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]]> Die rheinischen Musikfeste stehen in dem guten Ruf, daß sie ihrem
Namen sowol durch die Musik, als durch die Festlichkeit Ehre machen: das
diesjährige Mustkfest in Düsseldorf rechtfertigte diesen Ruf.
Die musikalischen Leistungen eines Musikfestes beruhen wesentlich aus der
Grundlage eines starken und vollen Chors, des einzigen musikalischen Elements,
das wahrhaft berufen ist, massenhaft zu wirken; und der Chorgesang ist die
Stärke der Rheinlande. Schöne, klingende Stimmen sind dort häufig und eine
frische, fröhliche Lust am Singen ist allgemein verbreitet und seit Jahren wird
allenthalben, selbst in kleinen Orten, durch Gesangvereine der Chorgesang
geübt und gepflegt. Diese günstige Disposition mag wol dazu beigetragen
haben, die Musikfeste ins Leben zu rufen und zu erhalten, allein nicht geringer
ist gewiß auch der Einfluß, den ihre regelmäßige Wiederkehr — seit dem
Jahre 1820 ist eS nur dreimal ausgesetzt worden — aus die gedeihliche
Wirksamkeit der Gesangvereine geübt hat. Wenn alle Jahre zwei durch
Umfang und Gehalt mächtige Meisterwerke mit den ihrer Großartigkeit ent¬
sprechenden Kräften aufgeführt werden, so kann schon die Wirkung auf das
zuhörende Publicum, auf seinen Sinn sür das Große und Bedeutende nicht
ausbleiben. Wieviel mehr ist dies bei den Mitwirkenden der Fall, die dnrch
sorgsamen Einstudiren ein ganz andres Verständniß und Interesse für die
Composinon erwerben, als es beim bloßen Hören möglich ist und daher,
auch wo der Sporn des Wetteifers wegfällt, der in einer solchen Collectiv¬
aufführung liegt, ihre Bestrebungen immermehr auf das Tüchtige und Ernste
richten und in diesem ihre wahre Befriedigung finden werden. Jemehr dieser
Sinn befestigt und allgemein wirb, umsomehr werden die Musikfeste nicht zu
vereinzelten PrunkausstelltUigen, die nur durch die Verstärkung äußerer Mittel
ihre Anziehungskraft erhöhen wollen, sondern zu einer naturgemäßen und
wahrhaft festlichen Aeußerung deS musikalischen Sinns, der im Volk Wurzel
gefaßt hat und Blüten und Früchte treibt.
Es war ein stattliches Contingent, welches die Gesangvereine von Düssel¬
dorf, Köln, Elberseld, Mülheim, Aachen, Barmer, Bonn, Krefeld,
Hilden, Essen, Wesel und noch einigen Ortschaften zur diesjährigen Auf¬
führung gestellt hatten: 167 Soprane, lÄ-i Alte, -1^8 Tenore, 2»i Bässe, in
Summq 63i Sänger und Sängerinnen. Und nicht blos gute Stimmen hatten
sie mitgebracht und tüchtige Vorbereitung, sondern auch Unbefangenheit und
Freude am Singen. Wer die Lauheit der Chöre in manchen großen Städten
kennt, wo die Damen vor lauter Betrachtungen, wieweit der Anstand ihnen
erlaubt, den Mund aufzuthun, keinen ordentlichen Ton hervorbringen, während
die Herren sich fortwährend zu besinnen scheinen, ob es auch wirklich der Mühe
werth ist, daß sie mitsingen — dem mußte das Herz aufgehen bei c>er Frische
und Fülle des Wohllauts dieser kräftigen und lebendigen Tonmassen, die sich
frei und freudig bewegten. Und wenn ja einer meinen sollte, die Wirkung eines
so starken Chors hätte noch größer sein können, als sie wirklich war, der möge
bedenken — nicht sowol, daß selbst in einem rheinischen Chor immer einige
Figuranten sich finden werden, als daß über ein gewisses Maß hinaus die
Vermehrung der Kräfte nicht eine Verstärkung der Wirkung in gleichem Ver¬
hältniß zur Folge hat. Was aber die Hauptsache ist, das Verhältniß der ein¬
zelnen Stimmen zueinander, des ganzen Chors zum Orchester und zum Raum
war vollkommen befriedigend, der Chor trat überall in voller Klarheit und Kraft
als das herrschende Element hervor.
Frau Jenny G o it sah in ibd-Li ut hatte die Sopransoli übernommen und
dadurch dem Fest einen Glanz gegeben, den nur sie ihm verleihen konnte. Wer
sie zum ersten Mal hört, wird anfangs frappirt werden durch die Verschleierung,
welche namentlich die Mitteltöne etwas bedeckt, allein nur einen Augenblick,
so wird man ergriffen und gefesselt durch die innere Macht dieser Stimme, es
ist einem, als läutere sie sich im Singen von diesem Anfluge eines fremd¬
artigen Elements und — täusche man sich darin oder nicht — man hört dann nur
einen Klang, der die reinste und wahrhafteste Verkörperung »es musikalischen Ge¬
dankens ist. Wer Frau Jenny Goldschmidt die vollkommenste Reinheit und
Sicherheit der Intonation, die strengste Correctheit im Vortrag, Deutlichkeit
und Klarheit der Aussprache, (die nur bei einigen Lauten einen skandinavischen
Accent hat) die staunenswertheste Virtuosität in allem, was die Gesangslechnik
angeht und wie das Register uoch weiter fortgehen mag, nachrühmt, der wird
die Vorstellung einer großen Sängerin hervorrufen — und das ist sie un¬
bestritten — allein ihr eigentliches Wesen ist darin nicht beschlossen. Was sie
zu einer in ihrer Art einzigen Erscheinung macht, ist die geniale Kraft, mit
welcher sie, was sie auch immer singt, bis ins geringste Detail ans sich heraus in
einer Weise belebt, daß es ihr eigenstes Eigen wird, ohne daß dem Kunstwerk
etwas Fremdes hinzugethan wird — das Geheimniß der künstlerischen Repro¬
duktion in ihrer höchsten Vollendung, das im Grnnde ebenso unbegreiflich ist,
als pas der Production selbst und womit man sich durch Bezeichnuncun wie
geistreiche Auffassung und dergleichen nicht abfinden kann. Die Wirkung aller
ist um so tiefer, als daS Mittel dieser Reproduction das geistigste, das freiste
ist, in welchem daS Innere am tiefsten und reinsten sich ausdrückt, die Stimme;
und es ist nicht zu sagen, mit welcher Innigkeit und Wahrheit Frau Gold¬
schmidt den einzelnen Ton zu beseelen vermag, so daß der Hörer, von jener
Bewegung und Rührung ergriffen wird, die allein die vollendete Schönheit in
einem empfänglichen Gemüth erzeugt. Jeder wird sich leicht an Einzelheiten
erinnern, die ihn besonders ergriffen haben, ich will nur an eins erinnern.
Die erste Sopranarie der Schöpfung schließt bekanntlich mit den Worten „Hier
sproßt der Wunden Heil." Haydn hat hier den Wunden durch das eilf im
Baß einen stark accentuirtem Ausdruck des Schmerzes gegeben, die wohlthuende
Auflösung >n den Durdreiklang genügte ihm das Heil zu bezeichnen. Wäh¬
rend nun die meisten Sängerinnen sich bemühen, den schmerzlichen Ausdruck
noch mehr hervorzuheben, wußte Frau Goldschmidt dem Ton, mit welchem sie
das Wort Heil sang, ohne ihn ungebürlich herauszuheben, einen Charakter
zu geben, daß er wie mit einer sühnenden Kraft in die Seele des Hörers
drang.
So leicht es ist, Frau Goldschmidt zu loben, so schwer ist es, den
Sängerinnen, welche neben ihr auftraten, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
Fräulein Mathilde Hartmann aus Düsseldorf, weiche dort und in den
benachbarten Städten einen wohlerworbenen Ruf als Eonccrtsängerin genießt,
hatte die Sopransoli, Fräulein Pels-Leuöden aus Köln die Altsoli über¬
nommen und einige Schülerinnen der Kölner Musikschule traten bei kleinen
Ensemblesätzen mit ein - Es wird niemand einfallen, rücksichtlich der Stimme
oder Virtuosität Vergleichungen anstellen zu wollen, die ungerecht und unbillig
wären, allein es ist unmöglich, neben dem Gesang der Goldschmidt alles, was
in geistiger Durchdringung und völlig freier lebendiger Darstellung jeder Aus¬
gabe hinter ihr zurückbleibt, nicht als einen absoluten Mangel zu empfinden.
Man mag die Unbilligkeit der Anforderung erkennen, sie bleibt nichtsdesto¬
weniger unabweisbar. Und da dürfen sich die Damen beklagen, wenn ihr«
sehr anerkennenswerther Leistungen nicht den Eindruck machten, den sie unter
etwas andern Umgebungen zu machen nicht verfehlt hätten und wenn sie sich
mit dem Lobe begnügen müssen, auf dankenswerthe Weise dem Ganzen gedient
zu haben.
Herr Schneider aus Leipzig war der Tenorist des Musikfestes, und
daß man ihm nachrühmen darf, den zweiten Platz neben Frau Goldschmidt
mit Ehren eingenommen zu haben, schließt gewiß kein geringes Lob in sich.
Er ist bekannt als ein Sänger von tüchtiger Bildung, der es ernst nimmt,
Dem die Würde der Kunst mehr gilt, als ein durch einen Kunstgriff leicht er¬
rungener Beifall, und von dem man einen durchdachten Vortrag mit Sicher-
heit erwarten darf. Er wußte seine schöne und namentlich in der eigentlichen
Tenorlagc — denn in den tiefern Tönen verliert sie an Kraft — sehr wohl¬
klingende Stimme vortrefflich geltend zu machen und namentlich gelang es
ihm fast durchgehends, eine gewisse Neigung zu weicher Sentimentalität, von
der er sich sonst nicht immer frei hält, zu besiegen und seinem Gesänge den
Charakter einer kräftigen Männlichkeit zu geben. Das Publicum sprach seine
lebhafte Befriedigung durch wiederholten und lauten Beifall aus.
Nicht ganz so befriedigend war die Baßpartie durch Herrn Mitterwurzer
aus Dresden vertreten. Seine Stimme ist mehr Bariton als Baß und in
der Tiefe deshalb nicht ausreichend, auch hatte er das Unglück, nicht immer
rein zu intoniren. Kaum geringer war der Uebelstand, daß er das Theater
nicht vergessen konnte und theils im Vortrag gewisse Unarten, namentlich das
Ueberziehen der Töne und Uebertreibungen, wie man sie in der Oper leider
zu hören gewöhnt worden ist, nicht unterlassen konnte, theils die Gelegenheit,
die Stärke seiner materiellen Stimmmittel geltend zu machen mitunter indis-
cret benutzte. Kurz man vermißte oft die Einfachheit und Würde, durch
welche sich eine wahrhaft künstlerische Bildung bewährt Hätte und Herr Mitter¬
wurzer stellte sich selbst gegen die andern Solisten in den Schatten.
