
sie in einer der Schlußscenen den Dichter, wie er es schreibt. „Hier auf dem
Grabe, allwo die Weide singt im Morgenschein, will ich mein letztversöhnend
Wort Dir schreiben." Nun hatte nach der Ueberzeugung der Dichterin die
Lady nicht blos vollständig Unrecht, sondern sie fühlte auch, daß sie Unrecht
habe, und betrachtet die Scheidung gewissermaßen als eine Strafe für sich
selbst. Es ist also nicht recht zu begreifen, wie Byron dazu kommt, an diese
Frau unter anderm folgendermaßen zu schreiben:
/til ksulls neieliüNsilZ l,dem Imowost,
^11 maclnvss non« c.in Juno;
^II Iwpgz, ^vIlLI'L'lZr lion gOviit,
"Wittivr, >vit>i L Il c>. o Ao.
üvery secum;; Iintli hehr sinken;
?riclö, which not u worlcl ooultl how,
Ku^V8 to illos - UlKL loi'k!!>K«iU, —
lüvori soul lorsiilivs mo >>ovo.
und i8 clona — »II >voi-c1« into —
^Voids l"ron no al'iz pumpt- 8iiII;
IZui lion^U,« >vo e.ninol brutto
I^nrae ibeii' >vn^ vvitlwut III« >öl>I, —
Indessen wollen wir von dieser unzeitigen Anspielung absehen und über
den Thatbestand lediglich, wie ihn uns das Drama zeigt, ein Urtheil.zu fällen
suchen. — Byron spricht einmal den Gedanken der Dichterin aus: „Auf
diesem kleinen Raume sind Englands beste Menschen zusammengetrieben, Mer^
schen, deren Dasein dem Schöpfer eine Freude war! — Aber wie? — O
sehet die drei jammervollen Gestalten! Der eine in Verzweiflung, die andere
in todtähnlicher Ohnmacht und der dritte in den Trunk getrieben — durch
den Hohn der Welt! Welt! Welt! Belohnst du so deine Genies?" —Die Welt
scheint uns diese Anklage nicht ganz zu verdienen. Wenn der Lustspieldichter
Sheridan nicht so viel Anklang findet, als sein Talent verdient, so scheint uns
das noch kein hinreichender Grund zu sein, sich alle Tage betrunken in der
Gosse zu wälzen^ obgleich Byron später bemerkt: „Londons wenige Weise
'Nüssen sich in Wein betrinken, um sich vor Gram über seine Thorheit nicht
todt zu weinen!" Es .scheint uns auch nicht hinreichend motivirt, wenn
eine junge Schauspielerin durch eine Kabale ausgezischt und von einer eifer¬
süchtigen Frau mit Schmähungen überhäuft wird, daß sie darüber den Verstand
Verliert. Die Hauptsache bleibt Lord Byron selbst. Gegen seine Rechtfertigung
hätten wir dreierlei einzuwenden: Einmal muß der Dichter neben seinem
poetischen Talent auch noch ein Mann sein. Ein Mann soll sich nicht leicht?
sinnig verheirathen. Wenn er die Eigenschaft hat, sich nur mit solchen Per¬
sonen unterhalten zu können, die Sinn für Poesie haben, so muß er nicht
eine Lebensgefährtin wählen, die keinen Sinn dafür hat. Thut er es aber
dennoch, dann hinaus mit ihm aus der Tragödie ins Lustspiel. Die kleine
Misere des Lebens ist nicht tragisch. Zweitens, ein verheiratheter Mann soll
nicht der ersten besten Schauspielerin, die zu ihm aufs Zimmer kommt, tief
ergriffen die Stirn küssen und sonstige Liebeserklärungen machen, wie es hier
geschieht, oder er soll sich wenigstens nicht verwundern, wenn seine Frau eifer¬
süchtig wird. Die Lady Byron des Dramas hat den gerechtesten Grund zur
Eifersucht, und wenn wir auch die gemeine Art und Weise, wie sie dieselbe
ausläßt, mißbilligen, so müssen wir doch ihre Empfindung billigen; weder daß
Byron ein Dichter ist, noch daß er es, wie er sehr naiv bemerkt, nicht bis
zum wirklichen Ehebruch getrieben hat, kann ihn rechtfertigen. Der schlimmste
Umstand aber dürfte sein, daß er so gar keine Kraft und kein Geschick zeigt,
mit der bösen Welt zu ringen. Wer sich in Abenteuer einläßt, die in der ge¬
wohnten sittlichen Sphäre keinen Platz finden, der muß sich wenigstens mit
Anstand herauszuziehen wissen. Hätte Lord Byron den schönen Brummel
geohrfeigt oder erstochen oder sonst etwas Polizeiwidriges gethan, so stände er
dramatisch besser da, als jetzt in seiner Unschuld. Aber er ist eben kein Held
und es ist sehr komisch, wie er zum Schluß des Stücks ausspricht: „Ich sterbe
bei dem ersten Versuch, ein Held zu sein!" Freilich wetteifern die andern, die
ihn umstehen, ihm Artigkeiten zu sagen, aber er selbst vernichtet den guten
Eindruck wieder durch die letzten sterbenden Worte: „Der Tod das ist die ein¬
zige Consequenz!" Ein Charakter dieser Art gehört wiederum nicht in die Tra¬
gödie. — Alle diese Einwendungen drängen sich um so mehr auf, da man in
der Dichtung die Tendenz sieht. Der, Genius soll verherrlicht werden auf
Kosten der Gesellschaft; es geschieht das aber nicht, der Genius zeigt sich als
kraft- und willenlos, mit einem Wort, er macht sich lächerlich. — Auch in
Macchiavell soll wieder der Genius geschildert werden, der den Umständen er¬
liegt. In frühern Zeiten schilderten die Dichter, wie der Held durch das
äußere oder innere Schicksal, d. h. durch die Conseguenz seiner Natur unter¬
geht. Es ist charakteristisch, daß die modernen Dichter ihn an seiner Incon-
sequenz untergehen lassen. Macchiavell ist ein zweiter Uriel Acosta, nur daß
.der letztere mehr Entschuldigungsgründe hat; denn Uriel widerruft doch nur,
Macchiavell dagegen begeht einen Frevel. Er hat nämlich ein Buch geschrieben,
nicht den Fürsten, den wir kennen, sondern ein anderes, eine blutige Satire
gegen die Tyrannei Cäsar Borgias, um die öffentliche Meinung gegen ihn
aufzureizen. Borgia läßt ihn ins Gefängniß werfen und bietet ihm die Frei¬
heit an, wenn er das Buch so umarbeiten will, daß es als eine Apologie gilt.
Der Monolog, den Macchiavell infolge dessen hält, ist beachtenswerth:
„Nein, um diesen Preis kann ich die Freiheit nicht erwählen! — Unddochl!—
Gott verläßt den, der sich selbst verläßt! Komm mir zu Hilfe, männlicher Ver¬
stand, denn fürwahr, ich will nicht feig mich selbst verlassen! — Sind dem
Geist nicht alle Kräfte Unterthan, die bösen wie die guten? Kann er nicht
selbst die Sünde sich dienstbar machen, um sie dann zu besiegen?--Halt!
Hier ist der Punkt, an dem sich Tugend und Laster scheiden! O, an welchem
Scheidewege stehe ich?! Hier liegt das Heili'gthum des Mannes, seine Ehre,
sein guter Name, seine fleckenlos bewahrte Bürgertugend — und drüben über
jenem Wege hin ruft das Weib den Gatten, ruft das Vaterland den Sohn,
der die Erkenntniß hat von seiner Noth, um Schutz an. Marietta und Ita¬
lien, o beide tragen dasselbe holde Angesicht, und beide fallen durch den näm¬
lichen Tyrannen! — Um zu retten, muß ich frei sein!--Aber auf dem
Weg zur Freiheit liegt das Laster, die falsche zweizüngige Heuchelei, die felle
Servilität, der Meinungswechsel ohne Ueberzeugung, die mit Recht empörte
sittliche Verachtung der Welt! — Darf, kann ich den Weg gehen?!! —
Ach, Herkules, du hast dirs leicht gemacht, du wähltest Tugend, o süß ist
Tugend! Doch wer den Weg nicht wandeln darf, wo durch die Bäume frische
Morgenluft heranweht, wer von Gewalt gezwungen, durch finstre Sündenkiuft
sich drängen muß, und es doch unternimmt, auf diesem abscheuvollen Seiten¬
weg zu seinem hellen Tugendziele zu gelangen, o der ist größer!--Sei
eS denn! — Frei, unter einer Heuchlermaske kann ich dir nützen, Vaterland!
Ich wähle der Welt Verachtung, wähle die Vernichtung meines frühern
Menschen; ich widerrufe meine ausgesprochene Ansicht, um ihr— von innen
treu zu sein!" — O Kotzebue, Kotzebue! mit welchem Unrecht verunglimpft
man dich! Das alles hast du ja schon viel besser gesagt. Wir aber wider-
holen, mit solchen Charakteren, die nicht aus einem innern Drang ihrer Natur
handeln, sondern nach dieser oder jener Rücksicht, und die dann augenblicklich,
wenn sie einmal zu einem Entschluß gekommen sind, bereuen, weil die Um¬
stände doch nicht alle stimmen wollen, mit solchen Charakteren heraus aus der
Tragödie, denn sie gehören ins Lustspiel. Elise Schmidt weiß selbst nicht, ob
Macchiavell recht oder unrecht gehandelt hat, denn sein Zweck gelingt ihm in
der That, und die Achtung derer, auf deren Urtheil es ihm ankommt, bleibt
ihm unverkürzt; er ist nur beim Publicum in ein schlechtes Renommee ge¬
kommen und bestraft sich dafür selbst, indem er sich mit seiner Marietta inS
Privatleben zurückzieht. Elise Schmidt muß wenig den Macchiavell gelesen
haben, sonst hätte sie dieser antiken heidnischen Natur solche Weinerlichkeilen
uicht zugemuthet. — Macchiavell ist übrigens nicht der einzige Genius des
Stücks, welcher der Gesellschaft unterliegt. Auch Cäsar Borgia ist eigentlich
e>n Held, der nur deshalb Bösewicht wurde, weil das Zeitalter sür große
Thaten keinen Raum gibt, und der den Schmerz dieses Schicksals mit Humor
zu tragen sucht. Daß Hebbel und selb-se Gutzkow solche Figuren besser zu
schildern wissen, liegt in der Natur der Sache; aber daß die Dichterin auch
Lucrezia Borgia so vollständig verpfuscht hat, nimmt uns Wunder, da ihr hier
doch schon V. Hugo vorgearbeitet hatte, und da sämmtliche französische Dich¬
terinnen den innern Dämon in des Weibes Brust so vortrefflich zu schildern
wissen. Daß wir übrigens kein Drama erhalten, in welchem Cäsar Borgia
der Held ist, bedauern wir nur mäßig, denn es könnte doch nur ein Duplicat
von Richard til. sein. — Im dritten Drama ist nicht der Großfürst Alerei,
wie in Schillers Don Carlos, sondern Peter der Große der Genius, der mit
den Einrichtungen der Welt insofern in Conflict kommt, als sie ihn zwingen,
um des allgemeinen Wohls willen seinen Sohn hinrichten zu lassen. DaS
nächste Vorbild ist Immermann, doch hatte dieser das Problem insofern tra¬
gischer und historischer gefaßt, als er in der starken Willenskraft des Kaisers
etwas Dämonisches fand, das ihn zu einer argen That verleitete. Elise Schmidt
stellt sich einfach auf Seiten des weisen Monarchen, der zum Besten des Vater¬
landes mit tiefem Bedauern das Todesurtheil vollstrecken läßt. Beide haben
ihren Helden idealisirt; von dem wilden Barbaren, der aus angeborner Lust
höchst eigenhändig Dutzende von Verbrechern köpfte, ist nichts übrig geblieben;
wir sehen den wohlwollenden Monarchen vor uns, der nicht blos bis zum
Erceß rechtschaffen ne, der nicht blos seinen Unterthanen für alle Kinder
einsteht, die zum Militärdienst gezogen werden, sondern der auch eine ge¬
wisse Virtuosität im Verzeihen entwickelt, und den der Gedanke der Civili¬
sation als reines Ideal durchglüht. Der echte Peter verstand die Civili¬
sation, freilich in weit größerm Stil, ungefähr in der Weise Mehemed Alis,
und wenn er schon in der Jugend die Hingerichteten Strelitzen vor das
Fenster seiner Schwester hängen ließ, um ihr Gehorsam einzuprägen, so
war es nur folgerichtig, wenn er später seinen widerstrebenden und ungehor¬
samen Sohn umbrachte. Uebrigens fehlen die Dichter dieses Themas meistens
auch darin, daß sie den Sohn gar zu schwächlich darstellen. Es ist kein Kampf,
sondern eine Schlächterei, denn die Kräfte sind zu ungleich. Wie viel besser
hat es Byron verstanden, in der Parisina zwei ebenbürtige Naturen aufein¬
anderstoßen zu lassen. Das Thema an sich ist das alte, des Brutus, der
seine Söhne der Republik opfert; aber wenn an sich schon die'Herrschaft einer
Abstraction über die Totalität des Gefühls keinen dramatischen Eindruck macht,
so ist die Unnatur bei Brutus doch nicht so groß. Er ist Richter und Diener
der Republik; er muß gegen die sämmtlichen Verschwörer die äußerste Strenge
gebrauchen und kann daher seine Söhne nicht ausschließen. Peter dagegen
ist Selbstherrscher. Wenn er aus seiner leidenschaftlichen Natur heraus ge¬
waltthätig handelt, so haben wir nichts dagegen einzuwenden; aber die Ab'
straction hat kein Recht, denn sie hat keine Macht über ihn. — Noch eine Be-
merkung müssen wir hinzufügen. Wenn die Probleme in allen drei Stücken
der Abstraction entnommen sind, so ist dagegen die Ausführung durchweg
genreartig d. h. die vorkommenden Figuren stellen sich als ganz besondere Er¬
scheinungen dar, und so sind auch hier, wie es häufig vorkommt, die Ertreme
des Idealismus und Realismus miteinander verknüpft.
.ku!ö5 Lo»al', par Lamartine, 2 Jon. IjnixLllvs Le ^eip/ij>. XiösslmA, Lolinve
^ Loup. —
Die französische Republik war noch kein Jahr alt, als Schriftsteller auf¬
traten, die in vollem Ernst und anscheinend in gutem Glauben der Welt ver¬
kündeten, die Zeit der Völkerfreiheit sei vorbei und die Zeit der Cäsaren sei
wiedergekommen, die Menschen seien der Freiheit nicht mehr fähig, sie fielen
sofort der Anarchie anheim, und nur der eiserne Wille eines ebenso entschlosse¬
nen als einsichtsvollen Mannes könne jene Autorität hervorbringen, deren die
Welt bedürftig sei, und die dem schwachen Arm des Gesetzes versagt bliebe.
Die Ansicht wurde heftig bestritten, aber sie fand auch lebhafte Anhänger, selbst
in Kreisen, wo man es am wenigsten erwartet hätte, z. B. innerhalb der
gouvernementalen Partei in Preußen. Es war, kurz gesagt, ein neues Stich¬
wort, und Europa war der alten Stichwörter herzlich müde. Ein Rechtsboden
hatte fortwährend den andern verdrängt, ein constitutionelles System war an
Stelle des andern getreten, keines hatte den Zwang innerer Nothwendigkeit be¬
währt. Die Doktrinärs waren in Verachtung gerathen, man sehnte sich nach
realer Politik d. h. nach Thatkraft und Entschlossenheit. Der Erfolg ist im
Wesentlichen dieser Theorie günstig gewesen, das neue Cäsarenthum ist nicht
nur in der That aufgerichtet, sondern es hat sich bisher mit einem ungewöhn¬
lichen Glanz entwickelt. Das Frankreich der Cäsaren hat wieder ein Ansehn
in der Welt gewonnen, dessen sich weder die Restauration, noch das Bürger¬
königthum, noch die Republik erfreut hatten.
So sorgfältig sich nun der Geschichtschreiber bemüht, nur den Geist der
Zeit, mit der er sich beschäftigt, darzustellen, so wird doch ein ^jedes Bild der
Vergangenheit zugleich ein Spiegel für die Gegenwart. Wir haben vor
kurzem ein historisches Werk des größten Stils besprochen, in welchem die
Apotheose Cäsars die Beziehungen zur gegenwärtigen Politik nicht verleugnete.
An viel höherem Grad muß das bei solchen Schriften der Fall sein, die nicht
aus einem ernsthaften Studium hervorgegangen sind, sondern einem augen¬
blicklichen Bedürfniß entspringen. Als wir also das Buch Lamartines durch-
blätterten, dieses geistvollen leichtsinnigen Schriftstellers, der unmittelbar aus
die Beschreibung Cäsars im Schlafrock von A. Dumas gefolgt ist, war es
nicht grade die Darstellung der römischen Zustände, auf die wir unsre Auf¬
merksamkeit richteten. Lamartine saßt in seiner Einleitung die ältere römische
Geschichte ganz in der Weise auf, wie man es im vorigen Jahrhundert ge¬
wohnt war. „Die ersten Römer, eine Räuberbande, genöthigt, sich in die
Berge von Latium zu flüchten, dort eine Stadt zu bauen und Stück für Stück
sich das Grenzgebiet ihrer Nachbarn anzueignen, waren durch diesen Ursprung
natürlich dahin getrieben, aus dem wildesten Patriotismus ix,s einzige Princip, die
Tugend, gewissermaßen die Gottheit Roms zu machen. Wie alle falsche Tugen¬
den , hatte dieser Patriotismus seine Verbrechen durch Grundsätze gerecht¬
fertigt. . . . Dieser illegitime Ursprung des Volks erklärt ebenso die Natur
seiner Regierung, wie die Unersättlichkeit seiner Eroberungen. Da in Beziehung
auf das Verbrechen, die Verbannung und die Räuberei, alle in ihrer Räuber¬
höhle, die sich dann in die ewige Stadt verwandelte, einander gleich waren,
so hatte sich der Begriff der Gleichheit tief in ihrer Seele eingeprägt u. f. w."
Die Geschichte Cäsars selbst wird einfach aus Uebersetzungen aus dem
Sallust, aus Plutarch und Cäsar zusammengestellt; doch fügt der Geschicht¬
schreiber einzelne erläuternde Bemerkungen hinzu, die in vieler Beziehung mit
den Ansichten Mommsens zusammenfallen. Auch Lamartine zweifelt nicht daran,
daß Cäsar der intellectuelle Urheber ver catilinarischen Verschwörung war. Auch
er urtheilt über Cicero, obgleich er sich höflicher ausdrückt, nicht minder hart,
als der deutsche Geschichtschreiber. Er nennt die Hinrichtung der Verschwörer
einen Staatsstreich der Ungeduld, der Härte und des Schreckens. Schon bei
Mommsen haben wir uns darüber gewundert, daß er diese vereinzelte Gewalt¬
that mit einer so leidenschaftlichen Bitterkeit verurtheill, da doch die vorher¬
gehenden Prvscriptionen unter Opimius, Marius und Sulla eine starke Bresche
in den Wall der Gesetzlichkeit geschlagen hatten. Dagegen ist Lamartine keines¬
wegs ein unbedingter Bewunderer Cäsars. Er schildert mit einer unzweideutigen
Beziehung die schlimme Lage Cäsars, der als Führer einer Räuberbande die
Wahl hatte, entweder seine Partei zu zähmen und dadurch seine Popularität
zu verlieren, oder sich immer tiefer in den Schlunv zu tauchen, den er selbst
gegraben hatte. Zehn Jahre lang Mitschuldiger der Demagogen, zehn Jahre
glücklicher Feldherr, fünf Jahre lang glücklicher Verbrecher gegen die Republik,
hatte sein unsittlicher Ehrgeiz ihn in eine Sackgasse geführt, aus der ihn nur
eine noch größere Kühnheit retten konnte, indem er entweder die Republik her¬
stellte, oder sich- als Erbkönig krönen ließ. Seine Stützen waren theils die
alten Communisten, die Aufwiegler des Pöbels gegen die Reichen, theils die
Soldateska und ihre abenteuerlichen Führer, die für seine Macht gekämpft
hatten, um ihre Schulden zu bezahlen. Wenn Ver ehrliche Cicero sich ihm
unterwarf, so entschuldigte er sich gegen einen Freund damit, daß Cäsar immer
noch der Beste in seiner Partei sei. Freilich die Partei sei eine vollständige
Räuberbande und weit entfernt, die Mäßigung ihres Führers zu theilen. —
Lamartine kommt jetzt auf die Verschwörung des Brutus und Cassius, wobei ihm
Brutus im melodramatischen Interesse unzweifelhaft als Cäsars Sohn gilt.
Das Urtheil über die Ermordung Cäsars ist nun ein kitzlicher Punkt; Lamartine
zieht sich ziemlich geschickt heraus. „Freilich hatte Cäsar die dreiundzwanzig
Dolchstiche vollständig verdient: er hatte sie verdient, indem er früher gegen
die bestehende Ordnung des Staats als Verschwörer auftrat; er hatte sie ver¬
dient, indem er die Soldateska, die ihm zum Schutz Roms anvertraut war, für
seinen persönlichen Dienst gewann; er hatte sie verdient, indem er das Schwert
gegen die Republik zuckte; er hatte sie verdient, indem er das Vaterland als
erobertes Land behandelte, den Senat verletzte, alle ordentlichen Männer aus
Italien verbannte und nichts darin ließ, als den Pöbel und die Prätorianer;
er hatte sie verdient, indem er tüchtige Redner und Patrioten zur Speichel¬
leckerei verführte; er hatte sie verdient, indem er Rom bis in das innerste
Mark corrumpirte, indem er es an glänzende Aufzüge, Spiele und Dekora¬
tionen gewöhnte und jenen Lurus und jene Unsittlichkeit begünstigte, durch
welche man die Völker entwaffnet. Waren dies nicht, sährt Lamartine fort,
genug Verbrechen, um die dreiundzwanzig Dolchstöße der verschworenen Re¬
publikaner zu verdienen? Welcher Partei man auch angehöre, das Gewissen
verdammt den Mörder seines Vaterlandes zum Tode Man hat, bemerkt er
weiter, Cäsar zu rechtfertigen gesucht, indem man die gesetzliche Freiheit ver¬
leumdet. Die Doctrinäre finden sophistische Entschuldigungen für jeden Erfolg.
Man hat die Frage aufgeworfen, ob denn die Republik auch lebensfähig ge¬
wesen wäre, wenn Cäsar sie nicht getödtet hätte. Das ist grade so, als ob
man den Mord eines Menschen damit.entschuldigen wollte, daß dieser Mensch
ja doch einmal von Natur sterben müßte. Cäsar war ein um so größerer
Verbrecher, wenn er den Einrichtungen seines Landes den letzten Stoß ver¬
setzte, als die Republik schwach war, als sie über keine Kraft und Tugend
gebieten konnte, um sich zu vertheidigen; und doch eine Republik, die sich so
vertheidigte, wie eS gegen Cäsar geschah, ist noch nicht ohne Tugend, noch
uicht ohne Lebensfähigkeit. Die Casuisten der Tyrannei mögen es sagen, das
Blut von Tausenden legt Einspruch ein."
Bis dahin klingt es gefährlich genug; aber man bewundere die Geschick-
lichkeit des berühmten Redners. Unter den Gründen, weshalb Cäsar den Tod
verdient habe, haben wir bisher zwei übergangen. „Er hätte ihn verdient,
Mdem er nicht wagte, daS durchzuführen, was er während so viel Verbrechen
geträumt hatte, indem er nicht wagte, die erbliche Monarchie einzurichten und
den durch ihn entehrten Bürgern wenigstens eine friedliche Knechtschaft zu
bereiten, indem er für sich allein den ganzen Gewinn zog und nicht darauf
dachte, dem Erdkreis einen andern Erben zu hinterlassen, als die Anarchie."
Ja freilich! Das ändert die Sacke. Hätte Cäsar die Erbmonarchie ein¬
gerichtet, hätte er einen Sohn und Erben gezeugt, dann hätte er nicht mehr
den Tod verdient. — Ein Deutscher wäre auf diese Deduction nicht gekommen.
Daß nebenbei Lamartine den Meuchelmord als solchen verurtheilt, versteht
sich bei seinem sittlichen Gefühl von selbst.
Wir lassen hier Lamartine bei Seite und wenden uns zu den übrigen
Vertheidigern Cäsars zurück, namentlich zu Mommsen. Die Apotheose der
Kraft, der Genialität, des entschlossenen Willens ist durchaus gerechtfertigt,
namentlich einer Zeit gegenüber, die wenigstens auf ihrer Oberfläche nur Er¬
scheinungen der Kraftlosigkeit zeigt. Cäsar war unter allen seinen Zeitgenossen
der Fähigste, und wenn man einen Selbstherrscher wünschte, so konnte eS nur
Cäsar sein; aber es wäre zweckmäßig, dabei immer durchblicken zu lassen, daß
auch die Kraft und Genialität am edelsten dann erscheint, wenn sie mit dem
Gesetz Hand in Hand geht. Die Römer wurden durch ihr Schicksal zur
Monarchie getrieben, hauptsächlich aus zwei Gründen: einmal, weil die Aus¬
dehnung ihrer Eroberungen die Geschlossenheit des nationalen Bewußtseins
aufhob, sodann weil das Alterthum noch nicht die Erfindung des Nepräsen-
tativsystems gemacht hatte, des einzigen Weges in einen größern Staat, daS
Volk an der Regierung zu betheiligen, ohne in die Gefahr der Anarchie zu
verfallen. In beiden Beziehungen stehen wir höher da, als das römische
Volk. Die neuere Zeit hat wirkliche Nationen hervorgebracht, die an ihrem
Inhalte auch ihre Grenze finden, und sie hat die Form gefunden, die Masse
durch Vertreter zu gliedern und sie dadurch in den Staatsorganismus aufzu¬
nehmen. Diese Formen wollen wir nicht gering anschlagen, weil sie in ihrer
augenblicklichen Beschaffenheit keinen sehr günstigen Eindruck hervorbringen,
wir wollen sie vielmehr, ohne Furcht, als doctrinär zu gelten, als das Palladium
der wahrhaft nationalen Entwicklung betrachten und uns auch dann keinen
Cäsar wünschen, wenn dieser wirklich im Stande sein sollte, uns über die
unangenehmen Verwicklungen der gegenwärtigen Lage hinwegzuhelfen. Die
natürliche Entwicklung führt langsamer zum Ziele, aber ihre Früchte sind
dauerhafter. Was daS Genie eines einzelnen Mannes gegen die Natur der
Dinge hervorbringt, verschwindet mit dem Geist, aus dem es hervorginge
Eine Reise nach Centralafrika oder Leben und Landschaften von
Aegypten bis zu den Negerstaaten am weißen Nil von Bayard Taylor. Ueber-
setzt von Johannes Ziethen. Leipzig, Voigt und Günther. — Der Verfasser,
Amerikaner, als Dichter, Schriftsteller und gewandter Tourist auch außerhalb seines
Vaterlandes wohl bekannt, hat diese Reise nicht als Gelehrter unternommen, der
den ägyptischen Sphinxen, den Königsgräbern und räthselhaften Inschriften im
Nilthale nachgeht, auch nicht als Geograph, um neue Völker und Landschaften
wissenschaftlich zu verzeichnen. In der That ist der Titel Centralafrika nicht zu
wörtlich zu nehmen, denn Taylor ist auf dem weißen Nil nicht einmal ganz so weit
vorgedrungen, als die ägyptischen Händler von Kartum aus mit ihren Waaren zu
reisen pflegen, d. h. bis etwa zum 12.° N. B. Und die Reisebeschreibung macht
keine andern Ansprüche, als das Geplauder eines unbefangenen Beobachters fremder
Menschen und Länder überhaupt zu machen berechtigt ist. Aber sie ist doch in
hohem Grade interessant, zunächst dnrch die Persönlichkeit des Verfassers. Taylor
erscheint darin als ein tüchtiger, kräftiger Gesell von vieler Weltkenntniß, und festem
Selbstvertrauen, von ausgezeichnet guter Laune, und was ihn am allerbesten kleidet,
von einer wahrhaft liebenswürdigen Empfänglichkeit für alles Interessante, was
ein fremdes Land dem Reisenden entgegenträgt. Ohne Sentimentalität, aber mit
gesundem Gefühl, ohne große Dichtervirtnvsität in dem Reproduciren empfangener
Eindrücke, aber in lebhafter und unterhaltender Einfachheit, ohne specielle gelehrte
Kenntnisse, aber mit Bildung, guter Beobachtung und gesundem Menschenverstand
erzählt er, was er gesehen und erlebt. Und in dieser Beziehung kann er als das
Muster eines Reisenden auf eigne Faust gelten. , Ueberall weiß er leicht mit den
Menschen fertig zu werden, findet an allen Orten gute Gesellen und hat, wir sind
überzeugt, auch überall den Eindruck eines Gentleman und guten Kameraden hinter¬
lassen. Es war allerdings nicht sein erster Ausflug, er hatte Europa, Mexico,
Centralamerika durchreist und auch durch eine starke Praxis das Geheimniß gefun¬
den, mit fremden Menschen auszukommen. Von dem Uebelstand, deu vieljährige
Reisen leicht ans solche ausüben, welche ohne einen bestimmten Zweck die Bilder
einer fremden Welt massenhaft aufnehmen, ist bei ihm nichts zu merken. Er ist
nicht blasirt, ja er besitzt in nicht ungewöhnlichem Grade die Fähigkeit, die kleinen
Freuden jeder Reise zu genießen und die Unbequemlichkeiten gleichmüthig zu er¬
tragen. Es ist auch jetzt trotz der größern Leichtigkeit zu reisen, welche der ge¬
steigerte Verkehr der Menschen in den Grenzländern europäischer Cultur vermittelt
hat, noch immer nicht bequem und nicht gefahrlos, die große Heerstraße der Tou¬
risten zu verlassen und sich unter Fremden, deren Sprache man unvollkommen oder
gar nicht versteht, in wilder Natur, sogar unter wilden Völkern mit Ruhe und
Geistesgegenwart zu bewegen. Und vielleicht gibt es keine bessere Schule, um
Kenntniß der Menschen und Herrschaft über sich selbst zu erwerben, als eine solche
Fahrt. Aber freilich nur, wenir- es gelingt, dabei den eignen Willen durchzusetzen
und sich »irgend mehr imponiren zu lassen, als für das eigne Behagen wünschenswerth
ist- Dem Engländer und Amerikaner, welche beide das Gefühl einer großen Nationalität
^' sich tragen, wird dies allerdings leichter, auch ist die Förderung, welche sie durch andre
bekommen, größer, als bei den meisten Deutsche». Aber für keinen Reisenden, welchem
Volke er auch angehöre, ist es leicht, sich in wilden Verhältnissen die innere Ueber-
legenheit zu bewahren, mit welcher wir aus der Mitte unsers Culturlebens bei dem
ruhigen Lesen einer Rciseschilderung auf die fremden Zustände blicken. Uns er¬
scheint ein nackter Häuptling der Schilluckneger mit seinem fettigen Haar, dem
hölzernen Spieß und dem rohen Ceremoniell der Wüste ziemlich kläglich^ wer aber
allein unbewaffnet einem solchen Dorfhäuptliug gegenüber sitzt, umringt von einer
Bande riesiger Neger, die mißtrauisch und zudringlich auf jede Bewegung des
Fremden spähen und in der Stille srcigen, ob sie ihn friedlich grüßen oder über
ihn herfallen sollen, dem wird auch die Hoheit solcher Wilden sehr leicht imponiren.
Denn das ju« K>u<!!i hat die Eigenschaft, jedem der es handhabt eine innere achtungs¬
werthe Ueberlegenheit zu geben, um so mehr, je weniger er durch Gesetze und
Couvenienzcn gebunden ist. Und der Besuch bei solchen wird für einen Cultur-
menschen keine üble Probe, bei der er erkennen kann, ob er selbst ein Mann ist.
Es wird den Lesern von Taylors Buch angenehm,' zu merken, daß ihr Bericht¬
erstatter dies immer ist. — Die Uebersetzung des Bandes ist fließend und gewandt,
die Ausstattung gut.
— Als ein recht nützliches Volksbuch erwähnen wir die
Beiträge zur V olks w ohlfahrt in belehrenden Erzählungen. (Gotha,
Sehende.) Der erste Band enthält die Erzählung: Schöndorf, oder wie sich der
Landmann das Leben angenehm macht. Ein Beitrag zur Landcsvcrschönerung von
Heinrich Schwer de. Der zweite Band soll sich mit der christlichen Armenpflege
beschäftigen. Die Gegenstände der folgenden Bände sind unter andern die Sonn-
tagsfeier, die Beförderungsmittel zur Nationalwohlfahrt, die Gesundheitspflege u. s. w.
— Dahin gehört ferner die V olks bi bliothek der Länder- und Völker¬
kunde von S. Steinhart (Gotha, Sehende), wovon bis jetzt zwei Lieferungen
erschienen sind, die sich mit der Geographie Deutschlands beschäftigen. — Sehr
empfehlenswerth ist sür das größere Publicum: das Buch der Welt, ein In¬
begriff des Wissenswürdigstcn und Unterhaltendsten aus den Gebieten der Natur¬
geschichte, Naturlehre, Länder- und Völkerkunde u. s. w. Mit vielen colorirten
und schwarzen Abbildungen. (Stuttgart, Hoffmann.) — Häßlers Helden-
geschichtcn des Mittelalters (Berlin, Decker) haben wir schon früher er¬
wähnt. Es ist davon neuerdings der fünfte Band erschienen. Der Titel paßt nicht
recht, denn die Sagen und Geschichten, die darin erzählt werden, gehören sowol der
neuern Zeit, als dem Mittelalter an. Von. dieser Ausstellung abgesehen verdient
aber das Buch die vollste Anerkennung. Der Herausgeber hat mit großem Ge¬
schmack aus dem unendlichen Sagcnschatz des deutschen Volks diejenigen Momente
ausgewählt, die sich zu eiuer leichtern Erzählung sür das größere Publicum eignen.
Seine Darstellung ist 'einfach und schlicht und wenn man auch eine solche Samm¬
lung nicht wohl hintereinander durchlesen kann, so findet man beim Durchblättern
überall reiche Ausbeute. Den neuen Band hat er'nach bestimmten Kategorien ge¬
ordnet: 1) von tugeudlichcn Menschen und Thaten, 2) von göttlicher Vorsehung
und wunderbaren Hilfen, 3) von göttlichen Strafgerichten, 4) vom Ursprung edler
Geschlechter und Städte, denkwürdiger Werke und Wahrzeichen, 3) Sagen ^us der
Thier- und Pflanzenwelt und von den Himmelserscheinungen, 6) von Riesen und ^
Zwergen, 7) von Berggeistern, 8) von Wassergeistern, 9) von mancherlei andern
guten und bösen Geistern, 10) von hohlen Bergen und ihren Wundern, 11) von
Verwünschten, 12) von Todesanzeichen und Todtenerscheiuuugen, 13) von Schätzen
und Schatzgräbern, 14) vom Teufel, Hexen- und Zauberwesen, Is) Mord- und
Räubergeschichten und dergl., 16) , Narrenstreiche und Vvlksschwänke. — Solche
Sammlungen sind sehr zweckmäßig, da sie auf eine leichte und gefällige Art das
Volk mit seinem eignen historischen Inhalt bekannt machen und mit dem Verständ¬
niß des deutschen Wesens auch die Vaterlandsliebe fördern. — Von Böttigers
deutscher Geschichte für Schule und Haus ist die fünfte vermehrte und
verbesserte Auflage erschienen. Es ist das brauchbarste und zweckmäßigste Schulbuch
der Art, das wir besitzen. Dagegen können wir uns.mit der neuen Erweiterung
desselben nicht einverstanden erklären. Die neueste Geschichte, in welcher sich noth¬
wendigerweise der Parteistandpunkt hervordrängt, gehört nicht in den Schulunterricht
und für die Aufklärung des größern Publicums ist das, was der Verfasser davon
anführt, doch in keiner Weise ausreichend. — Geographische Charakteristiken,
für die Einführung in die wissenschaftliche Erdkunde, gesammelt, bearbeitet und
gruppirt von or. H. Boegekamp. Mainz, Kurze. — Eine Anthologie aus
classischen Schriftstellern über den betreffenden Gegenstand, verständig zusammen¬
gestellt und so geordnet, daß ein möglichst vollständiges System daraus hervorgeht.
— Freie Gaben für Geist und Gemüth. Zur Erweiterung des Unter-
stützungsfonds für arme erwachsene Taubstumme herausgegeben von Johann
Friedrich Jenck?, Director der Taubstummenanstalt zu Dresden. Dritter Jahr¬
gang, Leipzig, Fritzsche. — Die Sammlung verdient ihres schönen, wohlthätigen
Zwecks willen die Theilnahme des Publicums. — Praktischer Lehrgang zur
schnellen und leichten Erlernung der englischen Sprache. Nach Uhus
Methode. Von Karl Gräser, Lehrer am königl. Gymnasium zu Marienwerder.
Leipzig, Brockhaus. — Das Buch zeichnet sich durch einfache, bequeme Lantzeiche»,
vor allem aber durch zweckmäßige Auswahl der Beispiele aus. — Organ der
Taubstummen- und Blindenanstalten in Deutschland und den deutsch¬
redenden Nachbarländern. Redacteur: öl-. Matthias. Friedberg, Binder¬
nagel. — Eine Zeitschrift, der wir um ihres trefflichen philanthropischen Zwecks
willen eine recht vielseitige Theilnahme wünschen. — Aehrenkranz. Eine Samm¬
lung der geiht- und gcmüthreichsten Stellen aus den Werken der berühmtesten Auto¬
ren der Vergangenheit und Gegenwart. Von Wilhelm Seydelmann. Breslau,
Kern. — Wahrscheinlich für Stammbücher bestimmt. — Der Arbeiter aus dem
praktischen Erziehnngsselde der Gegenwart. Herausgegeben von J. D. Ge-
vrgens und Jeanne Marie von Gayette. Glogau, Flemming. — Die Ver¬
fasser huldigen derjenigen pädagogischen Richtung, welche sich unter andern in den
Kindergärten einen Ausdruck gegeben hat. Das Wochenblatt hat die Ausgabe, die
Grundprincipien der neuen Schule zu vertreten. Es wird dazu um so mehr befähigt
s"n, je ernster es sich an die Sache selbst.hält und die belletristischen Spielräume,
die in den uns vorliegenden Heften einen übergroßen Raum einnehmen, bei Seite
läßt. Der Sache selbst wünschen wir ein glückliches Gedeihen, denn wenn wir auch
auf dem Gebiet der Pädagogik entschieden der conservativen Richtung angehören, so
können wir es nur für nützlich halten, wenn auch die Gegner sich über ihre An-
Nchten so bestimmt als möglich aussprechen. —
Ostap und Jaryna. Von I. I. Kraszcwski. Nach dem
löcher deutsch herausgegeben von I. N. Fritz. 2 Bde. Breslau, Kern. — Ein
sehr ansprechendes und charakteristisches Lebensbild aus den Zuständen der polnischen
Landbevölkerung. Die ällmcilige Verwilderung des Adels und die damit zusammen¬
hängende Verkümmerung seiner Unterthanen ist mit einer ganz ungewöhnlichen plastischen
Kraft dargestellt. Weniger gelungen ist der Charakter des Helden, des Leibeignen, der
durch eine höhere Bildung aus seinem Kreise herausgerückt und dadurch mit sich selbst in
Zwiespalt gebracht wird. Die Sentimentalitäten, in die er verfällt, sind bei einer
kräftigen Natur, die eher zur Empörung, als zur Unterwerfung geneigt ist, ganz
unglaublich, und sie sind ebenso unschön, wie die Schicksale, die sich daraus er¬
geben. — Der Verfasser ist, wie der Uebersetzer in der Vorrede angibt, 1812 in
Warschau geboren und lebt seit seiner Verheirathung 1838 ans dem Lande als
einer der fruchtbarsten Schriftsteller der Gegenwart. Ohne die sechzig Bände des
zwölf Jahre hindurch unter seiner Redaction erschienenen Athenäums zu rechnen,
beträgt die Zahl der bis jetzt von ihm herausgegebenen Werke, von welchen manche
bereits die dritte Auflage erlebt haben, über hundert Bände. Sie enthalten außer
den Erzählungen, Reisebeschreibungen und kritischen Arbeiten die Geschichte Lithauens
und Wilnas. — Das Buch ist als erster Band einer polnischen Romanbibliothek
bezeichnet, welche eine Auswahl der besten und interessantesten Erscheinungen der
neuesten polnischen Belletristik enthalten soll. Wir wünschen ihr alles Gedeihen. —
Gras Stolberg. Historischer Roman von Klencke. — Der Versasser hat
sich in seinen Literaturromancn eine Virtuosität erworben, die man fast handwerks¬
mäßig nennen kann. Sie haben ihr Publicum gefunden; aber was eigentlich eine
Wiederholung desselben Stoffes soll, den wir in der vosfischcn Lebensbeschreibung
viel interessanter Und corre^ter vor uUs haben, vermögen wir nicht einzusehen.
Jungfrau Viola. Ein Fru sur g s t r an in am Ostseestrande von
Franziska Gräfin Schwerin. Breslau, Kern. — Es sind recht hübsche
Ottavcrimen in der Art Ernst Schutzes, und einzelne lebhafte Naturschilderungen
lesen sich vortrefflich, aber die Personificationen sind zu weit ausgedehnt. Man
läßt sich noch gefallen, die See und die Erde als Frauen, den Sonnengott und
den Wind als Männer porträtirt zu sehen;, aber als die Jungfrau Viola, in der man
doch endlich ein halb reales Wesen zu sehen glaubt, sich in das Kloster Oliv« ver¬
wandelt und ihr Liebhaber Carlo in den Carlsberg, wird einem zuletzt doch etwas
gar zu träumerisch zu Muth. —'-
s »evre 1,8 alö I» oauts ac visno alö ?oilior8. Lonsessions aroköolo
xiques et «osmvUquvs p»r I'.-I^. .s-ieod, KibliopKilo. vruxellos L: ^eipsig, liiess-
Ung, LeKnüv Ä Loup. — Der Verfasser, der mit seinem Durchstöbern alter Biblio¬
theken schon so manche interessante Kuriosität zu Tage gefördert hat, gibt dies Mal
einen Beitrag zur Geschichte der Galanterie. Er sucht die Spccifica zu erörtern,
durch welche die berühmte» Schönheiten der vergangenen Jahrhunderte sich conser-
virt haben, und kommt dabei auf manche wunderbare Entdeckungen. So wird z. B-
einmal der Einfluß der Schwcinemilch auf den Teint sehr ausführlich untersucht. Zu¬
letzt gewinnt er indessen das Resultat, das Hauptspecificum sei das Regenwasser-
Neben seinen gelehrten Untersuchungen zeichnet sich das Buch noch durch einen
Hautgout der Liederlichkeit aus. der sich selbst innerhalb des herrschenden französi¬
schen Tons geltend macht.
Das Leben des Generals Friedrich von Gagern. Von Heinrich von
Gagern. Erster Band. Mit dem Bildnisse Friedrichs von Gagern. Leip¬
zig und Heidelberg, Wintersche Buchhandlung. —
Heinrich von Gagern erklärt in der Vorrede, er habe schon lange beab¬
sichtigt, seinem Bruder, dem Führer und Leitstern seiner Jugend, ein Denkmal
zu setzen, er habe aber die Ausführung verzögert, um nicht den zu früh dahin¬
gegangenen Freund unter der Unpopularität des Namens Gagern leiden zu
lassen. Den Grund dieser UnPopularität sucht er theils in der natürlichen
Abneigung der Extreme gegen jede Mittelpartei, theils in dem Streben der
charakterlosen Masse, sich für frühere Gedankensünden, für die Theilnahme an
niedergeschlagenen Hoffnungen und Wünschen, durch Schmähungen gegen ihre
frühern Führer zu rechtfertigen.
Wir begreifen es wohl, daß ein Mann, aus den eine Zeitlang hoffnungsvoll
die Blicke des gesammten Deutschland gerichtet waren, es mit Schmerz und
Bitterkeit empfindet, wenn man sich von ihm abwendet, ja ihn mit Lästerungen
Verfolgt; allein wir glauben, daß die Sache in der Wirklichkeit nicht so arg
>se. Wir reden hier nicht von uns d. h. von der liberalen Partei. Wir
haben keinen Augenblick an Heinrich von Gagern gezweifelt. Ueber die Zweck¬
mäßigkeit einzelner seiner Schritte läßt sich streiten; wir sind aber noch
heute bereit, jeden einzelnen dieser Schritte aus dem innern Kern seiner edlen
Natur heraus zu erklären und zu rechtfertigen. In jedem Act seines Lebens
senden wir die ganze groß angelegte und sittlich fromme Natur und wir finden
°>nen innern Zusammenhang, der nicht blos subjectiv ist, sondern der im Wesent¬
lichen mit der Natur und Nothwendigkeit der Zustände übereinkommt. Wenn
^ noch heute, trotz aller äußern Niederlagen sein Princip im vollsten Umfange
"Ut der ganzen Wärme eines jugendlichen Glaubens vertritt, so ist das nicht
blos die Folgerichtigkeit einer rechtschaffenen Seele, sondern es drückt auch die
richtige Einsicht aus. Der Weg, den die deutsche Nation, durch die Gewalt
^r Umstände getrieben, im Jahr 1848 und -1849 einschlug, konnte nicht zurn
Ziele führen, weil in den Voraussetzungen und dem Resultat ein innerer
Widerspruch lag; allein das Ziel ist das richtige, das einzige, welches Deutsch¬
land im Auge behalten muß, um in die Reihe der selbstständigen Völker ein-
zugehen, und wenn wir im Folgenden einzelne Momente desselben in Beziehung
auf thatsächliche Verhältnisse beschränken möchten, so hat das auf das Bild im
Großen und Ganzen keinen Einfluß. — Das alles versteht sich eigentlich von selbst;
aber zuweilen ist es nothwendig, auch das zu sagen, was sich von selbst ver¬
steht, um für eine Wahrheit offnes Zeugniß abzulegen, an der im Stillen nie¬
mand zweifelt.
Aber wir gehen noch weiter. Auch unter den Gegnern auf den beiden
extremen Seiten finden sich nur sehr wenig cynische Naturen, denen es mit
ihren Lästerungen Ernst war; die meisten haben es gemacht, wie die hei߬
blütigen Italiener, die sich zuerst vor dem wunderthätigen Marienbild in den
Staub werfen und es dann mißhandeln, wenn es seine vermeintliche Schuldig¬
keit nicht gethan hat. Es ist nicht das Bild, sondern ihr eigner Glaube, den
sie geißeln. Einer der leidenschaftlichsten Feinde unsrer Partei, Ludwig Simon,
hat in dem Buch, das wir vor kurzem besprachen, sehr offenherzige Geständnisse
darüber gemacht. -
Gagerns UnPopularität in diesem beschränkten Sinn aufgefaßt, hat einen
andern Grund, als den er angibt. Es wurde im Jahr -1848 in gewissen Kreisen
mit den Persönlichkeiten ein zu großer Cultus getrieben. Unsre politischen Freunde
führten zum Theil die Bezeichnung der Edlen, der besten Männer der Nation u. s. w.
zu häufig im Munde. Die andern Parteien empfanden das, und zwar mit
vollem Recht, als eine Beleidigung. Auch in dieser Beziehung muß man sich
hüten, um an ein griechisches Sprichwort zu erinnern, den Neid der Götter
zu erregen; denn ein übermüthiges Hervorheben der Persönlichkeit rächt sich
unausbleiblich. Der edelste, der begabteste Mann ist nicht im Stande, Wun¬
der zu thun d. h. widersprechende Anforderungen gleichmäßig zu erfüllen; er
muß einmal aufhören, dem idealen Bilde zu entsprechen, welches sich die Phan¬
tasie von ihm gemacht und dann läßt man den Mann entgelten, was die Ein¬
bildungskraft verschuldet.
Der Strom der öffentlichen Meinung ging in den ersten Monaten jenes
merkwürdigen Jahres so gewaltig, daß innerhalb der Kreise, die irgend einen
Bezug zu Frankfurt hatten, an der Allmacht der Nationalversammlung niemand
zweifelte. Wir wollen uns nicht rühmen, weil wir diesen Glauben nicht theil¬
ten, denn wir standen außerhalb des Strudels der Bewegung. Dieser Glaube
an die Omnipotenz des Parlaments fand in Gagern seine Verkörperung. Eine
schon äußerlich imponirende Erscheinung, ein Verein von Kraft und Liebens¬
würdigkeit, wie man ihn selten findet und, waS die Hauptsache war, ein durch
die freieste Bildung geläuterter, begeisterter Glaube. Als Gagern den bekann¬
ten kühnen Griff that, als er zu Köln dem König von Preußen die Nothwen¬
digkeit, den festen Willen des Volks zu erfüllen, entgegenhielt, da jubelte alle
Welt, denn hier fühlte man, daß ein echter Glaube vorhanden war und in
diesem Glauben hielt man seine eignen Hoffnungen und Wünsche für gerecht¬
fertigt. Die Nationalversammlung war gemäßigt in dem Inhalt ihrer Forde¬
rungen, aber um so rückhaltloser in der Form. Wer hätte bei so viel Selbst¬
gefühl daran zweifeln sollen, daß auch das Unmögliche erreicht werden könne!
Zuerst kam nun die Einsicht, daß Gagern nicht in dem Sinn der voll¬
ständige Ausdruck der Nationalversammlung sei, wie man es sich ursprünglich
gedacht. Selbst von der spätern Weidenbuschpartei hatten sich wol die meisten
unter der Einheit Deutschlands etwas ganz Andres vorgestellt, als nun daraus
werden sollte, oder um unsre Meinung offen auszusprechen, die meisten hatten
sich gar nichts dabei gedacht. Nun sprach Gagern mit der ganzen Wucht seiner
Persönlichkeit, wie er es früher gethan, das nothwendige Ziel, den nothwendigen
Weg aus; aber was er aussprach, war zum ersten Mal nicht mehr der Aus¬
druck für das allgemeine Vorurtheil. Man erschrak, man wurde bedenklich, in
der Hitze des Streits wurde die frühere Rücksicht vergessen. Indeß das
alles hätte sich ausgeglichen, aber das Zi5l wurde nicht erreicht. Wenn auch
nur eine kleine Majorität der Nationalversammlung unter der leidenschaftlichen
Opposition aller übrigen Mitglieder den letzten entscheidenden Beschluß faßte,
es war doch die Nationalversammlung, deren Ehre an seine Durchführung ge¬
bunden war. Durch eigne Kraft konnte sie ihren Entschluß nicht durchführen,
und die Macht, die sie anrief, verschmähte die Mitwirkung. Der Glaube an
die Allmacht der Nationalversammlung hatte sich als illusorisch erwiesen; und
da dieser Glaube an Gagerns Persönlichkeit gekettet war, so machte man ihn
dafür verantwortlich. Kein einziges Mitglied des Rumpfparlaments war noch
in den alten Illusionen befangen, aber — man hatte sich an dramatische
Actionen gewöhnt und verlangte von seinen Helden die Konsequenz der Rolle.
Gagern verschmähte es, ernsthafte Angelegenheiten nach dem Maßstab einer
dramatischen Composition zu betrachten und zerstörte damit den letzten Nimbus.
Ueberglücklich, eine Persönlichkeit gefunden zu haben, der man eine Schuld,
die nur die Umstände traf, aufbürden konnte, versicherte die Demokratie der
Paulskirche, es habe nur an Gagern gelegen, die Allmacht der Nationalver¬
sammlung zu bethätigen; aber-er habe sie verrathen. Eine Verblendung, die
nur durch den Rausch jener Tage zu erklären ist, die aber heut auch der leiden¬
schaftlichste Demokrat nicht mehr rechtfertigen möchte.
Heinrich von Gagern hatte das Bild von der Erneuerung Deutschlands,
wje er es durch die Weidenbuschpartei durchzusetzen hoffte, nicht erst in der
Paulskirche entworfen; es war der Leitstern seines Lebens gewesen. Wer die
Rede, die er noch vor Eröffnung des Parlaments in Darmstadt hielt, aufmerk¬
sam ansah, konnte nicht daran zweifeln. Aber damals dachte niemand daran,
irgend etwas aufmerksam zu lesen. Wenn nur die geläufigen Stichwörter Ein¬
heit, Freiheit u. tgi. darin vorkamen, so war man fest davon überzeugt, auch
alles Uebrige müsse mit der gewöhnlichen Ansicht Mereinstimmen. — In dem
vorliegenden Buch erzählt uns nun Gagern gewissermaßen die Entwicklungs¬
geschichte seiner politischen Ueberzeugung, und dies ist der Ausdehnung wie den
Interessen nach der hervorragende Theil des ersten Bandes. — Das Programm,
welches Heinrich von Gagern der Paulskirche 18i8 vorlegte, ist von seinem
Bruder Friedrich bereits 1823 aufgestellt worden, und dem nähern Umgang mit
diesem bedeutenden Mann verdankt der Führer unsrer Partei wenigstens zum
Theil die Anregung zu seinen eignen Ideen.
Wir behalten uns vor, beim Erscheinen der übrigen Bände das Charakter¬
bild Friedrichs von Gagern im Umriß nachzuzeichnen und bemerken liier nur, daß
es uns mit ebensoviel Freude als Bewunderung erfüllt hat. Für heute beschränken
wir uns auf dasjenige, was sich auf die deutsche Verfassungsgeschichte bezieht.
Am 17. Juli 1817 hielt Gagern der Vater in der Bundesversammlung
eine Rede, welche auf die Nothwendigkeit einer Entwicklung der Verfassung
aufmerksam machte, wenn sie auch optimistisch die Möglichkeit dieser Entwicklung
an die Bundesacte anknüpfte. Heinrich Luden machte in seiner Nemesis einen
heftigen Angriff gegen diese Rede, die er als volksfeindlich bezeichnete. Anders
verstand es> der Bund, dem Gagerns Anforderungen schon viel zu weit gingen.
Nicht lange darauf sah sich Gagern veranlaßt, sich vom öffentlichen Leben ganz
zurückzuziehen; er hat es aber verschmäht, die Rolle eines malcontenten Staats¬
manns zu spielen, er ist seinem Princip treu geblieben und hat den Fortschritt
Deutschlands lediglich in der allmäligen, aber aufrichtigen Verbesserung der
Bundesacte gesucht.
Anders sein Sohn Friedrich, der 1816, noch nicht 22 Jahre alt, als
niederländischer Hauptmann die Universität Heidelberg besuchte und namentlich
durch die philosophischen Vorträge von Fries angeregt wurde. Der junge
Mann erkannte schon damals, daß die Fehlerhaftigkeit im Princip lag. Mehre
Jahre hindurch blieb er den deutschen Angelegenheiten fremd und vermied es,
mit seinem Vater zu rechten; aber er neigte sich immer mehr zu der Ueber¬
zeugung, daß auf dem Wege der friedlichen Entwicklung des Bundes durch die
Gesetzgebung eine Besserung nicht zu hoffen sei. Da er davon ausging, daß
es den leitenden Cabineten nicht an der Einsicht, sondern an dem Willen oder
der Macht gebreche, die Zustände zu bessern', so begriff er nicht, wie der Vater
sich noch bei der Sisyphusarbeit aufhalten könne, die Entwicklungsfähigkeit
des Bundes beweisen zu wollen, da jeder Tag neue Steine von dem Gerüste
dieser Entwicklungsfähigkeit als unbrauchbare, gefährliche und ausgestoßene der
Tiefe unwiederbringlich zurollen sah.*) — Im Jahr 1823 setzte er in einem
Aufsatz, der freilich nur für seinen Vater bestimmt war, das Elend und die
Schmach der deutschen Zersplitterung mit einer Beredtsamkeit auseinander, die
uns noch heute hinreißt, obgleich uns der Stoff schon geläufig geworden ist,
ja die auf unsre heutigen Zustände noch ihre volle Anwendung findet. Un¬
gleich wichtiger war eine zweite Denkschrift über die Mittel, die politische Ein¬
heit Deutschlands herzustellen. Da der revolutionäre Weg sich jeder Berech¬
nung entzieht, so sah es Friedrich von Gagern als eine Nothwendigkeit an,
das Streben Nach Verwirklichung der nationalen Einheit an einen staatlichen
Ausgangspunkt und zwar an denjenigen anzuknüpfen, welcher durch Vereini¬
gung der meisten günstigen Bedingungen die größte Wahrscheinlichkeit für sich
haben würde, die übrigen bisher selbstständigen politischen Gebilde sich zu ver¬
söhnen oder unterzuordnen und sich einzuverleiben. Er fand diesen staatlichen
Ausgangspunkt in Preußen. „Preußen darf nur eine kluge und kühne Politik
befolgen, so wird es von ihm abhängen, Deutschland in ein Reich zu verei¬
nigen. Dazu wird nur erfordert, daß es den preußischen Namen in dem
deutschen untergehen lasse, daß es die Kammern der verschiedenen deutschen
Staaten zusammenberuse, aus dem Mediatisirten in ganz Deutschland eine
Pairskammer bilde und allen Offizieren der kleinern deutschen Heere ihren Rang
Zusichere." Die Möglichkeit eines Gelingens sieht Gagern theils in derUnpopu-
larität des östreichischen Absolutismus,.theils in der Interesselosigkeit der kleinen
Kammern, deren kleinlicher Inhalt ein nationales Gefühl nicht erregen kann.
„Sobald Preußen Reichsstände hat, werden diese wie ein Magnet die übrigen
deutschen Kammern anziehen." Um dem entgegenzukommen, soll sich in sämmt¬
lichen kleinen deutschen Kammern eine liberale Partei bilden, welche die Eini¬
gung Deutschlands unter Preußen auf ihre Fahne schreibt. — Der Grund
dieser Ueberzeugung war nicht etwa eine Vorliebe für die Hohenzollern oder
für die Berliner, sondern die ruhige Ueberlegung. Es hatte Gagern einen
schweren Kampf gekostet, einen Kampf gegen die Traditionen der Familie, gegen
seine eignen Jugendideen und Wünsche, gegen seine Liebe zum östreichischen
Heer, dessen Waffenruhm er mit Stolz getheilt hatte. Vielleicht machte grade
dieser innere Kampf ihn geneigt, bei andern Männern, die im Wesentlichen
derselben Richtung angehörten, den gleichen Proceß vorauszusetzen. In der
That war der Heldenmuth, den die Preußen in den Freiheitskriegen
gezeigt, noch so lebhaft in aller Andenken, daß sich in den gebildetsten Männern
der liberalen Partei eine verwandte Stimmung regte, eine Stimmung, welcher
Paul Pfizer 1831 in seinem Briefwechsel zweier Deutschen einen lauten
Und vernehmlichen Ausdruck gab. Doch täuschte sich Gagern, wie wir später
sehen werden, darin, daß er die Symptome dieser Stimmung als Elemente
einer, wirklichen Partei auffaßte, was sie in der That nicht waren. Für ihn
selbst ging die Idee der Freiheit mit der Idee der Einheit Hand in Hand. Er
hielt die repräsentative Monarchie mit erblichem Oberhause und gewähltem
Volkshaufe nicht allein für eine besondere Bedingung des Bestandes und der
durch sich selbst versicherten Action einer deutschen Centralgewalt, für die Haupt¬
rüstung der Krone, um gegen den historisch so tief begründeten und so mächti¬
gen Particularismus Macht zu erwerben und zu behaupten, damit sie nicht
wieder in die Wege geleitet werde, die nach allmäligen Verfall endlich zur
Auflösung des Reichs geführt haben, sondern er hielt die repräsentative Ver¬
fassung zugleich für die nothwendige politische Lebensform füx ein großes Volk
auf der Bildungsstufe des 19. Jahrhunderts.
Von Jahr zu Jahr befestigte sich Friedrich von Gagern mehr und mehr
in seiner politischen Ueberzeugung, von Jahr zu Jahr steigerte sich die Lebhaftig¬
keit seiner Polemik gegen die politischen Ansichten seines Vaters.*) Im Winter
von 1823—26 schrieb er wiederum mehre Aufsätze, die uns die Kühnheit und
Folgerichtigkeit seiner Entwürfe vollständig klar machen, die uns aber auch zeigen,
daß er in der Schätzung der wirklichen Verhältnisse einen verhängnißvollen
Rechnungsfehler beging.
In einer dieser Denkschriften von 18A6 theilt Gagern diejenigen, die sich
überhaupt mit Politik in Deutschland beschäftigen, in drei Parteien: die ser¬
vilen, die Föderalisten und die Unitarier. Die ersten wollen das Fortbestehen
der bisherigen Bundesverhältnisse, weil sie von den Mißbräuchen derselbe»
Vortheil ziehen, die letzten wollen die Einheit dadurch herstellen, daß sie mit
dem bisherigen Princip der Bundesverfassung vollständig brechen. Zu ihnen
rechnet sich Gagern selbst. Die Föderalisten stimmen in der Neigung zwar im
Ganzen mit ihnen überein, allein sie glauben die wesentlichen Zwecke der Ein¬
heit durch eine allmälige Entwicklung der bisherigen Bundesverfassung erreichen
zu können.
In dieser Classification liegen nun folgende Irrthümer, die wir um so
schärfer hervorheben müssen, da der jüngere Bruder nicht nur, sondern die ganze
Partei, deren Führer er 1848 war, sie theilt, und da sie der Hauptgrund
waren, daß in Bezug auf die Wahrscheinlichkeit des Erfolgs falsch gerechnet
wurde. Ehe wir indeß darauf eingehen, heben wir noch einige Bemerkungen
Heinrichs von Gagern hervor, denen wir vollkommen beipflichten, und die auf
jene Irrthümer das richtige Licht werfen.
„Mit der Erhebung des nationalen Geistes allein war es nicht gethan,
sondern mit ihren Folgen, mit dem nöthigenden Druck auf die wahrscheinlich
widerstrebenden Regierungen. Der wiederholte Anspruch an die Bundesgenossen¬
schaft mit dem Geist der Nation mußte, wenn er nicht eine Phrase bleiben
sollte, auf etwas Anderes gerichtet sein, als auf eine blos moralische Unter¬
stützung..... Die preußischen Staatslenker haben während jener Bewegungs¬
jahre fort und fort darüber geschwankt, wie weit ein Druck der öffentlichen
Meinung auf die Entschließungen der Regierungen erlaubt sei/ und wo dieser
Druck in die Gewaltsamkeit oder die Revolution hinüberstreife; sie haben sich
die Möglichkeit von Vereinbarungen vorgespiegelt und über halbe Erfolge
heute triumphirt, die ihnen morgen unter den Händen zerrannen; sie haben
geschwankt zwischen dem Wunsch nach einer Volkserhebung zur Unterstützung
der noch schwachen Einflüsse und.der Furcht davor; zwischen der Anerkennung
der politischen und moralischen Berechtigtheit derselben und den Zweifeln an
deren Verträglichkeit mit dem Buchstaben der Gesetze und Verträge.....
Jede Resormbestrebung, die darauf gerichtet ist, den völkerrechtlichen Charak¬
ter des Bundes weiter zu alteriren und dem Bundesstaat näher zu bringen,
wird zur Frage der Macht, also der Gewalt, von oben oder von unten.
Vereinbarung darüber unter allen Betheiligten ist nicht denkbar. Selbst die
Vereinbarung, die heute unter dem Drang der Umstände zu Stande kommt,
wenn nicht zugleich durch neue Institutionen die Macht gebrochen wird, die
sie morgen widerrufen könnte, würde nur zur Vermehrung des Haders
und des Antagonismus der particularistischen Interessen führen." —
Erwägt man ernstlich diese gewichtigen Worte, welche den Kern der Sache
treffen, so begreift man, wie verhängnißvoll jede Täuschung über die Stärke
der Partei werden mußte, auf welche sich Preußen zu stützen hatte. Und dieser
Täuschung verfielen Gagern und sein Bruder in einer doppelten Beziehung:
einmal, indem sie aus dem Wunsch einer deutschen Einheit eine einheitliche
Parteirichtung hervorzurufen glaubten, zweitens, indem sie die Stärke der
Partei, welche die Einheit wollte, im Verhältniß zu der, welche die Freiheit
wollte, überschätzten.
Was das Erste betrifft, so drückt sich Heinrich von Gagern selbst sehr fein
darüber aus. „Die neueren Revolutionen anderer Völker waren auf Ver¬
änderung der Regierungsform oder auch nur des Regierungssystems in dem
gegebenen Staate gerichtet, dessen Umfang und Einheit nicht in Frage stand;
jede Deutschland gellende Umgestaltung dagegen müßte damit beginnen, erst den
Staat sammt seinem Mittelpunkt zu schaffen, in dem sie und für den sie vor
sich gehen soll. Der überraschenden Bewegung des Jahres 18i8 hatte mit
hinein für solche Zwecke genügend erörterten, geschweige denn zum Bewußtsein
der Nation gebrachten Gedanken: wie die Einigung so vieler getrennter StaatS-
vrganismen zu einem Staatsganzen erfolgen solle, vorgearbeitet werden können;
nur das vage Verlangen nach politischer Einheit sprach sich gleichsam im Chorus
aus. Daher nahm diese Bewegung wesentlich den Charakter einer geistigen
an, die den Gedanken erst zu finden hatte; und da keine der vorgeschlagenen
Richtungen die allgemeinere Zustimmung bis zu dem Grade sich gewinnen konnte,
welcher Bedingung zur Verwirklichung ist, so bleibt die Nation darauf hin¬
gewiesen, die geistige Vorarbeit unter neuen thatsächlichen Erfahrungen fort¬
zusetzen."
Sehr richtig. Der bei weitem größere Theil der Nationalversammlung-
bestand aus Unitariern; aber abgesehen von diesem Namen, der noch dazu sehr
gefährlich war, weil er die Weiterentwicklung der Partei in einem andern
Sinn präjudieirte, als Gagern wollte, hatten diese Männer nichts miteinander
gemein. Man suchte im Anfang die öffentliche Meinung darüber zu täuschen.
Das Programm der Siebzehner enthielt den Entwurf eines Kaiserthums,
welches man nicht anders verstehen konnte, als daß es ganz Deutschland um¬
fassen sollte. Die Souveränetät des Parlaments wurde proclamirt, obgleich
die östreichischen Abgeordneten mit darin saßen. Man ließ die öffentliche
Stimmung, die damals nichts Eifrigeres zu thun hatte, als Preußen herabzu¬
setzen, gewähren, und wir wollen es nicht vergessen, daß es damals ein Oestreicher
war, Herr von Schmerling, der zuerst für Preußen in die Schranken zu treten
wagte. Man wählte einen östreichischen Prinzen zum Reichsverweser. So
kann man sich nicht darüber wundern, daß im October, als nun endlich zur
Sprache kam, was denn eigentlich geeinigt werden sollte, diejenigen Unitarier,
die ganz Deutschland einigen wollten, ihre Gegner als Abtrünnige betrachteten;
ja innerhalb der Weidenbuschpartei selbst nahm ein großer Theil das preußische
Kaiserthum nur als ein pis-aller hin, nur mit dem geheimen Vorbehalt, daß
eS doch noch gelingen würde, Oestreich wieder zum Reich zu fügen.
Noch schlimmer war der Irrthum in Bezug auf die materielle Stärke der
so gebildeten parlamentarischen Partei. Was die jugendlichen Phantasten und
Enthusiasten betrifft, auf deren materiellen Beistand man allenfalls hätte zählen
können, so waren diese nicht für, sondern gegen das preußische Kaiserthum-
Bei denjenigen Classen nun, deren Gesinnung sich auf Seiten der Weidenbusch¬
partei neigte, war die Lebhaftigkeit dieser Gesinnung sehr verschieden. Die
gleiche Gesinnung allein macht noch keine Partei, sondern nur diejenige Ge¬
sinnung, die zu Opfern bereit ist. Um zu prüfen, wie weit das der Fall war,
müssen wir uns zunächst darüber klar machen, was die positive Grundlage
jener abstracten Einheitsidee ist. Es ist der Wunsch, den jeder in seiner Bil¬
dung und äußern Stellung einigermaßen Selbstständige fühlt, einem Staat
anzugehören, dessen er sich unter den Nationen rühmen könne. Das Gefühl
deS Mangels war wol bei allen Deutschen vorhanden; denn wenn wir Oestreich
aufnehmen, wo der Wunsch, mit Deutschland vereinigt zu sein, einen ganz
andern Sinn hat, als bei uns, so ist keiner der deutschen Staaten in jenen«
Sinn souverän und national, wie wir uns diese Begriffe nach dem Vorbild'
anderer Völker versinnlichen; aber der Grad dieses Mangels und folglich der
Grad der Sehnsucht nach Einheit ist in den verschiedenen Staaten verschieden,
am stärksten in den ganz kleinen Staaten, welche die Uebelstände der Klein¬
staaterei am lebhaftesten empfinden und keine gemeinsame Erinnerung, kein ge¬
meinsames Vorurtheil aufzuopfern haben. Was die Mittelstaaten betrifft, so
wird die Einheitspartei nur aus einem kleinen Theil der am freiesten gebildeten
Elasten beruhen; unter den übrigen werden sich mehr Gegner als Freunde
finden, namentlich wenn die Form der Einheit als Unterwerfung unter einen
fremden Volksstamm erscheint. Der Sachse, der Baier, der Würtenberger u. s. w,
hat ein eignes Selbstgefühl; sie alle empfinden die scheinbare Uebe'rlegenheit
des Preußen mit Unbehagen, und wenn man auch diese Befangenheit durch
Raisonnement überwindet, so wird daS daraus hervorgehende Resultat selten
stark genug sein, um das zu leisten, was Gagern von einer nationalen Er¬
hebung verlangt. Auf die Demokraten, die Aufrührer in Baden und Sachsen
konnte sich Preußen doch unmöglich stützen, und was die Sympathien der Ge¬
bildeten betrifft, so waren diese zu Ende des Jahres 4 830 wol noch vorhanden,
aber wenn das schreckliche Unglück eines Bürgerkriegs erfolgt wäre, so wäre
vermöge jener Gesinnungen kein einziger Soldat übergegangen. Wir bemerken
das alles, um folgenden Satz schärfer hervorzuheben: man überschätzt die Hilfe,
welche Preußen aus Kleindeutschland erlangen kann; Preußen kann sich nur
auf seine eigne Kraft stützen. Wie wichtig dieser Satz ist, wird sich im Folgen¬
den ergeben.
Der verhängnißvollste Irrthum in Bezug auf die Abschätzung der Kräfte
ist in folgendem Satz ausgedrückt: „Das Maß der politischen Freiheit, das
Verhältniß der gesellschaftlichen Stände zueinander, — nächste Ursachen der
Revolution in Frankreich, — waren bei der deutschen Bewegung des Jah-
n's -1848 nur untergeordnete Fragen." — An diesem ungeheuren Irrthum ist
d>e deutsche Bewegung gescheitert. Gewiß stimmen wir mit Gagern insofern
überein, daß das eigentlich so sein sollte, denn aller Erwerb der Freiheit, alle
Befestigung des Rechtszustandes sind völlig illusorisch, so lange nicht der Par-
ticularismus beseitigt wird, wie daS noch neuerdings das Beispiel Hannovers
ö'Ugt. man muß von der Masse des Volks, und diese kommt bei den
politischen Parteien in Betracht, nicht verlangen, daß sie mehr als das Nächst-
I'egende miteinander verknüpft. Die Bedrückungen von Seiten der Behörden
"der von Seiten der höhern Stände empfindet jedermann, so weit sie in seine
Sphäre gehören; jeder wünscht sie los zu werden und ist folglich bereit, sich
einer Partei anzuschließen, die ihm Abhilfe dieser Uebelstände verspricht. Aber
Weiter sehen kann nur der Gebildete; nur er begreift, daß Deutschland eine
ganz andere historische Voraussetzung hat, wie die übrigen Länder, daß hier
der Umweg der sicherste Weg ist, der zur Freiheit führt. Wir wollen ein offnes
Geständniß ablegen. Wir hatten die Majorität in der Paulskirche, aber wir
verdankten sie nicht der Einheitsidee, sondern theils dem guten liberalen Ruf der
einzelnen Führer, theils dem lebhaften Wunsch der Mittelclasse, den Wühlereien
ein Ende zu machen. Hätte die Paulskirche dem Publicum die deutsche Ein¬
heit gebracht, so wäre dasselbe trotz mancher Einwendungen zuletzt damit zu¬
frieden gewesen; aber das Ansinnen, für die Herstellung derselben etwas zu
thun, hätte kein Gehör gesunden.
Worauf beruht nun, da es mit der nationalen Unterstützung von aus¬
wärts nicht viel sagen will, die eigentliche Stärke Preußens, dasjenige, was
die kleindeutschen Patrioten veranlaßt, ihre Hoffnungen auf Preußen zu setzen?
— Auch hier müssen wir uns gegen den verehrten Mann, dem wir gern in
allen Punkten folgen möchten, einige Einwendungen erlauben.
Daß die wünschenswerthen Veränderungen in der Bundesverfassung mit all¬
seitiger Einwilligung sämmtlicher Berechtigten zu Stande kommen könnten, daran
ist, wie Gagern sehr richtig bemerkt, nicht zu denken. So sehr man sich auch be¬
mühen mag, das, was kommen soll, durch friedliche, legale Entwicklungen vor¬
zubereiten, zuletzt gelangt man doch an einen Punkt, wo es heißt: Kraft gegen
Kraft. ES wäre ein schreckliches Schicksal für Deutschland, wenn daS einmal
in der Form eines Bürgerkriegs stattfinden sollte, wie es im Jahr -1850 den
Anschein hatte, namentlich wenn die Kräfte auf beiden Seiten ungefähr gleich
gemessen sein sollten. Wir haben an dem dreißigjährigen und dem siebenjähri¬
gen Kriege genug gehabt. Der günstigste Fall träte dann ein, wenn auf der
einen Seite das Uebergewicht so groß ist, daß seine bloße Entfaltung genügt,
die Sache in Ordnung zu bringen, wie es bei der Reform der eidgenössischen
Verfassung 18i7 der Fall war. Wenn man nun die Hilfe, die Preußen aus
der öffentlichen Meinung Deutschlands schöpfen könnte, ungebührlich überschätzt,
so geschieht das häusig auch mit der preußischen Hausmacht. Der Waffenstill¬
stand von Malmö, der Frieden mit Dänemark und die olmützer Punctationen
werden immer dunkle Tage in der deutschen Geschichte bleiben. aber die Re¬
gierung kann vieles zu ihrer Entschuldigung anführen. Man hängt sich zu
sehr an die Reminiscenzen des siebenjähriges Kriegs und vergißt dabei einmal,
daß die Kriegführung eine andre geworden ist, zweitens, daß in jedem Jahre
jenes Kriegs es in der Hand der Feinde Preußens lag, diesen Staat zu ver¬
nichten, wenn sie nicht ^radezu von Gott geblendet gewesen wären. Preußen
steht noch heute, so wie 17S6. Jeder ernsthafte Krieg muß auf die Gefahr
des Untergangs unternommen werden und Preußen hat heute viel mehr zu
verlieren als damals. Im Jahr 1850 war die Uebermacht so entschieden auf
Seite der Verbündeten, daß der preußische Patriot nur mit Zagen dem Aus-
gang entgegensah. — Und doch ist es im Grunde nur die militärische und
Politische Concentration Preußens, die es in den Hoffnungen Deutschlands
jene entscheidende Rolle spielen läßt. Diese Hoffnung wird sich steigern, je
mehr innere Kraft Preußen entwickelt; sie wird mehr und mehr verblassen, je
kraftloser der Staat sich zeigt. Die Hoffnungen, die man auf Preußen setzt,
beruhen nicht auf seiner Bildung, nicht auf feiner Vielseitigkeit, nicht auf sei¬
ner Liberalität, sondern auf seiner Stärke. Freilich wird die Stärke auf Deutsch¬
land nur dann einwirken können, wenn sie zugleich Sympathien für sich er¬
weckt; aber ohne diese Stärke sind die Sympathien nichts. Hätte man vor dem
November dem liberalen Preußen die Kaiserwürde übertragen wollen (man denke
an den Antrag des Abgeordneten Braun), so wäre ein allgemeines Gelächter
entstanden. Im April -1849 erregte der Antrag zwar Unwillen, aber kein Ge¬
lächter. Wie sehr wir Ursache haben, über die weitern Schritte des Mini¬
steriums Manteuffel bedenklich zu sein, was es im November 18i8 vollbracht,
war wirklich eine rettende That, für Deutschland wie für Preußen.
Wir nehmen keinen Anstand, im directesten Widerspruch gegen Heinrich von
Gagern zu erklären, die Stärke Preußens liegt im specifischen Preußenthum.
Aber freilich ist für uns das specifische Preußenthum nicht in der Partei G^er-
lach-Wagener zu suchen; es gibt vielmehr keine Partei^ welche dem specifischen
Preußenthum so entgegengesetzt wäre. Das specifische Preußenthum liegt in
der Erinnerung an Friedrich den Großen, in dem daran sich knüpfenden Erobe¬
rungstrieb, in den Ideen der bürgerlichen Gleichheit, der religiöseinAufklärung, deS
rationalistischen Regiments; es liegt ferner in der protestantischen, antikatholischen
Bildung. Von allen diesen will die Doctrin das Gegentheil, und darum hassen
alle aufrichtigen Anhänger der Partei Friedrich den Großen und seine Schöpfun¬
gen und werden nur dann für ihn warm, wenn sie sich — an seinen Stock erinnern.
„Das specifische Preußenthum," sagt Heinrich von Gagern, „ist der hassens-
wertheste innere Feind der Einheit Deutschlands und in der That, in nichts
ist auch Deutschland so einig, als in der gleichartig ausgeprägten, Antipathie
aller auch sonst sich gegenüberstehenden Parteien gegen dieses specifische Preu¬
ßenthum." „Das specifische Preußenthum. ... hat zwar den Ehrgeiz, Preu¬
ßen weiter zu vergrößern, aber nur durch solche territoriale Allusionen, die
es glaubt durch den Verdauungsproceß sich assimiliren zu können.... Rhein¬
land .und Westphalen (?) sind ihm lästige preußische Besitzungen, weil sie jener
Assimilirung widerstehen.....und wie dieses specifische Preußenthum gleich¬
artig ist gegen Deutschland, so ist es entschieden abgeneigt gegen Oestreich;
en>e Empfindung, welcher die Gegenseitigkeit natürlich Vorschub leistet.....
Es betrachtet den zu verewigenden Dualismus, den alle andern deutschen Par¬
teien als das Nationalunglück verwünschen, als den eigentlichsten Ausdruck der
Gleichberechtigung mit Oestreich u. s. w."
Mit dieser Schilderung wird zwar zunächst die gerlachsche Partei gemeint;
aber einmal entbehren mehre dieser Vorwürfe der Begründung, z, B. die Ab¬
neigung gegen Oestreich ist gewiß nicht das charakteristische Kennzeichen der
neupreußischen Partei; sodann passen mehre von jenen Ideen nicht blos auf
die Neupreußen: den Gedanken z. B., daß ein Staat nur diejenigen Elemente
aufnehmen soll, die er, um das naturhistorische Bild beizubehalten, verdauen
kann, adoptiren auch wir, auch wir halten es sür ein Unglück, daß Preußen
die Rheinprovinz erhielt und nicht etwa Hannover, und hier möchten wir an
Gagern eine best-laute Frage stellen. Gesetzt, im Jahr I8tü hätten es die
Umstände dahin gebracht, daß Hannover, Oldenburg und Mecklenburg preußisch
wurden, anstatt Rheinland, Westphalen u, s. w,, ständen wir dann dem ge¬
meinsamen Ziele näher oder ferner? — Diejenigen Männer, die damals die
Geschicke der Völker entschieden, haben darüber grade so gedacht, wie wir. Sie
wußten sehr wohl, warum sie den preußischen Staat so und nicht anders con-
struirten. — Wir lassen diese Deduction, die sich jeder selbst ergänzen kann,
bei Seite und wiederholen statt dessen unsre alte These: die Basis der Ein¬
heitsidee ist der Wunsch, einem souveränen, mächtigen und einheitlichen Staat
anzugehören, und die Herstellung dieses Staats wird nur dadurch möglich, daß
eine Kraft eintritt, auf die man sicher rechnen kann.
Noch einen Punkt müssen wir hervorheben: das Verhältniß zu Oestreich.
Heinrich von Gagern setzt auseinander, daß durch die projectirte Reichsverfassung
(Herstellung eines außeröstreichisch-deutschen Kaiserstaats mit Fortbestehen pes
allgemeinen Bundes) Oestreich nicht wäre geschwächt, sondern gekräftigt wor¬
den, denn sein eigentlicher Feind, das specifische Preußenthum wäre dadurch
unterdrückt worden, und in der auswärtigen Politik des Staatenbundes hätte
Oestreich das entscheidende Wort gesprochen, während bei dem Fortbestehen der
bisherigen Verfassung das specifische Preußenthum immer mehr verstärkt und
das preußische Interesse für Deutschland maßgebend werden muß. — Heinrich
von Gagern ist eine zu offene, gerade und souveräne Natur, als daß wir nicht
glauben sollten, diese Ansichten, auf denen er noch heute beharrt, seien seine
volle begründete Ueberzeugung. Aber die östreichischen Staatsmänner haben
diese Ueberzeugung nicht getheilt, und wir vermögen es auch nicht. Daß in
dem neu zu bildenden Bundesstaat das specifische Preußenthum nickt unter¬
drückt, daß er nicht in das Schlepptau der östreichischen Politik genommen
werden sollte, dafür wäre schon gesorgt worden. — Aber der Gedanke eines
Einverständnisses mit Oestreich ist ein fruchtbarer, ein nicht zu umgehender,
und wir sind noch heute der Ansicht, daß es Mittel und Wege gibt, in Bezug
auf eine Reform der Bundesverfassung ein Einverständnis; zwischen Oestreich
und Preußen herbeizuführen. — Wir haben unsern Raum bereits überschritten,
wir verzichten daher auf eine weitere Ausführung und machen nur »och
auf die geistvolle und durchgreifende Kritik der blittersdorfschen Ideen auf¬
merksam.
Zum Schluß möchten wir die Frage stellen, ob der Widerspruch zwischen
unsern Ansichten und denen eines Mannes, dessen Wort für uns Autorität
sein sollte, nicht blos ein scheinbarer sein sollte. Geht es nicht mit dem speci¬
fischen Preußenthum wie mit jedem Nationalgefühl, welches in seinen Ueber¬
treibungen lächerlich und verwerflich, in seinem Innern dennoch den Keim seiner
Zukunft enthält? Ist- das specifische Preußenthum wirklich dem deutschen
Nationalgefühl feindselig? Man lese in Goethes Wahrheit und Dichtung, wie
sein Vater, der wackere Reichstädter, wie er selbst von Preußen dachte. Män¬
ner wie Herrn von Ploto können wir noch immer gebrauchen; was schadet
es, daß sie zugleich Junker sind? Die Schlacht bei Roßbach gehört doch zu
unserm Nationalschatz, ja so seltsam es klingt, die Schlacht bei Leuthen ge¬
hört auch dazu. Was den specifischen Berliner betrifft, so denkt über ihn
jeder nichtberlinische Preuße grade ebenso, wie der Sachse, der Schwabe u. s. w.,
und die gerlachsche Partei ist, wie wir gezeigt, nichts weniger als preußisch.
Im gegenwärtigen Augenblick an eine Bundesreform zu denken, wäre eine
Thorheit, und der Zeitpunkt mag noch sehr fern liegen, wo überhaupt daran
gedacht werden kann. Ebendarum ist es wichtig, uns während dieser Muße,
wo die Entwürfe feiern, über unsre Vorstellungen zu verständigen. Die
schwarzweiße Fahne hat stets zur Ehre Deutschlands geweht, und alle Achtung
vor der burschenschaftlichen Tricolore, eine Geschichte hat sie noch nicht.
Die ungeheure Bewegung, welche am Anfange des 16. Jahrhunderts in
die Seele des deutschen Volks kam und durch die Thätigkeit der Reformatoren
geregelt und beherrscht wurde, übt noch jetzt, nach vierthalb Jahrhunderten,
unen unwiderstehlichen Zauber auf jeden aus, der diese Vergangenheit näher
betrachtet. Niemals, so lange das deutsche Volk lebt, hat sein innerstes Wesen
steh so rein, so großartig und so rührend offenbart, als in dem Kampfe gegen
gemüthlosen Despotismus, welchen die römische Kirche damals ausübte.
Alle schönen Eigenschaften unsres Gemüthes und Charakters treten in dieser
Zeit in Blüthe: Begeisterung, Hingebung, Opferfreudigkeit, ein tiefer sittlicher
Zorn und die ernste Freude an systematischem, consequenten Denken. Es war
das erste Mal, daß durch die Macht des Gedankens das Volk in allen seinen
Schichten aufgeregt, gehoben und zu gemeinsamem Wollen fortgerissen wurde.
Jeder Einzelne nahm Theil an dem Streit; in der ärmsten Hütte wurden die
Fragen nach der Gnade Gottes, der Vergebung der Sünden mit leidenschaft¬
licher Wärme durchgesprochen. Den Hirtenknaben trieb der Drang nach Wissen
von seiner Herde, der reisende Händler focht am Herdfeuer der Nachtherberge
für und gegen den Ablaß; in der ganzen Nation zuckte es wie ein elektrisches
Feuer und Luthers Worte waren Donnerschläge, welche die Fortschritte des
großen Wetters bezeichnen. Seine ungeheure Popularität, größer vielleicht,
als sie jemals irgend ein Deutscher besessen hat, wird nur verständlich, wenn
man beherzigt, daß dieselben Zweifel und innern Kämpfe, welche er selbst
durchgemacht hat, zu derselben Zeit die Herzen von Hunderttausenden bewegten
und zerrissen.
Wenn aber die ersten Jahrzehnte der jungen Reformation merkwürdige
Einblicke in die Seele des deutschen Volkes gewähren, so sind die zwanzig
Jahre vor Ausbruch der religiösen Bewegung nicht weniger interessant. Die
schnelle Popularität der classischen Sprachen, der Eifer sie zu lernen, die
mächtige Veränderung, welche diese neue Wissenschaft auf die religiösen An¬
schauungen ausübte, das alles jetzt noch zu erkennen, ist nicht ganz leicht.
Solche Zustände und Stimmungen sind es vorzugsweise, welche durch Selbst¬
bekenntnisse der Zeitgenossen verständlich werden. Bereits sind einige solche
Aufzeichnungen in d. Bl. früher mitgetheilt worden; die, welche hier folgt,
darf ein besonderes Interesse beanspruchen, denn der Mann, welcher sie nieder¬
schrieb, ist einer der untadligsten aus dem Kreise der Reformatoren. Friedrich
Mecum, lateinisch Myconius, war der Sohn ehrbarer Bürgersleute aus
Lichtenfels in Oberfranken, geboren 1491. Mit dreizehn Jahren kam er auf
die lateinische Schule der damals aufblühenden Bergstadt Annaberg. — Dort
erlebte er, was weiter unten mit seinen Worten erzählt wird, und ging im
Jahr 1310 als 19jähriger Jüngling in das Kloster. Als Prediger im FranciS-
canerorden wurde er einer der ersten, eifrigsten und treusten Anhänger der
wittenberger Professoren. Er trat aus dem Orden, wurde Prediger der neuen
Kirche in Thüringen, endlich Pfarrherr und Superintendent zu Gotha, wo er
die Reformation durchsetzte und starb im Jahr 1546. Zu Luth?r stand er in einem
eigenthümlichen Verhältniß. Er war nicht nur sein bescheidener und inniger
Freund in vielen Beziehungen des Privatlebens, sondern in seinem Verhältniß
zu Luther war bis zu seinem Tode eine Poesie, welche ihm das ganze Leben
verklärte. In der verhängnißvollsten Zeit seines Lebens, sieben Jahre bevor
Luther die Reformation begann, war ihm das Bild des großen Mannes im
Traum erschienen und hatte die Zweifel seines aufgeregten Herzens beruhigt-
und in der Verklärung des Traumes sah der treue, fromme Deutsche seinen
großen Freund fortan zu jeder Stunde. Aber noch ein anderer Umstand macht die
Person des Erzählers für uns interessant. Wie unähnlich der sanfte, fein
organisirte Mann auch seinem trotzigen Freunde sein mag, in dem Jugendleben
beider ist eine auffallende Ähnlichkeit. Und manches, waS aus Luthers
Jugend uns unbekannt geblieben ist, findet seine Erklärung in dein, was
MyconiuS über seine eigne Jünglingszeit erzählt. Beide waren arme Schüler
einer lateinischen Schule, beide wurden durch den allgemeinen Drang nach
Wissen in die damalige Gelehrtenlaufbahn hereingetrieben, beide wurden durch
innere Kämpfe und jugendliche Schwärmerei in das Kloster getrieben, beide
wurden Pediger des Franciscanerordens, beide fanden im Kloster nicht den Frie¬
den, welchen sie leidenschaftlich suchten, sondern neue Zweifel, größere Kämpfe,
Jahre der Qual, banger Unsicherheit. Auch manche Zufälligkeiten im Leben
beider stimmen zusammen. Für beide wurde der unverschämte Tetzel der Stein
des Anstoßes und Aergernisses, der ihr Gemües empörte und die ganze Rich¬
tung und Thätigkeit ihres spätern Lebens bestimmte; und beide starben in
demselben Jahre, Myconius sieben Wochen nach Luther, nachdem er sechs Jahr
vorher aus einer tödtlichen Krankheit durch einen Beschwörungsbrief Luthers
Zu neuem Leben erweckt war.*)
Friedrich Myconius hat außer Theologischem (er hat wenig drucken lassen)
auch in. deutscher Sprache eine Chronik seiner Zeit geschrieben, in welcher seine
eigne Thätigkeit und die Zustände Gothas am ausführlichsten und interessan¬
testen behandelt sind; außerdem hat er Einzelnes aus seinem Leben besonders
erzählt, theils lateinisch, theils deutsch, wie es ihm unter die Feder kam. Am
-bekanntesten und öfter gedruckt ist der Traum, welchen er in der ersten Nacht
nach seinem Eintritt ins Kloster hatte. Der Apostel Paulus, welcher darin
als sein Führer auftrat, hatte, wie Myconius nach Jahren zu erkennen glaubte,
Person, Gesicht und Stimme Luthers. Dieser lauge Traum ist in lateinischer
Sprache niedergeschrieben, so auch die Einleitung dazu, welche für uns lehr¬
reicher ist, weil sie seine Stimmungen vor dem Eintritt ins Kloster mit schöner
Einfachheit schildert. Von dieser Einleitung aber findet sich in einem Manu-
seript der G. Bibliothek zu Gotha lM-ire. IZ. ne>. 1S3), unter andern, zum
Theil ungedruckten Schriften des Myconius und seiner Zeitgenossen auch eine
durch Myconius selbst verfertigte deutsche Uebersetzung. Nach dieser ist das Folgende
^ne sehr getreue, nur an wenigen Stellen verkürzte Uebertragung in unsre
Redweise. Das Leben des Friedrich Myconius von K. F. Letters ose (Hamburg
und'Gotha 1834) ist so brauchbar, als man von einem Buch verlangen kann,
welches hauptsachlich zur Erbauung und ohne Benutzung der handschriftlichen
Quellen geschrieben ist.
1310.
„Johannes Tetzel von Pirna in Meißen, ein Dominicanermönch, war
ein gewaltiger Ausschreier der Jndulgenzien oder des Ablasses deS römischen
Papstes. Er verharrte mit diesem seinem Vorhaben zwei Jahre in der dazumal
neuen Stadt Annaberg und bethörte das Volk so sehr, daß sie alle glaubten,
es wäre kein andrer Weg, Vergebung her Sünde und das ewige Leben zu er¬
langen, als die Genugthuung durch unsre Werke, von welcher Genugthuung
er doch sagte, daß sie unmöglich wäre. Doch wäre noch ein einziger Weg
übrig, nämlich wenn wir dieselbigen uns <Md von dem römischen Papst er¬
kauften, uns also kauften des Papsts Indulgenz, welche er nannte Vergebung
der Sünden und einen gewissen Eingang ins ewige Leben. Hier könnte ich
Wunder über Wunder und unglaubliche-Dinge sagen, was für Predigten ich
die zwei Jahre auf dem Annaberg von dem Tetzel gehört habe; denn ich hörte
ihn ganz fleißig predigen, und er predigte alle Tage, ich konnte auch andern
seine Predigten nachsagen, mit allen Geberden und Ausreden, nicht, daß ich
seiner Spott hatte, sondern es war mein großer Ernst. Denn ich hielt alles
für oriiLuIg, und göttliches Wort, dem man glauben müsse, und was vom Papst
kam, das hielt ich, als käme es von Christo selbst.
Zuletzt, um Pfingsten im Jahre Christi -IL10, traute er, er wolle das,
rothe Kreuz niederlegen, und die Thür des Himmels zuschließen, und die
Sonne auslöschen, und es würde nimmermehr wieder dazu kommen, daß man
um so ein gering Geld Vergebung der Sünden und ewiges Leben erlangen
könnte. Ja es wäre nicht zu hoffen, daß, so lange die Welt stehen würde,
solche Mildigkeit des Papstes wieder hierher käme. Er vermahnte auch, daß
jedermann wohl wahrnehmen sollte seiner eignen Seele Seligkeit und die seiner
verstorbenen und lebendigen Freunde. Denn jetzt sei vorhanden der Tag des
Heils und die angenehme Zeit. Und er sprach: es versäume ja niemand
seine eigne Seligkeit, denn wenn du nicht hast des Papsts Briefe, so kannst
du von vielen Sünden und easibus rsservaüs durch keinen Menschen absolvirt
und losgesprochen werden. Es wurden öffentlich an die Kirchthüren und
Mauern der Kirche gedruckte Briefe angeschlagen, darinnen geboten war, daß
man, um dem deutschen Volk für seine Andacht ein Zeichen von Dank zu geben,
hinfür zum Schluß die Ablaßbriefe und die vollkommene Gewalt nicht so theuer
wie im Anfang verkaufen sollte, und am Ende des Briefs zu unterst war da¬
zu geschrieben: eauperibus «Zvntrn- gratis, den Armen, Unvermögenden
man die Ablaßbriefe umsonst geben, ohne Gelb um Gottes willen.
Da fing ich einen Handel an mit den Commissarien dieses Ablaßkrams,
aber sührwahr es trieb und munterte mich hierzu auf der heilige Geist, wiewol
ich selber zur Zeit nicht verstand, was ich that.
Es hatte mich mein lieber Vater in meiner Kindheit gelehrt die zehn Ge¬
bote, das Vater Unser und den christlichen Glauben, und zwang mich, daß ich
immer beten mußte. Denn (er sagte) wir hätten alles allein von Gott, gratis,
Umsonst und er würde uns auch regieren und führen, wenn wir fleißig bete¬
ten. — Von den Jndulgenticn und römischem Ablaß sagte er, es wären nur
Netze, womit man den Einfältigen, das Geld abfischte und aus dem Beutel
nähme, und man könnte gewiß die Vergebung der Sünden und das ewige
Leben mit Geld nicht kaufen und zu Wege bringen. Aber die Priester oder
Pfaffen wurden zornig und schellig, wenn man solches sagje. Dieweil ich denn
in den Predigten täglich nichts Anderes hörte, denn das große Lob des Ab¬
lasses, blieb ich im Zweifel, wem ich mehr glauben sollte, meinem lieben Vater
oder den Priestern als Lehrern der Kirche. Ich stund im Zweifel, aber doch
glaubte ich mehr den Priestern, als meines Vaters Unterricht. Aber das
Einzige ließ ich nicht zu, daß die Vergebung der Sünde nicht könnte erlangt
werden, außer wenn sie mit Geld erkauft würde, zumal von den Armen. Des¬
halb gefiel mir wnndcrwol die vlausuls, am Ende von des Papstes Brief:
^auperiKus gratis «ZsrUur propter Deruu. —
Und als man in drei Tagen das Kreuz mit sonderlicher Herrlichkeit nieder¬
legen und die Stufen und Leitern zum Himmel abhauen wollte, trieb mich der
Geist, daß ich zu den Commissarien ging und sie um die Briefe von der Ver¬
gebung der Sünden bat „aus Gnade für die Armen". Ich gab auch an, ich
wäre ein Sünder und arm und bedürfte der Vergebung der Sünden, die aus
Gnaden geschähe. Am zweiten Tage um die Vesperzeit trat ich in Hans
Pflocks Haus, wo der Tetzel mit den Beichtvätern und Haufen von Priestern
beisammen war, und habe sie mit lateinischer Sprache angeredet und gebeten,
daß sie mir Armen, nach dem Befehl in des Papstes Brief wollten gestatten,
üU bitten um die Absolution von aOen meinen Sünden, umsonst und um
Gottes willen, «ztlaru null» 0K8U resörvatv, ohne Vorbehalt eines einzigen
Falles, und darüber sollten sie mir liters-Z testiluoniales des Papstes oder
schriftlich Zeugniß geben. Da> haben sich die Priester verwundert über meine
lateinische Rede, denn das war in dieser Zeit ein seltenes Ding, sonderlich bei
^n jungen Knaben, und gingen bald aus der Stube in die Kammer, die
daneben war, zu dem Herrn Comissar Tetzel. Sie zeigten ihn mein Begehr
"N, und baten auch für mich, daß er mir umsonst die Ablaßbriefe geben möchte.
Endlich nach langer Berathschlagung kommen sie wieder und bringen diese
Antwort: lieber Sohn, wir haben deine Bitte dem Herrn Commissario fleißig
Vorgetragen, und er bekennet, er wolle gern deine Bitte gewähren, aber er
könne nicht, und wenn er gleich wollte, so wäre doch diese Concession eine
Nullität und nicht kräftig. Denn er hat uns angezeigt, daß klar in des
Papsts Brief stehe, daß die gewiß theilhaftig würden der reichmilden Jndul-
gentien und Schätze der Kirche und der Verdienste Christi, cM ponixsient
manum achutriosm, die mit der Hand hülfen, das ist, die da Geld gäben.
Und das sagten sie mir alles mit deutschen Worten, denn es war keiner unter
ihnen, der mit einem drei lateinische Worte recht hätte reden können.
Dagegen aber habe ich aufs neue gebeten und habe aus dem angeschla¬
genen Brief des Papstes bewiesen, daß der heilige Vater, der Papst, befohlen,
man solle den Armen solche Briefe umsonst, um Gottes Willen geben und
sonderlich weil dabei geschrieben wäre: sei inancZatum Dammi papas proprwm,
d. i. auf des Herrn Papst eignen Befehl.
Da gehen sie wieder hinein und bitten den stolzen, hochmüthigen Mönch,
er möchte mir doch meine Bitte gewähren und mich mit dem Ablaß von sich
lassen, denn ich wäre ein sinnreicher und beredter Jüngling und werth, daß
man auf mich etwas Sonderliches vor andern wendete. Aber sie kommen
wieder heraus und bringen wieder die Antwort et<z manu auxllmti'los, von der
helfenden Hand, die allein fähig wäre, zum heiligen Ablaß. Ich aber bleibe
fest und sage, daß sie mir Armen Unrecht thäten, den beide, Gott und der
Papst, nicht ausschließen wollten von der Gnade, den verwürfen sie um etlicher
weniger Pfennige willen, die ich nicht hätte. Da entsteht ein Streit, ich sollte
doch etwas Geringes geben, damit es an der hilfreichen Hand nicht mangelte,
ich sollte nur einen Groschen geben; ich sagt, ich hab ihn nicht, ich bin arm.
Zuletzt kam es darauf, ich sollte nur sechs Pfennige geben, da antwortete ich wieder,
ich hätte auch nicht einen einzigen Pfennig. Sie redeten mir zu und sprachen
miteinander. Endlich hörte ich, daß sie wegen zwei Dingen in Sorge waren, erst¬
lich man sollte mich in keinem Fall ohne Ablaßbrief weggehen lassen, denn dies
könne ein von andern angelegter Plan sein und möchte hernach ein böses Spiel
daraus entstehen, dieweil in des Papstes Brief klar stünde, den Armen solle man
es umsonst geben. Ferner aber, man müßte dennoch etwas von mir nehmen, da¬
mit nicht die andern hörten, die Ablaßbriefe würden umsonst ausgegeben und
käme hernach der ganze Haus der Schüler und Bettler gelaufen und wollte eS
ein jeglicher umsonst haben. Darum hätten sie nicht sorgen brauchen, denn
die armen Bettler suchten mehr^daS liebe Brot, um den Hunger zu ver¬
treiben.
Nachdem sie ihren Rath gehalten haben, kommen sie wieder zu mir und
gibt mir einer sechs Pfennige, daß ich sie dem Commissario geben sollte. Durch
diesen Beitrag würde ich auch ein Ausdauer der Kirche Se. Peters zu Rom,
item ein Erwürger des Türken und würde noch theilhaftig der Gnade ChrisN
und der Jndulgentien. Aber da sagt ich frei aus Anregung deS Geistes: wenn ich
Jndulgentien und Ablaß für Geld kaufen wollte, so könnte ich wol ein Buch
verkaufen und sie um mein eigen Geld kaufen. Ich' wollte sie aber umsonst,
geschenkt haben, um Gottes willen oder sie würden Rechenschaft vor Gott da¬
für geben, daß sie meiner Seele Seligkeit versäumt und verscherzt hätten wegen
sechs Pfennigen ; da doch beide, Gott und der Papst wollten, daß meine Seele
theilhaftig werden sollte der Vergebung aller meiner Sünden, umsonst, aus
Gnade. Dies sagte ich und wußte doch fürwahr nicht, wie es mit den Abla߬
briefen stünde. —
Endlich nach diesem Gespräch frugen mich die Priester, von wem ich daher
geschickt sei und wer mich abgerichtet habe, solche Sachen mit ihnen zu verhan¬
deln. Da habe ich ihnen die lautere klare Wahrheit gesagt, wie es war, daß
ich von ganz und gar keinem Menschen vermahnt oder angetrieben oder durch
Rathgeber dazu gebracht worden sei, sondern daß ich allein, ohne eines Men¬
schen Nath, nur im Vertrauen und Zuversicht aus die gnädige, umsonst ge¬
schenkte Vergebung der Sünden solche Bitte angestellt hätte und ich hätte Zeit
meines Lebens niemals mit solchen großen Leuten geredet oder etwas verhan¬
delt. Denn ich war von Natur schamhaft und wenn mich nicht der große
Durst nach der Gnade Gottes gezwungen hätte, so hätte ich nicht so etwas
Großes gewagt und mich nicht unter solche Leute gemengt und so etwas von
ihnen gebeten. Da wurden mir abermals die Ablaßbriefe verheißen, aber doch
s°, daß ich sie um sechs Pfennige kaufte und die sollten mir für meine Person
umsonst geschenkt sein. Ich aber bin darauf beständig geblieben, daß mir die
Ablaßbriefe von dem, der da Macht hatte, sie zu schenken, sollten umsonst geschenkt
werden, wo nicht, wollte ich die Sache dem lieben Gott befehlen und anheim¬
stellen. Und also wurde ich von ihnen entlassen.
Die heiligen Diebe wurden gleichwol traurig über diesen Handel, ich aber
war zum Theil betrübt, daß ich keinen Ablaßbrief bekommen hatte, zum Theil freute
ich mich auch, daß trotzdem noch einer im Himmel wäre, der da wollte ohne
Geld und Darlehn die Sünde dem bußfertigen Sünder vergeben, nach dem
Spruch, den ich oft in der Kirche gesungen hatte: So wahr ich lebe, spricht
Gott, will ich nicht den Tod des Sünders, sondern daß er bekehrt werde und
^be. . Ach lieber Herr und Gott, du weißt, daß ich hier in dieser Sache nicht
lüge oder etwas von mir erdichte. —,
Dabei war ich also bewegt, daß ich, indem ich heimging in meine Herberge,
^ier von Thränen zerflossen und zerschmolzen wäre. Also komme ich in meine
Herberge, gehe in meine Kammer und nehme daS Crucifix, das immer auf dem
Tischchen in meiner Studirkammer lag und lege es auf die Bank und falle davor
nieder auf die Eröe. Ich kann es hier nicht beschreiben, aber damals habe
ich können fühlen den Geist des Gebetes und der Gnade, den du mein Herr
und Gott über mich ausgossest. Die Summa aber war diese: ich bat, daß du,
lieber Gott, wollest mein Vater sein, du wollest mir die Sünde vergeben, ich
ergebe mich dir ganz und gar, du möchtest jetzt aus mir machen, was dir ge¬
fiele und weil die Priester ohne Geld mir nicht wollten gnädig sein, daß du
mein gnädiger Gott und Bater sein wolltest. —
Da empfand ich, daß mein ganzes Herz verwandelt war und ich hatte
einen Verdruß über alle Dinge in der Welt und deuchte mich, ich wäre dieses
Lebens ganz satt. Eins nur begehrte ich, nämlich Gott zu leben, daß ich ihm
gefallen möchte. Aber wer war damals, der mir gelehret hätte, wie ick mich
dazu anstellen mußte, denn daS Wort, Leben und Licht der Menschen war durch
die ganze Welt begraben in tiefster Finsterniß der menschlichen Satzungen und der
ganz närrischen „guten Werfe". Von Christo war eS ganz stille, man wußte
nichts von ihm, oder wenn seiner gedacht wurde, so ward er uns vorgestellt
als ein grausamer erschrecklicher Richter, welchen kaum seine Mutter und alle
Heiligen im Himmel mit blutigen Thränen versöhnen und gnädig machen
konnten, doch so, daß er, Christus, den Menschen, der Buße thäte, für eine
jede Todsünde sieben Jahre in die Pein des Fegefeuers hineinstieße. Es wäre >
die Pein des Fegefeuers von der höllischen Pein durch nichts unterschieden,
als daß sie nicht sollte ewig währen. Mir aber brachte jetzt der heilige Geist
die Hoffnung, daß mir Gott würde gnädig sein.