Man war natürlich bedacht gewesen, der imposanten Sängermasse ein
entsprechendes Orchester gegenüberzustellen. Die Saiteninstrumente waren so
stark besetzt, daß sie gegen die Blasinstrumente vollständig die Oberhand be¬
halten und den Kern des Ganzen bilden konnten, wie es sich gehört und wie
man es doch jetzt nicht gar oft hört. Es waren Kö Violinen, Ä9 Bratschen,
SS Violoneelle und -14 Contrabässe; dagegen von den Holzbläsern vier bei jedem
Instrument und die Blechinstrumente, mit Ausnahme der Hornisten, deren sechs
waren, nur einfach besetzt. Das Orchester war überwiegend aus Musikern von
Düsseldorf, Köln und Elberseld gebildet, das Contingent, welches andre
rheinische Städte gestellt hatten, trat gegen diese zurück, einzelne waren
auch aus andern Gegenden hinzugekommen. Als Vorgeiger hatte man
Herrn Concertmeister David aus Leipzig eingeladen, mit dessen Erfahrung,
Eifer und Ausdauer an diesem Platz wenige es aufnehmen mögen. In der
That waren auch die Leistungen der Saiteninstrumente durchaus ganz vortreff-
lich; der feste und gesunde Charakter, welchen die Klangfarbe des Orchesters
durch die kräftige Haltung der Saiteninstrumente erhielt, machte in seiner Art
einen ebenso wohlthätigen Eindruck, als ihn der Chor machte, und beide in
ihrem Zusammenwirken waren vo» imposanter Macht. Leider kann man nicht
verhehlen, daß die Blasinstrumente den Saiteninstrumenten in keiner Weise
gleich standen. Daß eine ausgezeichnete Virtuosität nirgend hervortrat, würde
man nicht tadeln können, allein sie genügten auch den Anforderungen nicht
überall, welche man bei Aufführungen dieser Art an Orchesterspieler zu stellen
berechtigt ist. Es keimen einzelne Versehen vor, welche, wie billig man
auch über Unglücksfälle denken mag, sich wenigstens nicht wiederholen dursten,
im Allgemeinen war Ton und Vortrag der Bläser nicht über dem Gewöhn¬
lichen und ohne die kräftige Stütze der Saiteninstrumente wären sie kaum gut
durchgekommen. Es ist eine eigenthümliche Erscheinung, daß heutzutage mit
Ausnahme einiger großer Kipellen allenthalben geklagt wird, daß die Blas-
instrumente immer weniger cultivirt werden und an guten Bläsern der größte
Mangel ist — zu einer Zeit, wo die Componisten diese Partie des Orchesters
mehr in Anspruch nehmen, als je. Es ist das auch ein Beweis dafür, daß die
künstlerische Produktion sich mehr und mehr von der realen Bedingung einer ge¬
deihlichen Wirksamkeit losgelöst hat. Wer jetzt componirt, fragt zuletzt nach der
Möglichkeit der Ausführung und gewöhnt sich lieber daran, den Werth, seiner
Gedanken nach den Mitteln zu schätzen, die er dafür in Bewegung setzt- in
früheren Zeiten waren die vorhandenen Mittel dein Componisten in der Regel
die gegebene Bedingung für Anlage und Umfang seiner Arbeit und die Kunst
hat sich bei dieser Beschränkung nicht schlecht befunden. Allerdings läßt sich
die zunehmende Vernachlässigung der Blasinstrumente dabei doch wol erklären.
Früher gab es eine Menge Kapellen, welche, wenn auch nickt stark besetzt und
mäßig besoldet, doch den Mitgliedern es möglich machten, sich aus ihren In¬
strumenten unausgesetzt künstlerisch fortzubilden und die damals herrsckende
Vorliebe für Harmoniemusik ließ auf die Blasinstrumente einen großen Werth
legen. Man glaube nicht, daß die weit vorgeschrittene Militärmusik jetzt eine
ähnliche Wirkung übe; sowenig als die einseitige Ausübung des Männer¬
gesangs eine gute Vorbereitung für eigentlichen Chorgesang ist, sowenig nützt
die Militärmusik der Ausbildung deS Orchesters; beide schaden, weil sie leicht
roh und beschränkt machen. Die meisten Mitglieder von Orchestern sind aber
ja leider in der Lage, daß sie von dem, was sie in dieser Stellung verdienen/
nickt leben können, sondern wo nur eine Gelegenheit sich bietet, oft selbst zum
Tanz spielen müssen, um nur zu eristiren. Das verdirbt nicht allein allmälig
Ansatz und Vortrag; manche Instrumente, die im Orchester unentbehrlich
sind, werden auch dort allein gebraucht z. B. das Fagott und es erheischt
gradezu erhebliche Opfer, wenn einer sich die Meisterschaft auf einem Instrument,
das ihn nicht ernähren kann, fortwährend erhalten soll. Will man gute
Orchester haben, so muß vor allen Dingen dahin gestrebt werden, daß es den
Mitgliedern materiell möglich werde, sich künstlerische Bildung zu verschaffen
und zu erhalten. Wie in den andern Künsten, so gilt auch in der Musik die
Mahnung, nicht die einzelne glänzende Leistung, nicht die Virtuosität durch
unverchältnißmäßi'^e Belohnungen auszuzeichnen, sondern das Handwerk zu bilden
und auch materiell z« h^.,^ ^„ut es frei werden und Theil haben könne an
der Kunst, für welche es allein den Boden bildet, in dem sie wurzeln kann.
Dies kann allerdings nicht durch Musikfeste erreicht werden, allein darauf
dürste man dort wol das Augenmerk mehr richten, daß nicht ein Theil des
Orchesters dem andern so merklich nachstehe. Auch das schien eines Musikfestes
nicht ganz würdig, das; man bei Schumanns Oratorium die Harfe gespart
hatte. Freilich hat sie unbequem wenig zu thun; allein bei einer solchen Ge¬
legenheit sollte wol auch nach dieser Seite hin alles aufgeboten werden, die
vom Komponisten beabsichtigte Wirkung zu erreichen.
Es ist keine kleine Aufgabe, eine Masse, wie sie Sänger und Orchester
bildeten — es waren im Ganzen 825 Mitwirkende — zu dirigiren. Freilich
sind die Einzelnen bereits eingeübt oder doch bekannt mit dem, was zu leisten
ist — dies gilt von den Singenden ganz allgemein, vom Orchester doch der
überwiegenden Mehrzahl nach — und es kommt also wesentlich darauf an, alle
die verschiedenartigen zusammengeströmten Elemente zu einer Einheit zu ver¬
schmelzen und zu beleben. Grade dies aber, ist und bleibt bei allem guten
Willen und der Uebung, welche die lange Reihe ähnlicher Zusammenkünfte gebracht
hat, eine Aufgabe, die immer wieder neue Schwierigkeiten mit sich führt. Ehe
der Einzelne sich gewöhnt, sein Wollen und Können ganz daran zu geben an
die Ordre des Höchstcommandirenden, bedarf es gewöhnlich einiger Kämpfe
und trotz aller Vorbereitungen bringen mitunter die ersten Proben ein Chaos
zuwege, das einen ganz andern Eindruck als das Haydnsche macht. Ferdi¬
nand Hiller, dem die Leitung dieses Mal übertragen war, hat seit vielen
Jahren unter so verschiedenen Verhältnissen sich als Dirigenten bewährt, daß
es ihm anch für außerordentliche Gelegenheiten an Umsicht, Festigkeit und
Nuhe nicht fehlen kann; außerdem besitzt er eine reiche Lebenserfahrung, ge¬
winnende Formen im persönlichen Verkehr und die Gabe vortrefflich zuspreche»,
endlich Autorität als Künstler — lauter Bürgschaften für einen günstigen Er¬
folg. Dazu kam, daß er einen wesentlichen Theil der Vorbereitungen selbst
geleitet hatte, als Musikdirector in Köln und früher in Düsseldorf mit allen
Verhältnissen genau bekannt geworden war und sich in jeder Beziehung heimisch
fühlen konnte. Er hatte sich deshalb auch uicht auf seine Function als Dirigent
beschränkt, er war Mitglied deS FestcvmitL und hatte sich um das Zustande¬
kommen und die Einrichtung des ganzen Festes durch eifrige und erfolgreiche
Thätigkeit die größten Verdienste erworben.
Vor allen Dingen aber bedarf der Dirigent an einem Musikfeste einer
festen Gesundheit, denn es ist eine so unausgesetzte geistige und körperliche An¬
spannung, in welcher alle Mitwirkenden, der Dirigent also in ungleich höherem
Grade, gehalten werden, daß man kaum begreift, wie es auszuhalten ist. Am
Freitag, den 25. Mai, Morgens neun Uhr begann die erste Probe, die bis
Mittag, Nachmittags um vier die zweite, die bis in den Abend dauerte; am
Sonnabend sing die Probe schon Morgens um acht Uhr, dafür denn auch
Nachmittags eine Stunde früher an, und dauerte bis spät am Abend. Am
Sonntag war Rasttag und nnr des Abends Concert, Montag und Dienstag
den gauzen Vormittag Probe und Abends Concert. Man muß gestehen, daS
war eine so scharfe Campagne, daß es alle Anerkennung verdient, wenn es
weder Kranke noch Deserteurs gab. Im Gegentheil wurden die Proben auch
vom zuhörenden Publicum ziemlich stark besucht. Manche machten sich wol
die geringeren Eintrittspreise zu Nutze und verzichteten nachher aufs Concert,
wenn sie die Probe gehört hatten. Diese hatten denn freilich dafür manches
auszustehen. Wer sich z. B. darauf gespitzt hatte, Frau Goldschmidt als Perl
zu hören, den mochte es wol verdrießen, daß er zehn Groschen hatte sparen
wollen, als sie in der Probe nur so that wie singen. Für den, der sein Con-
certbillet in der Tasche halte, war grade das interessant, wie sie bei dein denk¬
bar geringsten Aufwand von Ton mit vollkommener Sicherheit nur die Spitzen
der Melodie streifte, so daß, wie in einer flüchtigen Zeichnung von Meister¬
hand entworfen, nur die Umrisse leicht aber vollkommen klar und fest heraus¬
traten. Ueberhaupt versetzen die Proben den einfachen Genußmenschen in
eine Art von TantaluSsituation. Wenn eben alles im besten Zuge ist, klopft
der Dirigent auf — er sieht gar nicht ein warum, — bringt mit Mühe alle
zum Schweigen, hält eine Anrede, von der er im Zuhörerraum nichts versteht;
nun gehts wieder von vorn an, damit an derselben Stelle gleich wieder auf¬
gehört wird. Wenn es damit geht wie im Andante der Cmoll Symphonie,
wo die Bässe allein ihre Passagen spielen mußten, daß man denken sollte
antediluvianische Mammuths singen an ihre Gebeine in Bewegung zu setzen,
wird er sich auch humoristisch angesprochen finden, aber leider sind es meistens
gar nicht die schönsten Stellen, die man gern recht oft hören möchte, welche
so oft wiederholt werden. Der nrme Mensch kommt am Ende in ein solches
Mißtrauen hinein, daß er sich gar nicht mehr zuzuhören getraut, blos weil er
fürchtet, daß ihn das heimtückische Klopfen doch gleich wieder stören wird. Ja,
eS kann ihm passiren, daß, wenn drei ober vier Stellen aus einer Ouvertüre
jede zwanzigmal gespielt sind, der Dirigent die Partitur zumacht und sagt:
„Ich danke Ihnen, meine Herrn, das Uebrige geht so!" Für den rechten Lieb¬
haber abu-, der die Proben besucht, um die Musikstücke kennen zu lernen und sich
für die Concerte vorzubereiten, der seine Freude an dem Fortschritt in der
Ausführung, ein der immer feineren Ausarbeitung des Details hat, für den
ist jede Störung der Art eine Erhöhung seines Genusses und er fühlt sich in
seinem Gewissen beunruhigt, wenn es gar zu glatt fortgeht. Glücklich ist er,
wenn er nachlese» «„h den Dirigenten controliren kann; mit dem größten Be^
Hagen bemerkt er Fehler, von denen jener keine Notiz nimmt und wundert sich,
wenn jener aufhören läßt, wo er nichts gehört hatte; und wenn alles vortreff¬
lich geht, so «ahrt er wenigstens seine Selbstständigkeit durch Mißbilligung
verschiedener Tempi. ES fehlte nicht an pflichtgetreuen Musikfreunden, die
alle Proben und Concerte von A bis Z mitmachten. DaS ist wahrlich sehr
viel, denn jedes Concert setzte schon eine starke Genußfähigkeit voraus; allein,
wie manche Aerzte sagen, daß einer guten Constitution von Zeit zu Zeit ein
derber Diätfehler gesund sei, so geht es wol, mit den musikalischen Genüssen
auch: man kann in solchen Zeiten unglaublich viel vertragen.
Ueberhaupt verdubt man sich bei einem Musikfest, wie es scheint, den
Magen nicht. Das Sprichwort sagt: Die Liebe zehrt; — das mag zweifelhaft
sein, allein ganz gewiß ist eS, daß Mustk zehrt. Man hat längst beobachtet,
daß sich die Musiker auch durch ihren Appetit auszeichnen — ich weiß nicht, ob
diese Thatsache schon physiologisch untersucht und aufgeklärt ist, die Kamera¬
listen scheinen ihr noch nicht die wünschenswerthe Beachtung geschenkt zu haben,
sonst würden die Musiker wol besser bezahlt — und selbst die, welche durch
Zuhören zu temporären Musikern werben, pflegen diese Wirkung an sich-zu
erfahren. Daher sah man denn nach Proben und Concerten die Scharen
der activen und passiven Musiker in beschleunigtem Tempo den wohlbesetzten
Tafeln der Wirthshäuser entgegenziehen. Denn auffaUenderweise war im
Festlocal selbst keine Einrichtung zu einer großartigen Mittagstafel getroffen.
Was Essen lind Trinken anlangt ist man bekanntlich am Rhein wohl aufge¬
hoben uno es war jegliche Gelegenheit geboten, die musikalische Stimmung zu
erhallen und zu erhöhen. Daß die Wirthe ihrerseits den außerordentlichen
Zudrang von Fremden nicht unbenutzt ließen, sich gleichfalls in eine festliche
Stimmung zu versetzen, kann man sich denken. Namentlich wer nicht zur
rechten Zeit durch gute Freunde sich Quartier besorgt hatte, konnte leicht in
die Lage kommen, selbst für wenig entsprechende Leistungen Preise zu zahlen,
die einer Weltstadt würdig waren und als eine genügende Vorbereitung auf
die pariser Ausstellung gelten konnten. Indessen so voll es war, konnte man
doch mit der Bewirthung sehr wohl zufrieden sein, auch gelang eS fast immer, daß
ein kleiner Kreis von Freunden sich zu behaglicher Unterhaltung zusammen¬
setzen konnte, was bei so mächtig einstürmenden Genüssen doppelt und drei¬
fach zu schätzen war. Die unfreiwillige Theilnahme an den ringsumher ge¬
führten Gesprächen erhöhet« gewöhnlich die Heiterkeit, indessen war es höchst
erireulich, trotz so manchen ins Gelag hinein geschwatzten Urtheilen wahrzu¬
nehmen, daß-ein reges und warmes Interesse für die Musik beim Musikfest
durchaus vorherrschte, und namentlich in welchem Grade die Schöpfungen
unsrer großen Meister allgemein bekannt sind und empfunden werden. „Wenn
die Stelle in der «.Imoll Symphonie kommt," sagte ein jovialer Mann, der
vom Lande hereingekommen war, „wo durch all den Kampf und Drang daS
sichere Gefühl des nahen Sieges durchdringt, dann bin ich fertig, dann kann
ich vie Thränen nie zurückhalten."
Am Sonnabend waren die Mitwirkenden vollständig beisammen, auch die
Zuhörer kamen meist im Laufe des Tages an und mit dem Schluß der Nach¬
mittagsprobe waren die Hauptvorarbeiten beendigt. Den Abend dieses Tages
bezeichnete für die Düsseldorfer noch eine Kundgebung patriotischer Freude.
Prinz Friedrich, der im Jahr 18-48 seine langjährige Residenz verlassen hatte,
kehrte zum ersten Mal wieder als Gast in Düsseldorf ein. Die Straßen,
welche die ganze Festzeit hindurch mit Maienbäumen, Guirlanden und Flaggen
geschmückt waren, erglänzten in strahlender Illumination und ein Fackelzug hieß
den Prinzen willkommen.
Am Morgen des Pftngstsonntagö war Generalpause. Die durch Arbeit
und Genüsse der vorigen Tage Erschöpften sollten sich erholen, und den von
allen Seiten Herbeigeeilten eine Gelegenheit geboten werden, sich miteinander
zu unterhalten. Als der Platz, wo alles sich vom frühen Morgen an vereini¬
gn: werde, war der Ananasberg bestimmt. Um ganz ungerechtfertigte Vor¬
stellungen von dem tropischen Klima oder dem Lurus der Düsseldorfer zu be¬
seitigen, muß bemerkt werden, daß dort weder Ananas gezogen werden, noch
Ananaspunsch gedräuet wird. Der Ananasberg, der seinen Namen völlig wie
wen« Ä non luoenelo hat, ist ein mäßiger Hügel innerhalb der schönen,
weiten, durch herrliche Bäume und zahllose Nachtigallen ausgezeichneten Park¬
anlagen Düsseldorfs, bei schönem Welter ein anmuthiger Punkt. Dort wurde
früh Kaffee getrunken, der anch etwas weniger schlecht war als er in den
rheinischen Wirthshäusern gewöhnlich ist; natürlich, da die Engländer zum
Frühstück Thee zu trinken gewohnt sind, wird man sich doch nicht für die
Deutschen anstrengen? Daß auch der Maitrank nicht fehlte, versteht sich von
selbst. Denn obgleich dies Getränk jetzt so ziemlich über ganz Deutschland
ausgebreitet sein mag, so ist doch der Rheinländer fast so stolz auf dieses
heimische Product als aus den Rhein, und wird beide mit Wort und That zu
rühmen nicht müde.
Hiller hatte mit seinem Motto „Es muß doch Frühling werden!" Recht
behalten; trotzdem daß am Sonnabend das Wetter sehr bedenkliche Mienen
machte, wurden wir am Sonntag Morgen mit dem schönsten klarsten Psingst-
wetter überrascht. In der heitersten Stimmung zog man dem Sammelplatz zu,
wo Hiller mit anderen Mitgliedern des Comilv auf die liebenswürdigste
Art den Wirth machte, Bekanntschaften vermittelte und der Gesellschaft einen
sehr erwünschten Mittelpunkt bot. Allmälig füllte sich der Raum mit präsum-
tiven großen Musikern, und nun gab es für alle Bekanntschaften zu erneuern
und neue zu machen; allein wie eifrig einer auch sein mochte sich vorzustellen
und vorstellen zu lassen , immer blieben uoch große Unbekannte zurück, und
einige erregten die allgemeine Aufmerksamkeit nur dadurch, daß sie niemand
kannte. Aber auch an allgemein bekannten und berühmten Männern fehlte
es nicht, und wer die Bedeutung eines solchen Festes nach Namen abmißt,
der konnte zufrieden sein. Ein Verzeichnis) der Celebritäten zu geben, ist un-
thunlich; „wer fasset ihre Zahl?" Um nur einige Spitzen zu streifen: es fan¬
den sich Kritiker zusammen von Chorley aus London bis Hanslick aus
Wien, Pianisten von Se. Heller aus Paris bis Stein aus Neval,
Componisten von G ouvy bis Ver hülfe, Kapellmeister von Franz Lachner
bis Franz Liszt, Musikdirektoren aber gab es beinahe noch mehr als Ge^
Heimräthe in Berlin. In munteren Gesprächen trieb sich alles miteinander
herum, einzelne Gruppen bildeten sich und lösten sich auf, stehend, sitzend,
gehend, je nach Bedürfniß; wer allmälig die Runde machte und hörte, wie
die verschiedensten Ansichten und Gesichtspunkte, Sympathien und Antipathien
sich aussprachen, mochte wol denken, daß Oberon und Tilania wieder goldene
Hochzeit hielten.