Und jetzt fing ich an und berathschlagte etliche Tage bei mir, wie ich einen
andern Stand meines Lebens anfangen möchte. Denn ich sah die Sünde der
Welt und deS ganzen menschlichen Geschlechts, ich sah meine vielfältige Sünde,
die da sehr groß war. Ich hatte auch etwas gehört von der heimlichen großen
Heiligkeit und von dem reinen unschuldigen Leben der Mönche, wie sie Gott
Tag und Nacht dienten, wären abgesondert von allem bösen Leben der Welt
und lebten gar nüchtern, fromm und keusch, hielten Messen, sängen Psalmen,
fasteten und beteten immer zu. Ich hatte auch dies scheinbare Leben gesehen,
ich wußte aber und verstand nicht, daß es die höchste Abgötterei und Heuchelei
war. —
Darauf zeigte ich meinen Nath dem Präceptor an, dem Magister Andreas
Staffelstein, als dem obersten Regenten der Schule, der rieth mir alsbald, ich sollte
mich in das Franciscanerkloster begeben, dessen Neubau zu der Zeit angefangen
war. Und damit ich nicht durch langen Verzug anders gesinnt würde, ging
er alsbald selbst mit mir hin zu den Mönchen, lobte mein Ingenium und Kopf,
rühmte, daß er mich allein gehabt unter seinen Schülern, von dem er guter
Zuversicht sei, ich würde ein recht gottseliger Mensch werden.
Ich wollte aber mein Vornehmen auch meinen Eltern zuvor anzeigen und
ihre Bedenken darüber hören, dieweil ich ein einziger Sohn war und Erbe
meiner Eltern. Sie aber lehrten mich aus dem Hieronymo: ich solle Vater
und Mutter liegen lassen und nicht achten und zu dem Kreuze Christi laufen.
Sie zogen auch den Spruch Christi an: Keiner, der die Hand an den Pflug
legt und zurücksteht, ist tüchtig zum Reiche Gottes. Dies alles mußte drängen
und gebieten, daß ich ein Mönch wurde. Ich will hier nicht reden von vielen
Stricken und Banden, womit ste mein Gewissen banden und verknüpften. Denn
sie sagsen, ich könnte nimmermehr selig werden, wenn ich die von Gott an¬
gebotene Gnade nicht bald annehme und gebrauche. Darauf habe ich, der ich
lieber hätte sterben wollen, als der Gnade Gottes und deS ewigen Lebens ent¬
behren, ihnen alsbald angelobt und zugesagt, daß ich in dreien Tagen wollte
wieder ins Kloster kommen und das Jahr der Probirung anfangen, wie sie eS
im Kloster nennen d. i. ich wollte ein frommer, andächtiger und gottesfürchtiger
Mönch werden.
Im Jahre Christi 1310, den le. Juli um zwei Uhr Nachmittag, bin ich inS
Kloster eingetreten, begleitet von meinem Präceptor und etlichen wenigen meiner
Schulgesetzen und etlichen gar andächtigen Matronen, denen ich zum Theil die
Ursache angezeigt hatte, warum ich mich in den geistlichen Stand begebe. Und so
hab ich meine Begleiter ins Kloster gesegnet, welche alle mir mit Thränen Gottes
Gnade und Segen wünschten. Und also ging ich ins Kloster. Lieber Gott,
du weißt, daß dies alles wahr ist. Ich suchte nicht Müßiggang oder Versor¬
gung des Bauchs, auch nicht den Schein großer Heiligkeit, sondern ich wollte
dir gefallen, dir habe ich dienen wollen.
So tappte ich die Zeit in gar großer Finsterniß. ^
Als vor etwa zwei Jahren die Bundesnormen zur Verhütung d-eS Miß-'
brauchs der Presse erschienen, da erklärten die beiden Großmächte des Bundes,
dieselben nicht veröffentlichen zu wollen. Sie erkannten sie also nicht als
Maßgebend für sich an. Die Organe ihrer specifischen Politik leugneten auch
nicht, daß es sich blos um verpflichtende Bestimmungen für die kleineren Bun¬
desglieder handeln solle. Hervorgegangen in ihren Grundprincipien aus den
politischen Zuständen des Jahres 1830, oder vielmehr aus der bureaukratischen
Anschauung derselben, erschienen sie' freilich als unmittelbare Producte des
ersten heftigsten Kampfes gegen die Revolution, als directe Ergänzungen der
„rettenden Thaten". Vergebens späht man in ihren Satzungen, ob diese auch
von „Preßfachmännern" aufgestellt sind, nach der leisesten Berücksichtigung der
unterdessen so veränderten Zeitumstände; noch weniger findet sich die so bedeu¬
tende innere Reform der Presse, welche diese durch sich selbst vollzog, in dem
Maße gewürdigt, wie man es von fast vierjährigen Erörterungen über dies
Thema wohl hätte erwarten können. Im Gegentheil. Der 1832 von preu¬
ßischer Seite dem östreichisch-sächsisch-hessischen gegenübergestellte Entwurf hatte
sich in allen principiellen Härten accommodirt und war in allen detaillirenden
Bestimmungen überstimmt worden. Die zwei Jahre der bundeötäglichen Ver¬
handlung hatten aus beiden Principien heraus blos geschärft, zugespitzt und
darin ihr Kompromiß gefunden. So sah man mit diesen Normen die Strenge
der bestehenden Preßgesetze nur cumulirt, die weiteste Befugniß des administra¬
tiven Ermessens als leitendes Princip hingestellt, die Existenz jedes periodischen
Blattes an strengste Concessionsbedingungen geknüpft, den Einzelstaaten even¬
tuell die Octroyirung der nach diesen Normen zu modificirenden Preß- und
Strafgesetze aufgegeben, in zwei langen Artikeln (16 und 17) aber ein eng¬
maschiges Netz der gefährlichsten Schlingen für jede Meinungsäußerung, ja
selbst für Mittheilungen von Thatsachen geflochten und schließlich trotzdem
noch jeder Negierung überlassen „nach Bedürfniß eingreifendere Bestimmungen
zu treffen".
Im ersten Momente hatte es den Anschein, als würden alle Staaten, in
denen eine Preßgesetzgebung vorhanden, nach dem östreichisch'preußischen
Beispiel, diese für genügend erachten. Auch die inspirirter Organe führten
damals mit Emphase aus, daß, wenn andere Staaten genöthigt werden sollten,
ihre Specialgesetze den Bundesnormen zu accommodiren, während die Gro߬
mächte sich dessen weigerten, damit eine Ungleichheit der Souveränetätsrechte
der einzelnen Bundesglieder hergestellt werde. Man machte geltend, baß die
von den Bundesnormen geforderten Cautionen viele kleinere Länder journa¬
listisch mundtodt machen, ihre Bevölkerung aber den Einflüssen der preußischen
und östreichischen' Preßorganisation vollkommen anheimgeben müßten. Aus¬
schließlich Kurhessen, obgleich noch unter der Herrschaft des Belagerungs¬
zustandes, eilte hastig mit der Octroyirung der Bundcsnormen. Dennoch
folgten nach und nach auch Sachsen, Hannover, Hessendarmstadt, Nassau,
Sachsen-Meiningen, Oldenburg, Neuß und Waldeck auf demselben Wege; im
Jahr 1866 noch Würtemberg und Mecklenburg. Braunschweig, Bremen,
Baden haben die Abänderungen ihrer Preßgesetze mit den legislatorischen
Organen vereinbart. Andere Staaten haben die Bundesnormen blos zur
öffentlichen Kenntniß gebracht, noch andere verhandeln noch über Preßgesetze,
für die sie maßgebend sein sollen, mit ihren Landesvertrctungen. Und be¬
merkenswerth genug sind die Entwürfe je neuer, desto härter, oft selbst noch
über die Bundesnormen hinaus.
Die Weltereignisse seit dem Erlasse des Bundeöbeschlusses bis jetzt waren
zu gewaltig, als daß die Geschicke unserer Tagespresse zum Thema allgemei¬
nerer Erörterung geworden wäre. Außerdem brachte es im Allgemeinen die
theoretische Stellung der meisten deutschen Staaten zur russisch-türkischen Frage
mit sich, daß man den unabhängigen Blättern in Bezug auf das große Welt¬
interesse wenigstens bis zu einem gewissen Punkte verstattete, die öffentlichen
Ueberzeugungen der weitaus größten Mehrzahl der deutschen Bevölkerung aus-
zusprechen. Freilich geschah es trotzdem oft, daß eine Zeitung das momentan
wohlgefällige Maß gnädigst nachgesehener Selbstständigkeit ihres Votums über¬
schritt, so daß sie von administrativer Maßregelung getroffen wurde, obgleich
sie einem gerichtlichen Verfahren nicht zu unterwerfen war. Allein solche
Privatschicksale konnten von der Oeffentlichkeit nur selten nach dem ganzen
Umfange ihrer symptomatischen Bedeutung empfunden und gewürdigt werden.
An eine principielle Erörterung der rechtlichen Stellung der Presse in den
deutschen Vaterländern war kaum ausnahmsweise zu denken. Tauchte sie hier
oder da einmal auf, so ging sie am anders beschäftigten Publicum meistens
eindrucklos vorüber. Und Dank den allenthalben so weit ausgedehnten Be¬
fugnissen der Polizei- und Administrativbehörden wagte selbst die „ausländische"
deutsche Presse höchst selten sich der Zustände ihrer College» in irgend einem
deutschen Staate anzunehmen, um sich dort nicht mißliebig zu machen, ihren
Postdebit nicht zu gefährden u. f. w. Man registrirte nur trocken die That¬
sachen. Aber auch der Eindruck dieser kurzen Notizen mußte sich abstumpfen,
wenn z. B., wie im April v. I. in einem deutschen Bundesstaat, im ganzen
Monat blos zwei Tage ohne eine Preßmaßregelung cristirten, die dafür an
andern Tagen durch drei und vier überreichlich ausgeglichen wurden.
Auch uns liegt hier eine principielle Erörterung dieser Zustände fern.
Wenn wir eine Umschau auf dem Gebiete des Preßlebens versuchen, so macht
dieselbe weder auf Vollständigkeit Anspruch, noch greift sie über den Beginn
laufenden Jahres zurück. Jene idealistische Zeit ist vorüber, wo der
Publicist sich einbilden durfte, für die Herbeiführung besserer Zustände wenig¬
stens etwas wirken-zu können, wenn er — um ein recht gewöhnliches Wort
in brauchen — etwas riskirte. Darin liegt aber auch der zweite Grund,
warum eine detaillirtere Darstellung der Maßregeln auf dem Gebiete der
Presse unmöglich ist. Die davon betroffenen Organe verschweigen selbst gern
^'n größten Theil der gegen sie angestrengten Mittel. Eine Darlegung der¬
selben, wenn überhaupt möglich, würde nur die Mißgunst der Beaufsichtigungs-
organe vermehren und die Rechtszustände dennoch nicht verbessern. Ja manche
«fahren wol selbst nur durch Zufall die eine oder andere Maßregel, welche
da oder dort gegen sie ip Anwendung gebracht wurde. Von beiden haben
grade die letzten Wochen verschiedene Beispiele mehr gelegentlich und zufällig
"is absichtlich, in die Oeffentlichkeit treten lassen. Wer aber mit mehren
Organen der Tagespresse verkehrt, weiß auch sehr wohl, daß damit nur sehr
wenige von den hundert und aberhundert Thatsachen bekannt wurden, zu
denen jedes unabhängige Blatt aus seiner Kisron-v melas neue Beiträge lie¬
fern könnte.
Wer der Presse fernsteht, sucht ihre höchste Noth und ihre ärgste Qual
selten am rechten Punkte. Als die Preßgesetze noch neu waren, da schien
freilich jene polizeiliche Machtvollkommenheit das Entsetzlichste, welche gegen
mißliebige Blätter die Confiscation in ihren verschiedenen Graden und Formen
(Confiscation der ganzen Auflage, der localen Auflage, der Postsendung, der
in öffentlichen Localen aufliegenden Blätter) als Zuchtmittel und Todtma߬
regelung anwendete, wenn auch mit der bestimmten Voraussicht, baß die poli¬
zeiliche Maßregel vom Gericht wieder aufgehoben werde oder daß sie nicht ein¬
mal zu einem gerichtlichen Verfahren führen könne. Z. B. ist in Baiern aus
diese Weise eine Denuncirung der Tagespresse erreicht worden, deren Besprechung
längere Zeit ein stehendes Thema der nichtbaierischen Zeitungen, auch mehrmals
den Stoff zu parlamentarischen Conversationen lieferte. Und ihre statistischen
Resultate sind erschreckend genug. Denn obgleich von 1850 bis 1854 1103
Preßstrafuntersuchungen anhängig gemacht wurden, so konnte doch in keinem
einzigen dieser Fälle eine Anklage auf ein durch Mißbrauch der Presse begange¬
nes Verbrechen gestellt werden, sondern nur gegen Vergehen. Von diesen
1103 durch vorläufige polizeiliche Beschlagnahme veranlaßten, von der Staats-
anwaltschaft verfolgten und eingeleiteten Untersuchungen wurden aber schon von
dem Stadtgerichte nicht weniger als 698 eingestellt. Bleiben 405 Fälle übrig.
An die Appellationsgerichte zu weiterer Verweisung an die Schwurgerichte ge¬
bracht, wurden wieder 145 Preßuntersuchungen eingestellt, die in vier vollen
Jahren nur 69 Preßvergehen den Assisen übergaben. Davon endeten mit
Verurtheilung blos 14 Fälle (ferner 8 in contumaciam, also ohne Geschworne)
mit Freisprechung dagegen 46. Dagegen wurde 197 mal jener Paragraph
des Preßgesetzes in Anwendung gebracht, welcher gestattet, „auch dann, wenn
eine Verurtheilung nicht erfolgt, oder eine Person, gegen welche eine Anklage
gerichtet werden könne, nicht gegeben ist" über eine Schrift Vernichtung oder
Unterdrückung zu verhängen (54 mal durch die Appellativnsgerichte, 133 mal
durch die Stadtgerichte).
Sehr ähnliche Resultate würden sich auch in andern Staaten herausstellen,
wenn die statistischen Nachweise dafür zu erlangen wären. Dennoch ist das
polizeiliche Consiscationöverfahren, weil es doch stets der Berufung auf irgend
einen Gesetzartikel bedarf, noch nicht das Drückendste. Noch weniger die strengste
Anwendung der äußersten Härten der Preßgesetze. Denn diese liegen den
Redactionen vor und können bei den seit 1850 herrschenden Zeitströmungen,
welche ihre Verkörperung im Bundespreßgesetz fanden, niemals in milder Hand¬
habung erwartet werden. Was aber das Drückendste und Entnervendfte >se,
davon erfährt gewöhnlich das Publicum nichts. Es sind die administrativen
und rein polizeilichen Einwirkungen, welche in fast außeramtlicher und vertrau¬
licher Weise auf die Redactionen, Verleger, Eigenthümer der Journale geübt
werden und sich ostensibel wol gar an ihre moralischen Eigenschaften (Patriotis¬
mus, conservariven Sinn :c.) wenden, aber für die Nichtbeachtung solcher prä¬
ventiver Rathschläge, Mahnungen, Wünsche und Warnungen die äußerste
Mißliebigkeit mit allem polizeilichen-Gefolge in nächste, administrative Pein¬
lichkeit in weitere Perspective stellen d. h. die bürgerliche Existenz der verant¬
wortlichen und concessionirten Personen, die materielle Existenz des fraglichen
Blattes auf eine Weise bedrohen, wogegen eine wirksame Vertheidigung durch
Gesetz und Recht kaum möglich ist. Weil aber das Publicum davon nichts
erfährt, wundert es sich höchstens und nennt es wol einen Fehler der Re¬
daction, einen Mangel an Gesinnung, Liebedienerei, Zaghaftigkeit oder gar
Farbenwechsel, wenn ein Blatt über gewisse Fragen gänzlich schweigt, in an¬
dern die Vertretung gänzlich unpopulärer Richtungen unbekämpft läßt, über
bestimmte Vorgänge blos Korrespondenzen aus einer bekannten, aber keines¬
wegs unbefangenen Quelle gibt, andre Mittheilungen grade in dem Momente
abbricht, wo sie zu bemerkenswerthen Resultaten im öffentlichen Interesse führen
könnten u. s w. u. s. w. Dem Publicum fehlen nämlich die Illustrationen
ZU solchen Vorgängen. Denn relativ äußerst selten geschieht es, daß dieselben
>n Parlamentarischen Verhandlungen oder sonstwie nachträglich geliefert wer¬
den. Dann aber hat das Blatt alle moralischen und materiellen Schäden, die
aus seiner falschen Beurtheilung durch die öffentliche Meinung entstehen, oft
Jahre lang tragen müssen, ist dadurch in seiner intellectuellen und geschäftigen
Betriebskraft geschwächt, behält bei vielen Leuten trotz alledem und allevem
einen Makel und wird sogar oft grade durch solche rechtfertigende Enthüllungen
!U einer noch viel peinlicheren Selbstbeschränkung als vorher genöthigt. Denn
auch jene Zeit, in welcher ans derartige Enthüllungen und Erörterungen, der
über jedes Gesetz Hinausgreisenden Maßregelungen wenigstens eine Erholungö-
perivde unter milderer Administrativprariö folgte — auch sie gehört der Ver¬
gangenheit an.
- Sich darüber verwundern, daß solche Zustände der Presse grade seit der Her¬
stellung der Preßgesetze eine immer weitere Verbreitung und Ausbildung erlangt
haben, wäre nur ein Zeichen der Unkenntniß von den Gestaltungen der politischen
Praxis in den letzten Jahren überhaupt. Seitdem bestimmte Dispositionsfonds
die Organisation und Administration des gouvernementalen Preßwesens in
bie Budgets aufgenommen sind, ist der Kampf gegen Selbstständigkeit und Un¬
abhängigkeit der Tagespresse überdies kein rein administrativer oder bureaukrati-
schcr mehr, sondern auch ein Kampf des Capitals und der journalistischen Cor-
"ttrenz. Mit dem Capital kann der kleinern und pecuniär beschränkten Jour-
"alistik sehr, leicht, unter Beihilfe der sonstigen administrativen Einwirkungen,
durch Zuführung wohlfeiler Nachrichten, durch Gratisbestellung resp. Octroyi-
rung von Redacteuren, durch die an bestimmte Bedingungen geknüpfte Zuwen¬
dung oder Entziehung amtlicher Anzeigen, durch die Drohung mit Errichtung
von äußerst billigen Concurrenzblättern u. tgi. in. eine ganz bestimmte politi¬
sche Farbe und Richtung aufgezwungen werden. Wo aber die Preßgesetz¬
gebung — und es ist fast überall ^o, durch das Bundespreßgesetz sogar als
allgemeine Norm festgestellt — die Gestattung oder das Verbot einer aus¬
wärtigen Zeitung in einem Lande ganz ausschließlich dem administrativen Er¬
messen übergibt, da kann in ähnlicher Weise selbst auf große auswärtige Or¬
gane gewirkt werden. Dies besonders, wenn dieselben nicht wesentlich ans
ihren Localabsatz, sondern auf der Verbreitung in dem fraglichen Staate basirt
sind. Man bedeutet z. B. dem Redacteur oder Besitzer, daß seiner Zeitung der
Debit werde entzogen werden, wenn er sich nicht verpflichte, die Mittheilungen
dieses oder jenes Korrespondenten einer Centralstelle auszunehmen; man läßt
ihn wissen, daß, wenn dieser oder jener Mitarbeiter am Blatte bleibe, dasselbe
eine besonders strenge Beaufsichtigung erfahren werde u. s. w. Noch un¬
mittelbarer lassen sich aber natürlich ähnliche Zuchtmittel gegen einheimische
große Blätter besonders dort anwenden, wo die Gewerbsgesetze und die admi¬
nistrative Machtvollkommenheit in Bezug auf den Gewerbsbetrieb in die Pre߬
gesetzgebung und das ZeitungsconcessivnSwesen hineingeflochten sind. Auch geht
das Zusammenwirken der Administration mit der vom Capital betriebenen jour¬
nalistischen Concurrenz mitunter noch weiter. Man gestattet z. B. den Federn
und Blättern, welche ihre Inspirationen von einer Centralstelle erhalten, die
Besprechung irgend einer wichtigen Frage (natürlich im gouvernementalen Sinne)
und verbietet bald eine jede leiseste, darauf bezügliche Aeußerung jedem andern
Organ. So ist es bekanntlich noch jüngsthin in Preußen in Bezug auf den
Gesetzentwurf über die rheinische Städte- und Gemeindeordnung geschehen. Ob¬
gleich nun die Federn der Preßcentralstellen in keinem einzigen deutschen
Tageblatt mit einer offnen amtlichen Signatur auftreten, obgleich ferner nur
in einzelnen Staaten die dirigirenden Persönlichkeiten im Staatöhandbuche als
Beamte namentlich aufgeführt sind, so ist doch jede journalistische Polemik gegen
das publicistische Gebahren dieser literarischen Agenten dadurch unmöglich
macht, daß es als „Beleidigung öffentlicher Behörden" oder als „Amtsehren¬
beleidigung" dem Preßgesetz verfällt. Jede directe Debatte zwischen der selbst¬
ständigen und der gouvernementalen Presse müßte also mit vollkommen un¬
gleichen Waffen geführt werden und fällt daher außer in den allerhöchsten
Nothfällen von selbst weg.
Trotz alledem wiederholen wir, die Häufung solcher Thatsachen, so be-
klagenswerth sie auch grade im conservativsten Interesse erscheinen muß, ist bei
den heutigen Zeitströmungen etwas sehr Natürliches. Und eine Waffe dagegen
könnte nur in der consequenten parlamentarischen Behandlung dieser Zustände
liegen. Sie tritt jedoch bekanntlich blos sehr ausnahmsweise ein. Offen gesagt,
wie sie geführt wird, ist wenig praktischer Nutzen davon zu erwarten. Denn
in der That muß es schmerzlich verwundern und aufs äußerste bestürzen, daß
die Vertreter des Landes fast überall eine wunderbare Unkenntniß der intimeren
Geschichte ihrer Landespresse bewähren. An ein, zwei Beispiele hängt sich eine
tagelange Debatte, während hundert andre Beispiele, oftmals von viel höherer
Principieller Bedeutung gar nicht zur Erwähnung kommen. So bleibt den Ver¬
theidigern der Polizei- und Administrativpraris stets die bequeme Ausrede, es
handle sich blos um Uebergriffe des einen oder andern Beamten, nicht um
, ein durchgehendes Princip, die ganze parlamentarische Erregung sei nichts als
keine, as drnir ponr, uns c-mststte. Die Presse darf und kann freilich nicht
sprechen, während die unabhängigen Elemente der Ständeversammlungen so
traurige Belege dafür geben, daß sie mit den journalistischen Organen ihrer
Principien wirklich nur in sehr lockerem Verbände stehen. Etwas engere Be¬
ziehungen knüpfen sich freilich gewöhnlich während der parlamentarischen Session,
werden aber dann mehr persönlicher Natur und lösen sich meistens sofort nach
dem Landtagsschlusse. „Der Mohr hat seine Pflicht gethan, der Mohr kann
gehen".
Was ist dann die natürliche Folge? Daß die unabhängige Presse in
den Zwischenzeiten der Sessionen, welche sich überdies gewöhnlich durch ver¬
mehrte Strenge gegen die Zeitungen kennzeichnen, ihr Princip meistens eben
nur theoretisch vertreten kann. Denn bis zu einem gewissen Punkte fehlt ihr
die Zuführung des Materials von solchen Seiten her, die in die Intimitäten
der dahin bezüglichen Thatsachen eingeweiht oder durch ihr parlamentarisches
Mandat wenigstens auf genaue Beobachtung der Zustände gewiesen sind. Sie
hat an selbststcmdigen thatsächlichen Mittheilungen kein Gegengewicht gegen
die ihr octroyirten Darstellungen; seien dieselben direct octroyirt oder einzig aus
den Originalmittheilungen der inspirirter und tendenziösen Federn erreichbar.
Theoretische Erörterungen, und wenn es die besten sind, dringen jedoch auf
die Länge durchaus nicht ins große Publicum, sobald ihnen die immer er¬
neuerte Illustration durch Thatsachen fehlt. Es ist daher — mit wenigen
Ausnahmen — eine illusorische Phrase, wenn man in Deutschland von poli¬
tischen Parteiblättern redet. Nicht blos die polizeilichen und gesetzlichen Hemm¬
nisse verhindern ihre Entwicklung, ja nicht einmal vorzugsweise; sondern weit
mehr die Unbekümmertheit derjenigen Elemente um die- Presse, welche zur
gesetzlichen Vertretung bestimmter politischer Principien berufen sind. Journale,
die sich von ihren politischen Freunden blos in den einzelnen Momenten und
Fällen benutzt, unterstützt und beachtet sehen, wo man sie grade braucht,
werden unter den heutigen Preßverhältnissen in den langen Intervallen, was-
rend welcher dies nicht geschieht, in ihrem Einstehen für bestimmte Principien
ganz natürlich müd und lässig. Welchen ungeheuern Unterschied dagegen eine
fortwährende, unablässige und zuverlässige Verbindung der Partei mit ihren
Organen begründet, sehen wir an der ultramontanen und feudalen Presse.
Sie ist in ihren Kreisen und zwar bis in die untersten Schichten hinab, daS
feste Banner, nach welchem sich alle Blicke richten. Sie allein vermag es
auch in Bezug auf ihre specifischen Interessen dein so oft nur scheinbaren
Besserwissen der aus bestimmten Centralpunkten commandirten Stimmen, und
selbst der raschen Inspiration über bestimmte Vorgänge eine glückliche und
erfolgreiche Concurrenz zu bieten. Man darf es gewiß nicht bedeutungslos
nennen, daß selbst die kleineren Blätter dieser Richtungen dem Bundespeeßgesetz
nirgends erlegen sind.
Wie verheerend aber dasselbe zu wirken vermag, bezeugen neuestens wieder
Würtemberg und Schwerin seit seiner Einführung — dort seit dem 1. Jan.,
hier seit dem 1. April. In Würtemberg mußte ,,der Beobachter" — ein
Blatt von mehr demokratischer Färbung — sofort seinen specifischen Charakter
aufgeben. Andere Blätter von ausgeprägter Tendenz mußten der Politik voll¬
kommen entsagen. In dem kleinen Mecklenburg, wo schon vorher die freie
Bewegung der Presse aufs äußerste beschränkt war (vgl. Grenzboten Ur. 16),
erscheint infolge der neuen Preßverordnung die „Parchimsche Zeitung" nur
dieimal wöchentlich, mußte die ,,Pläner Zeitung" ihr Abonnement erhöhen,
das „Voitzenburg-Hagenower Wochenblatt" die Besprechung politischer und
socialer Verhältnisse verKissen, daS ,,Nuterhaltungöblatt sür beide Mecklenburg
und Pommern" den sehr beliebten Redacteur wechseln u. s. w. In Summa
blieb in beiden. Staaten von den unabhängigen Organen mehr localen Cha¬
rakters fast keines unversehrt in seinem bisherigen Verhältniß. — Grade in
kleineren Staatsverhältnissen sind aber solche mehr locale Blätter von großer
Wichtigkeit für die Förderung der allgemeinen Bildung. Selbst wenn man
ihren positiven Nutzen nicht so hoch anschlagen möchte, als er vom praktischen
Standpunkt anzuschlagen ist, erzeugt ihre Nichteristeuz auf negativem Wege
bedeutende Uebelstände. Diejenigen Kreise, welche» solche Blät'ter die gewohnte
Nahrung bieten, wenden sich äußerst langsam, meistens gar nicht zu größeren
Blättern. Sie werden also der Kenntniß der heimischen und auswärtigen
Zustände fast entfremdet. Vom bureaukratischen Standpunkt erkennt man
freilich darin oft einen Vortheil. Aber man calculirt am grünen Tische falsch,
wenn man glaubt, damit verliere sich auch wirklich daS Interesse dafür.
Rückführung des Publicums zu solcher idyllischer Bornirtheit ist heutzutage
unmöglich. Das Interesse für weitere Verhältnisse bleibt, ohne daß dasjenige
für die localen verschwindet. Natürlich können aber die übrigbleibenden große»
Blätter den localen Interessen nur wenig Aufmerksamkeit schenken, während
die gouvernementalen Organe diese Interessen nur vom Administrativstandpunkt
aus behandeln. Wer tritt nun an die Stelle? Die kleinen, gut unterstützten,
wohlfeilen Organe der ertremen hierarchischen und feudalen Bestrebungen,
welche zwar meistens die Vorgänge und Ereignisse selbst ihren Lesern nicht
vorführen, aber von ihrem specifischen Standpunkt aus raisonttirend berühren
und jede Frage auf ihr specifisches Gebiet hinüberzuleiten wissen.
In der That ist es zu verwundern, daß unter solchen Verhältnissen die politische
Tagespresse, so weit sie nicht „mächtigen Parteien" oder bestimmten Centralpunkten
angehört, noch immer eine innere Entwicklungskraft besitzt. Das neue Jahr hat
übrigens auch wirklich in Deutschland nur wenig neue politische Tageszeitungen ent¬
stehen, dagegen mehre eingehen lassen. Unter letzteren ist das bemerkenswertheste
Beispiel das der „Neuen Oderzeitung" in Breslau. Sie war in Preußen das letzte
Blatt von demokratischen Gepräge, mit Geist und nicht ohne Takt redigirt;«
und sie starb nach ihrem eignen Bekenntniß aus Mangel an Theilnahme ihrer
Partei. Darin liegt unsres Erachtens wenigstens ein deutlicher Beweis, daß
in der Presse das demokratische Element keine dringende Veranlassung zu be¬
sonders harter Beaufsichtigung und Maßregelung geben kann. Bereits erwähnt
ist aber, daß auch gleichzeitig im deutschen Südwesten ein früher vielgenanntes,
demokratisches Blatt, der Stuttgarter „Beobachter", sich nicht mehr kräftig genug
fühlte, um als ausschließliches Organ des demokratischen Princips zu eristi-
ren. — Von neu erstandenen politischen Tagesblättern ist fast einzig eine
„Nassauische Zeitung" (Wiesbaden) zu nennen, welche sich mit dem Programm
gänzlicher Farblosigkeit einführte, bis jetzt auch nur locale Verbreitung gefür>
den hat und bereits nach dem ersten Lebensvicrteljcihr ihre Redaction wechselte.
Der Sprache nach gehören nun allerdings zu den Neujahrskindern der deutschen
Tagespresse auch ein „Nordischer Courier" (Altona) und „Altonaer Nachrich¬
ten", so wie eine „deutsche Zeitung" (Kopenhagen). Allein sie können hier nur
bedingt mitzählen, da sie unter außerdeutschen Preßverhältnisseu erscheinen und
auch ihrem national-politischen Charakter nach schwerlich der deutschen Presse
Zugerechnet werden können. Letzteres gilt auch mehr oder minder vou den
beiden Zeitungen, welche mit dem zweiten Quartal begannen. Das eine
messÄKer ac öerlw", in französischer Sprache geschrieben, wird von der
öffentlichen Meinung als Organ russischer Interessen und als Friedenökind
des bekanntlich von Berlin nach Brüssel verwiesenen „l^c- l^ora" betrachtet.
Dies ist — obgleich daS Blatt bis jetzt noch keinen specifischen Charakter
zeigt — um so glaublicher, als überhaupt bekannt ist, daß man russischerseits
den Friedensabschluß sofort benutzt hat, um an verschiedenen Orten Deutsch¬
lands die Einleitungen zur journalistischen Vertretung russischer Interessen zu
treffen, und als andererseits „s.«z «orei" mit großen Anstrengungen für seine
Verbreitung in Frankreich bemüht ist. — Ein ähnlicher Epigone eines unmöglich
gemachten Blattes scheint auch das „kölnische Journal" zu sein, welches an die
Stelle der unterdrückten (ultramontanen) „deutschen Volkshalle" zu treten be¬
stimmt ist. Grund dafür mag die Erkenntniß der Partei sein, daß jenes
„Deutschland", welches man in Frankfurt sofort nach dem Untergänge der
Volkshalle etablirte, keinen günstigen Wurzelboden zu finden vermag.
Verhältnißmäßig zahlreicher sind die neu entstandenen politischen Wochen-
und Sonntagsblätter. So erscheint, um den bairischen Preßzuständen auszu¬
weichen, in Mannheim ein „Pfcilzer Wochenblatt" mit der ausgesprochenen
Tendenz, die Interessen der bairischen Rheinpfalz zu vertreten. specifisch
bairische Angelegenheiten, vom constitutionellen Standpunkt behandelt, füllen
also größrenthcils seine Spalten. Aber auch die weitern nationalen Interessen
finden ihre kritische Vertretung aus diesem Gesichtspunkt. Und auch in Baiern
selbst entstand mit Beginn des zweiten Quartals eine „politische Wochenschrift",
redigirt von Dr. E. Faust, dem ehemaligen Redacteur des todtgemaßregeltcn
„nürnberger Couriers". Noch liegt blos die Probenummer vor. Das Vor¬
wort beruft sich riuf die frühere Thätigkeit des Redacteurs und sagt über die
Absicht der Wochenschrift: „Wir werden nicht jede Wahrheit sagen können,
aber wir werden nur sagen, was wir für Wahrheit halten. Ein Neuigkeits¬
blatt soll die Wochenschrift nicht sein. Aber sie soll immer die Erscheinungen
des letzten Zeitabschnittes im Zusammenhange fassen, möglichst als ein Ganzes
darstellen und den tiefern Sinn derselben nach den Lehren der Geschichte prü¬
fen. Sie soll das durch Wichtigkeit oder Interesse hervorragende Einzelne
erörtern und seinem Verhältnisse zu dem Ganzen nachforschen." Allerdings
fehlt es in Süd- und Südwestdeutschland noch sehr an solchen politischen
Blättern, welche sich die Erörterung einzelner Vorgänge und die Ausdeutung
ihrer symptomischen oder pragmatischen Bedeutung im Gange der Zeitgeschichte
zur Aufgabe setzen. Ob jedoch eine materielle Zukunft und ein weitergreifender
Einfluß eines solchen Blattes zu erwarten steht, bleibt nach den verbreiteteren
Neigungen des süddeutschen Publicums eine Zweifelsfrage. Denn selbst die
gewohnten und weit verbreiteten Tageszeitungen dieser Gegenden haben es
nach oft erneuten Versuchen immer wieder aufgeben müssen, den Leitartikel als
integrirenden Bestandtheil jeder Nummer aufzunehmen. Er tritt überall blos
bei besondern Veranlassungen hervor und ist meistens nicht sowol principiell
erörternden, als factisch resümirenden Charakters. Die einzige Ausnahme bildet
in dieser Beziehung die Augsb. „Allgem. Ztg." Allein abgesehen davon, daß
sie viel weniger auf einem süddeutschen Verbreitungsrayon als auf einem
östreichischen und außerdeutschen basirt, bedingen auch keineswegs politische und
socialpolitische, sondern vielmehr allgemein culturhistorische Arbeiten ihren journa¬
listischen Charakter.
Die erörternde Publicistik findet im Allgemeinen in Nvrddeutschlaiid einen
empfänglicherer Boden. Man liest dort überhaupt mehr und stellt schon fast
an jede größere Zeitung die Anforderung, daß sie in täglichen Leitartikeln ihre
Anschauungen über die wichtigern Tagesfragen präcisirt. Die publicistischen
Wochenblätter, welche nicht Neuigkeitsblätter sein können und diesen Charakter
bei der weitern Ausbildung der modernen Verkehrsmittel natürlich immer mehr
eingebüßt haben, haben daher hier meistens schon von vornherein ein geneig-
neteres Publicum. Vorwiegend gehörte dieses früher den gebildeteren Schichten
an oder einer ausgeprägteren Partei. Seit mehren Jahren, und ganz nament¬
lich seit dem Wiedererwachen jener unseligen Preßzustä'nde, welche die Tages¬
zeitungen zur Zahmheit, d. h. zu einem bloßen Andenken/ geheimnißvollen
Winken unb unklaren Redensarten über die Thatsachen genöthigt haben , ist
jetzt das Bedürfniß nach solchen Organen immer allgemeiner geworden, welche
nach Ablauf kurzer Zeitfristen die Tageözustände in allgemeinere Bilder zu¬
sammenfassen und ausbeuten. Es ist dieses Bedürfniß die ganz natürliche
Reaction gegen jene Maßregelungen, wodurch die Tagesblätter zu lügenhaften
Formen und dazu gezwungen sind, ihre Spalten publicistischen Dilettanten
wieder zu öffnen — nachdem diese in den wenigen Jahren freierer Bewegung
fast gänzlich aus der Tagespreise verschwunden waren. Diesem Bedürfniß
suchen nun auf politischen, wie außerpvlitischen Gebiete, nach dem Vorbilde
Englands, vorzugsweise - die sogenannten Sonntagsblätter zu entsprechen.
Unter verschiedenen Titeln und auf den verschiedensten Gebieten des öffent¬
lichen Lebens hat sich ihre Zahl in den letzten Jahren bedeutend vermehrt,
wozu als äußeres Förderungsmittel wol auch der Umstand trat, daß die meisten
eigentlichen Zeitungen keine Sonntagsnummern ausgeben. In den katholischen
und überhaupt streng kirchlichen Gegenden hatten aber schon längere Zeit
religiös-politische Blätter die zcitungöfreien Sonntage für sich in Anspruch ge¬
nommen. Es darf nun als eine unsers Erachtens günstige Signatur der Zeit
betrachtet werden, daß grade von den excentrischen unter ihnen und grade in
Baiern mehre zu erscheinen aufhörten. Besonders gilt dies von mehren ultra-
Nlvntanen Organen Frankens, gegen welche allerdings auch administrative
Mittel in Anwendung gebracht wurden, denen sie aber, wie in näher stehenden
Kreisen sattsam bekannt, keineswegs gewichen wären, wenn sie in sich eine
selbstständige Eristenzkraft gehabt hätten. Ohne daß diese administrativen
Maßregeln etwa deshalb, weil sie sich gegen ultramontane Blätter wendeten,
eine bessere Rechtfertigung als in andern Fällen hatten, schienen sie doch bei¬
nahe willkommen, um mit großem Geschrei über ihre ungesetzmäßigen Eingriffe
einen Vorwand zum Aufhören der fraglichen Blätter abzugeben. Die Partei
verhüllte damit daS indirecte Eingeständniß von ihrem Mangel an Absatz.
Daß dieser aber vorhanden ist, bezeugte dagegen auch die gleichzeitige Thatsache,
daß der früher so einflußreiche „Katholische Hausfreund" (Regensburg), vom
vielgenannten Pfarrer Westenneier redigirt, ohne Sang und Klang verblich,
obgleich gegen ihn kein administrativer Machtspruch ergangen war. Ebenso
schien eine in Leipzig ausgegebene „Jllustrirte Zeitung für das katholische
Deutschland" durch mangelnden Anklang und Absatz zu ihrer Vereinfachung
in „katholische Familienblätter" genöthigt worden zu sein. Und im deutschen
Südwesten ist es ein offenkundiges Geheimniß, daß diejenigen ultramontanen
Blätter, welche nicht zugleich und vorzugsweise politische Neuigkeitsblätter, nur
durch große Opfer der Partei am Leben erhalten werden.
Es fragt steh nun freilich, ob ähnliche Organe einer freieren Richtung aus
protestantischen Gebiete eine bessere Zukunft haben. , Gewissermaßen mag hier¬
her die mit Neujahr begründete „Feldkirche" (Leipzig) zu rechnen sein, welche,
vom Pastor Würkert redigirt, die Absicht ausspricht, Unterhaltung, Belehrung
und Erbauung aus der Natur zu schöpfe». Ihrem publicistischen Charakter
nach gehört diese Wochenschrift also jenem eigenthümlichen Genre an, welches
gewissermaßen aus zwei verschiedenen Zeitströmungen hervorgegangen ist. Einer¬
seits aus der Liebe zum Naturstudium, andrerseits aus einem gewissen Pessi¬
mismus, welcher in der Naturanschauung eine Wiedererweckung seines ver¬
lorenen Glaubens an die Gesetzmäßigkeit der menschlichen Zustände sucht.
Diese Richtung ist nur eine indirect politische, man könnte sie eine hnmanistisch-
publicistische nennen. Immerhin aber muß sie für die allgemeine Cultur
und somit auch für die principielle Entwicklung politischer Anschauungen, wenn
auch auf Umwegen, von großer Bedeutsamkeit werden können. Unmittelbarer
an die Politik, wenn schon gleichfalls aus mehr rationalistisch-theologischen, als
publicistischen Boraussctzungen, scheint nun die seit dem zweiten Jahresviertel
vom bekannten Or. Rupp begründete „Königsberger Sonntagspost für Religion,
öffentliches Leben, Wissenschaft und Kunst" herantreten zu wollen. Ob sie die
Möglichkeit eines Erstarkeus gewinnen kann, hängt jedoch schwerlich blos von
dem Anklänge ab, den sie beim Publicum findet. Denn bereits auf ihr Pro¬
gramm hin wurde der Drucker protokollarisch darauf hingewiesen, daß die Zeit¬
schrift werde häusig mit Beschlag belegt weroen, er deshalb vor dem Drucke auf
den Inhalt sorgsam achten möge. Und zu dieser Uebertragung einer Art von
Censur an den Buchdrucker trat noch die Verwarnung an den or. Rupp, welcher
das Blatt im Selbstverlag erscheinen, läßt, dasselbe zu debitiren. Dagegen
scheint ein in Berlin gleichzeitig >von dem ans der Lindenbummlerzeit genugsam
bekannten Erdcmokraten Fried. Will). Aker. Held herausgegebenes „Sonntags-
blatt" weit weniger Hindernissen begegnen zu sollen. Bis jetzt hat es sich im
Wesentlichen mit der Erläuterung des Wechsels der „politischen Gesinnungen
seines Herausgebers" beschäftigt — ein Thema, welches ihm auf die Länge
schwerlich einen Ehrenplatz in der periodischen Literatur zu sichern vermag.
(Fortsetzung folgt.)
^- Indem wir diese Bemerkungen eines
einsichtsvollen und ehrlichen Patrioten aus Süddeutschland mittheilen, knüpfen
wir daran eine Erwägung der Frage, wie weit sich die Regierungen der Presse
bedienen sollen und dürfen. Die allgemeine Meinung spricht sich im Ganzen
gegen alle officiösen Schriftsteller aus und es kann nicht geleugnet werden,
daß vielfacher Mißbrauch damit getrieben wird; allein einerseits kann man es
einer Regierung, die ein bestimmtes politisches Princip vertritt, nicht verargen,
wenn sie die ihr nachtheiligen Einflüsse der oppositionellen Presse ihrerseits
durch Benutzung derselben zu Paralysiren sucht, andrerseits kann es der Presse
und dem Publicum, für das sie arbeitet, nur von Wichtigkeit sein, wenn sie
über Thatsachen oder auch nur über die subjective Auffassung derselben durch
die Regierung authentische Mittheilung erhält; um so mehr, da die gewöhn¬
lichen Korrespondenten in der Regel schlecht unterrichtet sind. Zu allen Zeiten,
lange bevor es eine selbstständige Presse gab, ist von geistvollen und unter¬
richteten Schriftstellern bei bestimmten Streitfragen das Interesse der Regierung
vertreten worden und es ist kein Grund vorhanden, warum es nicht auch ferner
so bleiben sollte. Nur muß man diese officiösen Mittheilungen in zwei Classen
sondern. Die einen geben sich unbefangen als das, was sie sind, als inspirirt
von Seiten einer bestimmten Regierung, die andern treten als unbefangene
Stimmen aus dem Publicum auf. Was die ersten betrifft, so wird niemand
ihre Berechtigung in Frage stellen und jede Zeitung, die nach einer gewissen
Vollständigkeit in den Thatsachen strebt, wird sie benutzen, denn selbst wenn
sie keine neuen Thatsachen enthalten, ist es doch von Interesse, zu erfahren,
wie die Negierung eine bestimmte Thatsache aufgefaßt wissen will. Wie diese
Mittheilungen stattfinden, ob in streng amtlicher Form, oder als lithographirte
Korrespondenz, ist am Ende gleichgiltig, wenn man nur die Quelle sofort
herauserkennt. — Bedenklicher ist die zweite Art und der Verfasser des vor¬
stehenden Aufsatzes hat einige von den Uebelstänvcn, die sich daraus ergeben,
sehr treffend markirt. Aber wir nehmen keinen Anstand, es bestimmt auszu¬
sprechen, die Schuld davon fällt lediglich auf die Redactionen. Es wird der
Regierung leicht fallen, ein Blatt zum Schweigen zu bringen, denn abgesehen
von den materiellen Interessen, die durch die Androhung eines Verbots verletzt
werden, kann ein Blatt noch immer glauben, nach andern Seiten hin Nutzen
Zu stiften, auch wenn ihm eine bestimmte Seite versagt wird. Allein es .gibt
keine Macht in der Welt, die eine Redaction zwingen könnte, etwas aufzu¬
nehmen, was gegen ihre Ueberzeugung ist.
Bei der allgemeinen Neigung für die bureaukratischen Formen ist nament¬
lich in den beiden größern deutschen Staaten, in Oestreich und Preußen, das
von den Regierungen inspirirte Bureau nach Art eines geschäftlichen Bu¬
reaus eingerichtet und der Dirigent desselben hat einen bestimmten Ressort, eine
bestimmte amtliche Stellung. Er kann in dieser Stellung, abgesehen davon,
was er sür die Verbreitung der Ansichten seiner Regierung thut, eznen sehr
- segensreichen Einfluß ausüben, wenn er es nicht versäumt, auf der andern
Seite seiner Regierung einen vollständigen und wahrheitsgetreuer Bericht über
die Tendenzen der Presse und über die Behandlung derselben zu geben. Leider
ist der Antrag des Abgeordneten Mathis, die Preßverhältnisse gesetzlich zu re-
guliren, sür diese Session beseitigt worden, obgleich in der betreffenden Com¬
mission die Mehrzahl aus Anhängern einer Partei bestand, deren Organ, die
Kreuzzeitung, sich warm für den Antrag ausgesprochen hatte. Der Wunsch
nach einer gesetzlichen Regulirung muß also auch von unserer Seite vertagt
werdenund wir versuchen es statt dessen aus einen Uebelstand aufmerksam zu
machen, der aus dem vorhin erwähnten Wege gar wohl durch eine Vorstellung
beseitigt werden könnte.'
Sämmtliche Correspondenten, die zu derpreußischen Negierung in einem
directen oder indirecten Verhältniß stehen, kommen in der wiederholten Ver¬
sicherung überein, daß die Tendenzen der Kreuzzeitungspartei von den Ten¬
denzen der Negierung, wenigstens von einem bestimmten Punkte an, wesentlich
abweichen. Wir sind derselben Ueberzeugung schon aus dem einfachen Grunde,
weil mit den consequent ausgeführten Principien der Kreuzzeitung eine Regie¬
rung überhaupt unmöglich wäre. Allein von den untergeordneten Behörden,
die mit den administrativen Maßregeln gegen die Presse betraut sind, gehen
mehre weiter, als das Ministerium, sie stehen der Kreuzzeitungspartei näher.
Wir selbst können darin eine Erfahrung anführen. An einem Ort, den wir
schon mehrfach in dieser Beziehung berührt haben, wurde bei Gelegenheit einer
Confiscation dem betreffenden Buchhändler eröffnet: es sei wol erlaubt, dfe
Kreuzzeitung anzugreifen, aber es sei nicht erlaubt, die Kreuzzeitungspartei
anzugreifen. Wir- sind fest davon überzeugt, daß jedes Blatt über ähnliche
Erfahrungen zu berichten haben würde. An eine Beschwerde ist hier nicht zu
denken, denn das gesetzliche Verfahren ging seinen geordneten Gang, das Ge¬
richt gab das Blatt frei, und das Recht der vorläufigen Confiscation ist ge¬
setzlich keinen Schranken unterworfen. Hier aber wäre nun der Punkt, wo
von jener Centralstelle für Preßangelegenheiten, welche die Aufgabe hat, zwi¬
schen der öffentlichen Meinung und dem Negierungsshstem eine Vermittelung
anzubahnen, auch nach der andern Seite hin gewirkt würde, denn wie sollte
das Publicum bei der häufigen Wiederkehr solcher Erfahrungen der Versiche¬
rung, die Kreuzzeitungspartei sei mit der Regierungspartei nicht identisch,
Glauben schenken. — Wir heben diesen Punkt vorläufig hervor, indem wir
uns vorbehalten, aus ähnliche Uebelstände gelegentlich hinzuweisen.
A us Dcinema rk. Bornholm und die B o r n h o l in e r. llr. Sören Kierke¬
gaard: Wider die dänische Staatskirche; mit einem Hinblick auf Preußen.
Von R. Q uedl, königl. preuß . Generalconsul für die dänische Monarchie:c.
Mit drei Abbildungen und einer Karte. Berlin, Decker. —
„Weit entfernt," sagt Herr Ryno Quedl in der Borrede S. 37, „sich
für einen würdigen Repräsentanten seiner Nation auszugeben, erklärt der Ver¬
sasser dennoch ganz rückhaltlos :c." — Da Bescheidenheit auch für den Staats¬
mann eine Tugend ist, der. man nicht entgegenarbeiten soll, so wollen wir
diese Selbstkritik nicht bestreiten. — Der Verfasser hält sich in seiner amtlichen
Stellung für vorzugsweise geeignet, zwischen den Dänen und Preußen ein
Verständniß anzubahnen. So weit sich das darauf beschränkt, den blinden
Nationalhaß zu bekämpfen, stimmen wir mit dieser Tendenz vollkommen über¬
ein. Auch wir haben mehre liebenswürdige Dänen kennen gelernt, und die
Gerechtigkeit auch gegen einen Feind zwingt uns zuzugestehen, daß das dä¬
nische Volk im Kriege im Ganzen sich tüchtig und brav benommen hat. Gern
wollen wir zugeben, daß in den politischen Einrichtungen Dänemarks vieles
ist, was Preußen wol nachahmen könnte, und dazu rechnen wir mit dem Verfasser
die religiöse Toleranz und einzelne demokratische Einrichtungen. Wenn da¬
gegen gesagt wird, die dänische Frage sei praktisch gelöst worden, der preußische
Staat hätte nicht das geringste Interesse, nach der Trennung Holsteins von
Dänemark zu streben, und die dänische Regierung verdiene keinen Vorwurf,
wenn sie in den Herzogthümern „in eindringlichster Weise auf Reformen hin¬
arbeite, die sie im Interesse dieses Landes für nothwendig oder wünschenswert!)
hält;" so können wir dieser höhern Staatsweisheit nicht folgen. Man wird
uns ferner erlassen, die Empfindungen zu schildern, welche die weitere Moti-
virung der dänischen Reformen in uns erregt. ,,Eine solche Masse von ritter-
schaftlichen Autoritäten, von Nermengungen zwischen Verwaltung und Justiz,
von Usancen und Observanzen, ständischer Gliederung und Ausschließlichkeit:
daß die Verehrer der Grundzüge der konservativen Politik nur nach. Holstein
zu reisen brauchten, um eine Verwirklichung ihres christlichen Staates zu
sehen ..... daß bei aller Abneigung der Holsteiner, sich einer dänischen
Reichsrathmajorität untergeordnet zu sehen, die Fortdauer solcher Zustände
in den Wünschen der Mehrheit der holsteinischen Bevölkerung liegen sollte,
darf bezweifelt werden." — Daß ein preußischer Generalconsul so etwas darf
drucken lassen, ist viel. Freilich läßt er noch anderes drucken, was auch ziem¬
lich auffällig ist, z. B. S. 333. „Wir haben sicherlich keine zu kleine Mei¬
nung von der Macht Preußens und keine zu große von derjenigen Oestreichs,
— aber das ist uns gewiß: ein Friedrich II. auf dem Kaiserthrone in den letz¬
ten Jahren, und unsere Feodalchristen wären Schlesien wie die Rheinprovinzen
wieder los geworden, und hätten auf das alte und wahre Preußen die Ver¬
wirklichung ihrer alleinseligmachenden Theorien beschränken können." — Wir
nehmen Act von dieser Erklärung der ehemaligen Centralstelle. — Der Haupttheil
des Buchs, die Reise nach Bornholm, ist sehr lesbar und unterhaltend geschrieben.
Kundige haben uns versichert, daß die Beschreibung ein sehr scharfes, richtig
beobachtendes Auge verräth. Das Jnteressanteste waren uns aber die politischen
Ercurse. In der Einleitung rühmt sich.der Versasser, gleich nach dem Staats¬
streich in mehren Broschüren, die damals viel Anstoß erregten, den Bona¬
partismus vertheidigt zu haben. — Aber wenn die Regierung des Kaiser Na¬
poleon seit der Zeit sich nützlich gezeigt und viele Anhänger gewonnen hat, so
reicht das noch nicht aus, um jenes Urtheil über ein historisches Factum
nachträglich zu legitimiren. — Wichtiger ist die Besprechung des Streits zwi¬
schen Stahl und Bunsen. Herr Q-uedl nimmt nicht blos den letztern in
Schutz, sondern er geht weiter. „Für Bunsen und seine Freunde bleibt keine
Wahl: entweder sie fallen mit ihrer halben'religiösen Freiheit der schärfen
Dialektik Stahls ein wohlgefälliges Opfer, ohne aufrichtige und starke Sym¬
pathien der öffentlichen Meinung, oder sie stellen sich auf den Standpunkt der
ganzen religiösen Freiheit, die von keiner Dialektik zersetzt und auf die Dauer
einem christlichen Volk nicht vorenthalten werden kann." (S. 327.) Sehr
bemerkenswerth ist die scharfe Sprache gegen Stahl. Der Verfasser zeigt, daß
dieser nicht das Recht hat, nach subjectiven Ermessen zu bestimmen, wer ein
Christ sei und wer nicht; um so weniger, da er die gesammten Gebildeten als
ungläubig bezeichnet. Er zeigt, daß der weltliche Schutz, den die stahlsche
Kirche beansprucht, noch bedenklicher ist, als die katholische Hierarchie; er
zeigt, daß die confessionelle Herrschaft im Staat am Ende gar zu einer allge¬
meinen Einführung der irvingianischen Sekte führen würde. In Beziehung
auf diese macht er folgende Bemerkung (S. 321.): ,,Was uns die ganze
Sache nicht wenig bedenklich macht, das ist grade die politisch- religiöse
Stellung angesehener Jrvingianer in Preußen, das sind die polizeilichen Be¬
günstigungen, deren sich diese Sekte dort zu erfreuen hat, obschon wir es, trotz
der sonstigen Zuverlässigkeit der Personen, von denen wir diese Mittheilung
haben, doch für nicht wahr zu halten vermögen, daß die Emissäre dieser Sekte
ein Recht gehabt hätten, sich in Kopenhagen auf die besondere Begünstigung
zu beziehen, deren sich die Sekte von höchst hervorragenden Personen im
preußischen Kirchenregimente zu erfreuen hätte." Er macht Stahl darauf auf¬
merksam, daß er erst in reiferen Jahren von auswärts nach Preußen gekommen
ist, und die Nation selbst wirklich kennen zu lernen nur eine sehr unvoll¬
kommene Gelegenheit gehabt hat. Er spricht sich entschieden sür die religiöse
Selbstregierung der Gemeinden aus, wobei er die Gemeinden nicht, wie Stahl,
mit den Geistlichen identificirt. Er erinnert daran, daß die Beaufsichtigung
des Staats so weit ging, daß selbst vom berliner Polizeipräsidium das ein¬
gereichte Statut einer jüdischen Gemeinde censirt wurde. „Hier dürfen selbst
der vollsten Zustimmung des Herrn Stahl zu begegnen alle diejenigen hoffen,
die bei aller. Hochachtung vor dem berliner Polizeipräsidium, bei der aufrich¬
tigsten Bewunderung der polizeilichen Talente seiner Organe und der guten
Eigenschaften ihres Chefs, diese Behörde zwar für sehr wohl geeignet halten,
Reglements aller anderen Art (für die verschiedenartigsten nützlichen und un¬
nützlichen Vereine, für Droschkenkutscher, Bordelle u. s. w.) zu erlassen, daß
sie aber vielleicht eben wegen dieser Vielseitigkeit weder befugt, noch geschickt
sei, die Statuten einer religiösen Gemeinde zu revidiren und endgiltig zu
genehmigen." — Diese Bemerkung gibt dem Verfasser Gelegenheit zu einem
weitern Ercurs. Er bespricht nämlich das bekannte Duell, welches vor einigen
Wochen Berlin in eine Aufregung versetzte, wie sie seit den Zeiten von 1849
nicht wieder vorgekommen war. Das hitzige Fieber, welches damals die Ber¬
liner ergriff, machte jeden des Junkerthums verdächtig, der nicht fest davon
überzeugt war, Herr v. Hinckeldey sei als ein Märtyrer der Freiheit gefallen.
Wir haben schon damals unsere entgegenstehende Ansicht ausgesprochen, wir
freuen uns, in dem vorliegenden Buch eine ähnliche und diesmal aus entschie¬
dener Sachkenntniß hervorgehende Schilderung anzutreffen. Herr Quedl
setzt auseinander, daß, wenn man die Gegner des Junkerthums unter einen
Parteibegriff zusammenfaßt, der Gefallene in keiner Weise als der Träger
dieser Partei betrachtet werden kann. „Welche Abweichung auch unter diesen
Gegnern insonderheit in Bezug auf die Formenfrage Statt finden mag, ob
die einen ehrliche Absolutisten, die anderen ehrliche Anhänger einer konstitu¬
tionellen Verfassung sind> alle sind darüber einig: daß der König und das
Gesetz in Preußen für alle Staatsangehörigen die höchste Autorität sein und
bleiben sollen — daß die Bestimmungen der Verfassungsurkunde und einzelner
Gesetze nicht durch mehr oder weniger kühne und glückliche Auslegungen im
Interesse einer Partei benutzt werden dürfen — daß die religiöse Freiheit eine
wesentliche Forderung der bürgerlichen ist — daß die persönlichen Rechte der
Staatsbürger wie die Rechte der Communen einen starken Schutz gegen die
Uebergriffe der Polizeigewalt behalten oder bekommen sollen. Nun fragen wir
alle Welt, mit welchem Rechte Herr von Hinckeldey als Träger und Vor¬
kämpfer solcher Principien bezeichnet werden kann?!! Daraus, daß das Gefühl
des Widerwillens gegen polizeiliche Allgewalt überhaupt oder gegen die Art
und Weise, wie der Verstorbene in seiner Stellung und seinem Einflüsse sich
behaupten sollie, ihm unter den Anhängern der Junkerpartei viele persönliche
Gegner schuf — daraus, daß Herr von Hinckeldey seinen Unwillen übex den
Widerstand, den er auf jener Seite fand, sehr häufig in der ihm eigenthüm¬
lichen kräftigen Weise Luft machte, — daraus, daß die Gutmüthigkeit dieses
Mannes und sein natürliches Gerechtigkeitsgefühl ihn auch bei andern Parteien
das Gute anerkennen ließ, und daß seine Klugheit die politisch und moralisch
verschiedenartigsten Personen und ihr Interesse für seine Zwecke zu benutzen
verstand — aus dem allen ihn zu einem Träger eines großen politischen
Principes zu machen, das könnte doch nur das Werk einer viel größeren Be¬
griffsverwirrung sein." Er setzt serner auseinander, daß der Verstorbene eben¬
sowenig für einen hervorragenden Repräsentanten der alten regelrechten preußi¬
schen Bureaukratie angesehen werden kann, und fügt zum Schluß eine Be¬
merkung hinzu, der wir die allgemeinste Aufmerksamkeit wünschten, da man in
unsrer Zeit so sehr geneigt ist, den Erfolg über die Grundsätze zu stellen. „Wir
sind weit entfernt, die Vorzüglichkeit der Einrichtungen zu bestreiten, welche die
Stadt Berlin dem organisatorischen Talente und einer nicht genug zu bewun¬
dernden Thätigkeit des Verstorbenen verdankt. Aber wahres und bleibendes
Verdienst erwirbt man sich doch nur um eine Bürgerschaft, wenn man den
Gemeinstnn, die Liebe zum Recht, den Sinn für Sparsamkeit ohne Engherzigkeit,
die Genügsamkeit und die Bürgertugend in ihr fördert, und das kann wieder
nur geschehen, wenn man eine ganz unbedingte Achtung vor den Rechten und
Befugnissen ihrer Vertreter hat und jeden Druck von Oben und jedes andere
nicht streng der Sache entsprechende Mittel vermeidet, um die städtischen Be¬
hörden und Vertreter zu Ausgaben und Einrichtungen zu nöthigen, die sie zu
der Zeit und in der Form in ihrem Gewissen nicht gerechtfertigt finden konn¬
ten."— Diese und ähnliche treffende Bemerkungen erregen, in uns den Wunsch
und die Hoffnung, daß es Herrn Quedl vergönnt sein möge, durch sorgfältigere
Studien, als er bisher gemacht, sich eine klare politische Stellung zu erwerben
und seine zweifelhaften Ansprüche an den Dank Preußens durch solidere und
bleibendere zu ergänzen. —
— Obwol hier eine ganze Armee von
Literaten vom Handwerk lebt, oder vielmehr weil dem so ist, gelangt ans diesem
Mittelpunkt Deutschlands fast nichts von allem in die Oeffentlichkeit, wodurch er
seine eigentliche Wichtigkeit hat. So pflegt man bisher in Deutschland kann: die
Namen der verschiedenen Bundestagsgesandter zu kennen, vielweniger kümmert
man sich um ihren persönlichen und politischen Charakter, ihren Lebenslauf, ihre
Verdienste, ihre Geschäftserfahrung; als wäre der Bundestag von keiner Bedeutung
für Deutschland, als wäre es für die einzelnen Bundesstaaten ganz gleichgiltig.
durch wen sie an demselben vertreten würden.
Aber jeder, der hier nur nicht ganz so unwissend ist, wie die Zeitungscorre-
spondenten, die weder sehen können,, noch sehen wollen, und auch gar nichts er¬
fahren, als was sie verbreiten sollen, weiß doch sehr wohl, welche ernste Anstren¬
gungen und Einwirkungen erfordert werden, wenn nicht, und zwar gegen den eignen
Willen der Regierungen, ein Zustand am Bundestage wiederkehren soll, wie der¬
jenige, über welchen einst der, edle von Wangenheim die bekannten Enthüllungen
gemacht hat. Wohin das zu Anfange der zwanziger Jahre führte, ist jetzt ge¬
schichtlich, und was die Folge war, ebenfalls. „Als," so heißt es im Leben des
konservativen Friedrich Perthes, ,,im Sommer 1823 der würtembergsche Bundes-
tagsgcsandte von Wangenheim und der knrhessische von Lepel, wie schon früher
Herr von Gagern, abberufen werden mußten, trat Haß gegen den Bundestag als
allgemeine Stimmung hervor."
Glücklicherweise kann man von der nachmärzlichen Bundesversammlung noch
nicht wie von der vormärzltchen sagen, daß sie Erwartungen erregt und getäuscht
hätte, sie hat vielmehr den großen Vortheil, nur steigen zu können. Aber man
hatte sich früher doch immer fälschlich eingeredet, daß ein Zustand am Bundestage
wie der oben erwähnte, der bis zum Jahr 1848 immer im Zunehmen begriffen
war, nur die Schuld der Regierungen, besonders Oestreichs und Preußens, wäre,
als wenn der vormärzliche Demokratismus, dem der Verfall und Unwerth des Bun¬
destages zu seinen Zwecken dienen sollte und daher am Herzen lag, nicht seinen
guten Antheil an jener Schuld gehabt.
Es würde daher auch heute nichts verkehrter, nichts einem besonnenen Con-
servatismus entgegengesetzter sein, als die 'Bundesversammlung blos nach einzelnen
Resultaten ihrer Thätigkeit, und zwar immer den ungünstigen, zu beurtheilen oder
sie bei Gelegenheit derselben zu tadeln. Nur wenn man sie fortwährend der Auf¬
merksamkeit würdig hält, sie auch im Kleinen verfolgt, kann sie ans wohlthätige
Weise die ihr zu, ihrem Gedeihen unentbehrliche Einwirkung des verständig patrio¬
tischen Publicums erfahren. Zunächst sind die Personen der Bundestagsgesandter
gewiß wichtig genug, um vom Publicum näher gekannt zu werden, wenn ich Ihnen
daher demnächst eine aus genauer Kunde geschöpfte kurzgefaßte Lebensbeschreibung
der einzelnen gegenwärtigen Herren Bundestagsgesandter schicke, so wird man sehen,
daß sie, neben ein paar als solche anerkannten harmlosen Schöngeistern und Sta¬
tisten, aus Männern bestehen, die in mehr als einer Beziehung Achtung verdienen,
und denen es bei ihrer Stellung und moralischen Verantwortlichkeit gewiß nicht
gleichgiltig ist, ob oder uicht man in der Presse von ihren Personen nähere Notiz
nehme.
Um schon heute der beiden hervorragendsten Mitglieder der Bundesversammlung
zu erwähnen, so ist Graf Ncchberg an die Stelle des Herrn von Prokesch getreten,
welcher letztere hier sür geistreicher und gesprächiger galt, als man es in Deutsch¬
land liebt. Gras Rechberg dagegen gilt dafür, mit den deutschen Verhältnissen
genau bekannt zu sein, und man glaubt, daß er sich die Förderung eines guten
Verhältnisses Oestreichs zu dem übrigen Deutschland, darunter Preußen, ernstlich
«»gelegen sein lassen werde. Des Herrn von Bismark persönlicher Charakter findet
auch bei seinen politischen Gegnern Anerkennung.
Das Gegeneinanderhctzen in den Zeitungen, welches, zu bereits allgemeinem
Anstoß, durch allem Anschein nach förmlich organistrte Literatenbanden hier und
von hier aus bisher betrieben wurde, geht natürlich immer nur von ungeschickten
und taktlosen Werkzeugen aus, die sich so abhängig zu machen suchen wie nur
möglich und immer weiter gehen, als gewünscht und gutgeheißen wird. Dem
Vernehmen nach hat man aber jetzt gegenseitig das Unpassende hiervon ganz ein¬
gesehen und geht, auch im Interesse der mit gänzlicher Corruption bedrohten Presse,
ernstlich damit um, solchem Unwesen ein Ende zu machen. Auf die V. und Z.
(ich wähle nur zwei der letzten Buchstaben des Alphabets) als die zwei sich gegen¬
überstehenden Leiter der Minen und Gegenminen in der Presse wird hier freilich
auch schon längst zu öffentlich mit Fingern gewiesen, als daß ihre Bemühungen sür
beide, Seiten jetzt noch andere als schädliche Wirkungen hervorbringen könnten.
Drei Geschichten von Menschen und Thieren, von
Karl von Holtet. 2 Bde. Leipzig, Hübner. — Dies Mal hat sich der ge¬
müthliche Dichter ganz in die Welt der hoffmannschen Phantasiegebilde verloren, in
welcher er doch nicht recht zu Hause ist. Es kommt uus jetzt ganz wunderlich vor,
diese halbverrückten, halbgcnialen Individuen zu betrachten, die ihre Originalität
dadurch zeigen, daß sie einen Sparren haben. Wie kommt der Katzendichter, der
Canarius und das Hundefräulein in die Mitte des 19. Jahrhunderts? In den
Serapionsbrüdern hätten sie wol ihre Stelle gefunden, aber uns modernen Realisten
ist das leichtsinnige Volk der Vagabunden, ja ist selbst der verkümmerte schlesische
Theolog lieber, wie sie Holtet früher so frisch aus dem, Leben gegriffen hat. —
Der rothe Bartel und der Courierzu g. Zwei Novellen von W. Rager.
Leipzig, Kollmann. — Der Verfasser hat, wie wir aus dem Umschlag sehen, schon
mehre romantische Erzählungen gedichtet. Conflict der Standesvorurtheile mit der
Neigung, ein menschenfreundlicher Millionär, der in der Maske eines Bettlers die
Tugend belohnt und das Laster bestraft, ein intriganter Wilddieb, der von einem
tugendhaften jungen Mädchen erschossen wird, Cupido, der lose Schalk, der mit
seinem Pfeil ein Herzchen durchbohrt, ein verschmitzter Figaro, der einem liebes¬
kranken Leutenant zu seiner Braut hilft ze., das alles in einer vortrefflichen Mixtur,
wie es nur der Romanleser wünschen kann. —
Keil«? i>ux xeux et'or xsr U"". l.« eomtesse D»Sir. Lruxolles N I^eip'
/.iz, Kiessling, LoKnve K Lowp. — Ein solider Roman mit der Nöthigen Spannung
aus der Schreckenszeit der französischen Revolution,, wo die verfolgten Edelleute bei
Nacht und Nebel über Felsen schleichen, die gefährlichsten Schiffbrüche bestehen mu߬
ten, dann aus mehre Jahre verschwanden, um plötzlich wieder zu erscheinen; dazu
kommt dann der Aberglaube der Bretagne an den magischen Blick, der den Sturm
und die Brandung beherrscht, ein vermeintlicher Robert der Teufel, ein ritterliches
Schloßfräulein, die, Sehnsucht nach dem Kloster u. s. w., das alles ist recht hübsch
erzählt. —
Vor ungefähr zwei Jahren wohnte Cornelius in Rom im Palast Zuccheri
auf Monte Pincio. Das kleine Zimmer im zweiten Stock, mit der Aussicht
auf die Dächer, Kuppeln und Thürme Roms, in dem er seine Gäste zu em¬
pfangen pflegte, rief jedem, der seine Blicke an den Wänden umherschweifen
ließ, den Anbruch einer neuen Morgenröthe für die deutsche Kunst ins Ge¬
dächtniß. Es war dasselbe Zimmer, das der preußische Generalconsul
Bartholdy von den damals jungen und strebenden deutschen Künstlern Veit,
Overbeck, Schadow und Cornelius mit Fresken aus der Geschichte Josephs
hatte verzieren lassen. Dies in hohem Grade uneigennützige Unternehmen ei¬
nes Privatmannes — Bartholdy bewohnte den Palast, den er mit dieser un¬
vergänglichen Zierde schmückte, nur zur Miethe — hat nicht blos die jungen
Künstler und die durch sie vertretene Richtung mächtig gefördert, es ist auch
für die Wiederaufnahme der monumentalen Malerei äußerst folgenreich ge¬
wesen'.
Als ich an einem Abende'in dies Zimmer trat, fand ich einen jungen
spanischen Maler bei Cornelius, der ihm eine kleine Zeichnung von sich vor¬
gelegt hatte, eine Coa nach dem Sündenfall, von großer Feinheit und Leben¬
digkeit. Der alte Meister äußerte seinen lebhaften Beifall 'über die Leistung
und ertheilte einige Rathschläge; es war immer eine Freude, ihn mit jungen
Künstlern verkehren zu sehen, die von ihm Aufmunterung und Zurechtweisung
wünschten; er wußte auch seinen Tadel in so liebenswürdige Form zu kleiden,
daß er nicht verletzte, und hatte für jedes redliche Streben die freudigste, un¬
umwundenste Anerkennung.
Als der Spanier sich entfernt hatte/sagte Cornelius, daß er mit Freude
von ihm gehört habe, wie vielen Anklang seine Compositionen in Spanien
gefunden hätten und wie verbreitet sie dort durch Kupferstiche seien, besonders
die Entwürfe zum Campo Santo in Berlin. Der junge Mann hatte geäußert,
daß die spanischen Künstler sich von der neufranzöstschen Kunst mit ihrer Richtung
aus Aeußerlichkeit, sinnliche Wirkung und Effect eher abgestoßen als angezo¬
gen fühlten, daß sie dagegen zwischen dem deutschen Geiste und ihrem eignen
eine innere Verwandtschaft zu empfinden glaubten, und sich daher an den
Werken von Cornelius und den gleichstrebenden deutschen Künstlern heranzu¬
bilden suchten.
Ich mußte unwillkürlich an den gewaltigen Umschwung denken, den auch
die Verhältnisse der Kunst in unserem Jahrhundert gewonnen haben. Nicht
mehr wie sonst bleibt ein bedeutendes Werk in den engen Raum gebannt, in
dem der Künstler sein Leben zubrachte oder in den ihn der Auftrag eines Be¬
stellers rief, wo verhältnißmäßig wenige sich daran erfreuen konnten; nicht
blos ein immer wachsender Strom von Reisenden flutet jährlich durch alle
Länder, und mit jedem Jahr wächst die Zahl derer, welche das Schönste, was
der menschliche Geist unter den verschiedensten Himmelsstrichen geschaffen, von
Angesicht zu Angesicht sehen: auch die Werke der Kunst fangen an ihre Rund¬
reisen durch Europa zu machen, wenn nicht im Original, so doch in zahllosen
Nachahmungen und Vervielfältigungen. Die pariser Weltausstellung ist auch
in dieser Beziehung ein epochemachendes Ereigniß gewesen, und sicherlich wird
sie nicht vereinzelt bleiben.
Diese Europäisirung der Kunst kann natürlich nicht ohne Folgen bleiben
und sie sind schon jetzt bei den Künstlern sowol und der Kunst selbst, als beim
Publicum merkbar genug, Sie sind theils' segensreicher, theils nachtheiliger Natur.
Während der Maler in frühern Jahrhunderten gewöhnlich in der stillen Werk¬
statt im engern Anschluß an seinen Lehrer herangebildet, unbeirrt durch ab¬
weichende Auffassungöweisen die überkommene Richtung festhielt oder weiter ent¬
wickelte; während er sein Werk für ein Kloster, einen Palast, eine Kirche seiner
Vaterstadt ausführte, lernt der Künstler in unsern Tagen schnell und'leicht
alle Stile und Manieren kennen, die irgendwo-oder irgendeinmal im Schwunge
gewesen sind und darf sich mit der Hoffnung schmeicheln, daß seine Composi-
tion wo nicht an der Seine, so doch an der Themse, in Petersburg oder in
Rom Freunde finden werde. Und wie lange wird es noch dauern, bis auch
Amerika einen Theil des Forums ausmachen wird, das über Kunstwerke richtet!
Der Künstler hat nun nicht mehr zu befürchten, daß der Unverstand eines klein¬
städtischen Publicums, die Bornirtheit eines vornehmen Bestellers, der Brotneid
künstlerischer Rivalen sich mit bleierner Schwere an sein Streben hängen werde.
Das Bewußtsein, für die ganze gebildete Mitwelt zu malen, verleiht seiner
Schöpfungskraft einen mächtigen Schwung, und sür den mangelnden Beifall in
seiner nächsten Umgebung kann ihn der Erfolg seines Werks in einem andern
Lande entschädigen. Andrerseits aber führt auch das Bestreben, sich die Vor¬
züge widersprechender Richtungen anzueignen, der Wunsch nach möglichst vielen
Seiten hin zu gefallen, auf Abwege, die nur für einen festen Charakter zu
vermeiden sind; denn es gibt eine künstlerische Charakterfestigkeit und Moral
ebensowol, wie eine wissenschaftliche und literarische. Im sechzehnten Jahr¬
hundert begegnet man bei der großen Müsse der Talente zweiten Ranges am
häufigsten einer einseitigen Tüchtigkeit, die auch wol ans Handwerksmäßige
streift, während man heutzutage nicht selten aus eine noch weniger wohlthuende
Zerfahrenheit und Haltlosigkeit stößt. Das Publicum des neunzehnten Jahr¬
hunderts ist unendlich vielseitiger gebildet, als das aller frühern. Man darf
behaupten, daß zu den Errungenschaften unsrer Zeit grade der historische Sinn
gehört, die Fähigkeit, sich auf den Standpunkt andrer Zeiten und Nationali¬
täten zu versetzen, von ihm aus die Producte zu betrachten, die von dem
Standpunkt der gegenwärtigen Bildung aus gesehen ungenießbar oder unver¬
ständlich bleiben würden. Erst unsre Zeit kennt eine Kunstgeschichte im wahren
Sinne des Worts und in unsrer Zeit erst hat die lange begrabene Kunst des
dreizehnten bis fünfzehnten Jahrhunderts ihre Auferstehung gefeiert. Wir haben
die kindlichen Werke jener gläubigen Zeit, über die unsre Großväter sich lustig
machten, aus allen Rumpelkammern. ans Licht gezogen und mit Triumph' in
unsre Museen geführt. Es war freilich manche Scharteke unter diesen bewun¬
derten Werken und der Enthusiasmus für sie streifte oft genug ans Lächerliche,
aber sein Kern war gesund und das ganze Streben ein durchaus berechtigtes
und erfreuliches. Dank diesem Streben, können wir mit leichter Mühe jeder
Erscheinung der Vergangenheit die Stelle anweisen, die ihr gebührt; können
unterscheiden, was überall" auf Rechnung des einzelnen Künstlers zu setzen ist,
und für was seine Kunstperiode verantwortlich gemacht werden muß; wir be¬
trachten jedes einzelne Werk nicht mehr außer dem Zusammenhange, in den
es gehört, sondern als Glied einer langen Kette, durch solche Antecedentien
vorbereitet und von solchen spätern Erscheinungen gefolgt, wir betrachten es
als das Product einer gewissen Cultur, unter deren Einfluß es so und nicht
anders geschaffen werden mußte. Von dieser Betrachtungsweise ließ sich noch
das achtzehnte Jahrhundert wenig träumen. Aber wenn das jetzige Publicum
so viel gebildeter ist, als alle frühern, so ist es auch so viel blasirter. Es hat
unzählige Eindrücke aller Art empfangen, nach allen Richtungen hin das Beste
kennen gelernt, immer stärkere Reizmittel sind angewandt worden, um auf seine
erschlaffenden Nerven zu wirken; es gibt sich nicht mehr die Mühe, wie es
früher geschah, sich liebevoll in den Geist des Künstlers zu versenken, sondern
es will leicht angeregt, frappirt, gepackt und erschüttert werden. „Il kaut cers
ssisiWanl,!" das ist die Parole, die das heutige Publicum den Künstlern zu¬
ruft.
Indessen die Entwicklung der Kunst kann durch ephemere Strömungen der
Zeit wol gehemmt oder verkümmert werden, aber nicht auf lange. Die nächste
Generation hat vielleicht schon wieder einen andern Geschmack, auch ihr fehlt
es nicht an Künstlern, die der Mode huldigen. Aber diese von der Mode in-
spirirter Productionen sind mit ihrem Aufhören vergessen und nur das Echte hat
Bestand. Das Leben ist kurz, aber die Kunst ewig. Von den zahllosen
Werken, die der Spekulation auf vorübergehende Richtungen der Gegenwart
ihre Entstehung verdanken, wird schon die nächste Zukunft nichts mehr wissen,
aber die wohlthätigen und fördernden Wirkungen, welche unsre Zustände auf
die Entwicklung der Kunst gehabt haben, werden nicht verloren gehn und die
Nachkommen werden das Begonnene weiter führen.
Es gibt auch jetzt, wie von jeher in Europa, nur zwei Kunstrichtungen,
eine germanische und eine romanische. Die romanischen Nationen, welche die
Kunst früher gehegt haben, die spanische und'italienische, sind für sie so gut
wie todt; sie habeivzwar hin und wieder Künstler, und vielleicht vortreffliche, aber
keine lebensfähige selbstständige Kunst. Ihren Platz nehmen die Franzosen
und Belgier ein. Die germanische Kunst vertritt Deutschland so gut wie allein.
Was in den skandinavischen Ländern und Dänemark geleistet wird, ist theils
schülerhaft, theils auf deutschem Boden groß gezogen und mit deutschem Mark
genährt. Der britischen Nation ist der Beruf zu allen Künsten, außer der einen,
in der sie das Höchste geleistet hat, versagt geblieben. England hat eigentlich
nur einen originellen Maler hervorgebracht, Hogarth; und dieser virtuose Dar¬
steller der nackten häßlichen Wirklichkeit konnte vielleicht in keinem andern Lande
sich so entwickeln, als in England.*) Die slawischen Nationen haben bis jetzt
ihre Befähigung für die bildenden Künste noch nicht gezeigt. Vielleicht gelingt
es dem Ministerium der Volksaufklärung, in Rußland die Welt auch mit einer
französisch-russischen Kunst zu beschenken.
Die deutsche Kunst wurde wiedergeboren mit der Befreiung der Nation
von der Fremdherrschaft. In den gewaltigen Anstrengungen, mit denen wir
diese Ketten sprengten, rissen wir uns auch von dem Gängelbande los, an dem
die große Nation unsern Geschmack geleitet, unsre Kunst in ihren Bahnen geführt
hatte. Der nationale Sinn war erwacht und das geistige Leben der Nation
trieb neue Sprossen. Die Blütezeit der Poesie nahte sich ihrem Ende, es
begann eine Blütezeit der bildenden Kunst, wie sie Deutschland seit mehr als
zweihundert Jahren nicht gehabt hatte.
Die beiden Hauptrichtungen der modernen deutschen Malerei sind von
den beiden Hauptstädten ausgegangen, wo sie ihre Pflege gesunden hat,
Düsseldorf und München; jene ist vorzugsweise norddeutsch und protestantisch;
sie wendet sich ganz besonders an das Gemüth; diese süddeutsch und katholisch,
sie hat vor allem.durch eine durchgebildete Gestaltung ihrer Ideen zu wirken
gestrebt. B,n dem entschieden sentimentalen Charakter der düsseldorfer Schule
konnte sie in der Historienmalerei eigentlich niemals das Höchste leisten. Auch
an den besten Vertretern dieser Richtung vermißt man den wahren Gestalten¬
sinn, die lebendige Freude an der Fülle der Erscheinungen, das strenge und
zugleich feine Gefühl für die Form und die Fähigkeit, sie mit voller Energie
nachzuschaffen. Ihre Formenbildung hat etwas Dilettantisches, der Gestalt wider¬
fährt nicht ihr volles Recht, es ist, als ob eine gewisse Aengstlichkeit in der Zeich¬
nung und Farbengebung den Künstler überall hinderte, seiner Idee ihren ganzen
und unverkümmerten Ausdruck zu geben. Ohne die uneingeschränkte Beherr¬
schung der Form kann aber ein Historienmaler nie aus vollem Holz schneiden,
es fehlt den Bildern immer etwas, das der gebildete Laie auch dann fühlt,
wenn er sich nicht davon Rechenschaft zu geben weiß. An denselben Mängeln
leidet in der Regel die Composttion. Die Bewegungen sind gewöhnlich zu
gezügelt, die Leidenschaften gemildert, kurz dem Ganzen ist die Blässe des Ge¬
dankens angekränkelt. Vor mehren Jahren machte ein früheres Bild von
H. Vernet, „die sächsische Prinzessin Editha findet die Leiche ihres Verlobten
Harald auf dem Schlachtfelde von Hastings", die Runde durch Deutschland;
die Darstellung der Leidenschaft ging hier bis an die äußerste Grenze des
Schönen. In einer sehr witzigen Beurtheilung der damaligen berliner Kunst¬
ausstellung gab E. Kossa eine Zeichnung, welche die Uebersetzung dieses Bildes
ins Düsseldorfische vorstellte, es war eine Caricatur, aber es war doch Wahr¬
heit darin. In der Wahl der Gegenstände wandte sich diese Schule mit Vor¬
liebe dem deutschen Mittelalter zu; aber man schöpfte hier meistens nicht an
den ursprünglichen Quellen, sondern empfing die Motive aus zweiter Hand
und zwar in der Auffassung, wie sie durch Uhland und seine Nachahmer vor
zwanzig und dreißig Jahren so unendlich verbreitet war. Diese bis zur Durch¬
sichtigkeit verklärten Gestalten, tugendsame Ritter und züchtige Fräulein, trau¬
ernde Königspaare und minnigliche Sänger sagten der damaligen Richtung
in hohem Grade zu. Sie waren sehr edel, gemüthvoll, manierlich und pathe¬
tisch; aber leider ganz abstract, ohne alle Individualität und folglich ohne jedes
Leben. Wir können uns Glück wünschen, daß diese todtgebornen Geschöpfe
uun hoffentlich für immer aus der Welt verschwunden sind; sie waren doch gar
zu melancholisch. Die Düsseldorfer haben vielfach so gemalt, wie Uhland und
das Heer seiner Nachtreter gedichtet hat; deshalb sind ihre Figuren so häufig
ohne wahren Charakter und ohne rechtes Leben geblieben. Und wenn sie ihre
Gegenstände noch so charakteristisch wählten, die Ausführung wurde doch immer
charakterlos. Wenn sie die gigantischen Gestalten aus der Urzeit des Men¬
schengeschlechtes, die Leidenschaften des Orients, den Flammen;om des alten
Testaments darstellen wollten, so geschah auch dies in derselben sanften elegi¬
schen Weise. Die trauernden Juden von Bendemann waren für einen jungen
Künstler allerdings ein ganz respectables Bild, aber große Hoffnungen konn¬
ten sie bei Urtheilsfähigen nie erwecken. Wer diese wilde Leidenschaft, der nnr
Michel Angelo und Händel hätten gerecht werden können, so zahm darstellen
konnte, dem stand keine große Zukunft bevor. Der Psalm, den sich der Maler
gewählt hatte, ruft Segen auf den herab, der die jungen Kinder der Feinde
nehmen und an dem Stein zerschmettern wird, aber von dieser orientalischen
Glut des Hasses ist keine Spur in dem Bilde, es sind nicht einmal Orientalen,
die Bendemann gemalt hat, sondern es ist eine düsseldorfer Familie in orien¬
talischem Costüm, die in sehr anständiger Haltung ein Unglück betrauert, das
sie betroffen hat. Man begreift den Enthusiasmus, den dieses und ähnliche
Bilder damals erweckten, nur, wenn man sich an die jahrhundertlange Pause
erinnert, in der es eigentlich gar keine deutsche Malerei gegeben hatte; nach ihr
gehörten diese Bilder zu den ersten Regungen der wiedererwachenden Kunst,
wenigstens für Norddeutschland. Aber jetzt ist die Zeit der düsseldorfer und der von
ihr abgeleiteten dresdner historischen Schule vorüber und das ist gut. Es macht
einen wehmüthigen Eindruck, wenn man in einer Sammlung, wie die des
Consul Wagner in Berlin umhergeht, die von den bedeutendsten Malern der
Schule Bilder enthält, die kaum ein Menschenalter vor unsern Tagen gemalt
und bewundert wurden. Und welches Publicum haben sie jetzt? All diese
trauernden Königspaare, edeln Räuber, zur Kirche gehenden Jungfrauen, sen¬
timentalen Tassos und Prinzessinnen, todten Heiligen, gemüthlichen Krieger — die
jetzige Generation wirft ihnen kaum noch einen Blick zu. Die Männer, die
dieser Richtung angehören, sind durchweg von dem edelsten Streben erfüllt ge¬
wesen und manche, vor allen Lessing, sind hochbegabte Naturen, die gewiß
unter günstigern Umständen eine erfreulichere Entwicklung gehabt und vielleicht
Unvergängliches geleistet hätten'; aber ihre Begabung ist nicht zur vollen Aus¬
bildung gelangt. So ist der Charakter der düsseldorfer Historienmalerei der
eines gebildeten Dilettantismus geblieben; etwas Bleibendes hat sie nicht
hervorgebracht.
Viel besser sind die Leistungen der Düsseldorfer im Genre gewesen. so-
wol die technischen als die innern Eigenschaften, die ihnen für die höhere Gat¬
tung fehlten, können hier bis auf einen gewissen Grad entbehrt werden; und
sie haben theils in ernster, theils humoristischer Auffassung des Lebens Vor¬
zügliches geschaffen. Für die erstere Richtung dürfte der Norweger Tidemanv
als das bedeutendste Talent der Schule gelten, für die letztere ist es unbestritten
Krauß. Tidemands einfache und wahre Darstellungen norwegischen Landlebens
gehen ebensosehr zum Herzen, als sie vom Herzen kommen. Die Bilder von Krauß
(wenigstens die frühern) sind zum Theil von einem wahrhaft unwiderstehlichen
Humor und bei der feinsten, lebendigsten Charakteristik von Caricatur weil ent¬
fernt, es sind Productionen, denen man es ansteht, daß sie nicht gemacht, son¬
dern frei aus einem'Geiste entsprungen sind, der mit einer höchst glücklichen
Auffassung für das Komische begabt ist. Wenn man ihren Werth vollkommen
schätzen will, muß man sie neben hasencleverschen sehn, wo einige nicht zahl¬
reiche, in der That komische Erfindungen in allen möglichen Variationen immer
aufs neue schablonenartig benutzt sind und in verschiedenen Scenen, in andern
Costümen doch immer dieselben Gesichter und Motive wiederkehren, während
bei Krauß sich eine solche Fülle von überschwenglich komischen, dabei stets wahren
und charakteristischen Gestalten drängt, wie sie die Wirklichkeit nur dem Auge
eines echten Humoristen bietet. Indeß Krauß ist ein ziemlich einzeln stehendes
Talent (und auch er hat später das Gebiet des eigentlichen Humors ver¬
lassen) , wogegen die gemüthliche Auffassung des Genre zahlreiche erfreuliche
Erscheinungen hervorgebracht hat.
Bei weitem das Beste haben die Düsseldorfer in der Landschaft geleistet,
hier ist die Schule in der That epochemachend gewesen und dies ist auch das
Feld, wohin sie ihre ganze Richtung aufs entschiedenste hingewiesen hat. Hier
war sie nicht durch ihre Mängel behindert und hier kam ihr ihre Auffassungs¬
weise im hohen Grade zu Statten. Die Natur, die sie darstellte, war zunächst
hauptsächlich die deutsche und oberitalienische, sodann die der Alpen und der
norwegischen Gebirge, weit weniger die eigentliche südliche mit ihren glühenden
Farben und scharf begrenzten charakteristischen Formen. Alle Erscheinungen in
der mittel- und nordeuropäischen Landschaft, bei denen das' Auge des Natur¬
freundes gern verweilt, sind wieder und wieder dargestellt worden; in der Mehr¬
zahl sind diese Bilder erfreulich und zum nicht geringen Theil vortrefflich. Die
norwegische Holzflößerhütte im Wassersturz, dies trauliche Dunkel der deutschen
Eichenwälder, die grünen Alpenseen zwischen schroffen Felsen, die schwarzen
Cypressengruppeit, die neben weißen lombardischen Villen stehn; der Zauber des
Mondlichts und die Glut des Abendroths auf Wasser, Wald und Gebirge ^—
solche Bilder hat die düsfeldorfer Schule in so großer Menge geliefert, daß es
hier unmöglich wäre, auch nur das Vorzüglichste herauszuheben. Diese Pro-
ductionen sind echt deutsch, hervorgegangen aus dem unwiderstehlichen Hange
des deutschen Gemüths, sich in die Natur zu versenken, ihre Stimmungen zu
erlauschen und in ihre Erscheinungen eine Verwandtschaft mit den Zuständen
des eignen Innern zu träumen. Sie haben deshalb ihre volle Berechtigung
und werden ihren Werth behalten. Nur gehören sie doch immer nicht der
höchsten Gattung der bildenden Kunst an; deren größte Aufgabe der Gipfel der
organischen Natur bleibt, der Mensch. Die Bildungen der Vegetation und
der unorganischen Natur sind unendlich leichter darzustellen, als das Meister¬
stück der Schöpfung; und die großartigsten landschaftlichen Productionen wird
es doch wol niemandem einfallen neben die größten historischen zu setzen, Ruvö-
dael und Claude Lorrain neben Michel Angelo und Rafael. Die Elemente d.er
landschaftlichen Darstellung braucht der Künstler nnr aus der Natur zu ent¬
nehmen, zu ordnen und zu copiren; und wenn dies auch nicht ohne Gefühl
und Geschmack geschehen darf, so ist es doch einer beschränkter» Begabung und
Bildung möglich, als sie die künstlerische Verklärung der menschlichen Erschei-
nungen fordert. Auch ein sehr untergeordnetes Talent kann bei vernünftiger
Beschränkung auf ein kleines, ihm zusagendes Gebiet der Natur gute landschaft¬
liche Bilder hervorbringen, wenn sie auch einander sehr ähnlich sein werden;
während auch die geringste Darstellung aus dem Leben, der Geschichte, der
idealen Welt neben einem tiefern Studium auch Erfindung verlangt, wenn sie
nichr todt geboren sein soll. Es soll sogar Landschaftsmaler geben, die z. B.
römische.Campagnebilder mit Virtuosität malen, in denen Luft, Boden, Gemäuer
und Gestrüpp unübertrefflich sind und sehr schön zusammenwirken; aber einen
Baum können dieselben Maler nicht zu Stande bringen. Eine solche beschränkte
Virtuosität ist nur in einer untergeordneten Kunstgattung möglich. Dem Land-
chaftsmaler kann Beobachtungsgabe, Takt und Geschmack nicht selten die Stelle
von Geist und Erfindung vertreten; dem Historienmaler nie. Wenigstens ist
dies jetzt der Fall, wo die künstlerische Auffassung und Darstellung der Natur
nach allen Seiten hin durch musterhafte Vorbilder verbreitet ist. — Man kann
heutzutage ebenso gute Bilder malen, wie Ruysdael und Claude Lorrain,
ohne deshalb genial zu sein, wie sie es waren.
Die Münchner Schule hat Bahnen eingeschlagen, die von denen der düsscl-
dorfer weit abliegen und diese Pflege verschiedener Richtungen ist für die Ge-
sammtentwicklung der Kunst in hohem Grade förderlich gewesen. Während die
Düsseldorfer die Landschaftsmalerei mit so viel .Vorliebe und Glück geför¬
dert haben, tritt sie in der Münchner Schule in den Hintergrund und ihr be¬
deutendster Landschafter, Nottmann, hat wenigstens einen ganz andern Weg
verfolgt, als die Schirmer und Lessing, Gude und Ueberhand; er hat dem
eigentlichen Süden seine Gegenstände entnommen und seinen Landschaften einen
historischen Charakter gegeben. Geht doch Cornelius in der Nichtachtung der
Landschaft so weit, daß er ihr kaum einen Platz unter den wahren Kunstwerken
einräumen will, wenn sie nicht einen historischen Inhalt hat!
Die Münchner Schule hat ihre Richtung durch Cornelius empfangen, den
größten Maler, den Deutschland überhaupt hervorgebracht hat und der wol
den größten Malern aller Zeiten und Länder an die Seite gestellt werden darf.
Die Tiefe seines Geistes, die Großartigkeit seiner Weltanschauung, die Fülle
seiner Erfindung, die poetische Kraft seiner Gestaltung reihen ihn der kleinen
Schar von welthistorischen Künstlern ein, die wie wie Phidias, Rafael und
Michel Angelo der Menschheit angehören und auf die Cultur aller nach¬
folgenden Zeiten ihren Einfluß üben. Zugleich aber gehört er zu denen, die
nicht blos wegen ihrer Großes sondern auch wegen mancher Härte in ihrem We¬
sen nur von der Minderzahl der Mitlebenden verstanden und gewürdigt werden.
Der Laie bedarf zum Verständniß des Kunstwerks der Totalität der Erscheinung,
und diese wird in fast allen Bildern von Cornelius, mindestens durch die Farbe
verkümmert. Am reinsten wirken seine Cartons und unter diesen gehören die
Schöpfungen seines höchsten Alters, die Entwürfe für das Campo Santo zu
dem Größten, was er überhaupt gemacht hat. Man weiß nicht, ob man es
beklagen oder preisen soll, daß sie vom Schicksal bestimmt scheinen, unaus¬
geführt zu bleiben. Ich sah in Rom seinen Entwurf zu dem Nischenbilde des
Pröjectirten berliner Doms: oben die himmlischen Heerscharen in'Erwartung
des jüngsten Gerichts, während der untere Raum von den betenden königlichen
Familien ausgefüllt werden sollte. Noch keine Spur von Altersschwäche zeigt
sich in dieser herrlichen Conception und vor allem ist die Gruppe der Engel,
die den Befehl erwarten, in die Posaunen zu stoßen, von einer überwältigen¬
den Schönheit.
Bei Cornelius' Schülern und Nachfolgern hat der Anschluß an die von
ihm geschaffenen Vorbilder nicht immer zu erfreulichen Resultaten geführt. Seine
Formen waren leichter nachzuahmen, als sein Geist, und leider sind auch seine
Fehler mit größrer Vorliebe beibehalten worden, als zu wünschen wäre. Seine
Formbildung ist in den Händen seiner Schüler vielfach zum Schematismus
ausgeartet, seine Ideale sind oft zu wesenlosen Schattengestalten, seine Charak¬
teristik zur Manier, seine Strenge zur Eckigkeit und Unbeholfenheit geworden.
Viel Unheil hat auch seine Neigung zur Allegorie gestiftet, die in der bildenden
Kunst allerhöchstens geduldet werden, aber nie einen breiten Raum in Anspruch
nehmen darf. Glücklicherweise sind die allegorischen Beziehungen, welche die
Cornelianer mitunter in ihre Bilder legen, oft so fein und versteckt, daß man
sie gar nicht ahnt und folglich in Unwissenheit darüber bleibt, welche Absurdi¬
tät der Maler eigentlich beabsichtigt hat. Wenn nun diese Mängel die schwä-
chern Leistungen der Münchner ungenießbar machen (namentlich dem großen
Publicum, für dessen Geschmack sie gar nichts biete»), so werden sie natürlich
er den bedeutender!! Werken von dem innern Gehalt überwogen oder doch com-
Pensirt. Ein ganz selbstständiger Geist ist Bonaventura Genelli. Man kann
seine seltene Begabung nicht verkennen, und doch ist es nicht blos, wie seine
Verehrer behaupten, die Ungunst der Verhältnisse und seine Unfähigkeit zu
malen, die ihn der großen" Majorität der kunstliebenden Mitwelt hat fremd
bleiben lassen, es ist vielmehr der Mangel an ästhetischer Durchbildung, der
sich in allen seinen Productionen fühlbar macht. Es ist ein Ringen von ent¬
gegengesetzten Principien darin, das er nicht zum Abschluß zu bringen vermocht
hat; denn auf der einen Seite neigt er sich der Antike, auf der andern der
Richtung Michel Angelos zu. Außerdem sind seine Gegenstände mitunter
gradezu absurd, z. B. einiges in dem Leben der Here.
Cornelius größter Schüler ist Kaulbach. Während die andern sich in den
von dem Meister vorgezeichneten Bahnen bewegen, ist er allein darüber hinaus¬
gegangen und wandelt seine eignen Wege. Er war wie keiner unter den Lebenden
berufen, das von Cornelius Begonnene weiter zu führen, und wo Cornelius
durch die Schranken seiner Begabung gehindert war, das Höchste zu leisten, seine
Anfänge mit sicherer Hand der Vollendung entgegenzubringen. Ihn hatte die
Natur verschwenderisch auch mit solchen Gaben ausgestattet, die sie seinem
Lehrer versagte. Während Cornelius so schwer und langsam arbeitet wie
Beethoven, vermag Kaulbach seine Ideen mit spielender Leichtigkeit hinzuwerfen.
Die Härten der Formbildung, die Cornelius nicht los werden kann, hat er
schon früh'überwunden und eine reine edle Schönheit der. Darstellung erreicht.
Er hat eine unendlich größere Beherrschung der rechnischen Mittel, als Cor¬
nelius, und dies ist in der Kunst eine keineswegs so gering zu achtende Eigen¬
schaft, als diejenigen uns möchten glauben machen, die sie nicht besitzen. End¬
lich ist er unendlich vielseitiger, als Cornelius, der nur dem Adler gleich in
den höchsten Regionen der Cinbildungskraft heimisch ist; der nur darstellt, was
Dante, Homer, die Dichter der Nibelungen, die Propheten des alten und
neuen Testaments gesungen haben, zu den engen Dimensionen und dem Ge¬
staltengewimmel des Alltagslebens sich niemals aber herablassen kann. Kaul¬
bachs Darstellungsvermögen scheint auf allen Gebieten der Phantasie und der
Wirklichkeit gleich groß und unerschöpflich zu sein. Vor allem aber hat er einen
glänzenden, sprudelnden, überreichen Witz, wie ihn vielleicht nie ein Künstler
besessen, eine Eigenschaft, die ihm selbst seine ungerechten Beurtheiler zugestehen
müssen.
Aber trotzdem, daß Kaulbach so überschwenglich reich begabt ist, ist seine
Production im Ganzen betrachtet doch kein Fortschritt im Vergleich zu der seines
Lehrers. Es ist schmerzlich zu sehn, daß ein so seltener Geist, wie ihn nicht
jedes Jahrhundert hervorbringt, seine Kraft nicht zum Höchsten und Besten ver¬
wendet, das er allein zu vollbringen vermöchte. Die augenblicklichen Erfolge,
die er mit unerhörter Leichtigkeit erreichen konnte, scheinen für Kaulbach so ver¬
führerisch gewesen zu sein, daß er von der einzigen Norm, der die Seele eines
Künstlers treu bleiben soll, wie die Nadel dem Pol, abgewichen ist. Für den
Künstler soll eS keine Götter geben, außer der Kunst; läßt er sich verleiten,
den falschen Götzen des Effects, der Tendenz und wie sie sonst heißen mögen,
zu opfern, so ist er abtrünnig. Cornelius hat während seines langen Lebens
die Bahn, die den Künstler allein ans Ziel führt, mit unerschütterlicher Be¬
harrlichkeit verfolgt; wobei es freilich wahr ist, daß ihn die geringere Vielseitig¬
keit seiner Begabung auch nicht so sehr der Versuchung aussetzte. Kaulbachs
künstlerischer Charakter dagegen ist nicht so rein und makellos geblieben, und wenn
die Mitwelt sich auch hierüber nicht klar wird, so wird die Nachwelt, wie wir
fürchten, ein unnachsichtigeres Urtheil fällen.
Kaulbachs erstes großes Werk, die Hunnenschlacht (jetzt auch, und wie ich
höre mit vortrefflicher Wirkung, im neuen Museum zu Berlin in Farben aus¬
geführt), ließ einen Fortschritt gegen Cornelius erwarten; aber es war auch
das letzte, das einen ganz reinen Eindruck machte. Es hob den bis dahin mit
der Ungunst der Verhältnisse ringenden Künstler mit einem Male auf die Stelle,
die ihm gebührte; und Graf Raczynski, der es bestellte, hat sich dadurch ein Ver¬
dienst erworben, das vieles, was er in seinen drei Quartanten über die neuere
Malerei gegen die Vernunft, den Geschmack und die deutsche Sprache verbrochen
hat, gut macht. Aber in den zahlreichen großen Compositionen, die. der
Hunnenschlacht gefolgt sind, hat der Künstler, wie es scheint in dem Bewußtsein
des für immer gesicherten Ruhms und wohl wissend, wie man der Menge im-
Ponirt, nicht mehr die reine Schönheit, sondern vielfach den Effect erstrebt.
Mit einer gewissen Frivolität hat er sich seinem mächtigen Schöpfungsdrange
überlassen, hat aus der Fülle der ihm zuströmenden Ideen ohne viel Sichtung und
Prüfung gegriffen, und sich nicht die Zeit genommen, sie so durchzubilden, wie
er es vermocht haben würde. Daher eine Ueberfülle von Motiven statt Reich¬
thums, ein Mangel an individuellem Leben in einzelnen Figuren, und theatra¬
lisches Pathos statt wahrer innerer Empfindung. Dabei ist keines von diesen
Bildern ohne Schönheiten ersten Ranges, und um so schmerzlicher empfindet
der Betrachter, daß Kaulbach das zu erreichen verschmäht, was er erreichen
könnte. Am reinsten wirken die einzelnen Figuren, wie hie Sage, die Wissen¬
schaft, die Kirche: höhere Wesen, aus einer andern Welt herabgezaubert, und
doch uns so verwandt und verständlich. Auch seine satirischen Compositionen
gewähren einen ganz reinen Genuß; weil sie ebensosehr im höchsten Sinne
komisch als künstlerisch vollendet sind. Die Vielseitigkeit eines Geistes, aus
dem sowol die Hunnenschlacht und so viele andere Compositionen im größten
Stil, als auch der Reinecke Fuchs und die arabeskenhafte Darstellung der Welt¬
geschichte in Kinderfiguren hervorgegangen sind, ist wol in der Geschichte der
Kunst ohne Beispiel. Die neuesten Compositionen zum Shakespeare bestätigen
leider auch, daß der- Künstler von seiner Leichtigkeit im Produciren einen Ge¬
brauch macht, den niemand gutheißen kann, der an jedes Kunstwerk die höchsten
und unveränderlichen Forderungen stellt.
Die sehr zahlreichen, zum Theil vortrefflichen Künstler, die in ganz Deutsch¬
land theils den geschilderten Richtungen sich anschließen, zum Theil ihrer eignen
Individualität folgen, zum Theil die Vorzüge der französisch-belgischen Kunst
Mit denen der vaterländischen zu vereinigen streben, sie können in diesen flüch¬
tigen Betrachtungen, die nur die Spitzen unsrer Kunstzustände streifen sollen,
keine Erwähnung finden. Dagegen müssen einige Erscheinungen berücksichtigt
werden, die zum Theil unerfreulicher Natur sind, aber integrirende und charak¬
teristische Elemente der Gesammtproduction unsrer Periode bilden.
Zunächst der NazarenismuS. Er ist hervorgegangen aus der Reaction der
christlichen Konfessionen gegen den Deismus des vorigen Jahrhunderts, er hat in
den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts eine wesentliche katholische Färbung
gehabt, in den letzten sich auch der protestantischen Kunst mitgetheilt. Wir halten
diese Richtung, welche die Kunst der Religion dienstbar machen will, für eine
der beklagenswerthesten Verirrungen unsrer Zeit. Es ist lächerlich, sich dabei
aus die Fiesole und Francia zu berufen, deren höchste Schöpfungen freilich aus
einer innigen christlichen Frömmigkeit entsprungen sind, und ohne sie nicht
hätten entstehen können. In jener Zeit machte aber die Religion den Haupt¬
inhalt des geistigen Lebens aus, wo nicht den ausschließlichen, darum konnte
die Kunst in ihr aufgehen; in unsrer Zeit ist es nicht mehr so, und der Künst¬
ler, der die Kunst in eine unnatürlich gewordene Sklaverei zwängt, wird mit
seinen Werken nur seine kleine stille Gemeinde 'erbauen, der ungeheuren Mehr¬
heit der Mitwelt aber fremd bleiben. Er mag sich noch so viele Mühe geben,
sich in den Glauben und die Empfindungsweise des vierzehnten Jahrhunderts
zurückzuschrauben; er hört doch nie auf ein Sohn des neunzehnten zu sein,
und die Erreichung des vorgesteckten Ziels ist eine baare Unmöglichkeit, die
Bilder von Fiesole, mit ihre» handgreiflichen Mängeln, reißen auch ein un¬
gläubiges Gemüth durch ihre unwiderstehlich überzeugende Kraft hin; die so
unendlich vollendeteren Bilder Overbecks z. B. können wol interesstren und selbst
mit Bewunderung erfüllen, aber die von dem Künstler beabsichtigte Wirkung,
eine christliche Andacht zu erwecken, thun sie nur bei denen, denen überhaupt
der heilige Gegenstand, nicht die Darstellung die Hauptsache ist. Um diese zu
erbauen, dazu bedarf es nicht der overbeckschen Silberftistzüge, dazu reicht jedes
Heiligenbild aus. Eine specifisch christliche Kunst hat ihre Berechtigung in
einem specifisch christlichen Zeitalter, die Kunst aber, die für alle Zeiten und
alle Länder bildend und fördernd sein soll, muß allgemein menschlich sein. Das
sind die besten rafaelischen Madonnen im höchsten Sinne des Worts, vor
allen die florentinische üsUa hockt-r, die nie aufhören wird empfängliche Herzen
zu erheben und zu rühren, so lange das ewig Weibliche Menschen hinanziehen
wird. Den katholischen und protestantischen Nazarenern ist dies und ähnliche
Bilder allerdings zu weltlich. Der Künstler, den sein Naturell zu einer mensch¬
lichen Behandlung heiliger Gegenstände befähigt, an dessen Bilde werden diese
Pharisäer der Kunst auch heute mit fromm verdrehten Augen Vorübergehen,
aber jeder, der ein offnes Herz für das wahrhaft Schöne hat, wird sich daran
erbauen. Solche Bilder; die im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert so
häufig gemalt wurden, sieht man jetzt freilich selten genug. Ich erinnere mich
nur einiger in diesem Sinn behandelter heiliger Scenen von Mach in Kirchen
von Gent, die durch ihre anspruchslose Einfachheit doppelt rührend und an¬
ziehend waren, besonders einer Madonna mit dem schlafenden Kinde im Schoß,
die den kleinen heiligen Johannes abwehrt, der mit einer Traube jauchzend
herbeieile; ich glaube in Se. Nikolaus. Aber was auf diesem Boden, wie in
der Kunst überhaupt, nicht von. selbst heranwächst, das wird auch nicht künstlich
erzeugt werden. Der Verein für evangelische Kunst in Berlin ist ein todt-
gebornes Unternehmen, und waS für Früchte es tragen wird/ davon konnte
die vor einigen Jahren veranstaltete Ausstellung der Concurrenzbilder eine
Probe geben. Es waren, ich glaube dreißig oder vierzig Loos Komo da, aber
doch sehr wenige darunter, bei denen man hätte verweilen mögen.
Wenn die Benutzung der Kunst auch zu dem allerlöblichsten außerhalb
liegenden Zweck als ein Mißgriff betrachtet werden muß, insofern jedes Kunst¬
werk ein in sich abgeschlossenes sein soll, das sich selbst Zweck ist, und nicht ein
Vehikel zur Beförderung irgend einer von seinem Wesen, getrennten Tendenz:
so versteht es sich von selbst, daß der Künstler seinen Pinsel ebensowenig zu ge¬
malten Abhandlungen von moralischen und socialen Fragen hergeben darf.
Glücklicherweise spielt die Tendenzmalerei in der Kunst der Gegenwart auch
eine ziemlich untergeordnete Rolle, was um so erfreulicher ist, je breiter sich
die Tendenz in der Literatur' der letzten Jahre macht. Auch der düsseldorfer
Hübner, dessen Jagdrecht vielleicht durch den unglücklichen Gegenstand noch mehr
als durch die glückliche Behandlung den Beifall des großen Haufens erwarb,
scheint diese Richtung verlassen zu haben. Möchten doch die schlesischen Weber
und andre hungernde Proletarier von unsern Ausstellungen bald ganz ver¬
schwunden sein; Bildersäle sind doch am allerwenigsten zu Lösungen socialer und
andrer Principienfragen geeignet.
Wenn die religiösen Richtungen einerseits, das Interesse an den socialen
Fragen andrerseits die Historienmalerei auf Abwege geführt hat, so ist die er¬
höhte Wanderlust und Neisewuth unsrer Tage, die sich Dank der erleichterten
Communication nicht mehr mit Europa begnügt, sondern schon fast auf alle
Länder erstreckt, die in dem berühmten „Wanderlied für die deutsche Jugend"
besungen werden — sie ist auf die Landschaftsmalerei nicht ohne Einfluß ge¬
blieben. Auch die Genremaler begnügen sich nicht mehr wie früher mit römi¬
schen Pifferari, Barbierscenen von Piazza Montanara oder neapolitanischen
Tarantellen; es erscheinen auf unsern Ausstellungen immer mehr und mehr
ägyptische Studenten, konstantinopolitanische Raucher und abyssinische Sklaven¬
händler. Indessen diese interessanten Persönlichkeiten sind, doch noch vereinzelt,
die außereuropäische Landschaft dagegen ist schon zu einer Gattung erwachsen, die
von Jahr zu Jahr zahlreicher wird. Früher war Italien das weiteste Ziel des
pilgernden Künstlers, die Verbindung Griechenlands mit Baiern machte zuerst
dies schöne Land zum Gegenstande für die deutsche Kunst, die Expedition unter
Lepsius hat das Land der Pyramiden, die Reisen der Engländer Kleinasien in
den Kreis der Länder gezogen, die von Touristen und Landschaftern abgereist
werden. Humboldts Reisen in Südamerika sind auch für die bildende Kunst
uicht ohne Folgen geblieben. Während die Maler der früheren Zeiten mit an¬
spruchslosen Darstellungen aus der nächsten heimischen Umgebung die Herzen
rührten, streifen die unsern vom Nordpol bis zum Aequator, um noch nicht
dagewesene Effecte für den verwöhnten Gaumen des Publicums zu entdecken.
Ich sah im Museum von Lyon zwei Bilder von Biard, das Eismeer und die
afrikanische Wüste, beide höchst wirksam und frappant gemalt, nebeneinander.
An und für sich ist nun gar nichts dagegen zu sagen, daß die Kunst daS
Schöne und Eigenthümliche auch in der fremdartigen Natur der Tropen
und Polarkreise zum Gegenstande ihrer Darstellung macht; ja ich stehe nicht
an, die Farbenwirkungen, die Hildebrand auf Bildern von Madera und dem
Nil erreicht hat, als Berechnungen der Landschaftsmalerei zu betrachten. Nur
freilich liegt auch die Gefahr sehr nahe, daß grade das Fremdartige, Bizarre,
Frappante zur Hauptsache gemacht und die wahre Aufgabe der Landschafts¬
malerei darüber vergessen wird. Ist dies der Fall (wie es denn in der That
häusig genug sich zeigt), so hören solche Bilder auf ein rein künstlerisches Interesse
zu haben; sie sind dann geographische Illustrationen, aber keine gemalten Ge¬
dichte mehr. Auch ist nicht zu übersehen, daß die Richtung auf das Frappante,
den überraschenden Effect, welche im Wesen dieser Gattung begründet ist, sich
auch der übrigen Landschafsmalerei mittheilt, und nicht zu ihrem Vortheil. Doch
von solchen Ausschreitungen kehrt die Kunst spät oder früh in die richtigen
Geleise zurück, die ungesunden Richtungen sterben ab, aber die Erfindungen, zu
denen sie geführt haben, tragen zur Weiterentwicklung bei.
Nach dieser Uebersicht der gegenwärtigen deutschen Malerei, die aus der
gedrängten Fülle der Erscheinungen nur die hervorragendsten und am meisten
ins Auge fallenden berühren konnte, wende ich mich zu einer kurzen Betrach¬
tung der französisch-belgischen Kunst. Auf den ersten Blick ist ihr von der
deutschen verschiedenes/ja entgegengesetztes Wesen unverkennbar. Während bei
uns die Landschaft einen so breiten Raum einnimmt, tritt sie dort ganz in den
Hintergrund. Während bei uns die Historienmalerei ihre Stoffe mit Vorliebe
aus der Welt der Ideen entnimmt, greift sie hier ins volle „bunte Leben", und
reproducirt dies mis allen seinen Zufälligkeiten zur vollsten Anschaulichkeit.
Endlich steht dieser Kunst eine Virtuosität im Gebrauch der technischen Mittel
zu Gebot, zu der die spröde, theils freiwillige, theils nothgedrungene Einfach¬
heit' der Darstellung auf deutschen Bildern einen eigenthümlichen Contrast
bildet.
Die Thatsache, daß daS Naturgefühl der romanischen Nationen von dem
der germanischen verschieden ist, wird niemand bestreiten, wie verschieden man
diese Erscheinung auch auffassen mag. Ebenso unbestritten ist es, daß die ger¬
manische Naturauffassung für daS Entstehen der Landschaftsmalerei einen
günstigern Boden bietet als die romanische. Die Kunstgeschichte bestätigt dies
in auffallender Weise. Es hat allerdings zu allen Zeiten einzelne romanische
Landschaftsmaler gegeben, die den besten germanischen an die Seite gesetzt
werden können, und es gibt jetzt wenigstens einen, der unter allen lebenden
vielleicht das Höchste in dieser Gattung geleistet hat, Calame. Aber dergleichen
vereinzelte Erscheinungen lassen den Mangel der ganzen Gattung nur um so
greller hervortreten. Bei uns findet ein Künstler, der mit einer neuen und eigen¬
thümlichen Auffassung der Natur hervortritt, sogleich zahlreiche Nachfolger; bei
den romanischen Nationen bildet er wol Schüler, aber keine Schule. Auf
belgischen und französischen Ausstellungen (wie z. B. auf der expo8ltion Asnerale
cleg dvaux art8 183-1 zu Brüssel) ist das Verhältniß von Landschaft und Figuren¬
bildern ziemlich das umgekehrte von dem auf deutschen Ausstellungen. Ueberdies
ist ein großer Theil der französischen Landschaften für uns ziemlich ungenießbar.
Wir sehen hier nicht die liebevolle Hingebung an die Erscheinung, die der
deutschen Landschaftsmalerei eigenthümlich ist, sondern die dargestellte Natur ist
behufs der erzielten Gesammtwirkung mehr oder weniger willkürlich zurecht¬
gemacht; was oft zu einer ganz unleidlichen Manier ausartet, bei der weder
der Form noch der Farbe ihr Recht geschieht. Solche Bilder lassen daher auch
nothwendig kalt.
Ganz andre und erfreulichere Erscheinungen hat der auf die Wirklichkeit
gerichtete Sinn der Franzosen und Wallonen im Gebiet der Historienmalerei
hervorgebracht. Dieser kühne,, vor nichts zurückschreckende Realismus, der sich an
alle Höhen und Tiefen des Lebens wagt, hat etwas Gewaltiges, das man aner¬
kennen muß, man mag seine Verirrungen auch noch so streng tadeln. Diese
Schlachtenbilder von Horace Vernet z. B., sie sind doch mit einer hinreißenden,
erschütternden Wahrheit gemalt, man glaubt fast mitzuerleben, was man sieht.
Hier jagen die wilden Chasseurs zur Attaque, dort flüchten die arabischen Frauen
«Uf Kameelen, zielt der langbärtige Beduine mit seiner langen Flinte — dies
Getümmel, das über das Blachfeld wogt, es hat etwas Berauschendes wie
Schlachtmusik. Dann wieder die Sturmcolonne, die, Gewehr beim Fuß,
auf das Signal wartet, die steilen Felsen von Konstantine zu ersteigen, während
der alte General mit der Uhr in der Hand, von seinem Stäbe umgeben, seine
Dispositionen berechnet: es ist eine Spannung in dem ganzen Bilde, die der
Betrachter unwillkürlich mitempfindet. Und endlich der> Sturm selbst, wo die
^'othhosigen Jnfanteristen mit Händen und Füßen an der schroffen Höhe herauf¬
klettern, hier ein Getroffner zurücktaumelt, dort ein junger Lieutenant mit ge¬
schwungenem Degen vorandringt, da ein kleiner Tambour unerschrocken die
Trommel schlägt — man glaubt das Geschrei, die Schüsse, den Trommelwirbel
den ganzen Schlachtlärm zu hören. Und mit ebenso rücksichtsloser Wahrheit
hat Coutüre die Orgien der römischen Kaiserzeit, hat Paul de la Roche die
Verurtheilung Marie Antoinettes und Napoleon in Fontainebleau gemalt.
D>e deutsche Philistern hat nicht über die bespritzten Stiefeln wegkommen
können, die der große Mann auf dem letztern Bilde anhat. Wem solche
Leistungen, wie die genannten, nicht von der Berechtigung des Realismus in
der bildenden Kunst überzeugen, den kann man nicht anders als bornirt
nennen.
Diese realistische Auffassung verdankt einen guten Theil ihrer Wirkung
einer unbedingten Herrschaft über die technischen Mittel. In diesen Bildern
wird die Illusion bis zu einem Grade gesteigert, der nie bisher erreicht worden
ist, und die Belgier namentlich haben mitunter eine Poesie des Colorits, die
ihre Leistungen den besten der alten Venetianer ebenbürtig macht. Die Ver¬
ächter der Technik und der Farbe unter den deutschen Idealisten, könnten aus
solchen Bildern, namentlich denen von Gallait, viel lernen. Die Wirkung
des großartigen gallaitschen Bildes im Justizpalast zu Brüssel: die Abdankung
Karls V. ist nicht am wenigsten der meisterhaften Benutzung der Farbe zu¬
zuschreiben. Durch das ganze sehr große Gemälde herrscht ein warmer röth-
licher Ton; nur die einzige Figur Philipps II., der recht in der Mitte des
Vordergrundes vor dem greisen Kaiser mit gefalteten Händen kniet, ist vom
Kopf bis zu den Füßen in schwarzblauen Sammt gekleidet. Diese stark con-
trastirende kalte Farbe hebt diese einzige Figur auf eine merkwürdige Weise
von der übrigen Versammlung ab, und gibt ihr etwas unheimlich Düsteres;
und so wird der Eindruck der Schwermut!), der bangen Ahnung, die über dem
ganzen glänzenden Kreise schwebt, durch die eigenthümliche Auszeichnung des
künftigen Regenten erhöht.
Ueberall, wo ein bedeutender Geist mit solchen Mitteln einen großen In¬
halt zur Darstellung gebracht hat, wie Gallait in diesem Bilde, da erscheint
der Realismus in seiner vollen Berechtigung. Eine große, mit Begeisterung
aufgefaßte Wirklichkeit, die in der ganzen Pracht der Erscheinung sich darstellt,
reißt dann den Betrachter unwiderstehlich hin. So ist es in den großen ruben¬
schen Bildern in der Galerie zu Wien, so in den besten von Vernet, Gallait und
Coutüre. Die geläutertsten Werke der realistischen Richtung hat Paul de la
Noche geschaffen. Er hat am meisten gestrebt, die oft entgegengesetzten For--
derungen der Wahrheit und Schönheit zu vereinigen, und es am meisten ver¬
standen, beiden zugleich gerecht zu werden. Der Untergang seines großen Wand¬
bildes in dem zur Preisvertheilung bestimmten Saale der veoliz 6hö beaux Arts
zu Paris, ist einer der beklagenswerthesten Verluste, welche die Kunst erlitten
hat; doch dürfen wir uns noch der Hoffnung hingeben, daß der Künstler ihn
ersetzen werde. Es war die Versammlung der großen Künstler vergangener
Jahrhunderte, deren hohe Gestalten hier von den Wänden auf die Belohnung
der Schüler herabblickten, einzeln und in Gruppen, in tiefem Sinnen oder in
traulichem Gespräch. Es war eine Versammlung von Helden und Königen
aus dem Reiche des Geistes, und sie erschien in wahrhaft königlicher Pracht
und Würde.
Wenn nun hochbegabte Naturen in der realistischen Richtung ebenso be¬
deutende als erfreuliche Werke zu schaffen vermögen, so sind minder begabte
natürlich in Gefahr, sich auf den mannigfaltigen Abwegen zu verlieren, zu
denen der Realismus leicht führt, und die auch jene großen Künstler nicht
immer ganz vermieden haben. Die Gefahr liegt zunächst nahe, die äußere
Wahrheit und nicht die innere zur Hauptsache zu machen. Gar manche dieser
Bilder sind mit der scrupulösesten Genauigkeit im Costüm und andern Äußer¬
lichkeiten gemalt, so daß sie den Betrachter allerdings in die dargestellte Zeit
und an den Ort des Vorgangs versetzen, aber leider fehlt es dem Schauspiel,
das auf dieser vortrefflich arrangirten Scene sich darstellt, an Inhalt, oder dieser
ist die Nebensache. Es ist hier ganz wie in so vielen neuen Dramen und
Opern, die (und nicht blos in Paris) mit einer historischen Treue gegeben
werden, als wenn der ganze Erfolg von der richtigen Reihenfolge eines
Triumphzugs oder von der Decoration eines Festsaals abhinge; nur leider taugt
die Poesie und die Musik nicht viel. In das entgegengesetzte Extrem sind häusig
die Düsseldorfer verfallen, die durch gänzliche Vernachlässigung des Costüms und
der Scenerie den Charakter der Darstellung beeinträchtigt haben. Es ist
interessant, Behandlungen derselben Gegenstände von Franzosen und Deutschen
Zu vergleichen; in den zu erwähnenden Fällen fallen sie zufällig zum Vortheil
der erstern aus. Es gibt eine Findung Mosis von Köhler in Düsseldorf und
eine von dem zu früh gestorbenen Dominique Papsty (in der Sammlung des
verstorbenen Consul Schickler zu Leipzig). Dort sieht man einige blonde Mäd¬
chen in einem idealen Theatercostüm an einem Ufer, das mit einer Vegetation
bewachsen ist, wie sie in Deutschland an Flußufern wächst; hier eine ägyptische
Prinzessin, von Natives in orientalischem Pomp und Ceremoniell umgeben, in
einer tropischen Abendbeleuchtung. Die Söhne Eduards sind von Hildebrand
und Paul de la Noche gemalt. Hildebrand hat zwei zarte schlafende Prinzen
dargestellt, die aber ebensogut östreichische oder russische, als englische sein können.
Bei Paul de la Noche haben die beiden halbwüchsigen Knaben den angel¬
sächsischen Typus, starkes Incarnat und röthlich blonde Haare; sie sitzen in
einem hohen, gefängnißartigen Zimmer des Tower von verfallenem Aussehn, mit
verschlossenen Vorhängen, und halten einander in ängstlicher Spannung um-
f"ße; ein Lichtschein fällt durch die Thür, auf die ein kleiner Hund bellend
losgeht. Eine solche Behandlung des CostümS können nur Fanatiker des.
Idealismus verdammen. Aber wie gesagt, bei der großen Masse der Belgier
und Franzosen bleibt es nicht bei dieser billigen Berücksichtigung der Ueber-
s"che, sondern sie werden gradezu zur Hauptsache gemacht. Ebenso häufig
sendet man eine virtuose Technik an nichtssagende Gegenstände verschwendet und
^ ist bei unzähligen belgischen Bildern klar, daß sie nur gemalt sind, um die Kunst
des Malers zu zeigen. Dem malerischen Effect zu Liebe ist das Ganze erfun-
den, angeoronet und beleuchtet; und namentlich mit der Beleuchtung wird ein
ganz lächerlicher Mißbrauch getrieben; in wie vielen Bildern sind nur die
Reflexe die Hauptsache! ^Auf den belgischen Akademien (wenigstens der zu Ant¬
werpen) malen die Schüler ihre Farbenstudien nach dem Modell, bei einer von
oben einfallenden Beleuchtung; und wenn sie sich durch dieses scharfe Licht
freilich gewöhnen auf möglichst körperliches Heraustreten der Formen hinzu¬
arbeiten, so verfallen sie auch durch diese Gewöhnung leicht in den Fehler,
solche Effecte da anzubringen, wo sie nicht hingehören.
Die Hauptgefahr für den Realismus aber ist, daß er sich leicht zur An¬
erkennung deö Princips verführen läßt: I<z 1iM e'sse, I«z d?.an, ein Princip, das
natürlich in der bildenden Kunst noch unendlich mehr Unheil stiftet als in der
Poesie. Wenn der Wahrheit und dem Effect Schönheit und Mäßigung ganz
und gar geopfert werden, dann hat die Verkennung des wahren Wesens der
Kunst den höchsten Grad erreicht. Es fehlt nicht an traurigen Beispielen, wo¬
hin die Wahl scheußlicher Gegenstände und der treue Anschluß an die nackte,
unschöne Wirklichkeit auch bedeutende Talente führen können. Auch ein fo
großer Künstler wie Gallait hat sich verführen lassen, das absolut Gräßliche dar¬
zustellen: ich meine die enthaupteten Leichen Egmonts und Hoornes, ein
Gegenstand, der in ein anatomisches Cavinet, aber, nicht in eine Bildergalerie
gehört. Je größer hier die Meisterschaft der Darstellung ist, um so größer ist
der ästhetische Widerwille, den sie dem wahren Freunde der Kunst einflößt. Es
braucht nicht erst bemerkt zu werden, daß die Richtung der neuromantischen
französischen Literatur und Bühne auf die „Nachtseite des Lebens" hier viel¬
fach auf die bildende Kunst eingewirkt hat, oder vielmehr, daß diese wie
jene Verirrungen in derselben unnatürlichen Ueberreizung ihren Grund haben. —
Werfen wir schließlich einen Blick auf die gesammte Malerei unsrer Zeit, so
geht aus dem hier gegebenen kurzen Abriß wol hervor, daß diese Kunst sich ge¬
genwärtig nach allen Seiten hin mit einem Reichthum, einer Fülle und Pracht
entfaltet hat, wie nur in den blühendsten Perioden, welche die Kunstgeschichte
je in ihre Annalen verzeichnet. Auf der einen Seite der großartige Idealis¬
mus der Deutschen, auf der andern der in seiner Art nicht minder großartige
Realismus der Franzosen und Belgier; eine Darstellung der Natur, die aus
dem tiefsten Verständniß entsprungen, das Erschaute und Empfundene durch¬
geistigt und verklärt; endlich eine Beherrschung der technischen Mittel und eine
Vollendung des Colorits, wie sie nur von den größten Virtuosen früherer
Perioden erreicht worden ist. Eine Vergleichung unsrer Kunstperiode mit der
Blütezeit der Malerei im sechzehnten Jahrhundert dürfte immerhin gewagt er¬
scheinen. Ob die Nachwelt Cornelius neben Michel Angelo setzen wird, wissen
wir nicht; aber Rafael freilich, der einzige, den die Natur schuf und dann die
Form zerbrach, hat jetzt so wenig seines Gleichen, als in irgend einer andern Zeit.
Dagegen will es uns scheinen, nicht nur, daß die Zahl der wahrhaft bedeutenden
Schöpfungen größer ist, als damals, sondern auch, daß die jetzige Kunst bei
weitem vielseitiger ist, als die des sechzehnten Jahrhunderts. Freilich sehen
wir unsre Kuustzustände noch aus zu großer Nähe an, um darüber ein un¬
befangenes Urtheil zu haben, aber das dürfen wir behaupten, daß die Fülle
von Schöpfungen, die der Genius des Jahrhunderts auf diesem Gebiet ins
Leben gerufen hat, reichliche Entschädigung für die Oede und Dürre aus so
manchem andern zu bieten vermag.
sichten wir im Ganzen vertreten, behalten wir uns vor, nachträglich einige Bemerkungen zu
machen.
(Fortsetzung.)
Die modernen Lebens- und Verkehrsverhältnisse Habens gethan, daß man
jetzt kaum mehr sagen kann, hier grenzt sich das Gebiet der politischen In¬
teressen vom socialen ab, dort dieses vom religiösen, das außerpolitische vom
Politischen. Freilich hat sich dies alles von jeher praktisch ebenso untrennbar
verflochten. Aber das Bewußtsein vom organischen Ineinandergreifen aller
Gebiete des öffentlichen Lebens ist im großen Publicum doch erst ein Product
der schweren Erfahrungszeit, welche mit der Zerstörung herrlichster Illusionen
bewiesen hat, daß keine einzige Partie des Culturlebens ohne innigste Wechsel¬
wirkung mit und Mitwirkung aus allen Gebieten zu segensreicher Entfaltung
ZU gedeihen vermag. Die Stürme des JahreS 18i8 hatten fast die ganze
nichtpolitische Tagesliteratur verweht und zerstört. Nur langsam und schüch¬
tern, aber — man darf es mit Stolz sagen — im Allgemeinen gehaltvoller,
kräftiger, ersprießlicher als vorher sind ihre Organe wieder aufgewachsen. Und
dies eben in dem Bewußtsein, dem praktischen Leben ebenso genau anzuge¬
hören, wie diejenige periodische Presse, die man recht eigentlich als publicistische
bezeichnet. Nicht blos in der allgemeinen Zeitströmung, sondern genau in die¬
sem Bewußtsein begründete es sich auch zunächst, daß keine außerpolitische
Zeitschrift, insofern und insoweit sie eben allgemeineren Charakters, den natio¬
nalen Gedanken unberücksichtigt ließ. Der historische Geist, welcher die allge¬
meine Literatur immer mächtiger zu beherrschen begann, spiegelt sich auch
allenthalben in den außerpolitischen Zeitschriften ab. Nein „belletristische"
Journale entstanden nicht wieder, oder doch nur als sehr untergeordnete Local-
blcitter. Die ausschließlich erzählende Tagesliteratur nahm andere Forme» an;
sie gestaltete sich mehr und mehr zu novellistischen Sammelwerken, deren Pe-
riodicität eben blos eine formelle Eigenschaft blieb. Selbst die Feuilletons
der politischen Zeitungen, welche in der ersten Epoche ihrer allgemeineren An¬
wendung (bis zum Schlüsse der vierziger Jahre) dem belletristischen Bedürfniß
meistens die oberflächlichste Nahrung darboten, haben sich im Verlauf der
Zeit bedeutend ernster und gehaltvoller gestaltet, der Novellistik und namentlich
den Uebersetzungen großentheils Valet gesagt,'um historische, ethnographische,
allgemein wissenschaftliche Arbeiten an deren Stelle zu setzen. Ihre ver¬
mischten und literarischen Nachrichten geben sich heute meistens blos als ganz
beiläufige Notizen, gleichsam als leichte Erholung^ nach der politischen Lectüre,
keineswegs mehr mit dem Anspruch auf eine genügende Vertretung des nicht¬
politischen Culturlebens.
Hierbei ist übrigens ein formeller Unterschied zwischen der politischen
Zeitungsliteratur Nord- und Süddeutschlands keineswegs zu übersehen. Erstere
behandelt ihren seuilletonistischen Theil meistens nur nebensächlich, unterdrückt
ihn in politisch wichtigen Momenten wol ganz oder beschränkt ihn doch auf das
allerbescheidenste Maß. Jedenfalls gibt er sich nicht als nothwendiges Glied
ihres Organismus, und es eristiren sehr große Zeitungen, welche das Feuille¬
ton nie besessen oder allmälig wieder ganz abgeschafft haben. Diese Unter¬
ordnung des unpolitischen Theiles der politischen Zeitungen ist dagegen in
Süddeutschland nicht in gleichem Maße gewöhnlich. Wahrend selbst die
kleinsten Zeitungen, sogar reine Localblätter in den'Rheinstaaten, Baiern in.
kaum wagen, ohne eine regelmäßige belletristische Beilage, selbst meistens mit
einem besonderen Titel, zu erscheinen, ist in ändern die Druckeinrichtung von
vornherein darauf berechnet, daß das Feuilleton (der belletristische Theil) von
der Zeitung abgeschnitten und als besonderes Buch gesammelt werden kann.
Bekanntlich hat sogar der jetzt in München versammelte Poetenkreis eine der¬
artige Beilage zur officiellen neuen Münchener Zeitung begründet. Aber dabei be¬
steht doch auch wieder gar kein innerer und intellektueller Zusammenhang zwischen
der politischen Haltung der Zeitungen und dem eigentlichen Feuilleton oder
der belletristischen Beilage. Um so auffallender muß es erscheinen, daß doch
zugleich im deutschen Südwesten und Süden auch jene Zeitschriften sehr selten
sind, welchen der ästhetische und belletristische, literarhistorische und kritische
Inhalt des öffentlichen Lebens zwar die Hauptsache, doch die principielle Ver¬
mittlung dieser Interessen mit dem praktischen Leben intellektuelle Aufgabe ist.
Es gibt fast kein Blatt im ganzen deutschen Südwesten, welches das öffent-
liche Leben in der Weise behandelte, wie die Grenzboten, das deutsche
Museum u. f. w. Das „frankfurter Museum" ist sogar seit einer Reihe von
Jahren wieder der erste Versuch — und ein gelungener — diesen Zweig der
periodischen Presse sclvstständig zu vertreten; wenngleich auch hierin die Novellistik
einen breitern, die allgemeinere culturhistorische Erörterung einen engern Raum
einnimmt, als in den genannten Blättern Mitteldeutschlands und im „Bremer
Sonntagsblatt", obschon dieses im Wesentlichen zum Vorbild genommen zu
sein scheint. Das frankfurter Museum besteht schon seit dem vorigen Jahr;
das neue Jahr hat aber im ganzen Südwesten keinen Zuwachs aus diesem
Gebiete der Tagesliteratur gebracht.
Desto erfreulicher erscheint die Regsamkeit, welche sich auf volkswirth-
schaftlichen Gebiete in den verschiedensten Gegenden Süddeutschlands kundgibt.
Und zwar nicht blos durch Begründung neuer Zeitschriften, sondern auch durch
gewisse Einrichtungen in schon bestehenden politischen Zeitungen. Namentlich
haben mehre ihr bis da rein belletristisches Feuilleton nach dieser ernsteren
und praktischen Richtung hingewendet. Meistens freilich in der Art, daß sie
nicht sowol ausführlichere Erörterungen bestimmter Fragen, sondern möglichst
vollständige Uebersichten aller Vorgänge auf diesen Gebieten geben. Natürlich
fallen damit die einzelnen Nachrichten notizenhaft und trocken aus. Aber sie
lenken doch die Aufmerksamkeit derjenigen Leser, die nicht unmittelbar an den
Eisenbahnen, Telegraphen, Creditinstituten, finanziellen Kammerverhandlungen
u. s. w. betheiligt sind, immer wieder von neuem auf diese Fragen, während
früher derartige Nachrichten zu den consequent überschlagenen gehörten. Diese Wir¬
kung erstreckt sich nicht blos auf die eignen Leser solcher Blätter, sondern auch
auf die Localpresse ihres Bereiches. Seitdem z. B. die beiden größern frank¬
furter Zeitungen eine eigne Rubrik für „volkswirtschaftliche Nachrichten" her¬
stellten (wie sie die Hamburger Nachrichten und andere Zeitungen allerdings
schon lang hatten), war es eine der nächsten Folgen, daß mehre kleine Blätter
ihres Verbreitungsrayons ähnliche Einrichtungen trafen. Ja in Frankfurt selbst
sieht man ein Localblatt (frankfurter Anzeiger) dadurch veranlaßt, in seiner
belletristischen Beilage von Zeit zu Zeit derartige ernstere Fragen zu verfolgen,
Während jene beiden Zeitungen bereits auch zu volkswirthschaftlichen Leitar¬
tikeln übergegangen sind. Dieser volkswirthschaftliche Eifer kommt natürlich
"Ach wieder dem Interesse an solchen Blättern zu statten, welche sich die Na¬
tionalökonomie zur eigentlichen Aufgabe gesetzt haben. Dem im vorigen Jahre
Mit mehr localen Charakter entstandenen „badischen Centralblatt für volks¬
wirthschaftliche Interessen" ist in Heidelberg mit dem neuen Jahre bereits ein
-.Centralblatt für die volkswirthschaftlichen und gesellschaftlichen Interessen
Deutschlands" unter dem Titel „Germania" gefolgt. So weit dasselbe aus
den bisherigen Nummern beurtheilt werden kann, strebt es mit tüchtigsten
^ifer danach, seinem Programme gerecht zu werden d. h. Vollständigkeit und
wissenschaftliche Gründlichkeit ohne Meinungsausschließlichkeit mit faßlicher
Darstellung und einer durchaus praktischen Richtung zu vereinigen. Es kann
"t der That allmälig zu einem allgemeindeutschen Organ der nationalökono-
mischen Interessen heranwachsen, dessen wir im Gegensatz zu England, Frank¬
reich und Belgien noch entbehren.
Wie wichtig aber ein solches für Deutschlands praktische Entwicklung und sür
die Verbreitung der noch sehr mangelhaften Intelligenz des großen Publicums
auf den materiellen Gebieten der nationalen Interessen werden müßte, von
wie großem, wenn auch vorläufig nur mittelbarem Einflüsse aus die Ausbildung
einer nationalen Politik — bedarf es etwa dafür einer langen Beweisführung?
Ebenso wie das von manchen Seiten immer von neuem angestrebte Unternehmen
gelang, die nationalpolitischen Interessen und AnliegenDeutschlandS durch viel¬
seitige Begünstigung der materiellen zu beschwichtigen und schließlich zu ersticken,
ebensowenig können wir es wegleugnen, daß die sich immer enger zerflechtende
Gemeinsamkeit und gegenseitige Wechselbedingung der materiellen Interessen den
nationalpolitischen Gedanken und das deutsche Einheitsbewußtsein auch über
die Jahre äußerster Erschlaffung und Niedergedrücktheit hinweggcrettet hat. Je
weniger vor der Hand eine Aussicht ist, daß dem deutschen Volke eine Gewähr
seiner nationalpolitischen Wünsche und Bedürfnisse zu Theil wird, desto dringen¬
der bleibt die Aufgabe, ihm die materiellen Grundlagen dieses Baues der Zu¬
kunft, die Bausteine und Vorarbeiten für seine dereinstige Erhebung, die Ban¬
ner und Capitale seiner nationalen Hoffnungen aus dem volkswirthschaftlichen
Gebiete vor Augen zu halten. Die Möglichkeit dafür liegt jedoch nicht etwa
darin, daß alles hierher Gehörige ausschließlich in einem Centralorgan sich
sammelt. Durchaus nicht; ein solches hat vielmehr nur die localen Interessen
in ihrer Gesammtheit und Bedeutung als nationale zu vertreten. Es ist sogar
sehr nöthig, daß sich die locale und sachwissenschaftliche Presse der National¬
ökonomie immer mehr entwickelt und daß die Theilung der Arbeit auch aus
diesem Gebiete immer mehr Platz greife, damit die Resultate aus den localen
Vorgängen und Zuständen in bestimmten Organen summirt werden. Denn
nur so kann endlich das Bewußtsein und die praktische Ueberzeugung vom
nationalen Wesen der Volkswirthschaft gleichermaßen allgemein herrschend werden,
wie das politische, sociale, wissenschaftliche, kurz das culturliche Nationalbewußt¬
sein. So verschiedenartig und zusammenhanglos also auch vorläufig die ratio-'
nalökvnomischen Zeitschriften nach ihren localen Verhältnissen und ihren speciellen
Aufgaben sich darstellen — es ist bei einer so jungen Literatur nicht anders
denkbar —, so erscheint doch jede einzelne als baarer Gewinn für den all¬
gemeinen Zweck. Wir sehen bereits den Gegensatz in Oestreich. Dort besteht
keine volkswirthschaftliche Localprefse. Und trotz der riesenhaften Anstrengungen
aus allen Gebieten der nationalen Arbeit sah sich das officielle Centralorgan
dieser materiellen Interessen, sah sich die „Austria" genöthigt, sich in ein Wochen¬
blatt zu vereinfachen. Dagegen entstand mit Neujahr in Sachsen eine „Sa-
ronia" als Magazin unterhaltender Belehrung mit specieller Berücksichtigung der
sächsischen Gewerb- und Jndustriezustände; ferner ein „Deutscher Courier" als
wöchentlicher Concurrent des hendschelschen Telegraphen und von weit umfassen¬
derer Tendenz, weil er der Geschäftswelt nicht blos die Fahrzeiten, sondern
auch fortlaufend die organischen und regulativen Einrichtungen der Posten,
Eisenbahnen und Telegraphen nebeneinanderstellt. Für andre Gebiete der
Volkswirthsschaft bleiben ebenfalls die Journale nicht aus. So ist ist in Köln
soeben ein „Berggeist" zur Vertretung der Interessen des Bergbau- und Hütten¬
wesens im Entstehen, so hat in Halle eine Halbmonatsschrift, „der Kaufmann"
begonnen, welche sich die Verbreitung kaufmännischer Kenntnisse unter jüngern
Mitgliedern der Handelswelt zur Ausgabe macht. So sehen wir weiter bald
da, bald dort ein Journal von durchaus praktischer Tendenz heranwachsen,
während bemerkenswertl) genug die Organe der blos theoretischen und innerlich
scheidenden Principienreiterei auf allen materiellen Gebieten mehr und mehr ver¬
schwinden.
Freilich kann es nun, da die Journalistik auch in diesem Bereiche des öffent¬
lichen Lebens eine Macht wird, ebensowenig daran fehlen, daß einzelne große
Geld- und Geschäftsinstitute sich in den Besitz bestimmter Organe für ihre specifi¬
schen Interessen zu setzen oder die Stimme andrer dafür zu gewinnen suchen. An
sich liegt darin kein Unrecht von Seiten solcher Institute und es gehört ge¬
wissermaßen zu den von unsern Preßzuständen octroyirten Vorurtheilen, wenn
man den Blättern einen solchen Dienst zum Vorwurf macht. In Ländern, wo
eine freie Presse eristirt, hat dieses Verfahren von jeher bestanden. Wenn auch
der Schaden eines falsch angebrachten Vertrauens für unvorsichtige und schlecht
unterrichtete Geschäftsmänner, im einzelnen Falle sehr bedeutend sein kann, so
wird er für das große Publicum eben dadurch ausgeglichen, daß solche Organe
durch die Gewissenlosigkeit publicistischer Börsenmanöver sofort ebensoviel an
öffentlichem Vertrauen einbüßen, als etwa ihre Redacteure momentan durch
einen journalistischen Coup gewinnen. Ist nicht z. B. die langbegründete
Autorität der Nachrichten der Jndependance belge seit jenem Momente, da
sie im kritischesten Momente der pariser Friedensconferenzen mit falschen Depc-
Ichen auf die Leichtgläubigkeit Der Börsenmänner speculirte, außerordentlich tief
gesunken? Könnte man nicht auch aus Deutschland ähnliche Beispiele an¬
führen? Freilich sind hier solche Verhältnisse weit bedenklicher, eben weil
unsre Presse keine freie Kritik üben darf. Aber im Allgemeinen — es
ist freilich nur „deutscher Trost" — wird derselben doch auf den volkswirth-
schaftlichen Gebieten eine freiere Bewegung, als auf den politischen gestattet,
^ut. nach der gewöhnlichen Praxis wird man von oben herab die freie Dis¬
kussion nach dieser Richtung um so weniger beschränken, je mehr die großen
volkswirthschaf/lichen Unternehmungen von Privatleuten, Gesellschaften, Ver¬
tuen in die Hand genommen, je weniger sie Negierungssache sind. Ist dies
aber der Fall, so reicht die Presse auch vollkommen aus, um den Mißbrauch
der Presse zu bekämpfen. Die deutsche Journalistik hat dafür aus politischem
Gebiete bereits den Beweis geführt, als sie noch viel unreifer, viel weniger
organistrt, aber freilich vom Bewußtsein wirklicher Freiheit innerhalb des Ge¬
setzes getragen war und sich als wahrhafte Vertreterin der nationalen Inter¬
essen betrachten durfte. Sie wird den Beweis auf volkswirthschaftlichen Ge¬
biet ebensowenig schuldig bleiben, und hat ihn bereits, trotz äußerer Ungunst
der Verhältnisse, nach den verschiedensten Richtungen siegreich angetreten. —
Es kann nicht in unsrer Absicht liegen, hier auch die periodische Literatur
der Facultätsfächer zu berühren. Selbst indem wir die Zeitschriften der allgemei--
nen Wissenschaften ins Auge fassen, müssen wir uns aus wenige Bemerkungen
beschränken. So weit sich dieselben an ein größeres Publicum wenden, sehen
wir, wie auch in der Buchliteratur die lebhafteste Thätigkeit in den historischen
Disciplinen — Naturwissenschaften und Geographie (im höhern Sinne) auf
der einen, Geschichtswissenschaft auf der andern Seite. In der Naturwissenschaft
verfolgt die Journalistik dieselben Lieblingsziele, wie in der modernen Buch-
litcratur und es drohen ihr demgemäß wol auch zum Theil dieselben Gefahren.
Indem sie vorzugsweise die kosmische und tellurische Entstehungsgeschichte im
Auge hält und die natürlichen Entwicklungsgesetze zu popularistren sucht, sührt
sie nur allzugern und allzuhäufig den Streit zwischen der materialistischen Rich¬
tung und ihren Gegnern gewissermaßen zur Entscheidung vor ein Publicum,
dem sie doch andrerseits — und mit vollstem Rechte — nur eine dilettantische
Stellung zu den Wissenschaftsfragen zugesteht. Dabei hält sie sich von den
religiösen und politischen Nebenfragen nicht fern. Andrerseits aber erstreben
auch manche Zeitschriften dieser Gebiete ihre Popularität in einer falschen Belle¬
tristik, in welcher das didaktische Element sich bis zur Unerkennbarkeit zersetzt.
Oder ihre Arbeiten verfallen in eine ästhetisirende Natursenlimcntalität, welche
mit dem stilistischen Apparat für allerlei Gefühlserregungen, die machtvolle Wucht
einer Eröffnung des Blickes in das Walten der Naturkräfte zu lauter kleinen
„Emotionen" zersplittert, ohne daß das positive Wissen dabei gewinnt. Diese
Mode erscheint um so bedenklicher, als sie dem praktischen wie dem ethischen
Grunde der ganzen naturwissenschaftlichen Neigung unsrer Gegenwart schnur¬
stracks zuwiderläuft. Denn diese entsprang entweder dem directen Bedürfnisse
nach naturwissenschaftlichen Kenntnissen, um dieselben bei den einzelnen Ge¬
schäftsthätigkeiten verwerthen zu können, oder sie war das Ergebniß einer
Niedergedrücktheit, welche die Ueberzeugung von einer festbegründeten Gesetz¬
mäßigkeit des Weltlebens, die von den Verwirrungen des Menschen- und
Staatenlebens erschüttert worden war, im Anschauen der Natur wieder zu be¬
festigen sucht. Dem einen dieser Bedürfnisse muß also durch kia.re Darstellung
der wissenschaftlich festgestellten Thatsachen, dem andern durch den entschieden-
sten Hinweis auf die erkannten Grundgesetze genügt werden. In keinem Fall
aber kann eine unklare Gefühlsanregung fördernd wirken. Denn eine solche
läßt das dilettantische Begriffsvermögen und die gemüthliche Gereiztheit nur
allzuleicht zu einer gewissen mystischen Selbstbefriedigung und zu einem theo¬
logischen Pietismus abirren, der gar nahe verwandt ist mit jener Denkfaulheit,
deren Begünstigung ein so probates Mittel der religiösen und politischen
Reactionsbestrebungen ist. Und wir dürfen ja niemals vergessen, daß ihre
Organe, indem sie sich von vornherein an die Gemüthsbequemlichkeit wenden,
grade in den dilettantischen und halbgebildeter Massen einen bedeutenden Vor¬
sprung haben.
Allerdings ist der Sinn für Geschichtswissenschaft, welcher noch um einige
Jahre älter als der für die Naturwissenschaften, gegen solche Nückwendungen
ein gutes Antidot, allein die Behandlung der Geschichte als allgemeines Sln-
regungs- und Bildungsmittel ist in der journalistischen Form weit schwieriger,
als in der Naturwissenschaft. Die Buchliteratur dieser Richtung entwickelt sich
nun allerdings staunenswerth. Ihre unmittelbare Wirkung äußert sie jedoch
mehr auf ein der Beschaulichkeit überhaupt zugänglicheres Publicum, auch mehr
auf gereifter« Lebensjahre und Lebensanschauungen, während die naturwissen-
lchafrliche Journalistik sich im Allgemeinen doch vorzugsweise an das heran¬
reifende Geschlecht und an die Vertreter praktischer Thätigkeiten zu richten hat.
In der Geschichtswissenschaft ist nun vor allem und über alles das Cultur¬
moment dasjenige, welches seine populäre Anerkennung fordern muß. Und
»ach dieser Seite gewinnt ein Unternehmen Bedeutsamkeit, , welches im
neuen Jahr zur Ausführung gedieh. Es ist dies die „Zeitschrift für deutsche
Kulturgeschichte", welche in Nürnberg erscheint. Ihre Tendenz geht dahin, den
^'l)r zerstreuten Materialien zur Kenntniß der Gesellschaftszustände früherer
Jahrhunderte zum Centralorgan zu dienen. Die Idee ist sicherlich zeitgemäß
und man darf bei weiterer Entwicklung des Unternehmens auch hoffen, daß die
Ausführung den Intentionen des Begründers vollständig entsprechen wird.
Geschieht dies, so ist die Popularität der Zeitschrift ebenso gewiß, als ihr Ein¬
fluß auf die historischen Anschauungen deö größeren Publicums.
Am Schlüsse unsrer Uebersicht müssen wir wiederholen, daß es nicht auf
e'Um Zeitungskatalog von möglichster Vollständigkeit ankam. Einziger Zweck
blieb vielmehr der Hinweis auf die verschiedenen geistigen Strömungen der
Gegenwart und deren bemerkenswertheste Vertretung in der deutschen Zeit-
schriftenliteratur. Leider haben die volkswirthschaftlichen Annäherungen zwischen
Oestreich und Deutschland sich noch nicht zur Consequenz einer innerliche«
Verflechtung der deutschen und östreichischen Tagesliieratur entwickelt. Es soll
nicht geleugnet werden, daß die außeröstreichische Presse einen Theil der
Schuld davon trägt; sie könnte wol hier und da entgegenkommender sein. Der
Hauptgrund fortdauernder Scheidung beider Zeitungsgruppen liegt aber in den
so grundverschiedenen Voraussetzungen, aus welchen und auf welche hin sich
beide an ihr Publicum wenden. Der große Aufschwung der östreichischen
Tagespresse ist eine so anerkannte Thatsache, daß ihre nähere Berührung voll¬
kommen überflüssig. Allein ebensowenig läßt es sich ableugnen, daß das
specifisch-östreichische Bewußtsein, von welchem ihre gesammte Haltung auch bei
nationalen Fragen bedingt wird, deren Wechselwirkung mit der außeröstreichi-
schen Zeitungswelt ebenso hemmend entgegensteht, als die particularistische
Tendenz mancher gouvernementalen Organe Deutschlands deren allgemeinerer
Verbreitung und Wirksamkeit. Dies würde sich unabsehb.ar vermehren und die
nichtöstreichischen Zeitschriften würden bis aus ganz indifferente Ausnahmen
auch wieder aus Oestreich gänzlich ausgeschlossen werden, wenn die Hierarchie
jene Machtvollkommenheit in Bezug auf die Presse gewönne, die sie ans den
Satzungen des Concordatö vom 18. August 1856, ableitet. Ihre zufahrende
Hast, womit sie sich derselben noch vor Regelung der Grenzen zwischen Staats¬
und Bischofsbefugniß zu bemächtigen suchte, läßt die Hoffnung offen, daß die
geistliche Censur nicht alleinherrschend werde. Grade weil dies noch zweifelhaft,
weil die Hierarchie noch lange und hartnäckige Kämpfe voraussieht, ist sie
natürlich um so eifriger bemüht, Organe ihrer Tendenz allerwärts zu schaffen,
andere unter ihre Botmäßigkeit zu bringen. Bei der Centralisation, welche
gegenwärtig fast nur in Wien die wirklich bedeutsameren Organe der Monarchie
versammelt, hat dieses Streben in den Provinzen eine bedeutende und gefähr¬
liche Zukunft. Ob der Gesammtwirkung solcher localen Blätter, welche doch
sämmtlich durch einen gemeinsamen Geist geleitet und commandirt sind—man
vergleiche die vortreffliche Organisation und Disciplin der ultramontanen Presse,
die sich über die Einzelstaaten Deutschlands ausbreitet—ein mit der officiellen
wiener Zeitung zusammenhängendes gouvernementales Organ, ein „katholisches
Archiv", dessen Herstellung beabsichtigt ist, das Gegengewicht zu halten vermag,
bleibt mindestens äußerst fraglich.
Dies Thema ist indessen hier nicht weiter zu erörtern. Dagegen geben
manche Zahlen und Verhältnisse einer statistischen Uebersicht der periodische»
Presse des Kaiserstaates, welche jüngsthin in officieller Weise veröffentlicht
ward, den Denkenden reichsten Stoff zu mannigfaltigen Betrachtungen. — I"
runder Summe erscheinen in Deutschland mit Oestreich etwa 6000 Zeitungen
und Zeitschriften. Davon kommen 375 aus 36 Millionen Oestreicher, während
die nach Abzug der östreichischen Bundestheile ungefähr 28- Millionen be¬
tragende Bevölkerung Dentschlands 5600 verbraucht. Von jenen 375 östrei¬
chischen Zeitschriften sind nur 206 in deutscher Sprache geschrieben, also 469
nichtdeutsch. Unter letzteren sind dagegen 50 politischer Natur, während unter
den deutschen blos i0. Unter den übrigbleibenden 166 nichtpolitischen deutsche»
und 119 nichtdeutschen sind 69 bloße Anzeigblätter, Badelisten:c., welche sonach
der periodischen Presse nur formell angehören. Es bleiben eigentlich im Ganzen
blos 216 nichtpolitische Journale. Unter diesen sind wieder 70 rein belletristische,
und 37 Gesetz- und Verordnungsblätter, zusammen 107. Weiter fallen den
strengen Facultätswissenschaften 19 theologische, 12 medicinische, 11 juristische
14 pädagogische Blätter zu; den allgemeinen Wissenschaften 11 Literatur- und
Vereinsblätter, ebensoviel historische und geographische, 10 naturwissenschaftliche;
bestimmten technischen Fächern 29 forse- und landwirtschaftliche, 3 militärische,
3 polytechnische und 3 künstlerische. Nach der Sprache vertheilte sich die Ge-
sammtzahl von 169 nichtdeutschen Zeitschriften folgendermaßen: 89 italienische
(18 polie.), 17 ungarische (2 polie.), je 13 czcchische (3 polie.) und polnische
(2 polie.), 8 croatisch-illyrische (2 polie.)je 6 slavonische und ruthenische (1 polie.),
je 3 romanische (2 polie.) und serbisch-illyrische (1 polie.), 2 armenische (1 polie.),
1 hebräische (polie.). Nach den Kronländern geordnet erscheinen aber die 375
deutschen und nichtdeutschen Zeitschriften Oestreichs in folgendem Verhältniß:
in Niederöstreich 68, in der Lombardei mit Venedig 59, Ungarn 33, Böhmen 33,
Galizien und Krcitau 13, Küstenland und Trieft 12, Mähren 12, Tirol mit
'Vorarlberg 12, Lberöstreich 10, Kroatien mit Slavonien 10, Woiwodina 8, Schle¬
sien 7, Steiermark 6, Krain 3, Salzburg 4, Siebenbürgen 4, Bukowina 2, Dal-
matien und Militärgrenze je 1.
Da die französische Revolution, in welcher man zum ersten Male im
Lauf der Geschichte den Versuch machte, den Staat aus dem Begriff heraus zu
construiren, sich unmittelbar an den Unabhängigkeitskrieg der Nordamerikaner
anschließt, da mehre von den Helden der französischen Revolution in Amerika
ihre Vorstudien gemacht hatten und von dort sogar den Katechismus der
"euer Lehre, die sogenannten Menschenrechte, mitbrachten, hat sich in der
öffentlichen Meinung Europas das Vorurtheil erhalten, die große Republik
sei gleichfalls aus dem Begriff hervorgegangen, sie sei gewissermaßen auf einer
wdrüa rasa aufgerichtet worden. Wie wenig diese Vorstellung den wirklichen
Zuständen entsprach, war den Kundigen freilich bekannt; allein die Masse ist
darüber noch immer im Unklaren, und so lange die massenhafte Auswanderung
fortdauert, so lange man sich einbildet, für jeden Wunsch, für jedes Ideal in
Amerika die entsprechende Wirklichkeit zu finden, wird es schwer sein, den, der
nicht sehen will, zu enttäuschen. Daß nicht alles Gold ist, was glänzt, dar¬
über kann freilich ^bei den ausführlichen Berichten der Auswanderer kein Zwei¬
fel mehr obwalten. Ja eS scheint sogar die Reaction von den Schriftstellern
jetzt etwas ins Uebermaß getrieben zu werden. Wir haben in einem frühern
Artikel darauf aufmerksam gemacht, wie unberechtigt die pessimistische Auf-
fassung ist, welche unsere Publicisten und Belletristen über England verbreiten.
Noch viel ärger steht es mit Amerika. Sollte man es z. B. nach den Be¬
richten des Ausland beurtheilen, eines im Ganzen sehr wohlunterrichteten und
gutgesinnten Blattes, so müßte man Amerika als ein zweites Sodom und
Gomorrha betrachten, welches in jedem Augenblick den Feuerregen der göttlichen
Rache erwartet. Der Grund dieser einseitigen und übertriebenen Angriffe'
liegt lediglich in den falschen Voraussetzungen, mit denen man an das Stu¬
dium der amerikanischen Zustände geht. Mau hat sich ein bestimmtes Bild
von dem gemacht, was man in Amerika finden will, die Wirklichkeit entspricht
diesem Bilde in keiner Weise, und so ist man nur zu geneigt, in diesem Wi¬
derspruch ein Unrecht Amerikas gegen Europa zu suchen.
So gibt es z. B., wenn man von der Negersklaverei absieht, kein Ver-,
hältniß, welches in Deutschland mit so großer Bitterkeit besprochen wäre, als
die Reaction der sogenannten Knvwnothings gegen die Einwanderer. Eine
erclusive Republik, ein intoleranter Freistaat, es ist das ein Widerspruch, in
den man sich gar nicht finden kann. Man wird ihn nur dann begreifen,
wenn man sich nicht auf die Beobachtung der gegenwärtigen Zustände be¬
schränkt, sondern zu ergründen sucht, wie sie geworden sind.
Die amerikanischen Freistaaten sind nicht auf einer tabula rasa aufge¬
richtet, sie sind auf einer sehr bestimmten sittlichen Grundlage organisch auf¬
gewachsen. Die Revolution war nur die reife Frucht, die vom Baume ab¬
fiel. Die Gründer der Republik waren keine idealistischen Neuerer, sondern
zähe conservative Staatsmänner, in der alten Schule gebildet, von praktischer
Lebenserfahrung ausgehend und jedem Ungestüm abhold. Bei der demokratischen
Verfassung konnte es freilich nicht fehlen, daß im Lauf der Entwicklung die
alte conservative Richtung theilweise verlassen wurde, aber sie besteht noch fort,
ja sie ist noch immer die eigentliche Grundlage des amerikanischen Staatslebens.
Die vielgerühmten Menschenrechte gingen nicht aus der Philosophie hervor,
sondern waren die Formel für die bestimmten Ansprüche der damaligen Ameri¬
kaner. Die Eidgenossenschaft ist nicht ein Conglomerat verschiedener Nationen,
sondern sie beruht auf einer bestimmten Nationalität, welche kräftig genug ist,
die in ungeheurer Masse hinzuströmenden fremden Elemente allmälig zu ab-
sorbiren. Freilich muß sie eine gewisse Gewalt dazu aufwenden, und diese
Gewalt äußert sich in der Form des Hasses. Sie führt zu Excessen, die in
keiner Weise gerechtfertigt werden können, aber man muß wenigstens nicht
glauben, daß diese aus willkürlichen Einfällen einer fanatischen Partei ent¬
springe. Dies ist der politische Gesichtspunkt, der uns bei der Lectüre der
vorliegenden Schriften vorzugsweise interessirt hat. Fassen wir zunächst die
Composition derselben ins Auge.
Die einfachere Aufgabe hat sich Herr Neimann gestellt. Er behandelt
nur die Jahre -1781—87, diejenige Zeit, in welcher die Unionsversasfung aus
ihren ersten elementaren Zuständen sich zu einer folgerichtigen Form ent¬
wickelte., Die Zeit, diese bisher noch ziemlich unbekannte Entwicklungsperiode
zu charakterisieren, ist jetzt gekommen, da in den letzten Jahren eine Reihe von
Documenten über die damaligen Verhältnisse veröffentlicht sind, namentlich die
Papiere von Madison, -1841. Das vorliegende Werk ist demnach ausschließlich
nordamerikanische Verfassungsgeschichte. Ein viel weiteres Ziel hat sich Herr
Handelmann gesteckt. Er will nach und nach die Geschichte der sämmtlichen
amerikanischen Staaten behandeln. Die bisherigen Lieferungen zerfallen in
Zwei Hauptabtheilungen: -I) in die Geschichte der Kolonien, welche gegen¬
wärtig das Gebiet der nordamerikanischen Freistaaten ausmachen, von der er¬
sten Einwanderung an bis -1787 (688 Seiten); 2) die Geschichte von Haiti
von der Entdeckung der Insel bis jetzt (-192 Seiten). Die Geschichte von
Brasilien soll demnächst folgen. — Die Geschichte der vereinigten Staaten
Zerfalle in zwei Abschnitte: in die Geschichte der Kolonisation, die mit einer
Uebersicht über die gegenwärtigen Bevölkerungsverhältnisse schließt, und in die
Geschichte der Unabhängigkeit. Es ergibt sich von selbst, daß das erste Werk
mehr einen monographischen Charakter an sich trägt, während das letztere eine
übersichtliche Darstellung bezweckt.
Beide Bücher legen ein sehr erfreuliches Zeugniß für den Fortschritt un¬
serer historischen Methode ab. Die Verfasser sind noch junge Männer, sie
h"ben sich aber schon vollständig jene Besonnenheit und Sicherheit der Kritik
""geeignet, die wir als einen Erwerb der unmittelbar vorhergehenden großen
Geschichtschreiber betrachten können. Es fehlte den Deutschen bisher an
einem historischen Stil, und jeder Geschichtschreiber war gewissermaßen ge¬
nöthigt, in seiner Bildung von vorn anzufangen. Folgende Umstände" er¬
schwerten bis jetzt die Bildung eines historischen Stils in Deutschland. Nach¬
dem der einseitige historische Pragmatismus der Aufklärung überwunden war,
überwog zunächst das Beispiel der classischen Vorbilder, welches auch der
Poesie eine entschiedene Richtung gab. Man bemühte sich, zu schreiben, wie
Tacitus oder Livius, oder was man sonst für einen Liebling hatte, und die
Gelehrten wetteiferten darin mit deu Umgekehrten, Johannes von Müller mit
Schiller und Woltmann. Es war das die Periode, wo die rhetorische Kunst¬
form als das Höchste der Geschichtschreibung erschien. — Nachdem dieser
Standpunkt überwunden war, sehen wir in der Geschichtschreibung drei ver¬
schiedene Richtungen auftreten. Der ersten kam es vorzugsweise auf historische
Kritik an; sie strebte danach, dunkle Thatsachen aufzuklären, die Forschung
trennte sich bei ihr ganz von der Darstellung. Es waren Männer, die in
Beziehung auf die Gelehrsamkeit den ersten Rang einnehmen, zum Theil auch
von genialer Begabung: Savigny, Niebuhr, Böckh, Grimm, Eichhorn, Ottfried
Müller u. s. w., sie waren alle mehr oder minder der Gegenwart abgewendet
und ihr Interesse heftete sich vorzugsweise an die Trümmer der Vorzeit. Sie
haben nicht blos ein ungeheures kritisch gesichtetes Material zusammengeführt,
sondern auch für die Forschung die Methode für ewige Zeiten festgestellt. An
diese historische Schule schloß sich dann zum Theil unter der Anregung des
Freiherrn von Stein die Sammlung von Quellenschriststellern der deutschen
Geschichte, von Ackerstücken, Urkunden u. s. w.; ferner die historischen Vereine
für Prvvinzialgeschichte, und was sonst in diesen Kreis gehört. Wenn die
Schule sich im Anfang theils aus die Philologie, theils auf die Rechtswissen¬
schaft stützte, und daher auf den historischen Stil keinen vortheilhaften Einfluß
ausübte, so wandte der letzte in dieser Reihe, Leopold Ranke, der nicht blos
ein großer Gelehrter, sondern auch ein großer Künstler war, die in der philo¬
logisch- juristischen Schule erworbene Methode auf das moderne Leben und
auf die Darstellung an und bahnte so den Weg von der abstrcicten Forschung
zur wirklichen Geschichtschreibung. — Die zweite Richtung der historischen Kunst
ging von der Philosophie aus. Den Details abgeneigt und gegen die That¬
sache ziemlich gleichgiltig, bemühte sie sich, die historischen Ideen in großen
und glänzenden Perspectiven zu entfalten. Auf der einen Seite finden wir
hier die Romantiker und Naturphilosophen, denen es an Beziehungen zur ei¬
gentlichen historischen Schule nicht fehlte. Denn wenn die Schelling, Steffens
und Schubert über die Geschichte blos phantastrten, wenn Friedrich Schlegel,
der eigentliche Gründer der Schule, sich Mit allgemeinen Umrissen begnügte,
so vertieften sich dagegen die Hurter, die Philipps, die Schütz in. in Details,
und der jüngste aus der Schule, Heinrich Leo, vereinigt damit noch das
Talent einer lebhaften und ansprechenden Erzählung. Die Philosophen aus
der hegelschen Schule sind zwar den Romantikern und Legitimisten im Princip
wie im Resultat entgegengesetzt, in der Methode kommen sie aber darin mit
ihnen überein, daß es ihnen vorzugsweise auf die Construction von Ideen an-
kommt. Auch für sie ist die Literatur und namentlich die Poesie die eigentliche
Blüte der Cultur, während die historische Schule ausschließlich ihre Aufmerk¬
samkeit auf die sittlichen Zustände wendet. Die historische Schule bemüht sich,
unparteiisch, objectiv-interesselos bis zur Selbstverleugnung zu sein, während
die Ideen der philosophischen Schule zuletzt in Parteistichwörter auslaufen. —
Wie auch hier die einseitige philosophische Bildung sich allmälig mit concrete'in
Detail erfüllt, und die Resultate der andern Richtungen in sich aufzunehmen
sucht, zeigt namentlich Droysen. — Die dritte Richtung ist die geistvollere und
gelehrtere Durchführung des alten Pragmatismus. Diese Schule geht von
dem sittlich-politischen Bewußtsein der Gegenwart aus und macht dasselbe
zum Maßstab des Urtheils über die Vergangenheit. Nicht die Erforschung der
Thatsachen, nicht die Construction der Ideen, sondern die Feststellung des sitt¬
lichen Urtheils ist ihr die Hauptsache. Sie legt der Geschichte vorzugsweise
einen pädogischen Zweck bei, den Zweck, das Volk über seine Interessen aufzu¬
klären und ihm Achtung vor jeder wahren Größe, Verachtung jeder Hohlheit
und jedes Scheins einzuflößen. Schlosser ist der Gründer dieser Schule, Ger-
vinus sein bedeutendster Nachfolger. — Nun versteht es sich von selbst, daß
die einzelnen Richtungen sich nie so vollständig voneinander absondern konn¬
ten, daß irgend eine dieser Erscheinungen das Princip rein und ungemischt
ausdrückt; aber in jedem bestimmten Fall ist das Uebergewicht deS einen Mo¬
ments über das andere deutlich herauszuerkennen. — Erst in neuester Zeit fin¬
det eine Ausgleichung statt. Die politische Aufregung der letzten Jahre hat
ein bestimmtes politisches Nationalbewußtsein hervorgebracht, dem sich auch der
objective Künstler, der unparteiische Kritiker nicht entziehen kann, und auf der
andern Seite hat die akademische Bildung eine so große Ausbreitung und Fe¬
stigkeit gewonnen, daß es auch dem leidenschaftlichsten Parteimann nicht mehr
einfallen wird, Geschichte zu schreiben, ohne die Quellen nach strengster Me¬
thode zu prüfen. Nehmen wir die jüngeren Schüler Rankes, z. B. Waitz und
Sybel, sodann Droysen, dessen Grundlage die philosophisch-philologische Bil¬
dung ist, und etwa Duncker, der der Schlosserschen Richtung am nächsten steht,
1v werden wir trotz aller Abweichungen eine wesentliche Verwandtschaft ent¬
decken, und diese Verwandtschaft beruht darin, daß wir es nicht mehr mit ab¬
strakten Gelehrten, nicht mehr mit einseitigen Philologen, Juristen, Philosophen,
Künstlern :c. zu thun haben,, sondern mit politischen Charakteren, die dem
^eben nicht müßig zusehen, sondern thätig in dasselbe einzugreifen bemüht sind.
Wenn die Paulskirche auch die deutsche Politik nicht wesentlich gefördert hat,
^ hat sie desto segensreicher auf unsere Geschichtschreibung eingewirkt.
Die beiden Schriftsteller, von denen hier die Rede ist, haben durchaus kei-
rhetorischen oder philosophischen Zweck; sie erzählen schlicht und einfach,
^as sie zu erzählen haben, und es zeigt sich, daß daraus der zweckmäßigste
historische Stil hervorgeht. Wir werden gar nicht daran erinnert, daß wir ein
Kunstwerk vor uns haben, wir können uns unbefangen in die Sache vertiefen,
und diese Sache verdient unser ernsthaftestes Studium schon um des richtigen
Verständnisses unserer eignen Zustände willen, denn wenn man früher in der
allen Welt die Muster suchte, wie man sich die Gegenwart vorstellen müsse, so
ist die neue Welt, in welcher wir primitive Zustände im Zusammenhang mit
der raffinirtesten Bildung sich entwickeln sehen, am geeignetsten, an dem fremden
Stoff unsern Blick sür die eignen Zustände zu schärfen. — Wir begnügen uns
hier mit diesen Andeutungen und behalten uns vor, den Stoss selbst nach der
Anleitung der drei Schriftsteller im Zusammenhang darzustellen.
Deutsche Geschichte vom Tode Friedrichs des Großen bis zur Grün¬
dung des deutschen Bundes. Von Ludwig Hauffer. Dritter
Theil. Bis zu Napoleons Flucht aus Nußland (1811). Berlin, Wcid-
mannsche Buchhandlung. —
Mit einer Arbeitskraft, die alle Vorstellungen übersteigt, strebt Herr Hauffer
der Vollendung seines Werkes zu. Noch sind kaum zwei Jahre seit dem Er¬
scheinen des ersten Bandes verflossen und schon haben wir drei starke Bände,
welche die wichtigste Zeit der deutschen Entwicklung umfassen, und die Vollen¬
dung des Ganzen mit dem vierten Bande ist noch für den Herbst dieses Jahres
in Aussicht gestellt. Der Erfolg des Buchs wird durch diese schnelle Arbeit
unstreitig gefördert, während die innere künstlerische Vollendung wahrscheinlich
bei einer langsameren, sorgfältigeren Durcharbeitung gewonnen haben würde.
Indeß wollen wir mit dem Verfasser darüber nicht rechten, daß wir manches
besser wünschten, da das, was er wirklich gibt, durchaus gut zu nennen ist.
Bei der wehvollcn Zeit der Jahre 1806 bis 1812 kam es zunächst darauf
an, den ernsten Charakter der Begebenheiten durch einen ernsten, charakterfester
Avr angemessen wiederzugeben. Dies ist dem Verfasser vollkommen gelungen-
Man steht, wie er mit seiner tapfern Gesinnung in jenen schweren Kämpfe»
wie in der Gegenwart lebt, wie seine klare Einsicht in den Zusammenhang der
Begebenheiten durch einen unsträflichen Charakter getragen wird. Er' läßt sich
niemals durch den Schein der Größe verblenden, den Maßstab des sittlichen
Urtheils aus den Augen zu lassen; er gibt sich aber auch nicht zum Apologe¬
ten des bloßen guten Willens her, wo sich dieser mit Schwäche verbunden
zeigt; er strebt nicht nach kalter Objectivität, er läßt sein warmes Gefühl
überall durchblicken, aber er vermeidet wenigstens im Ganzen die blos rhetori-
sehen Wendungen. — Gegen die beiden frühern Bände steht der gegenwärtige
in einer doppelten Beziehung im Nachtheil: einmal haben sie nicht in dem
Grade den Reiz der Neuheit, da die Zahl der unbenützten Quellen, -die dem
Verfasser zu Gebote standen, dies Mal geringer ist; sodann kam es dies Mal
mehr darauf an, durch feine, geistvolle Charakteristik der einzelnen Figuren dem
Bekannten einen neuen Reiz zu geben und den Verzweigungen der Politik in
allen Kanälen des geistigen Lebens nachzuspüren. Hier reicht das Talent des
Verfassers nicht vollständig aus. Seine Charakteristik ist richtig, aber sie hat
nicht jenen Zauber der Genialität, den wir durch neue glänzende Leistungen
der Geschichtschreibung gewissermaßen zu beanspruchen verwöhnt sind. Dagegen
hat das Buch den Vorzug einer klaren, deutlichen, durchaus volkstümlichen
Schreibart, und es liegt in dem Gegenstand selbst Interesse genug, um die Bei¬
hilfe der Kunst überflüssig zu machen.
In der Erforschung der Thatsachen ist der Verfasser gewissenhaft zu Werke
gegangen, und wenigstens im Allgemeinen darf man behaupten, daß alles, was
er erzählt, feststeht, wenn auch bei den widersprechenden Angaben der unzäh¬
ligen Quellen manches im Dunkel bleiben mußte. Von den drei Gegenständen,
deren Darstellung der gegenwärtige Band umfaßt, den Fortschritten und Ueber¬
treibungen der Franzosen, der innern Wiedergeburt Preußens und dem Ver¬
halten Oestreichs, sind die beiden ersten erschöpfend behandelt. Der letztere läßt
viel zu wünschen übrig, woran freilich der Verfasser unschuldig ist, da von jener
Seite die Quellen noch immer sehr spärlich fließen. Vielleicht der vortrefflichste
Theil ist die Schilderung der rheinbündischen Zustände, namentlich des pro-
jectirten Königreichs Westphalen, wobei man noch rühmend erwähnen muß,
daß trotz seines gerechten Abscheus gegen die französische Herrschaft der Ver¬
fasser in der Benutzung polemischer Schriften.sehr behutsam zu Werke geht.
So sind wir denn wieder in unsrer Literatur um ein bedeutendes Feld be¬
reichert. Die schwerste Periode der deutschen Geschichte hat eine würdige
Darstellung gefunden und an der Hand dieses Leitfadens kann sich nun das
deutsche Volk in das genauere Studium des Details vertiefen, damit ihm seine
'Vorzeit völlig zur Gegenwart werde, seine Schande sich lebendig in sein Herz
nngrabe und sein wohlerworbener Ruhm ein freudiges Licht auch auf die Zu¬
kunft werfe. Denn in der That ist es Gegenwart, was wir hier zum zweiten
Mal erleben. Ein großer Theil der Schäden, an denen damals Deutschland
unterging, ist noch immer nicht geheilt, die Gefahren sino noch immer vorhan¬
den, aber auch die Kraft ist nicht verloren, mit welcher damals das Volk sich
Recht zu verschaffen wußte. Für den männlichen, unerschrockenen Freimuth,
^t welchem der Verfasser die Sonde in Deutschlands Wunden legt, verdient er
den Dank der Nation.
Berlin, Hertz. —
Wir sind bei der Besprechung der zahlreichen Romane, die jedes Jahr
hervorbringt, selten in der Lage, mehr, als, den gewöhnlichen Beifall auszu¬
sprechen, mit dem man ein Buch empfängt, gegen welches sich keine erheblichen
Ausstellungen machen lassen, für dessen Cristenz aber auch kein stichhaltiger
Grund anzuführen ist. Wir freuen uns, dies Mal einen andern Standpunkt
einnehmen zu können. Das Werk, das uns vorliegt, ist die Schöpfung eines
echten Dichters, eines Dichters, der in Bezug auf die bestimmte Kunst, um die
es sich hier handelt, aus dem richtigen Wege ist. Wir können ihm in dieser
Gattung nur'zwei Leistungen zur Seite stellen: die Novellen von Paul Heyse
und von Gottfried Keller. In dieser Reihe nimmt der Dichter eine sehr ehren¬
volle Stelle ein, und wir möchten ihm sogar den Vorzug geben. Zuerst fällt
das feine Auge für die Erscheinungen der Natur auf. Sie sind gewissermaßen
ihrem innersten Lebensnerv nachgefühlt und durch Farbe und Stimmung sehr
glücklich wiedergegeben. Mit derselben Aufmerksamkeit verfolgt der Dichter aber
auch die Bewegungen der Seele; jeder einzelne Zug ist aus dem vollen Leben
herausgeschöpft und verräth zugleich ein warmes Herz und einen richtigen Ver¬
stand. Mit jener Virtuosität in der Analyse, welche unsrer Zeit überhaupt
eigenthümlich ist, späht der Dichter jeder einzelnen Regung nach: aber, was
das Wichtigste ist, er büßt darüber nicht den Blick für das Ganze ein. ' Die
Begebenheiten, die er erzählt, sind einfach, aber die daran sich entwickelnden
Seelenstimmungen beschäftigen uns so lebhast, daß wir keinen Augenblick er¬
müdet werden. Der Dichter geht von dem sehr richtigen Grundsatz aus, es
sei die Aufgabe der Poesie, das Schöne zu zeigen. Der Fehler, in den die
meisten neuern Poeten verfallen, ihre Virtuosität im Häßlichen zu entfalten,
bleibt ihm fern. Wir finden in sämmtlichen Gemälden keinen einzigen wirklich
störenden Zug, der den schönen Eindruck des Ganzen verkümmerte, und so
können wir auch in sittlicher Beziehung, obgleich unnützes Moralistren voll¬
ständig vermieden ist, unsre unbedingte Anerkennung aussprechen.
Schon die frühern Leistungen Hermann Grimms haben, wir mit Auf¬
merksamkeit verfolgt. Einzelne Schönheiten von großem Werth, Spuren einer
echten Dichternatur haben wir überall angetroffen, aber kein einziges dieser
Werke hat einen durchweg erfreulichen und befriedigenden Eindruck auf uns
gemacht; namentlich sind wir der Ansicht, daß sein Talent fürs Drama nicht
ausreichend ist. In der neuen Sphäre dagegen zeigt er sich vollkommen zu
Hause, und indem wir die besten Hoffnungen für seine Zukunft daraus schöpfen,
erlauben wir uns noch, ihm einen Rath zu ertheilen.
Die Genremalerei kann nur für einen gewissen Raum ausreichen; treibt
man sie zu lange, so wird auch das beste Talent der Gefahr ausgesetzt, seine
Kraft in kleinen Erfindungen auszugeben, die zuletzt zu unkünstlerischer Detail¬
malerei verführen. Wenn aber der Dichter sich zu einem Gemälde in größerem
Stil entschließen wollte, so würde für die Technik und Composition W. Scott
das passendste Vorbild sein. Wir können uns vorstellen, daß bei seiner eigen¬
thümlichen, feinen, etwas zarten ästhetischen Bildung, die sich in ihren letzten
Fäden noch in die romantische Schule verzweigt, dieser Dichter ihm widerstrebt.
Aber für die Technik kann man auch bei demjenigen lernen,'dem man in der
Anlage entgegengesetzt ist; ja ein solches Studium ist das fruchtbarste. Seit¬
dem das eigentliche Epos aus dem Kreise der Poesie zurückgetreten ist, hat
W. Scott ohne viel Nachdenken und Reflexion durch seinen richtigen Jnstinct
und seine gesunde Natur das Gesetz aufgefunden, welches noch in keiner Weise
überboten ist. Man hat früher seine Zigeuner, seine Bettler, seine hochländi¬
schen Räuber nachgebildet, ohne viel Erfolg; auf das innere Gesetz und die
Methode seines Schaffens hat man weniger Aufmerksamkeit verwandt. Dem
gegenwärtigen Berichterstatter wird die Bemerkung erlaubt sein, daß der un¬
gewöhnliche Erfolg, den der Roman seines Freundes, „Soll und Haben",
davongetragen hat, wenigstens zum Theil darauf beruht, daß der Dichter sich
die Gesetze seiner poetischen Gattung, wie sie W. Scott aufgestellt, durch sorg¬
fältiges und eindringendes Studium angeeignet hat. Wir Deutschen bedürfen
dieser Zucht am meisten, weil unsre besten Dichter es in der Regel vergessen
haben, daß die geistvollsten Erfindungen nicht genügen, wenn man nicht so er¬
zählt, wie erzählt werden muß, um den Zuhörer in Spannung zu erhalten.
Wenn es Hermann Grimm gelingt, die angeborene Gabe, zu schauen, die
keine Kritik ersetzen kann, mit der richtigen Kunstform zu verbinden, die durch
ernsthaftes Studium wesentlich gefördert wird, so kann er etwas Vorzügliches
leisten. —
Juristische Abhandlungen. Von Dr. Hermann Wasserschleben,
Professor der Rechte an der Universität Gießen. Gießen, 18S6. — Die in dieser
Schrift enthaltenen Abhandlungen sind den «Hitscheidungsgründen entnommen, welche
der Herr Versasser als Referent in der dem gießener Spruchcollegium überwiesenen
gräflich bcntinckschcn Proceßsache zu seinem Urtheilsentwurf ausgearbeitet hatte.
Der benttncksche Proceß ist bekanntlich im Jahr nicht 5urch Vergleich
Zwischen den Parteien, sondern durch eine Uebereinkunft der oldenburgschen Re¬
gierung mit der klägerischen Partei beendigt worden, und dieser der beklagten Partei
durchaus und in jeder Hinsicht nachtheiligen Uebereinkunft hat sich die letztere unter¬
werfen müssen.
Hätte die deutsche Presse dem Verlaufe jenes Processes nur halb die Aufmerk-
sanken geschenkt, wie jetzt dem Streite über das bacherlsche Eigenthumsrecht an
dem Fechter von Ravenna, so würde er schwerlich durch den Einfluß politischer Ge¬
walten und der Cabinete', statt durch das competente Gericht entschieden wor¬
den sein.
Aber freilich hätte diese Aufmerksamkeit einige Mühe und einigen Ernst er¬
fordert. Man hätte sich wenigstens mit der Geschichte des bentinckschen Processes
einigermaßen bekannt machen müssen, und hätte nicht ganz gleichgiltig dagegen sein
dürfen, daß Verträge vermittelt, abgeschlossen und garantirt wurden, um von der
Macht nicht länger und nicht weiter, als es ihr beliebte, gehalten zu werden, daß
das Ausland, da die klägerische Partei aus Ausländern bestand, durch diplomatische
Verwendung den äußersten Einfluß auf den Proceß ausübte, und daß mächtige in¬
ländische Höfe diesem Einfluß zu Hilft kamen.
Es ist wol kein Proceß geeigneter, Aufschluß über die deutschen Rechtszustände
der Gegenwart zu geben, als der bentincksche. Die ganze Kette von Bemühungen,
die sich selbst richten, durch welche die rechtliche Entscheidung desselben theils unnütz
gemacht, theils vereitelt wurde, ist von einem andern, nicht juristischen Schriftsteller,
der früher auch über den jordanschen und den weidigschen Proceß geschrieben hatte,
Herrn A. Boden in seiner Schrift: „Zur Kenntniß und Charakteristik Deutschlands
in seinen politischen, kirchlichen, literarischen und Rechtszuständen während der letzten
Jahrzehnte, Frankfurt a. M., 1836" ungescheut dargelegt worden.
Das Eine kann indessen doch in der ganzen Geschichte des bentinckschen Pro¬
cesses als erfreulich hervorgehoben werden, daß die beiden deutschen Rechtsfacultäten,
welche im Auftrage des oldenburgischen Obcrappellationsgcrichtes in demselben Recht
zu sprechen hatten, dies mit der größten Unabhängigkeit, auch von ihren eignen
Regierungen, theils gethan haben, theils gethan haben würden. Das oldcnburysche
Oberavvcllationsgcricht war durch einstimmigen Bundesbeschluß vom Jahr -1828
als die zur rechtlichen Entscheidung des bentinckschen Erbfolgestreites durch deutsche
Nechtssacultätcn allein competente Behörde anerkannt. Die jcnaische Juristcn-
facultät wies die klägerischc Partei durch Erkenntniß vom Jahr 1842 mit
allen ihren Klaganträgen ab; aus der Schrift von Wasserschleben geht hervor,
daß die gicßencr Nechtsfacultät im Begriff stand, das jenacr Urtheil im Wider¬
spruch mit einem gegen dasselbe gerichteten Bundes-Mehrh eitsbeschluß vom Jahr -1843
zu bestätigen und dadurch rechtskräftig zu machen, als man dies plötzlich von anderer
Seite zu verhindern wußte. —
Zeitschrift für deutsche Culturgeschichte. Bilder und Züge aus dem
Leben des deutschen Volkes. Herausgegeben von Dr. Johannes Müller und Jo ¬
saures Falke. > Nürnberg, Bauer & Raspe.— Von der Tendenz, der Zeitschrift
werden wir die klarste Vorstellung geben, indem wir auf den Inhalt der uns vor¬
liegenden vier Hefte hinweisen. Die deutsche Culturgeschichte von I. Falke. Die
Bettler zu Effelder des Jahres 1667 und ihre Zeit von G. Bruckner. Ueber
Tafelrunden und Schildbäume in Hildesheim von Karl Seisart. Wohlleben und
Prachtliebe der Gesellschaft Limburg zu Frankfurt a. M. von Römer-Büchner.
Zur Geschichte des Rauchers. Das Heidelberger Faß. Zur Charakteristik der
Frauenlectürc im Anfange des vorigen Jahrhunderts. Kopfputz im 1ö. Jahr¬
hundert. — Die allgemeinen Gcsellschaftsznstände Deutschlands von der Reformation
bis zum 30jährigen Kriege von Karl Biedermann. — Aberglaube in Krain gegen
Ende des 17. Jahrhunderts von Dr. Rehlen. Mittheilungen aus Familienaunalcn
des -16. Jahrhunderts von K. Scifart. Bücherschau. Buntes: die polnischen
Auguste und ihre Schmeichler. — Monsieur Alamode, der Stutzer des 30jährigen
Kriegs von Jac. Falke. Das frühere Schützenwescn der Deutschen von !>>'. A. Ba-
rack. Eine Selbstbiographie aus dem Ende des -16. und Anfang des -17. Jahr¬
hunderts, mitgetheilt vom Archivar Dr. Lcindau. Buntes: Zum Hofleben. — Zur
Sittengeschichte von Nürnberg in'der zweiten Hälfte des -16. Jahrhunderts von
Dr. Lochner. Die Hexenprocesse zu Eßlingen im -16. und -17. Jahrhundert von
Dr. K. Pfaff. Culturgeschichtliche Annalen der Stadt Frankfurt a. M., mit beson¬
derer Rücksicht aus Gesundheitszustand und Mcdicinalvcrfassung von Dr. W. Stricker.
Buntes: Der Dilettantismus in der Culturgeschichte. — Die einzelnen Arbeiten sind
mit Umsicht und Gründlichkeit ausgeführt und der Ton grade so einfach und populär,
wie sich für ein Werk ziemt, welches für das größre Publicum bestimmt ist. Die
Wissenschaft kann durch eine solche geordnete Zusammenstellung monographischer Bei¬
träge nur gewinnen und so sprechen wir den lebhaften Wunsch aus, daß das Inter¬
esse des Publicums dem Werth der Leistung entsprechen möge^
Weimarer Sonntagsblatt. Zweiter Jahrgang. Weimar, Bostan. —
Ein Localblatt kaun anch für die allgemeine Literatur Interesse erregen, wenn die
Localität, die es vertritt, einen positiven Inhalt hat. Weimar besitzt ausgezeichnete
Gelehrte und tüchtige Künstler, die noch den Vorzug eines engern Zusammenhangs
haben, als in einer größern Stadt möglich wäre, es besitzt eine kriegerische musi¬
kalisch-kritische Schule, es besitzt ferner die Traditionen an die große Vergangenheit.
Das Letzte ist das eigentlich Interessante an diesem Blatt. So heben wir nament¬
lich einen größer» Aufsatz von E. W. Weber hervor: was Weimar in der zweiten
Hälfte des vorigen Jahrhunderts für die Oper that. Ferner einen Brief von Tieck
an Riemer über dessen Mittheilungen, wo einige interessante Notizen über die
Stellung der romantischen Schule zu Goethe gegeben werden; dann einzelne Er¬
läuterungen über Stellen ans Goethe von I. S. (Sanpe?), z. B. eine Erklärung
des Hans von Nippach. Noch in den neunziger Jahren war der Ausdruck Hans
von Rippach.in Leipzig gäng und gäbe, um einen landjunkerlichen Großhans aus
der nächsten Runde (Rippach war nämlich die letzte Station auf der alten Post-
strasze von Naumburg nach Leipzig), und im weitern Sinne einen stolzen Gimpel
Und ungeleckten'Bären zu bezeichnen. — Am willkommensten war uns ein ungedrucktes
Gedicht von Goethe in Fräulein von Schillers Stammbuch am -10. August -18-19.
Weil so viel zu sagen war
Wußt ich nichts zu sagen,,
Ob die Blätter gleich ein Jahr
Mir vorm Auge lagen.Jetzo da du sie entführt,
Mag die Feder walten
Denn es bleibt, wie sichs gebührt,
Immerfort beim Alten.Milde zum Verständlichen
Wird die Mutter mahne»,
Dentend zum Unendlichen
Auf des Vaters Bahnen.
— Von Theodor Juste, dem Geschichtschreiber der
belgischen Revolution von 183l), ist ein neues Werk erschienen: Ilisloirv et« I<> i'vvn-
lulion clss p-i^s-Kiis sou« I'I>iiij>po II. 2 Bde. Das Werk hat einen populären Cha¬
rakter; es ist weniger auf eine gelehrte Kritik, als auf eine Verbreitung nützlicher
Erkenntniß in Bezug auf den Staat und die Geschichte berechnet. — Dagegen
gehört dem Bereich der strengsten Gelehrsamkeit das Werk an, welches wir bereits
flüchtig erwähnt haben: die Geschichte der Regierung Philipps II., Königs von
Spanien, von dem Amerikaner William Prescott. Das Interesse der Amerikaner
für Spanien ist bemerkenswerth. Die beste spanische Literaturgeschichte hat uns
Ticknvr geliefert, und die beiden frühern Werke, durch welche Prescott seinen Ruhm
in der historischen Literatur.begründet hat, die Geschichte der Eroberung von Me¬
xico und Peru, fallen wenigstens zum Theil gleichfalls innerhalb der spanischen Ge¬
schichte. Er wurde zu diesen Werken theilweise durch seine Vorstudien zur Geschichte
Ferdinands und Jsabellas geführt; allein die Episoden waren werthvoller als das
Hauptwerk, denn so verdienstlich jene Geschichte ist, so merkt man doch heraus,
daß sie mitten unter der Sammlung der Materialien geschrieben wurde. In dem
neuen Werke befindet sich der Verfasser bereits auf bekanntem Gebiet, es ist freier
und überlegener geschrieben und nähert sich daher, auch mehr der künstlerischen Voll¬
endung. Die Vorzüge der älteren Schriften, gründliche Detaildarstellung und Wärme
der Beschreibung, sind geblieben. Der seine geistreiche Spürsinn aus dem psycho¬
logischen Gebiet und die große Perspektive, die wir jetzt an das ideale Bild eines
Geschichtschreibers zu knüpfen gewohnt sind, ist weniger ausgebildet. — Ein Prag¬
matiker von dem alten Schlage, conservativ in dem entschiedensten Sinn dieses
Worts, aber ein ehrlicher und gewissenhafter Charakter ist Archibald Alison, der
seiner Geschichte Europas gegenwärtig eine Fortsetzung folgen läßt (1813 —1832),
von welcher bis jetzt fünf Bände erschienen sind. Alison kommt es nicht wie
seinem großen Landsmann Macaulay ans Lebhaftigkeit und Vollständigkeit des Details
an; weder sein rhetorisches Talent ist bedeutend, noch sein descriptives, aber er
versteht gut zu gruppiren und das praktische Verständniß der Dinge dieser Welt,
das allen Engländern angeboren zu sein scheint,- gibt seiner Darstellung auch für
uns großen Werth. Es ist sehr nützlich, wenn wir uns unsere eigne Geschichte
zuweilen von den Engländern erzählen lassen; wir selbst werden sie wol tiefer
auffassen und geistvoller darstellen, aber der nüchterne Engländer kann uns zuweilen
auf den common svnsv hinweisen, wenn wir einmal im Uebermaß des Geistvoller
geneigt sein sollten, die Tramontane zu verlieren. — Wir fügen diesen historischen
Schriften ein neues Werk verwandten Inhalts hinzu: Eine italienische Reise
in Briefen. Dem Freunde der Natur, der Kunst und des Alterthums gewidmet
von C. F. Michelet. Mit drei Plänen. Berlin. G. Schindler. — Der inter¬
essanteste und belehrendste Theil des Buchs enthält den Versuch, die Localitäten des
alten Roms festzustellen. Ju Bezug auf Beobachtung der gegenwärtigen Zustände,
der Beschreibungen aus dem Gebiet der Natur ze. zeichnet sich der Verfasser dadurch
aus, daß er die Dinge ohne Vorurtheil, mit offenem und frischem Auge ansteht.
Geschichte der Assyrier und Iranier vom 13. bis zum 3. Jahrhundert,
vor Christus. Von I. Kruger. Frankfurt a. M, H. E. Brunner. — Wir
erwähnen dies wunderliche Buch, welches nach dem Urtheil der Sachverständigen,
die wir zu Rathe gezogen haben, eine wissenschaftliche Besprechung nicht hervorrufen
kaun, nur in Bezug aus zwei Umstände. Einmal ist es merkwürdig, daß die Ge¬
schichtsforschung noch immer nicht so weit gekommen ist, das fruchtlose Bemühen auf¬
zugeben, aus poetischen Werken Thatsachen construiren zu wollen, wo man nicht über
die Art und Weise der poetischen Ueberlieferung beglaubigte Nachrichten hat. Nach
dem Firdusi eine Geschichte Assyriens zu schreiben, ist noch viel zweckwidriger, als
wenn man das Nibelungenlied bei der deutschen Geschichte zu Grunde legen wollte,
denn bei Firdusi ist die Sache noch durch viel mehr Hände gegangen. — Sodann
hat Fallmcrayer in der Donau Ur. 86 über das Buch eine ausführliche Kritik ge¬
geben, worin er sich im Wesentlichen aus die Seite Krügers stellt und folgende Be¬
merkung hinzufügt: „Der Verfasser ist nicht blos ein Südlicher, er gehört zu seinem
Unglück auch uoch jenem Lande an, welches man in der Rangliste der Intelligenz
noch hinter das viel bespöttelte „Neu-Böotien" zurückzustellen pflegte. Daß wir
stark im blinden Glauben sein und mit wahrhaft moskowitischer Eleganz das Joch
der Drnideudiscipliu zu tragen verstehen, wird anerkannt; daß wir aber auch in der
classischen Philologie und in der'Philosophie der Geschichte etwas Tüchtiges wissen;
daß wir frei und unabhängig von willkürlicher Antoritätsdictatur Trug und Wahr¬
heit kritisch zu unterscheiden vermögen; daß wir Thucydides in der Ursprache lesen
und die eignen Gedanken in kunstvoller Plastik auszuprägen im Stande seien,
glauben unsre Gegner noch heute nicht. Ob man hierin Recht oder Unrecht habe
und ob man diesseits des thüringer Waldes eben jetzt aus dem rechten Wege sei,
diesen nordischen Unglauben an unsre geistige Begabung und unsren höheren
Bildungsstand zu zerstören, gehört nicht zur Frage. Genug, daß die Kluft existirt,
und es für Herrn Krügers Landsleute doppelter Vorsicht bedarf, weil sie außer den
Schwierigkeiten, die in der Sache selbst liegen, auch noch ein mächtiges VvrurtheU
zu bekämpfen und nur für unanfechtbare Evidenz Duldung und matte Anerkennung
zu erwarten haben." — Wenn die süddeutschen Schriftsteller aus diesen Punkt zu
sprechen kommen, so ist es zuweilen, als ob sie alle Besinnung verlören. Die Sage
von der Ueberhebung der Norddeutschen ist so allgemein verbreitet, daß man sie für
wahr annimmt, auch wo gar kein bestimmter Fall vorliegt. Wenn die Norddeutschen
vergessen sollten, daß Goethe und Schiller der Dichtkunst, daß Hegel der Philosophie
einen neuen Ausschwung gegeben haben, so müßten sie nicht recht bei Sinnen sein.
Daß Süddeutschland, daß namentlich Oestreich im gegenwärtigen Augenblick in der
Wissenschaft weniger leisten, als Norddeutschland, um das einzusehen, bedarf man
wahrlich keiner norddeutschen Augen. Aber noch nie haben wir etwas davon ge¬
hört, daß man in Norddeutschland gegen eine wissenschaftliche oder künstlerische
Leistung deshalb ungerecht war, weil sie aus Süddeutschland kam, und die Empfind¬
lichkeit in dieser Beziehung, die bei den süddeutschen Schriftstellern so häufig hervor¬
tritt, ist gewiß kein Zeichen von Kraft. >—
^ Geschichte des brandenburgisch-preußischen
Staates zum Vortrag und Selbstunterricht. Von Ho. Karl Rosenberg. Zwei
Bände. Berlin, Vercinsbuchhandlnug. — Das erste Bändchen haben wir bereits
"ngesührt, das zweite geht bis zum Jahre -I81S. Der gemeinsaßliche Ton der
Schrift und ihre patriotische Gesinnung ist lobend hervorzuheben. — Das ausi-
lausche Deutschland des neunzehnten Jahrhunderts, eine historisch¬
biographische, kunstwissenschaftliche, pädagogische Musikzcitschrift, zur Vermitt¬
lung der Gegenwart mit der Vergangenheit, zur genauern Kenntniß und
gerechten Würdigung der einen wie der ander» und weitern Beförderung der
edlen Kunst, zunächst sür alle, welche die Musik an höhern Lehranstalten
und Seminarien, in öffentlichen Schulen oder Privatinstituten und Familien
zu lehren, den Gesang in Kirchen und bei feierlichen Gelegenheiten, des¬
gleichen liturgische oder Militärsängcrchöre oder andre Musikvereine zu leiten,
die Orgel zu spielen haben oder sich auf ein solches Amt vorbereiten; dann auch für
Dilettanten oder Musikfreunde, so wie zur geneigten Kenntnißnahme der hohen
Kirchen- und Schulbehörden herausgegeben in zwanglosen Heften unter Mitwirkung
mehrer Herren Geistlichen und gelehrten Kunstfreunde, Mnsikdirectoren und Orga-
nisten. so wie Musiklehrer an Seminarien und andern Schulanstalten von I. G.
Hientzsch, Director a. D., Mitglied der schlesischen Gesellschaft sür vaterländische
Cultur, der kaiserl, königl. Akademie zu Roveredo :c. Erstes und zweites Heft.
Berlin, Selbstverlag. — Der Titel spricht sich über das, was der Verfasser will,
so ausführlich aus, daß uns nichts zu sagen übrig bleibt. Die hervorragenden
Aufsätze in den vorliegenden Heften sind die Beiträge zur Geschichte des frühern
und jetzigen Musikwesens auf dem Lande, in der Mitte des ehemaligen Sachsens
und zur Geschichte der Musik in Berlin. — Die Entziehung der Vor- und
Zwischenmusik im Berliner Schauspielhause durch die gegenwärtige Ge-
neralintendantnr. Fliegendes Blatt von F. W. Gu hitz. Berlin, Vcreinsbnchhand-
lung. — In Bezug ans die Zwischenmusik stehe» wir entschieden auf Seite der
Intendantur gegen den Verfasser; was die Vormusik betrifft, so möchten wir sie sür
das idealistische Drama beibehalten, aber nur unter der Bedingung, 1) daß die
Musik dem Charakter des Stücks angepaßt ist, 2) daß sie nicht lange dauert und
sich in dem bescheidenen Raum einer leicht verständlichen Einleitung hält. Wo diese
Bedingungen nicht zu erfüllen sind, wolle» wir auch sür diesen Fall gern aus die
Ouvertüre verzichte». — Am Himmel und auf der Erde. Naturwissenschaftliche
Unterhaltungen. Mit Beiträgen von »i. L. Heros, Prof. l>r. Mädler, Freih. v.
Schönholz, Ilr. Ed. StoW u. A. Herausgegeben vo» Anton Gubitz. Mit 220 in
den Text gedruckten Abbildungen und Figure». Berlin, Vcrciusbuchhandlung. —
Das Genre unterscheidet sich nicht wesentlich vo» den Unternehmungen ähnlicher Art.
Das Publicum hat den Vortheil, sür einen äußerst billige» Preis el»e Uebermasse
naturhistorischer Notizen zu erhalten. — Lachender Ernst und Stacheln der
Laune. Gesammelte Blüttchcn des Humors von F. W. Gubitz. Berlin, Ver-
einsbnchhandlung. — Aeußerst gutartige harmlose Scherze, die fast zu stark an die
gute unschuldige Zeit des Gesellschafters erinnern. — Diätetischer Haus- und
Brunnenalmanach für 1 836. Ein populärer Rathgeber für den Hausstand
und ein Führer auf Brunnenreisen von l>r. E. von Rußdorf. Mit einer Eisen¬
bahn- und Bruunenkarte. Berlin, H. Schindler. — I>'nun!->r lviiors on vurious
suHevls. Vor tue uso ol' ^ouug porsous ol' doch soxo». l. U. lie«> l ex. I^o
seooncl oilitto», r.in vluli^ revisizd and. «'orrvLioc! wiiii un iilliliUo» ol i^vent^ loiiül^-
l,v!>>/.ig, ??»un-Ioi's. — Ein brauchbares Handbuch sür Anfänger, die mit der Er¬
lernung des Englischen vorzugsweise einen praktischen Zweck' verknüpfe». —
Mehr noch, als die politische Geschichte, zeigt die Literaturgeschichte, wenn
man sie in ihren großen Perspektiven verfolgt, einen innern Zusammenhang,
eine Folge und Gliederung, daß wenigstens ein Theil der Menschheit als ein
organisches Ganze erscheint. Dem Geschichtforscher und dem Philologen er¬
schließen sich freilich noch andre Gebiete, welche in diesen Zusammenhang nicht
gehören, z. B. die sehr umfangreiche oft- und südasiatische Literatur, die, so
weit wir es bis jetzt ermitteln können, zur europäischen Geschichte keine weitere
Beziehung hat, als eben jene Untersuchungen der Philologen; dagegen lassen
sich in der Literaturgeschichte Europas, wenn man sich nur nicht allzu pedan¬
tisch an die Jahreszahlen hält, da das Nachzittern der Bewegung die Wirk¬
samkeit de^ bewegenden Kraft überdauert, sehr scharf getrennte Perioden be¬
zeichnen, «deren jede ihre ganz bestimmte Physiognomie, oder, wie der her¬
gebrachte Ausdruck lautet, ihre Signatur hat. Wir machen bei der Durch¬
musterung dieser Perioden die Beobachtung, daß sich innerhalb jeder derselben,
zuerst ganz im Geheimen und unmerklich, eine Reaction herausstellt, die end¬
lich mit revolutionärer Kraft sich gegen die bisherige Autorität geltend macht
und zur Signatur der folgenden wird. Jede Periode ist gegen die nächst vorher¬
gehende ungerecht, weil sie einen feindseligen Gegensatz ausdrückt, und es bleibt
einem spätern, diesem Gegensatz entrückten Zeitalter vorbehalten, eine nachträg¬
liche Gerechtigkeit auszuüben.
So wurde die erste Culturperiode deS Mittelalters bis ganz vor kurzem
als ein Zeitalter der Barbarei gebrandmarkt und erst die Romantik, die nach
verwandten Stoffen suchte, mußte die Gelehrsamkeit darauf aufmerksam machen,
daß in der Periode des Ritterthums, der ungebrochnen Hierarchie, der Scho¬
lastik, der gothischen Baukunst u. s. w. eine innere Harmonie und dabei doch
ein Reichthum und eine Mannigfaltigkeit geherrscht hätte, die von einem ge¬
schickten Zeichner aufgefaßt, sich als ein höchst erfreuliches Bild darstellt. Wenn
aber A. W. Schlegel seine Blumensträuße aus den südlichen Dichtern mit
den Worten eröffnet: „Eins war Europa in den großen Zeiten des Ritter-
thums u. s. w.", so vergißt er dabei, daß das von jeder Periode gilt, sobald
sie nur die Kraft hat, sich zu einer energischen Blüte zusammenzufassen. Er
vergißt ferner, daß trotz der Harmonie in der Erscheinung doch im Wesen selbst,
wie in jeder Periode, so auch in der Periode des Ritterthums ein starker Wider¬
spruch erhalten war, den man mit einem geläufigen Parteinamen jener Zeit
als die welfisch- und ghibellinische Bildung bezeichnen kann. Das Papstthum
und das Kaiserthum waren die beiden höchsten politischen Blüten jener Periode;
als die eine derselben der andern unterlegen war, war das Lebensprincip der
Periode erstickt.
Das nächste Zeitalter IM die Signatur der classischen Bildung. Ge¬
wöhnlich bezeichnet man mit dem Ausdruck Renaissance ein etwas späteres
Zeitalter, wobei man sich hauptsächlich auf die Entwicklung der Baukunst, der
Kleidertracht und andre äußerliche Erscheinungen bezieht. Aber die Wieder¬
geburt beginnt schon gegen das Ende des 13. Jahrhunderts, ja sie ist in
ihrem innersten Kern die Wiederaufnahme deS Ghibellinenthumö, das^ in der
Politik zu Boden geschlagen, sich auf die Literatur und Kunst warf. Es hat
eine/symbolische Bedeutung, daß der große Erneuerer der Kunstpoesie, der
Schüler Virgils, zugleich ein leidenschaftlicher Ghibelline war. Die Kirche
hatte gesiegt, aber wie in der frühern Periode die stegreichen Barbaren der
Cultur des Römerthums unterlagen, so nahm die Kirche die Bildung ihrer
Gegner an. Leo X. war der höchste Gipfel, aber keineswegs der Beginn dieser
Verweltlichung. Die Literatur und die Kunst gingen mit der Sitte Hand in
Hand. Macchiavell sprach unumwunden die Grundsätze aus, die im Stillen jeder¬
mann hegte, die aber freilich dem folgenden Zeitalter so fremd geworden wa¬
ren, daß man sich vergeblich darüber den Kopf zerbrach, was er sich dabei
gedacht haben könne. In den äußern Formen war ja die Kirche noch all¬
gemein herrschend; die Kunst und Wissenschaft dienten nur zu ihrer Verherr¬
lichung. Aber freilich wird die Sache begreiflich, wenn man neben die sirtini-
sche Madonna etwa die Leda und die Jo von Correggio hängt, wenn man
Tasso mit Arelim, Pulci und Ariost zusammenstellt, wenn man steht, ^vie in Ca-
moens die holdselige heidnische Venus als Beschützerin des Kreuzes gefeiert
wird. Das wiederauflebende Alterthum rächte sich an den siegreichen Barbaren
durch einen bittern Spott, der sich in den höchsten Kunstformen entwickelte, und
wie verschiedenen Gebieten auch der Ciceronianismuö des Erasmus und der Don
Quirote des Cervantes angehören ^ sie drücken doch denselben Geist aus, der
sich einfach und unbefangen im Fürsten, mystisch und mit der Anlage zur
Schwärmerei in Cardanus und seinen Nachfolgern entfaltet. Wenn man
noch dazu nimmt, daß die Entdeckung der neuen Welt, so wie das kopernicanische
System mit den Ausläufern der Periode zusammenfällt, so wird man zugeben,
daß auch diese neue revolutionäre Periode trotz ihrer bunten, reizenden Ver¬
wirrung eine innere Harmonie zeigt, die der Harmonie des eigentlichen Mittel¬
alters nichts nachgibt.
Die herrschende Richtung des Zeitalters ging von den Gebildeten aus.