Nachdem der Vormittag so mit Flaniren verthan war, zerstreute sich die
Gesellschaft, um sich am Mittagsmahl zu stärken. Um 6 Uhr sollte das Con¬
cert beginnen; als die Zeit herannahete, wiesen die immer dichter gedrängten
Züge festlich geputzter Menschen auch dem Fremden den Weg nach dem Geis-
terseher Local am Ende der Schadowstraße. Dort, in einem hübschen großen
Garten ist der für die Aufführungen bestimmte große Saal an pas Wirth¬
schaftsgebäude angebaut. Er ist leicht aus Holz aufgeführt und weder von
Außen noch von Innen ist für die Decorirung desselben etwas gethan; man
hat ihn nur als ein Mittel zum Zweck behandelt, das für sich nichts zu be¬
deuten hat. Der Zuhörerraum bietet auf Bänken, die sich mehr durch Ein¬
fachheit als Bequemlichkeit auszeichnen, über 2000 Sitzplätze, und da sich un¬
gewöhnlich viel Zuhörer angemeldet hatten, war noch eine Tribune gebaut
worden, welche einige hundert Menschen faßte; am dritten Tage waren auch
noch Billets zu Stehplätzen ausgegeben worden. Der Charakter einer allge¬
meinen Festlichkeit wurde dadurch noch sehr erhöhet, daß gegen ein geringes
Eintrittsgeld auch der Garten dem Publicum geöffnet war. Bei günstiger,
ruhiger Witterung kann man in einem Theil des Gartens der Musik fast ganz
folgen; viele konnten sich den Genuß des Zuhörens verschaffen, andere ließen
sich am Sehen genügen. Es war sehr zweckmäßig, daß man das Concert
dnrch eine beinahe einstündige Pause unterbrach,- so daß die Zuhörer in Ruhe
sich in den Garten begeben und dort erholen und erfrischen konnten. Man
kann sich denken, wie belebt es dort war und doch war der Garten von der
Menschenmenge nicht unbequem überfüllt. Ueberhaupt waren die äußeren Ein¬
richtungen fast alle sehr gut und bequem, und man konnte wol merken, daß
schon eine gewisse Routine durch die wiederholten Musikfeste erlangt sei; nur
das wäre zu wünschen, daß künftig durch Vermehrung der Ausgänge nicht nur
für die Bequemlichkeit, sondern auch für die Sicherheit der das Local Ver¬
lassenden besser geformt werde.
Das Gerüst für die Musiker ist an der einen Schmalseite amphitheatra-
lisch aufgebaut. Die vordersten Reihen waren vom Sopran und Alt besetzt,
von da an aufwärts begrenzten die Reihen der Choristen die der Jnstrumen-
talisten, welche oben die ganze Breite des Gelüstes einnahmen und in einem
spitzen Keil sich bis ans Pult des Dirigenten hinabzogen. Die Aufstellung
eines so großen Orchesters hat bedeutende Schwierigkeiten und jede, die man
wählt, wird gewiß Nachtheile nicht vermeiden können; Hiller hatte, und hier
gewiß mit Recht, den Gesichtspunkt vorwalten lassen, die Saiteninstrumente
nicht zu trennen, sondern als den Kern des Orchesters zu concentriren, und
deshalb die Bläser oben zusammengestellt. Es war ein schöner Anblick, diese
mächtige, kampfbereite und siegesgewisse Schar, an ihrer Spitze den Flor der
geschmückten Damen, zu sehen, wie sie auf den Wink des Dirigenten warteten,
der wie ein Feldherr dastand, welcher sein Heer vor dem entscheidenden Augen¬
blick mit sicherem Blicke mustert.
Da Hiller die oberste Leitung anvertraut worden war, hatte man ihm
>rie billig die Ehre erwiesen, mit einer seiner Compvsttionen das Fest zu er¬
öffnen; es war die Symphonie mit dem Motto „Es muß doch .Frühling
werden!" gewählt, nach dem übereinstimmenden Urtheil eins der gelungensten
und bedeutendsten Werke Hillers. Wer etwa eine malerische Darstellung des
Frühlings mit Vogelgezwitscher und anderen Naturlauten erwartete, mußte
sich getäuscht finden; sie ist der sehr ernst gehaltene Ausdruck der Stimmung,
welche jener die Grenze von Verzweiflung und Hoffnung bezeichnende Aus¬
ruf andeutet. Wer auf dergleichen achtet, konnte sogar in dem mit fetter
Schrift auf dem Programm gedruckten dock den Hinweis finden, daß es in
der Symphonie hauptsächlich auf das Kämpfen und Ringen abgesehen sei.
So ist es auch, und vielleicht kann man es bedauern, daß eS, um im Gleich¬
nis? zu bleiben, zu anhaltend schlecht Wetter bleibt und auch schließlich der
Frühling nicht in seiner vollen Heiterkeit zum Durchbruch kommt, daß dem
Motto, insofern es die Gewißheit der wiederzugewinnenden freudigen Stim¬
mung ausdrückt, nicht volle Gerechtigkeit widerfahren sei. Darüber ist nicht zu
rechten, der Künstler hat die unbestreitbare Freiheit, was er in sich erlebt
und durchgemacht hat, so darzustellen, wie es für ihn volle Wahrheit hat,
und leider liegt es in unsrer Zeit, daß überall ein leidenschaftliches Stre¬
ben mehr hervortritt, als die ruhige Sicherheit des Erfolges. Wer diese
Berechtigung zugesteht hat dessenungeachtet seinerseits das Recht, daraus
hinzuweisen, wie die künstlerische Vollendung erheischt, daß Stimmungen und
Zustände, welche nur als vorübergehende, als vorbereitende ihre Berech¬
tigung haben, auch nur als solche dargestellt werden, und daß auch die
Schöpfung des Künstlers erst dann zur wahren Befriedigung und poetischen
Reinigung erhebt, wenn sie uns das Ziel erreichen läßt, auf welches alle jene
Kämpfe und Bestrebungen hinweisen. Und wer weiß es besser als der Musiker,
daß, je schärfere Dissonanzen er anschlägt, je länger er sie festhält, er um so
bestimmter und entschiedener auch die Auflösung eintreten und solange aus¬
klingen lassen muß, daß der Hörer zum vollständigen Gefühl der neu gewon¬
nenen Harmonie gelangt. Eine naheliegende Analogie bot grade hier die
dmvll Symphonie, diese musikalische Darstellung des kategorischen Imperativs.
Wenn Beethoven ihr ein Motto hätte geben wollen, er hätte vielleicht darüber
geschrieben: „Wir müssen doch frei werden!" Welcher Kampf gegen Sturm
und Ungemach, aber auch welche Siegesfreude, welcher Triumph. Vergleicht
man damit die neunte Synfonie, so drückt diese den Riesenkampf einer großen
Seele gegen die zur Selbstvernichtung drängende Verzweiflung in erschüttern¬
der Großartigkeit aus, allein die Rettung, indem sie sich zur edelsten, reinsten
Freude erhebt, in der entsprechenden Weise darzustellen, ist dem Meister nicht
gelungen. Wer seinem Lebensgang und der dadurch bedingten Entwicklung
aufmerksam folgt, wird sich das Resultat derselben wol erklären und begreifen,
daß dasselbe kein anderes sein konnte; diese historische Erkenntniß beeinträchtigt
aber das ästhetische Urtheil über das Kunstwerk nicht. Doch diese Be¬
trachtung hat uns zu weit von der Hillerschen Synfonie weggeführt, an
welche sie angeknüpft wurde. Wenn dieselbe uns auch nicht zu einer völlig
klaren Heiterkeit leitet, so versenkt sie uns auch nicht so tief in labyrinthisches
Grübeln und Selbstquälen. Sie vergegenwärtigt uns vielmehr einen tüchtigen
gesunden Menschen, der mit entschlossenem Sein und frischer Kraft sich durchs
Leben schlagen will, und dem man schon zutraut, daß eS.ihm wieder gut gehen
wird, wenn man es auch nicht gleich erlebt. Die Synfonie ist breit angelegt
und ausgeführt und vertrug deshalb die massenhafte Besetzung ebensowol, als
sie durch Erlist und Tüchtigkeit für ein Musikfest geeignet erschien. Daß sie
sorgfältig einstudirt war und mit Feuer und Leben gespielt wurde, versteht sich
von selbst; den Eomponisten und Dirigenten begrüßte lauter Beifall, in den
auch das Orchester mit einem Tusch einfiel.
Hatte uns Hiller den Frühling nur von ferne gezeigt, so erblühte dieser
in Haydns Schöpfung zu voller Pracht. Die Musiker deS^ entschieden^
Fortschritts, welche mit Berlioz für das erste Erfordenuß zeitgemäßer Musik
halten, daß sie übel klinge und allen Betheiligten schmerzliche Empfindungen
bereite, werden in der Wahl der Schöpfung ein beklagenswerthes Symptom des
bornirten Zopfthums erkennen. Die Fraction der musikalischen Welt, welche in
Düsseldorf versammelt war, schien in einer an Einstimmigkeit grenzenden
Majorität der entgegengesetzten Ansicht zu sein. „Und Gott sah, daß es
gut war." Das ist der Grundton, der die ganze Schöpfung durchklingt, die
herzliche Freude an allem, das ein Dasein hat, dessen es froh sein kann, die
sich unerschöpflich an jeder neuen Erscheinung von neuem bewährt. Wenn
mau es mit Recht als einen Mangel des Tertes bezeichnet hat, daß keine
rechte Abwechslung in der Stimmung ist, keine Gegensätze hervortreten und
namentlich die Chöre und Ensembles nur Lob und Preis ausdrücken, so ist
der Reichthum und die Frische, mit welcher Haydn dieser Grundstimmung einen
stets wechselnden Ausdruck zu geben vermag, der alle Stufen von der fröhlich¬
sten Heiterkeit bis zur staunenden Verehrung durchläuft, um so bewunderungs¬
würdiger. Denn wer etwa Haydn nur im kleinen, leichten Gerr'e gelten lassen
möchte, den braucht man nur an den Schluß des ersten Theils zu erinnern,
wo sich die Tonmassen in einer nicht endenden Steigerung zum großartigsten
Dom wölben, oder an die Worte „Dich beten Erd und Himmel an", die vom
geheimnißvollen Schauer des Heiligen durchdrungen sind, gar nicht zu reden
von dem wunderbaren: „Es werde Licht!" Daß alles mit den einfachsten
Mitteln erreicht ist, so klar und durchsichtig, daß jeder meint, eS müsse nur so
sein und er könne es auch so, daS ist ja doch nur ein Beweis des bewunde¬
rungswürdigen Genies, das mit Kleinem Großes wirkt, weil eS alles und
jegliches grade dahin stellt, wo es stehen soll und muß. Man spricht soviel
von Haydns kindlicher Naivetät — mit gutem Fug, wenn man darunter die
unversiegbare Kraft einer genialen Natur versteht, jeder künstlerischen Auf¬
gabe sich unbefangen hinzugeben, sie ihrem Keim und Wesen nach aufzufassen
und frei aus sich zu gestalten, welcher alle Erfahrung, alle Mühe und Arbeit
eines unausgesetzt strebenden Lebens zur gesunden Nahrung und Kräftigung
dient, Haydn vollendete die Schöpfung im Jahr 179«, er war damals
<)K Jahr alt, und man darf sich deshalb noch mehr über die jugendliche Frische
der Erfindung verwundern als über die außerordentliche Weisheit in der An¬
wendung aller Mittel einer Kunst, die ihn unausgesetzt beschäftigt hatte. Was
die technische Ausführung anlangt, so bewunderte man seiner Zeit besonders
die geschickte Behandlung des Orchester«, vorzugsweise der Blasinstrumente.
Daß hierauf Mozart einen entscheidenden Einfluß geübt hat, ist bei aller in¬
dividuellen Selbstständigkeit unverkennbar und von Haydn am bereitwilligsten
anerkannt, der kurze Zeit vor seinem Tode gegen einen Fremden, der ihn be¬
suchte, sich beklagte, daß der Mensch sterben müsse, wenn er kaum soweit sei,
das anzuwenden, was er gelernt habe; so glaube er eS jetzt gelernt zu haben,
wie man die Blasinstrumente gebrauchen müsse und könne, dem Tode nahe,
sein Wissen nicht mehr nützen. So wohlthuend auch der Ueberreizung der
modernen Jnstrumentation gegenüber die schöne und bei allem Reichthum klare
Wirkung eines Orchesters ist, so imponirt die Behandlung der Singstimmen,
welche auf einem gründlichen Studium der Gesangskunst beruht, heutzutage
noch mehr. Der Gesang ist der Natur der Stimmen angemessen, die Aus-
flihrung macht den Singenden Freude, die Schwierigkeiten sind durch Uebung
sicher zu überwinden, und alles klingt voll und schon. Allerdings werden
Sänger dabei vorausgesetzt, die tüchtig geschult sind, und nicht, wie heutigen
Tags so oft, bei einer guten Stimme mit allgemeiner Bildung statt GesangS-
schule auszukommen glauben. Schon in den Chören macht es sich oft gel¬
tend, daß in Gesangschulen gebildete Choristen vorausgesetzt sind, und für die
Soli ist auf wirkliche Gesangskunst gerechnet. Das war eine Freude zu
hören, wie rein und sicher, wie frisch und lebendig die Chöre gesungen wurden,
daß man in der gesunden und kräftigen Fülle des Wohllautes wie in einem
Bade schwimmen und sich erfrischen konnte; und Frau Goldschmidt zeigte uns,
was eine Solosängcrin sei. In so vollkommener Leistung erhielt auch die.
Bravour ihr Recht und ihre Bedeutung, und was mühselig herausgestümpert
oder seelenlos heruntergesungen als müßige und störende Zuthat erscheinen
muß, erwies sich als ein Schmuck, der dem Ganzen nicht als ein Fremdes an¬
gesetzt, sondern aus ihm hervorgewachsen ist und ihm angehört. Das Ver¬
langen nach einer absoluten Einfachheit der Gesangsmelodie beruht auf einer
Reaction gegen die maßlose Uebertreibung im verzierten Gesang, die wie ge¬
wöhnlich selbst wieder übertreibt; und wenn jene aus der Virtuosität hervor¬
gegangen war, so hat dieses eine Hauptstütze an mangelhafter Gesangsbildung.
Uebrigens ist die künstlerische Einsicht Haydns in diesem Meisterwerk viel
tiefer zu verfolgen als in der geschickten Handhabung der äußeren Mittel.
Sie läßt sich in der Anlage der einzelnen Musikstücke und ihrer Gruppirung
nachweisen, und je undankbarer und eintöniger der Tert ist, um so größer ist
die Kunst des Componisten, der es verstand, durch die weise Vertheilung und
Anordnung diese Mängel zu verdecken und das Interesse gespannt zu erhalten.
Nirgend vielleicht ist dies bewunderungswürdiger als im Anfange bis zu den
Worten „Es werde Licht." Die ungeheure Wirkung derselben beruht nicht
etwa allein auf dem plötzlichen Eintreten des nach dem lange dauernden
viel bedeutsamer ist der Eintritt des lange ersehnten und immer zurückge¬
haltenen das den Zuhörer zum ersten Mal frei ausathmen läßt. Wenn
man den labyrinthischen Verschlingungen der Jnstrumentaleinleitung folgt, wo
jedes Instrument auf eigne Hand sich eine Existenz zu erringen sucht und
daher eins das andere immer zu stören scheint, wo in dem fortwährenden
Streben nach Gestaltung und Vereinigung durch unausgesetzte Seitenbewe>
gnügen einzelner jedes feste Zusammenschließen gehindert wird, so fällt es auf,
daß die Tonart, auf die man gleich anfangs hingewiesen wird, «natur, nie
angeschlagen wird, so oft man auch auf sie zugeführt wird. Dies Gefühl von
Unsicherheit bleibt auch in dem Anfangsrecitativ und den ersten Worten
des Chors, in denen immer um die Haupttonart herumgegangen wird, bis
mit dem Worte Licht die peinliche Spannung ein Ende nimmt und die Ton-
art Oclur erscheint, die nun auch nicht blos angeschlagen, sondern fest ausge¬
prägt wird.
Man kann kaum von der Schöpfung sprechen, ohne der Tonmalereien zu
gedenken, welche die Kritik Haydn so vielfach zum Vorwurf gemacht hat und
die doch auch heute noch von den meisten mit Behagen angehört werben.
Die Art, wie der Verfasser des Textes durch sein naturhistvrischcö Nesumv den
Componisten zwang auf Detailmalerei einzugehen, kann niemand gut heißen;
wenn man erwägt, wie Haydn sich aus der Sache zog, muß man zwischen
den Arien und Recitativen unterscheiden. In den Arien tritt die Ton¬
malerei in einer Weise auf, gegen die sicherlich nichts einzuwenden ist. Ge¬
wisse in der Natur gegebene, durch ihren rhythmischen over auch melodischen
Charakter gradezu musikalisch wirkende Elemente, wie sie im Rauschen des
Wassers, im Vogelgesang u. tgi. enthalten sind, werden nicht etwa blos nach¬
geahmt, sondern geben den Impuls zu Motiven, welche künstlerisch concipirt
und durchgeführt werden. Dies ist an sich nicht nur nicht verwerflich, sondern
es ist in der Natur begründet, und es kommt also nur darauf an, daß es mit
Geschick und Geschmack ausgeführt werde. Etwas anders verhält es sich mir
den Recitativen. Denn hier kommt es nicht auf den Ausdruck der Stimmung,
aus künstlerische Ausführung der Motive, sondern nur daraus an, verschievene
Erscheinungen mit einer musikalischen Charakteristik gewissermaßen zu illustriren,
wobei oft nicht einmal ein musikalisches Element in dem Gegenstand gegeben
i>t, sondern durch eine witzige Combination erst ein musikalisches Ancllogon ge¬
sucht werden muß. Wie Haydn sich hierbei zu helsen wußte, davon gibt das
berühmte Recitativ ein Beispiel, in welchem die Thiere der Erde geschaffen
werden. Der brüllende Löwe, der gelenkige Tiger, der schnelle Hirsch, das
springende Roß, konnten durch Klang und Rhythmus bezeichnet werden,, aber
was war mit den Ninver- und Schafherden zu machen? Haydn greift der
Schöpfungsgeschichte vor, er versetzt sich nach Arkadien und läßt aus der Flöte
ein idyllisches Hirtenlieb blasen. Aber wie würde er lächeln, wenn er hörte,
wie sich unsre Bassisten abmühen, das ganz ruhig erzählende Recitativ: „Auf
grünen Matten weidet schon das Rind in Herden abgetheilt" im zärtlichsten
Ton wetteifernd mit der Flöte vorzutragen! Es ist wol einleuchtend, daß diese
Art von Tonmalerei nur als Scherz gelten kann, und nur bei einer humo¬
ristischen Auffassung am Platz ist. Sie war deshalb besonders in der komi¬
schen Oper beliebt und namentlich in den Baßpartien, die vor allen die eigent¬
lich komischen waren, mit Vorliebe angewendet und ausgebildet. Es ist daher
wol nicht zufällig, daß auch in der Schöpfung diese Recitative dem Baß zu¬
gewiesen sind — das Tenorrecitaliv in dem Sonne und Mond geschaffen
werden, ist ernster gehalten — wie denn auch die Baßarien starker ausge¬
tragen sind — das tiefe ü der Fagotte, um die drückende Last zu bezeichnen,
ist gradezu ein komischer Spaß; — sondern die Tradition übte einigen Ein¬
fluß. Vielleicht erklärt sich daraus auch die auffallende Erscheinung, daß die
beschreibende Musik immer den Worten vorangeht, da doch die Wirkung besser
erreicht würde, wenn man vorher erführe, was die Musik bedeuten solle. Denn
in der Oper geht im begleitenden Recitativ die Musik dem Wort, weil sie die
Stimmung ausdrückt, dem dasselbe entspringt, als Vorbereitung —
Wem nun diese Art zu scherzen mit der Würde des Oratoriums und des
Gegenstandes nicht wohl vereinbar scheint, dem kann man vielleicht zu be¬
denken geben, daß diese Art des Oratoriums keine Kirchenmusik ist noch sein
will, vielleicht darf man anch fragen, ob denn das Bauermädchen aus der
Dorfgeschichte, das auf die Frage des Pfarrers, wie man Gott dienen solle,
herzhaft antwortete: Lustig! so unbedingt Unrecht habe. Haydn wenigstens
wäre das ans der Seele gesprochen gewesen.
Es war interessant mit den so oft vornehm belächelten Tonmalereien
Haydns die neuerer Componisten zu vergleichen. Mendelssohns Ouver¬
türe Meeresstille und glückliche Fahrt ist ganz darauf gebauet. Die
sinnlichen Eindrücke, welche das so verschiedenartig modificirte Rauschen von
Wind und Wellen, das rührige Treiben auf dem Schiff auf ein musikalisches
Ohr machen, haben auf die Conception dieses Musikstücks mindestens ebenso
großen Einfluß gehabt als das Goethesche Gedicht, daS ja dieselben Erschei¬
nungen poetisch aufgefaßt wiedergibt. Auch hier haben sie nur den Impuls
zu den Motiven hergegeben, welche den Gesetzen der Kunst gemäß zu einem
Ganzen verarbeitet sind, welches der Ausdruck eines innerlich Erlebten, einer
echten Stimmung ist. Die in der Natur gegebenen Elemente sind auf eine
geistreiche Weise benutzt, und ebensowol der sinnliche Eindruck treffend wieder¬
gegeben alö die Stimmung ihren einsprechenden Ausdruck darin findet. Bei¬
des ist auf die schönste Weise z. B. in der StelK erreicht, wo durch das leise
Geplätscher der Wellen, die das ruhig hingleitende Schiff umspielen, eine
sehnsüchtige Melodie hindurchdringt: wer je auf der See gewesen ist, muß die
tief poetische Wahrheit im Ausdruck empfinden. Dagegen fällt der Schluß
mit den Kanonenschüssen der Pauken und der Trompetenfanfare aus der idealen
Haltung in die materiellste Wirklichkeit, und auf einen Scherz ist man durch
nichts vorbereitet. Auch Schumanns Paradies und Perl ist reich an an¬
ziehenden Tonmalereien; daß sie, während die in der Schöpfung aus der Natur¬
geschichte entnommen sind, mehr der Geographie angehören, ändert sowenig
etwas am Wesen derselben, als daß sie mehr phantastisch sind, wie das die
Natur des Stoffes bedingt. Denn die Geister des Nils hat freilich niemand
gehört, sowenig als das Läuten der Glöckchen an Allahs Thron und doch
ist in ihrer Darstellung eine so vollständige Tonmalerei, wie wenn in der
Schlacht das Schwirren der Pfeile ausgedrückt ist, und selbst der drückende
schwüle Pcsthi'.und ist durch Töne gemalt. Die moderne Jnstrumentation hat
sowol in der materiellen Wirkung als in den sublimerer Objecten ihrer Malerei
mehr raffinirr, zum Theil mit glücklichem Erfolg, allein im Wesentlichen ist
immer dasselbe Verfahren geblieben.