Das gebildetste Volk der Zeit, die Italiener, standen an der Spitze der Be¬
wegung; die Reaction schlummerte, ihrer selbst noch nicht bewußt, in den all¬
gemein verachteten niedern Schichten des Volks, welches das Christenthum noch
in einem ehrlichen Glauben empfing, während die Gebildeten ein frivoles phan¬
tastisches Spiel damit trieben. Am meisten entwickelt war diese Integrität des
Gemüths im deutschen Volk, welches auch noch immer seine eigne Literatur
harte, eine Literatur mit einer nicht sehr christlichen, aber durchaus ehrlichen
und treuherzigen Physiognomie, die hinter ihrer bescheidenen Außenseite eine
furchtbare Kraft verbarg. Der Ausbruch mußte erfolgen, sobald daS Volk zum
Bewußtsein kam, es werde in seinem Glauben von der Bildung betrogen. Daß
ein Hanswurst wie Tehel dies Bewußtsein hervorrufen mußte, ist eine eigen¬
thümliche Ironie der Geschichte.
Die Kraft der neuen Periode ging nicht von den Gebildeten aus, sondern
von dem Volk. Ein Sohn des Volkes war sein Prophet, und die hochmüthige
Bildung wurde zu Schanden. Zwar vertrugen sich im Anfang die Humani¬
sten ganz gut mit den Reformatoren, aber nur wenn ein drittes vermittelndes
Motiv, z. B. das nationale, dazu kam. Die aufrichtigen Vertreter der alten
Bildung, z. B. Erasmus, hielten sich von der neuen Bewegung fern, dieser nicht
etwa blos aus Charakterschwäche, sondern weil er den innern Kern des neuen
Lebens besser begriff, als viele andre seiner Zeitgenossen und weil er noch in
dem Aberglauben der vorigen Periode begriffen war, die Bildung müsse die
Welt regieren. Dies Mal war es aber nicht die Bildung, sondern der Glaube,
der sich zum Herrscher machte. Die Bauernsöhne, die Theologie studirt hatten,
wurden die Vertreter der Literatur, und die katholische Kirche, die plötzlich
wieder fromm wurde, fand in ihren Casuisten eine noch viel umfangreichere
literarische Unterstützung, als der Protestantismus. Den letzten Resten des
altheidnischen Germanismus wurden die Klauen beschnitten. Wo eine wirk¬
liche Kraft vorhanden war, trat sie in der Form des religiösen Fanatismus
auf, wie Cromwell. 'Zum ersten Mal war die Bibel jetzt ein wirkliches Evan¬
gelium der Welt geworden. Die Protestanten lernten aus ihr ihre Mutter¬
sprache, die Katholiken schöpften aus der Vulgata ihre Dichtung. Wenn die
glaubenlose Bildung wieder einmal sich vermessen sollte, allein das entscheidende
Wort zu fuhren, so muß man sie an die furchtbare Demüthigung erinnern,
die ihr widerfuhr,, als ein Calderon den dümmsten Aberglauben des Pöbels
Poetisch verklärte. Was in diesen Zeiten Großes hervorgebracht wurde, benutzte
den Glauben wenigstens als mitwirkende Kraft. Freilich trug die Schöpfung
nicht immer das Gepräge ihres Ursprungs und man sah es z. B. der nieder-
ländischen Republik nicht mehr an, daß sie von den Bilderstürmern ausgegan¬
gen war.
Auch dies Mal war eine Reaction vorhanden, aber sie lag nicht in dem
Volk, sondern in den Hosen. Das weltliche Wesen hatte auch in der theo¬
logischen Verpuppung im Stillen fortgewirkt. Die Fürsten hatten auf den
Trümmern der säcularisirten Kirchengüter ihre Souveränetät aufgerichtet, der
Orden der Jesuiten wurde eine Handelscompcignie, die Erben Cromwells grün¬
deten die parlamentarische Regierung, Wallensteins Hofastrologen stellten die
Gesetze der himmlischen Mechanik fest, Papst Gregor ließ den Kalender ver¬
bessern, und während das protestantische Leben im Pietismus versumpfte,
wandten sich die Wissenschaft und Kunst wieder den classischen Vorbildern zu.
Die Revolution erfolgte dies Mal nicht am Anfang, sondern am Schluß der
Periode. Der Uebergang aus dem kirchlichen Zeitalter in das Zeitalter der Auflä-
rung ist unmerklich. Boileau und Molisre verherrlichten neben Racine und Bossuet
den Hof Ludwigs XlV., und das untergehende Gestirn der Maintenon sah noch
die ausgehende Sonne Voltaires. Das Volk hatte mit seinem Glauben so
lange geherrscht, bis dem Glauben die Lebenskraft ausgegangen war. Sofort
drängten sich die Gelehrten, die Aristokraten, die Gebildeten wieder auf den
Thron der öffentlichen Cultur. Die Naturwissenschaft und Naturphilosophie
war ununterbrochen fortgegangen, aber sie hatte schweigen müssen; jetzt
drängte sie sich mit lautem Geschrei auf den Markt. Die Bildung hatte
nun einen bestimmten Feind, oder wie man es jetzt nannte, den Aberglauben.
Wenig dachten die Höfe und ihre Freunde daran, als sie sich am Candide und ,
an der Pucelle erfreuten, als sie selbst das «Möwe cle la nawrs in Schutz
nahmen, daß sie damit der Demokratie in die Hände arbeiteten. Die Fürsten
und die Vornehmen freuten sich, daß öffentlich verhöhnt wurde, was ihnen im
Innern längst verächtlich geworden war. Die Kirche trat, wie in den Zeiten
deS alten Humanismus, ganz aus der Bildung heraus und lebte in finsterm
Groll in den Hütten der ländlichen Kirchspiele. Ganz Europa hatte wieder
eine gemeinsame Bildung, ja einen gemeinsamen Glauben, denn der Haß zeigte
dies Mal eine productive Kraft. Wenn auch Voltaire .und Rousseau, wenn auch
die französischen Encyklopädisten und die deutschen Kritiker, wenn auch die
Akademie und Goethe in vielen einzelnen Punkten voneinander abwichen, im
Grunde strebten sie demselben Ziele zu. Es war die lange unterdrückte Leiden¬
schaft der Natur, es war der wilde Idealismus des Herzens, der seine Fesseln
von sich warf. Zwar legte die deutsche Dichtung am Hof von Weimar wieder
em akademisches Gewand an, aber damit konnte sie es nicht ungeschehen machen,
daß sie einen Werther und Faust, einen Karl Moor und Ardinghello hervor¬
gebracht; das griechische Heidenthum ließ sich nicht mehr ersticken und auch die
Physiognomie deS Marquis Posa in'ß sich unter den neuen Masken wol wie¬
der herauserkennen. Da kam die Stunde der Entscheidung, die Werther, die
Faust, die Karl Moor und Ardinghello tagten über den Geschicken einer großen
Nation, der philanthropische Robespierre mußte, um die'Todesstrafe abschaffen
zu können, vorher mit einer Virtuosität ohne Beispiel die Guillotine spielen
lassen, und die Bildung sah zu ihrem Schrecken, daß der Glaube, den sie ge¬
predigt, wieder in die Hände des Volks übergegangen war. Es waren die
Erben der religiösen Fanatiker von 1ö72 und 1648, die sich aufs neue in dem
Blut der Aristokraten berauschten, freilich dies Mal aus andern Gründen. Die
erschrockene Bildung bekehrte sich wieder, verleugnete ihren bisherigen Glauben
und kehrte zu den Idealen der Vorzeit zurück. Burke, Chateaubriand, Schle¬
gel u. s. w. wurden die Verkündiger der Romantik, aber ihr vereinzelter Kampf
hätte keine Wirkung gehabt, wenn nicht durch das napoleonische Weltreich
auch die Völker wären erregt worden, wenn nicht der Glaube an Gott und
eine bessere Zukunft, über den der Verstand bis dahin gespottet, sich als ein
allgemeines Bedürfniß des Herzens herausgestellt hätte. Daß nun in diesem
Zeitalter der Bekehrungen die Periode der Aufklärung mit scheelen Augen an¬
gesehen wurde, liegt in dem natürlichen Gegensatz; daß man jetzt aber allseitig
wieder anfängt, ihr gerecht zu werden, deutet bereits aus den Beginn einer
neuen Periode hin.
Von dieser Wendung legt auch das vorliegende Buch ein günstiges Zeug¬
niß ab. Der Verfasser schildert das so vielfach angefochtene Zeitalter der Auf¬
klärung, welches er ganz richtig mit der Mitte des 17. Jahrhunderts beginnt,
als entschiedener Apologet, aber freilich von einem freieren und höheren Stand-
Punkte aus, als derjenige war, den man inmitten der Bewegung einnehmen
konnte. Er verkennt nicht die bedenklichen Erscheinungen, welche das Heraus¬
treten des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit begleiten (diese
schöne Definition des alten Kant bleibt noch immer die zweckmäßigste); aber er
findet dessenungeachtet einen innern, logischen Zusammenhang, wo man sonst nur
Willkür und Leidenschaft gesucht hatte. Mit dem Plan des Buchs erklären wir
uns vollkommen einverstanden.
Was nun die Ausführung betrifft, so machen wir auf dasjenige aufmerksam,
was wir in einem frühern literarhistorischen Artikel bemerkt haben. Man
muß an ein literarhistorisches Werk nicht die Ansprüche stellen, die man an
ein geschichtliches zu stellen berechtigt ist. Der Historiker kann für die Ewigkeit
arbeiten, weil er seinen Gegenstand vollständig darstellen kann; der Literar¬
historiker muß sich ein bescheideneres Ziel stecken, er muß zunächst an seine
eigne Zeit denken. Wenn sein geistiger Inhalt so bedeutend und seine künst¬
lerische Form so vollendet ist, daß auch die Nachwelt sich daran erfreut und
daraus belehrt, so ist das gut, aber er kann sich dieses Ziel nicht vorstecken. —
Herr Hettner verzichtet von vornherein auf eine gelehrte Arbeit im strengern
Sinne des Worts. Wenn er seine Anschauungen aus den Quellen schöpft,
so kommt es ihm doch nicht darauf an, das Material vollständig gesammelt
und kritisch gesichtet zu überliefern; er begnügt sich bei den Thatsachen mit den
bekannten Monographien, an welchen die englische Literatur überreich ist, wäh¬
rend sie sich an das Unternehmen einer zusammenhangenden Darstellung noch
gar nicht gewagt hat. Es kommt ihm darauf an, an den hervorragenden Er¬
scheinungen der Literatur den Gang der allgemeinen Culturentwicklung nach¬
zuweisen. Wir würden bei der Auswahl manches anders wünschen; das Urtheil
würden wir zuweilen modificiren, namentlich in den Fällen, wo Hettner zu lebhaft
einer bestimmten Idee nachgeht, dabei die andern Seiten des Gegenstandes
übersieht und dieses später dann durch eine entgegengesetzte Einseitigkeit wieder
gut zu machen sucht, wo er sich also widerspricht. Indeß wir halten es für
unnütz, darauf näher einzugehen, da jeder kritische Leser in irgend einem Punkt
besser unterrichtet sein wird, als der Schriftsteller, der allen Formen der Cultur
gerecht werden will und sich daher bei manchen Punkten auf Hörensagen ver¬
lassen muß. In Beziehung auf das Thatsächliche behalten wir uns vor, zum
beliebigen Gebrauch ein Verzeichnis) der Errata mitzutheilen; dagegen müssen
wir auf zwei Fehler aufmerksam machen, von denen wir ernstlich wünschen, daß
sie der Verfasser bei den beiden folgenden Bänden vermeiden möge.
Der erste ist die novellistische Form, die bei der Vorlesung wol wesentlich
dazu beitragen mag, die Lebhaftigkeit und das Interesse des Vertrags zu er¬
höhen, die aber in dem Buch keinen angenehmen Eindruck macht. Wahr¬
scheinlich ist hier unbewußt der Einfluß Rankes maßgebend gewesen. Bei diesem
feingebildeten, geistvollen Mann, der aber selten die Ruhe und Stetigkeit hat,
zusammenhängend zu erzählen, machen diese anmuthigen Sprünge der Dar¬
stellung zuweilen einen ganz bezaubernden Eindruck, aber sie haben nur eine
individuelle Berechtigung, als Muster zur Nachahmung sind sie in keiner Weise
zu empfehlen, und der rankesche Stil in der Geschichtschreibung ist der letzte,
dessen Verallgemeinerung wir wünschen könnten; am wenigsten paßt er für das
Gebiet der Literaturgeschichte.
Ein zweiter Fehler hängt damit zusammen, aber er gehört Hettner eigen¬
thümlich an. Bei seinem lebhaften Temperament und seinem warmen Interesse
für die Stoffe begegnet es ihm häufig, daß er an seinen eignen Gedanken ein
größeres Behagen findet, als ihm selbst bei reiferer Ueberlegung angemessen er¬
scheinen würde. Wir haben ihn schon früher bei seinen journalistischen Arbeiten
aufmerksam beobachtet und mit einiger Verwunderung gesehen, wie er dann am
meisten über seinen Gedanken erstaunt, wenn derselbe Gedanke etwa acht oder
vierzehn Tage vorher anderweit bereits ausführlich auseinandergesetzt war. ES
liegt nun darin durchaus kein Plagiat, denn sür denjenigen, welcher die
Literatur mit Unbefangenheit und hinreichender Kenntniß betrachtet, ergeben
sich die Gedanken von selbst; aber es macht doch immerhin einen komischen
Eindruck, den man ja leicht vermeiden kann. Auch von jenem Haschen nach
Esprit, welches in der jungdeutschen Periode eine so schaudererregende Aus¬
dehnung gewann, ist er keineswegs ganz frei, und hier muß wiederum die Be¬
rechtigung nur in der Individualität gesucht werden. Wenn z. B. Heine mit
ungewöhnlichen Einfällen ungenirt um sich wirft,, so wird man zuweilen ge¬
ärgert, aber seine Wirkung macht es doch, denn Heine hat wirklich ungewöhn¬
liche Einfälle, Einfälle, die trotz ihrer bizarren Form häusig den Nagel auf
den Kopf treffen. Bei Hettner ist es aber blos Manier. Er hat eine lebhafte
Empfänglichkeit, ein schnell bewegliches, nicht immer sicheres Urtheil und die
Fähigkeit, die passenden Vergleichspunkte bei der Hand zu haben. Aus dieser
Anlage geht dann ein guter Schriftsteller hervor, wenn er eine sehr scharfe
Selbstkritik ausübt und die instinctive Thätigkeit seines Urtheils durch allseitige
Forschung und besonnene Ueberlegung corrigirt. Bis jetzt ist ihm das noch
nicht in dem wünschenswerthen Maß gelungen, er scheint noch nicht einmal
ernsthaft danach gestrebt zu haben.
Möge Herr Hettner in diesen Bemerkungen keine Ueberhebung sehen.
Wir wissen sehr gut, daß der deutsche Geschichtschreiber noch keinen aus¬
geschriebenen Stil, noch keine sichere Methode vorfindet, daß er die Weise, die
ihm angemessen ist, erst finden muß, und daß es ihm daher nahe liegt, diese
unvermeidliche subjective Thätigkeit vor dem Publicum zur Schau zu stellen;
allein man muß diese Neigung ernsthaft bekämpfen, denn je strenger man sich
an die Sache hält, je sicherer wird der Eindruck sein, den man macht, und wie
in allen Dingen, wird auch hier die einfachste Form die beste sein. —
Daß die Tendenz des Buchs von der deS vorigen wesentlich verschieden
ist, zeigt schon der Titel. Der Verfasser hat die Absicht, durch ausführliche
Angaben des Inhalts und durch Mittheilung zahlreicher Proben die Kenntniß
der englischen Literatur in Deutschland zu verbreiten. Was die letzteren be¬
trifft, so verfolgt er eine bedenkliche Methode: er gibt nämlich poetische Über¬
setzungen. So anerkennenswert!) in dieser Beziehung sein Talent ist, so leistet
es doch für den vorliegenden Fall nicht ganz das, was es leisten soll, und
wenn wir die Frage ganz bei Seite lassen, ob eine englische Literaturgeschichte
für denjenigen Leser, der des Englischen nicht mächtig ist, überhaupt einen Nutzen
haben kann, so wäre es auf alle Fälle zweckmäßiger gewesen, den englischen
Tert zu geben und eine prosaische Uebersetzung hinzuzufügen. — Die biogra-
phischen Notizen sind nicht sehr ausführlich, aber es ist im Grunde davon so
viel gegeben, als der deutsche Leser brauchen kann. Es versteht sich von selbst,
daß bei dem vorwiegenden Bestreben, die Kenntniß des Materials zu vermehren,
das Urtheil in den Hintergrund tritt; wo sich aber der Verfasser auf Urtheile
einläßt, können wir ihm meistens beitreten. Herr Büchner geht von einem
richtigen poetischen Princip aus, und er ist unbefangen genug, in den Er¬
scheinungen auch dasjenige gelten zu lassen, was mit dem Princip nicht un¬
mittelbar zusammenhängt. — Der Stil ist ziemlich nachlässig, und es hätte
der Wirkung des Buches nicht geschadet, wenn der Form mehr Recht wider¬
fahren wäre. — Trotzdem ist es ein gutes und nützliches Buch und hat um
so größeres Recht zu einer Stellung in der Literatur, da seit Bouterweck für die
zusammenhängende Darstellung des Gegenstandes sehr wenig gethan ist. —
Bei der Gelegenheit machen wir auf einen Artikel in der brockhausschen Ge¬
genwart aufmerksam, welcher die neueste englische Literatur behandelt, im Ganzen
mit viel Einsicht und Sachkenntniß, wenn auch mit etwas zu großem Aufwand
an überflüssigem Witz. —
Der Verfasser, ein langjähriger Freund des verstorbenen Dichters, erzählt
eine Menge interessanter und unterhaltender Details aus dem Leben und den
Gewohnheiten desselben. Einzelnes davon hat freilich nur für den Franzosen
Bedeutung, aber Balzac ist in der allgemeinen Literatur ein zu merkwürdiges
Phänomen, als daß wir nicht auch auf die Einzelnheiten seines Lebens unsre
Aufmerksamkeit richten sollten. Wenn wir uns von ihm ein Bild aus seinen
Schriften machen wollten, so erscheint er uns als ein hypochondrischer, bald
zur Schwärmerei, bald zur Blasirtheit geneigter Grübler, der jeder Lebens¬
beziehung so lange ernst und forschend ins Auge sieht, bis ihm vor dem scharfen
Sehen der Blick trübe wird, der so spitzfindig das Nervengeflecht auseinander¬
legt und zerschneidet, bis von dem Leben nur noch todte Atome übrig bleiben.
In der Wirklichkeit entsprach Balzac dieser Vorstellung keineswegs. Er war
ein jovialer, bis zur Frivolität leichtsinniger Wildfang, eine harmlose Natur,
die mit dem Leben spielte, ein hastiger und unruhiger Projectenmacher, der aber
selten im Stande war, bei irgend einem Entwurf längere Zeit stehen zu bleiben,
der, wenn ihm etwas fehlschlug, der erste war, darüber zu spotten; kurz im
vollsten Sinn Des Worts, was die Franzosen dem «zrMrit nennen. Wenn er
in seinen Romanen zuweilen das Leben mit einer Schärfe beobachtet, die uns
erschreckt, so hat er dagegen in der Wirklichkeit sich fortwährend täuschen lassen,
ohne über diese Illusionen irgend ein Mißbehagen zu empfinden; kurz eine
Sammlung der bizarrsten Widersprüche, für die man schwer einen Leitton
findet. Ehe wir den Versuch machen, uns wenigstens einigermaßen in diesem Ge¬
wirr zu orientiren, theilen wir einige Notizen aus dem vorliegenden Buch mit.
Balzac ging sehr selten ins Theater. In der Comödie franyais hat man
etwa dreimal in seinem Leben gesehen. Er war nicht im Stande, einem größern
Stück dauernd Aufmerksamkeit zu schenken, selbst wenn er sür den Dichter eine
besondere Vorliebe hegte. Als er -I8i0 sein erstes Drama: Vautrin, auf die
Bühne brachte, machteer zuerst die größten Anstalten, sich den Erfolg zusichern;
er setzte die größten Hoffnungen auf denselben und baute sich die fabelhaftesten
Lustschlösser. Das Stück fiel durch, wie kurz vorher V. Hugos BurggraveS
durchgefallen war; in beiden Fällen mit Recht. Aber Balzac ließ sich nicht
im geringsten dadurch stören. Sein Freund besuchte ihn Tags darauf in seinem
Landhaus, und schon hatte Balzac das Stück vollständig vergessen, schon war
er voll von neuen Projekten und Chimären; er wollte sich durch Verbesserung
der Gartencultur und dergleichen Millionen erwerben, und zwar in der aller-
kürzestenFrist. — Der große Erfolg seiner Schriften geht zum Theil von den
Frauen aus, die ihm Dank wußten, daß er unter allen Dichtern zuerst die
Fähigkeit zu lieben und geliebt zu werden über alle Grenzen des Alters aus¬
gedehnt hatte. Bei den frühern Romanschreibern mußten die Heldinnen jung
sein; sür Balzac fängt das Leben der Frau eigentlich erst im dreißigsten Jahre
an. Nebenbei hat er am meisten den Heroismus und die Größe der weiblichen
Natur gefeiert, und er hat selbst aus den Fehlern derselben geheimnißvolle
Tugenden herauszuschälen gewußt. — Sehr spaßhaft sind die Anekdoten über
seine.Methode zu bauen (z. B. in dem Landsitz les Jardieö), seine Zimmer mit dem
raffinirtesten weibischen Luxus anzufüllen, seine unregelmäßige und bizarre Lebens¬
weise, seine beständigen Nachtwachen, die Wuthausbrüche, ^die zuweilen mit
einer ganz wilden Energie erfolgten, um dann schnell vorüberzugehen, namentlich
aber über sein phantastisches Streben nach unermeßlichen Reichthümern. In
den monographischen Vorstudien zu seinen Werken ist vieles, was an Jean Paul
erinnert, wie denn auch in der That in der ^Komposition der beiden Dichter
sich eine große Aehnlichkeit findet. — Wir lassen hiermit das Buch bei Seite,
um von unserm Standpunkt aus auf den Gegenstand einzugehen.
Von den Belletristen der neuesten romantischen Schule in Frankreich ver¬
dienen, wenn man von einigen sehr feinen, aber nicht grade wirkungsreichen
Talenten absieht (z. B. Morimve, Musset, Bernard, Angler :e.), die meiste
Aufmerksamkeit Balzac und G. Sand. Dem ersten Anschein nach sind sie sich
durchaus entgegengesetzt. G. Sand ist der leidenschaftlichste Idealist, den man
,sich vorstellen kann, das Gefühl, die Leidenschaft scheint alle Beobachtung der
Wirklichkeit zu verschlingen, während sich Balzac mit einem Eifer in die empi¬
rische Wirklichkeit vertieft, dem kein anderer Schriftsteller gleichkommt, selbst
Thackeray nicht. Indeß bei näherem Zusehen entdeckt man viele Aehnlichkeiten,
zunächst in ihren Extravaganzen. Nehmen wir z. B. G. Sands Lelia,
Spindion, Gabriel und ähnliche Phantasiebilder, und halten dagegen Balzacs
Lo^us Lambert, Seraphitus und die sämmtlichen Novellen, die er im sogenann¬
ten mystischen Buch gesammelt hat, so finden wir fast gar keinen Unterschied.
Die glühend gläubige Frau phantasirt grade ebenso, wie der grübelnde Skeptiker;
bei jener ist der Glaube ein Rausch, bei diesem der Zweifel. Aber auch ihre
bessern Seiten haben etwas Verwandtes. Was G. Sand betrifft, so geben
wir gern zu, daß ihr Enthusiasmus zuweilen eine hinreißende Wirkung aus¬
übt, aber doch nur in seltenen Fällen. Ihre raffinirten Erfindungen, nicht
blos die Lelia, sondern auch Jndiana, Jacques (den Balzac auch könnte ge¬
schrieben haben), is 8Lor6tairö inlimo, Leo Leoni :c. machen aus uns grade
einen so unangenehmen Eindruck, wie Balzacs Phantasien aus der pariser Ge¬
sellschaft, z. B. pers Koriot. Dagegen besitzt G. Sand einen wunderbaren
Reiz, wo sie das helle Sonnenlicht ihrer Poesie aus die Realität fallen läßt,
wie in dem Teufelssumpf, in Horace, Andr6 :c., so wie uns Balzac dann am
meisten ergreift, wenn er seine Sonde nicht an die Ueberschreitungen des Ver¬
standes und des Willens, sondern an das menschliche Herz legt, wie Eugvnie
Grandet. Die beiden Dichter sind gewissermaßen zwei Pole, die nur in der
Vereinigung etwas Ganzes bilden, denn die bloße Synthese ist ebenso unfrucht¬
bar wie die bloße Analyse. G. Sand gesteht selbst zu, daß Balzac einen sehr
großen Einfluß auf sie ausgeübt hat; einen nützlichen, denn er schärfte ihr
Auge für die Farben des Lebens, einen schädlichen, denn er steigerte ihre Neigung
zu,in Raffinement und gab ihr die Mittel an die Hand, es noch weiter auszu¬
dehnen. Im Stil verdient G. Sand unzweifelhaft den Vorzug, denn Balzacs
Schreibart steht auch in den besten Fällen hart an der Grenze des Barocken.
Aber auch hier kann man sagen, daß Balzac dann am besten schreibt, wenn
er einmal seinem Gemüth freien Spielraum läßt, und G. Sand, wenn sie ihre
leidenschaftliche Rhetorik mäßigt. Wäre Balzac nicht von jener Großmanns¬
sucht besessen gewesen, welche die Erbkrankheit unsers Jahrhunderts zu sein
scheint, hätte er nicht das eitle Streben gehegt, aus seinen individuell sehr
interessanten Bildern ein Totalbild der menschlichen Gesellschaft zusammen¬
zusetzen, und hätte er nicht in der Weise Jean Pauls seinen Stil systematisch
corrumpirt, so würden wir ihm vielleicht classische Werke verdanken; und wäre
G. Sand nicht von dem Dämon der Philosophie besessen gewesen und hätte
sich durch ihn in das Gebiet der Reflexion verleiten lassen, wozu sie nur ein sehr
mäßiges Talent besitzt, so würde gleichfalls die Zahl ihrer vollendeten Schöpfungen
größer sein. Indessen diese Wünsche sind eitel, da bei der einen die Emanci¬
pation des Weibes, bei dem andern in, i'öcdöicdö 6«; l'absow das ursprüng¬
liche Motiv waren, und auch bei der beschränkten Anerkennung, die sie gegen¬
wärtig verdienen, stehen sie doch weit über allen ihren Mitbewerbern.
Alle Welt stimmt darin überein, daß das Duell nicht unbestraft bleiben
könne, nur sind über die Art und Weise, wie sich die Gesetzgebung dieses Gegen¬
standes anzunehmen habe, die Meinungen sehr verschieden. Die Gesetzgebungen
verschiedner Länder über das Duell stehen sich in ihren Principien oft diame¬
tral gegenüber. Ebenso ist die Gesetzgebung eines einzelnen Landes mit der
öffentlichen Meinung oft im vollsten Widerspruch. Es ist aber höchst mißlich,
wenn die Gesetzgebung die öffentliche Meinung, die Sitte, Lebensart und den
Charakter einer Nation erst bilden soll, wie dies unter andern so schlagend die
Geschichte der lex ?apia ?oppasa beweist.
Man darf Sitten und Lebensart nicht vermittelst der Gesetze verändern.
Will man Veränderungen vornehmen, so muß man durch Gesetze reformiren,
was durch Gesetze besteht, und durch die Lebensart ändern, was durch diese
eingeführt ist. Die gemeinsame Ueberzeugung, das Bewußtsein, welches die
Glieder eines Volkes gemeinsam durchdringt, der Volksgeist, ist die Quelle der
Gesetzgebung; und wenn das Gesetz über die Ungleichheit der Individuen zur
Herrschaft gelangen muß., so wird eben durch den Stoff, um so zu sagen,
welcher der Volksgeist, die Sitte, sür die Gesetzgebung ist, das Individuelle
einer Nation in der Gesetzgebung wiederum zu seiner Geltung gelangen und
gelangen müssen. Wie aber der individuelle Geist einer Nation sich nach und
nach verändert, und die eckig auftretenden Besonderheiten sich im Verkehr mit
andern Nationen ebenso wie bei einem einzelnen Menschen im Verkehr mit
andern allmälig abschleifen; wie er sich allmälig dem Einfluß allgemeinerer,
über den abgeschlossenen Charakter des Volkes.hinausgehender Gedanken öffnet
und seine anfängliche Schroffheit und Jsolirung verliert, so verschwindet mit
der fortschreitenden Civilisation oft was früher eine Eigenthümlichkeit, eine
Sitte einer Nation war, so wird die Sitte oft zur Unsitte, und auch die
Gesetzgebung, das treue Abbild von der verschiedenen Bildungsstufe eines
Volks wird diesen verschiedenen Entwicklungsstufen nachfolgen müssen. Wir
werden zeigen, daß zwar in der Vorzeit das Duelliren eine Sitte war, daß es
jedoch in der Gegenwart bei uns zur Unsitte geworden ist, so wie, daß der bis¬
herige Widerspruch zwischen Gesetzgebung und Volkssitte nur dadurch gelöst
werden kann, daß sich die öffentliche Meinung gegen das Duell allgemein
ausspricht. Bisher hat man überall anerkannt, paß dieser Gegenstand unlös¬
bare Schwierigkeiten sür den Gesetzgeber biete. So erklärte Friedrich der
Einzige in seinen Me-noires :c. Band "b, daß die Gewalt der größten Könige
nichts vermocht habe gegen diese barbarische Sitte des Zweikampfes; der Kar¬
dinal Richelieu lest. >Me. Oap. III. see. 2., daß man bis jetzt vergebens auf
die Früchte gewartet habe, welche die Gesetzgebung über das Duell habe tra¬
gen sollen, und de Felice: Ovals et'Kumkmitö etc. I.V. p. 26i, daß die Könige
und Fürsten alle Kräfte vergeblich angewendet hätten,, um diesem abscheulichen
Wahnwitz zu. steuern. Ebenso sprechen sich zahlreiche Concilienschlüsse, päpst¬
liche Decrete und Gesetze der Kaiser und Fürsten aus.
Nach der, dem longobardischen Gesetze .einverleibten Constitution Karls
des Großen sollen die, welchen sie den Zweikampf gestattet, sich mit Stöcken
schlagen. Das Capitular Ludwigs des Frommen läßt die Wahl frei, sich mit
Stöcken, oder mit scharfen Waffen zu schlagen, später schlugen sich nur die
Leibeigenen mit Stöcken. In Proceßsachen begann der Kläger mit der Er¬
klärung vor dem Richter, dieser oder jener habe diese oder jene That begangen,
und der andere antwortete, indem er ihn der Lüge zieh. Hierauf befahl der
Richter den Zweikampf. Bald galt es als Grundsatz, daß man, sobald man
der Unwahrheit beschuldigt wurde, sich schlagen müsse. Traten mehre Kläger
auf, so mußten sie sich vergleichen, die Sache durch einen unter ihnen auszu¬
machen, konnten sie aber nicht einig werden, fo wurde dies durch Zweikampf
entschieden. Wenn ein Zeuge gegen jemand ausgesagt hatte, so konnte der
Gegner ihn zum Zweikampfe zwingen, wurde der Zeuge darin überwunden, so
war es ausgemacht, daß die Gegenpartei einen falschen Zeugen gestellt hatte.
Der Zeuge konnte vor seiner Vernehmung erklären: er wolle sich nicht für
eine fremde Sache schlagen, wenn ihn aber der ihn Anrufende vertheidigen
wolle, so werde er die Wahrheit sagen. Die Partei sah sich auf diese Weise
genöthigt,, für den Zeugen zu kämpfe^ und wenn sie überwunden wurde, verlor
sie den Proceß nicht, sondern der Zeuge wurde verworfen. Gundobald be¬
stimmte daher: „Wenn der Beklagte Zeugen stellt, um zu schwören, daß er
das Verbrechen nicht begangen, so kann der Kläger einen der Zeugen zum
Zweikampfe herausfordern, denn es ist billig, daß, wer sich zum Eide erboten
und erklärt hat, er wüßte die Wahrheit, keine Schwierigkeit mache, für seine
Behauptung zu kämpfen." Wenn ein Urtheil verkündet wurde, mußten alle
Richter zugegen sein, um sich zu demselben zu bekennen, wurde aber dagegen
appellirt, so mußte wiederum der Zweikampf bestanden werden.
In dieser Form, des s. g. gerichtlichen Zweikampfes, erscheint das Duell
als Gottesurtheil, Tacitus «<zrmg,n, e. 2. Der Papst verwarf jedoch später
dieses Entscheidungsmittel in Processen und empfahl dafür den Reinigungseid
(pru-KAlio carwniea,). Mit der Aufhebung deS Faustrechts und der Einführung
bessrer Justiz verschwand das Duell als Gottesurtheil nach und nach.
Das Duell bestand ferner in einer zweiten Form; nämlich in der, daß es
als Mittel diente, eine erfahrene Beleidigung zu rächen. Im ältern deutschen
Rechte ist das Duell in dieser Form noch nicht bekannt; es wurden dergleichen
Fälle durch gütliche" Beilegung zu schlichten gesucht; nur für mündliche Be-
leidigungen und leichte Thätlichkeiten bestand die Selbstrache fort, jedoch nicht
in Form deS Duells. Das heutige Duell ist erst aus der Ansage der Fehde
im Mittelalter in derselben Weise nach und nach entstanden, als es in der
Form als Gottesurtheil nach und nach gleichzeitig verschwand. Erst im 16.
Jahrhundert entwickelte sich der heutige Begriff des Duells vollständig und da¬
mit entstanden auch Gesetze über dasselbe. Die Reichsgesetze bestraften Selbst¬
hilfe und Zweikampf wegen des Vermögens; aber weder die peinliche Hals¬
gerichtsordnung von 1331, noch die Reichspolizeiordnung von 1577, noch ein
Landesgesetz-enthält Bestimmungen über den Ehrenzweikampf, und das Reichs¬
kammergericht hielt im 16. Jahrhundert dies Duell für ebenso erlaubt, als die
Vertheidigung deS Lebens. , '
Zu Ende des 16., besonders im 17. Jahrhundert war das Duelliren in
Frankreich zu einem solchen Unfug und Greuel entartet, daß z. B. in den
ersten acht Regierungsjahren Heinrichs IV. i>000 Edelleute im Zweikampfe ge¬
blieben waren. Die vielfachen damaligen Beziehungen und der Verkehr mit
Frankreich, namentlich der dreißigjährige Krieg, verbreiteten diese Entartung
auch nach Deutschland. Damals erstanden Duellgesetze in fast allen Ländern
Europas, unter denen sich besonders die von Frankreich auszeichnen. Hein¬
rich IV. erließ zuerst 1602 im April ein Edict, welches die Grundlage der
spätern französischen Gesetzgebung wurde. Es gründet sich aus das System
des Ehrengerichts, in welchem Genugthuung für erhaltene Ehrenbeleidigungen
nach dem Gewissen von Standesgenossen gewährt wurde und die strenge Be¬
strafung der dennoch stattfindenden Duelle. Wichtiger noch als das Edict von.
1602 ist das von Sully abgefaßte vom Juni 1609, welches zwar im Wesent¬
lichen das frühere erneute, jedoch mehr Ehrenstrafen als Todesstrafen anwen¬
det. Wer jemand an seiner Ehre beleidigt, verliert auf sechs Jahre sein Amt,
seine Ehren, Würden und Pensionen, muß während dieser Zeit vom Hofe
entfernt bleiben, kann innerhalb dieser Zeit auch nur durch die Begnadigung
des Königs von dieser Strafe befreit werden, sofern er gleichzeitig dem Belei¬
digten die vorgeschriebene Genugthuung gewährt. Wer aber dergleichen Wirr-
den, Pensionen :c. nicht hat, verliert ebensolange ein Drittel seiner Einkünfte,
und wenn er auch diese nicht, oder weniger als 200 Livres hat, erhält er
Zweijährige Gefängnißstrafe. Das Duell wurde gleichzeitig für infam und als
gegen die wahre Ehre laufend bezeichnet. Unter den spätern Edicten ist
besonders noch daS vom Juli 1643, vom August 1679 und 28. October 1711
Zu erwähnen, welche jedoch im Wesentlichen die frühern Bestimmungen nur
mit mehr Eingehen in das Detail wiederholten. Diese Gesetzgebung ist bis
letzt die einzige, welche das Wesen des Duells wahrhaft erkannt, und gegen
dasselbe geeignete Mittel angewendet hat. Sie lehnt sich an die öffentliche
Meinung, läßt nur Standesgenossen über Ehrensachen competent urtheilen,
schließt den gewöhnlichen Rechtsgang als ungeeignet aus und gewährt durch
die Ehrcnurtheile der Standesgenossen ' dem Beleidigten diejenige Genug¬
thuung, die selbst das Duell nicht zu leisten vermochte.
Trotz der manigfaltigen und eigenthümlichen Verhältnisse, die zu erörtern
zu weit führen würde, welche hauptsächlich aber darin bestanden, daß Marschälle,
Ehrenrichter und Adel dem Duellverbor ungünstig waren, hatte diese Gesetz¬
gebung doch einen solchen Erfolg, daß er als vollständig hätte bezeichnet wer¬
den tonnen, wenn nicht die Fürsten zu nachsichtig und mit Begnadigen zu frei¬
gebig gewesen wären.
Die neuere Gesetzgebung von Frankreich, der cones pvnsl von 1791 und
1810, haben das System der Straflosigkeit des Duells angenommen. Im
Königreich Baiern wurde in dem 1813 publicirten Strafgesetzbuche das neuere
französische System ebenfalls angenommen und das Duell straflos gelassen;
die Mangelhaftigkeiten dieses Systems stellten sich jedoch bald ein und 1819
trug die Ständeversammlung auf Abänderung desselben und auf ein Duell¬
gesetz und dabei namentlich auf Ehrengerichte an, ließ jedoch unter Umständen
das Duell noch zu. Das Ehrengericht, bemerkte der Referent des Ausschusses,
sei seiner Natur nach Friedensgericht, gelingt die gütliche Vereinigung nicht,
so erkenne es nach summarischer Cognition, gebiete Ruhe und verurtheile den
einen oder beide Theile, gebe Verweise und verhänge Geld- oder Arreststrafen;
in wichtigen Fällen haben die Parteien das Recht, vor einem andern Ehren¬
gerichte die Revision nachzusuchen (Verhandlungen der II. Kammer 1819.
Band III. S. 22z ff.).
Die preußischen Gesetze vom 17. September 1632, 6. August 1688,
28. Juni 1713 beruhen alle auf dem Grundsatze, daß der gewöhnliche Justizweg
wider den Beleidiger, für den Beleidigten ein genügendes Ehrenrettungsmittel
und zugleich ein hinreichendes Surrogat für das Duell bilde, weshalb das
Duell mit scharfen Strafen belegt wurde. Zugleich bestimmten sie aber auch
Strafen gegen den Beleidiger, welche sehr geeignet waren, dem Beleidigten
Genugthuung zu verschaffen und gleichzeitig von dem Zweikampfe abzuhalten
und z. B. nach § 11 des Edicts von 1683 in Entsetzung der Charge, Geld¬
buße, Gefängniß, Landesverweisung und Verdickung des Degens bestanden;
bald mußte der Jujuriant sich vor versammeltem Richtercollegium aufs Maul
schlagen, oder sich vor demselben gleiche Schläge, als er ausgetheilt, von dem
Beleidigten gefallen lassen, daneben auch schriftlich und mündlich erklären, daß
er unbesonnener, brutaler Weise losgeschlagen mit der Bitte, der Beleidigte
möge es ihm vergeben. Mitunter mußte selbst der Beleidiger kniend Abbitte
thun. Diese Gesetze kamen jedoch wegen allzumilder Nachsicht nicht zur vollen
Ausführung, und man hoffte alle Schwierigkeiten zu beseitigen, indem man
bei Entwerfung des allgemeinen Gesetzbuchs für die preußischen Staaten ein
Ehrengericht als Surrogat für das Duell einführen wollte. Diese Bestim¬
mungen wurden jedoch gestrichen, und es wurde nur der, die Strafbestimmungen
enthaltende Abschnitt in das allgemeine Landrecht aufgenommen und gleichzeitig
eine Privatgenugthuung durch Ehrenerklärung, Widerruf und Abbitte ange¬
ordnet. Im Jahre 1811 wurde aber auch diese aufgehoben, indem man an¬
nahm, daß dieselbe gleichzeitig mit in der öffentlichen Strafe enthalten sei.
Damit hatte man aber den richtigen Gesichtspunkt gänzlich verlassen, da
es dem Manne von wahrer Ehre weniger auf Bestrafung des Beleidigers, als
vielmehr auf Zurücknahme der Beleidigung ankommt, und wenn diese Gesetz¬
gebung keine nachtheiligen Folgen hatte und die Fälle der Verletzung der
Duellgesetze immer seltener wurden, so lag dies weniger in der Art der Gesetz¬
gebung, als vielmehr darin, daß überhaupt das Duell lo der neuern Zeit
seltener geworden ist, und dieser Umstand ist grade ein Beweis dafür, daß in
dem gegenwärtigen Jahrhundert zur Unsitte geworden ist, was vor Jahrhun¬
derten Sitte und Gewohnheit war, daß das gegenwärtige Jahrhundert das
Unsittliche, Unmoralische, Unreligiöse, daS Unvernünftige des Duells erkannt
hat und nach einem Surrogate für dasselbe verlangt, was einzig und allein in
dem Ehrengerichte gesunden werden kann. Das hat die preußische Gesetz¬
gebung denn auch bereits in den Verordnungen vom 20. Juli 1843 und
27. September 18L5 richtig erkannt, wenn auch noch nicht genügend gelöst
und auch nur für das Militär angeordnet.
In das neuere Strafgesetzbuch vom 14. April 1831 sind wiederum nnr
Strafbestimmungen, nicht dagegen das Ehrengericht und überhaupt keine Be¬
stimmungen zur Genugthuung des Beleidigten aufgenommen. Das Gesetzbuch
geht überhaupt auf Neparirung der verletzten Ehre, auf die verletzte Persön¬
lichkeit gar nicht ein, denn die dz 163 angeordnete öffentliche Bekanntmachung
kann durchaus nicht dafür angesehen werden, es hat den römischrechtlichen
Grundsatz angenommen und den deutschrechtlichen ganz bei Seite liegen
lassen. Während nämlich die Römer einem Geschmähten auf keine Weise
Vorwürfe machten, es rein von ihm abhängen ließen, ob er sich um die In¬
jurie kümmern wollte, während sie durch Privatklagen die Verletzung verfolgen
ließen, betrachteten die Deutschen jeden beschimpften und gescholtenen Mann
als ehrlos, beraubten thu aller Vorzüge, schlössen ihn von Turnieren, Zünften
et. so lange aus, als er die erlittene Schmach auf sich ungeahndet ließ; Jn-
jurienprocesse anzustellen wurde für schimpflich gehalten, und so blieb nichts
übrig, als sich mit dem Degen Genugthuung zu verschaffen. Vgl. Mittermaier,
Bemerkungen über Duellgesetze, S. 1L3. In den Motiven des Strafgesetzbuchs
heißt es »un: „Die verletzte Cyrenhafligkeil soll durch den Beweis der persön¬
lichen Tapferkeit und der Todesverachtung bewährt werben; dies ist der
Grundgedanke. Wenngleich nun ohne weiteres anerkannt werben muß, daß
der Zweikampf vom religiösen Standpunkte aus ganz zu verwerfen und ebenso
in einer sittlichen Lebensordnung nicht zu vertheidigen ist, so muß doch als
eine Thatsache zugegeben werden, daß der Zweikampf im Einzelnen sehr oft
nicht zu vermeiden ist, wenn derjenige, welcher ihn ablehnt, nicht zugleich seine
Lebensstellung vernichten oder beeinträchtigen will. Die allgemeinen Lebens¬
ansichten stehen hier in Conflict mit den allgemeinen sittlichen und rechtlichen
Lebensregeln. Die in den frühern Strafbestimmungen unverhältnißmäßig harten
Strafen, heißt es weiter, sind der Grund der gänzlichen Unanwendbarkeit der¬
selben gewesen; die Begnadigung hat vermittelnd zwischen dem Gesetze und
der allgemeinen Volksanschauung eintreten müssen und es sind die schwersten
erkannten Strafen in verhältnißmäßig gelinde verwandelt worden." Deshalb
sei die Strafbarkeit des Duells anerkannt, jedoch die Höhe der Strafe in einer
Weise bemessen, daß sie dem im Volke lebenden Rechtsbewußtsein entspreche
und daß sie, wenn sie demnächst erkannt werde, auch vollstreckt werden könne.
Aber auch jetzt noch rechnen die Duellanten von vornherein aus Begna¬
digung und nach dem zu urtheilen, was die Geschichte des Duells seit Jahr¬
hunderten lehrt, nicht ohne Hoffnung, auch ist mir bis jetzt kein Fall bekannt,
wo die gering bemessene Strafe an Duellanten vollstreckt worden wäre. Die
preußische Gesetzgebung über das Duell kann also auch noch nicht als abge¬
schlossen betrachtet, muß vielmehr nach dem Folgenden als lückenhaft und
mangelhaft bezeichnet werden. Der Charakter, den diese Gesetzgebung trägt, ist
ein polizeilicher, indem er derartige Excesse nicht gestattet, indeß wegen der
Natur derselben nur geringer bestraft. Zur Sühne der erhaltenen Beleidigung
wird gleichzeitig auf den Rechtsweg verwiesen, der sich jedoch wie schon die
mttgetheilte Geschichte des Duells darthut, als unzureichend ergibt. Ehren¬
sachen eignen sich gar nicht zu einer juristischen Discussion und sind sehr oft
gar nicht Verletzung eines positiven Rechtes, sie können mithin auch gar nicht
nach dem Gesetz und daher nicht von dem Richter, welcher seinen Ausspruch
aus positiven Gesetzen schöpft, sondern nur von Standesgenossen und nach
Slandesgefühlen beurtheilt und richtig bemessen werden.
Wie sich aus den mitgetheilten Motiven ergibt, kommt es der Gesetzgebung
gar nicht daraus an, die verletzte Ehre wieder herzustellen und somit Selbst¬
hilfe unnöthig zu machen, als vielmehr nur die unsittliche Handlung zu be¬
strafen, indem sie stillschweigend annimmt, daß daraus die Reparatur jener
Verletzung von selbst folge. Die Ehre wird allgemein für ein höchstes Gut
anerkannt, dennoch wirb nach preußischem Recht z. B. der Diebstahl an einem
geringen Gegenstande oft härter bestraft als der Rund an der Ehre, während
dem Beleidigten kein Mittel gegeben ist, seinem verletzten Ehrgefühl Genug¬
thuung zu verschaffen. .Wie ich schon einmal oben erwähnte, ist der Beleidigte
oft weit davon entfernt, aus die individuelle Meinung deS Beleidigers von
seinem.Werthe ein Gewicht zu legen, ebensoweit ist der ehrenhafte Mann
entfernt, auf Bestrafung des Beleidigers zu dringen, ihm kommt es in der
Regel nur darauf an, seinen Standesgenossen darzuthun, daß er nicht gesonnen
sei dergleichen erfahrene Beleidigungen zu ertragen. Der Jnjurienproceß (und
dieser kann im preußischen Recht unter Umständen zu einem vom Staatsanwalt
erhobenen Anklageproccsse werden) sagt einmal Stelzer, neues Archiv für Cri-
minalrecht Band in. S. 448, „ist die Glocke, mit welcher die Schande, welche
man erlitten zu haben glaubt, erst recht ausgeläutet wird," und Mittermaier
sagt einmal, „es ist dem nicht juristischen Verstände wol zu verzeihen, wenn
er an dem Jnjurienprocesse keinen Gefallen findet, da selbst Rechtsgelehrte die
Unzweckmäßigkeit der Klage rügten." Nichtsdestoweniger ist nach § KL3 und
132 ff. des Strafgefetzbuchs der Rechtsweg das einzige Ehrenrettnngsmittel,
welches die Gesetzgebung dem Beleidigten als Surrogat für das bestrafte
Duell gibt. Wie wenig dieser Weg aber im Stande ist, dies zu sein, darüber
hat die öffentliche Meinung aller Länder seit Jahrhunderten bereits entschie¬
den. Das bisher als Ehrenrettungsmittel angesehene Duell ist von der Gesetz¬
gebung mit Strafe bedroht, und so ist der unglückliche Unterthan in der übel¬
sten Situation, von dem Staate in die traurige Lage versetzt., entweder das
mit Strafe bedrohende Duellgesetz, zu befolgen und den Makel seiner Ehre zu
ertragen, oder ab^r das Gesetz zu verletzen und seine Ehre wieder herzustellen,
da sich das alleinige Mittel, welches der Staat gewährt, hierzu als durchaus
ungeeignet erwiesen hat.
So stehen sich die öffentliche Meinung und das Gesetz direct gegenüber und
der Unterthan rathlos zwischen beiden. Kann aber nicht der Unterthan ge¬
rechterweise verlangen , daß der Gesetzgeber , wenn er das Duell verbietet,
auch Anstalten treffe, durch welche er zu dem gelange, was er nach den Ge¬
setzen der Gerechtigkeit beanspruchen darf? Strafen gegen den Zweikampf, sagen >
sehr.treffend die Motive zum hair-löcher Strafgesetzbuch von -1831 S. 180.,
lassen sich nur dann erst zur Vollziehung bringen, wenn die nothwendige Vor¬
bedingung in Erfüllung gesetzt ist, kräftige Maßregeln nämlich , in denen der
Beleidigte Schutz wider die Beleidigung und ungesäumte vollständige Neparirung
der verletzten Ehre findet.
Hiernach ist also im preußischen Recht das Duell indirvct zur Nothwen¬
digkeit geworden, während alle Stimmen sich mehr und mehr dahin vereini¬
gen, daß dasselbe verschwinde. Da die jetzige Gesetzgebung und die durch sie
gegebenen Mittel nicht hinreichen, ein Surrogat für dasselbe zu sein, so er¬
hält das Vorurtheil, welches man noch immer theilweise sür dasselbe hat, nur
neue Nahrung und die Erfüllung deö allgemeinen Wunsches wird immer wei¬
ter in die Ferne hinausgeschoben. Während das Duell durch Verbreitung
richtiger Ansichten, wie die Erfahrung lehrt und wie ich oben schon ange-
deutet habe, immer mehr und mehr in Abstellung kommt, hat die Gesetzgebung
um so mehr dieMflicht, ein genügendes Surrogat an dessen Stelle zusetzen, was
den Anforderungen der öffentlichen Meinung entspricht, da das Ehrgefühl eben
auf dieser.Meinung, namentlich der der Standesgenossen beruht, da eS ein
geistiges Princip ist, welches nicht durch Bestrafung des Beleidigers, sofern eS
verletzt war, wieder hergestellt werden kann, und um so viel weniger, wenn die
Strafen rein polizeilicher Natur, nicht aber Ehrenstrasen sind.
Noch ist die Frage zu untersuchen, ob die Ehrenrichter unter Umständen
das Duell für zulässig erklären können, oder nicht. In jenem Falle hat man
gesagt, wenn dem Ehrengericht die Befugniß beigelegt werde, den Zweikampf
unter Umständen zuzulassen, so werde dadurch das Duell legalisirt und der
Ehrenrichter über den Gesetzgeber gestellt. Dieser Einwand^ ist an sich gerecht¬
fertigt, man vergißt jedoch dabei, daß eS in der That wol Fälle geben kann,
wo nach den persönlichen Ansichten der Parteien und den sonstigen Umständen
allerdings ein solches äußeres Mittel erforderlich scheint, um die gewünschte
Genugthuung zu gewähren, auch wird dies bei einem Gerichte, welches seine
Pflicht erfüllt, nur selten vorkommen; sodann trifft dieser Einwand nicht das
ganze Institut, sondern nur die Art und Weise der Einrichtung und Befug¬
niß derselben, womit das ganze Institut noch nicht beseitigt ist; die Ehren¬
gerichte werden vielmehr sehr wohlthätig wirken, wie bereits die mitgetheilte
französische Gesetzgebung gezeigt hat und sie werden es dann um so mehr, je
mehr sie die öffentliche Meinung für sich haben und durch dieselbe ihr Ansehn
vermehren und befestigen.
Schließlich will ich noch die Worte des Entwurfes des allgemeinen Ge^
setzbuchs Theil I. Abschnitt III. S- 311 anführen, in welchem ebenfalls auf die
Einführung des Ehrengerichts angetragen ist, ohne daß sie jedoch angenommen
und eingeführt wurde: daß die Meinung, so heißt eS daselbst, als ob die
Ehre eines. Offiziers oder Edelmanns gege.n eine wider sie unternommene Be¬
leidigung nicht anders, als durch Zweikampf gerettet werden könne, auf einem
bloßen Vorurtheile beruhe, weil es nicht in der Gewalt irgend eines Privat¬
manns steht, dem andern seine Ehre zu nehmen oder zu schmälern, daß dieses
Vorurtheil höchst widersinnig sei, weil der Beleidigte, indem er wegen der ein¬
gebildeten Kränkung Satisfaction sucht, es in die Gewalt des Beleidigers
stellt, ihm eine wirkliche zuzufügen; daß dieses Vorurtheil zugleich einen uner¬
laubten Eingriff in die Majcstätsrechte des Staats und des dem Landesherrn
allein zukommenden M8 vitsc- et reels enthalte; daß es ein Ueberbleibsel aus
den Zeiten der Ordalien und des Faustrechts sei; darüber sind Philosophen
und Geschichte längst einig. Es gibt aber Vorurtheile, die aller Macht der
Legislation trotzen und so allgemein verbreitet und begünstigt sind, daß, je mehr
die Gesetzgebung die Strafen der daraus folgenden Verbrechen erhöht, desto
zuverlässiger eine gänzliche Straflosigkeit dadurch erwirkt wird. Daß das
Duell in diese Classe gehöre, lehrt die Erfahrung fast aller Nationen. Solchen
Vorurtheilen die Macht der Gesetze gradezu entgegenzustellen, ist also vergeblich;
man muß vielmehr auf ihren Grund zurückgehen und diesen zu entkräften be¬
müht sein. Injurien, die einem Edelmann oder Offizier widerfahren, wirken
widrige Begriffe von seinem Charakter bei dem Publicum und insonderheit bei
seinen Standesgenossen. Die Genugthuung, welche dem Beleidigten im or¬
dentlichen Wege Rechtens, von den ordinären Gerichten verschafft werden kann,
ist nun schon einmal durch das gemeine Vorurtheil für unzureichend erklärt, und
derselben diejenige, die er sich durch den Zweikampf selbst verschafft, substituirt
worden. ES kommt also darauf an, an Stelle dieses letztern ein andres
Mittel zu finden, welches in den Augen deS Beleidigten und seiner Standes¬
genossen hinreichen Könnte, jenen widrigen Eindruck auszutilgen. Wenn die
Behandlung solcher Ehrensachen den eignen Standesgenossen des Beleidigten
ausgetragen wird, so muß dieser nothwendig geneigter werden, die Sicherheit
oder vermeintliche Rettung seiner Ehre Männern anzuvertrauen, denen er die
Tüchtigkeit nicht absprechen kann, aus eignem Gefühl, Kenntniß und Erfah¬
rung dergleichen Beleidigungen und die schicklichste Ahndung derselben richtig
zu beurtheilen.
Erst unter solchen Voraussetzungen können gegen ein dennoch unter- <
nommenes Duell strenge Strafen angedroht und wirklich verhängt werden, die
das Gefühl der Menschlichkeit empören, so lange dem Manne von Stande nur
die traurige Alternative, sich entweder der Ahndung der Gesetze oder der Ver¬
achtung seiner Standesgenossen und in manchen Falter» zugleich dem Verluste
seiner Bedienung ausgesetzt zu sehen, übrig gelassen wird.
Der Theil des spanischen Mittelamerikas, der früher das Königreich
Guatemala bildete, ist infolge der Revolutionen zu Anfang der zwanziger Jahre
in fünf Republiken, Guatemala, Costarica, Nicaragua, Salvador Und Hon¬
duras zerfallen, die einen Staatenbund bilden, so locker, daß er vorübergehend
auch schon ganz zerfallen ist. Den Staat Honduras trennt von dem karaibischen
Meer das Gebiet der Moskitos, so genannt nach einem aus indischem und Neger¬
blut gemischten wilden Stamme. Das Gebiet ist ein langer Streif von einer
Breite von 21 und einer Länge von 27 geographischen Meilen, der sich von
der Mündung des Flusses San Juan im Süden bis zum Kap Gracias a Dios
im Norden hinzieht und zwischen diesen beiden Punkten die ganze Meeresfläche
östlich von Honduras in sich schließt. vertheidigten noch die Moskito¬
indianer die Unabhängigkeit ihres Gebiets gegen die damals in Amerika all¬
mächtigen Spanier, aber einige Zeit nach der Eroberung Jamaikas durch die
von Cromwell ausgehende Flotte stellte sich der König der Moskitos mit der
Zustimmung der vornehmsten Häuptlinge und seines Volks unter den Schutz
Englands, welches das Protectorat annahm und es seit jener Zeit nicht nur
ununterbrochen ausgeübt, sondern auch auf derr Hafen San Juan de Nikara¬
gua ausgedehnt hat, indem es behauptete, daß dieser Hafen, an dem äußersten
Ende des Staates Nicaragua gelegen, zum Moskitogebiet gehöre und ihn
am 1. Januar militärisch besetzte. Seit, der Zeit bildet er einen Theil
des Königreichs Moskitia und führt den Namen Gre^own. Die Könige
oder Häuptlinge dieses Staats sind gelegentlich in Jamaika gekrönt worden,
wie z. B. der gegenwärtige, welcher dabei die Namen Robert Karl Friedrich
empfangen hat.
Mit Ausnahme des Staates Nicaragua, der eine erfolglose Verwahrung
gegen die Einverleibung von San Juan de Nicaragua einlegte, bekümmerte
sich niemand um das Gebahren der Engländer in jenen vom Weltverkehr ent¬
legenen Gebieten. Anders jedoch wurde es, als die Vereinigten Staaten in
den Besitz von Kalifornien kamen und die Entdeckung der dortigen reichen Gold¬
lager dem Verkehr der atlantischen Staaten mit dem neuerworbenen Territorium
einen ungeahnten Aufschwung gab. Der Seeweg um das Cap Horn, die
einzige Verbindungsstraße nach der neuen Erwerbung, war zu lang und gefähr¬
lich, als daß sich nicht das Bedürfniß nach einer kürzeren Linie alsbald hätte
fühlbar machen sollen und die Blicke der Amerikaner sielen jetzt aus Central-
amerika, durch welches sich die kürzeste Verbindung zwischen dem atlantischen und
dem stillen Meere herstellen ließ, und wo der Fluß San Juan und der
Nicaraguasee die günstigste Gelegenheit zur Anlegung eines schon früher pro-
jectirten Kanals darboten. Die Regierung von Nicaragua trat bereitwillig
einer Gesellschaft amerikanischer Bürger alle Rechte ab, welche sie über die Ver¬
kehrlinie besaß. Aber die Mündung des San Juan wurde von der Stadt
Greytown beherrscht und diese war zwar nicht grade im Besitz der Engländer,
stand aber doch unter der Herrschaft eines ihrer Schutzverwandten, des halb¬
wilden Königs der MoSkitoindianer, der sich in ihren Händen leicht zu einem
blinden Werkzeug benutzen ließ. Damit nun England ^nicht seinen Einfluß
anwende, um den Bau des projectirten Kanals ganz zu vereiteln, oder wenig¬
stens über denselben durch sein Protectorat besondere Rechte oder eine un¬
bedingte Controle zu erlangen, wurde es von großer Wichtigkeit für die Ver¬
einigten Staaten, mit England über die Grenzen, bis zu welchen dasselbe sein
Schutzrecht über den Moskitostaat auszudehnen gewillt sei, zu einer Verstän¬
digung zu gelangen. Erst im November 1849 wurde diese angebahnt. . Mr.
Lawrence war damals eben erst als Vertreter der Vereinigten Staaten in Eng¬
land angekommen und einer seiner ersten Schritte war, an Lord Palmerston
eine Note zu richten, in welcher er keineswegs das englische Protektorat in
Frage stellte, sondern anfragte, ob die englische Regierung geneigt sei, gemein¬
schaftlich mit den Vereinigten Staaten die Neutralität eines schiffbaren Kanals,
einer Eisenbahn oder jeder andern Verbindung zwischen dem atlantischen und
dem stillen Ocean zu gewährleisten und ob die englische Regierung beabsich¬
tige, Nicaragua, Costarica, die sogenannte Moskitoküste oder irgend einen andern
Theil Centralamerikas zu occupiren oder zu colonisiren. Darauf erwiderte Lord
Palmerston, daß England keineswegs beabsichtige, die genannten Staaten oder
Gebietstheile zu occupiren oder zu colonisiren und sprach die Bereitwilligkeit
seiner Regierung aus, gemeinschaftlich mit den Vereinigten Staaten die Arbei¬
ten einer Gesellschaft zu unterstützen, welche die Herstellung einer von allen
Völkern zu benutzenden Verkehrsstraße über die Landenge beabsichtige. Unter
der ausdrücklichen Bedingung, daß die Verbindungslinie zu allen Zeiten dem
Handel aller Nationen unter gleichen Bedingungen offen sei, zeigte sich die
englische Regierung bereitwillig, daS Zustandekommen derselben dadurch zu er¬
leichtern, daß sie die Sicherung der Arbeiten während der Ausführung und
nach ihrer Vollendung übernahm und sich damit einverstanden erklärte, die
Verkehrsstraße unter den Schutz internationaler Verträge zu stellen, damit die
Benutzung oder der Fortbestand derselben niemals durch einen Kriegszustand
gefährdet werde.
Diese beiden Depeschen bildeten den Ausgangspunkt der spätern Unter¬
handlungen über den sogenannten Clayton-Bulwerschen Vertrag vom 19. April
1830 und sind, wie sich später zeigen wird, diese Unterhandlungen in demselben
Geiste fortgeführt und abgeschlossen, wie sie begonnen worden.
In dem ersten Artikel dieses Vertrags, welcher den Kern desselben bildet,
und um dessen Bestimmungen sich der ganze Streit dreht, verpflichten sich die
beiden contrahirenden Regierungen nach dem Wortlaut: „Niemals Befesti¬
gungen, welche den Kanal beherrschen oder in seiner Nachbarschaft liegen, zu
errichten, niemals ein Hcrrschaftsrecht über Nicaragua, Costarica, die Mos¬
kitoküste oder irgend einen Theil von Centralamerika zu beanspruchen oder aus¬
zuüben und ebensowenig von einem Schutzrecht, welches einer der beiden Staa¬
ten gewährt oder in Zukunft gewähren könnte, oder von einem Bündniß, wel¬
ches einer derselben mit irgend einem Staat oder einem Volke abgeschlossen
hat oder noch, abschließen dürfte, Gebrauch zu machen, um derartige Befesti¬
gungen zu errichten oder zu erhalten, oder um Nicaragua, Costarica, die Mos-
kitoküste oder irgend einen andern Theil von Centralamerika zu occupiren, zu
befestigen oder zu colonisiren, oder ein Herrschaftsrecht über diese Staaten und
Gebiete zu beanspruchen oder auszuüben."
So wenig waren beide Regierungen der Meinung, daß dieser Vertrag ein
Aufhören des englischen Protectorats über die Möskitoküste oder eine Rückgabe
der Stadt Greytown oder San Juan de Nicaragua nach sich ziehe, daß Web¬
ster, damals amerikanischer Staatssekretär, gegen den englischen Gesandten,
Mr. Crcimpton, ausdrücklich erklärte: „Er sei keineswegs der Meinung, daß die
Vereinigten Staaten dafür hielten, von dem Augenblick des Abschlusses deS
Vertrags vom -I9.^April -I8S0 habe Großbritannien jedem Recht der Ein¬
mischung in die Angelegenheiten Greytowns oder der Moskitoküste entsagt."
Andrerseits erklärte Lord Palmerston beim Abschlüsse des Vertrags, daß die
englische Regierung die Moskitoküste weder zu occupiren, noch zu befestigen
und colonisiren oder Herrschaftsrechte darüber auszuüben gedenke, ließ aber aus¬
drücklich die Frage über die politischen Beziehungen zwischen England und der
Moskitoküste unberührt. Was die Rückgabe von Greytown an den Staat
Nicaragua betrifft, so dachte die damalige amerikanische Regierung so wenig
daran, auf ihr,' als auf einer natürlichen Folge des Clayton-Bulwerschen Ver¬
trags zu bestehen, daß sie nach dem Abschluß desselben noch besondere Unter¬
handlungen mit England über die Abtretung von Greytown und des angren¬
zenden Gebiets an einen der centralamerikanischen Staaten fortführte und da¬
bei nicht etwa von den Bestimmungen des Clayton-Bulwerschen Vertrags
ausging, sondern von den Bedingungen, die England aufstellte Und die mit
dem Vertrag nicht das mindeste zu thun hatten, indem es nämlich die Abtretung
abhängig machte von der Tilgung einer Entschädigungsfvrderung, die es
an Costarica hatte und von der von diesem Staat zu übernehmenden Ver¬
pflichtung, die Moskitoindianer auf gewissen Punkten des von ihnen bewohnten
Gebiets, welche niemals anders als nominell unter spanischer Herrschaft ge¬
standen haben, unbehelligt zu lassen. Auch hierbei erkannte Mr. Webster das
Schutzrecht Englands über die Moskitoküste und die Stadt Nicaragua indirect
an, indem er bemerkte, daß die Vereinigten Staaten kein directes Interesse an
irgend einer Nicaragua und die Moskitoküste betreffenden Frage hätten, so weit
dieselbe nicht die Erbauung eines Kanals und die freie Schiffahrt auf dem¬
selben berühre.
Die Einigkeit zwischen den Vereinigten Staaten blieb ungestört, bis die
schwache Negierung des Präsidenten Pierce den Annerationsbestrebungen der
demokratischen Partei freieren Lauf ließ als je zuvor. In Mittelamerika machte
sich der amerikanische Gesandte bei der Republik Nicaragua, Mr. Borland, zu
ihrem Sprecher. Als er am -Is. September 1833 von dem Präsidenten der
Republik feierlich empfangen wurde, hielt er eine Rede, welche man wol als
Programm der Politik, welche die jetzt in den Vereinigten Staaten Herr-
sehende Partei den übrigen Staaten gegenüber zu befolgen gedenkt, betrachten
kann. Er entwickelte zuvörderst die bekannte Monroedoctrin, wonach das
amerikanische Festland nicht wejter von europäischen Mächten colonistrt werden
dürfte und erklärte, daß die Vereinigten Staaten entschlossen wären, diese
Doctrin in aller Strenge aufrecht zu erhalten. Ziemlich offen bot er der Re¬
publik Nikaragua eine Art Protektorat der Union an. Daß sich die Ver¬
einigten Staaten unrechtmäßiger Usurpation schuldig machten, wollte Mr. Bor¬
land nicht zugeben. Bezahlten sie doch ihre Gebietserwerbungen schon seit
einem halben Jahrhundert mit baarem Gelde. Mit Mexico hätten sie zwar
Krieg, geführt und ihm zwei seiner schönsten Provinzen entrissen; hätten sie
ihm aber nicht das ganze Land umsonst nehmen können und hätten sie ihm
nicht für diese beiden Staaten — nur zwei von einundzwanzig! — 13 Millionen
silberne Dollars bezahlt? Mit großer Beredtsamkeit setzte darauf der Redner
die Vortheile der Vereinigung mit Nordamerika auseinander und fügte schlie߬
lich hinzu: „Wundert ihr euch, daß, wir unsre Regierung lieben und stolz auf
dieselbe sind? Da wir überzeugt sind, daß sie die beste und freieste Regierung
auf der Welt ist, so kann es gewiß nicht befremden, noch ein Unrecht sein,
daß wir wünschen, auch andere Völker möchten ihre Principien billigen, ihre
Formen sich aneignen und an ihren Vortheilen Theil nehmen. Wird man
uns Vorwürfe machen, daß wir diese Vortheile vornehmlich den uns benach¬
barten Nationen wünschen, die mit uns dieselben Sympathien und Interessen
haben?" Dieselbe Sprache führte sein Nachfolger Mr. Daniel Wheeler: „unsre
Hoffnungen, unsre Schicksale stehen in so genauer Verbindung miteinander, daß
die Interessen der beiden Republiken identisch sind. Unsre wahre Politik ist
Nicht nur zu verkünden, sondern auch gegen die ganze Welt zu behaupten, baß
die amerikanischen Nationen sich selbst regieren können, und daß keine aus¬
wärtige Macht das Recht hat, sich in unsre Angelegenheiten und Interessen
Zu mischen. Die Würde, die Rechte, die Sicherheit, die Ruhe aller verlangen
«S und der Gedanke einer Intervention, oder eines Colonisationsversuchö einer
auswärtigen Macht aus dieser Seite des Oceans ist ganz unzulässig." Be¬
gnügte sich dieser Staatsmann mit der Ausstellung der Monroedoctrin, so
sprachen sich amerikanische Blätter um so deutlicher über die weitern Conseguenzen
aus. Eines derselben, das in vertrauten Beziehungen zu den Negierungökreisen
steht, äußerte in einem Artikel über die im Werke befindlichen Cvlonisations-
versuche durch Nordamerikaner in Mittelamerika: „Die Folgen dieser Coloni-
sation sind einfach und unvermeidlich. Indem die Colonie von San Juan de
Nicaragua oder Greytown ausgeht und durch ihre Ausdehnungskraft um sich
greift, macht sie sich zur Beherrscherin des stillen Oceans; hat sie diese Linie
erst als Operationsbasis, so rückt sie nach Süden wenigstens bis an ven
AlthmuK von Panama vor und vereinigt sich im Norden, mit oder ohne Zu-
Stimmung der dazwischen liegenden Staaten, mit dem Süden der Vereinigten
Staaten und wandelt alles in einen integrirenden Theil der großen Union
um." Diese Theorie suchte man zuvörderst dadurch zu verwirklichen, daß man
die mittelamerikanischen und die nordamerikanischen Vereinigten Staaten durch
gemeinsame materielle Interessen in nähere Berührung miteinander brachte.,
18S3 begab sich ein ehemaliger Gesandter der Vereinigten Staaten in Central-
amerika, Mr. Squier, nach Honduras und unterhandelte mit der Negierung
dieser Republik im Namen einer Actiengesellschaft über die ausschließliche Con¬
cession für eine die beiden Meere» verbindende Eisenbahn, welche in Omoci
anfangen und in der Fonsecabucht ausmünden sollte. Er erlangte nicht nur
die Concession, sondern es wurde ihm auch der ganze zum Bau der Eisen¬
bahn nothwendige Grund und Boden und die Insel Zacate in der Fonsecabucht
abgetreten. Das Unternehmen war unter die Garantie der Regierung der Ver¬
einigten Staaten gestellt, welche als Protectorin auftrat. Letzterer sollte eine
Küstenstrecke am karaibischen Meere abgetreten werden, welche zu dem Land¬
strich gehörte, den England für den König der Mvskitoindianer beanspruchte.
Der Republik Honduras scheint sehr viel an dem Abschluß dieses Unternehmens
gelegen gewesen zu sein, denn der Präsident General Cabanaö drang in die
Nationalversammlung, den Vertrag bald möglichst zu ratiftciren, da es vom
größten Vortheil für den Handel, den Ackerbau, den Reichthum und die
Civilisation des Landes sei. Gleichzeitig schickte er einen außerordentlichen
Bevollmächtigten nach Washington, welcher angeblich mit nichts Geringerem
beauftragt war, als die Einverleibung der Republik Honduras in die Vereinigten
Staaten zu vermitteln. So weit war man allerdings noch nicht, denn der Ge¬
sandte begnügte sich zu wünschen, daß „die Vorsehung die beiden Völker durch
das unauflösliche Band des Interesses und gemeinsamen Gedeihens vereinigen
möge." Dies war jedoch nicht der erste Colonisationsversuch, denn schon 4 839
hatte der König der Moskitos ein Stück seines Königreichs an zwei Ameri¬
kaner, Sheppard und Haley, verkauft, die es 1843 wieder an einen Bürger
des Staats Virginien unter der Bedingung abtraten, daß dieser eine ameri¬
kanische Actiengesellschaft zur Colonisation des Landes und zur Ausbeutung der
Bergwerke begründe. Wir wissen nicht, ob außer der oben erwähnten Garantie¬
übernahme diese verschiedenen Unternehmungen von der amerikanischen Negierung
sonst noch begünstigt wurden, aber wenn dieser auch keine Verletzung des
Völkerrechts zuzuschreiben' ist, so stehen jedenfalls die Privatpersonen, welche in
Mittelamerika Kolonien anzulegen versuchten, nicht mehr aus dem Boden der
mit England abgeschlossenen Verträge. Außerdem ist es mit den Privatunter¬
nehmungen amerikanischer Bürger in fremden Staaten eine eigne Hände.
Anfangs wol wirthschaften sie auf eigne Hand, aber unversehens nimmt
sich die Staatenregierung ihrer an und aus dem Privatunternehmen wird
eine Staatssache, wie eS z. B. bei der Anneration von^ Teras der Fall
war.
Sei dem wie ihm wolle, jedenfalls hatte, wenn jemand ein Recht hatte
Beschwerde zu führen, England dieses Recht und nicht die Bereinigten Staaten.
Grade diese aber beschwerten sich über Verletzung der mit England abgeschlosse¬
nen Verträge und speciell des Clayton-Bulwerschen Vertrags von 18S0. Ihre
Beschwerdegründe, die sich gegen das ganze Verhältniß des Moskitogebiets
zu England richteten, waren folgende:
1. Daß England vor April 1850 in Besitz der ganzen Küste von Central-
amerika vom Rio Hondo bis zum Hasen San Juan de Nikaragua nebst der
Insel Nuatan mit Ausnahme des Theiles zwischen dem Sarstun und dem Cap
Honduras gewesen sei.
2. Daß die Regierung der Vereinigten Staaten' nicht begreife, unter
welchem Titel England, welches den größten Theil dieser Besitzungen 1786
aufgegeben, sich derselben später wieder bemächtigt habe; ebensowenig wisse sie
genau, zu welcher Zeit das Protectorat Englands über Moökitia wieder in
Kraft getreten sei, indem die Regierung der Vereinigten Staaten die erste
Nachricht davon 1842 von einem amerikanischen Agenten erhalten habe;
außerdem hätten Capitän Bonnv Castle und andere Autoritäten die Moskito¬
küste nicht als den Fluß und die Stadt San Juan de Nikaragua in sich
schließend dargestellt, welches letztere die Spanier immer als einen Ort von
besonderer Wichtigkeit und als einen Schlüssel der beiden Amerikas betrachtet
hätten.
3. Daß die Regierung der Vereinigten Staaten erachte, Spanien habe kraft
des Vertrags von 1786 ein Recht, dagegen zu protestiren, daß sich England
auf der Moskitoküste festsetze oder das Protectorat über dieselbe annehme; daß
England durch seinen Vertrag mit Mexico anerkannt habe, die früher spanischen
Colonien ständen zu andern Staaten in demselben Verhälmiß, wie Spanien
selbst, und erbten die Vortheile der alten von dem Mutterlande abgeschlossenen
Verträge; daß die Negierung der Vereinigten Staaten stets den Anspruch
Großbritanniens aus alle von diesem in Centralamerika behaupteten Besitzungen
bestritten hätte, mit Ausnahme des-Theiles von Belize, welcher zwischen dem
Rio Hondo und dem Sibun liegt; daß sie stets dem Rechte Großbritanniens,
ein Protectorat über Moskitia herzustellen, widerstanden habe, und daß sie
mit großem Staunen und Bedauern erfahren, daß. britische Streitkräfte 1848
die Behörden von Nikaragua, welche Hafen und Stadt von San Juan de
Nicaragua kraft altspanischer Rechte besessen, vertrieben und dann daselbst die
MoSkitiaflagge aufgezogen hätten.
i. Daß Mr. Monroe als Präsident der Vereinigten Staaten 1823 in
einer öffentlichen Botschaft dem Congreß angekündigt hätte, baß europäische
Mächte in Zukunft auf dem amerikanischen Festland keine Kolonien anlegen
dürften.?
5. ^Daß kein Anspruch Großbritanniens, im Namen oder unter der Auto¬
rität de,r Mvskitoindianer zu handeln, gut begründet sein könne, da dieser
Stamm,' selbst wenn er nie von Spanien unterjocht worden, ein Stamm von
Wilden 'wäre, welche nach der Praxis und den Grundsätzen aller europäischen
Nationen, welche jemals auf dem amerikanischen Festland gelebt, keinen
Rechtsanspruch hätten, auf dem von ihnen bewohnten Gebiet als unabhängige
Staaten zu zählen. Sie hätten auf dieses Gebiet nur einen Anspruch
bloßer Occupirung, indem das Gebiet das Eigenthum seines Entdeckers oder
selbst der Entdecker einer wenn auch noch so entlegenen Gebietsstrecke auf dem¬
selben Kontinent sei. Und nur dieser könne diesen Rechtsanspruch ans Bewohnung
durch the Indianer durch Kauf aufheben in dem Maße, wie die Fortschritte
der Niederlassung der Weißen es nothwendig machten.
Und da endlich Großbritannien durch den Vertrag von 1850 erklärt habe,
Moskitia oder Centralamerika weder M colonisiren, zu befestigen, zu occupiren
noch Herrschaftsrechte über dasselbe zu beanspruchen, sei es dadurch verpflichtet,
sein Schutzrecht über das Volk und das Gebiet der Moskitos aufzugeben und
außerdem Nuatan, eine zu Honduras, einem centralamerikanischen Staate, gehö¬
rige Insel, die aber dennoch neuerdings von Großbritannien colonisirt oder
occupirt worden sei, herauszugeben.
Man muß fast lächeln, wenn man diese Beschwerdegründe näher ansieht
und kann kaum glauben, daß die amerikanische Regierung sie im Ernst vorge¬
bracht hat. Ihr Benehmen ähnelt ausnehmend dem eines Raufboldes, der nach
einem Streit lüstern ist und nur nach den frivolsten Gründen herumsucht, um
eine Herausforderung noch allenfalls zu rechtfertigen. Ueberhaupt sind die
Schritte des amerikanischen Ministeriums in dieser Angelegenheit als ein Noth¬
behelf des Präsidenten Pierce zu betrachten, der durch sein principloses und
schwankendes Benehmen bei allen Parteien in Mißachtung gesunken war und
als .letzte Rettung die eroberungssüchtigen Elemente der demokratischen Partei
zu sich herüberzuziehen suchte. >
Die britische Negierung antwortete auf die Beschwerden Buchanans eben¬
so würdevoll, als versöhnlich. Hinsichtlich des ersten Punktes konnte England
mit Recht behaupten, daß es zwar ein Schutzrecht über Moskitia ausübe, aber
keine Besitzungen daselbst habe und abgesehen von der daraus folgenden voll¬
kommenen Grundlosigkeit der Beschwerde, jede Erklärung oder Vertheidigung
von Schritten verweigern müsse, die es vor fast vierzig Jahren gethan und
die kein Recht oder keine Besitzungen der Vereinigten Staaten beeinträchtigten.
Würden doch die Vereinigten Staaten, wenn England unter ähnlichen Ver¬
hältnissen eine Erklärung von ihrer Regierung verlangte, über ein solches An-
sinnen erstaunt sein, während das amerikanische Volk es nicht mit der Würde
und Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten verträglich halten würde, eine
derartige Erklärung abzugeben. Hinsichtlich des zweiten und dritten Punktes
bemerkte die englische Regierung: „In Betreff der Behauptung, daß die Re¬
gierung von Altspanicn in Bezug auf das Moskitoprotectorat einen Anspruch
oder ein Einmischungsrecht habe, ist hervorzuheben, daß seit dem Frieden
von 1813 diese Regierung niemals dieses Protectorat in Frage gestellt hat;
und was die Behauptung betrifft, daß Großbritannien durch seinen Vertrag
mit Mexico als ein Princip anerkenne, daß die mit Spanien seinerseits ein¬
gegangenen Verpflichtungen nothwendigerweise aus jeden Bruchtheil der spani¬
schen Monarchie übergingen, der später zum selbstständigen Staate geworden, so
weise die Negierung diese Annahme mit aller Entschiedenheit zurück. In seinem
Vertrag mit Mexico habe England einfach stipulirt, daß englische Unterthanen
im unabhängigen Mexico nicht schlimmer gestellt sein sollten, als in Mexico,
so lange es eine spanische Provinz war. Daß die Rechte, welche englische
Unterthanen unter spanischer Herrschaft genossen, jetzt wieder durch besondern
Vertrag mit der Republik festgestellt werden, beweist eben, daß die Bestimmungen
früherer Verträge nicht selbstverständlich auf daS neue Verhältniß übertragen
würden, da sonst eine neue Verpflichtung überflüssig gewesen wäre. Aber selbst
wenn die mittelamerikanischen Republiken von Spanien das Recht ererbt hätten,
gegen das Protectorat Englands über die Moökitoküste Einwand zu erheben,
so hatten sie sich doch Jahre lang aller Einwendungen enthalten und als sie
dieselben erhoben, geschah es unter ähnlichen Rechtsansprüchen von mehren zu
gleicher Zeit, so daß es nach Aufgeben des Protectorats von Seiten Englands
zweifelhaft blieb, wem die Herrschaft über das aufgegebene Gebiet zufallen
würde — eine Ungewißheit, welche nur zu Zwistigkeiten führen konnte, die
dem Interesse aller dabei betheiligten Staaten schädlich sein mußten. Die Ver¬
einigten Staaten selbst hatten früher das britische Protectorat und sogar die Be¬
setzung von San Juan de Nicaragua stillschweigend anerkannt. Bis Ende 1849
ist das ganze Verhältniß niemals in Verhandlung mit der englischen Regierung
berührt worden. Als 1830 der Präsident der Vereinigten Staaten dem Congreß
verschiedene Papiere über die centralamerikanischen Angelegenheiten vorlegte,
erklärte der Staatssecretär ausdrücklich, daß sich die Negierung von Nikaragua
1847 wegen der beabsichtigten und 1848 wegen der stattgefundenen Besetzung
von San Juan de Nicaragua durch die Engländer an die nordamerikanische
Regierung gewendet, aber keine Antwort empfangen habe; daß ebenso das
Verlangen des Generals Castellon. des Gesandten von Nicaragua, die Ver¬
einigten Staaten möchten wegen der Ansprüche, welche England im Namen
des Königs der Moskitoindianer auf Greytown erhoben, interveniren, wiederholt
zurückgewiesen worden sei. Daß, wenn auch die centralamerikanischen Staaten
ein Recht gehabt hätten, sich über das britische Protectorat über die Moskito¬
küste als eine Verletzung ihrer Souveränität zu beschweren, dieses Recht den
Vereinigten Staaten ganz und gar abging, darüber schwieg die englische Re¬
gierung schonend.
Der Versuch, die Aufstellung des Präsidenten Monroe als einen all¬
gemein giltigen Lehrsatz des Völkerrechts zur Anerkennung zu bringen, ist aller¬
dings von den Amerikanern mehrfach gemacht worden. Aber neue völkerrecht¬
liche Grundsätze können nur durch Zustimmung aller Betheiligten zur rechtlichen
Geltung gelangen und die einseitige Ansicht eines Präsidenten der Vereinigten
Staaten über ein völkerrechtliches Verhältniß kann für die Rechte europäischer
Staaten nicht im mindesten maßgebend sein. Ganz ebenso verhielt es sich mit
dem von der Vereinigten Staaten Regierung aufgestellten Grundsatz, daß Wilde
nach europäischem Völkerrecht keinen unabhängigen Staat bilden können, eine
Behauptung, die durch die Praxis der nordamerikanischen Republik, die den
Negerstaat Liberia stets als einen unabhängigen Staat behandelt hat, wider¬
legt wird. . .
Einen Schein von Stichhaltigkeit — und noch dazu blos auf den ersten
Blick — hat nur der zuletzt angeführte Beschwerdegrund, daß durch das Pro¬
tectorat über das Moskitogebiet und namentlich durch die Besetzung von San
Juan de Nicaragua der Vertrag von 1830 verletzt sei. Es läßt darüber der
Vertrag keinen Zweifel. Es muß hier zuvörderst hervorgehoben werden, daß
der Vertrag abgeschlossen wurde zu einer Zeit, wo das englische Protectorat
über die Moskitoküste schon seit Jahren bestand, ohne von der Negierung der
Vereinigten Staaten angefochten worden zu sein und dieses Protectorat ist daher
als das rechtsgiltige Verhältniß zu betrachten, welches der Vertrag nur in gewis¬
sen Schranken halten soll. Indem nun der erste Artikel desselben jedes Protecto¬
rat (oder Bündniß) verbietet, welches zum Zwecke hat, Befestigungen zu errichten
oder zu unterhalten, welche den projectirten Kanal beherrschten, oder in den früher
genannten mittelamerikanischen Staaten überhaupt Befestigungen anzulegen,
sie zu occupiren oder zu colonisiren, oder ein Herrschastsrecht über dieselben zu
beanspruchen oder auszuüben, erlaubt er selbstverständlich jedes andere Pro¬
tectorat, welches sich mit einem geringeren Maß von Befugnissen begnügt. Wie
früher schon erwähnt, herrschte bei der amerikanischen Regierung nach dem Ab¬
schluß des Vertrags darüber auch gar kein Zweifel und der Staatssecretär
Webster erklärte ausdrücklich, wie es die Ansicht seiner Regierung sei, daß
England keineswegs damit jedem Rechtsanspruch auf Einmischung in die An¬
gelegenheiten von Greytown oder die Moskitoküste entsage. Daß gegen das
britische Protectorat nichts einzuwenden ist, scheint sogar die gegenwärtige
amerikanische Negierung selbst anzuerkennen, indem Mr. Buchanan in seinen
Depeschen eigenmächtig das Protectorat in ein Besitzverhältniß verwandelt,
um darauf eine Beschwerde gegen die englische Negierung zu begründen. Um
aber nachzuweisen, daß die englische Regierung auch außerdem die Bestimmungen
des Vertrags von 18S0 verletzte, haben die Amerikaner sich auf das im Ver¬
trag gebrauchte Wort „occupiren" gestützt, welches sie so deuten mochten, daß
darunter jedes Niederlassen oder Wohnen, selbst wenn eS nicht unter dem Schutz
einer constituirten englischen Behörde geschieht, zu verstehen wäre, wogegen die
Engländer, als in zweifelhaften Fällen allein entscheidend, den diplomatischen
Sprachgebrauch für sich anführen, welcher, wie das Beispiel zahlreicher Verträge
mehr als genügend beweist, stets unter Occupation die Besetzung durch eine
bewaffnete Macht versteht, die während ihrer Dauer die einheimische Regierung
außer Function setzt. Uebrigens erklärt sich die englische Regierung auch jetzt
noch bereit, das,Protektorat über das Moskitogebiet aufzugeben, wenn dasselbe
in unbestrittenen Besitz eines der mittelamerikanischen Staaten gelangt und
Bürgschaft geleistet wird, daß die Moskitoindianer in gewissen von ihnen
bisher bewohnten Theilen unbehelligt blieben, wie denn bereits von Gro߬
britannien und den Vereinigten Staaten gemeinschaftlich zu diesem Zwecke ein
Vertrag mit der Republik Nicaragua eingeleitet wurde, der aber nicht zum Ab-
- hestu'ß kam.
Nicht so nachgiebig zeigt sich die englische Negierung hinsichtlich der Insel
Ruatan, auf der sich schon 17-42 die Engländer niedergelassen haben, die im
vorigen Jahrhundert stets als englische Besitzung bezeichnet wurde und von
der allerdings Centralamerika ' in den dreißiger Jahren Besitz zu ergreifen
versuchte, worauf dann aber die englische Flagge sogleich wieder dort auf¬
gepflanzt wurde. In englischem Besitz war die Insel auch bei Abschluß des
Vertrags von 1830, hinsichtlich dessen Mr. Clayton in einer Note vom i. Juli
<8S0 ausdrücklich erklärt, daß er durchaus keinen Bezug auf die englische
Niederlassung in Honduras, noch auf die kleinen Inseln in der Nachbarschaft
derselben habe, welche als ihre Dependenzien bekannt sind, zu denen auch
Ruatan zweifellos gehört, da der Vertrag von 18S0 stillschweigend über diese
Insel hinweggeht.
Eine Nation, die den Verpflichtungen andrer Staaten eine so ausnehmend
strenge Auslegung gibt, müßte, sollte man meinen, selbst mit äußerster Ge¬
wissenhaftigkeit darauf sehen, daß sie nicht selbst Verletzungen des Völkerrechts
begeht. Ueber dieses Bedenken hilft aber den Staatsmännern der Vereinigten
Staaten die Lockerheit des Bandes hinweg, welches die Union umschlingt und
das geringe Maß von Ansehen und Einfluß, welches die Eentralregierung in
den einzelnen Staaten genießt. Selbst bei dem besten Willen die Neutralität
aufrecht zu erhalten, entziehen sich sowol einzelne Staaten, wie Scharen von
beutelustigen Abenteurern mit Leichtigkeit der Controle der Eentralregierung,
und führen aus eigne Faust Krieg mit den Nachbarstaaten, mit denen die Union
als Staat in Frieden lebt. Beschwerden über solche Unternehmungen schenkt
die Centralregierung nur halb Gehör. Noch im vorigen Jahr durfte Oberst
Kinncy eine bewaffnete Expedition nach der Moskitoküste ausrüsten, und die
sich beschwerenden Minister von Nikaragua und Costarica erhielten zur Ant¬
wort, daß das Ganze nur eine Geschäftserpedition sei, und die Regierung keine
Veranlassung sehe, sich einzumischen. Zuletzt verbot sie allerdings die Abfahrt
der Erpedition, die aber dennoch eine günstige Gelegenheit zu finden wußte,
unter Segel zu gehen. Sie war nur die Vorläuferin der spätern Erpedition
Walkers, der gegenwärtig Centralamerika auf eigne Hand zu erobern versucht.
Will man dies nur als Privatunternehmen gelten lassen, für welche die Ne¬
gierung der Union keine Verantwortung trägt, so verweisen wir auf die Be¬
schießung von Greytown im Jahre 18Si als ein Beispiel, wie Beamte der
Regierung gegen Staaten verfahren, deren Unabhängigkeit die Staatsmänner
der Union gegen Angriffe von Seiten Englands mit so empfindlicher Eifersucht,;»
bewahren vorgeben. In Greytown war im Sommer vorigen Jahres ein Auflauf ge¬
wesen, wobei der bevollmächtigte Minister der Vereinigten Staaten in Centralame¬
rika einen des Mordes Angeklagten aus dem Gewahrsam der gesetzlichen Behörden
zu befreien versuchte. In dem Handgemenge wurde Mr. Borland geschlagen,
und verhaftet. Obgleich der amerikanische Gesandte selbst an den ihm wider¬
fahrenen Schaden Schuld war, indem er unbefugterweise in die amtliche
Thätigkeit der Ortsbehörden eingegriffen hatte, verlangte doch der mit dem
Kriegsschiff Cyane in dem Hafen erscheinende Capitän Hollins für diese
Beleidigung Genugthuung und gab der Behörde von Greytown eine Frist von
zwei Tagen vom 11. bis zum 13. Juli, ob sie um Verzeihung bitten oder sich
einer Beschießung aussetzen wolle. Ersteres weigerte sich die Behörde zu thun
und nun beschoß Copitän Hollins die kleine Stadt sechs Stunden lang und
setzte dann eine Anzahl Matrosen ans Land, welche die noch stehenden Trümmer
in Brand steckten. England, die Schntzmacht, beschränkte sich auf. eine Be¬
schwerde, woraus die.amerikanische Regierung den Capitän zwar abberief, ihm
aber durch den Marinesecretär versichern ließ, daß er das -Vertrauen des
Marinedepartements immer noch in demselben Grade genieße wie früher. Sie
durfte der öffentlichen Meinung gegenüber nicht mehr thun, denn diese fand das
.brutale Benehmen des Hollins nur energisch und höchst lobenswert!).
Während mit der Connivenz der amerikanischen Regierung neutrale Städte
bombavdirt werden und bewaffnete Freibeuterscharen ans Eroberungszüge gegen
befreundete Staaten ausgehen, erheben ihre Organe neuerdings wieder ein ge-
waltiges Geschrei, daß die englische Negierung angeblich der Negierung von
Costarica mit 200 Musketen aufzuhelfen versprochen hat. Sie wollen darin
eine Neutralitätsverletzung sehen, als ob die Vereinigten Staaten und nicht
blos Oberst Walker mit Costarica Krieg führte. Oder steht die Negierung
der Vereinigten Staaten etwa bereits im Begriff, Walker als einen unter
ihrer Fahne und mit ihrer Vollmacht kriegführenden Heerführer anzuerkennen?
Auf dieser Entwicklungsstufe ist die centralamerikanische Differenz jetzt an¬
gelangt. In den Verhandlungen zeigt sich von Seiten der Amerikaner durch¬
weg der Geist jener demokratischen Politik, die alles, was nicht zu dem Kreise
ihrer Gesinnungs- und Staatsgenossen gehört, für rechtlos erklärt, und für
ihre Ansprüche keine andere Grenze kennt, als das eigne Belieben. Derselbe
Mr. Buchanan, der sich so ängstlich besorgt zeigt, daß die Uebergriffe Englands
die Selbstständigkeit der mittelamerikanischen Staaten gefährden könnten, stellt
in einer Depesche vom 18. October -I8S6 folgende Grundsätze über das gegen
Spanien hinsichtlich Cubas zu beobachtende Verfahren auf, Grundsatze, die
nicht etwa blos seine Privatmeinung, sondern das Resultat einer 18Si abge¬
haltenen Conferenz sämmtlicher Vertreter der Vereinigten Staaten in Europa sind.
„Nachdem wir Spanien für Cuba einen seinen gegenwärtigen Werth
übersteigenden Preis angeboten haben und dieser nicht angenommen worden
ist, haben wir die Frage zu überlegen: gefährdet Cuba, so lange es im Besitz
von Spanien bleibt, ernstlich unsern innern Frieden und das Fortbestehen uns¬
rer geliebten Union? Wird diese Frage mit Ja beantwortet, so sind wir durch
jedes göttliche uno menschliche Gesetz gerechtfertigt, es Spanien zu entreißen,
wenn wir die Macht dazu haben; und zwar nach demselben Princip, welches
einen Einzelnen rechtfertigen würde, das brennende Haus seines Nachbars
niederzureißen, wenn durch dasselbe seiner eignen Wohnung die Gefahr der
Verbrennung drohte. Unter diesen Umständen dürfen wir uns weder vor den
Kosten, noch vorder Uebermacht scheuen, welche Spanien gegen uns ins Feld
führen könnte. Wir enthalten uns des Eingehens auf die Frage, ob der
gegenwärtige Zustand der Insel eine solche Maßregel rechtfertigt. Wir würden
jedoch*untreu unsrer Pflicht, unwürdig unsrer tapfern Ahnen sein und nie¬
drigen Verrath an unsern Nachkommen begehen, wenn wir duldeten, daß Cuba
afrikanisirt und zu einem zweiten Se. Domingo mit allen davon unzertrennlichen
Schrecken für Vie Weißen würde, und wenn wir duldeten, daß sich der Brand
auf unsre heimische Küsten ausdehnte und das schöne Gebäude unsrer ge¬
liebten Union gefährdete und zerstörte."
Dies sind die Principien, nach welchen die Vereinigten Staaten gegen¬
wärtig ihre auswärtige Politik regeln und eS muß dem Europäer einleuchten,
daß bei solchen Principien die Berufung auf das Völkerrecht einen ganz be¬
sondern Nachdruck haben muß!
(Nach or. Bartholds: „George von Frundsberg" und kriegswissenschastlichen Quel¬
len bearbeitet.)
Das Ritterthum hatte sein Ende erreicht. Nicht im Stande, der dämo¬
nischen Gewalt des Schießpulvers die Wage zu halten, war die Ritterschaft
allein unfähig geworden, den Glanz der Kaiserkrone und des deutschen Namens
zu schirmen, nur mit Widerwillen und trotzend aus Selbstherrlichkeit folgte sie
dem Rufe der Kaiser in gelockerten Lehnsverbande. Als aber Kaiser Maxi¬
milian I. „der Weißkunig und junge Held voll theurer Gedanken" erschien, um
Ordnung zu schaffen in Deutschland, welches ein eigenwilliger Adel, der Bür¬
gerstolz reicher Städte und eine Geistlichkeit, mächtig durch die Herrschaft der
Gemüther und irdischen Besitz, mehr als tausendfältig gespalten, da bedürfte
er einer starken, ihm ergebenen Heeresmacht, um seine Erbschaflshändel mit
Frankreich auszufechten wie den Frieden zu halten im Reich, und welche bei
Treue und Gehorsam auch stark genug wäre, dem gefurchteren schweizerischen
Fußvolk und der tapfern französischen Cavalerie entgegenzutreten. In solcher
Bedrängniß griff er hinein in das Mark seines Volkes, und ordnete kräftiges
Stadt- und Landvolk unter seine Fahnen, besoldete und waffnete es nach
schweizer Art, ohne Schild, mit langen Spießen, Hellebarden und Schlacht¬
schwertern, lehrte eS Glied und Rotte halten, die Spieße ausstrecken; adelige
und bürgerliche Hauptleute und Weibel führten es gegen den Feind. Lands¬
knechte nannte man die mannigfaltig bewaffneten, buntgekleideten Hausen,
Herr es war Volk vom Lande, ein Gegensatz des Gebirges, von wo die
Schweizer, nicht vom flachen Lande allein, sondern und vorzüglich auch aus
den rüstigen Handwerksgesellen der Städte. Nicht Lanzknechte send»sie zu
heißen, da sie im Unterschiede von der ritterbürtigem Lanze den Spieß führten.
Dieses Fußvolk hat den Ruhm deutscher Waffen länger als ein Jahr¬
hundert durch alle Welt getragen und aufs neue gezeigt, daß für das westliche
Europa wenigstens nicht der Reiter, sondern der Fußgänger der wahre Krieger
und Sieger ist. Dem unerschrockenen geschlossenen Haufen gegenüber mußte
der Ritter in seiner stürmischen Tapferkeit verloren sein.
Als die Form für die neue Miliz einmal gefunden und der Krieg zum
Handwerk geworden, begehrte sie für seinen Dienst wer bezahlen konnte, um
so mehr, alö neben der Tüchtigkeit auch die Treue des deutschen Kriegsvolkes in
Ehren stand.'Mag eS auch zu beklagen sein, daß die kriegerischen Gesellen so
oft für eine fremde Sache bluteten, so war es doch zu natürlich, daß in be¬
wegten Zeiten der Einzelne den Wechsel politischer Dinge nicht allzeit im Auge
behalten konnte. In allen Ländern Europas sehen wir die Landsknechte eine
Rolle spielen. „Das war" sagt ein geistreicher neuerer Geschichtschreiber „das
Zeitalter, wo die Truppen, auf welche Wasiljowitsch traute, wenn er seine
Moscoviter wider die Polen führte; welche Schweden der Union unterwarfen;
welche in England wider die Sache der Aorks auf derselben Stelle starben,
wo sie die Schlacht erwartet; welche sowohl Bretagne für die Krone Frank¬
reichs zweifelhaft machten, als sie es eroberten; sowohl die Vertheidiger, als
die Besieger von Neapel, die Ueberwinder von Ungarn, so lang sie wollten
und die es retteten, da sie mit der Beute »ach Haus gingen — diese Kriegs¬
führer und Entscheider in aller Welt sämmtlich Deutsche waren."
Dieses Zeitalter endigt mit dem bunten Völkergemisch des dreißigjährigen
Krieges, und dann nimmt das Kriegswesen abermals eine neue Gestalt an. Das
bauschige Wams schwindet zur knappen Uniform, statt der Spieße kommen
Feuergewehre auf, einem Herrn schwort fortan der Soldat, verkauft er seine
Treue für immer: in den stehenden Heeren der gekräftigten Fürstenmachl. —
Geist, Einrichtungen und Sitten der Landsknechte sind durch ihre Auf¬
fassung des Waffendienstes so eigenthümlich, daß wir sie weder früher noch
später in irgend einem Heere wieder finden: ein militärisches Gemeinwesen, in
welches der Kriegslustige nach Lust und Neigung eintritt, frei von Zwang¬
gesetz und Pflichten, in welchem er Leib und Leben gegen Sold und Beute in
sorgfältig stipulirter Uebereinkunft auf so und so viel Zeit feil zu bieten kommt.
Keine Werbekünste bringen den ungebundenen Bürger und Bauern von Werk¬
statt und Pflug als einen geängsteten Recruten zu fürstlichen Fahnen, wie die
Aufrichtung der Regimenter in anschaulichen Bilde zeigen soll. Dieser ge¬
denken wir die Schilderungen der Gerichtsverfassung und der Kampfesart folgen
zu lassen, um endlich in der Zügellostgkeit und Ausartung der Landsknechte
auch dem Schatten als unzertrennlichem Begleiter aller menschlichen Erscheinungen
gerecht zu werden. —
Sobald ein Kriegsherr sich veranlaßt fand, ein Heer aufzubringen, mußte
er sich zunächst an einen geeigneten Vermittler wenden, in der Person eines
schon berühmten Kriegsmannes, gleichviel, ob adeligen oder bürgerlichen Her¬
kommens. Er bestellte ihn zu seinem Feldobersten mit dem Patent, ein Regiment
Knechte aufzurichten und übersandte zugleich den Artikelbrief, wie es mit Sold
und Verfassung zu halten. Auf solchen Bescheid eröffnete in Aussicht reichen
Erwerbs der Oberst, falls er nicht von dem Fürsten die benöthigten Summen
erhalten, seinen Credit bei Freunden und Kaufleuten, zur Noth verpfändete und
versetzte er Hab und Gut, Frauenschmuck und Silbergeschirr, (wie Herr George
von Frundsberg zu seinem rühmlichen Zuge nach Italien 1326.) ein Heer
ZU werben. — Zugleich beschickte der Oberst seine Kundschaft an rüstigen
Kriegsleuten, und hatte sein Name guten Klang, so konnte er wol gar, wie
dieser deutsche Held, mit einem Schlage die ganze abenteuerliche Brüderschaft
'
von Rittern, Hauptleuten und Knechten aufbringen; dann ließ er, nachdem er
seinen Stellvertreter im Regiment und die Hauptleute über die Fähnlein mit
Vorsicht gewählt, auf Straßen und Märkten die Werbung umschlagen, und
gewöhnlich strömte es haufenweise zu, wie ein schwäbischer Chronist in seiner
derben Sprache sagt: „wenn der Teufel Sold ausschreibt, so fleugt und schneit
es zu, wie die Fliegen im Sommer, daß sich doch jemand zu Tode verwundern
möchte, wo dieser Schwarm nur alle her kam und sich den Winter erhalten
hat." Doch war eS darum keineswegs verlaufenes Gestndel oder schimpfliche
Gesellen, welchen die Fähnlein der frommen Gemeine Zuflucht bieten sollten.
Nur Leute von einer gewissen Wohlhabenheit konnten angenommen werden,
denn es mußte ein jeder Wams und Schuhe, Blechhaube, Harnisch, Schlacht¬
schwert, Hellebarde oder langen Spieß, obendrein wol gar ein Stück Geld
mitbringen, stark, rüstig und unbescholten sein, wollte er in des Hauptmanns
Musterrolle aufgenommen werden, wenn nicht dringende Kriegesnoth auch mit
armseligeren Knechten, die nur verzweifelten Muth im Herzen, vorlieb nahm. Aber
bei alledem hatte es keine Noth, kriegslustige Bursche, zerfallen mit geistlicher
und weltlicher Obrigkeit, überdrüssig des Landfriedens und nach fröhlichem Feld¬
leben verlangend, hatte Deutschland und vor allem Schwaben, die gepriesene
Mut-ter frommer Landsknechte, allzeit genug; auch wessen Handwerk grade nicht
ging, mochte der Trommel folgen, wie der Waiblinger, Maler und Schnitzer
von Heiligenbildern, ein riesiger Bursche und brotlos, seitdem man daheim den
Glauben geändert. Es ist ja überdies zu allen Zeiten und besonders., wann die
Gemüther aufgeregt, kein Mangel gewesen an den ruhelosen, überreichen
Naturen, welche bei einförmiger Tagesarbeit zu Taugenichtsen übersprudelnd
durch freien Spielraum ihrer Kräfte in Kampf und Gefahr zu Helden werden.
Es waren allerdings unter den Reihen ^des deutschen Fußvolks größtentheils
städtische Handwerker, aber es fochten auch Adel und vornehme Kriegsmänner,
Söhne wohlhabender Patricier und ein tüchtiger gemüthvoller Bürgerstand,
empfänglich für jeden edleren Aufschwung des Geistes, sangreich, fromm und
ehrbar in der Landsknechte Mitte. Wehe der hochmüthigen Chevalerie von
Frankreich, wenn sie in den heißen Schlachttagen Italiens nicht Hufschmiede
und Schuster gehabt hätte, die sür die Bayards sich wagten und ein doppelt
Wehe, als sie bei Pavia den Spießen der Verachteten gegenüberstanden!