Die Aufführung gelang erfreulich. Daß kein störendes Mißgeschick ein¬
trat, war ein Glück, denn keine Sorgfalt kann dies verhüten; daß alles frisch
und freudig eingriff und tüchtig zusammenhielt, war das Verdienst der Mit¬
wirkenden. Die Wirkung war allgemein und groß, offenbar war das Publi-
eum von derselben Freude durchdrungen wie die auf dem Orchester, es war
eine Stimmung, ein Gefühl von Glück und Befriedigung, wie nur daS wahr¬
haft Schöne und Vortreffliche es hervorruft. Den Preis trug natürlich Frau
Goldschmidt davon, die beiden Arien von ihr gehört zu haben wird jeder
der Anwesenden als einen bleibenden Gewinn empfinden. Nachdem die zweite
Arie geendigt war, wurde der Jubel sogroß, daß auch die Musiker mitten in die
Schöpfung hinein, an der sie doch selbst Theil nahmen, einen Tusch bliesen.
Herrn Schneider wurde jedenfalls verdienter, reicher Beifall zu Theil und
auch Herr Mitterwurzer ging nicht leer aus.
Das herrliche Wetter, welches den ersten Tag begünstigte, und das Ge¬
lingen des Concerts hatte eine so gute Stimmung verbreitet, daß, als es am
Montag trübe und unfreundlich war, auch mitunter regnete, dies von keinem
üblen Einfluß mehr war. Am Morgen wurde in einer langen Probe noch
einmal alles vorgenommen, was am Abend zur Aufführung kommen sollte;
man konnte derselben wieder mit Ruhe entgegensehen.
Das zweite Concert wurde eröffnet durch Mendelssohns schon er¬
wähnte Ouvertüre: Meeresstille und glückliche Fahrt; als die brillanteste
seiner Concertouverturen war sie wohl hier an ihrem Platz, obgleich sie nicht
die schönste ist. Sie wurde präcis und gut ausgeführt, nur hatte man daS
rasche Tempo zu bedauern, das allerdings vom Componisten selbst angegeben
ist; es war unmöglich die einzelnen Achtel zu hören, auch an den Stellen,
welche dadurch ihren eigenthümlichen Charakter bekommen. Nun darf zwar
das Allegro den Charakter deS feurigen Dahinströmens ja nicht verlieren,
allein es muß sich ein Mittel finden lassen, das beiden Forderungen genügt,
wenn man nicht dem Componisten Schuld geben will, daß er sich bei der Aus¬
führung seiner Intentionen vergriffen habe.
Den Hauptplatz dieses Concerts nahm Schumanns Paradies und
Per! ein. DaS ganze Programm des Musikfestes zeigt, daß man ohne alle
Tendenzmacherei und ohne ängstliche Rücksicht nach irgend welcher Seite vor
allen Dingen anerkannt gute Musik aufführen und der Gegenwart wie der
Vergangenheit gerecht werden wollte. Wenn daher der Schöpfung ein ähn¬
liches Werk aus neuer Zeit an die Seite gestellt werden sollte, so war man,
abgesehen von Mendelssohns oft aufgeführten Oratorien, auf Schumann hin¬
gewiesen. Die Gründe, welche dies Mal insbesondere dafür sprechen, dem
Meister diese Huldigung darzubringen, sind zu schmerzlich, um erörtert zu werden,
man folgte einem natürlichen und ehrenwerthen Gefühle, indem man sich durch
dieselben bestimmen ließ. Und dennoch kann man die Wahl dieses Oratoriums
für ein Musikfest nicht billigen. Die Musikstücke, welche dort zur Aufführung
kommen, müssen von der Art sein, daß sie durch die Massen und auf die Massen
wirken. Es ist nicht genug, daß sie eine allenfalls sehr verstärkte Besetzung
vertragen können, ihre ganze Anlage muß so beschaffen sein, daß die Ein¬
fachheit und Größe der Umrisse und der Ausführung durch eine massenhafte
Besetzung erst zur vollen Geltung kommt. Dem entsprechend müssen sie auch
auf die Zuhörer im Ganzen und Großen wirken. Ein so zahlreiches, aus den
verschiedenartigsten Elementen gemischtes Publicum will fest und sicher gepackt
sein; es ist nicht sähig, unausgesetzt uno mit Anstrengung aus ein im Einzel¬
nen seines und zartes Detail aufmerksam einzugehen und sich aus schönen
Einzelnheiten den Gesammteindruck selbst zu bilden, sondern es will ihn in
mächtiger Fülle sich entgegengebracht haben, davon überwältigt und hingerissen
werden. Durch die offene Erklärung, daß Schumanns Oratorium von dieser
Art nicht sei, ist keineswegs absoluter Tadel gegen dasselbe als Kunstwerk über¬
haupt ausgesprochen. Aber es leuchtet ein, daß dasselbe verhältnißmäßig we¬
nige Momente bietet, wo eine massenhafte Wirkung, namentlich durch den
Chor, möglich ist, wie das Auftreten des Eroberers, der Schiußchor des ersten
und pes letzten Theils. Uebrigens liegt es in der Natur des Stoffes und
des Colorits, welches der Dichter ihm gegeben hat, baß ver Charakter vorherr¬
schend weich, zart und phantastisch ist; dies sage auch Schumanns musikalischen
Charakter zu, und das Werk ist reich an wunderbaren Schönheiten dieser Art.
Die Krone derselben ist gewiß das Schlummerlied, welches den zweiten Theil
beschließt, und schwerlich Hai die neuere Musik etwas auszuweisen, das an
Tiefe der Empfindung, poetischer Auffassung und wahrhaft zauberischem Wohl¬
laut dieses Prachtstück überträfe. Durch den Gesang der Goldschmidt und den
vollen schönen Chor trat es ins glänzendste Licht und machte tiefen Eindruck.
Und zwar steht es keineswegs vereinzelt da, es sind eine Menge schöner Mo¬
mente durch das ganze Oratorium zerstreut, wenn sie gleich nicht alle gleich
abgerundet und plastisch ausgearbeitet sind. Allein sie wirken eben nur als
Einzelnheiten, jede für sich, ja vie Fülle derselben wird nachtheilig, weil eins
das andere verdrängt, ehe es in ver Seele des Zuhörers feste Wurzel geschla¬
gen hat. Wer das Werk kannte, wer mit Hingebung und Liebe dem Einzelnen
zu folgen im Stande war, hat bei dieser mit so reichen Mitteln ausgeführten
Darstellung einen erhöheten Genuß gehabt, allein das' Publicum in Masse
besteht nicht aus Musikern und Musikfreunden der Art. Wenn daher leider
die wirklichen Verdienste dieser Composition, die unzweifelhaft";« den schönsten
und bedeutendsten Schöpfungen der neueren Musik gehört, grade hier nicht
zur rechten Geltung gelangen konnten, so ist es zu begreifen, daß die Schwächen
derselben um so ungünstiger einwirken mußten. Diese liegen zum Theil im
Tert. Selbst wenn man den dem Gedicht zu Grunde liegenden Gedanken als
sittlich und poetisch gerechtfertigt anerkennen wollte, was doch wol schwer
halten dürfte, so bleibt der große Uebelstand in der Anlage, daß für die künst¬
lerische, namentlich musikalische Behandlung keine Steigerung der Hauptsttua-
tionen, sondern eine Abschwächung herauskommt, die namentlich den dritten
Theil sinken läßt. Unleugbar ist' die größte Kraft zum Schluß des ersten Theils;
wenn man die weise elegische Haltung des zweiten auch als einen wirksamen
Gegensatz gelten lassen kann, so war nun für den dritten Theil ein Auf¬
schwung, der die Handlung von neuem und am höchsten steigerte, durchaus
geboten, und dieser fehlt ganz und gar. — Ein zweiter Manael ist der we¬
sentlich beschreibende Charakter des Tertes. Im Gedicht läßt die poetische Aus¬
führung es eher verzeihen, daß das reiche Panorama des Orients, welches
vor dem Leser ausgebreitet wird, mit dem eigentlichen Gegenstand des Gedichts
nicht viel zu thun hat und daß diese glänzende Decoration meistens um ihrer
selbst willen da ist. Wenn eS aber als die Grundlage für die musikalische
Behandlung erscheint, so vermißt man die prägnante und plastische Durchbil¬
dung der eigentlichen Hauptseenen umsomehr, da das beschreibende Element
größtentheils von der Art ist, daß es an sich einer Darstellung durch die Musik
nicht fähig oder derselben zum mindesten nicht günstig ist. Grade hier hat
zwar Schumann Außerordentliches geleistet und man muß die Kraft und den
Reichthum seiner musikalischen Phantasie bewundern, die aus einem Tert,
welcher den Musiker meist nur indirect anregt, eine Reihe eigenthümlicher,
meistens höchst amant' iger und reizender, immer feiner Tongemälde hervorrief,
die nicht blos mit Klängen spielen, sondern stets auch eine innere Stimmung
ausdrücken. Indessen macht der soeben angedeutete Charakter derselben es
doch auch begreiflich, daß zu vollem Genuß und Verständniß ein Publicum
erfordert wird, das den Interessen einer rafsinirteren geistigen Bildung nicht
fremd ist.
Hierzu kommen besonders noch zwei Umstände, welche einer schlagenden,
durchgreifenden Wirkung dieser Musik hinderlich sind. Der eine ist die Art,
wie bei der Bearbeitung des Textes das erzählende und das dramatische Ele¬
ment gemischt ist. Denn wenn man auch zugibt, daß dem Oratorium diese
Mischung zustehe — was so ohne Einschränkung kaum zuzugeben ist —, so
müssen wenigstens beide Darstellungsweisen bestimmt geschieden sein, die ruhig
fortschreitende Erzählung und die einzelnen daraus sich ablösenden mit drama¬
tischer Lebendigkeit ausgeführten Scenen müssen jede in ihrer Art scharf aus-
geprägt und an sich kenntlich, die letzteren namentlich müssen zu einer plasti¬
schen Gegenständlichkeit ausgearbeitet sein. Das ist hier nun nicht der Fall.
Die Erzählung ist nicht einfach und klar vorgetragen, sondern mit einer Fülle
von Beschreibungen und Betrachtungen verwebt, welche die Darstellung in eine
Sphäre hinausziehen, gegen welche die erhöhte Stimmung der dramatischen
Scenen keiner wesentlichen Steigerung mehr fähig ist, sondern nur als eine
etwas modificirte Form der poetischen Ausdrucksweise erscheint, wovon die nächste
Folge ist, daß sie auch zu keiner selbstständigen Gestaltung herausgebildet sind,
und daher den Gang der Begebenheiten anstatt ihn klarer zu machen, vielmehr
verdunkeln. Dieser Mangel ist nun auch ans die musikalische Behandlung nicht
ohne Einfluß geblieben. Denn indem der Componist den einzelnen Zügen der '
reich ausgestatteten Erzählung nachging und jeden musikalisch wiederzugeben
und auszuführen suchte, entstand allerdings jene Fülle von schonen Einzeln¬
heiten, welche dem Werke den eigenthümlichen Neiz eines poetischen Dusts
geben, der darüber ausgebreitet ist, allein sie hindern den Componisten wie den
Zuhörer, die Kraft auf die Hauptpunkte, die dramatischen Scenen zu concen-
triren, die sich denn auch musikalisch nicht wesentlich von dem Uebrigen unter¬
scheiden. Und hierdurch ist nun auch der zweite Uebelstand herbeigeführt. Die
detaillirte Ausführung der halblyrischen Erzählung, daS Ausmalen jedes ein¬
zelnen Zuges derselben spinnt sich in einem zusammenhängenden Faden fort,
der nur sehr selten vollständig abschließt. Dies ist schon psychologisch falsch;
eS ist unmvglil', mit gleich angespannter Aufmerksamkeit zu folgen, die Menge
der einzelnen Züge stumpft ab, einer schadet dein andern und für die Haupt¬
momente ist die volle Theilnahme geschwächt. Die Anforderungen, welche vom
künstlerischen Gesichtspunkt aus an eine geschickte Gliederung zu stellen sind,
müssen damit übereinstimmen. Die Schöpfung zeigte es recht eindringlich,
welcher Gewinn in der Anwendung des gewöhnlichen Neeitativs für die Erzäh¬
lung liegt, indem dadurch theils ein allgemeiner Grund gelegt wird, der alles
zusammenheilt und den einzelnen Musikstücken zur wirksamen Folie dient; theils
mit Nothwendigkeit darauf hingewiesen wird, die Hauptmomente selbstständig
hervorzuheben, in ihnen die Kraft zu concentriren, und die zurückgehaltene,
gesteigerte Empfindung voll und breit ausströmen zu lassen.
Schumanns Komposition steht sichtlich nnter dem Einfluß der in neuerer
Zeil vorherrschenden Richtung auf Instrumentalmusik; sie ist nicht, wie frühere
Werke dieser Art, aus dem Gesänge als dem Mittelpunkt hervorgegangen,
sondern der eigentliche Kern ist offenbar das Instrumentale, dem der Gesang
fast nnr wie ein gleichberechtigtes Element zugeordnet ist. Das Orchester ist
nicht allein, wo es als Begleitung auftritt, mit großer Borliebe in detaillirter
Ausführung behandelt, es übernimmt se.hr oft die eigentliche Ausführung dessen,
was die Singstimme mehr nur andeutet, und hört nie auf als selbstständige
Macht sich geltend zu machen. Dies ist dem Gesang gegenüber nicht das
richtige Verhältniß, noch weniger aber ist es zu loben, daß die Singstimmen
vielfach als Instrumente, und zwar in einer gewissen abstracten Weise behandelt
sind, so daß sie ungleich weniger in charakteristischer Individualität aufgefaßt
sind als die einzelnen Instrumente, Deshalb sind die einzelnen Partien auch
für keinen Sänger ganz genehm und hier tritt die Intention des Componisten
nickt immer klar hervor. Auch dies ist ein Grund, weshalb dies Oratorium
sich für ein Musikfest weniger eignet, weil die großen Gesangskräfte, die dort
vereinigt sind, in demselben nicht zur vollen Geltung kommen, und dies wirkte
ganz besonders auch auf die Zuhörer nicht günstig ein,
Es schien nicht überflüssig, auf diese Betrachtungen etwas näher einzugehn,
weil die im Ganzen nicht durchschlagende Wirkung auf das Publicum dadurch
begreiflich wird, ohne daß man diesem oder den großen Schönheiten der Com-
Position zu nahe tritt. Paradies und Perl nimmt unter den musikalischen
Lnstungen der neueren Zeit eine hervorragende Stelle el", die dadurch nicht
verkümmert wird, daß es von der Wirkung gewisser Richtungen und Ansichten
nicht frei geblieben ist, die gegenwärtig durchgängig sich geltend machen, ohne
daß man so wie hier durch soviel Geist und Poesie, Tiefe und Feinheit der
Erfindung und Ausführung entschädigt und erfreut würde.
Es war auf das schwierige Werk viel Mühe und Sorgfalt verwendet
worden, und die Aufführung entsprach derselben. Bei dem oben angedeuteten
Charakter der Comvosttion läßt sich über die Auffassung im Einzelnen vielleicht
rechten, sowie es begreiflich ist, daß von sovielen, feinen Intentionen die eine
mehr die andere weniger deutlich und schön hervortrat; aber schon das war
sehr anerkennenswert!),, daß bei sovielen, zum großen Theil scharf auf die
Spitze gestellten Effecten nichts mislang, nichts störte. Einzelnes, wie es wol
zu gehen pflegt, gelang in der Probe besser als in der Aufführung. z, B. der
Chor der Nilgeister, der an Leichtigkeit und Flüchtigkeit etwas eingebüßt hatte.
Wo der Chor sich geltend machen konnte, war er von trefflicher Wirkung; daS
Schlummerlied, das wunderlieblich klang, ist schon erwähnt, auch der Eingangs¬
chor des dritten Theils, dessen Erfindung sonst weniger originell ist, klang
besonders durch den zarten Vortrag sehr gut. Daß die großen kräftigen Chöre
tüchtig heraustraten war nicht anders zu erwarten. Frau Goldschmidt,
deren Wunsch den Ausschlag für die Aufführung der Perl gegeben hatte, sang
die Perl, die der Stimmlage nach eigentlich keine ganz günstige Partie für sie
war; allein wenn eiye Sängerin, so war sie geeignet, das Geistige und Poetische
dieser Erscheinung zur Geltung zu bringen, und daß sie für die auch durch die
Höhe außerordentlich anstrengende Schlußpartie die volle Frische und Kraft
bewahrt hatte, war ein neuer Beweis für ihre große Kunst. Der Damen,
welche neben ihr ,wi,c die Sterne um den Mond glänzten, ist schon dankbar
gedacht worden; Herr Schneider hatte vielfach mit der für ihn besonders
ungünstigen diesen Lage der Tenorpartie zu kämpfen, übrigens bewährte er sich
auch hier als einen Sänger von richtigem Gefühl und Verständniß für das
Poetische. Für Herrn M itterwurzer war die Partie, die übrigens die wenigst
bedeutende ist, besser gelegen, er konnte daher auch seine Stimmmittel besser
entfalten und trug Manches sehr gut vor.
Den Schluß des Concerts machte die Lmoll Synfonie. Wenn es ein
Orchesterstück gibt, das für ein Musikfest paßt, so ist es diese Synfonie; alles
kommt zusammen, Kraft und Kühnheit, Einfachheit und Größe, massenhafte
Wirkung, um Spieler und Zuhörer fortzureißen, und so geschah es auch hier.
Man kann bei der Aufführung von Jnstrumentalcompvsitionen auf Musikfesten,
einen im Einzelnen raffinirten und ausstudirtcn Vortrag billigerweise nicht
verlangen, da das Orchester sich dort erst zusammenfindet. In dieser Hinsicht
hätte der zweite Satz hie und da zu wünschen übrig gelassen; auch passirten
sonst einige Versehen. Indessen konnten sie der großartigen Wirkung keinen
Eintrag thun, und in der Hauptsache gelang die Synfonie sehr gut; die
Bässe z. B. zogen sich im Scherzo mit Glanz aus der schwierigen Affaire.
Nicht wenig trug zu der guten Wirkung auch das angemessene Tempo bei,
das nicht nur den feurigen Schwung, sondern auch die männliche Kraft und
die stolze Würde zur vollen Geltung gelangen ließ.
Der dritte Tag brachte in dem Künstlerconcert vorwiegend Leistungen
der Virtuosität. Frau Goldschmidt sang statt der ursprünglich angekündigten
Arie aus der Zauberflöte die letzte Arie der Susanne ans dem Figaro,
und statt der Mazurka von Chopin ein Lied von Mendelssohn. Mit
der ersten Aenderung war wol jeder zufrieden; denn diese Arie von Frau
Goldschmidt gesungen ist eine wahre Verkörperung der Poesie im Wohllaut.
Die Wirkung war von der Art, daß nicht allein das Publicum lautlos lauschte,
sondern auch die begleitenden Geigen in kaum noch hörbaren Seufzern erstarben,
wobei dem Orchester das Lob nicht vorenthalten bleiben soll, daß überhaupt
sehr discret begleitet wurde. Wer sich etwa auf die Kehlfertigkeit beim Vortrag
der Mazurka gefreut hatte, konnte in der Arie aus Beatrice ti Tenda
von Bellini sich an allen Chikanen einer fabelhaften Bravour, welche die
Sängerin bis ins hohe Ds führte, die spielend besiegt wurden, ersättigen.