Mit einem Zehrpfennig auf den Weg versehen, verliefen sich nach vor¬
läufiger Bekanntmachung deS Artikelsbriefes die gewordenen Haufen wieder bis
zum Stelldichein. Hier wurde genaue Musterung gehalten durch den fürstlichen
Musterherrn, einen gar vornehmen und erfahrenen Kriegsmann und Land¬
knechtsbrauches wohl kundig, ob nicht etwa nach wohlbeliebter Art die Haupt¬
leute mehr Namen in der Liste, als Knechte auf den Beinen hätten, „Finan-
zirenö halber", ob ein jeder mit eigen Wehr und Waffen versehen, auch alle
rüstig und wohlgemuth, keine Krummen und Lahmen darunter. Wer aber für
einen andern oder mit entliehener Waffe unter dem Joch durchginge, sollte für einen
Schelmen erachtet werden. War alles in Ordnung befunden worden, so wurde
das Regiment versammelt, nicht wie ein Regiment im heutigen Sinne, ein nach
Anzahlverhältnissen bestimmter Heerestheil, sondern der Inbegriff sämmtlicher
Fähnlein, so viel'da waren, zur frommen Gemeine. Auf Trommelschlag stießen
die Fähnlein im Ringe zusammen, und hoch zu Roß mitten darinnen haltend
begrüßte mit abgezogenem Baret der Oberst in kurzer und herzlicher Rede seine
lieben, ehrlichen Kriegsleute. Darauf wurde mit lauter Stimme der Artikel¬
brief verlesen, wie ein jeder gegen Gott und Kriegsherrn, Oberst, Hauptleute
und alle Kriegsämter, vor Feind und Waffenbrüdern, gegen Frauen, Priester und
Eigenthum sich als tapfrer und frommer Landsknecht zu verhalten, und was er
dagegen auch an Sold und Rechten zu empfangen habe, worauf die verlesenen
Punkte in die Hände des Amtmanns vom Regiment, des Schultheißen zur Stelle
feierlich beschworen wurden. Dann stellte der Oberst der Reihe nach die hohen
Aemter vor, als seinen Lieutenant im Regiment, den Proviant- und den Quartier-
meister und endlich die seltsamste Figur des ganzen Haufens, den öffentlichen
Ankläger, die tausendäugige, überall gegenwärtige Fehmgewalt: den furchtbaren
Profoß, der halb ernst, halb gutmüthig und komisch sich dann auch wol mit warnen¬
dem Sprüchlein einzuführen pflegte. Zugleich ward den Fähndrichen, bewähr¬
ten, großgewachsenen Kriegsleuten in voller Mannesblüte, ihr wichtiges Amt
vertraut, daß sie Leib und Leben bei dem Fähnlein lassen, in Schlacht und
Sturmallzeit tapfer voranschreiten, auch auf Ehr und gute Haltung des ganzen
Haufens fleißig Acht haben sollten.
Nach Erledigung alles dessen, was zur Gemeinsamkeit deS ganzen Regi¬
ments gehörte, zog jedes Fähnlein., unter seinen Hauptleuten auf einen be¬
stimmten Platz, damit nun die kleinen Republiken sich im Innern gliederten,
und mit einer Achtung vor dem gemeinen Manne, wie sie dem Führer ehrlichen
Kriegsvolks so wohl ansteht, eröffnete auch der Hauptmann sein wichtiges Amt in
einer Ansprache, indem er sich durch Entbietung alles Rechts oder Fugs und Ver¬
heißung frommer, tapferer, vorsichtiger Führung des Wohlwollens der Mannschaft
versicherte und allen ein gleicher Hauptmann und Mitbruder in Freud und Leid
zu sein versprach, auch gegen die andern Aemter des Fabricius zu Gehorsam
und Gefälligkeit entbot, und wenn endlich auch deren Vorstellung und eigne
Empfehlung geschehen, so schickte der versammelte Ring sich an, aus seiner Mitte
die niederen Aemter und Befehlsstellen aufzuschießen, wie es zum Recht und
Brauch seines freien Gemeinwesens gehörte.
In dem Verhältniß der Obern zum Kriegsvolk waltete waffenbrüderliche
Gleichstellung, nicht mit der falschen Popularität der Schwäche zu verwechseln
und erklärlich, wo jene noch durch keine besondere Standesehre über den ge-
meinen Mann erhoben waren, keine gesetzliche Autorität ihre Personen heiligte,
und nur die allerentschiedensten Persönlichkeiten so tüchtigen, aber auch so
schwierigen und keine Willkür leidenden Untergebenen gewachsen waren. Erst
in späterer Zeit trennen sich in scharfer Ständesonderung Offizier und Soldat,
in den gemißhandelten Werbeheeren des vorigen Jahrhunderts erreicht sie ihren
höchsten Grad, bis humanere Systeme auf das ursprünglich deutsche Verhält¬
niß zurückgelenkt haben und es in den erhöhten Stimmungen froher oder ge¬
fahrvoller Momente zeitweise in sein volles Recht eintritt.
Angebundene Freiheit des Costüms und persönliche Erscheinung jedes
Einzelnen nach Geschmack und Vermögen bezeichnen unsren Kriegsmann jener
Zeit, wo man noch wenig von gleicher Kleidung und Abrichten wußte. Die
Heere waren viel zu theuer zum wohlgefälligen Augendienst jener Zeit, auch
mochte man noch Mannigfaltigkeit leiden und jedermann schwur bei seinem
Barte. Die Trachten ?er Landsknechte in den überkommenen Abbildungen
sind ergötzlich anzuschauen, möchte sich auch der heutige Militärgeschmack darob
entsetzt haben! — Da hat jeder an und um, wie es ihm eigen und gefällt,
der mit Pickelhaube, jener mit Helm, ein dritter mit Hut oder kleidsamen Feder-
baret, da steht man ein geschlitztes und enggeknöpftes Wams, hier hat einer eine
weite Pluderhose, jener sich enges rothes Beinkleid zugelegt und nach glücklicher
Schlacht, oder wenn sie bei ergiebiger Plünderung mit „längster Elle" gemessen,
stolzieren viele gar wohl im Ritterkleid oder mit Sammet und Seide behängen
geckenhaft einher. Die Waffen sind noch mannigfaltiger; wie sie grade einer in
seiner Werkstätte aus Väterzeit aufgehangen fand oder dem Feinde abnahm,
von dem langen Spieß, Fausthammer und Morgenstern bis zum breiten Lands¬
knechtsdegen. Besonders gute Waffnung aber erhielt doppelten Sold, wie auch
die Hakenschützen, adeligen Knechte und kleinen Aemter, wofür sie in erster Reihe
fochten; auch der einfache Sold war schon hoch genng, reichlicher als ein
spärliches Soldatentractament, wofür denn sonst hätte man Leben und Glieder
wagen sollen? — Denken wir uns nun zehn- bis funfzehntausend solche
grillenhaft und phantastisch aufgeputzte Gesellen in alle Farben des Regen¬
bogens gekleidet, jede Art von Wehr und Waffen tragend, wie sie als Selt¬
samkeiten unsere Sammlungen bewahren, vornweg ein hoher Kriegsmann zu
Roß, von Kopf bis zu Füßen geharnischt, von Trabanten und Hunden um¬
sprungen, auch wol auf einem Maulthier schlichter einherziehend; dann die
Fähndriche mit ihren farbigen Fähnlein, wie sie weithin noch über die erhobenen
Spieße stolz im Winde flattern, die Trommler mit Trommeln so groß wie die
Weinfässer und kaum zu erschleppen, dahinterdrein der „helle Haufe" in will¬
kürlichem Behagen, fluchend und singend einherziehend; die ernsthafte, fast geist¬
liche Gestalt des Schultheißen mit seinen Schreibern, die vermummte Gestalt
deS Profoßen, neben ihm Stockknechte und der schreckliche Freimaur mit rother
Hahnenfeder und breitem Richtschwert an der rechten Hüfte; endlich daran an¬
gehängt das Regiment des ehrsamen Hurenweibels, das schleppende Gefolge
der „Hurn und Buben", Garköche und „Sudlerinnen", zusammt den wol
mit kämpfenden Nudeln bissiger Hunde, in unübersehbarem Schweif mit Zelt¬
wagen und Karren vermischt — und fassen wir dieses Durcheinander unzähl¬
barer Figuren in wunderlichsten Gemisch in ein Bild zusammen, so haben wir
leibhaftig den wichtigsten Theil der Heeresmacht, mit welcher Deutschlands Kaiser
die Welt im Zaume hielten.
In der Rechtsverfassung der Regimenter, die immer den tiefsten
Einblick in das innere Leben einer Soldatcnwelt gewährt, finden wir hier
lebendige Soldatenehre mit hoher Gerechtigkeitsliebe in einem freien Bewußtsein
wurzelnd, auch einige Schwerfälligkeit, das ist deutsche Art und wenn wir
sogar auf eine Form des RechtSbrauchs stoßen werden, welche uns wie blutige
Rohheit erscheint, so müssen wir bedenken, daß in Heeren von ungebundener
Organisation, wo regelmäßige Soldzahlung und Aussicht auf Beute nur zu
oft alleinige Regulatoren der Mannszucht waren, die Justiz nicht anders als
schnell und schrecklich sein konnte. Bei Errichtung eines Regiments hatte
sich der Oberst mit den Kriegsleuten über den Brauch in peinlichen RechtS-
oder Malefizsachen zu verständigen und ward ihnen alsdann entweder Ge¬
schwornengericht unter Vorsitz des Schultheißen oder das furchtbare Genossen¬
gericht der langen Spieße zugesagt. Im erstern Falle ward ein erprobter,
rechtsverständiger Kriegsmann, kein dem kriegerischen Leben fernstehender Rechts-
gelehrter, von dem Obersten unter Verleihung des weißen Stabes als Schult¬
heiß in Eid und Pflicht genommen, worauf dieser sich nach zwölf geschickten
Knechten, etwa einem aus jeden Fähnlein, als Gerichtsleuten umthat. Sie
schwören insgesammt auf das heilige Evangelium, recht zu richten ohne An-
sehn der Person und jegliche Rücksicht, dem Schultheißen gehorsam zu sein in
allen billigen Dingen und was sie richten und urtheilen zu verschweigen bis
in daS Grab. Ein Gerichtsweibel und Schreiber werden gleichfalls aus dem
Regiment gewählt. — Trommelschlag ruft dieses Schwurgericht zusammen, und
es spricht zur Stelle Recht nach herkömmlichen Brauch in allen Dingen, wo
es um Geld und Gut, Streit und bürgerliche Vergehen geht. Von fast
religiösem Pomp aber ist der Hergang der Malefizgerichte, wenn unter Beisitz
aller Hauptleute, Fähndriche und Feldweibel „an einem nüchternen Morgen"
auf Grund des beschworner Artikelbriefes über Ehre, Leib und Leben gerichtet
wird. Dieser Hergang, dessen nur andeutungsweise Mittheilung weder anziehend
noch verständlich sein könnte, war kurz gesagt von einer Umständlichkeit, welche
auch jeden Schein von Gunst oder Eile fernhielt, und mit warmer Fürsprache
des Angeklagten, indem Kläger und Fürsprecher „ins Recht dingen". Erst
uach wiederholter Vertagung reiften verwickelte Fälle zum Spruch und die kunst-
lose Rechtsprechung der Standesgenossen mußte die Gemüther um so tiefer er¬
schüttern, als es keine erlernte Redefertigkeit zu bewundern gab. Mit dem
„Schuldig" bricht der Schultheiß den Stab und empfiehlt deS armen Ge¬
fangenen Seele Gott. Er wird dem Profoß übergeben und der Geistliche
empfängt seine letzten Bekenntnisse, darauf führt ihn der Freimaur zur Richt¬
stätte. Hier spricht der Profoß den gegenwärtigen Landsknechten inS Gewissen,
daß sie sich das Schicksal des Verurtheilten wohl zu Herzen nehmen, sich deS
„Vollsaufens", worin die meisten Vergehen begangen würden, besonders enthal¬
ten und sich vor Strafen hüten mögen, die niemandem geschenkt werden könnten.
Zum kurzen Abschiede noch im Ringe herumgeführt, kniet der arme Sünder
nieder; mit dem scharfen Hiebe ist der Frevel gesühnt und deS Gerichteten Leich¬
nam nimmt ehrliche Grabstätte auf.
Wenn an diese Art des Rechtsbrauchs noch die Form unsrer heutigen
Kriegsgerichte erinnert, so hat stchdie andre, das Recht der langen Spieße, in
dem barbarischen Gassenlaufen verloren. Sollte Schlußrecht eingeführt wer¬
den , so hielt der Oberst der versammelten Gemeine in ernster Mahnung vor,
sich vor Uebelthat zu bewahren, weil jeder des andern Richter sein müsse und die
Knechte legten feierlichen Eid ab, wenn einer wider die Artikel verstieße, so solle
er unanzusehen Freundschaft, Sippschaft oder Gunst, ohne allen Neid und
Haß durch die „drei Räthe" verurtheilt werden. Wenn nun durch den Pro¬
foß ein Pflichtbrüchiger angetroffen und festgenommen war, so ließ dieser den
Obersten um die Gnade bitten, die Gemeinen an einem nüchternen Morgen
zusammenkommen zu lassen. Ist ihm gewillfahret, so tritt der Prosoß mit
seinem Gefangenen in die Mitte, um mit dem Gruß: „Guten Morgen, ihr
lieben ehrlichen Landsknechte, edel und unedel, wie uns Gott zueinanderge-
bracht hat," — der Justiz freien Lauf zu fordern. Dann heißt er den Feld-
weibel ein „Mehr" machen, worauf dieser ansagt, wer des Profoßen Wort
nachzukommen gedenke, möge seine Hand aufheben; es beginnt der Hergang
mit Fürsprecher und Räth für Kläger und Angeklagten, sie dingen ins Recht.
Wenn nach dreimaligem Abtreten der Klag,ebestand erhärtet ist, so thun die
Fähndriche ihre Fähnlein zu, stecken sie mit dem Eisen ins Erdreich und for¬
dern die Landsknechte auf, solchen Schimpf Hu ahnden, damit das Regiment
wieder ehrlich sei, sonst wollen sie ihre Fähnlein nimmer fliegen lassen. Ein
Knecht wird vorgerufen, damit er seinen Rath gebe/der fordert sich vierzig
gute Kriegsleute, edel oder unedel, zum Beistand. Der Beschluß, den sie fassen,
wird der Gemeine mitgetheilt, sie treten wieder ein; andere vierzig urtheilen
und die dritten folgen ihnen. Haben auch diese berathen, so wird unter Trommel¬
schlag ihr Ausspruch der Menge zur Entscheidung vorgelegt, stimmt sie zu mit
aufgehobenen Händen, dann ist es um den Missethäter geschehen. Die
Fähndriche bedanken sich beim gemeinen Mann, dqß er so willig gewesen,
Ehrenhaft gut Regiment zu stärken, werfen ihre Fähnlein in die Höhe, lassen sie
fliegen und ziehen dem Aufgange der Sonne zu. Das Regiment ordnet seine
Reihen zum Hochgericht, die Spiele senken sich zur schrecklichen Gasse — kein
Erbarmen! wer eine Lücke macht, muß selbst dran glauben! Aus seinen Ketten
geschlossen, wird mit drei Streichen auf die Achsel im Namen heiliger Drei¬
einigkeit der Verbrecher dem Tode geweiht, nicht zaghaft mag er hin und
wieder laufen, herzhaft in die Spieße hineingejagt und er ist erlöst. Sobald
er verschieden, kniet die rächende Versammlung nieder zum Gebet für sein
Seelenheil und umzieht unter dem Feuern der Hakenschützen dann dreimal den
Leichnam, zum Schluß bedankt sich auch der Profoß im Ringe und redet zu,
daß doch einer des andern Strafe beherzigen möge. —
In beiden Arten deS Rechtsbrauchs sehen wir die Genossen als Richter;
so schrecklich der Vollzug, so besonnen und schonend die Rechtsprechung, und die
richterlichen Beamten haben nach wohlerwogener Gewissenspflicht zu handeln,
wenn nicht nach Auflösung deS Regiments sie die Selbstrache ereilen soll.
Die Kriegführung jener Zeiten hatte noch nicht den streng wissenschaft¬
lichen Anstrich angenommen, den andre Waffen, andre Heere im Laufe der Zeiten
ihr gegeben haben und im Besondern beim Fußvolk bedürfte es zum Kriege ge¬
ringer Vorbereitung. Wie der Landsknecht seine eigne Waffe zur Anwerbung
mitbrachte, so war ihm auch der Gebrauch derselben anvertraut und da die so
theuer bezahlten Heere nur für den Zweck und die Dauer des Krieges bestan¬
den, so kannte man auch künstliche taktische Uebungen und das nachmalige
„chikcmöse Triller" nicht; mit keinem Abrichtungsdienst beladen konnten die
Befehlshaber ausschließlich Führer sein. — Die kunstlose Taktik der Lands¬
knechte war ähnlich derjenigen, mit welcher Roms starre Legionen die Welt
erobert und ganz dieselbe, an welcher in den Schweizerschlachten die hochmüthige
Ritterschaft so schmählige Niederlagen erlitten ; volle.Massen, wie der natürliche
Jnstinct die Menschen zusammendrängt, enggeschlossen und standhaft, dann
unverzagt mit Gott frisch drauf, fällt, was fällt. So ist es geblieben, bis die
allgemeine Einführung der Feuergewehre die tiefen Schlachthaufen zu langen
Linien dehnte. —
Wenn vor der Schlacht der Oberanführer mit dem Obersten über die Form
der Ausstellung Rath gepflogen, so werden die Fähnlein in gevierte Ordnung
gebracht, die starken Regimenter für sich, schwache zusammenstoßend zum starren
Wald von Speeren, hoch flattern inmitten die Fähnlein. In der äußersten,
dem Feinde zugewandten Linie drei Glieder der am besten gerüsteten Knechte
mit langen Spießen, darauf „ein Blatt" mit Schwertern oder Hellebarden;
den mittlern Umfang füllen wieder lange Spieße, den innern Kern sämmtliche
kurze Wehren umschließend; im letzten Blatte abermals die tüchtigsten, lang-
bewehrten Knechte, um dem stürmenden Hausen nachzudrücken. Die Hauptleute
in voller Rüstung, mit mächtigen Schlachtschwertern zu Fuß vor der Front.
„Verlorne Knechte" durch das Loos oder-Abgabe aller Rotten bestimmt und
unter einem Hauptmann zu „Rennfähnlein" vereinigt, werden von der ge-
schlossnen Masse abgesondert, um in keckem Voranellen den Kampf zu er¬
öffnen und den geworfnen Feind leichtfüßig zu verfolgen, auch Hakenschützen,
deren Gebrauch die gewandten Spanier empfohlen, und welche Karl V. ver¬
mehren und leichter bewaffnen ließ, pflegien schützend in lockern Hausen den
Flügeln angehängt zu werden. Mit den Colonnen des Fußvolks abwechselnd
hielten tiefgeordnete Geschwader der Reiterei, welche in dieser Periode im Mittel¬
zustände zwischen feudalen Militär und neuerm Soldwesen, durch denselben Kai¬
ser zu einer neuen deutschen Cavalerie gebildet wurde/welche wie die berüchtigten
„schwarzen Reiter" des schmalkaldischen Krieges sich als eine vortreffliche Truppe
erwies. Vor den Schlachtlinien des Fußvolks und der Reiter fuhren die Ge¬
schütze auf, schwerfällige Maschinen, von Karrengäulen und Stückknechten in
langer Doppelreihe transportirt und als „Quartan-, Noth- und Feldschlangen"
auch „Scharfmetzen", in unerschöpflicher Laune der Slückgießer mit Namen
von Heiligen und allerhand komischen Benennungen getauft. So kommen
„Basiliskus" und alle zwölf „Apostel", „Sau, Affe, Bauer, Ochs, Wildermann"
und noch wunderlichere Taufnamen vor, und alle Röhre waren mit sinnigem
Zierrath reichlich geschmückt, entsprechend einem Zeitgeschmack, dem selbst bis
zum geringen Hausgeräth herunter nicht die kahle Nutzbarkeit genügen
mochte. —
(Schluß folgt.)
Encyklopädie der Erd-, Völker- und Staatenkunde, eine geographisch-
statistische Darstellung der Erdtheile, Länder, Meere, Inseln, Gebirge, Berge, Vor¬
gebirge, Buchten, Häfen, Flüsse, Seen, Völker, Staaten, Städte, Flecken, Dörfer,
Bäder, Berg- und Hüttenwerke, Leuchtthürme, Kanäle, Eisenbahnen :c. nebst den
geographisch-astronomischen Bestimmungen der Lage der Orte. Bearbeitet von
0r. Wilhelm Hoffmann. Leipzig, Arnoldische Buchhandlung. — Von diesem
trefflichen Werk sind bis jetzt fünfzehn Lieferungen erschienen (A—D). Wir machen
das Publicum noch einmal darauf aufmerksam; es findet hier in einer Vollständig¬
keit, der man nichts an die Seite stellen kann, alles zusammen, was in Beziehung
aus den behandelten Gegenstand irgend wissenswerth ist, und zwar sür einen Preis,
der in Beziehung aus das Geleistete ganz unerhört niedrig gestellt ist. —
'Die wegen der englischen Werbungen auf dem nordamerikanischen Festlande
mit den Vereinigten Staaten entstandene Differenz ist viel einfacher, als die
mittelamerikanische, und wäre mit einem Wort beizulegen, wenn auf Seite des
Beschwerdeführers der gute Wille vorhanden wäre.
Als gegen Ende des Jahres 1834 das Stocken, der Belagerungsarbeiten
vor Sebastopol das anfangs mit allzu sanguinischer Zuversicht so nahe ge¬
glaubte Ende des Kriegs in unerkennbare Ferne hinaufrückte und in den
Leiden des Winters die englische Opercitionöarmee zusammenschmolz, wie Schnee
vor dem Frühlingswind, die Werde ossiziere in England und Irland aber ver¬
gebens nach Recruten suchten, um den reißend schnellen Ausfall in den Reihen
des englischen Heeres zu ersetzen, entschloß sich das Ministerium Aberdeen, die
Befriedigung suchende Kriegslust des Auslandes für seine Zwecke zu benutzen.
Zuerst lenkte eS allerdings seine Blicke auf das europäische Festland, wo die unver¬
siegbare Rauflust der Deutschen und Schweizer den englischen Fahnen reichlichen
Zulauf zuzuführen versprach. Da aber die Regierungen, unter deren Unter¬
thanen man hauptsächlich sich zu recrutiren gedacht, ohne Ausnahme neutral
waren, so ließ sich voraussehen, daß die BeHorden, auf die Landesgesetze ge¬
stützt, der Werbung vielfach Hindernisse in den Weg legen würden. Viele von
den abenteuernden Elementen, auf welche die englischen Werber rechnen mußten,
hatten sich nach den.Vereinigten Staaten gewendet; dort wachte keine argus-
augige Polizei, und niemand, durste man nach früheren Erfahrungen hoffen,
kümmerte sich darum, ob die Verlornen Söhne des deutschen Vaterlandes ihre
Haut nach Centralamerika oder Cuba, um unter dem Banner des einsamen
Sternes auf Freibeuterzüge auszugehen, oder nach der Krim, um unter eng¬
lischer Fahne gegen die Russen zu kämpfen, zu Markte zu tragen beliebten.
Außerdem waren auch in den Vereinigten Staaten die Jrländer, die hier um
kargen Lohn Steine klopften und Chausseen bauten,, und die in Irland selbst
die Werbetrommel vergebens lockte, während sie früher einen Hauptbestandtheil
der englischen Truppen gebildet hatten. Die englische Negierung entschloß sich
daher, eine Werbestation für die Fremdenlegion in Halifax in Neuschottland,
also auf englischem Gebiet, zu errichten. Gegen das amerikanische Gesetz ver¬
stieß sie damit nicht im mindesten. Das englische Gesetz bestimmt freilich
anders. Kein englischer Unterthan darf ohne königliche Genehmigung in aus¬
ländische Militärdienste treten, mag die Anwerbung auf englischem Gebiet oder
im Auslande geschehen. Nicht einmal in den Reihen der Verbündeten der
Königin, die mit den Feinden denselben Krieg führen, darf der Engländer
fechten. Die Vereinigten Staaten verbieten dagegen blos die Werbung für
fremde Kriegsdienste innerhalb ihres Gebiets, und kein Gesetz spricht dem
'amerikanischen Bürger das Recht ab, außerhalb des Gebiets der Vereinigten
Staaten sich unter fremde Fahne anwerben zu lassen, wenn er "unter ihr nur
nicht gegen das eigne Vaterland ficht. Unter diesen Verhältnissen stand auch
die englische Regierung keinen Augenblick an, ihr Vorhaben, in Neuschottland und
Canada englische Werbestationen anzulegen, der Negierung der Vereinigten Staa¬
ten mitzutheilen, und diese zeigte durch ihre Antwort, daß sie das amerikanische
Gesetz genau so auslege, wie die englische, indem im Mai 1856 der amerikanische
Staatssecretär, Mr. Marcy, an den englischen Gesandten in Washington,
Mr. Crampton, schrieb, die Neutralitätsgesetze der Vereinigten Staaten würden
unnachsichtlich aufrecht erhalten werden, aber es sei niemandem verwehrt, die
Vereinigten Staaten zu verlassen, und sich für ausländische Dienste anwerben
zu lassen.
Das Gesetz war also klar und unzweifelhaft, aber es gibt in den Ver¬
einigten Staaten noch etwas, was über dem Gesetz steht: der souveräne Wille
des Volks, oder vielmehr der Partei, die am lautesten zu schreien versteht.
Wie allerwärts ist das auch in den Vereinigten Staaten die demokratische, und
genau wie anderwärts ist auch sie von einem grimmigen Haß gegen England
erfüllt. Außerdem hat sie sehr entschiedene Sympathien für Nußland. Be¬
kanntlich hat Kaiser Nikolaus einmal geäußert, er könne nur zwei Regierungs-
formen begreifen und achten:-Die Autokratie und die Republik; was dazwischen
liege, erscheine ihm als Zwitterding. Die Amerikaner haben diesen Ausspruch
stets als ein besonders aus sie gezieltes lLompiiment betrachtet, zumal da Kaiser
Nikolaus seine theoretische Vorliebe für Republiken auch durch die rücksichtsvolle
Aufnahme bethätigte, die er, reisenden Nordamerikanern stets angedeihen ließ-
Vor der Huld eines Zaren aber schmilzt auch das Herz des verhärtetsten
Demokraten, dessen Abgott ja ohnedies die materielle Macht ist, und der
amerikanische Demokrat hat noch besondere Gründe für seine Sympathie für
den russischen Absolutismus, denn beide Adler, der russische und der ameri¬
kanische, sind sich gleich an Ländergier und an Mißachtung der Rechte ihrer
Nachbarn, und fühlen sich als Mitglieder einer Familie. Die englischen Wer¬
bungen für die zum Kriege gegen Nußland bestimmte Fremdenlegion waren da?
her den amerikanischen Demokraten ein bösen Dorn im Auge, und alles wurde
aufgeboten, um ein Einschreiten der Regierung dagegen zu Wege zu bringen.
Die englische Regierung hatte nach Einrichtung der Werkstationen in
Canada und Neuschottland ihren Agenten den strengsten Befehl ertheilt, keinen
Mann innerhalb des Gebiets der Vereinigten Staaten anzuwerben, und die
Neutralitätsgesetze der.Vereinigten Staaten aus das genaueste und gewissen¬
hafteste zu beobachten. Der Speculationsgeist bemächtigte sich aber bald dieser
Sache. Dem amerikanischen Geschäftsmann ist, um mit dem englischen Sprich¬
wort zu reden, alles Fisch, was lnseln Netz kommt, und da die Conjunctur
des Marktes sich so stellte, daß waffenfähige Männer ein guter Erportartikel zu
werden versprachen, so warf sich die Spekulation auf die Branche Recruten.
Es entstanden auf Privatspeculation an verschiedenen amerikanischen Orten Werbe¬
bureaus, welche die Beförderung von Recruten nach Canada und Neuschottland
übernahmen, ein Geschäft, das offenbar gegen die Gesetze der Vereinigten
Staaten verstößt; nur waren die Uebertreter derselben Bürger der Vereinigten
Staaten, und nicht die englischen Agenten, denen bis dahin keine Betheiligung
daran nachgewiesen war. Die englische Regierung hätte daher, als vollkommen
unbetheiligt, die Sache ruhig ihren Gang fortgehen lassen können, aber bei
ihrer Bekanntschaft mit der übergroßen Empfindlichkeit der Nordamerikaner
hielt sie es für das Beste, so wie sie von den, ohne ihr Zuthun geschehenen
Schritten zur Betreibung von Werbungen auf amerikanischem Gebiete Nach¬
richt erhielt, die Werbungen ganz einzustellen, um selbst der Möglichkeit einer
Colliston zuvorzukommen. Sie ertheilte daher bereits am 22. Juni 1833
Befehl, die Werbestationen auf britischen Gebiet in Neuschottland und Canada
ganz aufzuheben.
Vierzehn Tage nach Absendung des Befehls begann der Notenwechsel
zwischen den beiden Regierungen über die Werbungsangelegenheit. Am 6. Juli
überreichte Mr. Buchanan, der Gesandte der Vereinigten Staaten in London,
Lord Clarendon eine Note, in welcher er sich über die Verletzung der Neu-
tralitätsgcsetze durch Personen beschwerte, welche zum Zweck der Anwerbung von
Recruten für das englische Heer innerhalb der Vereinigten Staaten mit oder
ohne Genehmigung der englischen Regierung Schritte gethan hätten. Die
Note schloß mit der Aeußerung: „Der Präsident wird sich sehr freuen, zu er¬
fahren, daß die Regierung Ihrer Majestät zu den Maßregeln, über welche
Beschwerde geführt wird, keine Autorisation ertheilt hat, sondern das Verfahren
ihrer dabei betheiligten Beamten gemißbilligt und entschiedene Maßregeln ge¬
troffen hat, einem Verfahren ein Ende zu machen, welches dem Völkerrecht,
den Gesetzen der Vereinigten Staaten, und den Rücksichten, welche befreundete
Staaten in ihrem Verkehr untereinander stets gegeneinander haben müssen,
gleichmäßig widerspricht."
Da die englische Regierung dieser Beschwerde bereits durch den Befehl,
die Werbungen außerhalb der Grenzen der Vereinigten Staaten einzustellen,
zuvorgekommen war, so konnte sie in ihrer Antwort an Mr. Buchanan dieses
Aufgeben ihres unbezweifelten Rechts als ein Pfand für ihren aufrichtigen
Wunsch, jede Kollision mit der Regierung der Vereinigten Staaten zu ver¬
meiden, hervorheben, und bei dieser Gelegenheit die Versicherung wiederholen,
daß jeder Verstoß gegen die Gesetze der Vereinigten Staaten im Widerspruch
mit ihren Wünschen und den ihren Beamten ertheilten Instruktionen stehe.
Daß ihre Agenten denselben zuwidergehandelt hätten, erlaubte sie sich aus
Mangel an Beweisen' vor der Hand zu bezweifeln.
So befriedigt war Mr. Buchanan mit dieser Antwort, daß er seiner voll¬
kommenen Zufriedenheit damit nicht allein in einer Note vom 18. Juli Ausdruck
gab, sondern auch eine mittlerweile von . seiner Regierung abgesandte Note
zurückhielt, welche zwar d.le Beschwerden in etwas bestimmterer Form wieder¬
holte, die er aber durch die ihm jetzt von der englischen Negierung mitgetheilte
Note für erledigt hielt. Nun ruhte die ganze Angelegenheit mehre Monate,
und das englische Ministerium hielt dieselbe sür vollständig abgemacht, als am
3. September eine neue amerikanische Note eintraf. Sie enthielt nicht etwa
neue Beschwerden über seit der letzten Note vorgekommene Verletzungen der Neu¬
tralitätsrechte durch britische Agenten, sondern wiederholte nur die alten in
ihrer Allgemeinheit, und beanspruchte abermals Satisfaction, obgleich nach
Mr.' Buchanans Urtheil, welches derselbe durch Jnnebehaltung der amerikani¬
schen Note vom 1ö. Juli kund that, diese bereits gegeben war, da England
nicht angestanden hatte, der Hoffnung des Präsidenten, „daß sie das Benehmen
ihrer Agenten (im Fall sie sich unterfangen sollten, auf amerikanischem Gebiet
Truppen zu werben) ernst rügen und entschiedene Maßregeln treffen werde, ihm
ein Ende zu machen," vollständig zu entsprechen. Es blieb daher der briti¬
schen Negierung nichts übrig, als auch ihrerseits auf das früher Gesagte zurück¬
zukommen und nochmals zu wiederholen, daß sie nicht glauben könne, einer
ihrer Vertreter oder Agenten habe ihren Jnstructionen, die Neutralität und die
Gesetze der Vereinigten Staaten auf daS sorgfältigste zu achten, zuwider¬
gehandelt.
Mit dieser Erklärung wollte sich aber Mr. Marcy, der amerikanische Staats¬
sekretär, nicht zufrieden stellen. In einer Note vom 13. October wiederholte er
die ganz im Allgemeinen gehaltenen Beschuldigungen, daß englische Beamte
die Gesetze der Vereinigten Staaten verletzt hätten, und kam auf die verschol¬
lene Note vom 1ö. Juli zurück, welche nach seiner Meinung aussprach, welches
Maß der Genugthuung die nordamerikanische Negierung beanspruche. Wie es
schien, wuchsen die Forderungen auf jener Seite mit her Nachgiebigkeit, welche
England an den Tag zu legen sich beeilte. Erst hatte der Präsident sich für
befriedigt erklärt, wenn England die Werbungen auf amerikanischem Gebiet
einstellte und entschiedenen Tadel über die Beamten ausspreche, welche gegen
die Gesetze der Vereinigten Staaten verstoßen hätten. Ersteres konnte die
englische Regierung nicht thun, denn sie hatte auf amerikanischem Gebiet
gar nicht werben lassen; sie hatte aber schon längst freiwillig mehr gethan, und
selbst den Werbungen auf britischen Gebiet in Nordamerika ein Ende gemacht.
Hinsichtlich des zweiten Punktes wartete sie immer noch vergebens auf Beweise,
und konnte, so lange sie ausblieben, blos betheuern, daß sie ihre Agenten zu
einem solchen Benehmen nicht ermächtigt, sondern daß es ihren Instruktionen
schnurstracks zuwiderlaufe.
Jetzt verlangte der Präsident mehr. Die obenerwähnte Note schloß näm¬
lich:, „Der Präsident ist gepeigt zu glauben, daß Ihrer Majestät Regierung
das ungesetzmäßige Verfahren ihrer Beamten und Agenten, seitdem ihre Auf¬
merksamkeit daraus gelenkt worden, nicht gutgeheißen hat, und daß sie es sich
selbst und den Vereinigten Staaten für schuldig erachten wird, ihre Hand¬
lungen zu desavouiren, und mit ihnen auf eine ihrem ernsten Vergehen an¬
gemessene Weise zu verfahren. . . Da aber die Werbungen für die britische
Armee in der erwähnten Weise durch zu diesem Zwecke bestellte Beamte und
Agenten, wie er glaube, in den Vereinigten Staaten immer noch fortgingen,
so instruire der Präsident Mr. Buchanan, Ihrer Majestät Negierung zu sagen,
er erwarte, sie werde rasche und wirksame Maßregeln ergreifen, ihr Verfahren
einzustellen, und die jetzt in englischen Diensten befindlichen Personen aus
denselben entlassen, welche innerhalb der Vereinigten Staaten angeworben
worden oder'welche die Vereinigten Staaten mit innerhalb derselben abgeschlos¬
senen Contracten verlassen haben und jetzt in der britischen Armee dienen."
Der Kern der Beschwerde blieb auch für jetzt das Anwerben innerhalb
der Vereinigten Staaten, wovon sich die britische Regierung schon vor Mona¬
ten so formell als man billigerweise nur verlangen konnte, losgesagt hatte.
Demnach verstand es sich auch von selbst, daß sie keine Soldaten, die in den
bereinigten Staaten angeworben worden,' oder dort Contracte abgeschlossen, ent¬
lassen und gegen ihre Beamten keinen Tadel aussprechen konnte. Da ameri-
kanischerseits versäumt wurde, neue Thatsachen beizubringen, konnte auch von
englischer Seite nur das wiedergesagt werden, was man schon mehr als ein¬
mal geantwortet hatte.
Die amerikanische Diplomatie wußte nun eine Abwechslung in die bisherige
^'uförmigkeit zu bringen. Nachdem abermals eine Pause in der Correspondenz
eingetreten war, von October bis December, traf eine vom 28. December
datirte Depesche des amerikanischen Staatssecretärs in London ein, die viel
^ehr als bisher gefordert worden verlangte. Man hätte natürlich meinen sollen,
ärgere Verletzungen der amerikanischen Neutralität vorgekommen wären,
als bisher. Dieses war aber keineswegs der Fall. Zwar richteten sich die
Beschwerden dies Mal namentlich gegen den englischen Gesandten, Mr. Cramp-
ton, so wie gegen die englischen Konsuln in Cincinnati, Philadelphia und
Neuyork, aber die Vorkommnisse, über die man Beschwerde führte, waren von
Älteren Datum als die Depesche, in welcher die amerikanische Regierung erklärt
hatte, sich mit einem Tadel gegen die britischen Agenten als Genugthuung
befriedigen zu wollen. Jetzt aber verlangte sie die Abberufung dieser Herren. ES
waren nämlich in den Städten Philadelphia und Neuyork Personen gerichtlich
zur Verantwortung gezogen worden, welche sür die englische Fremdenlegion ge¬
worben, hatten. Sie hatten ausgesagt, sie handelten im Auftrag des englischen
Gesandten oder der obengenannten englischen Consuln. Merkwürdigerweise
aber hatte man keinem dieser Herren Gelegenheit gegeben, sich wegen der gegen
sie vorgebrachten Beschuldigungen zu verantworten und die Wahrheitsliebe der
sie anklagenden Zeugen einer Prüfung zu unterziehen, trotzdem, daß der
Charakter der Zeugen von vornherein ihre Aussagen verdächtig machte. Leider
waren es Deutsche, die sich zu diesem schmuzigen Geschäft hergaben. Die Be¬
schuldigungen gegen den Gesandten, Mr. Crampton, beruhten hauptsächlich auf
den Aussagen von Hertz und Strobel, zweier Personen vom schlechtesten
Leumunde. Hertz hatte sich nach eidlich beglaubigten Aussagen mehrfach
Schwindeleien zu Schulden kommen lassen, und nur Mitleid hatte ihn vor
gerichtlicher Untersuchung und Strafe gerettet. Strobel hatte früher in
Diensten des Statthalters von Neuschottland in Halifar gestanden, war von
diesem wegen schlechter Aufführung entlassen und dann nach Washington
verschlagen worden, wo er vergeblich versucht hatte, von Mr. Crampton
Geld zu erpressen. Das Motiv zu seinem Auftreten vor Gericht liegt demnach
nahe genug. In den Vereinigten Staaten gab er sich sür einen politischen
Flüchtling aus, was er vielleicht war, und für einen ehemaligen bairischen
Offizier, der er nachgewiesenermaßen nicht gewesen war. Beide sehr ehren¬
werthe Herren galten der öffentlichen Meinung als russische Spione. Behaup¬
tungen solcher Persönlichkeiten muthete die amerikanische Regierung der eng-
, lischen zu, als glaubwürdiger zu betrachten, als die bestimmten Verneinungen
eines ihrer angesehensten Beamten, des Gesandten in Washington, und auf
solche Gründe gestützt, stellte sie eine Forderung, deren Gewährung für Eng¬
land eine ewige Schmach gewesen wäre, und deren Versagung zu einem Bruch
zwischen zwei durch ihre Verwandtschaft und ihre Interessen auf ein enges
Bündnis angewiesenen Staaten .führen konnte. Die Beschwerde gegen den
englischen Consul in Cincinnati war gar noch vor Gericht schwebend, und die
amerikanische Regierung verlangte von der englischen die Bestrafung desselben,
ehe seine Schuld festgestellt war. So stand es mit der Motivirung der Be¬
schwerden. M. Marco hatte jedoch, um das fehlende Gewicht der Gründe mit
ihrer Zahl zu ersetzen, wenigstens gegen den britischen^Consul in Neuyork noch,
eine Beschwerde in Reserve. Derselbe hatte auf glaubwürdige Weise erfahren,
daß das amerikanische Barkschiff Maury im Hafen von Neuvork als russischer
Caper ausgerüstet werde, und theilte dieses pflichtgemäß dem englischen Ge¬
sandten mit, der nun seinerseits der amerikanischen Regierung die Angelegen¬
heit vorlegte. Die amerikanischen Behörden fanden die Anzeige gravirend
genug, um das Schiff vorläufig mit Beschlag zu belegen und gegen den Aus¬
rüster desselben eine Untersuchung zu beginnen, die mit dessen Freisprechung
endigte. Man vermeint wohl, die Vereinigten Staatenregierung, so ängstlich
besorgt, .ihre Neutralität aufs strengste gegen Nußland aufrecht zu erhalte»,
hätte mit Eiser die Gelegenheit ergriffen, gegen England dieselbe Rücksicht an
den Tag zu legen? Nicht doch; ein englischer Consul hatte ein Einschreiten
amerikanischer Behörden gegen Bürger des Staates veranlaßt, hatte damit den
der Souveränetät der Vereinigten Staaten schuldigen Respect vergessen, und
mußte deshalb abberufen werden«! So argumentirte Mr. Marcy in seiner De¬
pesche vom 28. December.
Eine stille Ahnung von der Nichtigkeit seiner Beschwerde muß Mr. Marcy
wol gehabt haben, denn zum Schluß nimmt er noch seine Zuflucht zu dem
großen ungeschriebenen Cober deS Völkerrechts, aus dem die amerikanische
Diplomatie stets ihre besten Waffen holt, wenn sie ein recht schreiendes Un¬
recht oder einen gänzlich absurden Anspruch beschönigen will, zu dem Coder,
in dem auch die Monroedvctrin, die Lehre von der NanUM ässlin^ (dem
offenbaren Schicksalöberuf) der Nordamerikaner, die Nachbarstaaten sich einzu¬
verleiben, von der Erlaublheit der Freibeuterei, wenn amerikanische Bürger sie
üben, von dem Recht, mit befreundeten Nationen Krieg zu führen, ohne mit
ihnen in Kriegszustauv zu gerathen, und andere schöne Sachen stehen. Dies
Mal fand die geschickte Hand deS Mr. Marcy darin den Satz, daß es eine
Verletzung der Souveränetätsrechte der Vereinigten Staaten sei, wenn die
englische Negierung aus ihrem eignen Territorium Werbuugsstationcn errichtete.
Dies stand zwar mit dem geschriebenen Gesetz der Vereinigten Staaten und
und Dem, was Mr. Marcy früher selbst zugegeben, im vollständigen Widerspruch,
aber es war wahrscheinlich ''„offenbare Schicksalsbestimmung" der Vereinigten
Staaten, es mit England zu einem Bruch zu treiben, und dem Schicksale mußte
>ich das Völkerrecht beugen.
Die englische Negierung weigerte sich, ein anderes Völkerrecht, als das
bei allen Völkern giltige, over pures besondere Verträge festgestellte arm»
nkeuucn, und schlug eS aus Das bestimmteste ab, ihren Gesandten und iyre
Agenten abzuberufen. Die betreffende Note ist vom 30. April -I8no, unb es
hängt nur noch an der Antwort des amerikanischen Cabinets, ob oüse En¬
tlegenheit zum ernstlichen Bruch sühren soll oder nicht. Sie ist in gleichem
Stadium mit der centralamerikanifchcn Frage, wird aber wol in dieser ver¬
schwinden, wenn die neuesten Nachrichten, sich bestätigen, daß die Vereinigten
Staaten General Walker anerkannt haben.
„London ist keine Stadt mehr, es ist eine mit Häusern bedeckte Provinz",
sagt Horace Say, der bekannte französische Staatsökonom. ,
Diese Bemerkung ist indeß, wie viele französische Phrasen ähnlicher Art,
mehr geistreich und glänzend, als klar und bestimmt. Denn wenn der Aus¬
druck „Provinz", wie das von Unüberlegsamen häufig geschieht, als gleichbedeu¬
tend mit dem englischen „LNire" gebraucht wird, so ist trotzdem, daß jenes
Wort ungeheuer viel zu sagen scheint, zu wenig damit gesagt. Ausgemacht
ist, daß es in England kein County und in Frankreich kein Departement
gibt, welches sich nach der Menge seiner Bevölkerung mit der britischen Metro¬
pole vergleichen ließe. Nicht nur enthält London fast doppelt so viel Seelen,
als der ausgedehnteste Bezirk des französischen Reichs, es ist auch von mehr
als einer Viertelmillion Menschen mehr bewohnt, als irgend eine Grafschaft
Großbritanniens.. Die Bevölkerung des Departement du Nord beträgt un¬
gefähr 1,-140,000, die des Seinedepartements -1.380,000 , die von Lancaster
andrerseits 2,03-1,236.
Ja es scheint förmlich kleinlich, von London als' einer bloßen Provinz zu
sprechen, wenn es innerhalb seiner Grenzen eine größre Zahl von Menschen
als manches Königreich hat. Das ist keine bloße Redensart, da die Haupt¬
stadt Englands über eine halbe Million Einwohner mehr hat als Sachsen,
welches von ungefähr -1,900,000, als Hannover, welches von ziemlich -1,800,000
und, als Würtemberg, welches von etwa -1,730,000 Menschen bewohnt ist,
und da allein auf der Middleserseite der Themse mehr Menschen sind, als im
ganzen Großherzogthum Baden.*)
Aber noch mehr: gegen Ende des vierzehnten Jahrhunderts hatte das
ganze Königreich Englanv noch lange nicht so viel Bewohner, als das heutige
London umschließt; denn die Bevölkerung Englands belief sich im Jahre-1377
auf nicht mehr als 2,092,978 Seelen.
Nehmen wir es sodann als ausgemacht an, wenn Balbl die gesamntte
Einwohnerzahl der Erde auf 1,075 Millionen angibt, so macht die Riesenstadt
an der Themse.grade den los. Theil dieser Menge aus, so daß sich in jedem
Tcwsend der ungefähren Gliederzahl der gesammten Menschenfamilie wenigstens
zwei Londoner befinden.
Kurz, -London kann dreist als die am dichtesten bewohnte Stadt der Welt
bezeichnet werden. Es hat ein Viertel mehr Menschen in seinen Mauern, als
Peking haben soll, zwei Drittel mehr als Paris, noch einmal so viel als
Konstantinopel, viermal soviel als Petersburg, fünfmal so viel als Wien und
Neuyork und ungefähr sechsmal so viel als Berlin.
Wir folgten im Vorstehenden, mit einigen nothwendigen Abweichungen, der
Darstellung Henry Mayhews, der in seiner soeben in der ersten Nummer er¬
schienenen Schrift (ÄöiU ^Vorlä ok l^onäon" einen sehr lehrreichen und
interessanten Ueberblick über diese Verhältnisse gibt. Es sei uns gestattet,
einige weitere Auszüge aus den Mittheilungen vieses Hefts zu geben. So
mag denn London, fährt Mayhew fort, zahlreicher bevölkert, als irgend eine
französische oder englische Provinz und als manches Königreich, wol als eine
Welt für sich betrachtet werden und von diesem Standpunkt aus hat Advisvn
von der britischen Hauptstadt, als zusammengesetzt aus verschiedenen Racen wie
eine Welt gesprochen, statt sie als bestehend aus verwandten Familien wie eine
Stadt zu betrachten. « '
„Wenn ich diese große Stadt," sagt er im spectator, „nach ihren ver¬
schiedenen Quartieren und Abtheilungen betrachte, so sehe ich sie als eine
Mischung verschiedener Nationen an, die sich nach ihren betreffenden Sitten,
ihrer Lebensweise uno ihren Interessen von einander trennen. Die Höfe von
zwei Ländern unterscheiden sich nicht so sehr von einander, als der Hof und
die Stadt Londons in ihrer eigenthümlichen Lebens- und Redeweise. Kurz,
die Bewohner von Se. James sind trotzdem, daß sie unter denselben Gesetzen
leben uno dieselbe Sprache reden, ein verschiedenes Volk von denen, welche
in Cheapside wohnen, verschieden nach Klimaten und Graden in ihrem Den¬
ken und Reden."
Betrachten wir deshalb London als Welt für sich, so erscheinen Belgravia
und Bethnal Green als die entgegengesetzten Pole der londoner Sphäre, gleich¬
sam die kalten Zonen der Hauptstadt, die eine eiskalt in ihrer Vornehmheit,
Förmlichkeit und Feierlichkeit, vie andre von dem ewigen Winter erstarrender
Armuth bedeckt. Von dieser Welt ist Temple Bar der unzweifelhafte Aequator,
welcher die Hemisphäre der City von der des West End unterscheidet und in
seiner unmittelbaren Nachbarschaft eine Reihe von Banken hat, welche die Gold¬
küste vertreten können. Was Greenwich für die Kauffahrer Englands ist, das
ist Charing Croß für die londoner Droschkenkutscher—das Zero, nach welchem
alle Längen der hauptstädtischen Welt gemessen werden.
Sodann hat diese londoner Welt, ganz wie die Erde, von der sie einen
Theil bildet, ihre großen Continente; denn was sind die ungeheuern jenseits
der Themse liegenden Gebiete von Southwark und Lambeth anders, als solche
Continente? Ferner sind die Oertlichkeiten von Se. Benetfink und von Se.
Benetsherehog , ja selbst von Beviö Marks, im Herzen der City, für den grö߬
ten Theil der Londoner selbst, ganz ebenso eine terra Ineognitir als der Tschad¬
see im Innern Afrikas für alle, mit Ausnahme der Laubers und Barths.
Und wiederum, was das Volk der Riesenstadt betrifft, so ist der feingebil¬
dete Pariser nicht weiter verschieden von dem barbarischen Botokuden., als der
duftende Dandy der Almacksbälle von dem echten Billingsgate-Nough. Die
Ethnologen haben die verschiedenen Geschlechter der Menschheit in fünf scharf¬
getrennte Typen oder Racen eingetheilt, aber sicherlich sind die Richter, welche
in den Gerichtshöfen von Westminster den Vorsitz führen, moralisch ganz eben¬
so verschieden von den jüdischen Diebshehlern in Petticoat Lane, als die kau¬
kasische Race von der malayischen. Steht nicht der „yet x-arson" einer pnseyi-
schen Kapelle in West End ethisch wie physisch dem londoner Borerhaupthahn,
und steht nicht dieser wieder dem Alderman der City durchaus so fern, wie der
Neger dem Mongolen, oder der Mongole der amerikanischen Rothhaut?
Fürwahr, wir finden in der londoner Welt fast jede geographische Species
der menschlichen Familie. Wenn Arabien seine Nomadenstämme hat, so hat
die britische Metropole ihre wandernden Horden gleichfalls. Wenn die kmai-
bischen Inseln ihre Wilden haben, so zeigt die Hauptstadt Englands nicht
weniger thierische und uncivilisirte Typen. Wenn Indien seine Thugs hat,
so besitzt London seine „Ksrotls usu".
Ebensowenig sind die religiösen Glaubensbekenntnisse der ganzen Erd¬
kugel vielartiger, als die der englischen Riesenstadt. Wir lächeln mitleidig über
.die Stämme der Bight of Berlin, welche eine Eidechse zu ihrem Lieblingsgotte
gemacht haben, ziehen die Augenbrauen vor Staunen in die Höhe und schlagen
die Hände zusammen, wenn wir hören, baß die Bissagos einen Hahn, wie
er bei uns auf dem Scheunthor sitzt, mit Gebeten verehren. Aber haben wir
nicht unter uns, in dieser „hocherleuchtcten Metropole" und in diesen „hoch¬
gebildeten Zeiten" Leute, welche deS andächtigen Glaubens leben, daß Frau
Johanna Southcott erwählt war, die Mutter des Messias zu werden? andre,
welche moralisch überzeugt sind, daß Jvv Smith von dem Allmächtigen das
Buch Mormon in die Feder dictirt wurde, ein liegengebliebener Roman, den
Tausende als zweites Evangelium ansehen? wieder andre, welche eine beson¬
dere Offenbarung finden in dem Geplapper verrückter Weibsbilder, dem „Re¬
den in unbekannten Zungen", wie sie es nennen? und noch andre, die steif
und fest glauben, das Hauptmittel, sich mit den Geistern des Jenseits in Ver¬
bindung zu setzen, seien klopfende Tische?
Auch die sprachliche Verschiedenheit der verschiedenen Racen und Völker
der Erde kann nicht >viel größer sein, als die Verschiedenheit der Ausdrucks¬
weise unter den einzelnen Classen der hauptstädischen Bevölkerung. Es ist wahr,
der alte charakteristische Cockneydialekt ist im Bereiche der Glocken von Bow-
bells, seiner Heimath, sast aus der Mode gekommen. Die Aldermänner Lon¬
dons setzen heutzutage nur noch selten ein W für ein V, lassen selten das H
weg, wo es nicht hingehört und brauchen es selten, wo es nicht gebraucht
werden soll. Nicht oft hört man sie noch von ihrem 'vuse und ihrem 'eas,
von einer „Hixtdalian wilwr" statt „Jouan villg" und andern derartigen Ku¬
riositäten sprechen. Aber wenn diese Form verschwunden ist, so gibt es noch
zahlreiche merkwürdigere Arten, sich auszudrücken, unter den Bewohnern der
Themsestadt.
Der londoner Stutzer z. B. vermag das N nicht auszusprechen. Er hilft
sich mit dem W und redet so von seinem Nachmittagsritt als von einem ,M<zr-
noon vlcliz", geht in die „Opevg"'statt in die „Opsrg", nennt Rotten Now
„Lotten Wov" und entschließt sich, wenn die Zeit der Wettrennen zu Epsom,
Worcester oder Shrewsbury kommt, ,,w our üown t» t.de vaess".
Die affectirte hauptstädtische Miß andrerseits spricht die englischen Worte
für „blauer Himmel", wie ,,blju skjei" aus, ist statt,.Kilt6" (gütig) stets „l^sinnt"
gegen arme Leute und findet, daß Miß Soundso in ihrem neuen Hut ,,8>v<zö>>
>7 prstt/' aussieht.
Der burschikose junge Gentleman ferner nennt seinen Vater „governor"
wenn er sich noch mehr gehen läßt, auch „viel briet", Geld ist ihm „tin",
eine Cigarre heißt bei ihm „wseä" u. s. w.
Sodann ist der „caclgczrg can>."> die Bettlersprachc, zu erwähnen, eine
Ausdrucksweise, die von der später zu charakterisierenden Diebssprache dadurch
verschieden ist, daß sie Worte braucht, die den gewöhnlichen Bezeichnungen für
dieselbe Idee ähnlich sind. Dann wieder muß des „Rösler 8lanx" gedacht
werden, der Sprache, welcher sich die Höker bedienen, und in welcher jedes
Wort so ausgesprochen wird, als würde es von hinten buchstabirt. „I «ax,
<^M'l<z^, will z?on alö a wy ok i-ösb?" würde ein Höker sich einem Kameraden
gegenüber ausdrücken, wenn er sagen wollte: ,,Hör' mal, Curley, willst' du
nicht einen Krug Bier zum Besten geben?" Und der andre könnte antworten:
»It's an äoog', >VK<z1Ke^, on cloog' (no Koocl), t'of 1rg,ä s rsg'lar tlo8«zi>o
(vno 8ort, b-ra 8ort) to al^. I'v<z höhlt cloinx K1c>oZ^ bat (back) vMi no
wi (tot) oder 8loeK). it'an't macle a ^hunc-p (penn^)." d. h. es geht nicht gut
Whelkey, es geht nicht gut an. Ich habe heute schlechte Geschäfte, verteufelt
schlechte Geschäfte gemacht mit meinem Kram, habe nicht einen Pfennig verdient."
Dann kommt das wahre englische „Klanx" oder Nothwälsch, die Gauner-
und Diebssprache. Dieses ist ein Gemisch von mittelalterlichen Latein, hebräi¬
schen Worten, zigeunerischen Ausdrücken, willkürlichen Erfindungen und solchen
Bezeichnungen, die dem heutigen Englisch, der deutschen und italienischen
Sprache entnommen sind.
Da Schriftsteller, wie Dickens und Ainsworth häufig davon Gebrauch
machen, gehen wir etwas näher darauf ein. Das Wort „rMter", welches der
rothwälsche Ausdruck für „speizolr" ist, wurde von dem Paternoster entlehnt,
welches die alten Bettler zu murmeln pflegten. ,FaK«z" ferner, welches thun
oder- machen heißt, ist das lateinische kaoeriz, woher auch „kakoment", welches
in der Gaunersprache etwas Gemachtes, dann speciell einen Bettelbrief bedeu-
tet. Da der Hauptzweck des Nothwälsch der ist, eine Geheimsprache zu sein,
so wird es von den Eingeweihten fortwährend durch fremde Worte ergänzt,
welche man den Strolchen vom Festlande ablernt, wenn sie in die „pacläin^
Kens" d, h. in die Diebesherbergen Londons einkehren. So ist das Wort
„chi-ser" (ein vornehmes Haus) das italienische vasa, welches man /ich von
den Savoyardenknaben angeeignet hat, die mit dem Leierkasten herumziehen; so
das Wort „a^w" (ein kleines Auge) von den Holländern an Bord der Aal¬
boote in Billingsgate, so das Wort „sKovlUIl^ (schlecht) von den Juden,
denen wir das gleichklingende „schofel" verdanken und so das Wort „toKle" (ein
Taschentuch) wahrscheinlich von den deutschen Herumstreichern, welche hier mit
Vögeln handeln. Endlich haben sich in dein Slang- auch Neste der alten Spra¬
chen des Landes erhalten, wie „xamm^" (schlecht) das welsche xam, gekrümmt/
wunderlich, und die Redensart „it is not etre olwose" (es ist nicht, was ich
wählen würde) das altenglische, noch bei Chaucer zu findende Lltessö für
ednosL.
Den größten Theil des englischen Nothwälsch jedoch machen willkürliche
Erfindungen aus. So heißt der Mund tatertrap (Kartoffelfalle), die Nase
pasw dorn (Klcistertvpf), das Blut claret (Rothwein), die Schuhe oraksdells
(Krebsschalen), die Zähne clominoes, ein Regenschirm anhin-von (Pilz), das
Gefängniß stone- ^ux sSteinkrug) u. s. w. „Can ,pe>u r»K<zr Koran^? heißt:
Können Sie Nothwälsch sprechen? „Wdat, is zwur monekeer?" Was ist Ihr
Name? „>Vdsr(i no zon se.aU to 'in tke Ime??" Wo wohnen Sie in der Stadt?
,,On, I clrap t,K<z main tvjzsr an6 .LlinK inen to Keil in tUs dack atrum.°° Oh
ich mache mich aus der Hauptstraße fort und schlüpfe in die Herberge im
Hintergäßchen. „'Will >on Kaps » sluint o' xattsr aller all tlris clvvry ok
para^'?" Wollen Sie ein Glas Bier haben nach all diesem vielen Regen?
,,1'vo Ave a tsviss tett in mz? olyv?" Ich habe noch einen Schilling in mei¬
ner Tasche. Dies sind einige Proben dieses Jargons, der sich von der Sprache,
in welcher Burke und Fo,r redeten, allerdings wesentlich unterscheidet.
Von London als einer Welt zu sprechen, heißt deshalb, fährt May-
hcw fort, kaum eine Metapher anwenden. Die verschiedenen Classen der Be¬
völkerung der Stadt entfernen sich in allen Punkten sehr wesentlich von ein¬
ander, und wir könnten, um bei den Dialekten zu bleiben, leicht zeigen, daß
jeder Kreis der Gesellschaft seinen Jargon hat und daß es ein Rothwälsch der
vornehmen Welt, ein Rothwälsch der Clubhäuser, der Offiziersgesellschaften, der
Rechtscollcgien, der Redactionszimmer, der Hospitäler, der Ställe, Werkstätten
und Küchen, ja selbst der Parlamentshäuser — nicht blos ein Rothwälsch von
Billingsgate und den Diebshöhlen gibt.
Aber London ist nicht blos eine Welt, es ist auch eine große Welt.
Wir find so lange gewöhnt gewesen, uns unter Welten ungeheure Massen
vorzustellen, die mehre tausend Meilen im Durchmesser haben, daß es schier
wie Uebertreibung klingt, einen kleinen Fleck Erde, wie der, welchen die Haupt¬
stadt Englands bedeckt, unter die Weltkörper zu zählen. Allein die Entdeckungen
des gegenwärtigen Jahrhunderts haben uns eine Classe von Himmelskörpern
offenbart, von denen viele kaum so groß wie gewisse deutsche Königreiche sind.
Wir folgen nun Mayhew zunächst zu einigen Phantasiesprüngen, ohne die
es bei ihm, dem Humoristen, nicht wol abgeht. „Diese Asteroiden oder Plane¬
toiden," sagt er, „sind nach dem Astronomen Bruchstücke eines größeren Plane¬
ten — bloße Sternenspäne oder Splitter einer größeren Kugel, die früher die
Aetherkluft zwischen Mars und Jupiter ausfüllte, nach Kirkwood ungefähr,
einen Durchmesser halb so groß als der Erddurchmesser hatte, und deren Tag
mehr denn zweimal so lang als der unsre war. Selbst so betrachtet also kann
London als eine Art Tcrroid, als ein abgetrennter Span der größeren Welt,
der Erde gelten.
Die Scheiben der kleinen Himmelskugeln haben, wie Humboldt uns in
seinem Kosmos sagt, eine Oberfläche, die nicht viel mehr als die Hälfte der
Oberfläche von Frankreich, Madagaskar oder Vorneo beträgt. Ja Hind sagt,
daß der größte der fünfundzwanzig kleinen Planeten wahrscheinlich nur einen
Durchmesser von 450 englischen Meilen hat, so daß eine solche planetarische
Welt noch nicht einmal so groß als unsre kleine Insel'ist.
Da dies nun das Maß der größten der kleinen Planeten ist, so können
wir wol annehmen, daß einige dieser Himmelskörper kaum größer als die
Hauptstadt selbst sein mögen, welche letztere einen Raum von nicht weniger
als 12g (englischen) Quadratmeilen bedeckt.
Wenn nun durch eine vulkanische Zuckung — durch ein unterirdisches Erd¬
beben — durch eine Erplosion der Kräfte im Kerne der Erde, unser Welt¬
körper plötzlich wie eine Riesenbombe zerplatzte und, indem sie in ein paar
Dutzend Terroiden zerspränge, die Weltstadt London von der übrigen Masse
der Erdkugel losgerissen würde, so wäre die letztere vollkommen groß genug,
um ihre Pflicht als selbstständige Welt zu thun und sich um sich selbst drehend
die Runde um die Sonne zu machen — wobei dann Hampstead der Nordpol
und Sydenham der Südpol sein, beide einen sechsmonatlichen Winter haben,
die ganze Linie von Oxford Street, Holborn und Cheapside dagegen unter der
ewigen Sonne der Gegend, die dann die heiße Zone der Metropole wäre, liegen
und während es in Kensington Tag wäre, die Leute zu Mile End im Dunkel
der Nacht leben würden.
Und welch' eine wundersame Welt würde dieses sür sich um die Sonne
kreisende London sein! Eine Welt, die auf allen den 120 Q-nadratmeilen, die
sie bedeckte, kaUm einen Acker grünes Feld haben — eine Welt, die nicht im
Stande sein würde, einen Sack Korn zu erzeugen oder eine Herde Schafe zu
ernähren — eine Welt gedrängt voll Häuser und mit einem Straßennetze über¬
zogen gleich den Adern eines Weinblattes und eine Welt mit zwei und einer
halben Million Menschen, die in sie sast so dicht zusammengedrängt wären, als
die Neger im Zwischendeck eines Sklavenschiffs.
Kann man Ceres, Pallas, Juno oder Astraea oder Iris oder irgend einen
der fünfundzwanzig kleinen Planeten hiermit vergleichen?"
Von diesem Phantasiespiel, welches den Titel seines Buches in ziemlich
anmuthiger Weise rechtfertigt, folgen wir dem Verfasser auf ein Solideres Ge¬
biet. ES würde kein anschauliches Bild von der Große Londons geben, sagt
er, wollte man dem Leser zu diesem Zwecke sagen, es bedecke nach dem
letzten Census (von 1831) 7,8,029 Acres oder 122 Quadratmeilen, enthalte
327,391 Häuser und habe 2,362,236 Einwohner (die, wie aus einer spätern
Angabe hervorgeht, jetzt bis 'auf dritthalb Millionen sich vermehrt haben'
müssen).
Durch derartige Angaben würde die Vorstellungskraft sicherlich nicht mehr
in den Stand gesetzt, sich ein deutliches Bild von der Bedeutung cher größten
Stadt in der Welt zu machen,'als wenn man ihr die Größe der See dadurch
veranschaulichen wollte, daß man ihr sagte, die Gesammtoberfläche aller Meere
belaufe sich aus 143 Millionen Quadratmeilen, und dieselben enthalten
6,ii1 Billionen Tonnen des gemeinen Salzes.
Indem wir versuchen wollen, ein lebhafteres Gemälde und einen deut¬
lichern Begriff von der Größe Londons zu geben, müssen wir vorausschicken,
daß, zu sagen, wo die Hauptstadt beginnt und wo sie endigt, .ebenso schwierig
ist, wie wenn man die genaue Scheidelinie zwischen den einzelnen Farben des
Regenbogens oder zwischen dem salzigen oder süßen Wasser an der Mündung
eines Flusses ins Meer angeben wollte. Denn die Dörfer, welche sich an die
Vorstädte anschließen, ziehen sich so unmerklich in die Stadt hinein, daß nur
ein der Verhältnisse völlig Kundiger sich zurecht zu finden weiß. Es ist in¬
folge dessen für nothwendig erachtet worden, specielle Parlamentsacten zu er-
lassen, damit die Londoner wissey, wie weit sich London wirklich ins Land hinein
erstreckt, und die Größe der Stadt gesetzliche Grenzen habe.
Dies ist indeß ein Seitenstück zu dem bekannten gesetzgeberischen Acte
König Kanuts; denn es ist ganz ebenso absurd, zu den Ziegeln und dem
Mörtel Londons zu sagen: „Bis hierher und nicht weiter!" als es von
jenem den Fortschritt hassenden Herrscher war, dies zu den Wogen der See
zu sagen.
Im Jahre 1603 z.B., finden wir, waren die gesetzlichen Grenzen Londons,
„in- und außerhalb der Mauern" der Art, daß sie nicht viel mehr als
1300 Acres umschlossen. Allein schon im nächsten Jahrhundert war die Stadt
„ÄLovräinä to lap" bis zu einer Ausdehnung von 20,000 Acres angeschwollen.
Dann zu Anfang dieses Jahrhunderts wurde der Flächenraum wieder erweitert
bis zu 30,000, ferner im Jahr 1837 abermals bis zu 46,000 Acres, während
die letzte Parlamentsacte der Stadt einen Raum von nicht weniger als 78,000 Acres
zu bedecken erlaubt hat.
In der That, das Wachsthum der hauptstädtischen Bevölkerung innerhalb
der letzten zehn Jahre zeigt uns, daß in London alle zwölf Monate für
40,000 neue Ankömmlinge weiterer Platz besorgt werden muß. Von diesen
sind etwa die Hälfte Fremde — eine Einwanderung, die etwa so groß ist, als
ob die ganze Bevölkerung der Insel Guernsey sich nach der Hauptstadt auf- >
machte, uni dort zu bleiben — oder, können wir hinzufügen, als ob alljährlich
eine Stadt von der Einwohnerzahl Karlsruhes sich London anfügte.
Diese Angabe beweist sich durch folgendes Exempel:
M Kein Wunder also, daß die Berichte zeigen, wie fortwährend 4000 neue
Häuser im Bau begriffen sind, und es kann dreist behauptet werden, daß London
sich jährlich durch den Anschluß einer Stadt von beträchtlicher Ausdehnung
vergrößert. Daher fährt London, obschon es, wie Maitland sagt, schon vor hun¬
dert Jahren eine Stadt, einen Burgflecken und dreiundvierzig Dörfer in sich auf¬
genommen hatte, immer noch fort, Tag für Tag Vorstädte zu verzehren und Felder
auf F^per zu verschlingen, und die Baumeister lassen unablässig Häuser aufsprie¬
ßen, wo kurz vorher die Marktgärtner noch Kohlköpfe aufsprießen ließen. Die
Metropole streckt ihre zahllosen Straßensibern gleich den tausend Wurzeln eines
alten Baumes aus, und es ist mit Gewißheit anzunehmen, daß auch die letzte
Bestimmung über die Schranken dieses Wachsthums nicht für die Ewigkeit ge¬
troffen worden ist, ja daß schon nach zehn Jahren eine andere Acte wird er¬
lassen werden müssen, welche diese Schranken noch weiter hinausrückt.
Was nun ,die jetzige Größe dieser ungeheuren Stadt betrifft, so umschließt
sie einen Raum, der einst die Gebiete von vier sächsischen Staaten — des
Königreichs der Mittelsachsen, Ostsachsen, South Rick und Kentwaras — aus¬
machte. Dieser Raum hat mehr als d^le doppelte Ausdehnung der Insel
Se. Helena, fast die doppelte von Jerseys London ist ziemlich so groß als
Elba und beinahe halb so groß als Madeira. Es erstreckt sich nicht blos in
die drei Grafschaften Middleser, Kent und Surrey, sondern die Länge des
Theils der Themse, welcher die Stadt durchschneidet und die Ufer gleich¬
sam in zwei große städtische Provinzen theilt, mißt von Hammersouth bis
Woolwich uicht weniger als zwanzig englische Meilen, während der Strom in
seinem Lause durch die Stadt auf der einen Seite die Wasser der schiffbaren
Flüsse Röding und Lea, und auf der andern den Ravensbourne und Wandle
nebst einer Menge von Bächen aufnimmt, die jetzt unter den Häusermassen
hinfließen und das schmuzige Amt von Schleußenräumern versehen, einst aber
zum Theil von hinreichendem Wasserreichtum waren, um der Schauplatz von
Schissslreffen zu sein.
Von Osten nach Westen erstreckt sich London von Plumstead bis nach
Hammersmith auf der Middleserseite des Flusses und von Woolwich bis nach
Wandswvrth auf der Surreyseite, und zwischen diesen äußersten Punkten zieht
sich eine beinahe ununterbrochene Reihe von Häusern hin, welche gegen vier¬
zehn Meilen lang ist, während die Reihe von Gebäuden, die von Norden nach
Süden geht und Hollowau mit Camberwell verbindet, über zwölf Meilen
lang ist.
Wenn wir aber nur die solide Masse von Häusern im Centrum betrachten,
wo^die Gebäude Rücken zu Rücken aneinander und fast so dicht wie die Baum¬
wollenballen im Schiffraume eines Kauffahrers stehen, so ist selbst die von
diesem bedeckte Fläche Landes noch größer, als die Insel Guernsey. Die ver¬
gleichsweise Dichtheit der Bauart in den verschiedenen Theilen Londons kanF
von der Thatsache abgenommen werden, daß im Herzen der, Stadt sich mehr
als dreißig Häuser auf dem englischen Acker befinden, während auf demselben
in den entfernteren Gegenden von Hampstead und Kensington deren nur etwa
zwei stehen.
Eine Aufzählung der Menge von Gebäuden, welche London bilden, würde,
wir wiederholen es, nichts dazu beitragen, das Bild von London anschaulicher
zu machen. Dagegen erhält man eine gute Idee von dem Gegenstande, wen»
man sich fragt, wie lang die Linie sein würde, falls alle diese Gebäude neben¬
einander gestellt und eine einzige ununterbrochen fortlaufende Straße wäre».
Dies ist leicht dargestellt, wenn man annimmt, daß jedes der Häuser Londons
eine Front, von fünfzehn Fuß Breite habe. Multiplicirt man die Zahl der
Häuser mit fünfzehn, so findet man, daß eine solche Straße ziemlich tausend
englische Meilen lang und somit über ganz England und Frankreich, von Nork
bis nach den Phrennäen reichen würde.
Nach dieser Betrachtung wird man leicht einsehn, daß die Straßen der -
Hauptstadt, welche auf der Karte wie ein ungeheures Wirrsal von Ziegelstein-
Häusern aussehen, mehre Tausende sind/ und wirklich zählt jener gewaltige Band
des London Post-Office Directory mehr als 10,300 verschiedene Straßen,
Plätze, Rundtheile, Terrassen, Villas, Gassen, Höfe, Squares, Seitengäßchen
u. s. w. auf.
Viele von diesen Durchfahrten sind an sich selbst voll nicht unbeträcht¬
licher Länge. Orfortstreet z. B. ist fast anderthalb Meilen lang, und Regent-
street mißt von Langsam Church bis zur Carlton Terrasse beinahe eine Meile,
während die beiden großen mit dem Flusse parallellaufenden Durchfahrten, von
denen die eine sich über Orfordstreet, Holborn, Cheapside, Cornhill und White-.
chapel nach Mile End erstreckt und in der That nur eine Straße mit ver¬
schiedenen Namen ist, und die andere, die von Knightsbridge über Piccadilly,
Haymarket, Pakt Malt East, den Strand, Cannon Street, Tower Street u. s. w.
auf der Natcliffestraße nach den Westindia Docks geht, jede über sechs Meilen
lang sind.
„Aber wenn man," sagt Dr. Johnson, „sich einen rechten Begriff von
der Größe dieser Stadt machen will, so muß man sich nicht damit zu¬
frieden geben, daß man ihre Straßen und Plätze sieht, sondern zugleich einen
Blick auf die kleinen Seitengäßchen und Höfe werfen. Nicht in .den glänzen¬
den Gebäuden jener besteht die Unermeßlichkeit Londons, sondern in der Viel¬
artigkeit menschlicher Wohnungen, welche hier zusammengedrängt sind."
In der That, die Ausdehnung der londoner Straßen, mit Einrechnung
der kleinen und kleinsten, ist beinahe unglaublich. Denn ein Bericht der Polizei
aus dem Jahr -I8S0 gibt die Länge der Durchfahrten der Stadt auf nicht
weniger als 17S0 Meilen an, so daß hiernach die Haupt- und Nebengassen der
Capitale noch länger als die Linien der fünf großen Eisenbahnen sind, wenn
diese aneinandergehetzt würden.
Versuchen wir nun auch von der ungeheuren Masse menschlicher Wesen,
welche in diesen Straßen und Häusern leben, eine deutliche Vorstellung zu ge¬
winnen, so ist vielleicht der folgende Weg der richtige. Vergleichen wir die
Zahl der Menschen, die in der Metropole Englands leben, mit der Zahl derer,
die bei Gelegenheit des Begräbnisses Wellingtons in den Straßen waren,
welche der Leichenzug berührte, so können wir aus der Ausdehnung der
Menschenmasse, die an jenem Tage sich versammelt hatte, auf die Ausdehnung
der Masse schließen, welche die gesammte Einwohnerschaft Londons bilden würde,
falls sie je zusammengebracht werden könnte.
Man rechnete heraus, daß damals ungefähr anderthalb Millionen
Menschen beisammen waren, um der Feierlichkeit beizuwohnen, und daß diese
die Trottoirs aus eine Strecke von drei Meilen bedeckten. Daraus folgt, daß
die Einwohner Londons, wenn sie zu gleicher Zeit in den Straßen erschienen,
eine dichte Masse menschlicher Wesen von etwa fünf englischen Meilen Länge
bilden würden.
Oder, um die Sache noch anschaulicher zu machen, man kann sagen,
wenn die gesammte Bevölkerung Londons, militärisch geordnet, paarweise auf¬
gestellt würde, so müßte die Länge dieser großen Armee von Londoner»
670 Meilen lang sein, und sie würde, vorausgesetzt, daß sie sich mit einer
Schnelligkeit von drei Meilen in der Stunde fortbewegte, neun Tage und
neun Nächte bedürfen, um an dem, der über sie Heerschau hielte, vorbei zu
defiliren. ^
London ist wesentlich eine Stadt der Contraste d. l). eine Stadt, wo die
'Extreme der gesellschaftlichen Zustände sich dem Beobachter mit größerer Ge¬
walt aufdrängen als anderwärts. Ueberfluß und Maugel, Pracht und Schmuz,
Hunger und Obdachlosigkeit treten hier in schävfern Umrissen hervor, als in
irgend einer andern Stadt der Welt. DaS Elend der Armen, die Masse der
Bettler und Diebe ist anderswo zur Genüge geschildert worden, und wir heben
deshalb aus Mayhewö Mittheilungen nur noch einiges, von der lichten Seite
hervor.
Das englische Landvolk sagt, die Straßen Londons seien mit Gold ge¬
pflastert, und es hat damit nur die Möglichkeit sür die Wirklichkeit genommen.
Denn saßt man den ungefähren Geldbesitz der Stadt zusammen, so dürfte sich
damit leicht die ganze Fläche deö Pflasters der 1730 Meilen langen Straßen
bedecken lassen. Aber noch mehr, das wirkliche Pflaster der Straßen kostet
nicht weniger als vierzehn Millionen Pfund, und die Ausgaben für die An¬
legung einer Straße berragen pro Meile 8000 Pfund, so daß wahrlich die
bloßen Steine beinahe wie Goldklumpen zu rechnen sind.
Sodann aber sind die unter der Oberfläche liegenden Meichthümer nicht
weniger ungeheuer. Denn unter diesen selben Pflastersteinen von London er¬
strecken sich Gasröhren von 1900 Meilen Länge hin und außerdem Wasser¬
röhren von gleicher Länge. Kosteten diese auch nur einen Schilling der Fuß,
so würde das schon fast eine halbe Million Pfund geben. Endlich aber dürfen
jene unterirdischen Tunnel der Schleußen, jene ziegelsteinernen Eingeweide der
Riesenstadt nicht unbeachtet bleiben, die sich ebenfalls unter dem Pflaster der
Stadt einige hundert Meilen hinstrecken und ungeheure Summen kosten. Man
sollte fast meinen, baß eS in London keine Armuth geben könne, wenn man die
Masse von Geld in Betracht zieht, die allein für die Erleuchtung Londons mit Gas
und für die Apparate zur Bereitung desselben ausgegeben wird. Das Capital,
welches in Gasröhren, Bottichen, Gasmessern und ähnlichen Apparaten an¬
gelegt ist, beträgt etwa drei und eine halbe Million, und die Kosten der Be¬
leuchtung belaufen sich durchschnittlich auf eine halbe Million Pfund. Jede
NcM brennen in den Gassen 360,000 Gaslaternen, die gegen dreizehn Millio¬
nen Cubikfuß Gas verzehren.
Ganz ungeheuer ist begreiflicherweise der Werth der Gebäude. Der Ertrag
oder das jährliche Einkommen von den Häusern Londons, wie es durch die
Eigenthums- und Einkommensteuer festgestellt ist, beläuft sich auf zwölf und
eine halbe Million Pfund, so daß der Gesammtwerth der Gebäude Londons,
nach dem Ertrage von zehn Jahren berechnet, die ungeheure Summe von
hundert und fünfundzwanzig Millionen Pfund Sterling betragen würde.
Allein dies ist noch nicht alles: diese Summe drückt, so erstaunlich sie ist,
nur den Werth der Häuser sofern sie als leerstehend betrachtet werden aus,
und um zugleich den Werth der Möbel zu begreifen, die sie in sich fassen,
müssen wir einen Blick auf die Berichte der Versicherungsgesellschaften werfen,
und hier finden wir, daß-das versicherte Eigenthum in den Häusern Londons
(obwol nur zwei Fünftel davon versichert sein sollen) mehr als 106 Millionen
Pfund beträgt,
Geld und Werthpapiere pflegt man nicht zu versichern und' so werden wir
aus eine andre Zahlenreihe geführt, welche den staunenswerthen Reichthum
dieser Riesenstadt ausdrückt. Der verstorbene Rothschild nannte im Jahr-1832
die englische Hauptstadt die Bank der ganzen Welt. „Ich glaube," sagte
er, „daß alle Handelsgeschäfte in Indien und China wie in Deutschland
und Rußland von hier aus geleitet und entschieden werden." Er konnte das
wissen, und in der That, wir haben keine Ursache, es zu bezweifeln; denn wir
erfahren aus guter Quelle, daß der Betrag des Capitals, welches den Bankiers
Londons zur Verfügung steht, auf ungefähr KL Millionen Pfund veranschlagt
wird, und daß die Depositen oder die Summen, welche bei den Versicherungs¬
gesellschaften niedergelegt sind, etwa -10 Millionen Pfund betragen mögen,
wahrend die zu Disconten verwendeten Werthe in London allein sich auf die
fast unglaubliche Summe von 78 Millionen Pfund belaufen.
Man behauptet auf gute Autorität hin, daß ein einziges Geschäftshaus
Londons im Jahr -18-i-I gegen dreißig Millionen Pfund Sterling auslieh, waS
ungefähr zwei und drei Viertel Millionen monatlich ist, und es kamen an
manchen^Tagen Zahlungen vor, die sich auf 700,000 Pfund beliefen.
Aber das ist nicht alles. Es gibt in London ein Etablissement, welches
das „Elearinghouse" heißt, und wohin man die Anweisungen und Wechsel
bringt, aus denen ein großer Theil deS von den Bankiers zu zahlenden und zu
''''
empfangenden Geldes besteht, und wo die Anweisungen und Wechsel, die aus
das eine Bankierhaus gezogen werden, durch die ausgeglichen werden, welche
dasselbe von andern in Händen hat. In dem Anhange zu dem zweiten Be¬
richte des Parlamentsausschusses, in Beziehung auf die Banken befindet sich
eine Angabe über die Zahlungen, welche durch das Clearinghouse im Jahr
1859 geleistet wurden, und obschon alle Summen unter hundert Pfund dabei
weggelassen sind, beliefen sich diese Zahlungen doch auf mehr als 9Si Millio¬
nen Pfund, und die jährlichen Zahlungen von drei Bankiers allein betrugen
über hundert Millionen. Eine solche Bedeutsamkeit des Handels ist nicht nur
völlig ohne Gleichen, sondern verlangt auch einen starken Glauben, um nicht
für ein Wunder zu gelten. Ein Gang nach den verschiedenen Docks indeß,
diesen ungeheuren Stapelplätzen der Reichthümer aller Welt, wird auch den
ungläubigsten Zweifler von der Wahrheit jener Angaben überzeugen.
Diese Docks sind in der That der eigentliche Brennpunkt der Macht
unsrer Handelsfürsten. Die Krcchne ächzen unter der Last von Reichthümern,
die sie emporwirbelt. In den Speichern sind Haufen von Indigo und andern
Färbestvffen aufgeschichtet, welche gleichsam ebenso viele Hausen ungezählten
Goldes sind. Auf den Böden und in den Kellern lagern Schicht auf Schicht
Schätze, die das Auge verwirren. Der Reichthum scheint so grenzenlos wie
die See über die er gekommen ist, er ist so groß, daß man glauben könnte, er
würde die ganze Welt reich machen, wenn er vertheilt würde. Geht man über
diesen Kai, so ist die Luft stechend von den Massen von Tabak, die dort
lagern, während auf jenem ein überwältigender Duft von Rum die Atmosphäre
schwängert. Beim dritten wird einem übel von dem Gerüche, den Millionen
Häute und Hörner ausströmen und auf dem nächsten wieder duftet die Luft
von unermeßlichen Kaffee und Gewürz. Fast allenthalben erblickt man Haufen
von Getreide, von gelbem Schwefel oder bleifarbigem Kupfererz. In dem
einen Waarenhause ist die Diele klebrig von dem Rohzucker, der durch die Ritzen
der Fässer gelaufen ist, in dem andern herrscht ein betäubender Weingeruch
und dort sind unendliche Fässer, gefüllt mit der köstlichen Flüssigkeit, neben un¬
endlichen andern, in denen Ruin und Cognac sich befinden. Vor den Kais
endlich liegen zahllose Schiffe, die neue Reichthümer gebracht haben.
Es ist unmöglich, sich einen völlig zutreffenden Begriff von dem Handel
des londoner Hafens zu machen. Aber wenn wir die Ein- und Ausfuhr
zusammenrechnen, so werden wir nicht übertreiben, wenn wir den Werth der¬
selben auf ungefähr 6ü Millionen Pfund veranschlagen*).
Es leben in London von den Docks nicht weniger als 20,000 Menschen.
Unmittelbar sind an ihnen täglich zwischen ein- uno dreitausend Arbeiter beschäf¬
tigt, je nachdem das Geschäft lebhaft oder flau, die Nachfrage nach Händen stark
oder schwach — das heißt, je nachdem der Wind den Schiffen, die nach dem Hasen
wollen, günstig oder ungünstig ist. „Es ist ein böser Wind, der niemandem zu
Gute weht," heißt ein englisches Sprichwort, und man lernt an die Wahr¬
heit desselben glauben, wenn man sieht, wie hier gegen zwei Tausend Magen
chamäleonartig im eigentlichsten Sinne von der Luft leben und wie ein Ostwind
so vielen Menschen das Brot vor dem Munde wegnehmen kann.
Die Erwähnung des Magens erinnert noch an einen andern Gesichts¬
punkt, von dem die-Größe Londons anschaulicher wird. Die Berichte über
den Viehmarkt zeigen, daß London jährlich 272,000 Ochsen, 30,000 Kälber,
1,480,000 Schafe und 34,000 Schweine — im Werthe von sieben bis qcht
Millionen Pfund — verzehrt, während von den Bäckern der Stadt in der¬
selben Zeit 1,600,000 Quarter Weizen zu Brot verbacken werden. Von dem
Verbrauch an Gemüsen, über den Mayhew ausführliche Tabellen gibt, be¬
merken wir nur, daß die Londoner jährlich 3-10,464,000 Pfund Kartoffeln,
89,672,000 Krautköpfe, 32,648,000 Rüben, -16,817,000 Mohren und -1,489.600
Bushel (berliner Scheffel) Zwiebeln verspeisen. Dazu kommen circa 400
Millionen Pfund frische und ungefähr 47 Millionen Pfund getrocknete Fische
und 496,896,000 Austern — ungerechnet die Masse von Hummern, Krabben,
Muscheln und Krebsen u. .s. w., welche täglich aufgekauft werden. Dazu
ferner 4,013,300 Stück Geflügel, dazu endlich eine große Menge von Aepfeln,
Apfelsinen, Kirschen, Pflaumen und verschiedenen Beeren.
Nicht geringer ist im Verhältniß der Verbrauch an Getränken; denn neben
19,213,000,000 Gallonen Wasser, welche den Häusern von den verschiedenen
Gesellschaften geliefert werden, verschwinden in den Kehlen der Londoner all¬
jährlich 6S,000 Piper verschiedener Weine, 2,000,000 Gallonen (circa zwölf
Millionen gewöhnliche Weinflaschen) spirituösen und 43,200,000 Gallonen
Porter und Ale.
Endlich aber darf nicht unerwähnt bleiben, daß die Metropole jährlich 3
Millionen Tonnen Kohlen zu Zwecken der Erwärmung und Erleuchtung verwendet.
Sind nun die großen Fleisch- und Gemüsemärkte Zeichen des Wohllebens,
dessen sich ein beträchtlicher Theil der Bevölkerung erfreut, so gibt es andre
Märkte, die man als Beweis für die Noth und den Mangel anführen kann,
den andre Londoner leiden. Folgen wir zum Schlüsse dieser Betrachtung, ta-
on dem Contraste wenigstens einigermaßen sein Recht werde, dem Verfasser
nach der Börse der Lumpensammler Londons.
Die Handelsartikel bestehen hier nicht aus werthvollen Schiffsladungen,
die von allen vier Weltgegenden kommen, sondern einfach aus Packen schmuziger
Fetzen, die in den Seitengassen und auf den Kehrichthaufen Londons ausgelesen
wurden. Der Reichthum, in welchem die Kaufleute von Rag Fair Geschäfte
machen, ist lediglich der Abfall der wohlhabenden Welt, die abgelegte Haut
derselben gleichsam, wenn ihre Zeit gekommen ist, eine neue anzuziehen.
" Vor einigen Jahren kaufte ein jüdischer Klcidertrödler die Hänser hinter
Phiih Buildings, einem Hose, der'aus Houndsditch führt, und machte daraus
den Markt, der jetzt „Old Clothes Erchange" heißt. Hier ist der Mittelpunkt
des londoner Lumpenmarkts. Gegen vier Uhr im Sommer und gegen drei
Uhr im Winter findet hier das Hauptgeschäft statt, und dann ist die Passage,
die von Houndsditch nach der Trödlerbörse sührt, gedrängt voll von Leuten
mit stachlichen Bärten und orientalischen Nasen, die sast alle große Säcke auf
dem Rücken und gewöhnlich drei oder vier alte Hüte in den Händen haben.
Vor dem Thorwege steht der berühmte Thürhüter, Barney Aaron, um mit
ausgestreckter Hand das Eintrittsgeld — einen Halfpenny — zu erheben,
während neben ihm sein Sohn Posto gefaßt hat, der eine Art Patronentasche
umhängen hat, in der er den halben Centner Kupfergeld, der bereits ein¬
gegangen ist, aufzubewahren pflegt. Indem der Fremde durch das Thor tritt,
wird der Geruch der hier aufgehäuften alten Wäsche, der abgetragenen Schuhe
und Röcke und der halbverfaulten Hasenhäute schier betäubend. Eine garstige
Säure gemischt mit dem Dufte vom Moder und Pilzen schwimmt in der Luft —
es ist eine Art „bouquet 6s mitis Kalaiures", welches weit entfernt ist, christ¬
lichen Nasen wohlthuende Empfindungen zu erwecken.
Die „Börse" besteht aus einem großen viereckigen Platze, der mit einem
niedrigen Schuppen umgeben ist, und in dessen Mitte auf-vier doppelten
Reihen von Bänken die Verkäufer sitzen, während ihre Waaren vor ihnen
ans dem Boden ausgebreitet sind. Das erste, was dem an diese Scene» nicht
gewöhnten Auge auffällt, ist, daß unter den Käufern dieses .Kehrichts von
London eine größere Geschäftigkeit und Hast zu herrschen scheint, als unter den
Kaufleuten, die mit kostbaren Dingen handeln. Das zweite ist die Ueberein¬
stimmung, welche zwischen den Empfindungen der Nase und denen des Auges
herrscht, sobald sich das Bild vollständig aufgerollt hat. Hier sitzt ein „Crock-
man" d. h. ein Verkäufer von irdenen Waaren, in einer-hellrothen Plüschweste
und Kniehosen, welche ein paar Beine wie Balustraden bedecken, neben seinem
halb geleerten Korbe mit Porzellan- und Steingutgeschirr,- während'zu seinen
Füßen die Sammlung scheinbar werthloser Paletots, zerrissener Wellingtons und
fettiger, zerknickter Hüte aufgespeichert ist, welche er für seine Krüge, Tassen,
Waschbecken und Nippes eingetauscht hat. Ein paar Schritte von ihm ist ein
Frauenzimmer, das in einen alten grauen Kutschermantel mit vielen Kragen
gehüllt ist, ein 'Paar tuchne Männersti'efeln anhat und deren Strohhut von
wiederholt auf ihm getragenen Packen zusammengedrückt ist. Der Boden vor
ihr ist mit alten theefarbenen Schnürleibern und Bündeln hölzerner Blank¬
scheite, so wie kleinen Stückchen Fischbein belegt, während neben ihr auf der
Bank ein Häuschen alter Sonnenschirme liegt, die zusammengebunden'sind und
wie ein Köcher voll Pfeile aussehen. Im Winter sieht man dieses Frauen¬
zimmer mit Haufen von HasenseUen umgeben, von denen einige so alt und
steif sind, daß sie gefroren zu sein scheinen. Dann weiter trifft das Auge auf
einen Mann mit einem Vorrath von Stiefeln, von denen einige ohne Sohlen
sind, andere mit zerrissenen Drähten wie ein Rachen mit gelben Zähnen gähnen,
einige, lange der Wichse entbehrend, wie rostiges Metall aussehen und andere
wieder über und über mit weißen Moderflecken bedeckt sind. Neben einem
andern Trödler begegnen wir einem Hügel von ausgewaschenen. Westen, alter;
baumwollenen Unterbeinkleidern und Strohhüten, die sich zur Hälfte in die
Elemente ihrer Existenz aufgelöst haben. Dann sieht man einen Judenknaben
die Rudera eines Theateranzugö emporhalten, der aus einem schwarzsammtnen
Wamms mit unechter Goldstickerei besteht und dem jungen Jsraeliten augen¬
scheinlich irgend ein rührendes Melodrama in die Seele zurückruft, welches er
an einem Sabbatabend im Paviliomheater aufführen sah.
Noch ein paar Schritte weiter bläst einer der Kaufleute in einen alten ge¬
färbten Muff, dessen Haare so fuchsig geworden sind, wie der Backenbart eines
Schotten. Auf der nächsten Bank treffen wir einen schwarzbärtigen, aus¬
gemergelten Knochensammler, der in schmuzige, von Fett starrende Lumpen ge¬
kleidet ist. Er hat seinen Sack aus das Pflaster ausgeleert und die Knochen,
die alten Nägel und Hufeisen und die Tuch- und Leinwandfetzen, die er ge¬
sammelt, jede Waare auf ein bestimmtes Häuschen sortirt und während er so
dasitzt und begierig auf einen Käufer dieser Kostbarkeiten wartet, kaut er an
einem Stück verschimmelter Pastetenrinbe, die man "ihm bei seinem Umzüge
irgend wo gegeben.
In einem Theile der „Börse" bemerkt man das rauchgeschwärzte Gesicht
eines wohlbekannten herumziehenden Kesselflickers, der eine Gesichtsfarbe wie
Eurrvpulver und Hände so brayn, als ob sie frisch gethcert wären, hat; vor
ihm steht eine Pvramvde alter, verbogener Theekannen und Brühnäpfe von
Neusilber, und sein Nachbar ist ein Negenschirmflicker, vor welchem eine Menge
Fischdeinrippen und mit Zwingen versehene Stöcke mit scharfzugespitzten Knvchen-
griffcn liegen. .
Die Käufer sind ein ebenso malerisches und wunderliches Geschlecht als
die Verkäufer. Sie gehören allen Nationen an und tragen allerlei Trachten.
Einige sind Schweizer, andere Griechen, noch andere Deutsche. Einige kommen
hierher, um „für den irischen Markt" abgetragene Kleider, wie sie von wohl¬
thätigen Anstalten an die Armen vertheilt werden und alle Soldatenmäntel zu
erkaufen. Ein wohlbekannter Alter, mit einem langen Barte und einem zer-
lumpten Kittel, der 'in seinem Fette wie eine Theerdecke glänzt, und von
dem es heißt, daß er Tausende besitze, ist hier einen und alle Tage, um zu
sehen, ob er seinen Schätzen nicht noch ein paar Sirpcnce hinzufügen kann,
indem er um den Wegwurf feilscht, der auf dem Boden ausgebreitet ist. Man
sehe, wie er schweifwedelt und winselt und die Achseln zuckt, indem er jenen
armen Teufel zu verleiten sucht, sich von der silbernen Bleistifthülse, die er
„gefunden" hat, um ein paar Pence weniger, als ihr wirklicher Werth ist, zu
trennen.
Während die Käufer zwischen den Reihen der Verkäufer auf und ab gehen
und jetzt vor den alten Flaschen, Stiefeln, Hüten und Röcken, jetzt vor den
Haufen von Knochen, altem Eisen, Schnürleibern, Frauenkleidern, Schlafröcken
und Westen stehen bleiben, schreit ein dicklippiger Judenknabe von seinem hohen
Verkaufsstande in der Mitte des Marktes mit bezeichnendem Accent: „Jngwer-
bier, einen Halfpennv das Glas! —einen Halfpennv das Glas, Jngwerbier!"
Zwischen den Bänken schleichen Weiber mit Körben voll Schafssüße hin und
kreischen: „Hammelkeulen, zwei für 'nen Perro. Wer gibt mir Handgeld?"
und nach ihnen kommt ein Mann mit einem großen Bret voll ,,ki,U>^ antes".
Ferner steht in der Mitte des Markes ein andrer Händler mit den Lecker¬
bissen der Straße. Er hat gepökelte Trompetenschnecken zu verkaufen, die wie
ungeheure Maden in Schüsselchen mit Salzwasser schwimmen. Neben ihm
befindet sich ein Verkaufsstand mit Zuckergebacknem, an dem ein Haufe junger
Söhne Israels gierig um „Boneypartes Rippen" und ähnliche Delicatessen
würfelt.
An dem einen Ende der „Börse" befindet sich ein Kaffee- und Bierhaus,
in dessen Räumen man Juden antrifft, die Dame spielen oder sich, indem sie
für verhandelte Artikel Zahlung leisten oder empfangen, noch etwas abzu¬
zwacken suchen, während einem, wenn man sich durch das Thor entfernt, welches
nach Petticoat Laue führt, draußen ein Mädchen begegnet, welches einen
Pferdeeimer mit Eis trägt und in Tassen von der Größe einer halben Eier¬
schale eine Flüssigkeit verkauft, die wie gefrorener Seifenschaum aussieht, wobei
sie, den Eimer schüttelnd, daß der Inhalt wie zerbrochenes Glas klirrt, unab¬
lässig ausruft: ,,^c»v do^s, dore's ^our coolers, im i^p<Zio> a ^'la^'
— lui ir^pe-rin^ a Klass."
In der That, auch -Nag Fair ist ein Beispiel für die Größe Londons,
und vielleicht nirgend in der Welt findet sich eine solche Masse von Lumpe»
und Lappen, Moder, Schimmel, Schmuz und'Fäulniß zum Verkauf ausge¬
stellt als in der Trödlerbörse in HoundSditch.
Wiederum lasse steh unser Leser an die Stelle führen, die man gemeinhin
als die Grenzscheide deutscher Bildung zu bezeichnen pflegt, obwol diese Be¬
zeichnung nur theilweise richtig ist, da der Deutsche sich mit Stolz bewußt sein
darf, daß die Elemente seiner Cultur jetzt theils zersetzend, theils umbildend
viel weiter in die benachbarten Nationalitäten eindringen.
Wollte nur die deutsche Cultur kräftig genug wirken, auch die entferntem
Theile des politisch abgegrenzten Deutschlands zu durchdringen und auch die
bis jetzt vernachlässigten Landstriche zu beglücken, die auf ihren wohlthätigen
Einfluß ein Recht haben. Wir werden erfahren, wie viel sie hier an der
Preußisch-polnischen Grenze noch zu schaffen hätte.
Es ist eine ausgemachte Sache, daß die Beobachtung des Grenzlebens
nicht nur hier, sondern fast überall des Merkwürdigen mehr erschauen läßt,
daß wir wenigstens hier des Merkwürdigen mehr zu suchen gewohnt sind als
im Innern der Länder. Hier begegnen sich die Völker und offenbaren sich
gegenseitig die Geheimnisse ihres Daseins. Abweisend und entgegennehmend
zeigen sie uns die Verschiedenheit ihrer Sitten und ihres ganzen geistigen
Habitus: eine Wechselwirkung, deren steh auch bei dem ernstesten Widerstreben
kein Theil erwehren kann.
Am klarsten zeigt steh auf der besagten Stelle die Verschmelzung des
deutschen und slawischen Elements wie überall in der Sprache. Dieser masu-
rische Dialekt ist vorwiegend polnisch, doch so sehr mit deutschen Worten unter¬
mischt, daß es uns oft nicht schwer fallen dürfte, den Masuren theilweise zu
verstehn. Besonders die Bezeichnungen aller Gegenstände, welche der Masur
blos aus dem Umgange mit der deutsch gebildeten Bevölkerung kennen gelernt
hat, nimmt er aus der Sprache der letztern auf, indem er sie sich nur durch
die polnische Endung Ki oder Ka.mundgerecht macht. Der meistens in tiefem
Elend oder doch in natürlicher Rohheit lebende Grenzpole kennt ein Ding
'wie eine Lichtputze, einen Fensterladen kaum aus der Anschauung, hat daher
auch kein Wort für dasselbe, und so begnügt sich der Masur ganz kurz mit
der Bezeichnung Mtsodsi-Ki (Putzscheere) kenswrluclki u. s. w. — Aber diese
Zusammeuwürflung deutscher und polnischer Sprachelemente in dem masurischen
Dialekte geht noch weiter. Es herrscht gleichsam das Uebereinkommen, neben
den ausschließlich polnischen Vocabeln auch die polonisirten deutschen gelten zu
^sser, wenn auch Sätze wie: moi vaclvre^K span lucluki, sapal Kr<me/.Kt —
Mein Vater fiel von der Lundt (dem Boden) und brach das Kreuz — mehr
Aaas einem scherzhaft entstellten Deutsch, als nach einem wirklichen Dialekt
klingen. Nicht allgemein werden wir diese Unsicherheit in der Wahl der
deutschen und polnischen Worte so prägnant ausgedrückt finden wie in dem
angegebenen Beispiel, das wir der Sprache der Masuren wortgetreu ent¬
nommen haben. Doch wird man im Ganzen sich keinen falschen Begriff von
dem erwähnten Dialekt machen, wenn man von dieser kleinen Probe auf das
Ganze schließen will.
Nächst der Sprache finden die sich hier vermischenden Nationalitäten in ihrer
socialen Haltung einen zweiten Berührungspunkt. Mit Unwillen bemerkten
wir bei den masurischen Bauern, besonders bei den ärmern und bei derjenigen
Classe, die ohne Grundbesitz sich vom Fischfang kümmerlich nährt, die Hin¬
neigung zu leibeigner Unterwürfigkeit. Der niedrige oder der arme Masur ist
nicht weit entfernt von wirklicher Demüthigung vor den Herrn, die ihm in
ziemlich stattlichem Aufzuge begegnen, und es sollte den Gutsbesitzern nicht
schwer werden, ihre Insassen zu vollkommener Leibeigenschaft zu gewöhnen.
Nur der üble Wille der Gutsherrn und die gesetzliche Rechtfertigung fehlt hier,
um ein solches Elend zu vollenden; die Untergebenen selbst sind vollständig
dazu disponirt. Einen jammervollen Anblick gewährt ein solcher Jnstmann,
wie er hier genannt wird, ein solcher Scharwerksarbeiter, wenn er einem
„Herrn", wol gar dem Gutsherrn begegnet! Bom Deutschen hat er das Grü¬
ßen vermittels Entblößen des Hauptes gelernt, vom polnischen Leibeignen
aber außerdem noch einen gewissen Anfang des Niederkniens, eine Bewegung,
als wollte er bei dem Gruße vor lauter Ehrfurcht zusammenbrechen. Die
Hand zieht schnell die Mütze vom Kopf und kreuzt sich dann mit der andern
anstatt über der Brust unten über den Magen. In kurz abgebrochenen Re¬
verenzen fällt Kopf und Brust über den Unterkörper hin, und die gebeugten,
zitternden Knien scheinen den Mann tuum aufrecht halten zu können. So
bewillkommnet er uns und betrachtet uns dabei mit so demüthig jammervollen
Blicken, daß wir vorübereilen, um unserm Auge diesen Anblick zu entziehen-
Rechnen wir noch das blasse Aussehn und die zerlumpte Kleidung dieses preu¬
ßischen Mitbürgers hinzu, so können uns leicht andre Dinge zu Sinn kommen
als die Zufriedenheit mit dem Fortschritte unsrer Cultur.
Und wie freudig könnte sich unsre Cultur in diesem Lande bewegen, das,
wenn auch nur theilweise mit üppiger Fruchtbarkeit, doch überall mit den herr¬
lichsten Naturreizen geschmückt ist. An dem südlichen AbHange des preußischen
Theils der uralisch-baltischen Landhöhe sich vertiefend, zeigt uns dieses Land
die lieblichsten Gegenden, indem es mit grünbewachsenen Schluchten, nackten,
steilen Abhängen,-sanft gerundeten Hügeln und klaren Seen abwechselt, die
durch mannigfach schattirte, bald licht- bald dunkelgrüne Wälder anmuthig
hervorblicken. Eine Schlucht in der Nähe der Domaine Czychen, welche die
Kunst noch mit einigen unerheblichen Bequemlichkeiten versehen hat, würde
nicht verfehlen, das übersättigte Auge eines rcisetrunkenen Touristen angenehm
zu fesseln, und ein Werber in einer Abzweigung des Maurersees mit seinem
reizenden Laubesgrün und seiner wunderbar hellen Abspiegelung entbehrt wol
nur des licht- und'dnftgesättigten italischen Himmels, um einen gleichen Zau¬
ber auszuüben wie die Landschaften, die unter jenen glücklichen Kreisen liegen.
Trotz dieser Schönheiten haben wir uns nicht gewundert, niemals eine masu-
rische Landschaft im Bilde angetroffen zu haben. Es müßte ein einheimischer
Maler sein, der einen solchen Gegenstand wählte; denn ein fremder wagt sich
wol kaum, selbst aus der Nähe nicht, in die Wildnisse, wo nach dem allge¬
meinen Glauben noch zahllose Wölfe und Bären Hausen; obwol die letzten
ziemlich ausgerottet sind, während die ersten allerdings als eine Mittheilung
des nahen polnischen Gebietes noch häufig erscheinen.
Einen Maler zu erzeugen, davon ist dieser Strich Landes noch weit ent¬
fernt. Der seine Sinn und das schöpfungahnende Leben eines echten Künstler-
gemüthes ist für einen geborenen Masuren, selbst für den gebildeter», ein
transscendentales Problem; denn was ihm von Bildungsmitteln zufließt, be¬
zieht sich nur auf seine Erziehung zum künftigen Broterwerber und Amts¬
verwalter, und in«in sollte nicht glauben, wie eng der Gesichtskreis der meisten
Jünglinge ist, die aus masurischen Provinzialstädten her die Universität be¬
ziehen. Jnstinctmäßig, so scheint es, haben sie sich angeeignet, was ihr nicht
erwählter, sondern anerzogener Beruf erfordert. Diesen füllen sie nach be¬
endeten Studien mit all ihrem Dasein, Dichten und Trachten aus, und jeder
Anspruch über diese Grenzen hinaus findet sie theilnahmlos und unbildsam.
Dieser Mangel an Humanität macht sich auch in sittlicher Beziehung bemerk¬
bar, indem die jugendliche Rohheit unter ihnen zügellos walten darf, ohne
durch den Anschluß an freundlichere Sitten sich in einer gewissen äußerlichen
Annehmlichkeit zu zeigen oder durch Einwirkung zarterer, geistiger Momente
eine Entschuldigung für sich zu gewinnen. Nicht selten finden wir unter ihnen
gute Köpfe, wie sie die ausgezeichneten preußischen Lehranstalten heranzubilden
nicht verfehlen; wir finden hier tüchtige Arbeitskräfte für subalterne Staats¬
ämter, Kräfte, die sich oft aus den Tiefen der Gesellschaft, aus den ungün¬
stigsten ' Umständen emporgearbeitet haben; und insofern belohnt die Ein¬
wohnerschaft dieser Gegenden wol die ersichtliche Mühe und die Opfer der
Regierung; doch ist uns kein Beispiel bekannt, daß ein Individuum aus Ma¬
suren sich nur auf eine besondere Höhe allgemeiner Nützlichkeit emporge¬
schwungen habe.
Wir lassen uns über den gebildetern Theil der Bevölkerung des Weitern
aus, um auf die Betrachtung der niedern Classe vorzubereiten. Man findet
wirklich kaum eine geeignetere Zufluchtstätte vor aller Cultur, als dieses Ma¬
suren, wo die natureinfältige Gemüthlichkeit mit ihren Blindekuhspielen und
ihrer Gassenhauermusik in höchst ergötzlich kleinstädtischer Beschränktheit fort¬
lebt. Ein herrliches Ländchen, um den seit zwanzig Jahren abgestorbenen Ge¬
schmack im äußern Leben, in Wissenschaft, Dichtung und Kunst aufs gründ¬
lichste zu repetiren. Wir haben während unsres dortigen Aufenthaltes alle die
schönen alten Lieder gelernt, die jetzt längst aus dem poetischen und musika¬
lischen Gedächtnisse unsres Volkes entschwanden, an dieser Stelle jedoch sich
des Reizes der Neuheit noch nicht entäußert, haben. — Bedenken wir die
Fortschritte, die eine Bevölkerung unter einer klugen Regierung in zwanzig
Jahren machen kann, so werden wir einen Begriff von dem Zustande der nie¬
dern Classe, wol aber auch den Trost gewinnen, daß nach andern zwanzig
Jahren auch unsre jetzigen musikalischen Bravourstücke, und andrerseits unsre
jetzigen Bildungsmittel in diese geistige Einöde gedrungen sein möchten.
Mindestens der niedern Volksclasse wünschten wir diesen Fortschritt in
kürzerer Zeit. Wir hätten aber auch für sie noch vieles andre Wünschens-
werthe, was nicht durch die Wohlthat der staatlichen Erziehung, sondern nur
durch materielles Wohlthun zu erringen wäre: wir wünschten vielen Hun¬
derten Erlösung aus einem grenzenlosen Elend. — Es gibt in Masuren
fruchtbare, überaus fruchtbare Strecken, und diese sind mit reinlichen, schmucken,
blühenden Dörfern besät. Da erheben sich Hunderte von kleinen, aus Holz
geschnitzten Thürmchen, die Zeugen eines wohlhäbigen, sich über die menschliche
Bedürftigkeit erhebenden Zustandes; da umschatten Linden und Eichen die
festen, vom verderbenden, fauligen Mose gereinigten Strohdächer, und Hunderte
von Störchen bauen dort ihre glückweissagenden, friedlichen Nester. Es ist ein
erfreulicher Anblick. Ein andrer Theil der Ländereien ist durch ausgedehnte
Domänen und durch große, reiche Güter fortgenommen; ein drittes Quan¬
tum, aus sandigem,'hakenlosen, dürrem Boden bestehend, wo außer kärglichem
Buchweizen kein andres Kräutlein Wurzel und Nahrung gewinnen kann, ist
einem dritten Theil der Bevölkerung überlassen; ein vierter aber, von der
Scholle gelöst, hat sich am waldigen Stromesufer seine sturmdurchwehte Baracke
gebaut oder sich eine Kammer in einer solchen gemiethet und nennt nur
den >morschen Kahn, den Seelenverkäufer, sein Eigenthum, der dort, an
das zerfaserte Seil gebunden, von den Wellen des Sees geschaukelt wird. Im
Grunde ist es um diese Fischer, die von dem unfruchtbaren Wasser ernten,
noch besser bestellt, als um jene Sandbauern, die von der unwirthbaren Erde
ernten wollen. Immer wachsen die Fische in der tiefen Flut; und scheucht sie
auch ein Sturm oft wochenlang von den Reusen d.es kundigen Fischers in die
Tiefe und an daS unterhöhlte Ufer, so werden sie nach vorübergegangenen
Stürmen desto sicherer in des Netzes Windung gelockt. Wollte aber der
Bauer seine Körner in den Flugsand säen, wie viele Thränen müßte er mit
einstreuen, ohne aufsprießende Freuden erwarten zu dürfen! Selbst der Buch-
Weizen, mit dem er fast seinen ganzen Acker besSt, liefert ihm nur kärglichen
und unsicher» Ertrags denn auch er verträgt die glühenden, regenarmen
Sommer nicht, und außerdem wird der sanvige Acker oft durch heftige Regen¬
güsse sammt der darin versenkten Saat mit fortgeschwemmt. Weh einem solchen
Ackerbauer, den die Entfernung eines Sees verhindert, zugleich die Fischerei zu
betreiben! Er wird den Holzdiebstahl und die Wilddieberei zu Hilfe nehmen
müssen, um sein und seiner Familie kümmerliches Leben zu fristen, bis die
Vollendung seines Elendes hereinbricht.
Es ist schon ein Erlebniß, in diesen Wildnissen sich zu verirren und in der
Hütte eines masurischen Fischers oder abgebauten Landmanns Herberge suchen
zu müssen. Schon die Hütte selbst erregt uns Grauen. Neuerbaut war sie
wol schon ans verwitterten, halb verfaulten Planken und Pfählen mit hölzernen
Pflöcken zusammengenagelt und nothdürftig mit schlechtem Stroh gedeckt; die
Fäulniß hat seitdem ganze Planken aus den Wänden gezehrt, so daß Sturm,
Regen und Schnee in das Innere der Baracke zu gelangen vermögen. Zerfetzt
weht das Stroh des Daches umher, und der zusammenfaltende Rauchfang drückt
sichtbar auf seine morschen Sparren. Die Fensterhöhlen sind Tag und Nacht
durch Breter verschlossen, die man von außen angenagelt hat, und die zum
Sommer fortgenommen werden, im Winter aber genügendes Licht durch ihre
Löcher und Spalten schimmern lassen. Die Thür schlottert in ihren Angeln
, von Stricken oder Fischdärmen, vermittels deren sie, nothdürftig befestigt ist.
Nebengebäude gibt es wol nicht — und wozu wären sie auch, da selten mehr
Vorräthe aufzuspeichern sind, als eine Kammer des Hauses zu fassen vermag,
deren Boden, mit Lehm gepflastert, zugleich als Tenne dient. — Und gar das
Innere des Hauses! Tief, in Schmuz versinkt unser Fuß beim Eintritt; denn
der Boden ist keineswegs gedielt und dazu in einer fortwährenden Umwandlung
begriffen; denn dieser eine Raum schließt alles Leben und alle Verrichtungen
der Familie in sich. Diese, zu welcher innig vertraut einige Ferkel und einige
Hühner gehören, wohnt einträchtig um einen schwarzen Ofen und behält sich
Vor seinen grunzenden Stubengenossen, den Gespielen der Kinder, als einzige
Bequemlichkeit die breite Bank vor, welche durch die Ofenhitze halb verkohlt ist.
Der dicht daneben befindliche Herd dient als Tisch , als Schrank, kurz anstatt
jegliches Hausgeräthes; die obere Abplattung des Ofens aber ist die Ruhe¬
stätte der Armen, denen der Schlaf das einzige Glück ist.. Zur Winterzeit ver¬
schläft der Mann mit seinen schmutzigen Kindern hier auf dem Ofen Tag und
Nacht, wenn ihn das Fischerhandwerk nicht in Anspruch nimmt; und schläft er
nicht, so flickt er hier seine Netze, spießt hier die Fische zum Räuchern auf
lange, hölzerne Stäbe, läßt sich sein Tröglein Fischbrühe hier hinauf reichen.
Sein Tröglein, — doch das ist selten; gewöhnlich speist die ganze Familie,
bisweilen, aber nicht immer vermittels langer hölzerner Löffel, aus einem und
demselben Trog, der von dem Tischgeräts) ihrer Mitwohnerschaft in nichts ver¬
schieden ist, kaum in der Sauberkeit; denn man gestattet es dem Hausgeflügel
wenigstens vollkommen und verzeiht es den allerliebsten grunzenden Thierchen,
wenn sie Schnabel oder Schnautze den seltneren Leckerbissen nähern. Diese
bestehen aus Fischen und immer wieder aus'Fischen: Fische liefern die Suppe,
gekochte Fische sind das Gemüse, getrocknete Fische die Fleischkost, geräucherte
Fische das Brot dazu. Dies hat wirklich die Form des Brotes. Die kleinen
Fische werden nämlich mit dem Schlamm des Sees, der ihnen anhaftet, weidlich
zu Klumpen zusammengeknetet, halb getrocknet und dann noch 'über dem Rauch
ein wenig gebräunt. So sind sie Brot geworden und werden in langen Reiben
auf ein Bret über dem Herd aufgespeichert. Die größeren Fische räuchert man
hier auf die kürzeste Weise. In den Boden deS Wohnraumes, in den'man bei be¬
sonders glücklichen Zeiten auch den kleinen Vorrath von Küchengewächsen ein¬
kellert, wird ein Loch gegraben und im Grunde desselben ein Schmanchfeuer
von Kienspänen und Reisig zum Schwelm angezündet. Darüber hängt man die
auf einen dünnen Stab gereihten Fische und läßt sie einige Stunden räuchern:
das theilt zugleich dem Zimmer Wärme und Duft, den Wänden die schwarze,
dauerhafte Tünche mit. Diesem Bilde gebe .man die hier gewöhnliche Be¬
leuchtung durch einen Kienspan, Dzibber genannt, der aus einem Spalt der
niedrigen Decke herabragt und den die Hausfrau nicht müde wird alle fünf
Minuten durch einen neuen zu ersetzen. So hat man ein Gemälde, das durch -
Originalität und Düsterkeit seine Wirkung nicht verfehlen wird.
Für unsre Gewohnheiten, unser Auge, unsren Gaumen ist alles dieses nicht
geeignet; für diese aber finden wir auch in der stattlicheren Hütte und bei den
wohlhabenderen Insassen keine Befriedigung. Kaum die Herberge werden wir hier
erträglich finden; unsre Speisevorräthe werden wir uns weislich selbst mitbringen
müssen. Wir vertrauen dann den Händen der uns herzlich bewillkommenden,
sehr gastfreien Wirthin etwa den gemahlenen Kaffee an, dessen Absud uns er¬
quicken soll, und nach langem Harren erhalten wir endlich unsren Kaffee, nicht
ihn selbst, sondern nach Fortschüttung der unerklärlichen Brühe den nahrhafter
scheinenden Bodensatz mit einer Zuthat von geröstetem Speck und Zwiebeln.
Es geschieht uns dann ganz recht; wir sind nach Verdienst bestraft für
die Unbedachtsamkeit, diesen Leuten eine Bekanntschaft mit der Levante zu-
zumuthen.
Hier wüßte ich in der That nichts Versöhnendes, um das Anschaun eines
so traurigen Daseins erträglicher, keinen Gesichtspunkt, um von ihm aus dieses
Elend verschönt darzustellen!. Alles ist hier tristes, unglückseliges Hinbrüten,
zwangvolle, unlustige Arbeit, freudenleeres Begehren. Man wende nicht ein,
daß diese Menschen sich in ihrem Elende auch wohl fühlen, weil sie keinen
bessern Zustand kennen. — Sie sehen dort das hohe Dach des nahe gelegenen
Gutes sich mit weitrauchenden Schornsteinen erheben, und sie dürfen nur bis
zum benachbarten Dorfe gehn, um ihr Herz, mit Neid zu erfüllen. Und sie
sehen hier das eigne H>uns und Leben. Hier mangelt alles Hirschauer, auf
selbsterschaffenes Glück, und daher jede Poesie, jeder erhebende Ausdruck eines
menschlichen Gefühls. Es sind zwei oder drei von den Polen erlernte Lieder,
eines vom Ziegenbock, das andre von den Franzosen.und noch ein drittes be¬
liebiges: diese singt der Masur mitunter trübe und alleinstimmig vor sich hin
und weiß nach Beendigung des schlechten Liedes nicht, daß er gesungen hat.
Düster und in sich gekehrt sitzt er da, und zum höchsten Genuß an seinen
Fischen nagend, denkt er an die vollen» Scheuern des Gutsherrn und an die
gehäuften Schüsseln reicher deutscher Bauern. Sogar nach der Stadt führt ihn oft
der Verkauf der besten Fische, besonders der Muräne; und es ist leicht zu er¬
klären, daß die Anschauungen, die er in der Stadt gewinnt, seine Unzufrieden¬
heit, seinen Neid, seinen Groll gegen das Schicksal vermehren müssen. Daher
ist der Masur von Natur scheu und hat einen bösen Blick; man traut ihm
nicht viel Gutes zu, und man darf ihm in der That nicht zu sehr trauen. —
Alles, was diese Leute von Märchen sich erzählen, sind Räubergeschichten, Ge¬
schichten von Todtschlag reicher Herrn, von Beraubung begüterter Nachbarn
und ähnliche. Hier und» da taucht eine Sage auf, in welcher Weise sie zu
ihrem Erwerbe, selbst zu diesem kärglichen Erwerbe gelangt wären. So er¬
zählen sie sich von den Muränen, oder wie sie dort heißen — Mareilen, deren
Verkauf vielen Masuren die einzigen Münzen in die Hände bringt, eine sonder¬
bare Sage. Diese Mareilen sollen nämlich — wir können die Wahrheit dieses
Umstandes nicht verbürgen — nur in einem See Italiens, in einem sächsischen
und am meisten in den Seen Masurens angetroffen werden. Der Masur er¬
zählt, daß der Teufel ihm die Fische aus dem gesegneten Italien gebracht,
unterwegs aber einige verloren habe, wodurch auch noch ein andrer See
solche Fische erhalten. Diese Sage hörten wir oft, und es wurde bei der
Erzählung der Aerger nicht verhehlt, daß die Kralle des Teufels nicht vor¬
sichtiger gewesen sei. —
Der Leser soll von diesen Bildern des Elendes nicht scheiden, ohne vor¬
her seinen Blick auf ein Gemälde andrer Art gerichtet zu haben.
Längs der südöstlichen Grenze des preußischen Gebiets zieht sich nämlich
der ungeheure johannisburger Forst hin, eine de? beträchtlichsten Waldungen
Preußens. Dieser Theil der Provinz zeigt fast durchgängig einen sandigen
Boden, der nur an wenigen Stellen durch fruchtbares Land unterbrochen ist.
Dürr und spärlich mit Halmen besetzt, zeigen sich hier die Aecker und mühevoll
bahnt sich der Fuß des Wandrers oder das Rad des Gespanns seinen Pfad
durch die glühenden, aufstäubenden Sandwege, ohne paß auf Meilen in der
^iunde ein wirthliches Dach Labung und Ruhe verheißt. Aus einem solchen
Boden erhebt sich in einer Ausdehnung von etwa dreizehn Meilen jene Wild¬
nis), der johannisburger Forst. Eben und zierlos ist der durch herabgefallene
dürre Tannennadeln gebräunte und geglättete Boden; das Auge späht umsonst
nach einem Farrenkraut, einer Erdbeerblüte, einem Mooshügel, welche mit ihrem
Grün diesen gleich einem weiten Sale braunpolirten Boden schmückten. Und
auf diesem erheben sich nun in einem gleichen Braun die hohen schlanken
Stämme der Tannen, Tausende von Stämmen, die wie ebensoviel Säulen
die dunkelgrünen Gewölbe des Forstes emporhalten. Ernst und schweigend ist
die Natur, wie die Vorhallen und die Säulengänge eines Museums, deren
weite Leere mit einem Gefühl der Einsamkeit erfüllt, während doch eine so
bunte Mannigfaltigkeit im Innern sich uns erschließen soll.
Lenkt der Wandrer, seinen mühevollen Weg tiefer in diese Wildniß, in
einer und derselben Richtung, um sich nicht zu verirren, durch die nackten, von
keiner Haselstaude umschatteten Stämme bis in die Nähe des Städtchens Jo-
hannisburg fortschreitend, so sieht er plötzlich den Wald sich lichten und ge¬
wahrt auf dem baumlosen Raume, aber rings umher dicht von Wald ein¬
geschlossen, ein wohlansehnliches Dorf und weiterhin noch ein zweites ähn¬
liches, aus Hütten bestehend, die zwar nicht mit den Wohngebäuden reicher
Bauern wetteifern, doch in ihrem Aussehn sich vor den ärmlichen Fischerhütten
Masurens sehr vortheilhaft auszeichnen.
In diesen Dörfern wandeln hohe Gestalten einher, in jenen Gegenden
ein Schreckmittel für Kinder und Erwachsene; doch ist kein triftiger Grund vor¬
handen, bei ihrem Begegnen vor Furcht außer sich zu gerathen, selbst wenn
sie dem einsamen Wandrer, hoch und finster einherschreitend, tief in der Oede
des Waldes, das lange Jagdgewehr aus der Schulter und die blinkende Holz¬
art in der Hand, begegnen.
Diese merkwürdigen, halb geheimnißvollen Menschen sind die sogenannten
Philipponen. Woher ihr Name, das ist selbst den eingebornen Masuren un¬
bekannt; auch hat sich um ihre Herkunft wol selten jemand im Ernste beküm¬
mert und culturgeschichtlich sind sie gänzlich verborgen. Sie weichen in ihrem
Wuchs, ihrer Haltung, ihrer Kleidung bedeutend von den übrigen Einwohnern
Masurens ab. Hoch, schlank, stattlich, von fast edlem Wesen, dunkelbärtig,
mit regelmäßigen, oft schönen Gesichtszügen wandeln sie einher. Ihr Anzug
besteht fast uniform aus etneen langen, gut geschnittenen blauen Rock und
einer spitzen, grauen Mütze, welche diese Gestalten noch größer erscheinen läßt.
Ein gewisser Wohlstand ist in ihr'em Aeußern bemerkbar, obgleich es bekannt ist,
daß die beiden von ihnen bewohnten Dörfer nur dürftiges, schlechtes Land
besitzen. Es ist ausgemacht, daß sie sich vorzugsweise durch Holz- und Wild- ,
biebftayl ernähren, wobei >te durch den Respect nicht wenig beschützt werden,
in den sie sich selbst bei den Forstbeamten zu setzen gewußt haben. Eine Reihe
von Schreckensscenen, die Jahre hindurch zwischen den Philipponen und den im
tiefern Wald von aller Hilfe entfernten Forstbeamten vorgefallen > sind und in
denen der Grund zu der Furcht liegt, die man noch heutzutage vor jener
Menschenclasse hegt, haben für sie den Forstdiebstahl gleichsam zum Privilegium
gemacht, indem der Forstbeamte in diesen ungeheuern holz- und wildreichen
Waldungen für den Staat lieber eine verhältnißmäßig geringe Einbuße zu¬
lassen, als sein Leben bei ver Überwachung so gefährlicher Waldfrevler aufs
Spiel setzen mag. Die Philipponen, wegen der Dürftigkeit ihres Landbesitzes
und wegen der Entfernung der Seen einmal auf den Forstbiebstahl angewiesen,
haben ihre Widersetzlichkeit gegen die Forstbeamten so lange zu einem fort¬
währenden Kampfe ausgedehnt, bis diese und selbst auch die Negierung müde
geworden sind, den mannigfachen Schädigungen durch Einsetzung von Menschen¬
leben Einhalt zu thun. ES wird in Masuren ein Fall erzählt, wie jene
Kämpfe mit den Forstbeamten, durch Blutrache verursacht, von dem Aeltervater
bis aus den Urenkel fortgeführt worden sind. Nunmehr hat sich dieses düstre
unheimliche Wesen aus der Wildnsß verloren, und ohne sonderliche Besorgniß
läßt der Philippone, wenn ihn der tiefe Schnee des Winters verhindert, andre
Wege einzuschlagen, seinen mit gestohlenen Holz beladenen Schlitten dem Ge¬
höfte deS Oberförsters und der minder pflichtgetreuen Förster 'nahe Vorbei¬
gleiten; erschrickt auch nicht im mindesten, wenn in der Stadt ihn einer von
den Grünröcken beim Verhandeln des Holzes trifft und mit halb zornigen, halb
ängstlichen Blicken beobachtet, ohne zu wagen, die Obrigkeit in Anspruch zu
nehmen. In vielen Fällen mag die Feindseligkeit zwischen Philipponen und
Forstbeamten sich jetzt schon zu einem gewissen Einverständniß verwandelt haben,
das vermöge gewisser Uebereinkommen und Abmachungen beide Theile die Seg¬
nungen der Eintracht genießen läßt. Wo dies nicht der Fall ist, da haben
nur die Beamten Ursache, vor den im Walde umherschleichenven Philipponen
ZU zittern; jeder andre dürste wol ungefährdet ihnen gegenüber und in ihre
Hütte treten. Freilich sind von der Beschäftigung mit Focstdiebstahl, der in¬
dessen bei so manchem eine Entschuldigung findet, die Neigungen zur Plün¬
derung von Fremden wol nicht sehr weit entfernt. Gewiß aber schreibt vie
vor den Philipponen allgemein gehegte Furcht, die manche Mutter für ihr vom
heimathlichen Gut zum Schluß der Ferien nach der Stadt entsandtes Söhnchen
iUtern macht, sich großentheils von dem ernsten, düstern Benehmen her, womit
diese Menschen auftreten. ^
In Betracht der von der Art der übrigen Einwohner Masurens bedeutend
abweichenden Erscheinung der Philipponen und in Betracht des Umstandes,
daß sie fast jede andre Beschäftigung, als die für sie gefahrvollen der Jagd und
des Holzdiebstahls vermeiden, auch hierin von den friedlichen, sogar indolenten,
Ackerbau und Fischfang liebenden Masuren gänzlich verschieden, könnte man
auf die Vermuthung gerathen, c>aß diese Menschen Abkömmlinge der preußischen
Ureinwohner seien, die sich in jenen beiden Ortschaften zwar der Einwirkung
der polnischen Nachbarschaft nicht erwehren konnten, sich jedoch, durch die Ab¬
geschlossenheit der Wildniß begünstigt, von der innigeren Vermischung mit frem¬
den Nationalitäten fern erhalten haben.
— 'i'!»« ii'-uso-mensiim e.ump!>ign ok «.Ks luriusii ^rü>7
unäer itwer t'Asclii»; a I'urson«! !<»>'l'i>Ave, ^»wrouee OlipKaul. — Ein Spät¬
ling, aber ein willkommener. Das schwere Gewicht, welches die Katastrophe von
Sebastopvl in die Wagschale der Ereignisse warf, hat den Kriegszug Omer Paschas
nach Transkaukasten in Schatten gestellt, und der'unverschuldete geringe Erfolg dessel¬
ben hat nicht dazu beigetragen, die allgemeine Aufmerksamkeit mehr daraus zu lenken.
Doch bietet der vorliegende Bericht darüber viel Interessantes. Mr. Oliphant, ein viel
gewanderter Mann, war kaum aus dem fernen Westen der Vereinigten Staaten in
England eingetroffen, als er sich auf den Weg machte, um Omer Pascha aus seinein
Zug zum Entsatz von Kars zu begleiten. Er traf in Trebisonde gleichzeitig mit
der Nachricht vom Fall Sebastopols' ein. Er war Zeuge, wie die Türken die Hand
auss Herz oder vielmehr auf ihren Magen drückten und mit ungewohnter Inbrunst
Maschallah! riefen, während die Griechen, aus Furcht, den Zorn der Sieger zu
'reizen, sich schüchtern in ihre Winkel verkrochen. Später wohnte er der Schlacht
am Jngur bei und begleitete die Armee bis in die Nähe von Kutais; doch wir
sehen ab von den gewissermaßen veralteten Kriegssteuer und sehen uns lieber in
Gesellschaft des unternehmenden Reisenden Land und Leute an. Zu Anfang des
Feldzugs wohnte Mr. Oliphant aus Einladung des ebenfalls in Kaukasien anwesen¬
den Herzog von Newcastle einer großen Jagd bei, welche Prinz Michael von Samur-
sachan zu Ehren der Gäste veranstaltet hatte. In Begleitung von dem hundert Man»
starken Gefolge des Prinzen ritten im malerischen Zuge der Herzog von Ncwca'sele,
Mr. Calthvrpe und Mr. Oliphant nach den 13 englische Meilen von SchemscherrcN
entfernten Wildgehege. Das prinzliche Jagdschloß war ein bescheidenes kleines Ge¬
bäude aus Holz mitten in einem dichten Walde von so riesenhaften Bäumen, wie
sie Oliphant selbst in den Urwäldern Nordamerikas nicht gesehen hatte. Der Prinz
bereitete hier seinen Reisenden einen comfortablen Empfang und bewirthete sie mit
vortrefflichem russischen Thee. Ueberhaupt war alles russisch, was steh von Spuren
der Civilisation zeigte, und der Wirth schien sich unter der neuen türkischen Herr¬
schaft gar nicht wohlig zu suhlen. Hoffentlich wird die unglückliche Hoheit nicht
zur Straft für die gezwungene Annahme türkischer Würden zuletzt nach Sibirien
geschickt werden. Als die Reisenden Nachmittags den Wald durchstreiften, ließ ihnen
das zahlreiche Rothwild und die vielen Spuren von wilden Schweinen, welche sie
sahen, für den nächsten Tag eine schöne Jagd hoffen. Als sie aber am nächsten
Morgen die schäbigen Hunde und die geringe Anzahl von Treibern erblickten, nah¬
men ihre Hoffnungen ein sehr bescheidenes.Maß an, zumal da die Anordnungen,
welche der fürstliche Wirth für die Jagd traf, kein sehr glänzendes Zeugniß für
die weidmännischen Erfahrungen desselben ablegten. Der Jagdgrund war eine weite
Ebene, von dem Meere durch einen Streifen Wald getrennt, welcher sie auf allen
Seiten einschloß, und dieser Wald bestand ans hohem Farrenkraut, mit Birken- und
Ellerngebüsch untermischt, dnrch welches sich die Treiber nur mit der größten An¬
strengung einen Weg bahnen sonnten. Die Jäger waren an dem Rande des Dickichts
aufgestellt, das so dicht ipar, daß das Wild kaum in demselben gesehen werden
konnte. Der Herzog machte einen schönen Schuß ans ein Reh, das in einer Ent¬
fernung von mehr als 120 Schritt durch das Gehölz sprang. Nach der Aufregung,
welche dieser Erfolg verursachte — uach dem Frohlocken des Fürsten und der voll¬
kommenen Befriedigung, die sich auf den Gesichtern seines Gefolges malte,—ließ
sich fast vermuthen, daß die Waidmannslust des Fürsten sich gewöhnlich begnügte,
auf das Wild zu schießen und es uicht zu treffen. Weder Calthorpe noch
Oliphant hatten das Glück, dies thun zu können; ihre Gesellschaft erhielt aber
später eine Vermehrung dnrch die Offiziere des an der Küste ankernden englischen
Kriegsschiffs Highflycr, die alsbald eine Fusilade zum Besten gaben, welche ein
genügendes Zeugniß von dem sprichwörtlichen sanguinischen Temperament der Ma¬
rinebrigade ablegte. Sie hatten sofort ein wildes Schwein aufgescheucht, welches
sich dem Anschein nach den Spaß gemacht hatte, zwischen ihren Beinen herumzu-
laufen, und ihrer Aussage nach aus einer Entfernung von zehn Schritt nicht weni-,
ger als zwölf Kugeln in den Kopf bekommen hatte. Obgleich die Jäger so vor¬
trefflich geschossen hatten, war das Schwein doch nirgends zu finden; aber weit
entfernt, nur einen Augenblick den unwürdigen Verdacht zu hegen,> daß es gefehlt
worden, trösteten die Jäger ihre Freunde von der Marine mit der Auskunft, daß
die russischen Schweine die Kugeln noch viel besser vertragen könnten, als die russi¬
schen Matrosen.
Während des eigentlichen Feldzuges wohnte Oliphant in einem Zelte mit dem
englischen Obersten Ballard, der dem Generalstabe Omer Paschas beigegeben war
und der die türkischen Schützen ganz besonders gut zu behandeln wußte. So oft
er sah, daß einer dieser Schützen zögerte, nahe genug an das Ufer des jenseits vom
Feinde besetzten Flusses heranzutreten, wandte er die Waffe der Ironie gegen ihn,
die auf den Türken besser wirkt, als der schärfste Zwang. „Nimm mich zum Schanz¬
korb, guter Junge; leg deine Flinte auf meine Achsel, dann wirst du gewiß nicht
getroffen," war ein Spott, der den Säumigen gewiß vorwärts brachte. Einmal im
Feuer, schössen diese Schützen sehr gut und trugen viel zum glücklichen Ausgang
der Schlacht bei. Sie zeichneten sich sehr vortheilhaft vor dem kaukasischen Zuzug
aus, den Abchasen, die sich.fast ausschließlich mit dem Wegfangen von Knaben und
Mädchen beschäftigten und deshalb von Omer Pascha nach dem Uebergang über den
Jngur nach Hause geschickt wurden. In der Schlacht an diesem Flusse leistete auch
ein Pole, Hidaiot, große Dienste durch eine Kriegslist, welche Mr, Oliphant also
erzählt: „Omer Pascha hatte eine Hütte im Walde in Besitz genommen, und war
eifrig mit Dcpeschenschrcibcn beschäftigt. Die Russen hatten am andern Ufer des
Flusses eine starke Batterie aufgefahren, welche den Uebergang fast unmöglich machte,
und Oberst Simmons, (ebenfalls ein englischer Offizier im Stäbe des Paschas), hatte
daher den Rath gegeben, weiter stromaufwärts durch Hülfe einer Furt über den
Fluß zu setzen und die Batterie im Rücken zu nehmen, Omer Pascha billigte den
Plan und dem Obersten gelang es auch wirklich, an der ausgesuchten Stelle mit
zwei Bataillonen Infanterie und drei Compagnien Schützen das andere Ufer zu
erreichen, die Strömung war jedoch so stark, daß mehre Soldaten bei dieser Ge¬
legenheit »vn ihr fortgerissen wurden und ertranken. Drüben im Holze entdeckte
die kleine Schaar einen Hohlweg, der bis an einen mit einem Verhau verstärkten.
Graben führte. Da mau hier keinen Angriff vermuthete, war er unvertheidigt, und
der Oberst marschirre weiter, nachdem er hier eine Reserve zurückgelassen hatte.
Als er jedoch sich der Batterie bis ans 800 Schritt genähert hatte, bemerkte ihn
der Feind und sendete eine russische Colonne zum Angriff vor, die ein lebhaftes
Feuer empfing. Gleichzeitig sahen sich die Türken von einer zweiten Colonne in
der Flanke angegriffen, und Oberst, Simmons mußte dieser mit einer schwachen
Abtheilung die Spitze bieten, während Capitän Dymock, ebenfalls ein Engländer,
und Hidaiot sich gegen die erste Colonne und die Batterie wendeten. In dem sich
daraus entspinnenden kurzen, aber hitzigen Gefechte verloren die Türken ohngefähr
50 Mann an Todten und Verwundeten, und anch Capitän Dymock wurde tödtlich
getroffen, nachdem ihm sein Pferd unter dem Leibe erschossen worden. Hidaiot
nahm sofort seine Stelle ein; mit seiner rothen, mit Pelz verbrämten Mütze und
seinem polnischen Militärmantel war er kann, von einem russischen Offizier zu unter¬
scheiden. Als Pole hatte er längere Zeit in der russischen Armee gedient und seine
Kenntniß der russischen Sprache kam ihm jetzt zu statten. Mit lauter Stimme rief
er den russischen Soldaten, welche die kleine Schar von allen Seiten umringten,
zu: „Flieht, Kinder, flieht, ihr seid umringt; ganze Regimenter von Ungläubigen
kommen dnrch den Wald." Im nächsten Augenblick war die Batterse verlassen?
und nachdem der Pole die Kanonen, zum Zeichen, daß er sie erobert, mit dem
Degen berührt hatte, kehrte er zu Capitän Dymock zurück, der in seinen Armen
den Geist aufgab. Hidaiot wurde für sein Benehmen in dieser Schlacht zum Major
ernannt und erhielt den Medschidieordcn."
Die Eingebornen zeigten sich keineswegs so günstig gestimmt für die Türke»,
als man vorausgesetzt hatte, und von einem entgegenkommenden Benehmen war
nicht die Rede. Mr. Oliphant kam jedoch, obgleich er die Sprache nickt kannte,
als viel erfahrner Reisender mit ihnen ans. Er schlägt folgendes Recept vor'
„Trittst du in ein Haus, wo die Frau sich in eine Ecke zurückzieht und der Mann
die Thüre sperrt, so zeige erstlich eine Hand voll der stärksten Sixpence vor; zwei¬
tens machst du das Zeichen des Kreuzes und, sagst /^!it>; h"t dir dies den Ein¬
gang verschafft, so küssest du drittens das kleinste von den Kindern; dann zeigst ,
du viertens alle Merkwürdigkeiten der Civilisation vor und schließest mit dem Re¬
volver; fünftens mußt du auf die Hühner weisen, wenn welche da sind. Ist letz'
teres nicht der Fall, so mußt du gackern oder glucksen und das erste beste Zeichen
machen, das dir für Eier einfällt, und dabei Sixpenccs emporhalten. Um diese Zeit
wird siel, vollkommenes Vertrauen hergestellt haben, Zum Zweck allgemeiner Unter-
haltung legt man sich auf dxr Stelle ein Wörterbuch an, was immer das gespann¬
teste Interesse erregt und vielen Spaß macht. Unter allen Umständen muß man
freigebig sein, da die Kunde davon sich leicht bis zu dem nächsten Lagerplatz ver¬
breitet. Ich bot stets für ein Huhn einen halben Schilling, für eine Ente einen,
für eine Gans anderthalb, für eine Truthenne zwei Schillinge. Die Concurrenz
zwischen den verschiedenen die Armee begleitenden Engländern war groß, und wer
am glücklichsten fouragirt hatte, gab den andern ein Mahl."
Nicht immer wurde es den Engländern so leicht, die Eingebornen für sich zu
gewinnen und sie hatten mehr als einmal mit ihrer Hinterlist zu kämpfen. Einmal
hatten sie nicht ohne Mühe einen jungen Burschen bewogen, sie nach dem Dorfe
Drandy zu, bringen. Unter seiner Führung gelangten sie bald auf einen freien
Raum, wo ein paar Hütten mitten in Maisfeldern standen und ringsum Hügel
mit dem herrlichsten Wald bewachsen sich erhoben. Hier erregten die Reisenden das
größte Aufsehen; die Hunde fielen sie wüthend an, die Weiber rannten von Hütte
zu Hütte, offenbar in der Absicht, sich zu verbarrikadiren und eine Belagerung
auszuhalten:, die Männer aber traten in einen drohenden Haufen zusammen und
maßen die Fremden mit Blicken, 'welche keineswegs geeignet waren, sie zu beruhi¬
gen. Alle leugneten standhaft, daß dies das Dorf Drandy sei, in der Hoffnung,
die Reisenden würden, ans diese Versicherung hin sich wieder ans den Weg machen.
Da es jedoch bereits sechs Uhr Abends war, so hatten die Engländer keineswegs Lust
von neuem den Wald auf Entdeckung zu durchziehen, und sie drohten daher, sich
mit Gewalt Quartier zu verschaffen, wenn man ihnen nicht einen zuverlässigen
Führer gebe. Das wirkte und die Engländer glaubten froh sein zu können, nnter
diesen Umständen das ungastliche Dorf zu verlassen. Der neue Führer war ein trotziger,
verstockt aussehender Bursche, der die Gesellschaft mitten in den dichtesten Wald
brachte und dann erklärte umkehren zu wollen. Als man dagegen Einwand erhob,
sprang er ohne alle Umstände hinter Oliphant aufs Pferd, faßte ihn um den Leib
und forderte ihn ans, selbst voran zu reite». So ging es über Stock und Stein
fort, bis die Arme des Führers allmälig in ihrem Halt nachließen. Dadurch arg¬
wöhnisch gemacht, paßte Oliphant sorgfältig auf'und faßte den Führer beim Kra¬
gen, als er eben vom Pferde hcruntergcrntscht war und den Versuch gemacht hatte,
zu. entschlüpfen. Nachdem er ihn jedoch auf das freundschaftlichste mit dem Gebrauch
und den Vorzügen des Revolvers bekannt gemacht, zeigte er sich nachgiebiger, stieg
wieder aufs Pferd und Oliphant wickelte der Vorsicht halber den Rock des Führers
um den Arm. So wider Willen zur Weiterreise gezwungen, rächte er sich dadurch,
daß er dem Reisenden, wie dieser den andern Morgen entdeckte, die Patrontasche
leerte und ihren Inhalt in seine Tasche versetzte.
Erst nach Dunkelwerden kamen die Verirrten aus dem Wald heraus und er¬
reichten das Dorf Drandy, ohne einen bessern Empfang zu finden. wie an ihrem
frühern Rastort, Da sie aus keine gutwillige Aufnahme rechnen konnten, .nahmen
sie gleich von einem unbewohnten Hause Besitz und machten alsdann einige Ver-
suche, die Einwohnerschaft für sich zu gewinnen, denn sie wünschten etwas zu essen
zu haben. Allmälig stellte sich das Vertrauen wieder ein, und nachdem die Rei¬
senden die kleinen Kinder geküßt, den Müttern Schmeicheleien gesagt und den Vä¬
tern unwiderstehliche Sixpenccs, so blank wie sie aus der Münze gekommen, ge¬
schenkt hatten, waren nur noch die alten Weiber zu besiegen; aber diese waren
unerbittlich. Sie stürmten und schimpften über die Zudringlichkeit der Gäste und
wollten sich durch das zuvorkommendste Benehmen nicht versöhne» lassen. Bis zu¬
letzt behaupteten sie, die Fremden wären Russen, und wollten nicht dulden, daß ih¬
nen Gastfreundschaft erwiesen würde. Aber die blanken Geldstücke trugen zuletzt den
Sieg davon und bald lagen Hähne und Hennen mit abgeschnittenen Hälsen in er¬
freulichem Ueberfluß vor den Fremden. Dann wurde Honig und Milch, Maisbrod,
Quart und Eier gebracht und bald konnten sie sich über das Mißgeschick des Tages
trösten und sogar ihrer Dienerschaft und ihrem Gepäck, die, von der Nacht über¬
rascht, knietief im Schlamme im Walde hernmirrten,' eine Erinnerung schenken.
Als' die Fortschritte der türkischen Waffen Omer Pascha in Stand setzten, tie¬
fer ins Land zu dringen, gelangten die Reisenden noch in eine andere fürstliche
Residenz, nach Sugdidi, den Sitz des Dadian von Mingrelien, eines Schwagers
des früher erwähnten Fürsten Michael. Die Stadt ist nach Kutais die zweite des
Landes. Sie liegt auf einer sauften Anhöhe, von der man ein reiches und frucht¬
bares, meistens ebenes Land überblickt. Sie hat im Ganzen blos zwei Straßen aus
hölzernen Häusern, beschattet von schönen Bncbenallccn. Ihre Einwohnerzahl wird
ans 2000 geschätzt, doch war bei dem Einrücken der türkischen Armee außer ein
paar zurückgebliebenen Hunden kein lebendes Wesen zu erblicken. Die beiden Stra¬
ßen münden auf einen viereckigen Platz aus, dessen eine Seite der nur zum Theil,
aufgebaute Palast der Fürstin Dadian einnimmt; auf den beiden andern stehen die
griechische Kirche mit ihren Nebengebäuden und die malerische, aus Holz gebaute
Wohnung des Fürsten Gregor. Der, Palast der Fürstin war zum Staunen der
Engländer mit allem ausgestattet, was die europäische Civilisation verlangen kann.
Obgleich die Bewohner entflohen waren, war doch das ganze Meublement stehen
geblieben, denn man hatte schwerlich an die Möglichkeit gedacht, vor den Türken
räumen zu müssen. Ein sehr hübsches Porträt des'Czaren Nikolaus stand in cüicm
Kasten an die Wand gelehnt, wie zum Fortschaffen bereit, und war vielleicht ver¬
gessen worden. Stühle und Sophas mit rothem Sammet überzogen, schön ein¬
gelegte Tische, prachtvolle Kronleuchter, kostbare Brvnzesachen, so neu als kämen
sie frisch von Paris, waren in dem^Salon auf eine Weise vertheilt, daß man in
einem Palast in der civilisirtesten Gegend von Europa zu sein glaubte. Die schöne
Wohnung blieb unangetastet, denn Omer Pascha stellte Schildwachen an die Thür,
die Jedem ohne alle Ausnahme den Antritt verwehrten. Die Besitzerin des Palastes,
die verwittwete Fürstin Dadian war gegenwärtig Regentin des Landes sür ihren
achtjährigen Sohn. Sie war nebst ihren Schwägern, den Fürsten Konstantin und
Gregor i auf ihren ohngefähr-eine Tagereise von Sugdidi entfernten Landsitz im
Gebirge geflüchtet. Sogar eine Scidcnfabrik gab es in diesem abgelegenen Wwkel
am Fuße des Kaukasus. Ein Franzose hatte sie eingerichtet, aber auch er hatte
sich aus dem Staube gemacht. Die Versuche, durch Hülfe des Fürsten Michael sich
in Verkehr mit der geflüchteten Fürstenfamilie zu setzen und sie auf die Seite der
Verbündeten herüberzuziehen, schlugen fehl. Die russische Macht war ihnen zu
nahe und die englische viel zu fern; den russischen Schutz aber Mit dem türkischen
zu vertauschen, fiel ihnen gar nicht ein.
Als das unaufhörliche Regenwetter des Spätherbstes die Armee nöthigte, die
Hoffnung, Kutais zu erreichen, ganz aufzugeben und die Nachricht von dem Falle
von KarS Omer Pascha in seinem Vorhaben, den Rückzug anzutreten, bestärkte, be¬
gleitete Mr. Olivhaut die Nachhut und war Zeuge der meisten kleinen Scharmützel
die zwischen diesem Theil der Armee und den verfolgenden Russen stattfanden. Trotz
der wenig erfreulichen Wendung, welche die Ereignisse genommen hatten, und der
vielen Anstrengungen, die zu ertragen waren, behielt der Reisende doch seinen fri¬
schen Muth bei, und erreichte ohne weitere Gefährde Redut Kate, von wo er
sich wieder nach Europa einschiffte.
I^sKe Kg»mi, llxpIoruUans uncl llisooverics durinZ l'our ^ears VViMlIei'jiig'5 in
>,>>ö Wilds ok LcnttliLt'n ^l>loi>, Il^ <^Il. ^olu ^nclersson. — Während Barth, Vogel
und die Genossen, die ihren Eifer sür die Wissenschaft bereits mit dem Leben gebüßt
haben, den Europäern die Geheimnisse des Innern von Mittelafrika erschließen,
dringen andre Reisende zu gleichem Zweck tief in die südliche Hälfte. Zu den letz¬
teren gebs.re der Verfasser des vorliegenden Werkes, Andersson, ein geborner Schwede,
der mit dem Engländer Galton im April 1830 England verließ, und vom Cap
aus nach dem Ngamisee, damals erst vor einem Jahre entdeckt, vordrang. Die
Bilder, welche die Reisebeschreibung vor das geistige Ange stellt, sind lebhaft und
originell. Die Karawane besteht aus von Maulthieren gezogenen Wagen und aus
Ochsen als Lastthieren. Letztere tragen mehre Kisten mit Flinten als Geschenke für
die'Negerhänptlinge, Munition, Lebensmittel, Lagergeräth. Die Reise geht über
eine wilde, unfruchtbare Ebene, hie und da von einem Granitfelsen unterbrochen,
aus welchem, nur von dem Nachtthau lebend, eine anmuthig rvthblühendc Schling¬
pflanze blüht, oder der Weg geht durch eine Bergschlucht, wo unter überhängenden
Felsen ein noch feuchtes Flußbett sich durch riesenhafte Rohrpflanzen, dichten Rasen
und üppige Klettergcwächse dahinzieht. Die Hitze, welche schwül auf der ganzen
Landschaft lastet, macht den Anblick einer Wasserlache zu einem frohen Ereigniß.
Nachmittags rasten die Reisenden in dem Schatten der breiten Aeste der Acacien,
und Nachts wird unter freiem Himmel geschlafen. Am nächsten Tage finden sie
die Spuren von Rhinocerossen, Papageien flattern in den Bäume», prachtvolle
Falter schweben durch die Lust, eine Giraffe wird, geschossen und liefert einen Bei¬
trag zum Mittagsmahl, oder die wilden Damaras bringen ein paar Straußeneier,
deren jedes', obgleich so viel Nahrungsstoff wie 24 Hühnereier liefernd, doch hier
aus der Reise als eine Portion für einen Hungrigen gilt. Nachts muß Sorge
getragen werden, daß Löwen nicht die Lastthiere, oder gar die Reisenden fort¬
schleppen. Endlich erreicht die Karawane eine Missionsstation, einen jener Vor-
posten der Civilisation in der Wildniß, wo in einer aus Teichfchlamm ausgebauten
Hütte ein christlicher Geistlicher den Wilden das Ev^ngelin-n lehrt.
Den Hauptzweck der Reise, die Erforschung des Nganüsees, erreichten die
Reisenden vollkommen. Er ist 6» —70 gco.gr. Me.neu im Umkreis, im Durch¬
schnitt 7 Meilen und von Brillenfvrm, ist süß und reich an Fischen, und sendet
den Zambesestrvm in den Kanal von Mozcunbique.
Von Henry Martins französische Geschichte Bde.) ist die vierte Ausgabe
erschienen. Das Buch ist charakteristisch für die Methode der Geschichtsphilosophie,
t>le seit den letzten Jahren auch bei unsern überrheinischen Nachbarn sich verbreitet
hat. — Ein wichtiger Beitrag für die französische Kulturgeschichte ist die Ilistoire
tief Institution-, puIUii^ues et<>INius en t^'/uiee jivui' t'umelvi'ludion ein soi'es des elitsses
iukoi'ivusvs von dem. Prüsecturdirector ac in lUureu.— Das Leben des Coka Rienzi
hat eine neue Ausklärung gesunden in dem Buch: I.u V>u> ti t^olu all Ulm/o, Scinei,
<l» inüerto outvi's nel seeuivXIV.; riilottu u iiiiAlivie le/.'vue vel iilustiv>t>> con not«:
nel osserv-tiiioni sein-iev-eritieliu «In XelUino Up. — Die französische Culturgeschichte
der Jahre 1789—-1800 ist behandelt in dem Werk: Uistoire tillvrairo l» üe-
voiution, pur N. Eugene Nunou. — Ferner sühren wir an die Lebensbeschreibung'
des berühmten Mathematikers Gauß von seinem Schüler Sartorius von Walters¬
hausen (Leipzig, Hirzel); ein Werk der wärmsten Pietät. —
lin 5üliU!»ve ^leite'Jos vsslxs. 3 'I'on. üiuxeiles ol. l.vip2iK>
liiessliug, Leluive et — Eine höchst melodramatische Geschichte in der Weise
von Eugene Sue und Frederic sonus. in welcher alle Mysterien der menschlichen
Natur, alle Nachtseiten der Gesellschaft hervorgesucht werden, um Grauen und Ent¬
setzen hervorzurufen. Daß der Held grade ein Zonave sein muß, verdankt er dem
augenblickliche» Geschmack. Das Zouaveuthum steht mit der. Geschichte selbst in
keiner unmittelbaren Berührung. — Noch bemerken wir. daß in derselben Sammlung
die Novelle: Robespierres Schwester, von der Gräfin Dass, mit dem dritten Bande
ihren Abschluß gesunden hat. —
Mit Ur. beginnt diese Zeitschrift ein neues Quartal,
welches durch alle Buchhandlungen und Postämter zu be¬
ziehen ist.
Leipzig, im Juni I8S6.Die Werlagshandlung.
Die Hauptstraßen Londons sind das Jnteressanteste' und Merkwürdigste,
was London dem Beobachter von Menschen und Sitten zu bieten hat.
Nicht daß wir damit ihre architektonische Schönheit meinten, obschon manche
Straßen im West End tauge Reihen von Palästen sind, in Pakt Malt eine
Menge der stattlichsten Clubhäuser sich befinden, in Regentstreet die Fronten
jedes Häuservierecks so verbunden sind, daß sie eine einzige Fac^abe bilden, und
jede Fa^abe verschieden ist, so daß eine Art architektonisches Panorama sich
den Augen darbietet, in Tyburnia und Belgravia endlich die Terrassen und
Squares ungeheure Colonien von Palästen darstellen. Ebensowenig denken
wir dabei an die Pracht der VerkaufSgewvlbe, diese krystallnen Schatzkammern,
deren Glasscheiben sowol nach ihrer Große als nach ihrer Durchsichtigkeit
dem reinsten Eise von Landseen gleichen und hinter deren Fenstern und Thüren
die theuersten Producte der Welt blitzen und schillern. Ebensowenig ferner
haben wir dabei die geräumigen Docks am östlichen Ende der Stadt im Auge,
wo die benachbarten Straßen die amphibienhafte Wunderlichkeit holländischer
Städte zeigen, wo die Spitzen der Mastbäume sich mit den Spitzen der Schorn¬
steine mischen, und wo die Empfindung des ungeheuren Waarenreichthums alle
Begriffe übersteigt. Noch weniger endlich blicken wir bei jener Bemerkung auf
die großen grünen Parks, die wie ebensoviele heitere Ausschnitte aus der
frischen Natur des Landlebens in der rauchgedörrten Stadt zerstreut sind, und
wo das grüne Laub unb Gras sich im Vergleich mit den staubigen Massen
rostfarbner, Mauern, die es umgeben, doppelt anmuthig aufnimmt.
Wir nennen diese großen londoner Durchfahrten deshalb ein so. inter¬
essantes Schauspiel, weil durch sie eine so endlose und unermeßliche Mannigfal¬
tigkeit von Leben, flutet.
Ohne Zweifel machen diese ungeheuern Massen von Menschen, die ohne
Unterbrechung durch die Hauptstraßen der-Riesenstadt strömen, den ersten tiefen
Eindruck aus das Gemüth des Fremden, und wir selbst betrachteten diese leben¬
digen Scenen nie ohne bie Empfindung, daß hierin die wahre Größe der
Capitale, das eigentliche Merkzeichen ihrer Bedeutung für die Welt liegt.
'
Reisende sprechen von der erhabenen Pracht des Wassersturzes des
Niagara, wo jede Minute Tausende von Tonnen des flüssigen Elements sich
in einer einzigen, Staunen und Grausen erweckenden Flut in die Tiefe er¬
gießen. Aber,was ist dieses Naturschauspiel gegen die ungeheure Menschen-
flut, gegen den wunderbaren Lebcnssttom von tausend und abertausend rastlo¬
sen Seelen, die, jede von einem andern Antriebe bewegt, jede von andern
Zwecken vorwärts gedrängt, durch jene großen Straßen wogen! Was ist die
gesammte Gewalt des größten Wasserfalls der Welt gegen, die vereinte Macht
der verschiedenen Gedanken und Willenskräfte, welche die Atome, aus denen
dieser Menschenstrom zusammengesetzt ist, nach ihren Zielen treiben! Und wenn
das Gebrüll der thalabwärts donnernden Wasser das Gemüth schreckt und
beängstigt, so wird.die Seele dessen, der den Lärm und das Getöse des lon¬
doner Straßenlebens zum ersten Male hört, nicht weniger davon ergriffen
und verstört.
Es gibt in der That nirgends einen Anblick, der an Unermeßlichkeit der.
Rastlosigkeit des Dichtens und Trachtens auf den londoner Straßen gleich käme.
Können die Massen der Pyramiden dem Genujth ein solch überwältigendes
Gefühl von aufgewendeter Arbeitskraft und ewiger Dauer einflößen, als es
sich bei Betrachtung der nie endenden, nie ermüdenden Thätigkeit der Menschen-,
massen in diesen Straßen ihm aufdrängt? Wenn die Wüste in der Empfindung
unendlicher Vereinsamung, die sie hervorruft, den Gipfel des Erhabenen aus¬
prägt, so ist diese gigantische Stadt nicht weniger erhaben, wenn auch aus dem
entgegengesetzten Grunde. Wir finden uns umgeben von zahllosen Menschen
und fühlen uns doch vergleichsweise, wo nicht völlig, einsam und freundlos in
Mitten dieser unendlichen Menge.
Es ist noch manches Bewundernswerthe an London zu nennen. Die
großen Zeitungsbureaur, wo es möglich ist, täglich Blätter auszugeben, welche
so viel Stoff als ein Buch enthalten, die ungeheuren Brauereien, welche förm¬
liche Stadttheile bilden, sind sicherlich sehenowerth. Aber was sind sie und
was alle andere Merkwürdigkeiten Londons gegen den Anblick der Straßen,
namentlich in den späteren Nachmittagsstunden. Dann drängen sich die Men¬
schen in den Haupldurchfahrlen Meile auf Mene gleich- einer Herde von
Schafen in einer engen Heckengasse, und Fuhrwerke, gestopft voll Passagiere
fahren, dicht hinter- und nebeneinander wie die Steine des Pflasters unter
ihnen, im langen Zuge zu Tausenden dahin. Ueberall, wohin man blickt, zeigt
sich dieselbe schwarze Menschenmasse, und so weil man vor Einbruch der Nacht
wandern kann, allenthalben dasselbe dichte Gewühl. Fürwahr nnter allen
Wundern der Welt gleicht an Wirkung auf das Gemüth keines diesem Kreis¬
lauf des Lebens durch die Adern der Themsestadt.
Ein Blick auf die Einzeln heile» des Verkehrs -in diesen Straßen wird das
Gesagte bestätigen. Das Nachstehende beruht zum größten Theil auf einem
Berichte des City-Surveyvrs Heywood. Dasselbe ist von sehr ausführlicher
Art und setzt nicht nur . die Zahlen der von einem, zwei oder mehr Pferden
gezogenen Fuhrwerke, die im Verlaufe von zwölf Stunden über vierundzwanzig
der belebtesten Straßen der Stadt sich bewegten, sondern auch die Zahl der
Wagen jeder Art, welche zu jeder Stunde des Tages die Stadt durchkreuzen,
auseinander. Vermittelst dieser Tafel finden wir, daß in dem täglichen Strome
von Bewegung gleichsam zwei Flutzeiten sind, von denen die eine ihren höchsten
Punkt gegen elf Uhr des Vormittags erreicht. Bis zu dieser Zeit schwillt die
Zahl der Wagen fortwährend und zwar so rasch an, baß sich um elf beinahe
zweimal so viele in den Straßen befinden, als um neun Uhr des Morgens.
Nach elf Uhr dagegen tritt in dieser Flut des Verkehrs eine Ebbe ein. Die
Zahl der Fuhrwerke nimmt allmälig ab bis zwei Uhr Nachmittagswo sich
deren etwa ein Sechstheil weniger als tun elf, durch die Straßen bewegen.
Dann aber fängt die Flut wieder an zu schwellen und das währt bis fünf, wo
sich innerhalb der Grenzen der Stadt einige hundert Wagen mehr befinden als
um elf Uhr. Nach dieser Zeit tritt abermals die Ebbe ein, und der Strom
erreicht seine nächste Fluthöhe erst wieder um elf Uhr des nächsten Tages. ,
Ferner zeigt jener Bericht, daß die Gesammtzahl der Wagen und Karren,
welche innerhalb zwölf Stunden durch die Straßen der City passiren, sich ge¬
wöhnlich auf den achten Theil einer Million oder etwas über 123,000 beläuft.
Viele von diesem sind, wie nicht vergessen werden darf, doppelt und mehrmals
gerechnet; aber wenn wir nur> die Zahl derer zusammenstellen, welche in bestimm¬
ten Linien erscheinen — z. B. in Holborn, Fleck-Street, Leedeuhall, Black-
fn'ars Bridge, Bishopsgate Street und Finsbury Pavement — so beschäftigt
der Verkehr der Stadt immerhin gegen sechzigtausend hin und zurück fahrende
Wagen.
Daß diese Angabe sich nicht weit von der Wahrheit entfernt, wird durch
die Thatsache bewiesen, daß in den Straßen Londons mehr als dreitausend
Droschken, gegen tausend Omnibusse und gegen 11,000 Privatwagen und
Karren fahren. Sodann rechnet man, daß circa dreitausend Fuhrwerke täglich
aus der Nachbarschaft Londons in die Stadt kommen, während der Betrag der
Meilensteuer, den die' hauptstädtischen Postwagen im Jahre 1833 bezahlten,
darthut, daß die vereinigten londoner Omnibusse und Stadtposten im Lauf
dieses Jahres nicht weniger als 21,800,000 Meilen zurücklegten — eine Ent¬
fernung, die beinahe den vierten Theil der Entfernung der Erde von der Sonne
ausmacht.
Aber die Durchfahrten innerhalb der Grenzen der City sind nicht der
dreißigste Theil der außer ihr sich Hinzichenden und da es zwei bestimmte
Linien gibt, welche, jede sechs Meilen lang, London von Westen nach Osten
durchschneiden und wenigstens vier bestimmte Straßen, die sich von Norden
nach Süden in einer Länge von je vier Meilen erstrecken, so zeigt eine Be¬
rechnung, die einfach genug ist, daß um fünf Uhr des Nachmittags, wo alle ,
diese Durchfahrten voll des regsten Verkehrs sind, zu einer und derselben Zeit
durch London ein dichter Strom von Droschken, Karre», Kutschen und Omni¬
bussen fließt, der eine Länge von beinahe dreißig Meilen hat.
Wir haben vorhin von der erstaunlichen Länge gesprochen, welche die
londoner Straßen haben, wenn man sie als Eins betrachtet. Ein Blick auf
irgend einen Plan Londons wird zeigen, was für ein verwirrter Knoten diese
Haupt- und Nebengassen sind. Ein System von Nerven und Haargefäßen
kann nicht wunderlicher verschlungen sein, als sie, und man könnte ebensowol
in einem Knäuel von Würmern Ordnung und System suchen, als in den
Conglomerat von Straßen, welches die britische Metropole ausmacht.
„Ich begann die Karte von London zu studiren," sagt Southe» in seinen
..KsprieUa s.ettsrg", obschon ich beim Anblick ihrer ungeheuren Ausdehnung
den Muth verloren hatte. Der Fluß gibt keinen Anhalt für den Fremden,
der seinen Weg zu finden strebt; denn es führt keine Straße an seinem Ufer
hin, auch gibt es keine Erhöhung, von der man sich umsehen und seine Rich¬
tung bestimmen kann.
Aber die Benennung der londoner Straßen i'se ebenso unsystematisch, als
die Anlage der Straßen und muß darum den Fremden in die größte Verlegen¬
heit bringen. Bekannt ist es, wie verblüfft jener Franzose war, über die hun¬
dert Bedeutungen, welche das englische Wort ,,dux" hat. Wir erinnern nur
an bkncl-bax (Bandschachtel), 0Imsen!r8-bax (Weihnachtsgeschenk), eoaclr-box
(Kutscherbvck), box on ddo (zars (Ohrfeige), Kux trse (Buchsbaum), privalodux
(Theaterloge), Anz vrcmA box (Mißgriff), doxwx tue coup-rss (die Himmmels-
gegend mit dem Compaß vergleichen) und a boxinZ Mittod (ein Borerkampf)-
Aber sicherlich in noch mehr Verlegenheit, würde er gerathen sein, wenn er ge¬
funden hätte, wie derselbe Name'einem oder zwei Dutzend Straßen gegeben
worden ist, die oft so entfernt voneinander sind, daß, wenn man das Unglück
hat, der Träger eines Briefs mit der Adresse „Kingsstreet, London" zu sein,
man sehr leicht von der Kingsstreet Golden Square nach der Kingsstreet
Cheapside und dann wieder zurück nach der Kingsstreet Coveutgardeij u. s, w-
herumirren kann, bis man die sämmtlichen zweiundvierzig KönigSstraßen g^
sehen hat, die jetzt in dem Adreßbuch verzeichnet stehen.
Einen recht interessanten. Blick in die Denkungsart der Londoner gewährt
die Betrachtung der Namen, welche die Straßen der Stadt führen. Es geht
aus einem Vergleich dieser Namen zunächst hervor, daß die Engländer ein un¬
gemein loyales Volk sind, dem der Träger der Krone und seine Familie durch¬
aus keine gleichgiltigen Personen sind. Von den Straßen Londons, seinen
Squares, Terrassen u. f. w, sind nicht weniger als dreiundsiebzig nach dem
König, achtundsiebzig nach der Königin (Ynsengtreet,, gueeng ^Lri-aciz) getauft
worden. Zweiundvierzig sind mit dem Worte Prinz, vier mit Prinzessin, sechs- '
undzwanzig mit Herzog, eine mit Herzogin zusammengesetzt. Achtundzwanzig
heißen nach dem Regenten und überdies gibt es eine Regina Villa und ein¬
unddreißig Straßen und Höfe, die an die Krone erinnern.
Sodann ist auch die Aristokratie nicht vergessen. Viele große und kleine
Gassen beißen nach bekannten Edelleuten und Fürsten. So gibt es neunund-
achtzig Loealitäten, die Nork, achtundfunfzig, die Gloucester, vierundvierzig, die
(zu Ehren des Hauses Braunschweig) BrunSwik heißen. Ferner hat London
neununddreißig Oertlichkeiten, die den Namen Vedford, fünfunddreißig, die den
Namen Devonshire, sechsunddreißig, die den Namen Portland verewigen, vier-
undreißig. sind nach Cambridge, achtundzwanzig nach Landsdowne, siebenund-
zwanzig nach Montague, sechsundzwanzig nach Cumberland, zweiundzwanzig
nach Claremont und Clarence, zwanzig nach Clarendon, dreiundzwanzig nach
Rüssel, einundzwanzig nach Norfolk benannt — ungerechnet die Menge von
Haupt- und Nebenstraßen, die nach Cavendish, Northumberland, Cecil, Bucking-
ham und Stanhvpe ^ getauft sind.
Dann ist außerordentlich viel für die H'eiden der Nation gethan worden.
Zweiundfunfzig Straßen tragen Wellingtons, neunundzwanzig Marlboronghs, elf
Nelsons Namen. Sodann heißen zwanzig Waterloo, fünfzehn Trafalgar, dreizehn
Blenheim, eine Boyne rind drei Navarino, während zu Ehren von Premier¬
ministern sechs Orte nach Pitt, zwei nach For und drei nach Canning genannt
worden sind. Fünf Straßen erinnern an den Lordkanzler Eldon, ein Platz hat
Cobdens, zwei Gassen haben Burdetts Namen erhalten. Nach Dichtern und
Gelehrten sind gleichfalls mehre Legalitäten bezeichnet: es gibt ein Shakespear
Wall, ein Ben Jonsvn Field, acht Miltonstreets und sieben Straßen führen
den Namen AddisonS,' eine den Catvs. '
Sehr häusig sind unter den Namen der Straßen solche, welche von Tauf-
namen der englischen,Herrscher, seltener die, welche von andern Taufnamen her¬
genommen winden. Achtundfunfzig Loealitäten heißen nach George, vierzig
nach Victoria, dreiundvierzig nach dem Prinzen Albert und acht nach Adelaide.
Neunundvierzig führen den Namen Charles, fünfunddreißig den Namen James,
dreiunddreißig den Namen Eduard, siebenundvierzig den Namen John, dreißig
heißen nach Alfred und zwanzig nach Charlotte, Elisabeth und Frederik.
Außerdem gibt es acht King Edwardsstreets, zwei King Williamsstrects und
"ne King Johnsstreet.
Viele Straßen tragen sodann den Namen ihrer Erbauer oder Besitzer,
und so gibt es mehre, welche sich der Namen Baker oder Smiths Newman
oder Perry, Milman, Warren, Leigh oder Nicholas erfreuen.
Besonders oft kommen fernerhin religiöse Titel vor^ Weltbekannt ist die
Buchhändlerstraße Paternoster-Now. Dann gibt es eine Ave Maria Laue,
einen Amen Comer, einen Adam und Eva Court, einige All Hallows Chambers
(Allerheiligcnkammern) und mehre Gassen, die nach der Vorsehung benannt
sind. Außerdem gibt es Kirch- und Kapellengassen, einen.Bischofsspaziergang,
einen Dekanhof, einen Miere Court (Bischofsmützenhof), im-hre Oertlichkeiten,
die an Klöster und Abteien erinnern, einen Tabernacle Wall (Stiftshütten-
spaziergang) eine Worshipstreet (Anbetungsstraße), eine Menge Engelgassen
und Engelhöfe und nicht weniger als zwanzig Straßen und Plätze, die nach'
der Dreifaltigkeit genannt sind.
Wieder, andere dagegen haben ihre Namen aus dem Heidenthum. Wir
finden in der Vorstadt zwei Neptunstraßen und eine Hermcsstraße, vier Mi¬
nervaterrassen, zwei Apollogebäude, einen Dianenplatz und sine HerculeSpassage,
außerdem mehre Straßen, welche den Namen der Britannia führen und un¬
gefähr ebensoviel^, welche mit Caledonia zusammengesetzt sind. Derselbe pa¬
triotische Geist scheint unter den Pathen und Gevatterinnen der Straßen^
^ den Namen Albion änßerst beliebt gemacht zu haben; denn es erfreuen sich
nicht weniger als fünfzig Straßen, Gebäude, Seitengäßchen und Sackgäßchen
des stolzen nationalen Beinamens.
Die Wissenschaft der Astronomie und die der Geographie haben alsdann
gleichfalls ihre Rechte geltend gemacht. Es gibt Sonnenstraßen, Sternenalleen
(sogar einen Sterncnwinkcl) und eine Half Moon Street, und es gibt Themse-,
Fluß-, Bach- und Quclleustraßen, Wassergassen, ja sogar eine Ocean Now.
- Bei andern hat die Zoologie Gevatter gestanden. Man findet eine Fisch¬
straße, einen Elephantengarten, eine Kuhgasse, eine Lämmerallce, eine Bären¬
straße, eine Enten- und selbst eine Entrichsgasse, eine Neben- und eine Tauben¬
gasse, zahlreiche Schwanengäßch en, Adlerstraßen. Schwalbenstraßen und einen
Sperlingswinkel (8purrov Cornvr). In dieselbe Kategorie sind die Lokalitäten
zu verweisen, welche nach fabelhaften.Ungeheuern und mythologischen Geschöpfen
benannt sind, wie die Red- und die White Lion Street, der Seejungfernhof und
der Phönirplatz.'
Als Anhang hierzu muß die Reihe derer erwähnt werden, welche ihre
Benennung von Nahrungsmitteln herleiten, wie die Milch-, die Bier-, die
Brotstraße, der Ananasplatz, der Zyckerhuthof, der Essighof, die alte Pasteten¬
gasse und — der Puddingswinkel. Auch die Orangenstraße, die Citronenstraße,
der Birnbaums- und der Feigenbaumshof und das Kirschbaumsgäßchen dürfen
nicht vergessen werden.
Auch die Botanik hat ihr Theil bekommen. Es gibt zehn Terrassen,
Gäßchen, Höfe und Villas, die nach der Rose, neun, die nach der in England
bekanntlich sehr volkstümlichen und namentlich zu Weihnachten eine Rolle
spielende Stechpalme, sieben, die nach dem ebenfalls sehr beliebten Epheu be¬
nannt sind. Es gibt ferner eine Lilienterrasse, zwei GeiMattvillas, zwei
Föhrenhaine, einen Lavendelhügel und -Platz, zwölf Weitergange (Wittow
Walls), drei Akazienstraßen, eine Unterholzgasse (^oppics liov) und nicht
weniger als vierundfunfzig Cottageö, Crescents und andere Plätze, welche
den Namen Grove (Hain) führen, obwol sie so wenig Zweige und Blätter
haben, als ein Laternenpfahl. ^
Eine große Anzahl von.Durchfahrten wiederum sind nach ihrer Größe
oder Gestalt getauft worden. Bezeichnend ist dabei, daß es dreiundzwanzig
'Straßen, Höfe und Wege gibt, welche ihr Name als breit, aber nur drei,
welche derselbe als schmal bezeichnet. Sechs Oertlichkeiten heißen lang, ebenso
viele kurz, fünfunddreißig hoch; vier sind mit dem Worte „back" als Hintergassen,
ebensoviele durch „l'oro" als Vordergassen bezeichnet. Eine Oertlichkeit heißt,
Kehrwiederum (Turnagain), zehn Gassen sind als Mittel-, zwanzig durch
„Croß" als Querstraßen charakterisirt. - Endlich hat die Geometrie drei Ovale,
vier Dreiecke, zwei Polygone und einen Quadrant geliefert.
Die Farben, welche einige Gassen nach ihren Namen haben sollen, kommen
von den Namen ihrer Erbauer oder Besitzer her. Greenstreet, Whitestreet u. s. w.
wäre deshalb nicht mit die grüne Straße, die weiße, sondern mit Greens-
und Whitesslraße wiederzugeben.
Bei einem Volke von Schiffern kann es nicht Wunder nehmen, wenn
viele Straßen und Stadttheile nach den vier^ Hauptpunkten des Compaß ge¬
nannt sind, doch mag es auffallen, daß von den achtundvierzig, die durch die
Silbe „North" als nördlich laufend bezeichnet sind, viele in einer ganz andern
Richtung laufen. In den Vorstädten tragen viele Ortsnamen den Charakter
des Lobes, namentlich des Lobes der Schollen Aussicht, die (vor vielen Jahren
vielleicht) von da aus zu genießen war. So hat man in London nicht we¬
niger als vierundzwanzig „l'rciL^not KottuALs lind ewoW", vier.LvUvvnos und
ebensoviele vklviäsrss, etwa anderthalb Dutzend plsusant I'Iuevs, vier Nuuni,
' >'l>.>!r5unes, sechzehn Terrassen und Cottageö, die ihrem Namen zufolge ein Pa¬
radies sind, und sechs „Muster der Vollkommenheit-Villas und Gassen" (l'ura-
8<>n Villas ÄNÄ l^ovvs). ,
Die verschiedenen Gewerbe sind, wie zu erwarten, in den Namen der
Gassen und Plätze ebenfalls nicht unvertreten; doch fällt sofort ins Auge, daß,
während die Handwerke sich meist mit einer oder höchstens zwei Straßen be¬
gnügen müssen, mehr als dreißig Straßen durch das Wort „vvmmerviiill" an
den Handel erinnern.
Die weitere Ausführung dieser Beobachtungen lassen wir aus und be¬
merken nur noch, daß es außer andr Holzstraßen in London auch sieben
^novi'«trövt8 und sogar zwei Oimnonci Uovs gibt.
Die Physiognomie der.londoner Straßen und Stadttheile ist des Studiums
im hohen Grade würdig. Die feingeschnittenen Züge eines englischen Aristo¬
kraten können von dem Alltagsgesicht eines Aldermans nicht verschiedener sein,
als das vornehme Belgravian Square von seinem gemeinen Nachbar in
Barbican ist, und wie es in der Gesellschaft eine Mittelclasse gibt zwischen dem
Adel und dem Kleinbürger, welche als Muster ostensibler Vornehmheit be¬
trachtet werden mag (hierher gehören die Bankiers, die bekanntern Advocaten
und Aerzte u. s. w.), so haben wir in London auch eine Classe von Oertlich-
keiten, die weder zu den gemeinen noch zu den vornehmen im engern Sinne
des Worts gehören, sondern durch ihren architektonischen Charakter ungefähr
ihren Bewohnern, die man als „prot'essioriÄl A'öntry" bezeichnen kann, ent¬
sprechen.
Wenn uns der Leser durch die Straßen folgt, welche Fitzroy Square um¬
geben, so bedarf es keiner messingenen Platten mit Namens- und Standes¬
angabe an'den Thüren, um uns zu sagen, daß dies das londoner Künstler¬
quartier ist. In der Mitte des ersten Stocks befindet sich ein hohes Fenster,
die Läden sind am hellen Tage geschlossen, mir Ausnahme des obersten Theils,
welcher das „Oberlicht" einläßt. Die mit Spinneweben behangenen Fenster-
Icheiben und die stachen Stöcke der altmodischen Nouleaur, die in Unordnung
herumhängen — alles bezeichnet die Wohnung von Leuten, die schwerlich zu
der wohlhäbigen Classe gehören. Man bemerkt serner, indem man weiter geht,
Läden mit Farbentöpfen in den Fenstern, Gemälde in Wasserfarben, die zum
Verkauf ausgestellt sind und große braune Photographien, und in einer andern
Straße neben der ersten befinden sich Waarenhäuser mit Gipsabgüssen, Hän¬
den, Füßen, die in Gips modellirt sind und Figuren von Pferdni, die alle
Muskeln zeigen. Wer nach diesem nicht sofort inne wird, daß hier die Herren
Hanse»', die sich durchaus mit wunderlichen Bärten und Hüten und einer ma¬
lerischen Manteldrapirung kenntlich machen zu müssen glauben, bedarf mehr
als einer Brille, um seinen Scharfblick zu stärke».
' Machen wir uns dann über Regentstreet nach Saville Now auf den Weg
und kommen wir um die MittagSstuuve dort an, so brauchen wir ebensowenig
wie dort nach den mes/lugnen Thürschildern zu sehe», um zu erfahren, daß
hier in jedem zweiten Hause ein Aizt oder Wundarzt von Ruf wohnt. Fast
vor jeder Schwelle hätt eine bespritzte Kutsche, mir abgetrieben aussehende»
Pferden bespannt, und fortwährend gehen und komme» aus den Thüren bleicht
Gesichter mit schwarze» Nespiratvre» vo-r dem Munde, und man ist überzeugt,
baß ti.e Gesellschaft, die hier wohnt, eben im Begriff steht, ihre Rundreise'
durch die Stadt zu macheu und — für zehn Guineen die Stunde — ^"
paar Dutzend Pulse zu befühlen und die gleiche Zahl von Zungen zu be¬
augenscheinigen.
Machen wir uns dann nach Chancery Lane auf und haben wir dort auf
die schwarzbefrackte Welt Acht, die mit Actenbündeln zusammengebunden mit
rothem Bande in den Händen sich hin und her bewegt. Beobachten wir die
mit einem kleinen Katalog von Namen versehenen weit offenstehenden Haus¬
thüren, die Individuen, die in Priesterröckcn und gepuderten Perücken
— ein Mittelding von Pfarrer und Kutscher im Aeußern — ,nach den Ge¬
richtshöfen eilen, die Papierladen, in welchen juristische Kalender, Stücken
Pergament, von Aussehen so fettig wie Papier zum Durchzeichnen und mit
den Worten „klüh inclcmlurc:" in der Ecke versehen und Gesetzcslisten in hell-
rothes Leder gebunden hängen; beobachten wir die Möbelmagazine, die hier
vorzüglich Schreibepulte mit Lederüberzug und zahllosen, taubenschlagartigen
Fächern, gewaltige eiserne Geld- und Documentenschränke, Papierkörbe und
dergleichen enthalten, so wissen wir auch von diesem Quartier, wie der Ge¬
nius heißt, der eS bewohnt.
Dann wie verschieden sind die Squares in den verschiedenen Theilen
Londons — diese Squares, die so rein national, so völlig unähnlich dem
französischen pluce und dem deutschen Markt oder Platz sind, der nichts als
ein großes Stück Pflaster oder ein mit Kies bestreuter Raum mit einem
Standbilde, einer Säule oder einem Brunnen in der Mille ist. Es ist wahr,
die Bäume werden hier in London so schwarz wie die Menschen unter der
tropischen Sonne, aber dennoch nimmt sich der breite Teppich grünen Rasens
und das gelegentlich eingestreute Blumenbeet, welches die Liebe des englischen
Volks zur Gärtnerei und die Sehnsucht der Londoner nach dem Landleben'be¬
zeichnet, äußerst anmuthig aus. Wie stattlich und geräumig sind die alten
Gebäude um Grosvenor Square mit ihren steinernen Simsen, Fenstergewänden
und Thürpfosten in Mitten der düsterrothen geglätteten Ziegelfronten. In
Frankreich und Deutschland würde in jeder Etage dieser; Paläste eine ver¬
schiedene adelige Familie wohnen. Der Raum, den sie einschließen, ist ge¬
wöhnlich ebenfalls ein kleiner Park oder Garten, was sich ebenfalls besser
ausnimmt, als der nüchterne gepflasterte Borhvf fremder Schlösser.
Dann ist Grosvenor Sauares Zwillingsbruder, . Portmans Square, wo
die Häuser ganz so wie dort, nur nicht so imposant sind. Ebenfalls in diese
Kategorie gehören Se. James-, Berkeley-, Cavendish-, Hanover-, Manchester-
und das noch prächtigere und stattlichere Belgrave- so wie das Eaton Square.
Zunächst im Range nach diesen kommen die Squares, welchen der Eng¬
länder das Prüdicat „respevl.ab1o" ertheilt, im West End: Montague, Bryan-
sivne, Cadogan und Connaught, während die andern, von denen nur Bedford-,
Torrington-, Queeus-, und Flinsbury-Squcire erwähnt werden mögen, sämmt¬
lich in jenem Bezirke östlich von der Tottenham Court Road liegen, welcher
die berühmte wri-g, inevKuila John Wilson Crokers war.
Dann sind die City Squares zu nennen, diese so außerordentlich stillen
Plätze mitten im steinernen Herzen von London. Sie scheinen so still und
verlassen wie Klostergänge, und der Wunsch nach Ruhe ist bei den Bewohnern
so groß, daß sie stets einen in Livree gesteckten Wächter zu dem Zwecke be¬
solden, die Straßenjugend fortzuprügeln und die Leute zu zerstreue», die sich um
Bänkelsänger und Seiltänzer sammeln, welche die Stille dieser Plätze als eine
Goldgrube anzusehen pflegen. Hierher gehören z. B. Devonshire Square, Bridge-
water-, America-, Nelson Square und Warwick Square, von denen indeß die
meisten nichts Anderes als die kahlen Plätze des Festlands sind.
Ferner hat man die außer Mode gekommenen alten Squares, die im
Süden von Orford Street und Holborn lind im Osten von Regent Street
liegen. Wo hier einst vornehme Wohnungen waren, befinden sich jetzt nur
große Häuservierecke voll Hotels, Miethwohnungen, Ausstellungen und Ver-
kaufsgewölbc. Dahin gehören die oft genannten soso- und Leicester Squares
und selbst Cvventgarden. Endlich sind noch die vorstädtischen Squares zu
nennen, z. B. Thurlow Square bei Brompton, Edwards Square bei Ken-
sington, Claremont Square bei Pentonville, und Surrey Square bei der alten
Straße nach Kent.
Im Ganzen befinden sich in London mehr als, hundert Squares, uno
diese stehen bei den Bewohnern der umliegenden Straßen in solcher Gunst,
baß sie als die Hauptquartiere und Brennpunkte der Vornehmheit in der
ganzen Nachbarschaft betrachtet werden, und daß zum Beispiel die anspruch¬
vollern. Gewerbtreibenden von Gowerstreet und dergleichen, seine ihre Adresse als
Gowerstreet Tottenham Court Rvad anzugeben, sie lieber Gowerstreet, Bedforv
Square schreiben. '
- Gleich wie die Plätze haben auch die Straßen ihre bestimmten Classen.
Es gibt Mvdestraßen wie Arlingtonstreet, Se. James und Park Lane, die
Richmond- und die Carlton Terrace u. a.; sodann kommen die ,>respectablen"
Straß.en als z. B. Clarges- und Harleystreet, Gloucester- und Woburu Place
und Keppclstreet! Dann die Oertlichkeiten» wo sich Miethwohnungen der
bessern Art befinden, meist in den vom Strand auslaufenden Gassen. Svdan»
müssen die Straßen und Gäßchen in der Nähe der Bank erwähnt werden, wo
die Häuser so voll Kaufleute und (^ommis sitzen, wie eine Auöwandrerherberge
voll armes Volk. Dann gibt es Straßen, die sich als Hauptsitze eines be¬
stimmten Handwerks charakterisiren: ^ Lonibardstreet, wo die Bankiers ihre Ge¬
schäfte machen, Long Acre, wo die Wagenbauer ihre Werkstätten haben,
Clerkenwell, der Bezirk der Uhrmacher, Hation Garden, der Bezirk für die
italienischen Glasbläser, das Borougl), der für die Hnlfabrikanlen, Bermondsey,
wo die Gerber^ Lambeth, wo die T-öpfer, und Spitalsields, wo die Weber,
Catherine Street, wo die Zettungöhandler, und die New Road, wo die Zink-
arbeitn- sich ausbreiten. Mincing Lane ist der Sitz der Großhändler in
Materialwaaren. In der Lower Thomas Street ist der Handel mit Orangen
und ausländischem Obst vorwiegend u. s. w. >
Eine der am schärfsten ausgeprägten Physiognomien ist die der Gegenden
in der Nachbarschaft der Docks. Die Straßen haben in diesen, Stadttheile
alle mehr oder minder einen seemännischen Charakter. Die Läden sind der
Mehrzahl nach mit den Bedürfnissen der Matrosen gefüllt. Die Schaufenster
zeigen Quadranten und Sertanten von blitzendem Messing, Chronometer und
Fernröhre, während über der Thür die gewaltige Figur eines Seeoffiziers mit
einem dreieckigen Hute unverwandten Blicks jahraus jahrein den Leuten im
ersten Stock des gegenüberliegenden Hauses in die Fenster starrt. Dann
kommen die Märkte, wo die Matrosen wohlfeile Schuhe kaufen, die Schenken,
welche fast alle „Zur lustigen Theerjacke" heißen, die gewöhnlich „Matrosen-
Heimath" getauften Herbergen für Seeleute, wo hinter dem Schenktisch fort¬
während freies Concert ist. Ferner sind hier die Segelmacher, deren Läden
Massen von Tauwerk füllen und wo ein durchdringender Theergeruch die
Nase beleidigt. Alle Materialisten in dieser Gegend sind sogenannte „Provision
ktxents", in ihren Fenstern stehen Büchsen mit eingemachten Gemüsen und
jeder Artikel „wird garantirt, sich in jedem Klima zu halten". Das Pri¬
vilegium, an den Ecken der Straßen zu wohnen, scheinen die „Slnpssllors/'
d.h. die Verkäufer billiger fertiger Kleider zu haben. Ihre Fenster hängen voll
rothe und blaue Wollenhemden, die Thüren sind fast ganz versperrt mit wohlge-
vlten Norwestern, die Front des Hauses nehmen zahllose Hosen von Segeltuch,
grobe Lootscnröcke und sogenannte Peajackets ein. Schon die Fußgänger, die
mit dem Wackelschritt, der dem Seemann eigen ist, durch die Straßen schlendern,
die Steuermänner in glänzenden Westen von schwarzem Atlas, die schwarzen
Matrosen mit großen Pelzmützen auf den Köpfen und die Steuerofficianten
mir ihren Messingknöpfen auf den Jacken würden dem Fremden sagen, daß er
sich in der maritimen Sphäre Londons befindet.
Sehr interessant auch ist ein Blick auf den Marktverkehr, der namentlich
an Sonnabenden auf manchen Gassen äußerst lebhast ist. Dann nämlich
kaufen die arbeitenden Classen, die ihren Lohn bekommen haben, ihr Sonn¬
tagsmahl ein, und das Gedränge ist dann an manchen Punkten kaum zum
Durchkommen. Das Schauspiel, das der Beobachter hier hat, trägt mehr den
Charakter eines Jahrmarkts als eines Wochenmarkts. Hunderte von Verkaufs¬
tischen sind aufgestellt und jeder hat seine zwei Lichter, entweder die neu¬
modische Gaslampe mit ihrem milchweißen Lichte oder die rothbrennende rau¬
chige Thranlampe der alten aMcn Zeit. Der eine zeigt seine gelben Schellfische
vermittelst einer Kerze, die in ein Bündel Feuerholz gesteckt ist, der Nachbar
hat sich aus einersungeheuern Rübe einen Leuchter gemacht und das Unschlitt
läuft zu beiden Seiten herunter, während ein Knabe neben ihm, der „Un¬
bändig große Birnen, acht, für einen Penny" aufschreit, sein Kerzchen mit
einer dicken Rolle Löschpapier umgeben hat, welches im Winde aufflackert.
Einige Verkaufsstände sind dunkelroth beschienen von dem Kohlenfeuer, welches
durch die Löcher eines eisernen Ofen scheint, in dem Maronen geröstet werden,
andere beleuchtet eine hübsche achteckige Laterne, wieder in andern scheint das
Licht durch^ ein Sieb. Diese und die hellstrahlenden Glaskugeln in den L^aber
der Theehändler und die Gaslichter der Fleischerladen, die im Winde wie
feurige Flaggen wehen, strömen eine solche Fülle von Licht aus, daß in ei¬
niger Entfernung die Atmosphäre unmittelbar über der Stelle aussieht, als ob
die'Straße in Feuer stünde.
' Trottoir und Pflaster sind mit Menschenmassen bedeckt. Die Hausfrau
mit dem dicken Umschlagtuch und dem Marktkorb am Arme schreitet langsam
dahin, und sieht sich hier an einem Tische mit Mützen um und feilscht dort
um ein Bündel Grünwaare. Kleine Knaben mit'drei oder vier Zwiebeln in der.
Hand kriechen zwischen den Leuten durch, schlüpfen durch jede Lücke im Ge¬
dränge und bitten in winselnden Tone, als ob sie ein Almosen haben wollten,
ihnen etwas abzukaufen.
Überwältigend ist der Tumult der tausend Stimmen, die alle zugleich
ihre Waaren ausbieien. „Wieder was verkauft!" brüllt der eine. „Gebratene
Kastanien, ganz heiß!" blöke ein.andrer. „Einen Halfpenny die Schachtel!
Wichse!" kreischt ein Knabe. Kauft, kauft, kauft —ka—a—use!" ruft der
Fleischer. „Ein halbes Buch Papier für 'neu Penny!" schreit der Papier¬
händler der Straße. „Zwei Pence daS Pfund Trauben!" — „Drei für 'neu
Perro, Aarmouther Windbeutel!" — „Wer will 'nen Damenhut für vier
Pence kaufen?" — „Hier wird billig gekauft, drei paar für 'neu Halfpenny,
Schnürsenkel!" — „Jetzt ist gute Gelegenheit zu kaufen, wunderschöne Trom¬
petenschnecken, das Dutzend 'nen Penny!" „Hier gibts Törtchen!" schreit
der wandernde Konditor. Und so geht das babylonische Stimmengewirr weiter-
Da steht e^mer, dem über den Rücken und die Brust Matten mit rothen
Rändern hängen, wie das Oberkleid eines Herolds. Neben ihm schreit el»
Mädchen mit braungebeizten Händen: „Wallnüsse, schöne Wallnüsse, sechzehn
für 'nen Penny" aus. Einen der benachbarten Läden hat sein Besitzer, ein
Schuhmacher, um Kunden herbeizulocken, mit einem Dutzend Gasflammen illu-
minirt, und. in deren vollem Glänze lehnt ein blinder Bettler, der nnr das
Weiße von den Augen sehen läßt und einige Bettelreime.murmelt, die in den
schrillen Klängen eines Musikanten verloren gehn, der neben ihm die Bambus-
stöte bläst. Das scharfe Gekreisch der Knaben, das heisere Schreien der
Weiber, das Gebrüll der Männer mischen sich alle in ein wüstes Durchein¬
ander. Bisweilen läßt ein irischer Höker seinen Schrei „do'v' ittinss »Mich!"
hören oder das Gewinsel eines Leierkastens bricht aus, während das Trio von
Bänkelsängern, das seinen Spuren folgt, sich die erschöpften Lungen ausruht.
Ein Tisch ist grün und weiß von Nübenbündeln, ein andrer roth von
Aepfeln, ein dritter gelb von Zwiebeln, ein vierter purpurblau von Nothkraut.
In diesem Augenblicke schreitet ein Mann mit einem Regenschirme vorbei,
dessen innere Seite nach außen gekehrt und mit Anzeigen beklebt ist. Dann
fahrt man zusammen von dem plötzlichen Knacken der Zündhütchen auf den
Gewehren, mit denen Knaben an der Ecke der Straße nach der Scheibe
schießen, und dann wieder hört man den Ausrufer vor der Thüre eines Penny-
concerts die Vorübergehenden eindringlich ernähren, sich mit dem Eintritt zu
sputen, da Mr. Somebody eben daran ist, das beliebte Lied vom Scheren¬
schleifer zu singen.
Hier wieder ist ein Perkaufstisch mit neuen Blcchpfannen, dort ein anderer
mit blauem und gelbem Steingut und blitzenden Glaswaaren. Dann geht man
an einer Reihe alter Stiefeln vorbei, und dann an einem Laden mit rothen
Taschentüchern und gestreiften Hemden, hinter denen Knaben die Kunden
herbeirufen. An der' Thür eines Theeladens steht ein Mann, umstrahlt von
hundert Lichtkugeln, um den Leuten ihre Rechnungen auszutheilen, wobei er
„dem Publicum für bisher bewiesene Gunst dankt" und alle Concurrenz zu ver¬
achten betheuert. Hier an der Straße hin befinden sich ein Dutzend Glieder-
Puppen, lvie sie die Schneider zur Ausstellung ihrer Waaren verwenden. Sie
haben keine Köpfe, sind in sogenannte Chcsterfieldjacken von grobem Stoff
gekleidet'und tragen auf der Brust Zettelchen mit Inschriften wie „Sehen Sie
auf den Preis!" oder „Bedenken Sie die Qualität!" Und hier wieder Passiren
wir «an einem Fleischladen vorbei, wo Rippenstücken und Keulen, Zungen und
Schinken bis an die Decke aufgeschichtet sind, und vor welchen der Fleischer
>n seinem blauen Rocke, das Messer an dem von seiner Hüfte herabhängenden
Stahle wetzend, hin und hergeht und zu jeder vorüberwandelnden Frau sagt:
„Was kann ich für Sie thun, meine Liebe?"
Ehe man diesen Tumult und dieses Gedränge selbst gesehen hat, ist es
unmöglich, sich einen Begriff von der Anstrengung und dem Kampfe zu machen,
den eS kostet, den Penny Prosit aus dem Sonntagsmahle des armen Mannes
>n London zu erringen, von dem daselbst Tausende leben.
Zum Schlüsse sei uns gestattet, unserm Führer noch in ein Quartier zu
folgen, welches, wenn jener Hof in Houndsditch die Börse der Lumpensammler
'se, ohne Bedenken als die Börse der londoner Diebe bezeichnet werden kann,
^user Bild von dem Leben auf den Straßen der britischen Metropole würde
unvollständig sein, wenn wir nicht einen Blick in die Diebshehlerstraße thun
wollten, welche einst Petticoat Lane, jetzt anständiger Middleser Street heißt.
Anfänglich unterscheidet sich die Petticoat Leine, welches als absoluter Ge-
gensatz der Regentstreet aufzufassen, als Brennpunkt alles Gemeinen und
Lumpigen, als Centrum der unfashionabcln Welt zu betrachten ist, nur wenig
von den Straßen in ihrer Nachbarschaft. Sie ist so eng und so dunkel wie
diese und ist von denselben Sackgäßchen unterbrochen, wie diese. Weiter
hin aber kommen ihre charakteristischen Merkmale mehr zu Tage. In den
Rinnsteinen haben sich Schmuz und sein Feind, der Seifenschaum, friedlich neben¬
einander abgelagert. Auf den Schwellen und Treppenstufen sitzen Weibsbilder
mit ungekannten Haaren, und vor den Häusern spielen Gruppen von Knaben
mit scharfgeschnittnen Nasen, einige in Männerröcken, deren Aermel in die
Höhe gestreift sind, während die Schöße auf dem Pflaster schleppen, andere
in Hosen,' die unten aufgerollt und oben mit Bindfaden bis unter die Arme
heraufgezogen sind.
In einem andern Seitengäßchen erblickt man Weiber, die eine alte französische
Bettstelle auskratzen, welche über den halben Hof weggeht, und daneben sind
andere, die ein Bettinlet von der Farbe mit Milch gemischten Kaffees ausklopfen,
ehe es in das Möbelmagazin oben geschafft wird. Im Hofe gegenüber steht
vielleicht ein eben geöffnetes Faß uralter Heringe, während- an der Mauer d>>
aufgeschlitztem Leiber von Stockfischen trocknen. Ein Stück weiter hinauf scheint die
Gasse sich vorzüglich der Zubereitung solcher Eßwaaren zu widmen, welche die
Jsraeliten besonders lieben. Beinahe ein Haus um das andere enthält ein
„Etablissement", wo gebratne Fische verkauft werden, die Luft ist dick von Dämpfen
gesottenen Oels und'während man weiter geht, hört man das Zischen 'und
Prasseln der schmorenden Schollen und Goldbutten, während Weiber mit
glühend rothen Wangen, orientalischen Habichtsnasen und fcttgetränkten Schür¬
zen, ,die dampfende Bratpfanne in der Hand, hin und her laufen. Die Ver-
kaufSbretcr der Garküchen stehen voll von Schüsseln mit frischgebratenen Fischen,
die so braun wie der Boden eines frisch mit Sand bestreuten'Vogelbauers
aussehen, und neben diesen stehen Austerfässer, gefüllt mit eingelegten Gurken,
die in der Essigbrühe wie ungeheure sette Raupen liegen.
Gemische mit diesem trifft man ferner seltsame Fleischerladen, an deren
Haken kleine, blutlos bleiche Fleischstücken hängen. An jedes ist ein blechernes
Zeichen befestigt —das Siegel des Rabbiners,, womit er bezeugt, daß das Thier,
von dem daS Fleisch kommt, nach dem vorgeschriebenen Gebrauch geschlachtet
worden ist. Die Fleischer, die man hier sieht, sind die einzigen Glieder ihres
Handwerks, die in London dem Genius'der llnreinlichkeit treu geblieben sind-
Die Bäckerladen in dieser Gegend haben ebenfalls ein anderes Gepräge,
als in andern Theilen der Stadt. Die Haare und Augenbrauen der Bäcker¬
meister sind in ungewöhnlichem Grade mit Mehl bestäubt, so daß sie dem
grotesken Bilde gleichen, welches ein gepuderter jüdischer Bedienter in Bclgravia
liefern würde.
Noch weiter hinauf nimmt die Straße eine völlig andere Physiognomie
an und die Stapelplätze getrockneter Fische, die Garküchen, die schmuzigen
Fleischer und die Gurkenfässer machen Trödelmärkten Platz, wo alte Model,und
allerlei Handwerksgeräth aufgestapelt sind. Sägen und Hobel, Winkelmaße
und Aerte liegen hier zu Tausenden an den Fenstern zum Verkauf. Das
Pflaster vor den Thüren ist bedeckt mit einem Gerümpel alter Tische und
Stühle aus Tannenholz, mit ungeheuren unbehilflichen Sophas, deren Sitz
unter das Gestell gesunken ist und die mit diesen niedcrgesessenen Kissen wie
jene Wagen aussehen, wo die Ladung unter der Achse der Räder liegt. Ferner
sind in den Laven plumpe Armstühle ohne Ueberzug im Neglige grober grauer
Leinwand, altmodische Schenktische, Bambusstühle, deren Rohrbezug sich in seine
Elemente auszulösen im Begriff ist, und die an alte Fischreusen erinnern. Die
Diele aber bedeckt ein Haufen von Federbetten, die zusammengedrückt sind und
Klumpen von Noggenmehlteig gleichen.
Neben den Möbeltrödlern machen sich die Kleidertrödler besonders be¬
merklich, die, wie die Reihen Hosen von englischem Leder oder genarbtem Plüsch,
die Flanelljacken und ähnliche Körperhüllen beweisen, die an ihren Thüren und
Fenstern baumeln, ihre Kunden vorzüglich unter den Arbeitern haben.
Fast vor jeder Thür sitzt eine dicke Jüdin, deren Ohrengehänge so groß
wie ein Mannssinger sind, und deren Hände von goldnen Ringen blitzen.
Die einen putzen alte Messingleuchter, die andern scheuern den Rost und Nuß
von alten Theekesseln. Ihre Hände und Gesichter strotzen mitten in ihrem Putz
von Schmuz. Hier sieht man ein Frauenzimmer, die auf ihrer Haube solche
Büschel künstlicher Blumen hat, wie sie die Kutscher zum ersten Mai ihren
Pferden an die Köpfe stecken, damit beschäftigt, das Fett eins dem Kragen
eines fadenscheinigen Ueberrocks zu ziehen, und dort wichst eine nicht weniger
aufgeputzte Judcndirne ein Paar Schnürstiefeln oder ein Pferdekummt, wäh¬
rend an der Thür dieses Gewölbes mit alten Flaschen und Lumpen, und dieses
gebrechlichen Hauses, dessen Bewohner, nach seinem elenden Aussehen zu ur¬
theilen, keine hundert Schritt vom Armenhause entfernt zu sein scheinen, eine
großartige Modedame mit einem spitzenbesetztem Sonnenschirm in der mit gelben
Handschuhen bekleideten Hand und einem hellgrünen und feuerroth geblümten
Kaschunrshawl sich eben von ihren schmierigen Töchtern verabschiedet.
Sähe man nicht solche Figuren, so würde man sich fragen, was diese selt¬
same Mischung von Lumpen, alten Kleidern, rostigen Kesseln und gichtbrüchigen
Möbeln mit Juwelen uno künstlichen Blumen an den Fenstern von Petticoat
Laue bedeute. Die Leute, die hierher kommen, um zu kaufen oder >zu verkaufen,
sind Arme, und die brauchen keine Ninge und Ohrglocken. Der Lurus, der sich
>n der Straße dem Trödelkram beimischt, ist für die, welche sich von dem Elende
"ber dem Verbrechen der Annen nähren. Wenn alle die alten Betten und
Werkzeuge und Kleider in Petticoat Lane Zungen hätten, sie würden manche
Geschichte unbekannten Leidens und manches Verbrechen erzählen. Wer da
weiß, was ein Handwerker aushält, ehe er sich von seinen Werkzeugen trennt,
die ihm gleichsam ein anderes Paar Hände sind, wird daran nicht zweifeln,
sich diese Geschichte vielleicht selbst erzählen. Er wird sich auch die von jenen
Kinderschuhen und von dem Herzeleid erzählen, das die Mutter empfand, als
sie von den kleinen Füßen gezogen wurden, um für den Erlös eine Mahlzeit
für die hungernde Familie oder ein Glas Gin für den durstigen Bater zu
kaufen. Und er ahnt vielleicht auch die Geschichte jenes seidnen Taschentuchs,
dessen da, aus dessen Ecke soeben Zeichen und Nummer getrennt worden ist.
Ist der Bursche, der es gestohlen und an den Juden für ein Viertel des
Werths verkauft hat, den jetzt der darauf gesteckte Zettel angibt, etwa aus
einer der unglücklichen Familien, die zu diesem Haufen alter Möbel ihren
Beitrag lieferten? Oder war er von Natur ein Taugenichts — 'einer von
denen, welche Carlyle todtschießen und in die Kehrichtgruben kehren lassen
möchte?
Dort an der Ecke eines der Höfe, weiter oben in der Gasse, steht eine
Gruppe von Knaben, die begierig einem Kameraden über die Schulter schauen,
welcher einige silberne Löffel vorzeigt. Der Jude, welcher sie kauft, ist ein
regelmäßiger Besucher.der Synagoge und trägt die Gesetze Mosis auf bloßem
Leibe. Aber er fragt nicht, woher, und hat stets einen SchMelztiegel auf dem
Feuer stehen. Seine Töchter sehen wie indianische Götzen, ganz Gold und
Schmuz aus, aber nächsten Sabbath wird man sie im Stil der neuesten Mode
durch Aldgate paradiren sehen. Der Alte wird Null) und Rachel Tonnen
Goldes hinterlassen, wenn er stirbt, um sich, wie er hofft, in Abrahams Schoß
zu setzen.
Und jetzt wird der Leser sich klar sein, wer in Petticoat Lane die gebra¬
tenen Fische, die künstlichen Blumen und die Juwelen kauft, die außer dein
Gerümpel und Trödel zum Verkauf ausgestellt sind.
(Schluß ans Ur. 23.)
Die Vorbereitung zur Schlacht war der frommen Landsknechte würdig,
denn unverbrüchlich beobachtete das deutsche Fußvolk die Sitte, niederzufallen,
um-das Gebet zu verrichte«, auch wol ein geistliches Lied anzustimmen, eine
fromme Gewohnheit, welche den Ausländern so seltsam erschien, daß sie >"
ihren Schriften die Deutschen bald einen willen Schlachrgesang anheben, halv
sich aus Furcht vor den Stückkugeln niederstrecken lassen. — Vor der Schlacht
von Pavia sehen wir das Kriegsvolk zur Beichte gehen, und Herr George von
Frundeberg hat gar eine Mönchskutte über die Rüstung gezogen, als ein
frommes Stcrbekleid,, indem er seine braven Knechte vor den Feind führt. —
Vom fußfälligen Gebete aufgestanden, warf nach uralter Kriegssitte das Re¬
giment Erdschollen hinter sich und schüttelte den Staub von Wams und Schu¬
hen, gleichsam als entledige eS sich alles Schlechten und weihe sich dem Schlach¬
tentode, damit es aber auch an irdischem Zuspruch nicht gebrechen möchte, so
riefen die Hciuptleute in freundlichen lind bittenden Worten ihre Knechte aus,
>des alten deutschen Waffenruhms eingedenk zu sein und sich tapfer zu schlagen,
ein Gebrauch, den würdigen mag, wem je in Feindes Angesicht Fleisch und
Bein erbebte und das Herz nach Muth rang. Also redete Herr Philipp von
Freiberg vor dem Sturme auf Brescia <-Isi2) seine deutschen Streiter an:
„Lieben Landsknechte und Brüder, die Franzosen haben beschlossen, Briren zu,
stürmen und hoffen es durch Eure Mannhaftigkeit zu zwingen, deshalb ermahne
ich euch denn, daß ihr eures alten Lobes und deutscher Tapferkeit ein.gedenk
seiet und euch festiglich und standhaft daran macht. Der Prinz und alle Edel¬
leute Frankreichs sind gewillt, entweder mit uns zu sterben oder den Sieg zu
erringen.- Wer also von euch dieses Sinnes und Vorsatzes ist, der hebe des
zum Zeichen die Hand auf, die übrigen aber treten aus dem Ringe." Da
'hoben alle Knechte freudig die Hand auf, schrien einmüthig: „sterben oder die
Stadt gewinnen!" und jeder schnitt mit dem Messer Kerben in den von langem
Gebrauch geglätteten Spieß, damit er ihn besser fassen könne. Und als darauf
gute Beute verheißen wurde, machte so ausdrückliche Vergünstigung die armen
Landsknechte noch freudiger und jeder hoffte an dem Tage reich zu werden.
Die Schlacht eröffnete das Krachen des schweren Geschützes und die vor¬
aneilender Läufer, von den Franzosen gar kläglich cmlAlUs perclus genannt,
dann stürzten Reiter auf Reiter, und wenn die Zeit gekommen, „druckte" in
mggeschränktem, undurchbrcchbarem Viereck durch die .Lücken der helle Haufe
»ach, indem die fünstaktig scharf abgesetzten Trommelschlägc: Hüt dich Baur,
ich komm" und der laute Schlachtruf: „Her, her" — andern hatten die Deut¬
schen nicht — das Gemüth zur Kühnheit stimmten. So ging es, die Herz¬
haftesten vordrängend, auf den Feind los zum blutigen Ringen Mann an
Mann; blutig wie allemal der persönliche Kampf, zumal mit rohen Waffen, ist
während das Schußgcfecht, wenn auch mit allem Graus sinnlicher Eindrücke
die Einbildungskraft erschütternd, viel weniger Menschen opfert. — Aber noch
che die Schaaren aneinanderstießen, ereigneten sich vor der Front mitunter
Scenen, welche an die schönsten Tage des Römerthums und der Ritterblüte
"innern, die Einzelnkämpfe der Hauptleute auf den Tummelplätzen aller
kühnen Waghälse. So vor der Mordschlacht von Ravenna, für welche die
deutschen Knechte dem Allmächtigen auf den Knieen dankten und großmüthig
alle Beute von sich abwiesen. AIS es zur Schlacht ging, traten Fabian von
Schlabrendorf, ein Sachse, ver riesigste Mann in Europa, uno Herr Johann
Spät von Pumern, daS Haupt mit grünen Kränzen geschmückt vor die Rei¬
hen und forderten einige Spanier zum Kampfe auf; der starke Fabian erlegte
seinen Gegner, der Schwabe aber fiel, zu Tode verwundet von einer hämischen
Kugel, noch ehe er seinen Mann erreicht. — So fern! auch Herr George von
Frundsvcrg, wie eine wandelnde Säule vvranschreilend und nach jedem-mäch¬
tigen Streiche mit dem Schlachtschwert tief aufseufzend. Erst die überhand¬
nehmende Mörderlichkeil des Feuergewehres hat diesen Helventhaten ein Ziel
gesetzt. .
Keine schönere Glorie der Landsknechte als die Schlacht von Pavia
welche Dr-. Bartholds vortreffliches Werk auch mit so hinreißender Lebenvigkeu
schildert. An der Spitze seiner Gendarmen, unter welchen Bayard ohne Furcht
uno Tadel und viele hundert Edle fechten, führt der erste Ritter Frankreichs,
König Franz 1., den sein Heer verehrt, die Romantik der Ritterzeit zum letzten
Male in die Schranken. Schweizer stehen den herrlichen Reitern zur Seile
und deutsches Fußvolk, die berüchtigten „schwarzen Knechte", Mann für Mann
vom Scheitel bis zur Zehe in der Farbe des Todes gerüstet, slorfarbene
Fähnlein wehen gar düster über die Häupter her. Versuchte Offiziere, größten-
theils im Neichsbanne lebend, weil sie frühern Abmahnungen von fremdem
Kriegsdienst nicht nachgekommen, führen die verwegne Schar, welche sich für
den fremden König so ehrlich geopfert hat. Auf der andern Seite fechten
Spanier und Deutsche gegen dieses Heer, das sein ritterlicher König selbst
unüberwindlich nennt. Angriff auf Angriff hausend stürmen die Gendarmen,
wie von heroischer Trunkenheit berauscht, in den Tod, wanke^ hält das deutsche
Fußvolk, in stundenlangen Kanoneuseuer nicht erschüttert, und als es mit
seinen erbitterten Erbfeinden, den Eidgenossen zusammenstößt, um ihnen „baß
den Kühl zu binden," büßen diese mit dem Leben zugleich .ihren alten Ruf
der Unbesiegbarkeit ein. In unnatürlichem Haß lassen die Deutschen im frein-l
den Solde von den Spaniern ab, um sich gegen die kaiserlichen L,anbsleute zu
wenden, aber die schwarze Lande wird bis auf den letzten Mann erschlagen.
Das stolzeste Heer zu Boden geworfen, Ver König gefangen, ein gar herrlicher
Ausgang! —
.Ein Kriegsvolk, welches sich so zu schlagen verstand ' „in weiter breiter
Welt" uno dessen liederreiche Gesellen dein Stande entsprossen, worin die neue
Muse ihren Sitz aufgeschlagen, mußte zumal bei Ver Richtung des deutschen
Gemüthes, sich über Freud und Leiv des Lebens in Spruch und Liev beschaulich
zu'ergehen, einen gar köstlichen Schatz von Liedern haben, von Venen einzelne,
wie: „Straßburg, vu wunderschöne Stadt" »och h^nie ver deutsche solvat
sein eigen nennt. Die Poesie der Landsknechts in ihrer treuen und gemüth¬
lichen Verfassung, mit ihren guten Schwanken und fröhlichen Sängern, schuf
in unerschöpflicher Fruchtbarkeit. Was erlebt, ward zum Lied und der Freund
echter deutscher Reimgedichte wird unter der dichterischen Hinterlassenschaft der
Landsknechte auch die „von der stat Pavia" zu finden wissen,
Krieg überhaupt aber ist ein leidenschaftliches, verwilderndes Element und der
Soldat allein, der, ein Held in der Schlacht, im Herzen Gott um Frieden bittet,
ist vor Ausartung bewahrt, welche uns darum bei den Landsknechten, die
ihn in nach Zeitbegriffen christlich erlaubtem Handwerk führten, nicht befremden
mag. Je lockender die Bedingungen,» welche die Kriegsfürsten stellen mußten,
um so mehr nahm Gewinnsucht, Frechheit, Meuterei und Prasser zu, am
allerwenigsten bei den Anführern stand das Gelübde der Armuth im kriege¬
rischen Glaubensbekenntniß. Besonnene Berechnung, ob bei einem Unter¬
nehmen auch etwas Ansehnliches „hinter sich zu schlagen sei" war häufiger als
hochherzige Begeisterung, und wenn auch der edle Fnindsberg, zur Ehre seiner
Nation in den Krieg ziehend, über solchen Krämergeist erhaben war, so be-
sannew sich doch viele andre schon und nannten es eine glückliche Heimkehr,
wenn sie mit gefülltem Säckel und sonst guter Beute nach Hause zogen.
Ohne Scheu und Makel wurde'das „Finanzircn" geübt, dem darum die Für¬
sten eine schimpfliche Controle entgegenstellten, und die schmachvollen Betrü¬
gereien eidgenössischer Bandenchefs, den König täuschend, haben nicht wenig
Zur Niederlage von Pavia beigetragen. Solche Speculation würde uns an¬
widern als eine Ehrenrührigkeit, hätte nicht die Offenheit des Geständnisses
sie als einen, ganz unanstößigen Zeitbegriff festgestellt. Habgieriger Eigenwille
des' Kriegsvolks brach nicht selten schönen Unternehmen die Spitze ab/ wie bei
dem Sturm auf ein Schloß bei Vampelona die schwarzen Knechte den Ritter
Bayard zu schwerer Entrüstung gereizt haben sollen. Altes? Herkommen an¬
gebend, verweigerten'sie zu den Waffen zu greifen, ehe ihnen nicht .doppelter
Sold gezahlt würde, darauf ihnen der Ritter sagen ließ, daß er sich niemals
um ihren Brauch gekümmert, wenn sie aber ihre Sache br.av machten, sie an-
ständig zu belohnen wissen werde. Darauf machten sie -sich denn höchst ver¬
gossen ans Werk, richteten aber wenig aus, so daß die Homines d'armes nur
durch Kriegslist den Platz gewinnen konnten, hatten aber nichtsdestoweniger
d>'e Unverschämtheit, um Sturmsold anhalten zu lassen, darob der Chevalier in
schrecklichem Zorn entbrannte und jedem der Schufte einen Strick zum Hängen
^'sprechen ließ . . . Mag dieses Factum hinterdrein auch durch französische Ge-
^ichtschreiber entstellt und das arme Fußvolk zu entschuldigen sein, daß es
"'Hi ohne guten Lohn sein Leben zum nachherigen Ruhm der stolzen Ritter in
d'e Schanze schlagen wollte, so beweisen andrerseits die sehr ausdrücklichen Be-
Uünmungen der Artikelbriefe wegen Beute und Sturmsold, daß dergleichen'
Vorkommnisse nicht zu den Seltenheiten gehörten, doch mochte zu jener Zeit
auch der Kriegsmann mehr Veranlassung haben, für Verstümmlung und Alter
dnrch einen Beutepfennig zu sorgen. Aber gewöhnlich wards schnell wieder
durchgel'rächt in Spiel und Trunk, welche schon Tacitus als Erbübel der
Deutschen geschildert hat. Die Spielsucht, im noblen Leichtsinn der „geschwinden
Spieler in Karten und Würfeln" als böses Beispiel von "oben gegeben,
herrschte als ein ganz allgemeines Laster, mit Todtschlag und Aberglauben ver¬
mischt, ganzer Monatssold wurde in wenigen Wurfen auf der Trommel gewonnen
und verloren und fromme Gemüther haben sich mit Recht empört auch über
Kirchenschänderei und Gotteslästerung, w/lebe letztere überdies in dem abscheu¬
lichen Fluchen nicht wenig verübt und Gegenstand strafender Verordnungen
wurde.
Ein gar bequemes und liederliches Lagerleben, von dem knappen Feld-
hausbalt heutiger Soldaten sehr abstechend, brachte der altgermanische gemüth¬
liche Gebrauch mit sich, Weib und Kind und jegliches Leibesbedürsniß auch auf
Heerzügen mitzuschleppen, welcher in das damalige Kriegswesen als handwerks¬
mäßige Bethätigung bürgerlichen Lebens vollen Eingang fand. Schnell ein¬
gerichtete Märkte und ein ungeheurer Troß sorgten für alle Bequemlichkeit,
die bei damaligen Verkehrsverhältnissen auf der Wegfahrt nicht überall zu sin^
den sein mochte, und wenn auch das anziehende Gesinde! von Hurenweibeln
und „Numormeistern" gar hart behandelt und arg geschlagen ward, damit der
„faulen Schwengel und ^>um" nicht zu viele würden, so mag die Wirth¬
schaft doch toll genug gewesen sein. Bei keinem Lager durfte der Galgen feh¬
len, vor welchem Gerechtigkeitssymbvl selbst Kaiser Karl V. im Vorbeireiten
den Hut abzuziehen pflegte.
Bösartige Treulosigkeit, zur Ehre deutschen Namens sei es gesagt, kannten
- die Landsknechte nicht und wo sie rebelliren, ist ihre Widerspenstigkeit meisten-
theils — aus dem Magen gekommen, welchen die Naivetät eines Märchen¬
buches überhaupt die Quelle alles Treibens und Uebels auf dieser Welt
nennt* 'Ohne Geld gab es keine Schweizer, ohne Geld keine Landsknechte,
und hungrigen Magen ist nirgend gut predigen. Charakterisier doch zwei
Jahrhunderte später Berenhorst den deutschen Soldaten so richtig, indem er
sagt: „Mir Reden ist beim deutschen Soldaten nichts auszurichten, noch weniger
ist er mit. Ambition zu kitzeln. Man gebe ihm gut Brot, Bier und Rind¬
fleisch in den Magen, Tabak in den kurzen Stummel, auf den Leib ein wohl¬
gefüttert Wams, an die Schenkel eine Tracht, die ihn nicht am Gehen hindert,
und auf den Kopf irgend etwas, das kein neumodischer Hut ist, - baun fühlt
er sich wohl in seiner Haut und thut, wie ihm geheißen wird." Und wen»
die eisern disciplintrten Truppen seiner Zeit dem geistreichen Beobachter diese
Aphorismen entlockten und man selbst mit der hungrigen Verdrossenheit der
Kämpfer für Pflicht und Baterland seine liebe Noth hat, wer möchte es den
Landsknechten verdenken, wenn sie für schwere Kriegsarbeit allzeit vollauf an
Essen und Trinken haben wollten? Sonst unerschrockene Regimenter verweiger¬
ten häufig Dienst und Zucht, wo Schmalhans Küchenmeister war; so konnten
die Deutschen in dem umlagerten Pavia nur mit List und Mühe bezähmt
werden und vergeblich zerbiß der Graf von Mansfeld sich die Nägel in Uvry:
hätte auch die geschossene Mauerlücke nicht so weit geklafft, er mußte die Grenz-'
feste von Lurembnrg dem Connetable von Frankreich öffnen, weil seine daheim
an derbe Kost gewöhnten Schwaben und Niedersachsen nicht Lust zeigten, sich
mit fastenden Magen vor der Bresche todtschießen zu lassen. — In williger
Entbehrung haben andere Nationen Vorzüge, dafür läßt sich der Deutsche ehr¬
lich todtschlagen, so lange man Zusage hält und ihm wohl sein läßt.
Uebelstände schlimmer Natur zog sehr häufig die -Entlassung der Kriegs-
völker im fremden Sold nach sich, wenn Nichtbefolgung des kaiserlichen Ab-
berufungömandateS, das mit Acht und Galgen drohte, sie heimathlos gemacht
hatte; war Sold und Beute verzehrt und lief nicht neues Kriegsgeschrei um,
dann wehe Landstraße und Bauersmann! Die komische Seite dieser Erscheinung
hat Hans Sachs, in seinen Jugendjahren vielleicht selbst frommer Landsknecht,
in dem Schwank dargestellt, wie neun Landsknechte sich in den.Himmel
„hineingcgartet" haben, aber flugs zu spielen und gottlos zu lästern anfangen,
so daß Se. Petrus ihrer nur durch falschen Waffenlärm listig mietet los wer¬
den kann und seitdem keinen mehr hineingelassen hat. —
Aber wenn wir auch kein Gebrechen deutscher Natur und jener Zeit unserm
Auge entziehen wollen, immerhin können wir mit Freude und Stolz auf die
gmmthvolle Treuherzigkeit und mannhafte Streitbarkeit der frommen Lands¬
knechte zurückschauen! —
Sei es uns vergönnt, in folgenden Zeilen eine Seite unsrer Bühnen-
zustände zu berühren, welche die gewöhnliche Ansicht als eine Glanzseite derselben
5U betrachten pflegt,' während sie doch Nähersehenden und Ernsterdenkcnden
in'abe als eine der schlimmsten Schattenseiten erscheinen muß. Wir meinen
d>> Sitte oder vielmehr Unsitte der endlosen Gastspiele. Unsre Betrachtungen
litten hier hauptsächlich dem Schauspiel, obwol sie auch in vielem aus die
^per angewandt werden könnten, wo dieser Krebsschaden kaum weniger zu
Tage tritt.
Lange und glanzvolle Zeiten hat unsre deutsche Schauspielkunst durchlebt,
fast ohne das Institut der Gastspiele zu kennen, Selten, daß einer unsrer
alten Meister ans fremden Bühnen in fremder Gesellschaft auftrat, Schröder
gastirte allerdings zur Zeit seines Engagements am damaligen Nationaltheater
zu Wien zweimal in Hamburg, allein sein Hauptzweck dabei war,' sein Andenken
in dem Ort, der die Wiege seines Ruhms gewesen, frisch zu erhalten und sich
die Möglichkeit einer einstigen Rückkehr zu bewahren, Schröder sah mit vor-
, ahnendem Blick, daß unter den, damaligen Verhältnissen seines Bleibens in
Wien nicht lange sein könne. Begannt ist aber, daß er auf einer andern
Kunstreise durch Deutschland alle und' jede Anerbietungen zu Gastspielen ab¬
wies. Späterhin suchte ihn Schiller für die erste Darstellung seines „Wallen¬
stein" in Weimar zu gewinnen, und forderte ihn sogar in dem Prolog zu
„Wallensteins Lager" öffentlich dazu auf—umsonst. Sicher wirkte bei diesem
ablehnenden Entschluß gegenüber einer so ehrenvollen Einladung Schröters
Einsicht mit, welche ihm die neu sich erhebende Periode der dramatischen Poesie
und darstellenden Kunst, die wir am besten als die „rhythmische" charakterisiren
können, als eine ihm fremde und unverständliche erscheinen ließ. Aber gewiß
sah Schröder auch mit seinem klaren Verständniß der Bedingungen einer wah¬
ren Kunst ein, daß zur Hebung derselben die Gastspiele niemals beitragen,' daß
in ihnen kein Heil liegt.
Iffland, ist eigentlich der erste, der die Unsitte begründete. Seine Zeit¬
genossen machten ihm den Vorwurf, daß er aus Eitelkeit und Sucht nach Bei¬
fall zu weit gehe, daß er durch, Vertheilung von Freibillets sich den, Beifall
erkaufe, und daß er sich auf seinen Gastspielreisen übermäßig anstrenge und
somit ruinire, Und doch schien das Publicum zu jener Zeit schon'sehr gnädig,
wenn es den Gast nach der ersten und letzten Vmstellung gleichsam zum Gruß
und zum Abschied — hervorrief. Was würde Jffland wol in unsern Tagen
denken, in denen ein jeder Gast on)vie> gerufen, und der Enthusiasmus
vorsorglich uicht blos durch Freibillets, sondern anch durch sonstige reichliche
Spenden belebt und angefeuert werden muß? Eine jede Zeit hat freilich ihre
eigne Weise, nur ist es zu bedauern, daß man in diesem Fall der unsern nicht
den Vorzug geben kann.
ES wäre einseitig, wollten'wir mit einem Schlag alle Gastspiele verdammen,
und sie abgeschafft haben. Unser Kampf gilt nur der marktschreierischen Art,
mit der man diese Sitte mißbraucht, und bei der niemand 'weniger Vortheil hat,
als grade die Kunst, deren Princip man doch so großsprecherisch dabei an der
Stirne trägt.
Fühlt sich d.er Schauspieler nur einmal flügge, gleich kommt ihm auch die
Lust, in fremde Länder zu wandern. Die bedeutenderen Schauspieler haben ja
ohnehin contractlichen großen Urlaub,, und sind mehre Monate des Jahres
auf Gastspielreisen, um auch andern Unglücklichen die Wohlthat ihres Anblicks
zu gewähren. Die Gründe, nut denen man diese Kunstzugvögel vertheidigt,
sind faßlich und blendend. Allerdings., wird gar vielen eifrigen Theaterfreunden
nur durch diese Gastspiele Gelegenheit geboten, die großen Künstler kennen zu
lernen und sich ihrer zu freuen. Ob aber dieser Zweck nicht auch, und sogar
besser erreicht werden könnte, wenn diese Kunstreisen weniger handwerksmäßig
betrieben würden? Zudem ist die Bemerkung gewiß nicht ungerechtfertigt, daß
ein Publicum einen Gast nach ein paar Borstellungen höchstens im AUgrmei-
nen, und das sogar nur oberflächlich, beurtheilen — seinem eigentlichen Werth,
seiner innern Eigenthümlichkeit aber nicht im mindesten nachgehen kann. Wie
aber schwindet' damit der so sehr gerühmte Vortheil zu einem Minimum zu¬
sammen! Ist es doch gewöhnlich nur die Neugier, welche die meisten treibt,
uno die Eitelkeit, ihn, ven Großen, Unübertrefflicher, oder sie, die Herrliche,
Holde mit eignen Augen geseh'en zu haben. Und doch haben sie am Ende
kaum mehr als eine Caricatur der großen Künstler gesehen, wissen dafür freilich
mit um so größerer Anmaßung, je geringer ihr Verständniß ist, über das Ge-
k,ammlgebiet der Kunst mit allen ihren Einzelerscheinungen abzuurtheilen.
Was thut bei einem Publicum nicht die vorgefaßte Meinung, nicht das
imponirende Urtheil der so unabhängigen Zeitungen! Unter zehn bedeuten¬
den Gastspielen ist gewiß bei neun anzunehmen, daß das Publicum weniger
die wahren Vorzüge des Künstlers beachtet, alls daß eS sich an Fehler, marie-
"rde Angewohnheiten klammert, die es als preiswürdige Talente und erhabne
Schönheiten in den Himmel erhebt.
Schwächer noch, wie mit diesem Grund, ist es mit einem andern bestellt.
Außer in den drei bis vier größten deutscheu Theatern, ist das Publicum be¬
reits so weit, daß es nur bei einem Gastspiel eines bedeutenden Künstlers ein
classisches Stück in guter Aufführung sehen zu können meint. Nur von Gästen
duldet man classische Stücke. Ost mag wirklich die heimische Bühnengesellschaft
für ein solches Stück keine Kräfte haben, oft aber verbirgt sich auch der Un-
geschmack hinter diesem Vorwand', nur um durch ernstere Aufführungen nicht gelang¬
weilt zu werden. Den letzteren Theil des Publicums können wir füglich übergehen,
aber auch die erstere Ansicht, daß bei unzureichenden eignen Kräften nur mit
Hilfe eines Gastes eine tüchtige Darstellung eines Meisterstücks zu erzielen sei;
scheint trüglich. Geben wir auch viel zu, so bleibt dieser Grund doch nur
h"Ib wahr. Denn geben wir zu, daß die betreffende Rolle von dem Gast auch
'"eisterhast gegeben würde, so haben wir damit noch lange keine genügende Dar-
sicllung, indem pas Unfertige uno Auseinanderfaltende, das ein solches Gast-
Ip^l fast unabweislich mit sich bringt, dadurch nicht gehoben wird. Konuiit
"ber hinzu, daß der Gast, wie es gewiß oft geschieht, weniger bie Rolle, als
lieb selbst spielt, daß er nach Effect und Applaus strebt, so bleibt uns von
vielberühmten guten Vorstellung nur ein widerlicher Eindruck.
Liegt aber der Werth einer Vorstellung besonders in der Abrundung des
Ganzen, in dem Verständniß, das durch das gesammte Stück geht, und das
Zusanuucnspiel wie ein belebender Hauch erfrischt, so muß man anerkennen,
daß all diesen Anforderungen ein Gastspiel gradezu widerspricht. Nichts hemmt
und stört gewöhnlich das Zusammenspiel eines Abends mehr, als ein Gast,
und je bedeutender dieser erscheint, um so mehr tritt jener Uebelstand zu Tage.
Gewiß, der Gast mag großartige, hinreißende Momente bieten, allein das
Ganze — somit das Wichtigste — zerfällt in sich. Oder will man den Total-
eindruck zu Gunsten eines Einzelnen hintansetzen? Dann freilich dürfte der
bildende Künstler sich auch darauf beschränken, nur einen kleinen Theil seiner
Figur im Detail zu bearbeiten, das Ganze und Große aber nur im Rohen
anzudeuten.
Doch das sind ja anerkannte Grundsätze. > Weit mehr fragt es sich hier,
oh es überhaupt möglich erscheint, daß ein Künstler sich selbst und seiner Kunst
Würdiges auf seinen Kunstreisen leisten kann? Uns erscheint dies zum
wenigsten sehr schwierig. Der Gegenbeweis mag freilich sehr leicht erscheinen,
indem man uns nur auf den Enthusiasmus der Menge, auf den Beifall selbst
des gebildeteren Publicums hinweist. Und dennoch ist das so gut, wie nichts
bewiesen. Wer da weiß, wie sehr sich — sei es durch die vorgefaßte Meinung
von der Trefflichkeit des Gaste's, oder sei es durch Vorliebe sür das auszu¬
führende Stück im Theater selbst die Feingebildelen vorweg einnehmen lassen,
der wird auch wissen, was jener Beifall zu bedeuten hat. Niemand aber, der
den Gast so hoch erhebt, mag ihn in seiner Heimath d. h. in seiner gewohnten,
heimischen Gesellschaft gesehen oder doch genauer beobachtet haben. Hat man
das aber, so wird man meist sehr leicht eine Veränderung des Spiels bemerken,
die nicht grade zum Vortheil des Künstlers sich zeigen mag. Wie kann das
auch anders sein? Unsre Künstler gehen jetzt ein Drittheil des Jahres ans
' Gastspielreisen; sie versorgen sich dasür mit einem Chkluö von einem halben
Dutzend Rollen, die sie nun wöchentlich und an den verschiedensten Orten
herabspielen.
Wer möchte, wenn er das überlegt, noch an Begeisterung bei ihnen glau¬
ben? Wer ist da noch überzeugt, daß der Schauspieler, der wöchentlich wenig¬
stens einmal als Hamlet überlegt „ob sein oder nicht sein" — wirklich noch
das lebendige Gefühl, die innere Erregung besitze, oder wer wird nicht vielmehr
an den Staarmatz und seine Kunststücke erinnert? Beschränkte sich das Uebel
aber nur auf den bloßen Mangel des Gefühls , so wäre es wenigstens nicht
schlimmer als gewöhnlich, wo man sich auch ost vergebens nach etwas Gefühl,
wie nach einer Oase in der Wüste sehnt. Doch nur zu leicht tritt beim Gast¬
spiel sür diesen ebenerwähnren Mangel ein schlimmer Ersatz ein, der groß^
Feind wahrer Kunst — Esscclhascherei. Solches Coulissenreißen wird um I"
verderblicher, je einschmeichelnder es uns eingegeben wird. Der rohe Acteur,
der bei jedem Abgang brüllen zu müssen glaubt, daß das Haus erzittert, wird
einfach ausgelacht; der aber, der mit affectirtester Feinheit seine Abgänge in
das rechte Licht zu stellen weiß, der auch sonstige kleine Hilfsmittel nicht ver¬
schmäht, als da sind ein bischen Stottern, dann Dehnen und plötzliches
Fallenlassen der Worte, oder der gar mit einer neuen, wenn auch an sich un¬
wahren und abgeschmackten Deutelei seiner Rolle dem Publicum imponirt —
der wird bewundert und verehrt. Beide stehen aber auf der nämlichen Stufe
der Kunst — beide wollen mit ungehörigen Mitteln den Sieg davon tragen.
Es ist eine kaum zu vermeidende Klippe für die Künstler, daß sie in ihren
Gastdarstellungen zu sehr austragen und nüanciren. Es ist begreiflich, daß sie
ihre Vorzüge dem neuen Publicum in das schönste Licht zu stellen und sie so
viel wie möglich hervorzuheben trachten. Das Publicum seinerseits erwartet
etwas Unerhörtes, Unübertreffliches, und so kommen sich beide entgegen und
treiben sich gegenseitig auf der schwindelnden Höhe empor, die immer weiter
von der Natur abführt. Einen schlagenden Beweis lieferte hierfür schon Jff¬
land, der freilich wieder verständig genug war, seinen Fehler einzusehen und
zu gestehen. Er gab im Jahr 1809 eine Reihe von Gastvorstellungen in
Hamburg und gefiel an einem Abend in der Rolle des Baron in der „Laster-
schule" außerordentlich, da er mit wahrhaft übersprudelnder Laune spielte. Er
mußte die Rolle wiederholen, und zu dieser zweiten Darstellung sand sich auch
Schröder ein, der damals das Theater schon verlassen hatte, und Jffland wußte
um diesen Besuch. Sieh da, zur größten Verwunderung aller gab Jffland ein
ganz andres Bild als das erste Mal, mit viel gemäßigteren, naturwahreren
Zügen, und als ihn jemand über seine vermeintliche geringere Laune berief,
sagte er ruhig, aus Schröters Loge deutend: „die hohe Obrigkeit ist auf ihrem
Posten.""') —
Gestand aber schon Jffland auf diese Weise seinen Fehler, wie vielmehr
ist er seitdem Allgemeingut der reisenden Schauspieler geworden, und mußte
es werden. Jffland ist es, der zuerst in seinen Darstellungen ein Effectspiel
aufbrachte, das selbst seine große Künstlernatur oft ganz beherrschte.^)
Hat sich der Künstler aber einmal ni mehrmonatlichen Gastspielen an die
Unsitte des Affectirens und EsfecthaschenS gewöhnt, wird er da — zurückgekehrt
an seinen heimischen Ort, nicht die Art und Weise, die ihn in der Fremde so
vielen Beifall ernten ließ, auch bei den heimischen Laren einbürgern wollen?
Goethe sprach sich öfters gegen die häufigen Gastspiele aus. Auf den
Porwurf, daß er dem Publicum die Bekanntschaft mit fremden Künstlern ent-
zöge, sagte er: „Sind sie schlechter als unsre Schauspieler, so wollt ihr sie
nicht sehen, sind sie besser, so sollt ihr nicht." Durch letzteres Mittel wollte er
dem Publicum die einheimischen Mitglieder nicht verleiden. Doch berief er die
bedeutendsten, deren Besitz Weimar doch nicht hoffen konnte, öfters zu Gast¬
spielen, so Jffland, die Unzelmann-Bethmann u, a. Er wollte dabei die Gäste
dem Personal zum Muster und neuen Antrieb, dem Publicum zum Maßstab
des Geschmacks hinstellen. In Weimar, wo unrer Goethes Direction das
tüchtige Zusammenspiel als das Wichtigste erkannt war, für das die fleißigsten
Studien gemacht werden mußten, mochten jene obenerwähnten Uebelstände der
Gastspiele weniger auffallen. Ein Mann, wie Goethe, der schon im Mai 1791
bei Eröffnung des Theaters im Prolog sagen ließ:
„Allein bedenke» wir, daß Harmonie
Des ganzen Spiels allein verdienen kann
Von euch gelobt zu werden, daß ein jeder
Mit jedem stimmen, alle miteinander
Ein schönes Ganze vor Euch stellen sollen,
So reget sich die Furcht in unsrer Brust." . .
und noch deutlicher etwas weiter:
„Denn hier gilt nicht, daß Einer athemlos
dem Andern hastig vorzueilen strebt,
Um einen Kranz für sich hinweg zu haschen" —
ein Mann, der diese Zeilen als Hauptprincip hinstellte und die Macht hatte,
ihre Befolgung.durchzusetzen, konnte auch Uebergriffen der Gäste entgegentreten;
allein ob er seinen Zweck erreichte, und die Gastspiele die heimischen Künstler
neu belebten und anfeuerten, ist doch sehr zu bezweifeln. Nur zu leicht ent¬
steht das Gegentheil, denn auch Künstler, vbwv.l sie häufig genug Engel und
Heilige darzustellen haben, sind doch nur Menschen, die einen Fremden, einen
Eindringling, der sich ohne weiteres über sie stellt, und den daS Publicum oft
ungebührlich erhebt, gewöhnlich mit mißgünstigen Augen betrachten, und wenn
sie überhaupt etwas von ihm lernen, nur zu leicht grabe die Fehler absehen,
weil jener damit seine Haupterfolge erreichte, so daß man getrost von ihnen
sagen kann:
„Wie er sich räuspert, wie er spuckt,
Das habt ihr ihm glücklich abgcgnckt."
Gewiß, die Fälle sind zu zählen, in welchen ein solches Borbild wahren
Eifer und wahre Selbsterkenntniß bei andern erweckt. An diesem Uebelstand ist
das Publicum oft großentheils schuld, indem-es durch allzu ungerechte Partei¬
nahme für den Gast die eignen Bühnenmitqlicder mißmuthig macht, die wol
empfinden, daß man sie auf eine zu unbillige Art fallen läßt. Sind doch, die
wenigsten Theater ausgenommen, überall die Stücke, in denen ein berühmter
Gast aufgetreten ist, für lange Zeit verbannt, da ja daS Puhu'cum in seiner
gewöhnlichen Laßheit für die allmälige Fortbildung seiner Künstler sich nicht
interessirt, sondern stets nach Neuem haschmd lieber willig jedes fremde Ge¬
sicht aufnimmt, als durch Theilnahme an den eignen Künstlern dieselben anzu¬
feuern sucht.
Das ungefähr sind die Hauptgefahren, die das Gastspielunwesen in seinem
Gefolge führt, Gefahren, die abzuwenden vor der Hand freilich gar keine
Aussicht da ist, zumal da das leidige Virtuosenthum auch in die darstellende
Kunst gedrungen ist, und sich daselbst fest eingenistet hat. Immerhin schadet
es nicht, auf diese Mängel aufmerksam zu machen, die sich ja nur an den
Mißbrauch der besprochenen Sitte heften. Denn wir sind, wir sagen eS
nochmals, weit davon entfernt, die Gastspiele ganz zu verurtheilen. Mit Maß
und steter Wahrung der höhern Gesetze ter Kunst, werden sie den Vortheil
bieten, den Jffland ihnen zuschrieb, wenn er sagt: „Das Vergnügen, das ein
Künstler einem neuen Publicum gibt und von ihm empfängt, verleiht frisches
Blut, neue Aussichten, erhöhte Kraft."
Gewiß, mehr wie ein andrer, bedarf der Künstler nothwendig einer freiern,
frischern Anregung, als er zu Hause empfängt, er bedarf eines anders den¬
kenden, anders fühlenden Publicums, wenn er seine ganze geistige Kraft er¬
halten und nicht in hergebrachte Formeln und Routine verfallen will. Aber
der Künstler soll vor allem kein Makler sein, der Werth seiner Darstellung
soll nicht nach der Höhe des Honorars bemessen werden, und ebensowenig soll
er die nothwendige Anregung, die er bei wohlvorbereiteten Gastspielen an ei¬
nigen Bühnen'finden kann, verwechseln mit der vernichtenden Aufregung, die
eine Kurierreise über die verschiedensten Bühnen und durch die verschiedensten
Geschmacksrichtungen mit sich bringen muß, und die den Künstler stets tiefer
in das Getriebe der Cffeethascherei und in drü tollen Strudel einer Ehrsucht
reißen muß, die sich zuletzt nur um das Beifallsgebrüll und Toben der Gale¬
rien bekümmert.
Alle' Vortheile der Gastspiele blieben aber, während ihre Nachtheile sehr
schwinden würden, wenn die Sitte der Gesammtgastspiele mehr auskäme. Wenn
eine ganze Gesellschaft, oder wenigstens mehre Mitglieder derselben, die schon
den Stamm der verschiedenen Aufführungen bilden, sich vereinigen, um aus¬
wärts eine Reihe von Vorstellungen zu geben, so kann dies in den meisten
Fällen nur von Nutzen sein. Für die Künstler ist das fremde Publieum da
und somit die neue Anregung, ihre Kräfte anzuspannen; die Zuschauer wie¬
derum haben Gelegenheit, fremde Künstler und ihre Art zu würdigen, und
doch zugleich sich eines abgerundeten Zusammenspiels, also einer wahrhaften
Schauspieldarstellung zu erfreuen. Ja, diese Sitte hätte für die Mittellhectter
noch den Vorzug, daß die Gesellschaft, die zu Hause die meisten Stücke nur
ein-, höchstens zweimal wiederholen darf, um das Publicum nicht zu lang¬
weilen, auf diese Art die Stücke öfters wiederholend, ihr Spiel und ihr Ver¬
ständniß nur verbessern könnte.
, Das alles möchte wol recht hübsch sein, allein ein Hauptpunkt steht ihm
doch entgegen — der Geldpunkt. Der Gast will Geld sehen, viel Geld und
dazu gelangt er viel leichter, wenn er allein steht und sich allein producirt.
Je mehr er gegen die andern absticht, um so lieber ist es ihm. Da freilich,
wo diese Gründe überwiegen, sind alle Worte verloren.
Wir sprachen bis jetzt nur von dem Schauspiel, doch möchten wir auch
mit wenigen Worten hier der Oper erwähnen. Denn auch ihr bringen Gast¬
spiele nicht, viel Nutzen, wenn sie in der bisherigen Art betrieben werden.
Auch hier wird das Ensemble zerrissen und der Charakter des Werks zerstört;
und bietet auch die Partitur gewisse Anhaltspunkte, über die niemand hinaus
> kann, so ist doch dabei der Verderbnis) ein überreicher Spielraum geboten,
nichts ist ja gewöhnlicher, als daß der Sänger oder die Sängerin, um dem
Publicum zu imponiren und die Kraft und den Umfang ihrer Stimmen zu zeigen,
die vorgeschriebenen Noten nicht achten, sondern einfach ihrer Liebhaberei folgen.
Und fast haben sie Recht, denn niemals ist der Beifall stärker, als wenn der
Künstler durch irgend ein übelangebrachtes Kunststück der Kunst ins Gesicht
geschlagen hat. Wie der Schauspieler sinkt auch der Sänger bei einem engen
Cyklus von Rollen, die er tagtäglich producirt, in handwerksmäßige Manier
herab. Eine reine, gebildete Stimme und ein durchdachter Gesang müssen hier¬
bei scheitern und zu Grunde gehen. Doch die Ausführung würde uns hier
zu weit führen, genug daß es klar wird, wie sich Schauspieler .und Sänger,
wenn sie einmal auf einem gewissen Punkt angelangt sind, brüderlich die
Hand, reichen und ihr Streben das. nämliche Ziel hat — den Effect. Und
doch ist „der beliebte Essek," wie Thibaut in seiner Reinheit der Tonkunst
sagt, „größtentheils nichts als ein Erzeugniß des Ungeschicks und der Feigheit,
welche Allen dienen und gefallen will." —
Am 12. lM.) Januar 18i^ feierte die Universität Moskau das hundert¬
jährige Jubiläum ihrer Gründung, die bei allen Mängeln, die den russischen
Bildungsinstituten überhaupt ankleben und die Wirksamkeit derselben oft hin¬
ter den bescheidensten Ansprüchen zurückbleiben lassen, in der Culturg'cschichte
des Reichs Epoche macht. Dieses Fest, daS in einem Augenblicke stattfand,
wo der Kanonendonner Sebastopols in dumpfen Schlägen durch ganz Europa
erdröhnte, gab den russischen Gelehrten zur Veröffentlichung mehrer Schriften
Veranlassung, die sich zum Theil speciell auf die moskauer Hochschule, zum
Theil auf die mit ihr in Verbindung stehenden Anstalten und auf das Unter¬
richtswesen Rußlands im Allgemeinen beziehen. In die zweite Kategorie ge¬
hört eine Geschichte der geistlichen Akademie in Moskau, der ältesten Gelehrten¬
schule des großrussischen Landes, in welches die Cultur weit später eindrang,
als in das unter polnischer Herrschaft befindliche Weiß- und Kleinrußland.
Dieses Werk, das den Baccalaureus der Akademie Sergius Smirnow zum Ver¬
fasser hat*> und das wir durch eine Recension Xenophon Polewois, eines der
kundigsten russischen Literarhistoriker, kennen lernen, gibt merkwürdige Auf¬
schlüsse über die Schwierigkeiten und Hindernisse aller Art,-welche die An¬
fänge der Geistesbildung im mitternächtlichen Reiche der Zaren zu bekämpfen
hatten, über die Bedrückungen und Verfolgungen, welche die ersten Jünger
der Civilisation erdulden mußten, und es dürfte daher nicht ohne Interesse
sein, wenn wir den von dem Recensenten auszugsweise mitgetheilten Inhalt
desselben, mit Weglassung einiger für deutsche Leser unnöthigen Details,
wiedergeben.
„Die Geschichte der russischen Literatur," schreibt Polewoi, „die von der
kirchen-slawvnischen streng zu unterscheiden ist, beginnt erst vor etwa hundert-
funfzig Jahren. Bei einer so kurzen Eristenz verliert sich indeß der Anfang der
russischen Literatur für uns in gewissen unbestimmten, mythengleichen Ueber-
lieferungen, uno der künftige Geschichtschreiber dieser Literatur wird, ein Nie-
buhr in seiner Art, die Fabeln und Legenden von der Wirklichkeit sondern
müssen, um den wahren Ausgangspunkt der litterarischen Thätigkeit des russi¬
schen Geistes festzustellen. Ein solcher Zustand unsrer Literaturgeschichte hat
seinen Grund in dem Mangel an gewissenhafter Forschung und in einem selt¬
samen Vergessen der reichen Materialien, die sich in den Archiven der Akade¬
mien, der Kollegien, der Ministerien und in vielen Privatsammlungen bergen.
Man findet dort gleichzeitige, treue, ungeschmeichelte Zeugnisse, welche die
Wahrheit in ihrer ganzen Blöße zeigen, die aber den Historikern unzugänglich
bleiben, welche unterdessen einer nach dem andern die Versicherung wiederholen,
daß von Peter, dem Großen an und mit dem von ihm zusammengestellten
russische» Alphabet die neuere Geschichte der russischen Literatur, eine neue
Schulbildung, eine europäische Cultur begonnen habe, und daß für Lomo¬
nossow keine andere Aufgabe geblieben sei, als das Begonnene in Ordnung zu
bringen und Lorbeeren zu pflücken. Endlich müssen aber, mit Karamstn »zu
reden, diese schönen Fabeln einer wirklichen historischen Kenntniß Platz machen.
Endlich müssen wir uns überzeugen, daß sich die Thatsachen anders verhalten,
als sie von unsern Hervdoten, und Liviussen dargestellt werden. Peter der
Große, der genialste unter den Reformatoren, blickte tiefer als alle andern in
den Abgrund der Barbarei, in welchen unser theures Vaterland versenkt war,
und suchte seine Umwandlung durch vollständiges Losreißen der Gegenwart
von der Vergangenheit zu beginnen. Er verstand besser, als je einer unsre
alte slawische Trägheit und verfolgte sie unbarmherzig in allen Phasen des
gesellschaftlichen Lebens. Er war ein Mensch und konnte manches nicht
voraussehen, manches falsch auffassen, in manchem zu weit gehen, aber wer
von uns wird trotz alledem diesen Regenerator Rußlands nicht bewundern, der
allein in jener Zeit es zu erheben und es mit neuem Leben zu begaben trach¬
tete, während alle andern, alle, selbst die Mitglieder seiner Familie, den von
ihm beabsichtigten Reformen widerstrebten und, seinem unbeugsamen Willen
gehorchend, ihn ungern ausführten, ihn, wo eS nur möglich war, zu umgehen
suchten, mit Hartnäckigkeit an ihrer geliebten Barbarei in geistiger wie in
materieller Beziehung festhaltend.*) Die Beweise hierfür treten uns nicht nur
in den politischen Ereignissen seiner Zeit entgegen, sondern auch in den Er¬
scheinungen, die sich an seine inneren Verbesserungen und Bildungöpläne
knüpften. Von der einen Seite widersetzten sich ihm die Raskolniks, die Fana¬
tiker, von der andern die Vorfahren des von wisinschen Mitrophanuschka**),
von der dritten die Scholastik, die in allen vor Peter dem Großen eristirenden
Lehranstalten tiefe Wurzel geschlagen hatte. Peter hatte keine Zeit, das Volk
zu erziehen, er wollte wenigstens die höhern Stände bilden, aber auch dort
traf er aus Hindernisse, die in der kurzen Periode eines Menschenlebens nicht
zu überwinden waren. Unter Peter konnte es keine Literatur geben, weil es
keine Bildung gab; unter seinen Nachfolgern bis Katharina II. erschienen ein¬
zelne Schriftsteller, der arbeitsame, aber schwerfällige Trcdjakowskji, der. Satiriker
Kantemir, endlich der geniale Lomonossow, alle jedoch vom Geiste der Schola¬
stik getränkt, nur von ausländischen Ideen zehrend. Es gab nicht einmal eine
Sprache. Was unter Peter selbst gedruckt wurde, erschien aus seine specielle
Verordnung, zuweilen unier seiner eignen Mitwirkung; überall mußte er per-
sorties eingreifen. Und in welchem Zustande das vorpeträische Nußland sich
in Hinsicht der Bildung und Aufklärung befand, zeigen alle nach den
Quellen bearbeiteten Schriften über dieses Thema.
Zu solchen Werken zählt auch die Geschichte der slawisch-griechisch¬
lateinischen Akademie in Moskau. Ihr Hauptverdienst besteht-darin,
daß sie nicht allein nach gedruckten Quellen bearbeitet ist, sondern daß' der
Verfasser auch zahlreiche handschriftliche Urkunden zu Rathe gezogen hat, die
in den Sammlungen der geistlichen Akademie, der Synvdalbibliothek und des
Reichsarchivs in Moskau, in verschiedenen Kloster- und Kirchenbibliothcken
enthalten sind. Sein Buch ist daher für die Geschichte der Civilisation und
Literatur in Rußland von außerordentlicher Wichtigkeit. In dieser Geschichte
macht die Errichtung der moskauer Akademie Epoche. Wie schwer die Gelehr¬
samkeit, selbst die theologische, in Rußland Eingang fand, erhellt aus den
Hindernissen, die sich bis gegen Ende des siebzehnten Jahrhunderts der Ein¬
führung geistlicher Schulen entgegenstellten. „Die Bildung und die Gewohn¬
heiten des Westens," heißt es in der Schrift des Herrn Smirnow, „galten un¬
sern Vorfahren als Heidenthum (basuemanstvo.) Es ist bekannt, daß Boris
Godunow Lehranstalten in Moskau zu gründen und deutsche Gelehrte nach
der Hauptstadt zu berufen wünschte; allein die Ausführung dieses PlanV stieß,
bei der Geistlichkeit auf energischen Widerstand. Das fromme Altrußland
fürchtete die westlichen Innovationen und daher beschränkte sich bei uns die
Bildung zu Anfang des siebzehnten Jahrhunderts auf wenig mehr, als die
Erlernung des Alphabets." — Selbst das Bestreben, die Ritualbücher zu ver¬
bessern, hatte seine Märtyrer. Weder der berühmte Name eines der Retter des
Vaterlandes, des lroizker Archimandriten Dionysius, noch das Genie des
mächtigen Patriarchen nitor konnten diese Männer beim ersten Angriff auf die
Unwissenheit vom Verderben retten. Es ist unmöglich, alle Opfer aufzuzählen,
welche dieses sinnlose Ungethüm verschlang, aber die Geschichte muß die Namen
der edlen Märtyrer der Aufklärung in ihre Tafeln einschreiben. Der Metro¬
polit von Gaza, PaistuS Ligarides, der im Jahr 1660 nach Moskau kam,
erklärte endlich gradezu, daß die religiösen Unruhen in Nußland von der Un¬
wissenheit herrührten und daß es zur Heilung dieser Krankheit nur ein Mittel,
die Errichtung von Schulen, gebe. „Alles Uebel/' schrieb er, „entsteht aus
zwei Ursachen, daß man weder Volksschulen, noch Bibliotheken hat. Wenn man
unes fragen würde: welches sind die Säulen der Kirche und des Staates? so
würde ich antworten: zum'ersten Schulen,'zum andern Schulen und zum drillen
Schulen!"") Ferner spricht er in seinem Sendschreiben von der Nolhwendig-
keit, in diesen Schulen die griechische, lateinische und slawische Sprache zu
lehren. Die wohlthätigen Rathschläge des Ligarides wurden von den Patriar¬
chen Paisius von Alexandrien und MakariuS von Antiochien unterstützt, die
im Jahr 1666 nach Moskau kamen. In Predigten wie in Privatnnterhal-
tungen rühmten sie die Aufklärung, drangen auf die Einführung des Schul¬
unterrichtes und stellten die Vortheile ans Licht, die er dem Staate wie der
Kirche bringen werde. Die Stimme der Wahrheit fand Anklang, und einige
Bürger von Moskau richteten eine Bittschrift an den Zaren um die Erlaubniß,
eine Schule im Kirchspiel des heiligen Johannes Theologus anlegen zu dürfen.
Der Zar willigte ein und die orientalischen Patriarchen mit ihrem moskauer
Kollegen Joasaph ertheilten den Bittstellern im Jahr 1668 die Concession zur
Errichtung einer slawisch-griechisch-lateinischen Schule. In der hierüber aus¬
gefertigten Urkunde bezeugen die Patriarchen ihre Freude über das unternom¬
mene Werk und bedrohen die Gegner der Wissenschaft mit dem Anathem. So
verdankte Nußland den Griechen die ersten Keime der Bildung, wie es ihnen
das Licht des Christenthums verdankte. Allein dies war nur ein'schwacher
Anfang, das erste Saatkorn in einem unermeßlichen Felde, das erst nach
schweren Stürmen reifen sollte. Der Zar Zeodor Alerejewitsch, ein würdiger
Vorgänger Peters des Großen, beschloß, die neue Anstalt zu erweitern und
sie zu einer Akademie zu" erheben. Unter Mitwirkung des Patriarchen entwarf
er ein ausführliches Statut für die künftige Akademie, die er reichlich aus¬
zustatten und auf deren Katheder er gelehrte Griechen zu berufen gedachte;
aber ein früher Tod verhinderte ihn, seinen nützlichen Plan auszuführen. Der
Entwurf wurde geändert, auf einen kleinern Maßstab reducirt; indessen träfe»
zwei ?er von ihm eingeladenen griechischen Professoren, die Brüder Lichuda,
nach Ueberwindung vieler Hindernisse aus Venedig in Moskau ein, um dort
die erste Pflanzstätte der Wissenschaft zu gründen.
Mit der Wirksamkeit dieses Brüderpaars beginnt die Geschichte der sla¬
wisch-griechisch-lateinischen Akademie, welche fast 130 Jahre hindurch in Moskau
ihren Sitz hatte. In ihrer Geschichte sind drei Perioden zu unterscheiden: die
erste, in der das griechische Element vorherrschte und in der die Akademie
selbst die helleno-griechische hieß, umfaßt die Zeit von den'Lichudas bis zu
Palladji Nogowölji (1686—1700); die zweite, von Palladji Nogvwskji bis zum
Metropoliten Platon (1700 — 1773), zeichnet sich durch das Uebergewicht der
lateinischen Bildung aus, von der auch die Akademie den Namen der slawisch¬
lateinischen annahm;- die dritte schließt die Zeit des-Metropoliten Platon bis
zur Umgestaltung der/Akademie und ihrer Uebersiedlung nach dem. Dreieinig-
keitskloster (1773—18-1,5') in sich. — Während der ersten Periode waren nicht
allein die griechische Richtung und die griechische Sprache, sondern auch der
Einfluß der griechischen Patriarchen vorherrschend. Die Brüder Lichuda thaten
Wunder; fast ohne Mittel, ohne die russische Sprache zu verstehn, den Be¬
drückungen und Verfolgungen der Finsterlinge Preis gegeben, die sie endlich
aus Moskau vertrieben, gelang eS ihnen, kundige Lehrer zu bilden, die das
begonnene Werk fortsetzten. Noch ehe sie die Hauptstadt Rußlands verließen,
trat einer ihrer Zöglinge an die Spitze der Akademie. Es war dies der erste
russische Gelehrte, Doctor Palladji Nogowskji, mit welchem eine neue Periode
in der Geschichte dieses Instituts beginnt. „Nachdem er anderthalb Jahre
hindurch den Vortragen der Lichudas im Kloster Epiphania beigewohnt, halte
Palladji, nach einer vollkommenen Wissenschaft verlangend, sich aus
Moskau entfernt, das Mönchskleid abgelegt und ein Jahr lang die Jesuiten¬
schule in Wilna besucht. Hierauf verbrachte er noch ein Jahr in der schle-
sischen Stadt Neisse im Studium der Poetik und ging dann nach Olmütz, um
Rhetorik zu hören." Die vlmützer Jesuiten weigerten sich, ihn in ihre Schule
aufzunehmen, wenn er sich nicht der Union' airschlösse, und aus Liebe zur
Wissenschaft entschloß sich der junge Russe zum einstweiligen, scheinbaren Ab¬
fall vom orthodoxen Glauben. Dies eröffnete ihm den Weg nach Rom, wo
er sieben Jahre hindurch die Philosophie und Gottesgelahrtheit im griechisch-
unirten Kollegium studire, von dem unirten Erzbischof Onuphnus zum
Priester geweiht wurde und zum Doctor der Philosophie und Theologie prv-
movirle, worauf er heimlich nach Nußland entwich, dem Patriarchen Adrian
seine unfreiwillige Apostasie beichtete und ein ausführliches Glaubensbekenntniß
im orthodoxen Sinne schrieb, in welchem er die mit den Lehren der orienta¬
lischen Kirche unvereinbarer Dogmen und Sophismen (muärstvovÄnicr) des
Westens verfluchte. Am 2. Juni -IK99 nahm der Patriarch den Reuigen wie¬
derum in den Schoß der rechtgläubigen Kirche auf, übertrug ihm im fol¬
genden Jahre das Amt eines Directors der Akademie und ernannte ihn zum
Abt des Klosters Saikonospask. Seine westliche Bildung hatte jede Spur der
von seinen griechischen Lehrmeistern erhaltenen Erziehung verwischt; er verstand
"icht einmal griechisch und hielt seine Vorlesungen in- lateinischer Sprache.
Aber seine Wirksamkeit dauerte nur kurze Zeit; von den Mühseligkeiten der
Reise und vieljährigen Studiums erschöpft, starb er.schon am 23. Januar -1703
und ward.im Kloster Saikonospask beerdigt. Unterdessen war nach dem Tode
des Patriarchen Adrian der Metropolit von Njäsan, Stephan Jaworökji, als
Vicarius deS Patriarchats an die Spitze der russischen Kirche getreten. Im
Jahr -I7V-I übertrug der Zar auch die moskauer Akademie seiner unmittel¬
baren Aufsicht, und Jaworökji nahm zuerst den Titel eines Protectors der
Akademie an. In der Akademie zu Kiew und später im Auslande gebildet,
konnte Stephan mit dem von den Lichudas eingeführten Studienplan nicht
einverstanden sein; ihm galten die in den Schulen von Kiew, Lemberg uno
Posen herrschenden Normen für maßgebend, und er riech daher dem Zaren,
die moskaner Akademie nach dem Muster der kiewer zu reorganisiren. Peter
selbst hatte auf seinen Reisen durch Europa überall nur Pflanzstätten der la¬
teinischen Bildung gesehen; indem er has staatliche Leben Rußlands umgestal¬
tete, wollte er auch die Wissenschaft in me allgemein üblichen Formen kleiven,
und durch einen Ukas vom 7. Juni 4 70-1 wurde die Einführung der latei¬
nischen Lehrmethode in der Akademie beschlossen. In Folge dieses Ukas berief
nun Jaworskji Lehrer aus Kiew, welche die moskauer Akademie auf den Fuß
ihrer heimathlichen Hochschule einrichteten. Es scheint sogar, daß die kiewer
Professoren zur Beschleunigung der Reform ihre vorgeschrittenen Zöglinge mu
nach Moskau brachten; wenigstens simpel man in bem Verzeichnisse der Stu¬
denten der Philosophie vom Jahr 1704 nur drei Großrussen — alle andern,
einunddreißig an der Zahl, haben kleinrussische und polnische Namen. Alle
Collegia wurden in lateinischer Sprache gehalten, alle Dissertationen in der¬
selben abgefaßt; die Akademie verlor ihren frühern Namen einer griechischen
Schule und hieß in den officiellen Acten gewöhnlich nur die lateinische ober
slawisch-lateinische. Es verdient Bemerkung, daß man in jener Zeit der latei¬
nischen Sprache eine besondere politische Bedeutung zu geben suchte, indem man
sie vie Sprache der Autokratie nannte, eine Sprache, bie an die blühenden
Tage des römischen Reichs erinnere."
In dieser Weise erhielt die Wissenschaft in Nußland vom Anfang an
einen scholastischen Charakter, der sich von der einzigen damals evisiirenden
hoher» Lehranstalt über alle in der Folge errrichteten Jnstuule verbreitete.
Aber wie wenig Theilnahme fand auch diese von dem Muchlfpruch Peters ins
Leben gerufene Anstalt! Ihre besten, eifrigsten Lehrer (und bereu gab es leider
nicht viele) gingen als Opfer ver Unwissenheit, des Neides u»o ber Kabale
zu Grunde. Ein solches Schicksal halte namentlich der geehrte und verständige
Theophilakt Lopatinökji, der erst von dem Metropoliten Tevphan Prokopowirsch,
bann von Biron verfolgt wurde. Es fehlte auch nicht an a ivern Opfern,
und die übrigen dachten daher hauptsächlich an ihre eigne Sicherheit, während
die in Barbarei versunkenen Zeitgenossen allen Schulunterricht hartnäckig voll
sich wiesen. Umsonst verkündete Peter, baß „eine gute und gründliche Bil¬
dung die Wurzel, ver Same und die Grundlage alles Nützlichen, sowol für
den Staat als die Kirche" sei: die Stimme deS Zaren verhallte in der Wüste.
Man hing noch allzusehr an der alten Ignoranz, dem allen Müßiggang.
Wie Peter selbst bemerkte, hielten die Eltern die Aufforderung, ihre Kinder
in die Schule zu schicken, für eine gewaltsame Neerutenaushebung; sie verwei¬
gerten den Gehorsam, unb wenn sie nachgeben mußten, so lUunlerten sie die
Kinder heimlich auf, -ins der Akademie zu entfliehen. Bei solchen Begriffen,
bei solchen Sitten konnte von Bildung, konnte von Literatur feine Rede sein.
Bis zu den Tagen Katharinas II, war der von Peter angebahnte Civilisati'ons-
Proceß ein Kampf Weniger, die ihre Aufgabe nur unklar verstanden, mit der
Barbarei, und zwar ein Kampf, der für die Streiter keineswegs gefahrlos war.
Die Gelehrten wollten die Scholastik, die im Auslande erzogenen jungen
Edelleute die weltmännische Abgeschliffenheit in französischer Form die Stelle
der wahren Geistescultur vertreten lassen. Erst Katharina lehrte ihr Volk den
Werth der Erziehung schätzen, sich mit den Wissenschaften und der Literatur
beschäftigen, und erst von da an wurde es nicht mehr nöthig, die Schüler mit
Gewalt und durch die Furcht vor Strafe in die Lehranstalten zu treiben.
In diesem ganzen Zeitraum, von Peter Ins Katharina, blieb die slawisch¬
lateinische Akademie fast das einzige gelehrte Institut in Moskau, wie es die
Akademie der Wissenschaften in Petersburg war. Aus der moskauer Akademie
gingen nicht nur hohe geistliche Würdenträger, sondern anch Staatsbeamte
und Gelehrte hervor, indem ihre Zöglinge oft in die Petersburger übertraten.
Bekanntlich gehörte Lomonossow zu den ausgezeichnetsten Schülern der mos¬
kauer Akademie, aber die gesellschaftlichen und culturlichen Zustände seiner Zeit
verhinderten seinen Genius, sich in voller Kraft zu entwickeln. Als Literat
und Gelehrter machte er in allem den Anfang und, wie Peter auf einem grö¬
ßern Schauplatz, kämpfte er sein Lebelang mit der Unwissenheit und starb
über dem Kampf, der Nachwelt nur das Beispiel seines Strebens hinterlassend."
— Eine der letzten Nummern der Grenzboten
enthält einen frankfurter Brief, worin nur mit großer Schüchternheit Preßver-
hältuisse berührt werden, die hier am Orte notorisch sind und die der Herr Brief¬
steller ganz »»gescheut und unter Nennung der Namen hätte besprechen können,
die er nur mit Anfangsbuchstaben als ein tun^occ? bezeichnet. Diese
Schüchternheit rührte aber wol nur vou der Einseitigkeit des Herrn Briefstellers
oder doch seiner angezogenen Korrespondenz her, worin blos diejenige» Schäden
der heutige» Presse hervorgehobe» werden, welche die Kurzsichtigkeit de» Regierungen
Zur Last legen möchte, während sie viel eher ,anf Personen zurückgeführt werde»
können, von denen die Regierungen in demselben Grade »nßbraucht werden, wie das
große Publicum manchmal von einzelne» Parteischriftstcller». Derselbe Friedrich Perthes,
welche» Ihr Briefsteller in Ur. 21 anführt, sagt auch irgendwo in seinem Lebe»,
wie es merkwürdig sei, daß eine kleine Zahl böser oder irregeleiteter, aber beharr-
licher Schriftsteller die ganze öffentliche Meinung bestimmen und vergiften könnten.
Ich will damit nnr sagen, daß die Schäden ,der Presse, wie sie auch in diesem
Augenblick vorliegen, allgemeine seien, an denen die Regierungen nnr Theil haben, und
die zwar von ihnen verstärkt werden können, aber nicht von ihnen allein ausgehen.
Die Redaction der Grenzboten hat i» einer Nachschrift in derselben Nummer sehr
richtig die Grenzen abgesteckt, innerhalb deren sich eine NcgieruugSpressc zu halten
habe, wenn sie diesen Namen verdienen und wirklich den Regierungen, wie dem
Gemeinwesen nützen soll. Sie hat auch bemerkt, wozu Sie mir vielleicht einen Zu¬
satz zu machen erlauben, daß wenigstens die Zcituugsredactioueu von abhängigen
Schriftstellern nichts aufnehmen sollten. , Aber hier liegt eben das Verkehrte und
Verderbliche einer falschen Negicrungsprcsse, Der Literat und Zeitungsschreiber,
der von einem NegicrnngSprcßagenten, deren sich allerdings auch in Frankfurt auf¬
halten, geworben wird, der schreibt den Zcituugsredactioueu, als wäre er unab¬
hängig, und ist auch oft in der Lage, ihnen Nachrichten geben zu können, die sie
nicht gern zurückweisen. Wie würde man sichs sonst z. B. erklären, daß seit einer
laugen Reihe von Jahren die eigentlichen ständigen frankfurter Korrespondenten
der angsbnrger Allgemeinen Zeitung zum Theil zu der untergeordnetsten Gattung
des hiesigen Litcratcnthums gehörten, und auch ihr jetziger Hanptcorrcspvndent von
hier soll, wie allgemein behauptet wird und mir noch in diesen Tagen von einem
genau unterrichteten Manne bestätigt worden ist, ein gewesener Barbiergchilfe sein;
woraus wir aber, wie die Verhältnisse nun einmal sind, weder der Allgemeinen
Zeitung, noch jenem Literaten einen Vorwurf machen, der blos' einen geachteten
Stand mit einem in unsern Augen minder geachteten vertauscht haben würde.
Nimmt man hierzu, daß abhängige Literaten den oft nicht weich gebetteten Redac¬
tionen bequemer sind, als solche, welche zugleich eine eigne Ueberzeugung vertreten
wollen, so muß tüchtigem Männern jede journalistische Thätigkeit in Deutschland
wenn nicht unmöglich gemacht, doch sehr erschwert werden. Und ich habe oben nicht
einmal von abhängigen und absolut abhängigen Zcitungsredactionen, wie der
nomineller Redaction der' hiesigen Postzeitung, gercdrt. »
Fügt man zu allen diesem das Treibe» großer specnlircnder Buchhändler hinzu,
wovon Sie vielleicht in Leipzig selbst Beispiele kennen, so wie einzelner in deren
Interesse fnngircndcr oder sich dieser und jener Partei aufdrängender selbstsüchtiger
Literaten, so wird man zu der betrübende», aber nothwendigen, schon oben aus¬
gesprochenen Ueberzeugung kommen, der berührte Schaden sei ein ziemlich allgemeiner
und die Besserung könne nnr von innen kommen. — Was nun die ganz besondern
frankfurter Prcßvcrhältnisse und die unter denselben hervorstechenden Personen be¬
trifft, so werde ich um der politischen Wichtigkeit dieses Platzes willen xi»« <>>,
üUuUo, ^noi'rin o,un«us pnx'ni luilico, demnächst eingehender darauf zurückkommen.
Für heute erlauben Sie mir nur noch, Sie auf die im Verlage von Bröuncr
dahier erschienene Schrift von Ang, Boden: „Zur Kenntniß und Charakteristik
Deutschlands in seinen politischen, kirchlichen, literarischen und Rechtszuständen
während der letzten Jahrzehnte/' aufmerksam zu machen. Da sie sich dnrch die
Vielseitigkeit ihres Inhaltes auszeichnet, durch den aber ein rother Faden geht,
welcher ihn zu einem Ganzen macht, so scheint eine kurze Anzeige derselben
vom Orte ihres Erscheinens aus gerechtfertigt zu sein.
Der Verfasser selbst nennt sich bald einen konservativen, bald einen liberalen Schrift¬
steller, womit er sagen zu wollen scheint, daß er das eine wie das andre, weil
nämlich jedes mit Maßen, sei, oder daß ihm für unsre Zeit ein echter Konserva¬
tismus mit einem echten Liberalismus zusammenfalle,, Er reicht daher auch bald
der einen, bal5 der andern Partei in einzelnen Fällen die Hand, wie der liberalen
u. a. in der Schleswig-holsteinischen und der kurhessischen Frage, und wenn er, als
diese am brennendsten waren, Oestreich und der sog. großdeutschen Partei, zu
der er damals.gerechnet werden konnte, wegen ihres Verhaltens in derselben ent¬
schieden entgegentrat, so geht hieraus, wie aus vielen ausdrücklichen Aeußerungen
hervor, daß er mit gleicher Unparteilichkeit gegen Oestreich wie Preußen aus dem¬
jenigen deutschen Standpunkt steht, welcher für. die übrigen deutschen Staaten ein
Gewicht in den deutschen Angelegenheiten in Anspruch nimmt und sie u. a. auch
als ein Mittel und Werkzeug betrachtet, die beiden deutschen Großmächte auf dem
Grunde des allgemeinen deutschen Interesses einig zu machen und zu erhalten.
In dem Athenäum ist die Unparteilichkeit der ganzen Schrift hervorgehoben worden,
indem das englische Blatt den Verfasser -in im^n'l,i,it n-ri!,?,' nannte. Der politische
Theil des 647 Seiten in Octav großen Buches, dem sich der juristische und manches vom
literarischen eng anschließt, wird ohne Zweifel als ein neuer Beitrag zu der Ge¬
schichte der Jahre 1848 bis 1830 zu betrachten sein. Da der Verfasser seit
20 Jahren in Frankfurt uuahängig lebt, so war er im, Stande, manches besser zu
sehen und zu erfahren, als die sich nur kürzere Zeit dort - aufhielten, und sich
als Norddeutscher ruhiger zu den süddeutschen Wirren zu Verhalten, als dies
den darin Aufgewachsenen und Befangenen möglich sein konnte. Dieser Umstand
befähigte ihn, Jordan zu vertheidigen, ohne zu dessen Partei zu gehören, ja indem
er diese Partei bekämpfte, und über den weit wichtigern weidigschen Proceß un¬
parteiisch d. h. uuter Bekämpfung eines falschen Liberalismus sowol, als eines
schlechten Konservatismus zu schreiben und das Recht darin zur Anerkennung zu
bringen" Sein Aufenthalt in Frankfurt mußte den Verfasser, wenn er aufmerksam
war, auch genau mit dem Treiben am Bundestage bekannt machen, und man findet
diesen in einzelnen seiner Thätigkeiten, so wie in den Personen einzelner Bundes-
tagsgesandter so freimüthig besprochen, als sich das nnr derjenige gestatten durste,
der sich an Ort und Stelle solche Beweise sammeln konnte. Von einzelnen Bundes-
tagsgesandter finden, sich besondere Charakteristiken, u, a. vou den Herren von
Blittcrsdorff und vou Pensum, und des Herrn Victor Strauß in Bückeburg Mein-
cidstheorie aus "dem Jahr 1833 wird auf S. .568 mit derjenigen der hessischen
Radikalen der dreißiger Jahre verglichen, jedoch zum Vortheile der letzten,. In
dem theologischen Theil der Schrift, wenn man Abhandlungen und Aufsätze eines
Laien, der jedoch gründliche theologische Studien gemacht hatte, so nennen kann,
scheint uns der Verfasser ganz mit der Richtung dieser Blätter übereinzustimmen.
Er hat nnr solche in die Sannnlung aufgenommen, deren Gegenstände das In¬
teresse, welches sie zur Zeit der Abfassung hatten, behalten haben, wie z. B. wo
jetzt abermals eine evangelische Generalsynode in Berlin zusammentreten soll, die
»Beleuchtung der Verhandlungen der evangelischen Generalsynode zu Berlin im
Jahr 1846 „„über die Verpflichtung der Geistlichen auf die Bckcnntnißschristen.""
Den schvnwissci^schaftlichen Theil des Buches betreffend glauben wir auf den Aus-
sitz „Ueber Goethe, mit Beziehung eins einige seiner Tadler" aufmerksam machen zu
dürfen, eine Ehrenrettung Goethes in Beziehung ans sein Verhältnis; zum Herzog
Karl August und zu Schiller, überhaupt in Beziehung auf die ersten Jahre seines
weimarscheu Lebens. Gegen die Abhandlungen über daS junge Deutschland hat
man schou eingewandt, daß Männer wie Gutzkow jetzt aus einer höhern oder an¬
dern Stufe ständen. Der Verfasser scheint auch dies zwar nicht anzunehmen, der
Einwand ist aber deßhalb, ungegründet, weil jene Abhandlungen aus der Zeit der
Blüte des jungen Deutschlands herrühren und während derselben oder gleich nach
derselben (183!) —1838) geschrieben wurden, wie uns denn überhaupt das Interesse
der Schrift dadurch gewinnen zu müssen scheint, daß mit Ausnahme der Abhand¬
lungen über Goethe die einzelnen.Theile derselben den Erscheinungen und Ereig¬
nissen, ans welche sie sich beziehn, gleichzeitig waren oder auf Anregung des jedes¬
mal gegenwärtigen Augenblickes geschrieben wurden. Einiges ist in „Nachschriften"
hinzugefügt, wie eine Kritik der berüchtigten, aber einflußreichen Schrift des Dänen«
Wegener „Ueber das wahre Verhältniß des Herzogs von Augustenburg zum hol¬
steinischen Aufruhr," deren unheilvollen Einfluß ans die frankfurter deutschen Di¬
plomaten der Verfasser, wie aus seinem Buch hervorgeht, schon gleich nach ihrem
Erscheinen in der Allgemeinen Zeitung beklagt hatte.
* Der neulich in diesem Blatte berührte Streit zwischen England und den
Vereinigten Staate'n wegen Centralamerika ist in ein neues Stadium getreten, in¬
dem Präsident Pierce Walker anerkennt, .und, wie durch die rester Nachrichten
bestätigt worden, , dem englischen Gesandten seine Pässe ertheilt hat. Die
Bereitwilligkeit, mit welcher der Präsident eine noch um den Besitz« der Herr¬
schaft und zwar mühsam ringende Partei als Regierung no l'neu-i anerkennt,
ihr dadurch die moralische Unterstützung der Vereinigten Staaten verschafft, und
materielle in Aussicht stellt, ohne welche Walker wol dem Untergang Preis gegeben
sein dürfte, zeigt am besten die wahren Beweggründe, welche das Eabinct von
Washington bei der gegen England beobachteten Politik von Anfang um geleitet
haben. Die seit dem Abschluß des Clayton-Bulwerschen Vertrags in Centralamerika
eingetretenen Verhältnisse haben dem Präsidenten das Bestehen des Vertrags leid
werden lassen, und er hat alles versucht, um einen Bruch herbeizuführen, der
ihm den Vorwand verschaffte, einen.Vertrag für erloschen zu' erklären, der den Plänen
der gegenwärtig in den Vereinigten Staaten herrschenden Partei, die Einverleibung
Centralamerikas in die Union vorzubereiten, ein völkerrechtliches Hinderniß in den.
Weg legt. Weil er selbst daS Bedürfniß fühlte, den Vertrag zu verletzen, fand
er es für daS Gerathenste, vorher England der «absichtlichen Verletzung des Ver¬
trags zu beschuldigen. Nachträglich kommt auch n>?es eine Depesche vom Jahr 18S1
-zu Tage, in welcher bereits Buchanan den Zweck, mit dem die Vereinigten Staaten den
fraglichen Vertrag abgeschlossen, ziemlich offen eingestellt. Er schreibt unter dein
2. Mai an den englischen Staatssecretär des Auswärtigen: „Das englische Eabinct
scheint große Wichtigkeit ans die Thatsache zu legen — warum ist jedoch schwer ein¬
zusehen — daß Mr. Buchaugn in seiner Darlegung angibt, daß Buatan -I8S6 in
großbritannischen Besitz gewesen sei. Eben weil England nicht blos Nuatan, son¬
dern fast die ganze östliche Küste Centralamerikas besetzt hielt, lag den Vereinigten
Staaten so viel an dein Abschluß einer Convention, welche England verpflichtet,
diese Besetzung auszugeben." In Voraussicht der sehr nahe liegenden Bemerkung,
daß dieser Zweck hätte offen eingestanden und der Rechtstitel Englands mit Grün¬
den hätte angefochten werden müssen, setzt er mit naiver Aufrichtigkeit hinzu: „Ein
solches Verfahren würde nnr nutzlose Gereiztheit zur Folge gehabt haben. Es ge¬
nügte zu wissen, daß England, gegenwärtig in Besitz, gleichviel unter welchem Titel
sich verpflichtet, den Besitz (Occupation) aufzugeben." Es ist nur zu verwundern,
daß nach Empfang solcher Depeschen die englische Diplomatie es noch der Mühe für
werth hält, mit Vernunftgründen zu streiten.
Das streitige Eiland Nuatan — beiläufig gesagt des Streites gar nicht
werth, — gehört nach völkerrechtlichem Brauch unzweifelhaft zu der britischen Be¬
sitzung Belize, und beruht der Rechtsanspruch Englands durchaus nicht blos aus
einer alten Karte. Es kann zwar nicht angegeben werden, wann England zuerst
das Eiland in Besitz genommen hat, aber so ost eine der ccntralamerikanischen Re-
gierungen den Versuch gemacht hat, sich dort festzusetzen, hat England sein Besitzrecht
geltend gemacht, das ecntralamerikanische Behörden anch dadurch anerkannt haben,
, daß sie Beschwerden über die Ansiedler aus Nuatan stets an die Behörden nach Belize
gewiesen haben.
Abgesehen von der politischen Wichtigkeit ihrer Lage, ist die britische Colonie
Honduras auch für den Handel von nicht geringer Bedeutung. Die Eolouie führte
-1886 nach England, den Vereinigten Staaten und andern Ländern aus für
348.377 Pf-, 4884 für 482,343 Pf.; der Werth der Einfuhr betrug im Jahr
'1884 2,4-17,642 Pf. Die Tonnenzahl der einlaufenden Schiffe belief sich -1884
auf 3-1,-124, die der auslaufenden ans 27,803 Tonnen. Der Hauptort, Belize,
hat ungefähr 8000 Einwohner.
So sehr .sich die öffentliche Meinung Englands abgeneigt zeigt, einen Krieg
gegen die Vereinigten Staaten zu beginnen, wenn das Benehmen derselben nur
nicht gar zu übermüthig wird, so erhebt sie dennoch zugleich den Uns, wenn der
Krieg einmal nicht zu vermeiden ist, ihn besser vorbereitet zu beginnen, als den von
-18-16 oder den neuesten gegen Nußland. Die Presse warnt vor dem „Himmel-wcr-
hätte-daS-gedacht-System", welches erst an das Verbessern denkt, wenn bittre Er¬
fahrung die schweren Nachtheile des Verbleibens beim Alten gelehrt hat. „Wenn die
Nordamerikaner uns zum Krieg drängen — was Gott perhütc, obgleich die Lang-
muth ihre Grenzen hat" — schreibt ein liberales Blatt, „so droht uns dieses
System.wieder. Die Nordamerikaner haben fünf erst vollendete Fregatten alle von
der Größe und nach dem Muster des Niagara; dieses Schiff hat eine Länge von
367, eine Breite von 86, eine Wassertiefe von 23 Fuß; es trägt eine Last vou
3000 Tonnen und Maschinen zu 2000 Pferdekraft. Der Niagara ist mit Griffiths
Schraube versehen und Hat-I-I Knoten in der Stunde zurückgelegt, ohne die Schraube
aufzuheben, eine. Schnelligkeit, die demnach ans -I2V2 Knoten zu erhöhen wäre.
Diese Fregatte ist außerordentlich 'schwer arnürt. Unsre zuletzt erbauten»Fregatten,
wie der Euryalus, sind dagegen Pygmäen und können es ebensowenig mit dem
Niagara aufnehmen, als -I8-I8dcrMacedoniän und die Guerrivre mit der Eonftitutivn ni^d
der United States. Die Amerikaner sind so klug gewesen, uns alle unsre Experi¬
mente probiren zu lassen, und 12 andere von diesen Niescnfrcgatten sollen jetzt zu
dem Niagara und seinen fünf Schwestern hinzukommen, so daß die Amerikaner eine
noch nie dagewesene Seemacht von 18 dieser fliegenden Leviathans besäßen, die unsern
Schraubcnlinienschiffen gleich, und an Metallgewicht ihnen überlegen sind. Bleiben
wir in dieser Hinsicht zurück, so werden im Fall eines Kriegs die Amerikaner nach
ihrer alten Taktik den ersten glücklichen Schlag führen. Sie werden eine Fregatte
einer Fregatte,. eine Corvette einer Corvette entgegenstellen, dem Namen nach
gleich starke Schiffe, in Wirklichkeit aber unendlich überlegen. Dann heißt es in
aller Welt, eine amerikanische Fregatte oder eine amerikanische Corvette habe ein
englisches Schiff gleichen Ranges in den Grund gebohrt oder geentert—und unsre
Matrosen werden der Aussicht auf Glück und Beute folgen, wie im vorigen Kriege,
und massenweise aus unsrer in die amerikanische Marine übertreten. . . Unsre
Marine muß mit der Zeit Schritt halten. Amerika muß ganz anders behandelt
werden als Rußland. Im voraus gewarnt heißt im voraus gewaffnet fein. Wir
müssen Fregatten bauen, die es mit dem Niagara aufnehmen können. Das Geld
darf nicht gespart werden: ein Zurückfallen in das alte System des Schlendrians
verdient Ursache zur Anklage des betreffenden Ministers zu werden, während gehörige
Kriegsbereitschaft sich am Ende als das beste Bvrbeugungsmittcl gegen den Krieg
erweist."
Zu London ist soeben eine bivgraphisch-kritische Skizze „Felix Mendelssohn
Bartholdy" von Julius Benndix bei John Murray in zweiter Auflage erschie¬
nen. Dieselbe Verlagshandlung bringt den ersten Band von Sir Robert PeelS
Memoiren, ferner Ubicinis Briefe über die Türkei in zwei Bänden. Letzteres Buch
-ist von großer Wichtigkeit für die Kenntniß der innern Zustände und der Handels¬
verhältnisse der Türkei, die über der allgemeinen politischen Bedeutung der orien¬
talischen Frage bis jetzt so oft übersehen worde'n find.
Mit Ur. A? beginnt diese Zeitschrift ein neues Quartal,
welches durch alle Buchhandlungen und Postämter zu be¬
ziehen ist.
Leipzig, im Inn 185et.Die Werlagshandtuug
Sie werden, lieber Freund und verehrter Redacteur, von mir einen Be¬
richt'über das jüngste Musikfest in Düsseldorf erwarten und ich habe außer
dem natürlichen Wunsch, noch einmal wieder bei Ihnen als Referent einzutreten,
noch so manche Veranlassung, Ihrer Erwartung zu entsprechen, daß ich die
Feder ergreife, obgleich, wie Sie wissen, meine Zeit für dergleichen Arbeiten
ungemein knapp bemessen ist. Das wird mich wenigstens in Ihren Augen
entschuldigen, wenn mein Bericht nicht ,so ausführlich sich über alle Punkte ver¬
breiten sollte, wie es die Bedeutung eines Festes der Art vielleicht erwar¬
ten läßt.
Die erfreulichste Veranlassung zu berichten, ist mir das in allen wesentlichen
Punkten vollständige Gelingen eines Festes, das zu einem edlen künstlerischen
Zweck viele und bedeutende Kräfte in einem weiten Kreise von Mitwirkenden und
Zuhörenden angeregt und angespannt hat, und nun durch die Befriedigung
nach- so schönen Anstrengungen ringsumher neuen Samen ausstreut und Lust
und Wetteifer für künstlerische Bestrebungen wach hält. Es ist etwas gar
Eignes und Schönes um ein solches Fest, das mehre Tage lang Tausende
dem gewöhnlichen Thun und Treiben entrückt und in einem höheren geistigen
Interesse vereinigt. Denn wie verschieden - auch nach Sinn und Bildung
die Weise sein mag, in welcher der Einzelne sich an dem Genuß einer solchen
Feier betheiligt, so ist doch bewußt oder unbewußt die Kunst das höhere Ele¬
ment, welches alle durchdringt und trügt, sie wird die reine, klare Lebensluft,
in welcher alle sich frei und heiter bewegen. Wenn wir keine olympischen
Spiele mehr haben, so dürfen wir uns doch dieser Musikfeste rühmen, in denen
die Kunst, welche unsrer Zeit und unsrem Volk die eigenste ist, ihre Macht
»ut Herrlichkeit als eine wahrhaft volkstümliche offenbart. Denn es handelt
sich hier nicht allein um Musteraufführungen, welche durch momentane Con-
centration außerordentlicher Kräfte hervorzurufen sind. Man muß den Chor
ins Auge fassen, der aus Abgeordneten von Gesangvereinen vieler Ortschaften
gebildet ist und eben diese Vereine, welche oft sehr zufällig vertreten sind,
hinter sich hat, so wie daS Orchester, das aus eine ähnliche Weise gebildet wird,
um sich zu vergegenwärtigen, welche Summe von musikalischer Kraft und Bil¬
dung im, Volk dadurch repräsentirt wird. Und wenn man dann wahrnimmt,
in welcher Weise ein Kunstwerk wie Beethovens neunte Symphonie von einem
solchen Chor und Orchester ausgeführt, in welcher Weise eS von einem
ebenso gemischten Publicum aufgenommen wird, so wird man inne, daß die
höchsten Leistungen unsrer größten Künstler in Wahrheit diese Wurzeln im
Volk geschlagen haben und der Nation angehören. Lassen Sie uns, mein
theurer Freund/auch an dieser Aeußerung eines nationalen Gefühls u»ö er¬
freuen, wenn es gleich dem idealen Gebiet des künstlerischen Empfindens und
Verstehens angehört. Gar wenige mögen das Gefühl des Einigseins und Zu-
sammengehörens beim wahren Genuß deutscher Musik als ein patriotisches
empfinden, desto besser! um so unbefangener und gesunder wird es als ein Factor
eines lebendigen Nationalgefühls überhaupt mitwirken.
Es war keine geringe Aufgabe, zwei Jahre hintereinander an demselben
Ort ein Musikfest zu Stande zu bringen, und der überaus glänzende Erfolg des
vorjährigen Festes war eher geeignet, diese Aufgabe zu erschweren. Der noch
nicht vollendete Ausbau des Gürzenich machte es unmöglich, das Fest in Köln
zu feiern; um nicht etwa gar eine Unterbrechung eintreten zu lassen, entschloß
man sich/in Düsseldorf zu einer Wiederholung, und durch bie Energie und
Umsicht des Comites und insbesondere des Herrn Hera. Voß gelang es
bald, die materiellen Voraussetzungen des Zustandekommens zu sichern. An der
Bereitwilligkeit der verschiedenen Gesangvereine, zahlreich mitzuwirken, war nicht
zu zweifeln; das Verzeichnis) der Mitwirkenden weist dies Mal in allen Stimmen
größere Zahlen aus: im Sopran 183 (statt 167), im Alt 140 (statt 123), im
Tenor 168 (statt 138), im Baß 237 (statt 204), im Ganzen also 780 Choristen,
während im vorigen Jahr deren 634 gewesen waren. Daß diese numerische Ver¬
stärkung von keiner großen Wirkung sein würde, ließ sich annehmen; es scheint
aber, als wenn von den angemeldeten Choristen eine beträchtliche Anzahl aus¬
geblieben sei, so daß die Zahl der wirklich Mitsingenden vielleicht geringer war; in
der That schien auch die Wirkung des Chors nicht ganz von der Macht und
Fülle zusein, wie im vorigen Jahr. Etwas mochte dazu wol beitragen, daß die
Schöpfung in seltener Weise geeignet ist, den Chor auf die mannigfaltigste
Art zur vollsten Geltung zu bringen. Allein auch ein solcher Rückblick that den
Leistungen des Chors in diesem Jahr keinen eigentlichen Schaden; er war durch¬
aus kräftig, gesund und frisch und hatte sich dessen bemeistert, was er vor¬
zutragen hatte.
Bei der Besetzung des Orchesters war man bemüht gewesen, die Blas-
instrumente, welche voriges Jahr den Saiteninstrumenten nicht ganz eben¬
bürtig erschienen, zu verbessern,, auch war dies nicht ohne Erfolg geblieben.
Die Saiteninstrumente dagegen standen dies Mal etwas zurück, ..wobei man
freilich nicht vergessen darf, daß eine so überaus schone, in Kraft und Zartheit
gleich wohlthuende Wirkung der Saiteninstrumente, wie man sie voriges Jahr
in Düsseldorf hörte, in aller Welt selten vernommen wird und nur unter be¬
sonders günstigen Umständen erreicht werden konnte. Die Zahl der Geigen
und Bratschen war etwas geringer, die Bässe waren — wol mit Rücksicht auf
die Symphonie — verstärkt (27 Violvncelle und 16 Contrabässe). '
Nach einem, wie mir scheint, sehr richtigen Grundsatz wechselt man bei den
Musikfesteu, wenn auch nicht regelmäßig, mit dem Dirigenten. Schwerlich aus
der Ansicht, die bei dem Engagement der Solisten und Virtuosen maßgebend
sein mag, daß neue Namen und Personen auf das Publicum eine erhöhete An¬
ziehungskraft ausüben, sondern weil die eigenthümliche geistige Anregung und
belebende Kraft, welche von dem Dirigenten ausgeht, solchen Massen gegen¬
über von ungewöhnlicher Frische und Energie sein müssen. So wohlthätig,
ja nothwendig bei musikalischen Instituten von regelmäßig fortlaufender Wirk¬
samkeit die stetige Tradition einer einheitlichen Direction sich erweist, so heilsam
ist für eine außerordentliche Veranlassung, bei der es auf eine rasche Ver¬
schmelzung großer Massen ankommt, die kräftigere Anregung, welche von einem
Dirigenten ausgeht, dem Achtung und Vertrauen der Mitwirkenden entgegen¬
kommen, ohne daß eine beiderseitige Gewöhnung ein bequemes Sichgehenlassen
zugibt. Die Wahl war auf Julius Nietz gefallen, der, früher während einer
Reihe von Jahren Musikdirector in Düsseldorf, dort und im Rheinland be¬
kannt und heimisch, ebenso gern der gastlichen Einladung zu diesem Ehrenposten
folgte, als man ihn dort freudig und herzlich empfing. Daß es für Ihren
Referenten eine besondere Genugthuung war, den befreundeten Meister, dessen
sichere Leitung er so oft mit Theilnahme und Befriedigung beobachtet hat,
einmal wieder am Dirigentenpult zu sehen, wissen Sie, und in einem Bericht,
der sich zunächst nach Leipzig wendet, ist eS überflüssig, sich weiter darüber aus¬
zulassen, wie sehr geeignet Rietz durch sein hervorragendes Directionsralent und
seine große Erfahrung und Sicherheit für die Leitung eines Musikfestes sei.
Er hat sich als Dirigent anch hier bewährt und an dem, was so erfreulich ge¬
lang, hat die energische Festigkeit und die anregende Frische seiner Direction den
wesentlichsten Antheil, während das meiste von dem, was minder befriedigend
auffiel, einer Sphäre angehört, in welcher sein Einfluß nicht maßgebend
sein konnte.
Den größten Schwierigkeiten ist immer das Engagement der Solisten un¬
terworfen; die Aufgabe, Sänger und Sängerinnen zu gewinnen, die durch
'
Ruf und Leistungen den so hoch gespannten Kräften und Anforderungen eines
solchen Festes genügen, ist von der Art, daß man sich über jeden Glücksfall
freuen, und, was nicht gelingen will, mit Resignation ertragen muß, Ein
Sonnenglanz, wie ihn Jenny Lind über das vorjährige Musikfest ausbreitete,
ist nur durch sie zu erreichen, und sie ist leider nicht immer zu erreichen. Das
Festcomitv hat durch die Berufung von Frl. Therese Tietjens aus Wien,
welcher Frl. Louise Theilen aus Düsseldorf und Frl. Jda Dannemann
aus Elberfeld für die zweiten Sopranpartien zur Seite standen, und von Frau
Johanna Hoffbauer-Fi ndors aus Halberstadt als Altistin gezeigt, daß
man darauf bedacht war, anerkannt tüchtige Kräfte zu gewinnen. Neben diesen
Damen war Herr Schneider aus Leipzig, schon durch den allgemeinen Bei¬
fall, den er voriges Jahr gefunden hatte, für daS diesjährige Musikfest
designirt; Herr Dumont-Fin.es aus Köln ist seit Jahren der Bassist
der Rheinlande. Durch die Theilnahme des Herr» Jules Stockhausen
war endlich für die Solovorträge ein Sänger gewonnen, welcher auch diesem
Theil der Leistungen des Musikfestes eine Bedeutung gab, wie sie allein eine
im höchsten Sinne künstlerische Bollendung zu verleihen im Stande ist.
Um dem Fest als Fest- und als Pfingstfest seine reckte Bedeutung zu geben
muß vor allem schönes Wetter sein, und dafür kann freilich das ssomitu beim
besten Willen nicht sorgen. Das vorige Musikfest dankte dem herrlichen Wetter,
wodurch es begünstigt wurde, zum guten Theil die heitere, festliche Stimmung,
mit welcher man es sich in der gemeinsamen Anstrengung und dem gemein¬
samen Genuß so wohl sein ließ; daS unfreundliche Regenwetter, welches dies
Mal schon vor dem Beginn des Festes eintrat, stellte demselben kein günstiges
Prognostikon, und 'einige leere Plätze auf dem Orchester und im Zuschauerraum
wären wol besetzt worden, wenn nicht die Witterung fröhliche Neisegedankeu
bei vielen niedergeschlagen hätte. Manchen, die an Vorbedeutungen glauben
und deshalb auf das Motto der hillerschen. Symphonie: Es muß doch
Frühling werden, große Stücke hielten, meinten, das wochenlange Unaus¬
gesetzte Rufen nach Regen in allen Proben zum Elias habe am Ende doch
seine Wirkung gethan; es machte wirklich einen tragikomischen Effect, als in
der Probe mit steigendem Eifer um Regen gebeten wurde, während dieser
höchst ungelegen prasselnd aus das Dach strömte. Die ersten Proben waren
daher auch, nur schwach besucht; am Morgen des ersten Festtags sah man sich
vergebens nach dem festlichen Gedränge um, das im vorigen Jahr die Straßen
und Spaziergänge erfüllte, und ein Zusammensein auf dem Ananasberg, bei,
welchem sich damals die heiterste Stimmung unter allen Anwesenden verbreitete,
wie sie Gelingen Und Genuß verbürgt, fand dies Mal gar nicht statt. Indessen
klärte sich das Wetter bis zum Concert selbst auf, und blieb auch in den fol¬
genden Tagen, abgesehen von einigen Gewitterschauern, schön. Selbst diese
richteten keinen erheblichen musikalischen Schaden an; als Opfer siel nur, wie
im vorigen Jahr die gadesche Ouvertüre, so dies Mal der.erste Satz von
Beethovens Tripelconcert, das vor dem unwiderstehlichen Crescendo eines hef¬
tigen Platzregens allmiilig völlig verschwand, so daß man die Künstler be¬
wundern mußte, die sich auch durch ein solches Accompagnement nicht aus der
Fassung bringen ließen, Uebrigens war es eine wahre Wohlthat, daß man
in der'langen Pause, welche sehr zweckmäßig die langen Concerte unterbricht,
aus der Schwüle des Saales in den schönen großen Garten des Festlocals
gehen und frische Luft schöpfen konnte, wenn gleich die Maitranksconsumtion
nicht völlig so erheblich zu sein schien wie voriges Jahr. Am zweiten Pfingst-
tag wurde dann auch die heitere Morgenconferenz auf dem Ananasberg nach¬
geholt, und. die Geistlichkeit, welche gegen die frühere Gewohnheit es durch¬
gesetzt hatte, daß die Generalprobe während der Kirchzell ausgesetzt wurde,
hatte dadurch wesentlich die gute Stimmung gefördert; denn es ist kaum zu
sagen, wie sehr ein ungezwungenes Beisammensein im Freien, der mannig¬
fache Austausch der Gedanken und Ansichten,^ durch die Wechselnde Begegnung
stets neu angeregt, grade bei so gehäuften künstlerischen Genüssen erfrischt und
erhebt. Auch nahm die äußere und innere Betheiligung sichtlich zu, die
letzten Tage waren ungleich frequenter und belebter, als der erste. Die Zahl
der anwesenden Nobilitäten war kaum so groß als im vorigen Jahr, allein
auch so war an Musikdirektoren kein Mangel fühlbar.
Glücklicherweise sind alle diese Umstände, wenn sie. auch dazu beitragen,
den Eindruck des Festes mehr oder weniger glänzend, heiter oder behaglich zu
machen, doch nicht das, wodurch Wesen und Charakter desselben bestimmt wird.
Denn zuletzt ist und bleibt es ein Musikfest, und die Wahl und Aus¬
führung der Kunstwerke gibt den Ausschlag; in dieser Hinsicht ist das Musik¬
fest, wie schon bemerkt, in allen wesentlichen Punkten zu völliger Befriedigung
gelungen.
Als die beiden Grundpfeiler der Aufführungen hatte man Ment elssohns
Elias und Beethovens nennte Symphonie mit Chören ausersehen, und
mit dieser Wahl konnte man wohl zufrieden sein. Auffallenderweise ist der
Elias bisher noch auf keinem niederrheinischen Musikfeste gegeben, und es
war daher sehr angemessen, in die ohnehin beschränkte Zahl großer Oratorien,
welche für derartige Aufführungen zur Frage kommen, ein Werk aufzunehmen,
das in jeder Hinsicht gerechten Anspruch auf diese Auszeichnung hat. Eine
eingehende Betrachtung des Oratoriums würde hier zu weit führen. Allein
wenn man auch zugeben wird, daß im Elias wie im Paulus die Charakteristik
des Trägers beider Kunstwerke die ganze Kraft und Energie dieser gewaltigen
Männer/ wie die heilige Schrift sie darstellt, nicht erreicht, sondern wesentlich
eine Seite ihres Wirkens, ihre glaubensstarke Zuversicht auf inbrünstiges
Gebet, hervorhebt;, und daß im Paulus die Empfindung und Erfindung viel¬
leicht frischer und unmittelbarer ist als im Elias: so schließt dieses Zugeständniß
einer in der Natur des Meisters begründeten Beschränkung nicht die An¬
erkennung dessen aus, was er auch hier Großes .und Bedeutendes geleistet hat.
Man ist gegenwärtig von manchen Seiten her ebenso eifrig bemüht, eine
vollständige Geringschätzung gegen Mendelssohns Leistungen an den Tag zu
legen, als man noch vor kurzer Zeit ihn über alle zu erheben geneigt war.
War diese Bewunderung gleich einseitig und übertrieben, so war sie doch' er¬
freulicher und behaglicher als die forcirte Geringschätzung. Mendelssohn ver¬
band mit bedeutender musikalischer Begabung und einem seinen poetischen
Sinn eine seltene Durchbildung; er war nicht allein ein vollkommen geschulter
Musiker, sondern ein durchgebildeter Mensch, und beides stand bei ihm nicht in
Widerspruch, sondern in Harmonie miteinander, 'weil er den glücklichen Takt
besaß, der nur "wirkliche Künstlernaturen auszeichnet, mit Sicherheit zu em¬
pfinden, was seiner Natur gemäß sei. War er gleich kein schöpferisches
Genie wie die Heroen unsrer Musik, so bleibt ihm in der Geschichte der mo¬
dernen Musik das unbestrittene Verdienst, daß er der poesielosen Routine wie
dem dilettantisirenden Romanticismus entgegentrat und durch die That wieder
ins Klare brachte, daß poetische Auffassung und Beherrschung der Form in
ihrer unzertrennlichen Vereinigung das Wesen der Kunst ausmachen. Wahrlich
unsere Zeit hat nicht Ursache, spröde zu thun gegen künstlerische Leistungen, in
denen ein durchaus edler Sinn, poetische Auffassung und vollkommene Sicher¬
heit der Technik sich aussprechen, selbst wenn sie darin wesentlich das Resultat
künstlerischer Bildung erkennen sollte. Denn wie viele Künstler sind denn',
die es bis zu solcher Bildung, die es nur bis zum Geschmack bringen? Einem
Werke von solcher.Anlage, Ausdehnung und Bedeutung gegenüber erkennt
jeder leicht, welch ein Unterschied zwischen künstlerischen Intentionen oder viel¬
mehr Velleitäten und dem Vermögen besteht, fertige klare Gestalten aus¬
zubilden, die das ausdrücken, was der Künstler, durch sie aussprechen will. Es
war wol charakteristisch, daß ein Künstler, der während der Probe neben mir
in der Partitur nachlas — er gehört nicht dem musikalischen aneisn regius
an — nach dem großartigen Schlußchor des ersten Theils ausrief: „Ach, wie
gut ist es, wenn einer etwas Ordentliches gelernt hat; sonst hätte er die
Wirkung nicht hervorbringen können!" Gewiß nicht, und daß dieses Chor wie
die ganze Schlußscene und überhaupt die Hauptstücke des Oratoriums, die
Schilderung der Noth, der Wettstreit mit den Baalspriestern, Elias in der
Wüste, die Erscheinung auf dem Horeb auch auf das Publicum hier wie sonst
tiefen Eindruck machten, beweist, daß in dieser Musik noch etwas mehr wirksam
ist, als bloße Formgewandtheit.'
Der Chor hat in diesem Oratorium einesehr ausgedehnte Anwendung
gefunden und auch deshalb ist dasselbe für ein Musikfest durchaus angemessen;
Schade ist es, daß Mendelssohn, der denselben so geschickt und einsichtig zu be¬
nutzen , weiß, mehrmals und namentlich gegen das Ende hin die Wirkung
desselben durch zu starke Anwendung der Blechinstrumente beeinträchtigt hat.
Wenn man den wahrhaft wohlthuenden Eindruck empfunden hat, den so starke
und wohlklingende Chormasfcn auf das Ohr und Gefühl hervorbringen, so
bedauert-man es, dieselbe« vergebens gegen die niederschmetternde Macht des
„tönenden Erzes" ankämpfen zu sehn. Daß der Chor sich wacker hielt, mit
Sicherheit und Festigkeit — sehr wenige Stellen ausgenommen — einsetzte,
frisch und kräftig aushielt und prächtig klang, bedarf kaum des ausdrücklichen
Zeugnisses; auch vom Orchester kann man dasselbe sagen. Und so war für
das Ganze ein tüchtiger) fester Grund gelegt, ein solider und glänzender Rahmen
für die Leistungen der Solofänger gewonnen.
Für die Partie.des Elias war Herr Jules Stockhausen gewonnen.
Nach den außerordentlichen Erfolgen, welche dieser Sänger in der letzten Zeit
in Deutschland errungen hat, war man äußerst gespannt, ihn zu hören, um
so mehr, als das Genre des Oratoriums, nach dem, was über ihn bekannt ge¬
worden war, ihm fremd zu sein schien; denn daß er den Elias bereits in
Straßburg und Basel gesungen hatte, mochten Wenige wissen. Allerdings
hatte er mit mancherlei' ungünstigen Verhältnissen zu kämpfen. Seine Stimme
ist ein entschiedener Bariton mit bedeutender Höhe; die Partie des Elias liegt
zwar nirgend so tief, daß sie den Umfang seiner Stimme überschritte, aber
sie bewegt sich nicht selten in Tonlagen und verlangt in denselben Kraft und
Klang, welche für seine Stimme nicht die günstigsten sind. Dies gilt na¬
mentlich gleich vom ersten Recitativ, das,'um die rechte Wirkung'zu thun, ge¬
gen die mächtigen Accorde der Blasinstrumente wie mit Flam,menzügen die un¬
heilvolle Prophezeihung verkündigen muß. Diese Macht deS materiellen Klanges
hat Stockhausens Stimme nicht, am wenigsten in dieser Lage; dazu kam noch,
daß er, durch übermäßige Anstrengung erschöpft und körperlich unwohl, am ersten
Tage und besonders im ersten Theil des Elias nur mit großer Anstrengung
fang. ES ist daher begreiflich, daß ein Theil des Publicums, der sein Urtheil
über einen Sänger nach dem materiellen Klang der Stimme^ zu bemessen pflegt,
sich in seinen Erwartungen getäuscht fand; auch ist durchaus nicht in Abrede
zu stellen, daß für manche Partieen im Elias eine erhöhet« Kraft, ein vollerer
Klang der Stimme erwünscht gewesen wäre. Nirgend aber trat dies als ein
Mangel von solcher Art hervor, daß das, Verständniß und der Genuß an der
künstlerischen Leistung dadurch verkümmert worden wäre. Denn Stockhausen
ist nicht blos, was man so gewöhnlich sagt, ein Sänger mit schöner Stimme
und gutem Vortrag, sondern ein Künstler, „der nichts will als das Kunstwerk
rein zur Darstellung bringen und dies perfect kann." Daß das Singen eine
Kunst sei^ ist freilich eine Vorstellung, die jetzt'leider nicht allein unserem
Publicum, sondern auch unsern Sängern fast ganz fremd geworden ist. Wie
wenige bedenken, daß auch die umfangreichste , wohlklingendste Stimme nur ein
Material ist, das durch die allerstrengste Schulung dem künstlerischen Gebrauch
gerecht gemacht werden muß; daß das, was man gewöhnlich Fertigkeit nennt,
keineswegs das einzige, nicht einmal das wichtigste Resultat dieser Schulung
ist, sondern daß die vollkommene Herrschaft über die Tonbildung im weitesten
Umfang das ist, was der Gesangkünstler erreichen muß, damit er unter allen
Umständen nicht allein einen schönen Ton zu bilden, sondern diesem jedes Mal
die Klangfarbe zu gebe», ihm be» Ausdruck einzuprägen vermöge, welcher er¬
forderlich ist, um das auszudrücken, was der Componist gewollt hat. Freilich
gewinnt eine solche an sich schon bewundernswerthe Herrschaft über die voll¬
kommen ausgebildete Stimme erst Leben und Bedeutung, wenn der Sänger
auch die allgemeine musikalische Bildung besitzt, um diese Mittel dem Wesen
der Kunst gemäß zu verwenden, und poetischen Sinn und Verständniß, um
von innen heraus seine Aufgabe geistig zu erfassen und zu beleben. Die Ver¬
einigung dieser Eigenschaften ist es, weiche Stockhausen einen so hohen Nang
als Sänger anweist, und, was sich bei einem wahren Künstler von selbst ver¬
steht, die unbedingte Hingebung an die Sache, die Wahrheit, welche seinen
Vortrag bis ins kleinste Detail durchdringt. Daher kann man auch kaum sa¬
gen, daß er in einem Genre besser sei als in dem anderen; die Vollendung
der technischen Ausführung, die poetische Wahrheit der Darstellung ist stets
dieselbe, und w'cum die Wirkung eine verschiedene ist, so liegt das wol zum
großen Theil auch am Zuhörer, an dessen Stimmung und Richtung. Daß
Stockhausen eine seltene Fertigkeit besitzt, daß er die Cvloratur, sowol die
rasch fließende der modernen, als die gewichtige der früheren Gesangsweise,
Triller, Manieren aller Art und in jeder Nuancirung vollkommen ausgebildet
hat, hört jeder leicht; die Freiheit und Sicherheit, mit welcher er Schwierig¬
keiten überwindet, die nur der Kundige wahrnimmt, überall Gleichmäßigkeit
uno Uebereinstimmung des Einzelnen herzustellen und Licht und Schatten zu
vertheilen weiß, empfindet in ihrer wohlthuenden Wirkung wol auch der Laie,
recht würdigen kann sie nur der Kunstverständige. Aehnlich verhält es sich
mit der Kunst den Ton zu bilden und ihm die verschiedenartigsten Klangfarben
zu geben. Wer empfänglich für daS Wahre und Schöne ist, der wird frei¬
lich von der Wahrheit des Ausdrucks, welche stets mit der Schönheit des Tons
vereint ist, getroffen werden und oft am meisten bei solchen Stellen, welche
scheinbar an sich wenig bedeutend, eine wunderbare Wirkung thun, — nicht
weil der Sänger etwas Neues und Anderes aus ihnen macht, sondern weil er
das zur Geltung zu bringen weiß, was in ihnen liegt; allein in welcher
Weise diese Wirkung aus ven künstlerischen Gebrauch künstlerischer Mittel be-
ruht, daS wird wiederum nur der Kunstverständige ganz beurtheilen können.
Natürlich wird die höchste, die eigentliche Wirkung auch von Stockhausen nur
dadurch erreicht, daß seine meisterhafte Technik allein seiner poetischen Auffassung
dienstbar ist. Er besitzt eine außerordentliche Kraft und Lebendigkeit, den Cha¬
rakter einer Person oder Situation nach den durch die musikalische Ausführung
gegebenen Momenten in einem ganz bestimmt ausgeprägten plastischen Bild
aufzufassen, und zwar wie ein echter Künstler als ein Ganzes, so daß von
dem Kernpunkt derselben aus alle Einzelnheiten ihr wvhlabgemessenes Licht
und die richtige Färbung erhalten. Darauf beruht die stets gleiche Wahrheit
seines Vortrags, die jedes Einzelne mit Liebe behandelt, ohne es eines vorüber¬
gehenden Effects wegen zu bevorzugen, die Klarheit und Anschaulichkeit, die
in jedem Augenblick eine ganz bestimmte Empfindung im Hörer h'ervorruft,
ohne je auch nur im Geringsten zu übertreiben. Hierzu kommt, daß mit der
Feinheit im Auffinden der charakteristischen Momente eine natürliche Einfachheit,
mit der Lebhaftigkeit der Empfindung ein wahrer Adel sich aufs glücklichste
verschmelzen und ein künstlerisches Ganze von seltener Vollendung hervorbringen.
Wer Stvckhausens Elias aufmerksam gefolgt ist, dem wird ein Bild von scharf
ausgeprägter Individualität entgegengetreten sein, in allen Zügen übereinstim¬
mend und wahr. Dieser Elias war der mendelsvhnsche und die Organisation
des Sängers brachte es mit sich, daß die Züge, welche der Componist mit
Vorliebe ausgebildet hat, des frommen inbrünstigen Beters, des über sein
Volk trauernden Sehers, des unter der Last seiner vergeblichen Anstrengung
erliegenden Greises — auch vom Sänger mit gleicher Vorliebe in den Vorder¬
grund gestellt wurden. Vielleicht läßt sich noch eine andere Auffassung denken,
die ^umgekehrt von den Momenten kräftiger Erregung ausgehend die Darstellung
des Componisten gewissermaßen zu ergänzen und weiter zu bilden suchte;
allein an sich ist gegen eine Auffassung nichts einzuwenden, die sich so aus den
Standpunkt des Eomponisten stellt und von da aus ein in sich vollendetes
Charaktergemälde entwirft. Es würde zu weit führen, dies im Einzelnen zu
verfolgen; allein um nur Eins anzuführen, der herzergreifende Ausdruck in
den Worten: „Siehe da dein Sohn lebet!" der geheimnißvolle Schauer
vor der Nähe Gottes bei den Worten: „Der du deine Diener machst zu
Geistern," die wunderbare Mischung menschlicher Trauer und prophetischer
Größe in den Worten: „Und der Herr wird Israel schlagen;" die ver¬
schiedene Nucmcirung der Trauer in den Worten: „Sie wollen sich übest
bekehren!" und: „O daß meine Seele stürbe!" — das sind Momente
von der höchsten künstlerischen Bedeutung und gewiß jedem unvergeßlich.
Und doch sind sie sämmtlich von der Art, daß sie bei einem mittelmäßigen
Sänger ziemlich spurlos vorübergegangen wären und nur als die Züge eines
wirklichen Seelcngemäldes so ergreifend wirken konnten. Ich will es daher gar
nicht erwähnen, baß Stockhausen die Arie „Es ist genug!" rührend vortrug,
denn hier hat der Componist ihm vollständig vorgearbeitet und es ist vielmehr
zu rühmen, daß er eher zurückhielt als weiter ging; aber auch die erste Arie:
„Herr Gott Abrahams!" wurde durch seinen Vortrag zu einem wahrhaft
erhebenden innigen Gebete.
Die wahrhaft plastische Kraft in Stockhausens musikalischen Bortrag be¬
währte sich auch da, wo er nur eine einzelne Situation darzustellen hatte; so
namentlich in der Arie: „Bacchus ewig jung und schön" im Alerander-
sest. Die Art, wie die Lust und Seligkeit des Trinkens in derselben dar¬
gestellt wird, ist von dem, was wir uns unter bacchisch orgiastischer Schwärmerei
im antiken Sinn denken, oder von der Weise, wie sich der ausgelassene Jubel
eines Trinkgelags heutzutage äußert, so sehr verschieden, daß es zum rechten
Verständniß derselben gewissermaßen einer Interpretation bedarf. Stockhausen
wußte die Feierlichkeit und den Pomp mit der unergründlichen Tiefe der
Trinklust zu einem so individuell lebendigen Bilde zu verschmelzen, daß man
einen der alten kriegserfahrnen Feldherrn Aleranders mit dem Becher in der
Hand vor sich zu sehen glaubte. Mit derselben Sicherheit und Schärfe
zeichnete er in der Arie des Seile schal aus Johann von Paris den
französischen Hofmann; und obgleich die komischen Pointen der Arie recht
eigentliche Bühneneffecte sind, so regte er doch durch seinen prägnanten Vor-
trag die Imagination so bestimmt an, daß sicherlich, auch wer mit der Situation
nicht näher bekannt war, die komische Wirkung ganz voll und rein empfunden
hat. Bei Leistungen der Art soll man eigentlich nicht fragen, welche besser
sei, denn jede ist an ihrem Ort und in ihrer Art das, was sie sein soll, wobei
man gern zugeben kann, daß dem einen dieses, dem andern jenes mehr
zusage und gefalle. Ich kann daher auch nicht sagen, daß von Stockhausens
Leistungen der Vortrag der Lieder 'das Höchste sei. Ich will damit gewiß
seinen Liedern nicht zu nahe treten, ich habe nur von Jenny Lind etwas
Aehnliches gehört und wünsche mir nichts Besseres, allein ich finde, daß
seine echt künstlerische Begabung und Bildung sich auch auf diesem Gebiet
in derselben Weise kund macht, wie auf anderen. Die knappere, leichter zu
übersehende und aufzunehmende Form, die concentrirte Kraft der Empfindung
und des Ausdrucks, die freiere Wahl solcher Stücke,, die seiner Stimme beson¬
ders günstig sind, erklären es wol, daß die Wirkung seiner Liedervorträge eine
schlagendere ist; für mich ist es am bewunvernSwerthesten, daß er diese auch
hier nur durch rein künstlerische Mittel hervorbringt; jedes seiner Lieder ist
ein Ganzes, von bestimmter Färbung, und doch mit einer ebenso freien als
feinen Nuancirung des Einzelnen; ein Ausdruck, wie er ihn in die Worte:
„Unten fängts schon an zu blühen" in Schumanns Frühling„f-
ranst zu legen weiß, ist allein ein Beweis künstlerischer Meisterschaft.
Die Nähe so vollendeter Leistungen hat etwas Drückendes für die daneben
Stehenden, denn der unmittelbare Eindruck des Echten und Wahren ist »un¬
widerstehlich, und so geneigt man ist, dies hinzunehmen, als ob es sich nur
so von selbst verstehe, so empfindlich wird man dadurch gegen das'minder
Gelungene oder wol gar Verfehlte. Mitunter scheint es unbegreiflich, wie
nicht schon das Beispiel des Richtigen von offenbaren Verstößen abhielt, die
gegen Declamation und Accentuation, gegen reine und deutliche Aussprache
und ähnliche elementare Forderungen leider oft genug begangen wurden, vom
geistig beseelten Vortrag gar nicht zu reden; wenn nicht eben bei wirklich
künstlerischen Leistungen alles eng miteinander - zusammenhinge, und einem
großen Künstler etwas abzulernen künstlerische Durchbildung voraussetzte.
Verstöße der Art treffen natürlich Hrn. Schneider nicht, welcher sich
auch dies Mal als einen gebildeten Sänger bewährte, der mit Verstand und
Einsicht seine Partie durchdacht hatte und in ihrem Vortrag Sinn für das
Einfache und Edle.erfreulich an den Tag legte. Allein neben Stockhausen
empfand man doch, daß er seine schone Stimme nicht in dem Maße aus¬
gebildet hat, daß sie ihm in allen Nuancen völlig dienstbar ist; unter der
Anstrengung, welche er mitunter anwenden muß und die sich auch in seinem
Gesicht ausdrückt, leidet dann auch die Schönheit des Tons, der. ihm noch
nicht mit allen Klangfarben zu Gebote steht, um jeder Nuance des Gefühls
den bezeichnenden Ausdruck zu geben. Ich glaube, es liegt nur hieran, wenn
seinem Vortrag, der stets verständig überlegt und richtig aufgefaßt ist, doch mit¬
unter das tief Ergreifende und zugleich Leuchtende einer poetisch belebten
Darstellung .fehlt. Indessen glaube ich doch ein paar Mal bemerkt zu haben,
daß Hr. Schneider der Versuchung unterlag, um einen wohllautenden Ton
zur Geltung zu bringen, länger anzuhalten, als eigentlich nöthig und zweck¬
mäßig gewesen wäre; namentlich trat im bcethovenschen Liedcrkranz das un-
verhältnißmäßige Halten auf den Schlußtönen als jene nicht wohlthuende
Manier hervor, vor welcher ein Künstler, wie Hr. Schneider, auf seiner Hut
sein muß und wird, selbst wenn ein großer Theil des Publicums ihm dafür
zuklatscht. Ich hätte auch gewünscht, daß' er einigen Partien im Elias etwas
mehr Festigkeit gegeben hätte. Mendelssohn ist darin, z. B. in der ersten
Tenorarie bis an die Grenze des Weichen gegangen, und es ist sehr zu fürchten,
daß der Ausdruck, wenn der Sänger, der gegebenen Weisung nachgibt, weich¬
lich werde. Ueberhaupt haben die Tenorsänger sehr häusig fest im Auge zu
behalten, daß sie nicht einseitig den weichen und zarten Charakter ihrer Stimme
ausbilden, sondern auch männliche Kraft und-Würde derselben erhalten.
Hr. Dumont-Fluch, der die Baßpartie in Schumanns Adventslied und
in der neunten Symphonie übernommen hatte, ist ein Veteran aus der acht¬
baren, Schar deutscher Dilettanten, die mit lebhaftem musikalischen Interesse
und unermüdlichem Eifer stets bereit sind einzutreten und es zu einem Grad
von«Sicherheit und Fertigkeit bringen, daß ihre Mitwirkung, da wo man nicht
über großartige Mittel zu verfügen hat, stets dankenswert!) ist und'ihnen eine
verdiente locale Autorität verschafft. Den Aufgaben und Anforderungen eines
großen Musikfestes zu genügen, ist er jetzt nicht mehr im Stande, und ein
wirklicher Sänger kann er nie gewesen sein. Seine Stimmmittel hätten dazu
wol ausgereicht, aber es fehlt ihm an künstlerischer Bildung. Man hört fast
nur Gurgeltöne, sehr oft verkehrtes Athemholen und durchweg eine schlechte
Aussprache, so daß das erste Element eines guten Gesanges, schöne Tonbildung,
ihm mangelt; auch hat er, wie dies so oft Dilettanten geht, Unvollkommen-
heiten und Fehler einer ungenügenden Bildung mit Vorliebe als vermeintliche
Vorzüge gepflegt. Dahin gehört, offenbar als angebliches Attribut eines
würdigen und kräftigen Vertrags, eine eigenthümliche Art von Martellato,
das jeden Ton accentuirt und im Recitativ der neunten Symphonie den Zu¬
hörer die einzelnen Töne wie ebensoviele Stößt einer Locomotive empfinden
ließ, wobei Hr. Dumont in der langen Phrase ans freuten (vollem) sogar nach
n nicht blos absetzte, sondern pausirte und' erst nach den beiden Accorden
des Orchesters K eintreten ließ! Schlimmer noch, oder wenigstens ebenso schlimm
ist der Mangel an Geist und Geschmack im Vortrage Hrn. Dumouts, wie
dies besonders in der Arie aus der Schöpfung und den Liedern hervortrat.
Die Verbesserungen, welche Hr. Dumont Haydn gelegentlich zu Theil werden
ließ, waren um so störender, je bekannter das Musikstück ist, die übertriebene
Charakteristik der einzelnen Thiergattungen, das schmelzende Säuseln bei dem
weidenden Rind und Schaf, waren arge Verstöße gegen den guten Geschmack;
und so wurde auch Schuberts Wanderer in lauter einzelne contrastirende
Effecte zerspalten. Die Wahl des marsch nerschen Liedes war, abgesehen
von der trivialen Composition, schon des Tertes wegen ein Mißgriff. Ober
finden Sie es angemessen, wenn bei einem Musikfest ein Mann auf die
Tribune tritt und vor Tausenden singt:
Ja du bist mein, ja du bist mein!
Ich wills dem blauen Himmel sagen,
Ich wills der dunkeln Nacht vertrau».
Du sollst von Lieb und Lust umgeben,
Ganz fühlen, daß du glücklich bist.
schließ mich in deine Arme ein.
Ja du bist mein, und ewig mein!
Nehmen Sie es nicht als Mangel an Galanterie, daß ich zuletzt von den
Damen rede, allein leider waren die Sängerinnen dies Mal nicht der Glanz¬
punkt des Musikfestes. Frl. Tietjens zeichnet sich durch eine schöne, starke,
leicht ansprechende, namentlich auch in der Höhe ungemein wohlklingende
Stimme aus, so daß die materielle Wirkung aufs Ohr, da wo sie ihre Stimme
frei gebrauchen konnte, besonders in der. glänzenden und für sie günstig ge¬
legenen großen Arie im Elias, eine sehr günstige war. Leider war sie durch
eine Erkältung schon von Anfang an sehr gehindert und diese nahm im Ver¬
lauf des Festes so sehr zu, daß man namentlich am letzten Tage nur bedauern
konnte, daß sie ihrer Stimme solche Anstrengungen zumuthen mußte, ohne ein
befriedigendes Resultat zu erreichen/ Diese ungünstigen Verhältnisse lassen
über ihre Ausbildung als Sängerin vielleicht kein ganz sicheres Urtheil zu.
Es war auffallend, daß sie den Ton nicht selten quetschte, daß sie ihn nicht
fest einsetzte, sondern hinüberzog, daß sie falsch Athem holte, daß sie die Colo-
raturen nicht frei und sicher machte, sondern verwischte und im Tempo zu¬
nehmend beschleunigte, daß sie bei so mancher Gelegenheit, ja Nöthigung dazu
keinen Triller machte; .und ich suchte, diese Ausstellungen kommen nicht alle
auf Rechnung des Katarrhs: eine wahrhaft künstlerisch durchgebildete Sängerin
hätte anch unter ungünstigen Umständen ihre Kunst unzweifelhaft erkennen
lassen. Unverkennbar und nicht zu entschuldigen war es, daß Frl. Tietjens
ihre Partien, die noch dazu einem Genre angehören, das ihr fremd ist, nicht
vorher mit der gehörigen Sorgfalt einstudirt hatte. Man findet meistens, daß
gründlich gebildete Künstler mit dem größten Fleiß studiren, weil sie wissen,
was es sagen will, eine Partie ganz und gar zu beherrschen, und wie noth¬
wendig dies ist, um ein sicheres Gelingen zu verbürgen; wer sich ohne Noth
auf die Eingebung des Augenblicks verläßt, zeigt dadurch in der Regel auch,
daß er in seiner Ausbildung nicht' weit genug vorgeschritten ist, um die
Schwierigkeiten der Sache und sein eignes Können richtig zu ermessen. Frl.
TietjenS war in ihren Partien so wenig zu Hause, daß sie in den Proben
noch mit dem Notenlesen und dem Takt recht ernst.'es zu thun hatte und erst
anfangen mußte zu lernen; es versteht sich von selbst, daß unter solchen Um¬
ständen bei der Aufführung auch von. geistiger Auffassung und freier Dar¬
stellung nicht die Rede sein konnte, sondern daß»ti,e Sachen eben nur heraus¬
kamen, und wenn auch manche landläufige Sängereffecte von ihr nicht ver¬
fehlt wurden und ihre Wirkung beim Publicum nicht verfehlten, so spricht das
immer nur für einen Grad von Routine, welches einer Bühnensängerin eben
nicht hoch anzurechnen ist. Allein eine solche Nonchalance zeugt von wenig
Achtung für die Kunst, für das Publicum und den eignen Ruf, und diese
darf auch eine kaiserl. königliche Hofopernsängerin nicht ungestraft aus den
Augen setzen.
Frau Hoffbauer hat eine Altstimme von seltener Schönheit und na¬
mentlich sind die tiefen Töne der eigentlichen Altregion von außerordentlich
schönem Klang, auch die Höhe klingt gut; allein die verschiedenen Register
sind so verschiedenartig im Ton und es ist der Sängerin so wenig gelungen,
sie gegeneinander Auszugleichen und zu verschmelzen, daß auch der materielle
Eindruck kein gleichmäßiger war und man über den Genuß einzelner isolirter
schöner Klänge nicht hinauskam. Ebensowenig besitzt sie die geistige Herr¬
schaft über ihre Gesangsmittel und über das, was sie mit denselben erreichen
soll; sie wendet dieselben nur äußerlich, nach eingelernten Formeln an, ohne
selbstständig, von innen heraus aufzufassen und darzustellen. In der Scene
der Königin im zweiten Theil des Elias, deren ganze Wirkung auf dem
Ausdruck der leidenschaftlichen Aufregung beruht, die so deutlich dem Com-
ponisten vorgezeichnet ist, wurde dieser seelenlose, marionettenartige Vertrag,
im hohen Grade peinlich, um so mehr, als er mit der schonen Stimme so
sehr im Widerspruch stand.
Die übrigen Solisten, ohne durch ihre Leistungen hervorzuragen, füllten
ihren Platz aus; die Arie des Knaben im Elias wurde recht gut und klar
vorgetragen. Die kleinen Ensemblesätze kommen grade bei solchen Gelegen¬
heiten oft zu kurz, weil es im Gedränge der Zeit nicht immer möglich ist, Sorg¬
falt auf die Auswahl solcher Stimmen zu wenden, die zueinander passen
und durch ihr Zusammenwirken erst den rechten Effect hervorbringen; durch
die Ungleichartigkeit der Stimmen verlor namentlich das Terzett für Frauen¬
stimmen im Elias sehr an seiner schönen Wirkung.
Die Charakteristik der Sänger hat mich den historischen Gang eines Be¬
richts unterbrechen lassen; ich gehe zum zweiten Concert über. Das Haupt¬
stück desselben, und in - mancher Beziehung die Kronx des Festes war die
neunte Symphonie. Diese ist an den rheinischen Musikfcsten so oft auf¬
geführt worden und auch außerdem, wo man über bedeutende Kräfte zu ver¬
fügen hat, z. B. in Köln, so viel zu Gehör gebracht, daß das mächtige Werk,
das anderswo noch ein Gegenstand scheuen Staunens ist, hier bei Ausfüh¬
renden und Zuhörern ganz eingebürgert ist. Offenbar machte auch die Sym¬
phonie bei der Aufführung den lebhaftesten und tiefsten Eindruck auf das
Publicum, so wie man auch «sonst wahrnehmen konnte, daß sie das Interesse
der Leute am meisten beschäftigte und als die bedeutendste Nummer des ge-
sammten Programms angesehen wurde. Nur unter dieser Voraussetzung ist
eine befriedigende Aufführung derselben mit solchen Massen bei so wenigen
Proben denkbar, allein-es bleibt kein geringes Verdienst deS Dirigenten, die¬
selben zu organisiren und geistig zu beleben. Wenn ich den Wunsch abrechne,
daß das Tempo des ersten Satzes, um den Charakter, der festen Entschlossen¬
heit und energischen Willenskraft ebensowol als der zarten, schmerzlichen
Wehmuth klarer und bestimmter zur Geltung zu bringen, etwas hätte ermäßigt
werden mögen, so war die Aufführung der drei ersten Sätze ganz vortrefflich
und von wunderbarer Wirkung. Namentlich das Adagio, diese Krone deutscher
JnstnimentalMusik, gelang unübertrefflich und in der für die Blasinstrumente
gefährlichen Stelle, welche schon manches Orchester zu Fall gebracht hat,
überwand der Hornist Hr> Justus nicht allein siegreich alle Schwierigkeiten,
sondern das Ganze wurde mit einer Sicherheit, mit einem weichen Schmelz
zur Darstellung gebracht, daß die Wirkung bezaubernd war. Das vollständige
Gelingen des letzte» Satzes liegt außer jeder Berechnung, eine durchaus
wohlthuende Wirkung wird überhaupt nicht zu.erreichen sein. Die Solo¬
stimmen reichten nicht aus, weder in Hinsicht der Stimmmittel noch der freien
Auffassung, und man muß sie angesichts der unermeßlichen Schwierigkeiten —
obwol diese allerdings zu lösen sind — für'entschuldigt erklären. Auch der,
Chor kam trotz seiner großen Masse nicht in der Art zur Geltung, wie man
es erwarten mochte; daß die übertriebene Zumuthung, welche Beethoven durch
die fast unausgesetzte hohe Lage den Singstimmen macht, daran den wich¬
tigsten Antheil hatte, wurde besonders durch die Stellen klar, in welchen die
naturgemäße Lage den Singstimmen gestattete, sich zu entfalten, deren Wir¬
kung denn auch außerordentlich schön und großartig war. '
Man pflegt auf den Musikfesten ein bedeutendes Werk für Chorgesang
der älteren Zeit und eins aus neuerer Zeit aufzuführen. Neben der neunten
Symphonie konnte nur ein Oratorium von mäßigem Umfang ausgeführt wer¬
den und man hatte deshalb Handels Aleran derfest gewählt, das um einige
Arien gekürzt war; auch war die entsetzliche ramlersche Uebersetzung über¬
arbeitet - sür die Chöre freilich nur im Textbuch, weil man 'die zahlreichen
Chorstimmen nicht mehr hatte verbessern können. Die Aufführung gelang
sehr gut, namentlich in den Chören; den Arien merkte man freilich vielfach
an, daß sie auf eine Virtuosität und eine Art des künstlerischen Vortrags be¬
regnet sind, welche jetzt selten zu finden ist und ohne welche sie zum Theil un¬
lebendig und formelhaft erscheinen. Die beiden Baßarien aber, so wie das
„typische Brautlied" und die Sopranarie „Verlassen an des Grabes
Rand" sind von einer unvergänglichen poetischen Kraft, und die Chöre
haben den mächtigen Schule, in dem noch niemand Händel nachgekommen
ist. Wie wohlthuend war es auch hier vie volle Tonmasse der Singstimmen,
durch vie einfache Behandlung des Orchesters gehoben und nicht beeinträch-
tigt auf sich wirken zu lassen.
Bei den Dimensionen dieser Concerte hatte man durch die Abkürzung des
Aleranverfestes noch Raum für eine Gesangöcomposilivn gewonnen und Schu¬
manns Adventölied gewählt. , Manche hätten, wie ich hörte, sein Neu¬
jahrslied vorgezogen, das mir nicht bekannt ist; allein die abgeneigten Urtheile,
welche man über das Adventslied vernahm, scheinen mir nicht ganz gerecht.
Das Werk enthält namentlich in seinem ersten Theil große Schönheiten, ist
innig und zart, . ohne irgend weichlich zu werden und vollkommen klar und
leicht faßlich; dem Schlußchor möchte man wol mehr Concentration und
Steigerung der Kraft wünschen, allein wenn die Wirkung vefselben auch nicht
mächtig und überwältigend ist, so schließt er doch in würdiger Weise die
Stimmung ab, welche sich dem Ton des Ganzen gemäß auch hier nicht zum
höchsten, Schwunge erheben konnte.
Eingeleitet wurde dieses Concert durch Cherubinis Ouvertüre zu den
Abenceragen. Sie wissen, mit welcher Virtuosität diese Ouvertüre in Leipzig
gespielt wurde und mit wie besonderer Vorliebe Rietz dieselbe, wie überhaup
die cherubinischen Ouvertüren bis zur saubersten Feinheit der Ausführung
einstudirt. Es konnte wol gewagt erscheinen, dasselbe mit einem so massen¬
haften Orchester zu versuchen, allein es gelang vollständig. Im rapidesten
Tempo wurde die Ouvertüre mit ebenso viel Feuer als Feinheit vorgetragen,
und das lang anhaltende Pianisstmo jener wunderbaren Stellen, auf denen
man -wie auf einer spiegelglatten Eisfläche fortgleitet, übte bei der intensiven
Fülle des Tons einen zauberhaften Reiz aus. Es war ein Virtuosenstück
des Orchesters vom ersten Rang und bester Wirkung. Auch die Ouvertüre
zur Zauberflöte im dritten Concerte wurde vortrefflich ausgeführt, nur wäre
für diese ein etwas mäßigeres Tempo erwünscht gewesen. Es kam freilich
alles heraus, auch mit der richtigen Betonung und Nuaucirung und die
Bravour des Orchesters bewährte sich von neuem glänzend; allein der Cha¬
rakter der Würde, den dieses wundervolle Musikstück bei aller heiteren Leben¬
digkeit hat, wird doch durch übergroße Schnelligkeit unfehlbar beeinträchtigt
und namentlich manche Stellen der Blasinstrumente verlieren an feiner und
edler Wirkung.
Gegen die Gewohnheit ließ Rietz gar keine seiner Compositionen auf¬
führen, obgleich man namentlich seine letzte Symphonie, die mit so großem
Beifall aufgenommen ist, gewiß gern gehört hätte. Vermuthlich wollte er
durch sein Beispiel zeigen, daß es nicht als eine unabwendbare Nothwendigkeit
gelten dürfe, bei jedem Musikfeste Compositionen deS Dirigenten aufzuführen,
und dieser ehrenwerthen Gesinnung kann niemand seine Achtung versagen.
Vielleicht wäre es nicht unangemessen gewesen, wenn Herr Musikdirektor
Tausch sich gesägt hätte, daß -noch viel weniger Rücksichten einer localen
Courtoisie auf die Wahl der aufzuführenden Musikstücke Einfluß üben dür¬
fen. Seine Ouvertüre in l.!in<>11, mit welcher das Concert eröffnet wurde,
legt höchstens von einem gewissen Geschick Zeugniß ab, nicht ohne starke Re¬
miniscenzen ein Musikstück zu Stande zu bringen, das durch angemessene Jn¬
strumentation recht gut klingt, aber eine eigenthümliche PcoductionSkrafl ver¬
räth sie so wenig als geistreiche Faclur. Immerhin mag sie ihren Platz neben
anderen Ouvertüren behaupten, allein die Auszeichnung, bei einem Feste der
Art mit solchen Mitteln, vor einem solchen Publicum aufgeführt zu werden,
müßte billig nur Werken von unzweifelhaft hervorragender Bedeutung zu
Theil werden.
Dieses dritte oder sogenannte Künstlerconcert der Musikfeste gibt überhaupt
noch zu manchen Wünschen Veranlassung, die hoffentlich nicht blos fromme
bleiben werden. Ursprünglich wurde es wol als eine Art von Zugabe zu dem
eigentlichen Musikfeste betrachtet, um die einmal versammelten Kräfte so viel wie
möglich zu nutzen, wobei dermale doppelte Rücksicht eintrat, daß dies Concert nicht
viel Zeit zum Einstudiren in Anspruch nehmen durfte, die den Hauptaufführungen
nicht verkürzt werden konnte, und daß den Virtuosen Gelegenheit gegeben
werden sollte, sich für die Opfer zu entschädigen, welche sie der classischen
Musik gebracht hatten. Beide Rücksichten sind wohl berechtigt; allein jetzt,
wo die Musikfeste eine solche Bedeutung erlangt haben, wäre es sehr der Mühe
werth, auch das dritte Concert auf eine würdigere Stufe zu erheben. V^r
allen Dingen wird es dann nöthig sein, dasselbe nicht zu sehr dem Zufall des
letzten Augenblicks zu überlassen, sondern zur rechten Zeit mit Berücksichtigung
der gewonnenen Kräfte ein interessantes und bedeutendes Programm zu ent¬
werfen, für dessen Ausführung dann auch im voraus studirt und geübt werden
kann. Es scheint ferner nicht nöthig, daß jeder Sänger und jede Sängerin
womöglich zweimal auftrete, so wenig als daß jedes Mal mehre Jnstrumenta-
listen sich hören lassen. Hierüber darf nur der Umstand entscheiden, ob ein
günstiges Geschick das wahrhaft Treffliche und Ausgezeichnete dem Publicum
vorzuführen gestattet. Wenn in dieser Hinsicht eine weise Beschränkung ein¬
tritt, so'gewinnt man Raum für das Bedeutende. Es ist sehr zu wünschen,
daß ein so vortreffliches Orchester nicht regelmäßig auf zwei Ouvertüren be¬
schränkt werde, sondern womöglich eine Symphonie zur Aufführung komme.
Die meisten Symphonien, welche für ein solches Fest in Frage kommen, sind
jetzt so allgemein bekannt, daß, zumal wenn rechtzeitig die.aufzuführenden an¬
gezeigt werden, jedes Orchestermitglieb damit bekannt und der Aufführung vor¬
gearbeitet sein kann. Dabei würde auch der Vortheil erreicht, daß manche
Symphonien, die jetzt, weil sie zu kurz ober zu leicht erscheinen, ausgeschlossen
sind, namentlich havbnsche und mvzarlsche, eben dieser Eigenschaften wegen
als vorzüglich passend sich erweisen und eine willkommene Bereicherung des
Repertoirs abgeben würden. Dann wäre es auch möglich, den herrlichen Chor,
den man nicht, ohne Bedauern den ganzen Abend müßig auf seinen Plätzen
dasitzen sieht, wieder zu verwenden. .Schon jetzt ist es Sitte, zum Schluß
einen bedeutenden Chor ans einem der Oratorien zu wiederholen, nicht selten
wird es sich treffen, baß mehr als ein Chor zu solcher Wiederholung geeignet
ist; auch ist es bei der Continuität der Musikfeste sehr wohl denkbar, daß ge¬
wisse bedeutende Chöre gewissermaßen stabil, in allen Gesangvereinen so bekannt
uno burchgeübt werden, baß man sie gemeinsam auch ohne viel Proben wird
ausführen können. Um nur ein Beispiel zu nennen, so ist das Hallelujah
aus dem Messias, mit welchem das vorige Musikfest so schön schloß, von
der Art, daß man sich immer wieder von neuem freuen würde, es in gran¬
dioser Weise aufgeführt zu hören; und sicherlich gibt es auch noch andere
Chöre, welche sich dazu eignen. Es würde dann immer für die eigentlichen
Solovorträge noch Raum genug bleiben, ja sie würden dadurch gewinnen,
weil eine Abwechselung solcher Art die Aufmerksamkeit frischer erhallen würde,
die durch die Monotonie der jetzt üblichen Programme bald abgespannt wird. Die
Solovorträge müßten aber auch mit Sorgfalt gewählt werden, daß nicht allein
das Nichtige und Unkünstlerische schlechthin ausgeschlossen bliebe, sondern, nicht
minder als die Individualität der Künstler, auch die Eigenthümlichkeit eines großen
Festes ins Auge gefaßt würde. Vor allen Dingen müßte auch hier das Zu¬
sammenwirken so bedeutender Kräfte, wie sie selten vereint sind, und so viel wie
irgend möglich die Aufführung größerer Ensemblesätze erstrebt werden, welche
schon an sich meistens von bedeutenderem Kunstwerth, eine um so schönere
Zierde dieser Musikfeste ausmachen würden, je seltener eine von allen Seiten
gelungene Ausführung mehrstimmiger Solosätze zu erreichen ist. Hier ist noch
ein weites Feld geöffnet und ein würdiges Ziel aufgesteckt für diejenigen, welche
sich um die Weiterbildung der Musikfeste ein wahres Verdienst erwerben wollen.
Was die Wahl der Solovorträge anlangt, so gaben dieselben, was ihren
künstlerischen Werth an sich anlangt, keinen Grund zu Ausstellungen. Nur
dagegen muß ich meine Bedenken aussprechen, daß der Vortrag von Liedern
selbst auf den Musikfesten überhandnehme, wohin sie doch entschieden nicht
gehören. Dies Mal sang Herr Schneider den Liederkranz von Beethoven,
Herr Dumont-Fineö zwei, Herr Stockhausen drei Lieder. Die erste Be¬
dingung jeder künstlerischen Wirkung ist jedoch, daß zwischen Zweck und Mittel
ein richtiges Verhältniß obwalte, und Liever mit Klavierbegleitung sind gewiß
nicht ein Maßstab eines großen Musikfestes. Die Lieder von Stockhausen waren
in ihrer Art einzig und enlhusiaömirten das Publieum mit vollem Recht. Den¬
noch möchte ich um des Ganzen willen wünschen, er hätte dort keine gesungen^
denn ein einzelner großer Genuß kann den Nachtheil nicht ersetzen, welchen
die unvermeidliche Nachfolge derer verursacht, welche nicht pures geniale Lei¬
stungen berufen sind, eine Ausnahme von der Regel zu machen. Frl. Tiel-
jenö allein war der alten Sitte treu geblieben und hatte zlvei große Arien,
aus der Entführung („Martern aller Arten") und aus Fidelio („Ab¬
scheulicher!") gewählt, eine Wahl, die man nur loben konnte.
Die Herren Tausch, Laub und Grützmacher hatten sich vereinigt zu
Beethovens Eoncert für Pianoforte, Violine und Violoncello. Die Wahl
eines natürlich nur selten gehörten Werks, das für viele neu und interessant
sein mußte, ist sehr anerkenne.öwerth, um so mehr, als sie nicht ohne Nesigna-
lion der ausübenden Künstler geschehen konnte. Denn es läßt sich nicht leug¬
nen, daß dies Concert in den ersten beiden Sätzen wenig bedeutend ist und
selten sich zu beethovenschem Schwung «erhebt, nur die Polonaise — die, auch
im vierhändigen.Arrangement sehr populär geworden ist — zeichnet sich durch
Originalität und Anmuth aus. Dazu kommt aber, daß das ganze Concert
für keins der Instrumente dankbar ist, am wenigsten sür die beiden Saiten¬
instrumente, und namentlich ist das Violoncell durchgehends in /o hoher Lage
gehalten, daß die Schwierigkeiten mit der Wirkung in umgekehrtem Verhältniß
stehen; es ist unbegreiflich, was für eigenthümliche Umstände diese Schreibart
veranlaßt haben können. Es war daher namentlich von Herrn Grützmacher
eine anerkennenswerthe Aufopferung, daß er, um das wenig gespickte Concert
zu Gehör zu bringen, auf eigentlichen Effect seines Spiels beim Publicum ver¬
zichtete; er konnte es in dem Bewußtsein, daß sein Ansehen als Virtuos bei
demselben fest gegründet sei. Herr Laub erholte sich nachher an dem Concert
von Mendelssohn, das er in jeder Hinsicht, was Ton, Fertigkeit, Vortrag
anlangte, schön und edel vortrug und wohlverdienten enthusiastischen Beifall
errang.
Zum Beschluß wurde, wie schon gesagt, der letzte Chor aus dem ersten
Theil des Elias wiederholt. Daß derselbe nach so langer und verschieden¬
artiger Aufregung und Abspannung dieses Abends noch eine durchschlagende
Wirkung machte, so daß man den vollen Eindruck der Großartigkeit des Festes
hinwegnahm, das war das beste Zeugniß sür die Komposition und die Aus¬
führung. Und wie billig brach der Jubel der erhöheten Stimmung in lauten
Beifall aus, fröhliches Tuschblasen und ein Regen von Blumen gaben Rietz
deutlich zu erkennen, daß man dankbar fühlte, wem man vor allem diesen
schönen Genuß zu danken hatte.
Die Grenzboten führten ihren Lesern unlängst in „Bildern aus der
deutschen Vergangenheit" auch das Werbewesen des vongen Jahrhunderts
vor und schließen in Ur. 3. des diesjährigen Januarheftes ein solches Bild
mit den Worten: „wie die Gewaltthätigkeit der Staatsraison vor hundert
Jahren mit dem Leben, der Freiheit und dem Lebensglück der Einzelne» ge¬
schaltet hat."
Aehnliches erlebt man hier in der Schweiz noch alle Tage. — Es ist
weltbekannt, daß die Schweiz in früherer Zeit ein ziemliches Contingent Sol-
baten für gutes Geld nach Holland lieferte, und welche Rolle die Schweizer-
regimenter bei den französischen Königen spielten, haben wir wol nicht nöthig,
hier des Weitern/ auseinanderzusetzen, — sie ist ebenso bekannt und sogar
weltgeschichtlich. Diese Wirthschaft und Seelenverkäuferei nach jenen Ländern
hat nun allerdings aufgehört, aber darum noch nicht das ganze Werbgcwerk
in der Schweiz. Es gilt immer noch das alte Sprichwort: „Der Schweizer
muß ein Loch haben, wo er hinaus kann." Das macht die alte Gewohnheit.
Der Weg nach Holland und Frankreich ist nun zwar abgeschnitten; damit ist
aber noch nicht das Loch verstopft, durch das der Schweizer, mit oder ohne
Gewalt, hinaus zu kommen sucht; es hat sich nur nach Süden, nach
Rom und Neapel gewandt. Dort suchen nun die armen Geldgierigen,
oder auch Verzweifelten und Uebermüthigen, oder wie sie alle genannt werden
mögen, was sie in der Heimath nicht zu finden glauben: sie lassen sich
durch das trügerische Geld blenden und noch immer zu fremdem Kriegsdienst
anwerben, und gehen' dadurch einem erbärmlichen Leben, einem förmlichen
Sklavenleben entgegen, das man ihnen allerdings nicht vorher offenbart, im
Gegentheil im rosigsten Lichte darstellt, das aber hinlänglich bekannt ist; um
jeden vor einem solchen Schritt zu warnen.
Es ist zwar von Bundeswegen verboten, in der Schweiz für fremden
Kriegsdienst zu werben; dessenungeachtet haben wir aber gesehen, wie es bei
Bildung der französischen und englischen Schweizerlegion für die Krim zuging:
die Schweizeroffiziere gingen voraus und die Soldaten folgten ihnen, ja
ganze Wachtposten suchten in ihrem Kriegermuth mit' Hinterlassung ihrer
Waffen, das Weite. Und was vermochte die Leute zu solchem Schritt? das
Geld! — Auch bot sich rund um die Schweiz herum Gelegenheit genug dar,
die wanderlustigen Vögel hinauszutreiben und sie gefahrlos zu entführen.
Waren sie einmal in den Händen der Werber, dann konnte weder der Bund,
noch irgend jemand ihrem Weitertransport ein Hinderniß entgegensetzen, ge¬
schah es ja doch mit Bewilligung der Betreffenden!
Dieses Werbwesen oder vielmehr Unwesen wird nun noch jeden Tag
und mitten in der Schweiz betrieben, und mit einer solchen Keckheit, daß es
in Erstaunen setzen muß, wie unter den Augen der Behörden so etwas ge-
schehen^-kann, namentlich da das Werben sür fremden Kriegsdienst, wie gesagt,
von Bundes wegen gesetzlich verboten ist. Und-auf welche Weise verfährt
man bei diesem Werben? Es ist unerhört für unsre Zeit! Gelegentlich sieht
man sich die Burschen an, kundschaftet sie aus, lockt sie baun ins Wirthshaus,
wo es nicht an Wein und sonstigem Geiste dieser Art fehlt, uno benebelt port
ihre fünf Sinne. So weit gebracht, sucht man ihnen das Soldatenleben in
Neapel oder Rom so herrlich und in Freuden vorzumalen, daß die armen
Tröpfe in ihrem Taumel darüber in Enthusiasmus gerathen und auf den
Handel eingehen. So lange die Leute aber noch ein klein wenig bei Verstände
sind, läßt sich noch keine Gewalt anwenden, das wissen die Werber ganz
gut; deshalb muß das Glas noch vollends das Siegel drauf drücken. Fort
läßt man einen um keinen Preis mehr,, denn es könnte am Morgen, wenn
der Rausch verschlafen ist, die Reue kommen und dann wäre Mühe und Geld
umsonst gewesen. Man versichert sich ihrer also, so gut man kann, und am
Morgen, wenn die am Abend Benebelten erwachen, finden sie sich gebunden
auf dem nächtlichen Strohlager. Ohne Säumen oder Aufsehn zu erregen,
gehts dann fort über die Grenze dem Depot zu, wo schon mehr solcher armen
Sünder bereit liegen, um, wenn der Trupp vollzählig ist, sorttrcmsportirt zu
werden.
So etwas passirt in unsrer Zeit, mitten im Lande unter dem Auge des
Gesetzes und bei der persönlichen Freiheitsliebe der Schweiz.
Andere haben wieder andere Manieren,, um ihre Leute zu kapern. Daß
um die Schweiz herum hie und da feststehende Werbedepotö vorhanden sind,
kann man leider nicht wehren; ebenso nicht, daß die Werber die auSgefeimtesten
Kniffe anwenden, um neben den Nerzweiflungsvollcn und Leichtsinnigen auch
die unschuldigsten Opfer ins Garn zu kriegen, — denn nicht alle braucht man
zu benebeln und zu binden, um sie fortschaffen zu können, viele laufen auch
freiwillig ihrem Schicksal in die Hände. So liest man z. B. hie und da in
Schweizerblättern Annoncen folgender Art: „Ein Portemonnaie mit etwas
Geld ist gefunden und abzuholen bei Schnewelin, königlich neapolitanischen
Werbesergeant in Gailingcn." Oder auch: „Ein Schlitten ist zu verkaufen."».
Wo Gailingen liegt, weiß jeder Schweizer, und ein stärkerer Wink ist auch
sür die Neapellustigen nicht nöthig. — Ist nun so ein Vogel eingefangen, so
ist es nicht selten, daß die Neue auf dem Fuße^ folgt und der Eingefangene
wieder das Weite sucht. Um nun nicht vergebliche Mühe gehabt zu haben, wird
Jagd gemacht, und auf einer solchen Jagd trifft sichs dann manchmal, daß,
wie es unlängst erst wieder dem genannten Schnewelin begegnete, statt deö
Vogels der Jäger eingefangen und auf einige Wochen in Gewahrsam gebracht
wird. Mehr kann freilich nicht geschehen und man muß den geheimen Feind
des Landes ebenso wieder laufen lassen, wie man ihn eingefangen hat.
Die einzelnen Werber, die sich indessen auch ungescheut in der Schweiz
herumtreiben und ihre Geschäfte machen, ohne daß.man viel davon merkt, —
denn man kann ihnen so lange nichts anhaben, als sie nicht bei ihrem Hand¬
werk ertappt werden, — liefern ihre, Opfer an die Hauptdepots, z. B. nach
Lindau, von wo aus sie dann weiter transportirt werden. Wie es von da
an mit den verkauften Seelen zugeht, darüber wollen wir eine solche verkaufte
Seele selbst reden lassen:
„Wir wurden von unserm Werber zu dein rothhaarigen, dickbäuchigen
Hauptmann......nach Lindau gebracht, der bei seinem schändlichen Ge¬
werbe sich von dem Bankrott wieder erholt hat, um deswillen er aus der Schweiz
hat weichen müssen. Der wußte das lustige Leben in Neapel vollends nicht
genug zu rühmen und bald befanden wir uns auf dem Marsche nach Italien.
Aber je weiter wir uns von dem Vaterlande entfernten, desto schwerer wurde
es uns ums Herz.
In dem Depot der Einschiffung zu Livorno wurde uns zuerst der Staar
gestochen. Man hatte uns am rechten Fleck. Jetzt hieß es: Stöcke abgegeben?
Knebelbärte herunter! Polkahaare geschnitten! Ein winddürrer Wachtmeister las
uns in halbem Welsch allerhand erbauliche Sachen herunter vom Arrest bei
Wasser und Brot, vom Krummschließen in Eisen und von körperlicher Züch¬
tigung, will sagen: vom Prügeln. Item, daß wir jetzt keine Baue«, und
Republikaner mehr seien, sondern Soldaten Sr. Majestät des Königs von
Neapel, und also niemandem, als ihm und unsern Obern zu gehorchen
hätten.
Da gabs lange Gesichter und ich wäre gern mit der Hälfte meiner Ka¬
meraden wieder heimgegangen, wenn uns keiye Riegel vorgeschoben worden
wären. Wir mußten an Bord des Dampfers Vesuv und nach drei Tagen
und drei Nächten kamen wir bei Tagesanbruch in Neapel an. Gegen Mittag
verließen wir den Dampfer und sagten der elenden Schiffskost, die in halb-
verschimmeltem Zwieback, in Kohl und Kabis mit erschrecklich vieler Brühe
und erbärmlichen Wein bestand, gern Valet und zehrten wieder einmal im
Hafen von unserm Geld, aber dafür gut und nahrhaft.
Die Eisenbahn brachte uns in die Nähe der Kaserne, wo uns zahlreiche
Kameradschaft empfing, von denen aber schon manche bitter klagten über
schnöde Mißhandlungen. Wir selbst wurden erst nach Verfluß von acht Tagen
eingekleidet, was uns sehr erwünscht war. Denn einer unserer Offiziere, der
Bündner Salis, gab namentlich denjenigen von uns, die blaue Blousen und
weiße Hüte trugen, nur den zärtlichen Namen „Freischärlerhunde", die er
,,rangschireu" wolle, daß es eine Art habe.
Jetzt gings ans Ererciren. Appell wurde am Morgen noch bei Lichte ge¬
halten. Unsere Trillmeister. Wachtmeister und Korporäle einiger Schweizer-
regimenter begrüßten uns mit den schrecklichsten Flüchen aus dem Wörterbuch
des Teufels selbst. Täglich wurden sechs bis sieben Stunden erercirt und
auf dem Posten an der iralienischen Sonne gebraten. Nach der Ablösung
muß geputzt werden. Selten hat man ein paar Stunden frei und sobald die
Sonne untergeht, ist großer Appell mit^Abendgebet und darauf ist man in
die Kaserne eingeschlossen, wenns kühl ist und ganz Neapel spazirt und man
sich von der Hitze des Tages erholen könnte. — Anfangs hab ich wenig
schlafen können. Die Kasernen sind in alten Klöstern, die Zimmer niedrig
und dunkel und Nachts besuchen einen zwar nicht die Geister der Mönche,
aber andre Plagegeister, nämlich „die duzwitt niarschir und die langsam
marschir", wie unser alter Wachtmeister von den Flöhen und Läusen sagte.
Hat man eines Tages etliche Stunden frei und geht in Neapel spaziren, so
kann man nicht mit den Leuten diöcouriren, weil niemand deutsch versteht oder
verstehen will, und man kanns den Bürgern anmerken, wie sie uns verachten,
hassen und für Blutsauger und Vergebensfresser ansehen, die der König an¬
gestellt und mit schwerem Gelde besolde, damit sie die Freiheit unterdrücken.
Da ists kein Wunder, daß viele Soldaten sich dem schlechten Leben ergeben,
oder vor Heimweh sterben und desertiren. Das geräth aber unter hundert
Fällen einmal, und deren, die man wieder kriegt, wartet die Galeere.
Es sind jetzt vier Schweizerregimenter und ein Jägerbataillon im König¬
reich Neapel. Ein Regiment ist drüben in Palermo, die übrigen liegen in
Neapel und der Umgegend. Unter uns Schweizern sind viele Deutsche, ehe¬
malige Freischärler und dergleichen Leute; auch Handswcrksburschen', die von
den Werbern durch schöne Versprechungen über den Löffel barbiert worden
sind. Und was für schlechte Leute sind unter den Soldaten! Kerls, Gott ver¬
zeih mirs, von denen man glaubt, sie seien dem Henker entlaufen. Bürschlein,
die daheim meisterlosig waren und vor Wollust nicht wußten, was anfangen.
Ich bin nicht verwöhnt worden beim Schlempenbaner und hab bei der Mutter
selig oft Sparsich und Mangelkraut gehabt, aber ich hab doch schon oft im
Stillen gedacht, wenn ich nur wieder daheim wäre. Denn was die Kost be¬
trifft, so bekamen wir zweimal im Tag zu essen. Morgens acht Uhr wurde ein
Getöns aufgetragen, das aus Suppe, Fleisch und verschiedenem Gemüse in
einer Schüssel zusammen bestand. Nachmittags wurden Bohnen und Paften
oder Paften und Bohnen ausgestellt. Paften sind eine Art Kröpfli, nur
schwerer und unverdaulicher. Aber aus lauter Sorgfalt für unsere Mägen
war für ein gehöriges Quantum Brühe gesorgt, und manchmal wäre ein
Taucher nöthig gewesen, um das wenige Dicke aus der Tiefe herauszuholen.
Das Beste hatten am Morgen die drei bis vier Köche, der Ordinärchef, Feld-
weibel, Fouriere und übrigen Unteroffiziere, die nichts in die Soldatenmenage
legen, in ihre hungrigen Mägen wandern lassen. Das Brot ist schlecht und
das Wasser nicht gut. Darum waren wir alle recht herzlich' froh, als uns
der Nest des Handgeldes ausbezahlt wurde, besonders da wir so lange darauf
hatten warten müssen. , ».
Man kann sich gar nicht denken, wie großartig die Schelmerei in diesen
Schweizerregimentern betrieben wirb, und es drückt einem fast das Herz ab,
wenn man einen Blick in diesen unsaubern Hafen wirft. Wir wollen nur
einige von den himmelschreienden Ungerechtigkeiten aufdecken. Der Mann
«hält vom König 14 Gran Sold. Hiervon fallen 6^ Gran ins Ordinäre,
3Vs Gran in die Masse und i> Gran auf die Hand; dazu alle 2 Tage ein
Brötchen, will sagen: ein Grüschweggen. Von dem ins Ordinäre kommenden
Geld wird nun ein Theil regelmäßig unterschlagen und daraus, so wie von
den 1ö Gran Zulage, die der König monatlich für den Mann bezahlt, werden
die Cigarren und die flotten Abendsitze bestritten, wobei die Feldweibels und
Fouriere sich über die geschorenen Schäflein lustig machen. Sogar dem Profos
bleibt das Oel, das er für die Abendstunden in die Lampen gießen soll, an
den Fingern kleben.
Natürlich bleiben auch manche der Herren Offiziere hierbei nicht zurück
und von den -112 Gulden, die jeder vom König erhalten soll, wenn er die
zweite Kapitulation eingeht, ziehen diese Herren für ihre Beutel 40 Gulden
ab. Darum bieten sie auch alles aus, die armen Soldaten nach Ablauf der
ersten Kapitulation zu einer zweiten zu bewegen, was ihnen leider, trotz der
Qualen und Plagen der Soldaten, nur zu oft gelingt.
Kann nun einer diesen Ungerechtigkeiten nicht zusehen und es geht ihm
endlich der Mund über, so gehts ihm schlecht. Fürs erste bekommt er scharfen
Arrest, und dann läßt man ihn tagelang in Eisen im Gefängniß liegen, wo
Läuse und Wanzen ihn fast auffressen, von dem Gestank und der feuchten
Lust nicht zu sprechen, die das Athmen zur Qual machen. Der gemeine Soldat
muß immer Unrecht haben und nach kurzer Verhandlung wird er in den Ka¬
sernenhof geführt, auf die lange Bank gefesselt und ihm nach Befund 2S, öO
bis -100 Stockprügel vom Profos aufgezählt.
Einmal haben einige um der erlittenen Betrügereien willen sogar Lust
bekommen, zu desertiren. Aber bald brachten sie die Gendarmen wieder zurück.
Monatelang schmachteten die Armen im Gefängniß; endlich sollten sie vom
Kriegsgericht ihr Urtheil empfangen. Unser Batallon wurde in ein Viereck
aufgestellt. -In der Mitte befand sich ein Tisch, an dem die Offiziere des
Kriegsgerichts Platz nahmen. Die Gefangenen würden unter Bedeckung der
Wachmannschaft und dem Schall eines unheimlichen, langsamen Marsches vor¬
geführt und dem Großrichter gegenübergestellt. Das Urtheil wurde verlesen
und lauiete auf mehrjährige Galeerenstrafe. Als sie die Uniformen mit den
roth und gelben SträflingStleiberu vertauscht hatten und ihnen ihre paar Hab-
seligkeiten in einem Bündel übergeben waren, wurden sie unter einem niever¬
schlagenden Galeerenmarsche an der Fronte hinuntergeführt und den am Ende
ausgestellten Gendarmen übergeben.
Bei großen Manövern giols auch große Entbehrungen, Hunger mit
Durst. Doch daran muß sich 0er Soldat gewöhnen. Aber man erlaubt sich
dabei auch noch Thätlichkeiten gegen den geplagten Mann. , So konnte z. B.
ein bejahrter Soldat wegen Unwohlseins seiner Compagnie nicht mehr solgen,
und blieb einige Schritte zurück. Da kommt der Felvweibel L----auf ihn
zu, schimpft ihn aus und schlüge ihn mit der Schuhspitze auf empfindliche Theile
des Leibes. Mit aller Anstrengung schleppt sich der Arme noch auf den Erer-
cirplatz und setzt sich dort erschöpft an einem Graben nieder. Abermals wird
er von dem Feldweibel mißhandelt. , Doch jetzt nahte sich ein Barmherziger
dem Elenden, nämlich der — Tod. Seine Kameraden machten dem Oberst¬
lieutenant von dem Vorgefallenen Anzeige, aber die Sache wurde veruischt
und blieb ununtersucht.
Gott möge jeden einen Schauder empfinden lassen, der an Neapel denkt,
um dort als Söldner die schönsten Jahre seines Lebens gründlich zu verpfu¬
schen. Lieber auf die mühsamste Weise gearbeitet im Vaterlande oder auswärts,
als die Schmach des Söldners tragen."
So weit die Klagetöne einer nach Neapel verkauften Seele.
Trotz aller dieser Erbärmlichkeiten, Mißhandlungen und Betrügereien,
denen die Verkauften ausgesetzt sind, und trotz dem, baß dies ziemlich jeder
in der Schweiz weiß, gelingt es den Seelenverkäufern doch fortwährend, ihre
Fänge zu machen'und ihre Opfer ungehindert fortzuschaffen. Denn daß die
Seelenverkäuferei fortgetrieben wird, beweist die fortwährende Ergänzung der
Schweizerregimenter in Neapel und Rom.
Den nach Rom Verkauften gehts um kein Haar besser — im Gegentheil,
sie scheinen noch schlimmer daran zu sein, als die in Neapel.
Ein Armer oder Unglücklicher kommt auf dem Dopot an und stellt sich
als Recrut, da begegnet ihm der Werbofsizier recht freundlich. Man steckt
reiches Futter an die Angelruthe — es beißen dann noch mehre an, und
ist der Transport vollzählig kein solcher zählt 20 Mann), so geht ein Werbe¬
sergeant als'Führer mit. Einzelne, die sichs haben reuen lassen, werden im
Zimmer eingesperrt, oder auch kurz ven Gendarmen übergeben und geschlossen
geführt. Der große Troß zieht leichtsinnig ab, singend und trinkend; aber
einmal auf italienischem Boden, kehrt sich der Wind: da wird den Recruten
erklärt, daß die Reise auf Kosten ihres Handgeldes geht. Auf elenden Karren
kommt der Transport nach Macerata, und zwar, weil der Sergeant eigen¬
mächtig gefahren ist, um 14 Tage zu früh. Endlich werden die Leute aufs
Q-uatieramt citirt, endlich sollen sie ihr Handgeld erhalten statt 30 Scudi
bekommt der eine fünf, der andere blos drei; denn da liegt der Conto für Reise,
Essen, und — unglaublich, aber wahr! — für Equipirung! — Aber auch
diese fünf Scudi gehören nicht ihnen: da kommt der Corpora! b'Escadre und zieht
Carotten (auf deutsch schmarotzt); dann der Sergeant der Section. — Geht
Vas Ererciren an, so haben die Leute um !i Uhr auf dem Platze zu sein.
Hier geht der Recrut nüchtern, wird gedreht, geschimpft, sogar mit dem Lad-
stock geschlagen; bis etwa um 9 Uhr dauert das Ererciren, dann bekommt
er eine Suppe und zum Glück noch eine Ration Brot, womit er feinen Hunger
stillt. Er putzt sich zum Appell, — das Putzzeug bestreitet er von seinen 11^
Centimes täglichen Sold. Um ein Uhr beginnt das Crerciren aufs neue bis
vier Uhr, wo eine noch viel schlechtere Suppe seiner wartet. Nun wird der
Junge mir hungrigem Magen aufs Piquet commandirt, und wirft sich um
Mitternacht erschöpft aus sein schlechtes Lager. Kälte und Wassertrinken machen
ihn bald fieberkrank; hat er eine gute Natur, so überwindet er, wenn nicht,
so geht er daraus. — Etwa einem ists auch zu bunt, er ladet sein Gewehr
— gute Nacht, Well! Morgens verscharrt man ihn auf einer Weide, daß er
sich trösten mag. — Stirbt ein Protestant, so hat er daS Nämliche zu er¬
warten. Wenn einer Scrupel hat, so wird die Arrestthüre ausgemacht. Macht
ein verstockter Kerl seinem Unmuthe Luft, so wirb die Bank in den Hof gestellt,
der Bursche darauf gelegt, und zwei Cvrporale schlagen, daß die Hosen in
Stücke fliegen, daß der Client Himmel und Menschen um Erbarmung anruft
und gewöhnlich ohnmächtig davon getragen wird.
Zu allem diesem kommt noch, daß der Soldat vom Volke verachtet und
verhöhnt ist.
Welche Stimmung unter den Truppen herrscht, begreif- jeder, nur die
Offiziere wollen es nicht begreisen. Diese, welche durch die Soldaten größten¬
teils ihre Existenz haben, sind noch so gut und verachten ihre Landsleute und
behandeln sie als Vagabonden oder gleich russischen Leibeignen. Und wer
sind diese Herren? — Es sind Söhnlein heruntergekommener Noblesse aus den
Urcantvnen — es sind Flüchtlinge des Sonderbundeö — es sind Anwerber,
welche dadurch, paß sie S0 Recruten stellten, Lieutenant — oder pures 100
Opfer — Hauptmann wurden. Sie kommen oftmals zerlumpt, ohne alle
Kenntnisse zum Regiment und sind das Gespötte der Unteroffiziere und Sol¬
daten, von denen der Dümmste mehr weiß, als sie. Um sich nun ein Ansehen
zu geben, fangen sie an, Strafen zu dictiren, die Soldaten zu cujoniren, und
haben sie ein wenig gelernt, so kennt ihre Arroganz keine Schranken mehr.
Dabei können die Herren mit ihrem'Solde nicht nach ihrer Art leben, deshalb
wird Geld eingesackt, wo es nur immer herzunehmen ist, und der arme Sol¬
dat muß sich diese Zwackerei gefallen lassen, er hungert und schweigt. — Wenn
einer vier Zähre gedient hal, kann er gehen, wenn er will, in einem zerris¬
senen Kaput, in allen schäbigen Hosen, mit dem Neisegelo bis an vie Lanves-
grenze. Von Ersparnis) zu rever, wäre die größte Lächerlichkeit. — Viele
werden aber aufs neue ,geeapert, entweder durch Wein oder durch List. —
Leider gelingt es nur zu of>,'so einen armen Teufel in sein überstandenes
trauriges Loos wieder zurückzuziehen. — Nach sechzehnjähriger Dienstzeit kommen
sie zu den Veteranen, und bekommen dann täglich zehn Centimes (3 kr.) Sand. —
Das Zerwürfniß zwischen England und Amerika ist seit unsrer Besprechung
dieser Frage durch zwei Ereignisse in ein neues Stadium getreten. Der eng¬
lische Gesandte Crampton in Washington hat seine Pässe bekommen und
„General" Walker, der Freibeuterhäuptling in Nicaragua, ist in der Person ^
seines Gesandten Padre Vigne vom Präsidenten anerkannt worden.
Die Frage, ob wir einen Krieg zwischen den beiden Mächten ha'ven werden,
ist dadurch noch nicht entschieden. Muß d-is englische Cabinet jetzt den ameri¬
kanischen Gesandten, Mr. Dallas, fortschicken? Wir glauben,daß keine Nöthigung
vorliegt. Jeder Regierung muß das Rechr zugestanden werden, einen Ge¬
sandten zu entlassen, welcher, sei es nun aus einer wirklichen oder eingebildeten
Ursache, dem Haupte dieser Negierung persönlich unangenehm wird. Mr.
Crampton befindet sich ohne seine Schuld in dieser Lage dem Präsidenten
gegenüber. Er hat sich das Mißfallen, dieses schwächsten aller bisherigen
Staatsoberhäupter Amerikas und der Großsprecher und Raufbolde in seiner
Umgebung zugezogen, und es ist ein Vortheil für ihn sowol als für England
und Amerika, wenn er sich aus einer Stellung zurückzieht, die er nicht länger
mit Nutzen ausfüllen kann. In Betreff des Mr. Dallas eristiren keine solchen
Empfindungen, und es würde zu bedauern sein, wenn das englische Cabinet
blos um Gleiches mit Gleichem zu vergelten den kleinlichen Trotz der Herren
in Washington nachahmen wollte. Großbritannien kann es in der Würde un-
bezweifelter Macht und unbefleckter Ehre sehr wohl mit ansehen, daß ihm von
drüben her eine Faust gemacht wird. Vielleicht ist der einzige Weg, auf
welchem Lord Clarendon dem amerikanischen Volke die Meinung des britischen
Cabinets in dieser rein persönlichen Frage andeuten kann, der/ daß er Mr.
Crampton eine wichtigere Mission überträgt, als die, welche er jetzt aufgeben
muß. Was aber auch geschehen möge in dieser Angelegenheit, so viel ist klar,
daß, so lange Mr. Pierce Präsident ist, England keinen Gesandten in Amerika
haben wird. >
Dennoch und trotz aller der Großsprechereien der amerikanischen Presse
glauben wir nicht an einen Krieg zwischen den beiden Nationen. Zunächst
deshalb nicht, weil England gerüstet und Amerika nicht gerüstet ist. Sodann
aber auch, weil in England die öffentliche Meinung entschieden gegen einen
solchen Kampf ist. Die Engländer zerfallen über jede Frage in Parteien.
In einem Punkte aber sind sie einig, in der Frage nach einem Kriege mit den
Vereinigten Staaten. Niemand wünscht ihn, jedermann verurtheilt ihn. Jeder
würde sich lieber dreimal so viel Unangenehmes von Amerika sagen und an¬
thun lassen als er von Nußland, Frankreich oder irgend welcher andern Macht
sich gefallen ließe. Niemand würde der erste sein wollen, der die Hand aufhöbe
gegen die Verwandten „jenseits des großen Wassers." Endlich''aber kann
grade im gegenwärtigen Augenblick den Amerikanern sehr wenig an einem
Kriege liegen, der ganz andre Dimensionen annehmen würde, als der letzte.
Die Nachrichten von Kansas, welche diese Woche eingetroffen sind, zeigen,
wie mächtig die Motive waren, welche die Politik Mr. Picrees gegenüber
dem Auslande bestimmten. Die Hoffnung, eine stürmische Begier nach Krieg
anzuregen und auf diese Weise die öffentliche Aufmerksamkeit von den Schand¬
thaten der Grenzleute in Missouri und der noch schmachvollern Handlungsweise
der Centralregierung, welche zu diesen Schandthaten die Hand bietet, ab¬
zulenken, hat unzweifelhaft den wesentlichsten, Theil der Beweggründe aus¬
gemacht, welche den Präsidenten veranlassen, einen Streit mit England vom
Zaune zu brechen.
Um zu verstehen, was jetzt in Kansas vorgeht, müssen wir einen Rück¬
blick aus die frühere Geschichte dieses Territoriums thun. Durch die so¬
genannte Nebraskaactc, welche im Jahr 18!>z vom Präsidenten unterzeichnet
wurde, wurde festgesetzt, daß fernerhin jeder neue Staat oder jedes Terri¬
torium durch seine eigne Gesetzgebung bestimmen sollte, ob er zu' den freien
oder zu den Sklavenstaaten gehören wolle — eine Frage, die früher dem
Congreß zur Entscheidung überlassen worden war. Auf Grund dieser Acte
sollte im März 18ö3 die Wahl einer gesetzgebenden Versammlung in Kansas
vorgenommen werden, und wenn die Entscheidung den wirklichen Einwohnern
des Territoriums überlassen worden wäre, so würden dies? sich ohne Zweifel
dahin erklärt haben, einen freien, nicht einen Sklavenstaat bilden zu wollen.
Dies aber waren die Sklavenhalter des benachbarten Missouri mit allen
Mitteln zu hindern entschlossen. Als der Wahltag kam, zogen starke Banden
von ihnen aufgewiegelten Gestndels bewaffnet mit Bowiemessern und coltschcn
Revolvern über die Grenze nach Kansas, trieben die Ansiedler, welche gegen
die Sklavenhalterpartci gestimmt haben würden, theils mit Gewalt, theils
durch Einschüchterung von den Wahlurnen weg und wählten dann
ihrerseits eine Anzahl Vertreter, wozu sie natürlich als Nichteingesessne
kein Recht hatten. Dieses ungesetzliche Parlament versammelte sich bald
nachher und beschloß eine Anzahl von Gesetzen zur Aufrechthaltung
der Sklaverei. Das Volk von Kansas protestirte gegen dieses unerhörte Vor-
haben und wählte, als jene Banden sich wieder entfernt, eine Gesetzgebung,
welche ihre wahre Meinung in Betreff der Sklavenfrage ausdrückte. Sie
wählten auch einen Delegaten in das Repräsentantenhaus der Kongresses,
und die Missourier wählten, indem sie nochmals einen bewaffneten Einfall in
das Gebiet unternahmen, ebenfalls einen Delegaten. Die Partei der Freiheit,
welche beinahe sämmtliche wirkliche Ansiedler des Territoriums umfaßte, ver-
langte durch ihren Vertreter Zulassung zum Congreß. Dieser jedoch konnte zu
keinem Entschluß kommen. Alles was er thun konnte war die Niedcrsetzung
einer Untersuchungscommission, welche im April dieses Jahres ihre Sitzungen
'in der Stadt Lawrence in Kansas begann. Die vor dieser Commission vor¬
gebrachten Beweise lassen keinen .Zweifel mehr zu, daß bei der Wahl vom
März die Eindringlinge von Missouri und nicht das wirkliche Volk von
Kansas gewählt haben. Sie zeigen unwidersprechlich, daß ein großer Theil
der Scheinlegislatur, welche jener bewaffnete Pöbel gewählt, und welche der
Präsident als „regelmäßig constituirte Behörde" anerkannt, nie im Territorium,
sondern stets in Missouri gewohnt hat.
Da die Sklavenhalter Missouris, welche ein scharfes Augenmerk auf die
Fortschritte der Untersuchung hatten, vor den überraschenden Aufschlüssen, die
von den Zeugen gegeben worden waren, erschracken, so beschlossen sie, ihre
Macht zu benutzen, um den Fortgang der Verhöre zu hindern. Nachdem sie
sich gewiß geworden, daß die schwachmütige Centralregierung in ihren: Be¬
streben, die Partei der Sklavenhalter in der Union um jeden Preis bei guter
Laune zu erhalten, bereit sei, ihnen in jeder Hinsicht den Rücken zu decken, be¬
gann sie ein vollständiges Schreckensregiment in Kansas einzuführen. Mehre
Monate hindurch sandten sie ihre bewaffneten Banden aus Missouri nach
dem Territorium, und diese begingen unter dem Vorwande, die von der Schein¬
legislatur beschlossenen Gesetze zum Vollzug zu bringen, allerlei Unthaten an
den friedlichen Ansiedlern Vor einigen Wochen ersuchten sie den Gouverneur
Hevder, ein Mitglied der Commission zu verhaften, indem sie angaben, er habe
sich gegen die gesetzliche Autorität aufgelehnt, in Wahrheit aber, weil sie da¬
durch die weitere Untersuchung zu hemmen glaubten. Dann aber neckten und
schreckten sie die freien Ansiedler auf jede mögliche Weise, indem sie die Hoff¬
nung hegten, daß sie sich auf diese Weise aus dem Territorium vertreiben
lassen würden.
Da die Antislaverie-Party in Kansas indeß bei ihren Grundsätzen be-
harrte, so wurden von Seiten der Gegner gewaltsamere Maßregeln ergriffen,
und es ist ein förmlicher Bürgerkrieg ausgebrochen. Am 21. Mai rückten
zwölfhundert Bewaffnete mit mehren Geschützen über die Grenzen von Missouri
und lagerten sich in der N'abe von Lawrence, dem Hauptquartier der Abolitio-
nisten. Sie gaben als Zweck ihres Erscheinens die Absicht an, mehre Perso¬
nen zu verhaften, welche gegen die von der Legislatur gegebenen Gesetze ge¬
handelt hätten. Am folgenden Tage zog ein Theil derselben in die Stadt,
und obwol nicht der Mindeste Widerstand geleistet worden, wurden zunächst das
Frenstatehotel, das Haus des Gouverneurs und zwei Druckereien niederge¬
brannt. Dann wurden zwei von den Häuptern der Abolitionisten erschossen,
und als hierauf die gesammte Bevölkerung den Ort verließ, steckte jener be-
waffnete Pöbel — den ein Marschall der Vereinigten Staaten anführte — das
Städtchen in Brand.
Die Nachricht von diesen schmachvollen Vorgängen hat in allen Nichtskla-
venstaaten einen Sturm der Entrüstung gegen Mr. Pierce und seine Art zu'
regieren hervorgerufen. Jedermann scheint zu fühlen, daß die Krisis der Union
endlich gekommen ist. Selbst das Organ der Negierung gesteht das zu. In¬
dem es von Kansas spricht, sagt es: „Welche Frage sich auch in dem Wahl¬
kampfe geltend machen sollte, die Sklavenfragc, wie sie in der Maßregel gegen
Kansas eingeschlossen ist, wird den Vorrang behaupten — in Vergleich mit
ihr sind alle andern Fragen von geringerer Bedeutung." Höchst wahrschein¬
lich wird sich, das erfüllen, trotz aller Versuche des Cabinets Pierce, diesen
Gegenstand in der Aufregung der Gemüther verschwinden zu lassen, welche
ein Krieg mit England hervorzurufen geeignet schien. Die Sklavenfragc muß
entschieden werden, selbst wenn sie zu einer Trennung der Union führen sollte.
Und wird das amerikanische Volk einen Kampf mit England wagen, wenn ein
solcher Entscheidungskampf zu gleicher Zeit im Inlande wüthet?
Die Idee der Frauenemancipation, welche seit den Zeiten des jungen Deutsch¬
land und der nenromantischen Schule in Frankreich innerhalb der Literatur eine
so ungebührliche Ausdehnung gewonnen hat, stellt sich sür jedes gesunde Ge^
fühl augenblicklich als eine Verirrung dar, für welche kein Rechtfertigungsgrund
gefunden werden kann. Aber wie es überhaupt keine Wirkung ohne Ursache
gibt, wie auch'die Krankheit als ein Symptom von der innern Beschaffenheit
des Organismus aufgefaßt werden muß, so läßt sich der Grund deS Mi߬
behagens der modernen Frauen an ihrem Loose wol nachweisen. Nur liegt er
nicht in der Natur der Dinge , sondern in der eigenthümlichen Bildung, die
man ihnen gibt. In frühern Zeiten erlangten sie keine andere Bildung, als
diejenige, die sich aus ihren spätern Beruf bezog, und wer sich aus eigner Kraft
mehr davon aneignete, wurde von der Gesellschaft sofort als eine Ausnahme
betrachtet, auf welche die herkömmlichen Regeln nicht anzuwenden seien. In
neuerer Zeit dagegen ist der Grad der Bildung eines von den ersten Dingen,
wonach man fragt, wenn man den Werth einer Frau bestimmen will. Freilich
herrscht über daS, was mau uuter Bildung verstehen soll, die wunderlichste
Verwirrung. Man nennt in der Regel diejenige Frau gebildet, die, über
Rossini und Shakespeare, über Kaulbach und G. Sand mit einer gewissen Ge¬
läufigkeit Conservation zu machen versteht und fragt wenig danach, ob diese
Urtheile innerlich empfunden und durchgearbeitet oder lediglich eingelernt sind.
Es liegt auf der Hand, daß auch in Beziehung aus das Erziehungssystem
zwischen den beiden Geschlechtern ein Unterschied gemacht werden muß; ab-
> gesehen davon, baß ihr späteres Leben verschiedenartige Vorkenntnisse und Ge-
schicklichkeiten erheischt, weist sie auch die Natur auf eine verschiedenartige
Thätigkeit hin, die sich im Wesentlichen auf den Gegensatz des Zeugers und
Empfängnis zurückführen läßt. Es ist über diesen Gegenstand bereits so viel
Welses und Thörichtes gesagt worden, daß niemand daran denken wird, etwas
Neues dazu bringen zu wollen. Im Ganzen wird alle Welt darüber einig sein,
daß in geistiger Beziehung der dem Mann die Fähigkeit der Begriffe und Ab¬
straktionen, bei dem Weib die Fähigkeit der Vorstellungen und Anschauungen
überwiegt; bei dem Mann der Grundsatz, bei dem Weib das unmittelbare Ur¬
theil. Daß die Erziehung auf diesen Gegensatz Rücksicht nimmt, ist ganz in
der Ordnung; nur scheint es verfehlt, diese Rücksicht so weit zu treiben, daß
man die Anlage gradezu mit dem Ziel, der Erziehung verwechselt, und darauf
gehen im Grunde alle unsere Töchterschulen aus. Sie vermeiden es mit einer
gewissen Aengstlichkeit, irgend einen Gegenstand anzuregen, wobei von Zer¬
gliederung, Regel und System die Rede ist, und wo sie es nicht ganz umgehen
könne», wie z. B. bei der Erlernung einer Sprache, verstecken sie es so viel als
möglich; sie suchen das junge Mädchen darüber zu täuschen, daß es eine Regel
empfängt, indem sie ihm vorspiegeln, es handle sich nur um eiuen individuellen
Fall und wenn auch bei dieser Methode die Erlernung der Sprache zuweilen
erleichtert wird, so geht doch der größte Gewinn der geistigen Gymnastik darüber
verloren, nämlich sich in jedem Fall'darüber klare Rechenschaft zu geben, aus
welchen Gründen man so oder so verfährt. Die lateinische Grammatik, welche
mit vollem Recht dem Knabenunterricht zu Grunde liegt, wie der juristischen
Bildung das römische Recht, lehrt die Knaben nicht blos lateinische Autoren
verstehen, und sich selbst lateinisch ausdrücken/ sondern sie lehrt sie gradezu
logisch denken. So lange die Realschulen nicht einen Ähnlicher Gegenstand
gefuuveu haben werden (vie Mathematik kaun-es ihres abstracten Inhalts
wegen nicht sein), werden sie im Zustand eines hoffnungslosen Erperimentirenö
bleiben.
Bei den Töchterschulen ist das in noch weit höherem Grade der Fall;
denn auch selbst diejenigen Disciplinen, die sie mit den Knabenschulen gemein
haben, werden so betrieben, daß jede Vollständigkeit, jede unbedingte Durch¬
dringung des Gegenstandes ausgeschlossen bleibt, denn das würde, wie man
meint, den Anstrich der Pedanterie hervorbringen, und eine pedantische Dame
könnte sich doch in der guten Gesellschaft nicht sehen lassen. Dadurch wird
jene Dreistigkeit des Urtheils herbeigeführt, die uns bei „gebildeten" Frauen so
häufig überrascht, und deren Grund einfach darin liegt, daß sie die Schwie¬
rigkeiten' nicht sehen. — Die schlimmste Verirrung der Töchterschulen zeigt sich
in den sogenannten deutschen Aufsätzen. Mit Recht glaubt man, daß vie Ge-
sühlsbildung bei den Frauen die Hauptsache ist, viel wichtiger, als die Ver¬
standesbildung, Statt nun aber das Gefühl einer strengen Zucht zu unter¬
werfen und es auf Wahrheit und Natur zurückzuführe», gewöhnt man das
junge Mädchen an eine Virtuosität des Empfindens; sie muß über jeden
Baum, über jede Blume, über den Begriff der Freundschaft, über Störche und
Schwalben, über Gott und ähnliche Dinge sich Empfindungen zu machen ver¬
stehen; mit andern Worten, und wer ruhig überlegt, wird diese Bezeichnung
nicht zu stark finden, man gewöhnt sie daran, sich selbst und andern etwas vor¬
zulügen und vorzuheucheln, und ist dann außer sich vor Verwunderung, wenn
sie dies Talent im spätern Leben in Anwendung bringt. Das echte, wahr¬
hafte Gefühl wird zwar dadurch nicht erstickt, aber es wird doch wenigstens
sein Ausdruck verkümmert.
Der Einfluß dieses Jugendunterrichts ist bei den Frauen um so grö¬
ßer, da einerseits ihre Bildung damit fertig ist, andererseits aber immer ihr
Streben und ihre Aufgabe bleibt, Bildung zu repräsentiren. Der Mann, der
nach Ablauf seiner Schulzeit in ein bestimmtes Geschäft tritt, hört bald ans,
dieser Art der Bildung nachzustreben. Die Wirkung der Schulzeit geht deshalb
nicht verloren, denn sie lehrt ihn in seinem eignen Fach tüchtig und ganz zu
Hause zu sein und so den Eindruck einer harmonischen Natur hervorzubringen,
von der bei einem Halbgebildeten nie die Rebe sein kann. Die Frau sährt
fort, zu lesen und zu urtheilen, aber sie liest-in der Regel nichts weiter alö
Romane oder allenfalls Journale. Wir wollen ganz davon absehen, wie er¬
bärmlich der Stoff ist, der^ ihnen >n der Regel damit geboten wird, aber auch
im besten Fall lernen sie daraus nur noch mehr die Virtuosität der indivi¬
duellen Empfindung und des unmittelbaren Urtheils ausbilden; das Gefühl
des Allgemeinen geht mehr und mehr darüber verloren.
, Zum Theil liegt das an der unzugänglichen Form, hinter der sich unsere
ernsthaften Schriftsteller verstecken. Die eigentlichen Wissenschaften verlangen
diese Form, aber eS gibt eine mittlere Region, in der wissenschaftliche Strenge
und künstlerische Anmuth gepaart sein können. Es ist z. B. kein Grund vor¬
handen, warum eine gebildete Frau in unsern Tagen nicht Mommsens römi¬
sche Geschichte, Rankes Päpste, oder ein ähnliches Werk lesen sollte, in wei-
chem der gelehrte Stoff künstlerisch überwältigt ist. Sie wird es anders lesen,
als der Mann, da sie andere Wünsche und Voraussetzungen mitbringt, aber
sie wird dennoch eine reiche Ausbeute für sich selbst finden. Der Fortschritt
dieser Literatur in unsern Tagen wird auch auf die Frauen eine heilsame Rück¬
wirkung ausüben.
Der bisherige Mangel in dieser Sphäre gab schon häusig Veranlassung,
an eine specielle Lectüre für Frauen zu denken. Die Bedenken eines solchen
Unternehmens sind ganz ähnlich, wie die Bedenken einer specifischen Kinder¬
literatur. Denn in der Regel bildet man sich ein, die Frauen seien unter¬
geordnete Geschöpf».', und um von ihnen verstanden zu werden, müsse man
wenigstens de.n Schein der Ungründlichkeit und Halbbildung annehmen. Einer
wirklich gescheiten Frau konnte daher nichts so zuwider sein, als diese specifi¬
sche Damenlectüre.
Indeß sind diese Uebelstände nicht nothwendig mit der Gattung verknüpft,
und die Idee, den Frauen das Gebiet des allgemeinen Wissens zugänglich zu
machen, ist durchaus berechtigt, ja nothwendig. Man macht es aber dadurch
zugänglich, daß man es in die Form der Anschauung und Vorstellung über¬
setzt, kurz, daß man dasselbe'thut, was jeder echte Geschichtschreiber thun soll.
Um so etwas vollständig durchführen zu können, muß man das Gebiet, das
man darstelle» will, eigentlich ganz beherrschen, denn wahrhaft populär kann
nur die höchste Bildung sein, nnr diejenige, die das Material so unbedingt
beherrscht, um jeden Augenblick das Angemessene bei der Hand zu haben.
Allein es bleibt das ein frommer Wunsch, da die Gelehrten zu so etwas nicht
zu bringen sind, da sie in der That keine Zeit dazu haben.
Eine Frau, auch die am feinsten gebildete, wird jenen Anforderungen
niemals völlig entsprechen können; ihr Unternehmen wird aber dankenswert!)
sein, wenn sie ernst und gewissenhaft zu Werke geht, und das ist bei der
Herausgeberin deS zuerst genannten Werks in hohem Grade zu rühmen. Daß
sie sich über ihre eigne Stellung keine Illusionen macht, zeigt das Motto
aus Tasso:
Ich freue mich, wenn kluge Männer sprechen,
Daß ich verstehen kann, wie sie es meinen,
Es sei ein Urtheil über einen Mann
Der alten Zeit und seiner Thaten Werth;
Es sei von einer Wissenschaft die Rede, -
Die durch' Erfahrung weiter ausgebreitet,
Dem Menschen nützt, indem sie ihn erhebt;
Wohin sich das Gespräch der Edeln lenkt,
Ich folge gern, denn mir wird leicht zu folgen.
Sie hat bei ihrem Unternehmen die verständige Kühnheit gehabt, unmittel¬
bar auf die Quellen zurückzugehen, aber nicht, um darüber geistreich zu räson-
iliren, sondern um schlicht und einfach wieder zu erzählen, was sie darin ge¬
lesen, da, wo es angeht, mit. den eignen Worten des Meisters. Hin und
wieder hätte man gewünscht,, daß sie noch vollständiger den kleinen Anstrich
von Gelehrsamkeit vermieden, noch dreister den Ton der freien Erzählung an¬
geschlagen hätte; aber auch so, wie es da ist, wird es der wahren Frauen¬
bildung zuträglicher sein, als die vielen theoretischen Bücher, die, anstatt Hand
ans Werk zu legen, erst sehr gründlich darüber hin und her räsvnniren, wie
man Hand ans Werk legen müsse. Indem wir dem schönen Unternehmen
glücklichen Fortgang und eine recht lebhafte Anerkennung wünschen, können
wir uns nicht enthalten, aus der Vorrede die Art und Weise mitzuth> i!en,
wie sich die Verfasserin das Verhältniß der Bildung zum wahren Beruf des
Weibes vorstellt.
„Die Gattin soll nicht Dienerin, sondern Freundin und Gefährtin des
Mannes sein, seine Stütze und sein Trost in Zeiten der Trübsal. Sie bedarf
dazu einer Geistesbildung, die sie befähigt, die Interessen des Mannes zu
verstehen, und einer Bildung des Herzens, die sie frei macht von Selbstsucht,
Genußsucht und Eitelkeit, — Die Mutter soll nicht allein Pflegerin, sie soll
auch Erzieherin der Kinder sein; die erste mütterliche -Leitung bestimmt fast
immer, über die Lebensrichtung der ihr anvertrauten Seelen, sie bringt gleich¬
sam Grundton und Färbung des ganzen Wesens hervor und bewirkt somit
Glück oder Unglück in sich immer erweiternden Kreise. Aber die wichtige,
heilige Aufgabe der Erziehung wird in unsern schwierigen Verhältnissen nur
dann vollständig erfüllt werden können, wenn ein gebildeter Geist dem „Jn-
stincte der Mutterliebe" zu Hilfe kommt. — Die Hausfrau hat in gleicher
Weise für das körperliche und geistige Wohl aller Familienglieder zu sorgen.
Ihr ist die Überwachung - jener tausend kleinen Obliegenheiten und'Geschäfte
übertragen, deren Bedeutung wir erst erkennen, wenn sie versäumt oder ohne
Einsicht und Liebe gethan werden — was nur zu oft zu den peinlichsten
Störungen des Familienfriebens Veranlassung gibt. Und Hand in Hand
mit diesen bald größeren, bald kleineren Pflichten, die sich aus das materielle
Gedeihen der Familie bezieh'en, geht die Sorge der Hausmutter für das geistige
Leben in ihrem Kreise, denn das eine vermag nicht ohne das andere . zu
bestehen. Wie wir die ordnende, sorgsame, verschönernde Hand gebildeter
Frauen in jeder äußeren Kleinigkeit erkennen, so empfinden wir auch den Hauch
ihres Geistes im Großen wie im Kleinsten. Er durchweht sozusagen das
' ganze Haus; er drückt sich in jedem einzelnen Mitgliede der Familie, in ihrem
Zusammenleben, in ihrem Interesse für das Gute und Schöne aus; er ver¬
breitet über alle, die sich diesem Kreise nahen, jenes heitere Behagen, von
dem wir nicht wissen, woher es kommt oder worin es liegt — es ist aber des
Hauses bester Segen, der Segen einer wahren Frauenbildung. — Auch jene
Tausende, denen solche Pflichten weder als Gattin noch als Mutter auferlegt
sind, haben Antheil an der allgemeinen Nufga.be der Frauen: als Tochter,
als Schwester, als Freundin sind auch si'e berufen, für das Wohl des Familien¬
kreises zu wirken. Und wäre hier und da ein ganz alleinstehendes Wesen, so
hätten gerade für die Einsame geistige Genüsse doppelten Werth — und je
mehr sie innerlich wächst und erwirbt, um so mehr wird sie tüchtig sein, sich
einen Beruf zu sichern, wo die Sorgsamkeit, Thätigkeit und Geduld des
Weibes immer einen Platz finden: nämlich in der großen Familie derer, die
von geistiger oder leiblicher Noth bedrückt sind." — Auch bei dem zweiten
Werke, welches wir in der Ueberschrift angeführt haben, können wir verständige
Einsicht und tüchtige Gesinnung rühmend anerkennen.
Selten hat ein > Criminalproceß in England so großes Aufsehen gemacht,
wie der gegen den Arzt William Palmer in Nngcley wegen der Vergiftung sei¬
nes Freundes Cook. So leidenschaftlich standen sich gleich nach dem Beginn
der Untersuchung die Meinungen über seine Schuld oder Nichtschuld im Publi-
cum gegenüber, daß der Proceß durch ein besonderes ParlamcntsgSsetz von
dem Wohnort des Angeklagten nach London verlegt wurde, denn die Aussicht
ein unparteiisches Vcrdict in Nngelcy zu erlangen war äußerst gering, indem zu
der großen Aufregung noch der moralische Einfluß kam, den der energische Charak¬
ter Palmers auf alle, die mit ihm in Berührung kamen, ausübte, und der so stark
war, daß er'sogar Beamte, wie den Postmeister in Rugeley und den Todtcnbescbaner
ihre Amtspflicht vergessen machten Palmer. obgleich ursprünglich praktischer Arzt,
hatte die Praxis schon vor Jahren ausgegeben, frequentirte die Pferderennen und
betrieb fast ausschließlich Wettgcschäfte. Dadurch wurde er mit einem Mr. Eook
bekannt, der. ursprünglich Jurist und im Besitz eines Vermögens von 12—13,000
Pfund, sich ebenfalls dem Turf, wie es der Engländer nennt, widmete. Unglückliche
Wetten und schlechte Wirthschaft stürzten Palmer bald in Geldverlegenheiten und er
fing bereits 1853 eine ruinöse Wechselreiterei an. Als die dadurch erlangten
Mittel nicht mehr reichten, setzte er falsche Wechsel in Umlauf und zwar 1853 den
ersten vou 2000 Pfund, angeblich von seiner sehr wohlhabenden Mutter acceptirt.
Der Entdeckung entging er vor der Hand durch Prolongirung der Wechsel, die
sich in der Hand eines londoner Advocaten Pratt, der sich mit dem Discontiren
zweifelhafter Papiere beschäftigte, befanden. Im September 1855 starb seine Fran,
deren Leben er mit 13,000 Pfund versichert hatte, und mit dieser Summe gelang
es ihm, einen Theil seiner Schulden zu bezahlen. Aber immer blieb neben andern
der gefälschte Wechsel von 2000 Pfund nucingelöst. Er versicherte nun das Leben
seines Bruders ebenfalls für 13,000 Pfund und stellte gegen Verpfändung der Po¬
lice neue Wechsel aus, die Pratt mit 60"/c> discoutirte. Nachdem er ein Jahr aus
diese Weise sortgewirthschaftet hatte, befanden sich im November 1853' in Pratts Hän¬
den für 11.500 Pfund Wechsel, sämmtlich verfallen und sämmtlich mit dem ge-
falschem Acccpt seiner Mutter versehen. Die Hoffnung, durch die auf seinen Bru¬
der ausgestellte Police die Schuld zu decken schlug fehl, denn als der Bruder starb,
weigerte sich die Versicherungsgesellschaft, zu zahlen und es wirft schon einen schlim¬
men Verdacht auf Palmer, daß er gegen die Gesellschaft sich der Klage enthielt.
Um einer augenblicklichen Geldverlegenheit zu entgehen, erlangte er die Bürgschaft
Cooks sür einen Wechsel von 300 Pfund und weitere 300 Pfund dnrch Verpfän¬
dung der beiden Cook gehörenden Rennpferde Polestar und Sirius. Obgleich er
angeblich dieses Geld sür Cook aufnahm, verwendete er es doch für sich, indem er
ein falsches Giro Cooks auf das Papier setzte. Dieser gefälschte Wechsel wurde
zehn Tage nach dem Tode Cooks, am Ä-i November, fällig. Ehe dieses Ereignis?
noch eintrat, versuchte Palmer mit Cooks Beihilfe seinen Stallknecht sür die Summe
von 26,000 Pfund zu versichern, doch mißlang diese.Operation, Mittlerweile war
Pratt ungeduldig geworden und trug aus Wcchsclexecutivu gegen Palmer und seine
Mutter wegen der fälligen 4000 Pfund an. Noch einmal wurde der entscheidende
Schlag durch Einzahlung von 600 Pfund abgewendet, aber am 13. November
drängte Pratt abermals um 1 000 Pfund zur theilweisen Deckung eines Wechsels
von 1300 Pfund, der bereits am 9. November fällig gewesen war.
So ohne einen Pfennig Geld in der'Hand , zu haben zu Zahlung so be¬
trächtlicher Summen gedrängt und jeden Augenblick von der Gefahr bedroht, daß
seine Fälschungen an den Tag kommen würden, faßte Palmer den Gedanken, Cook
zu crmokdeu. Dieser befand sich am 13. November in Gesellschaft mit Palmer
bei dem Pferderennen in Shrewsbury und gewann daselbst dnrch sein Pferd Po¬
lestar über 2000 Pfund. Die Woche vorher hatte er scho» in Worcester gewonnen
und hatte 7—800 Pfund baares Geld bei sich, während der Betrag der Wetten
erst am nächsten Montag in London bei Tattersalls gezahlt werden sollte.
Möglicherweise beabsichtigte Palmer blos, Cook durch Brechweinstein krank zu
machen, um während dieser Zeit die in London fälligen Summen einzuziehen und
für sich zu benutzen und kam erst durch die Furcht von der Entdeckung seiner Streiche
auf den Gedanken einer Vergiftung.
Cook, bei seinem Tode 28 Jahr alt, befand sich bei seiner Ankunft in Shrews-
bury vollkommen wohl. Er hätte zwar eine schwache Brust, doch nicht in dem
Grade, daß dies Besorgniß erregte, und geschwollene Drüsen hatten ihm die Be¬
sorgnis? eingeflößt, an den Folgen einer galanten Krankheit zu leiden, eine Besorg¬
niß, die jedoch der londoner Arzt, der ihn seit Jahren, behandelte, für vollkommen
unbegründet erklärt. Kurz, Cook kam nach Shrewsbury vollkommen gesund und
fühlte sich zuerst unwohl, als er nach dem glücklichen Ausgang des Wettrennens in
Gesellschaft Palmers und einiger Anderen Grog trank. Er klagte über brennenden
Geschmack desselben, worauf Palmer sogleich das Glas austrank und die andern
Anwesenden aufforderte zu kosten — obgleich kein Tropfen mehr im Glase war.
Cook bekam heftiges Erbrechen und mußte sich zu Bett legen. An demselben Abende,
wo Coot von dem Grog krank wurde, sah ein Frauenzimmer in dem Gasthaus, wo
Cook mit Palmer zechte, letzteren ein mit Getränk gefülltes Glas gegen das Licht
halten und es dann in das Zimmer hineintragen. Daß Cook selbst Palmer mi߬
traute, scheint daraus hervorzugehen, daß er nicht diesem, sondern einem andern An¬
wesenden, Fisher, sein Geld, 8—900 Pfund, zum Aufheben gab.
Am nächsten Tag fühlte sich jedoch der Kranke wieder wohler und begleitete
Palmer nach Nugeley, wo Heide in, dem Gasthof Talbot Arms abfliegen, dem Hause
des Angeklagten gegenüber. Dieser brauchte jetzt nothwendiger als je Geld, denn
er hatte in ShrcwSbnN, stark verloren und hatte so wenig Fonds, daß er sich
Pfund zur Hinfahrt hatte borgen müssen.
Die Beiden kamen am 15. November spat Abends in Rugeley an und an
diesem und dem folgenden Tag befand sich Cook vollkommen wohl, aber am Sonn¬
abend und Sonntag, wo Palmer ihn fast nie verließ, stellten sich wieder dieselben
Symptome ein, wie in Shrewsbury. Zuerst uach einer Tasse Kaffee, die sich der
Angeklagte von der Anfwcirterin hatte geben lassen und Cook selbst gebracht hatte;
dann nach Brodwasser, welches der Angeklagte aus seiner Wohnung hatte holen lassen,
obgleich er es im Gasthof hätte bekommen können, endlich nach einer Tasse Fleisch-
brühe, die ebenfalls über die Straße geholt worden war. Diese Fleischbrühe kostete
unterwegs eine Anfwcirterin und mußte fich ebenfalls heftig erbrechen und sich zu
Bett legen, ganz wie Cook in Shrewsbury. So oft Cook etwas in Palmers An¬
wesenheit gebracht wurde, müßte er fich erbrechen, so oft er etwas genoß, während
Palmer nicht im Hause anwesend war, stellten sich keine Kranheitssymptomc ein.
Dem herbeigerufenen Arzte spiegelte der Angeklagte vor, der Kranke leide an einem
biliosen Anfall, infolge zu reichlich genossenen Champagners. Aber kein einziges
Symptom einer solchen Krankheit war vorhanden, die Zunge war rein, der Patient
fieberfrei und von Galle keine Spur. Ebensowenig hatte er zu viel Wein ge¬
trunken. Am Montag reiste Palmer nach London, und unmittelbar vor seiner Abreise
gab er Cook noch, eine Tasse Kaffee, ans die wieder Erbrechen folgte; nach seiner
Abreise trat sichtliche Besserung ein, das Erbrechen hörte auf und Cook konnte das
Bett verlassen.
Unterdessen kassirte Palmer in London die von Cook gewonnenen Wetten ein,
aber nicht dnrch den gewöhnlichen Gcschäftsagenten seines Freundes, sondern durch
eine andere Person und bezahlte mit dem Gelde seine dringendsten Schulden; die
Briefe, welche der Agent in dieser Angelegenheit an Cook schrieb, unterschlug Palmer
durch Hilfe des Postmeisters in Rugeley. Dort kam der Angeklagte um 9 Uhr Abends
bei Cook wieder an, den er bis 1i) oder 11 Uhr nur verließ, um bei Newton, dem.
Gehilfen eines Arztes und Apothekers Salt, drei Gran Strychnin zu kaufen, welche
jener ihm ohne Umstände ausantwortcte, da er ihn als praktischen Arzt kannte.
Nach seiner Rückkehr in den Gasthof nahm der Kranke die ihm von »r. Bamford,
dem Arzt, der ihn behandelte, verschriebenen Pillen ein. Aber während dieselben
Pillen am Montag so wohlthätig auf ihn gewirkt hatten, stellten fich dies Mal hef¬
tige Krämpfe ein, bei denen der Kranke aber sein Bewußtsein behielt. Er erholte
fich jedoch wieder und am Dienstag früh ging Palmer in den Laden eines Droguisten
Namens Hawkings. Er hatte mit diesem Manne seit zwei Jahren keine Geschäfte
gemacht, sondern die Arzneien, deren er benöthigt war, regelmäßig von einem an¬
dern Droguisten Thirlby'bezogen. Jetzt verlangte er zwei Drachmen Blausäure.
Während er darauf wartete, kam Newton, derselbe, von dem er am.Tage vorher
Strychnin gekauft hatte, zufällig in den Laden. Palmer nahm ihn rasch beim Arme
und führte ihn unter dem Vorwand, ihm etwas Wichtiges mittheilen zu wollen, auf
die Straße hinaus, unterhielt'ihn aber nnr von ganz gleichgiltigen Dingen, bis
ein vorübergehender Bekannter Newton ein paar Augenblicke beschäftigte. Nun
begab sich Palmer sogleich wieder in den Laden und ließ sich zu der Blausäure
uoch sechs Gran Strychnin und eine Quantität Batleyschen Opinmliauor geben, be¬
zahlte und ging fort. Neugierig geworden erkundigte sich Newton, was Palmer ge,
kauft habe und erhielt die gewünschte Auskunft. Auf dem Heimwege sprach Palmer
noch bei dem Postmeister ein, ließ sich von diesem eine Anweisung auf den uoch unerbv-
benen.Ertrag der Wetten von 330 Pfund schreiben und fälschte dazu Cooks Unterschrift.
Auch am Morgen dieses Tages hatte Cook Kaffee und Fleischbrühe genossen,
die ihm Palmer geschickt hatte und sich auch dies Mal wieder erbrechen »rissen.
Der Angeklagte hatte noch einen andern Arzt herbeigerufen, Mr..Jones. enim
Freund von Cook. und auch dieser fand keine Symptome des von Palmer ange¬
gebenen biliöscn Anfalls. Die drei Aerzte traten zu einer Konsultation zusammen
und kamen überein, die von Bamford begonnene Behandlung fortzusetzen. Während
dieser die früher verschriebenen Pillen verfertigte, kam Palmer zu ihm und forderte
ihn auf, auf die Schachtel zu schreibe», wie sie einzunehmen wären. Dies geschah
und der Angeklagte nahm die Pillen mit, überbrachte sie dem Kranken, aber erst
nach Verlauf von V» Stunden, und lenkte, ehe er sie jenem eingab, die Auf¬
merksamkeit des anwesenden Jones auf die Rufschrift der Schachtel mit der Be¬
merkung, daß die Schrift für einen 80jährigen Mann merkwürdig kräftig und
deutlich sei. Dies war halb 11 Uhr Nachts. Cook wollte anfangs die Pillen
durchaus uicht einnehmen, weil sie ihn vorige Nacht zu krank gemacht hatten, lies,
sich aber doch zuletzt bewegen. Er brach sich gleich darauf, doch die Pillen blieben
bei ihm. Als er die Pillen einnahm, befand er sich vollkommen wohl, Krankheits-
symptome waren nicht vorhanden, am allerwenigsten Anzeichen nahende» Todes.
Jones schlief in demselben Zimmer mit Cook, aber er war kaum '/^ Stunde im
Bett, so bekam Cook wieder die heftigsten Krämpfe. die ihn so zusammenzogen,
daß er mit in die Höhe gebogenem Körper nur mit dem Kopf und den Hacken
auf dem Bett ruhte. Ein Dienstbote lief über die Straße und klingelte bei Pal¬
mer, der im nächsten Augenblick schon angekleidet am Fenster erschien und in zwei
Minuten an dem Bette des Kranken stand. Er bemerkte noch ausdrücklich, er
habe sich nie so schnell angezogen, hatte aber zum Anziehen gar keine Zeit gehabt
und der Verdacht liegt nahe, daß er in gespannter Erwartung über das, was ge¬
schehen mußte, angekleidet geblieben war. Kaum am Bett angekommen, eilte er
wieder fort, um ein linderndes Mittel zu holen, und brachte zwei Pillen, angeblich
Ammvniakpillen, die sich aber nicht so schnell verfertigen lassen. Der Kranke nahm
sie. brach sie aber von sich und bekam sogleich wieder die heftigsten Krämpfe, und
starb mit allen Symptome» des Starrkrampfs, aber, des Starrkrampfs, der sich nur
bei Vergiftungen durch Strychnin und ähnliche Gifte, aber nie bei andern
Krankheiten einstellt. In solchen Fällen tritt der Starrkrampf erst mit gelinder»
Symptomen auf und entwickelt sich allmälig und ohne Unterbrechung bis zum
höchsten Paroxysmus. Er braucht zu seiner Entwicklung Stunde» u»d selbst Tage.
Bei Strychnin dagegen handelt es sich nicht um Stunden, sondern um Minuten.
— Die Symptome entwickeln sich nicht allmälig, sondern treten gleich in ihrer
ganzen Heftigkeit auf und endigen nach wenigen Augenblicke» fürchterlicher Qual
und eigenthümlicher Krämpfe mit dem Tode. ,
Gleich nach dem Hinscheiden Eooks stöberte Palmer in den Taschen der Klei¬
der des Verstorbenen und im Bett herum, wie mehre Personen gesehen haben
und seit dieser Zeit ist das Buch, in welchem Cook Wetten verzeichnete, ver¬
schwunden und anch über die Geldangelegenheiten desselben fanden sich keine Papiere
vor. Am nächsten Tage aber ließ Palmer den Postmeister Ehcshire kommen und
muthete ihm zu, als Zeuge ein mit Cooks Unterschrist versehenes Document zu
unterschreiben, in welchem Cook bekannte, daß Palmer für seine Rechnung für
4000 Pfund Wechsel ausgestellt und dafür noch keine Zahlung empfangen habe.
Im Uebrigen zeigte der Angeklagte großen Eiser, den Verstorbenen baldigst unter
die Erde zu bringen und veranlaßte Bamsord, einen altersschwachen Greis,
ein Zeugniß auszustellen, daß Cook am Schlagfluß gestorben sei. Unterdessen war
der Stiefvater Eooks, Mr. Stevens, in Rugclcy eingetroffen und veranlaßte, durch
Palmers Benehmen mißtrauisch geworden, eine Section der Leiche. Palmer hatte
sich erboten, die zur Section herbeizurufenden Aerzte selbst auszuwählen und sich
höchst angelegentlich bei Newton über einem Glase Grog erkundigt, ob man nach
einer Vergiftung mit Strychnin Spuren davon im Körper finde? Die verneinende
Antwort des Gefragten hatte ihn sichtlich beruhigt. Später fand man in seinem
Hause ein medicinisches Buch und bei dem Eavitel über die Wirkung des Strych-
nins in seiner Handschrist die Bemerkung: „Strychnin bewirkt den Tod dnrch Starr¬
krampf der Respirationsmuskeln."
Vor der ersten Section hatte der Angeklagte Sorge getragen, die Meinung
zu verbreiten, daß Cook an allen möglichen Krankheiten gelitten, habe. Der Lei¬
chenbefund wies aber einen vollkommen gesunden Zustand nach, wenigstens keine
Symptome, die den raschen Todesfall erklärten. Als die öffentliche Meinung Pal-
mer immer entschiedener als den Mörder bezeichnete, wurde im Januar die Leiche
wieder ausgegraben, um einer genauen Untersuchung unterworfen zu werden. Pal¬
mer war bei der zweiten Section anwesend und konnte sich nicht' enthalten, als
die Aerzte den normalen Zustand aller Organe bestätigen mnsttcn, gegen
l)r. Bamsord zu äußern: „Doctor, sie hängen uns noch nicht!" Während der secirendc
Arzc den Magen und die Eingeweide herausnahm und in ein Gesäß that, stieß
ihn Palmer >o, daß das Gefäß fast umgefallen wäre. Ehe noch die Section
vollendet war, verschwand das (Äcfäß von der Tafel und wurde auf einem entfern¬
teren ^Tischchen wieder gefunden, wo Palmer es hingestellt hatte. In der darüber
gebundenen Blase befanden sich zwei Schnitte. Den Postillon, der das Gefäß nach
London zur chemischen Untersuchung bringen sollte, versuchte Palmer mit 10 Pfund
zu besteche», den Wagen unterwegs umzuwerfen und das Gefäß zu zerbreche».
Dem Tvdtenbeschaner machte er ebenfalls während der Untersuchung Geschenke,
weshalb das ^ Zeugenverhör sehr einseitig ausfiel und den Postmeister bestach er,
ihm den Brief mitzutheilen, in welche,» tu. Taylor, der. die chemische Untersuchung
vorgenommen hatte, über das Resultat an den Arzt Gardner in Rngelcy berichtete,
und als er daraus erfuhr, daß keine Spuren von Strychnin, sondern blos v.vn
Brechweinstein gesunden wurden, berichtete er dies frohlockend dem Todtcnbcschaucr.
Auch an Geld hatte der Angeklagte nach (>opt's Tode Ueberfluß, während er vor-
her hatte borgen müssen, wogegen sich in Eooks Nachlassenschaft von den früher
unzweifelhaft besessenen Summen gar nichts vorgefunden hatte.
Bei der Section waren, wie schon erwähnt, keine Spuren von Strychnin ge¬
sunden worden, dagegen aber von Brechweinstein, der in starken Gaben allerdings
den Tod, aber nicht unter den bei Eook an den Tag getretenen Symptomen ver¬
ursachen kann. Daraus stützte sich vornehmlich die Vertheidigung. Schon vorher
war in der Presse ein leidenschaftlicher Kampf über die Frage entbrannt, ob die
Spuren von Strychnin im Körper nach dem Tode zu entdecken seien oder nicht.
Die darüber angestellten Versuche gaben keine entscheidende Antwort. Bei einigen
mit Strychnin vergifteten Thieren fand man deutliche Spuren im Zellgewebe und in
den Eingeweiden, bei andern gar keine und die Ansicht der gewiegtesten Autoritäten
sprach sich dahin aus, daß eine mäßige Gabe Strychnin, obgleich zur Herbei¬
führung des Todes vollkommen genügend, vom Körper spurlos absorbirt werden könne
und daß nur bei überreichlicher Gaben Spuren zurückblieben. Uebereinstimmend waren
alle Aussagen darin, daß der Tod Cooks nach den ihn begleitenden Symptomen
nur infolge genossenen Strychnins eingetreten sein könne und alle Versuche der
Vertheidiger und der von ihm beigebrachten ärztlichen Zeugen, den Starrkrampf
dnrch eine NückcnmarkSaffcction oder als verspätet eintretende Folge galanter Krank¬
heiten darzustellen, schlug vollständig fehl. Unzweifelhaft blieb es stets, daß der
als Folge solcher Krankheiten erscheinende Starrkrampf sich wesentlich und unver-
kennbar von dem durch Strychnin verursachten unterscheidet. Strychnin war un-
zweifelhaft in PalmerS Besitz gewesen. Der Vertheidiger versuchte zwar, Newtons erst
nachträglich abgelegtes Zeugniß grade wegen seiner Nachträglichkeit verdächtig zu
machen, aber der zweite Ankauf von Strychnin bei Hawkings ließ sich in keiner
Weise ableugnen. Die Entschuldigung, Palmer habe es zur Vergiftung von Hunden
anwenden wollen, wurde zwar vorgebracht, aber der Vertheidiger machte nicht einmal
den Versuch, einen Beweis dasür beizubringen. Da also Palmer Strychnin gekauft
hatte, die gekaufte Quantität nicht mehr in seinem Besitz war und er eine ander¬
weitige Verwendung nicht nachweisen konnte, da Cook unter Symptomen gestorben
war, die nur eine Strychniuvcrgistuug erkläre» konnte und Palmer beständig um
ihn gewesen und ihn unter mancherlei verdächtigen Umständen Arzenei gereicht hatte,
da seine drückenden Geldverlegenheiten und die Furcht, der Fälschung überführt zu
werden, ihm ein Interesse an Cooks Tode gaben, um sich des in dessen Besitz be¬
findlichen Geldes und der diesem zukommenden Forderungen zu bemächtigen, da er
außerdem wirklich bereits widerrechtlich über die Gelder Cooks verfügt, seine Un¬
terschrist gefälscht und seinen Tod benutzt hatte, um eine Forderung an ihn zu
simnliren, und da alle diese schweren Verdachtsgründe bestärkt werden dnrch sein
Benehmen während der Krankheit und nach dem Tode Cooks, so war hier eine
Kette von Jndicicnbeweisen hergestellt, welche die Geschwornen vollkommen rechtfer¬
tigte, ein 'Schuldig über deu Angeklagten auszusprechen. Lord Cambpell, welcher
als Richter den Vorsitz führte, sprach nach dem Verbiet ganz entschieden seine Bei-
stimmung aus und die allgemeine Stimme ist ihm darin gefolgt. Trotz der Ver- .
Wendung angesehener Freunde und Verwandten, und trotz der fast zudringlichen
Bemühungen der Gegner der Todesstrafe ist das Urtheil am 1i Juni in Nugeley
vollstreckt worden. Bis zu seinem letzten Athemzug hat jedoch Palmer seine Un¬
schuld behauptet und dieselbe Gleichgiltigkeit beibehalten, ti-e ihn währeud des ganzen
Processes nur einmal verlassen hat — als der Anwalt für die Anklage in seiner
Antwort ans die Vertheidigung das künstliche Gebäude derselben Schlag für Schlag
zertrümmerte und Schuldbeweis auf Schuldbeweis zu einer niederdrückenden Last
übercinauderhäuftc. Da sank Palmer einen Augenblick wie an seiner Sache ver¬
zweifelnd zusammen und verhüllte das Gesicht, um gleich darauf das Publicum wieder
mit der rcsignireudcn Miene eines Märtyrers anzusehen. So starb er auch, obgleich
des Mordes von Cook überführt, und der Vergiftung seiner Frau und seines Bruders
dringend verdächtig.
Herausgegeben von Gustav Freytaa, und Julian Schmidt.
Als verantworll. Redacteur legitimiri: F. W. Grunow.— Aerlag von F. L. Herbig
in Leipzig.
Druck von C. <6. Elveri in Leipzig.
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