Gewiß sind diese Leistungen der Virtuosin bei weitem nicht die höchsten der
Künstlerin, doch mag man wohl bedenken, daß ohne die unbedingte Herrschaft
über alle Mittel der Kunst, jene höchsten Leistungen nicht möglich sind. Daher
haben auch große Künstler meistens nicht verschmäht, mit dieser Herrschaft
gelegentlich einmal ein freies, ja übermüthiges Spiel zu treiben, das man als
solches auch gelten lassen kann; nur wo sie mit der Prätension auftritt, an sich
schon selbst das Höchste zu leisten, wird sie verwerflich. Es war merkwürdig,
als das Ritornell der Vellinischen Arie begann, dachte man vor Trivialität
umkommen zu müssen; allein die vollendete Kunst der Sängerin verstand es,
auch dieser Armseligkeit Leben und Seele zu geben. So mußte auch der Vor¬
trag eines Liedes in diesem Local und in dieser Umgebung wenig angemessen
erscheinen, und noch dazu hat das Lied („Die Sterne schaun in stiller Nacht")
eine stärkere Dosis Sentimentalität als billig ist; und doch, als es geendigt
war, blieb einem nur übrig mit Zelter auszurufen: „Vivat Genius uno hol
der Teufel die Kritik!" Daß das Entzücken des Publicums in stürmischem
Beifall, Tusch, Blumen und Gedichten sich äußerte, war nur in der Ordnung,
uno ebenso, daß Frau Goldschmidt die Begehrlichkeit der Zuhörer, die sich unter
stets erneuten Bravos versteckte, ignorirte und kein zweites Lied sang. Neben
ihr behauptete auch dies Mal Herr Schneider ehrenvoll seinen Platz; er hatte
sich die Arie aus der Zauberflöte gewählt, die seiner Stimme durchaus
zusagt, und die er in würdiger Weise vortrug: der verdiente Beifall ließ nicht
auf sich warten. Herr Mitterwurzer sang die Arie des Trift an aus
Iessonda, die an ihrem Platz in der Oper von guter Wirkung, aber für
das Concert kaum geeignet ist; auch war der Vortrag nicht schön und nicht fein.
Als Jnstrumentalvirtuosen traten Herr Goldschmidt und Herr Concert-
meister David auf. Daß dieser nach den unaufhörlichen Anstrengungen der
letzten Tage, die kaum auf einem andern mehr gelastet hatten als aus ihm,
noch bereit war ein Solo zu spielen und dies in einer Weise durchführte als
wäre es seine einzige Leistung, verdiente alle Bewunderung. Er hatte das
neue Concert von Rietz gewählt. So waren durch Mendelssohn, Nietz,
Hiller, Schumann die Meister vertreten, welche in Düsseldorf ihren Wir¬
kungskreis gesunden hatten: eine Reihe von Künstlern, auf welche diese Stadt
stolz sein kann. Herr Goldschmidt spielte Beethovens Concert in <^ein-'.
Die Wahl dieser tüchtigen und bedeutenden Musikstücke machte ihrem künst¬
lerischen Sinn Ehre, obwol sie ihnen in diesem langen und überreichen Concert
dem Publicum gegenüber, das für längere Compositionen nicht mehr die rechte
Aufmerksamkeit zu haben schien, keinen leichten Stand machten. Denn beide
Compositionen sind nicht von der Art, daß sie den Beifall Heraussordern, das
Publicum mit Lebhaftigkeit zwingen aus sich herauszugehen, sondern vielmehr
eine gewisse Sammlung und Ruhe voraussetzen, die mit stiller Achtsamkeit dem
Componisten folgt. Der Ruf beider^Herren als ausübender Künstler ist so
Itcher begründet, daß er der erneuten Anerkennung, welche beiden in vollem
Maße zu Theil wurde, nicht bedürfte.
Nicht weniger als drei Ouvertüren brachte dies Concert. Die Oberon-
ouverture von Weber eröffnete dasselbe; sie wurde vortrefflich gespielt und
elektrisirte das Publicum. Man kann an derselben gar manches mit vollem
Recht auszusetzen haben, doch ist ein gewisser Zug darin, der unwiderstehlich
mit fortreißt und seine Wirkung nicht leicht verfehlt, was dann auch aufs
Orchester zurückwirkt, so daß sie so gern gespielt als gehört wird. Die frische
und hübsche Ouvertüre vvnGade „Im Hochland" wurde in ihrer Wirkung
etwas beeinträchtigt durch den Regen, der auch schon den Tag vorher sich
während der Perl gemeldet hatte. Obgleich er nicht stark war, so machte er
doch auf dem beiliegenden Dach ein solches Geräusch, daß man nicht ungestört
hörte, umsoweniger als man fürchten mußte, daß, wenn er stärker würde,
eine völlige Unterbrechung eintreten müßte. Die dritte im Bunde war die
große Leonorenouverture: es war fast zu viel'nach allem, was man schon
gehört hatte; aber die Kraft und Tiefe dieses großartigen Seelengemäldes
ergreift so mächtig, daß sie jede Anwandlung von Schwäche überwindet. Wenn
man berichten kann, daß die gefährliche Stelle zum Eingang des Presto sicher
und tadellos gelang, so ist daS kein geringes Lob für das Orchester, das mit
dieser letzten Leistung, wahrlich keiner leichten, einen würdigen Schluß machte.
Es wäre Schade gewesen, wenn der Chor, den man bei einem solchen
Fest wol auch mit unter die Künstler rechnen darf, von diesem Concert sich
zurückgezogen hätte. Die allgemeine Freude, welche die Schöpfung erregt halte,
ward die Veranlassung, daß man den Schlußchor des ersten Theils am Ende
der ersten Abtheilung noch einmal sang; den Schluß des Concerts aber machte
das Halleluja aus dem Messias. DaS war denn eine Gelegenheit sür
den Chor, seine ganze Macht und Herrlichkeit zu entfalten; bei der gewaltigen
Steigerung, „Herr der Herrn" war eS, als wollten die immer mächtiger an¬
schwellenden Tonmassen das Dach abheben, um himmelan zu steigen. — Der
Schluß mit diesen Riesenwerken, der Beethovenschen Ouvertüre und dem Halleluja
gab auch diesem Concert eine ernste hohe Weihe und ließ den Zuhörern einen
Eindruck von Größe und Erhabenheit zurück, wie es eines Musikfestes würdig
war, daß man ans vollem Herzen sagen mochte: Ende gut, Alles gut!
Nach vollbrachter Arbeit vereinigte zur Feier des Gelingens ein fröhliches
Mahl eine große Anzahl der Mitwirkenden und Zuhörer, die bis spät in die
Nacht oder bis zum frühen Morgen in heiterem Gespräch beisammen blieben
und sich das Wort gaben: Aus Wiedersehen beim nächsten rheinischen Musikfest!
Der Neiz, welchen Paris dem Einheimischen gewährt, ist für den Freu^
den in der Regel verloren und dieser ist darauf angewiesen, diese Stadt zu
genießen, wie jede andere. Er läuft sich vom frugen Morgen an die Beine
ab und gibt sich nicht zur Ruhe, als >bis er an allen Orten, die ihm der
officielle Wegsührer als Merkwürdigkeiten anrühml, seine Visitenkarte abgege¬
ben hat. Obgleich er sich dann zuweilen in einem Augenblicke unbewachter
Aufrichtigkeit gesteht, daß die Reclame zu oft ein wohlwollendes Auge besitze
und daß daheim in Schilva oder in Hoppelpoppel dieselben Sachen zu sehen
seien, wenn sie auch weniger glänzende Namen bei der Taufe allzugefalliger
Journalisten erhalten haben, so fängt er doch schon am nächsten Morgen die
undankbare Arbeit wieder von vorn an. Muß er doch daheim den Basen
und Vettern über alles berichten und sowie von Paris die Rede ist, stets
ausrufen können: Ach, wie schön! Erinnerst du dich, Lotte, da waren wir auch,
das ist reizend, das ist wundervoll! Die Frau und die Tochter nicken vergnügt
Beifall zu und der Herr Oberstetlereinnehmer hebt das Haupt stolz empor und
gewinnt keine geringe Consideration in den Augen seiner verwunderten Mit¬
bürger. Sie staunen den Mann an, der das Talent halte, sich in einen
Eisenbahnwagen zu setzen und sich im Schlafe nach Paris bringen zu lassen.
Sie bewundern das Genie, das sich, einmal in dieser Stadt so mancher Cvn-
voilisc angekommen, wie ein Schaf von einem Schäferhunde von seinem ge¬
druckten oder lebendigen Wegführer auf alle Weideplätze herkömmlicher Merkwür¬
digkeiten führen ließ und überall vergnügt blökte und sich glücklich schätzte, sein
Geld auf so dumme Weise zu vergeuden. Die Naivetät dieser Krähwinklec ist so
groß, daß sie sich immer dann am meisten verwundern, wenn sie etwas finden,
was daheim auch so ist. ,,Sieh Mutter, das ist grade wie bei uns!" und
die ganze Familie staunt mit Andacht an, was sie zu Hause nie eines Blickes
würd igl e.
Die Wenigsten bringen Verstand genug mit, sich von der Tyrannei ihrer
Lohnbedienten oder ihrer Handbücher zu befreien und sich mit unbefangener
Heiterkeit in den Strudel des pariser Lebens zu stürzen und zu genießen,
was ihrem Geschmacke, ihrer Bildung, ihrer Anschauung entspricht, sich in
dem Kreise zu bewegen, der ihrem Wesen zusagt.
Während meines Aufenthaltes in Paris sind mir kaum ein halb Dutzend
von Fremden erinnerlich, welche meinen Rath befolgten, mehr auf den Stra¬
ßen herumzugehen, als in zwanzig Etablissements dasselbe zu sehen, in zehn
Theatern dieselbe Geschichte in anderer Weise hinunterzuwürgen. Die pariser
Gesellschaft kennen zu lernen ist einem Fremden, der ohne Verbindung hier
herkommt oder wenn er auch welche hat, nur wenige Wochen hier bleibt, nicht
zuzumuthen — aber das öffentliche Leben, wie es sich in den Straßen kund¬
gibt und auf öffentlichen Belustigungöorten, das kann er studiren, wenn er
den Muth hat, zuweilen mehr auf die Kundgebungen um sich her, als aus
das eigentliche Schauspiel zu achten, von dem er ohnehin kaum die Hälste
versteht.
Mit den Theatern, deren Paris einige zwanzig besitzt, ist.es ebenso. -—
Man braucht nicht überall gewesen zu sein, und in gewissen Theatern müßte
man sich mehr vom Publicum amüsiren lassen als von den Schauspielern.
Die dramatische Kunst ist in Paris jetzt ohnehin herunter und mit Ausnahme
einiger weniger Lustspielaufführer gibr es nichts zu sehen, was den großen
Ruf rechtfertigte, den die Pariser im Auslande haben.
Kein einziges Theater wäre im Stande, eine Tragödie von Shakespeare
oder von Schiller so auszuführen wie die deutschen, wenn man, wie hier,
die vorzüglichsten Kräfte auf einem Punkte versammelte, lind von der Oper,
wenn nicht die komische gemeint ist, kann dasselbe gesagt werden.
Wir wollen es versuchen, zum Frommen der Fremden, welche die pariser
Weltausstellung hierherlocken sollte, einen Blick auf den gegenwärtigen Zustand
der Theater zu werfen und kurz angeben, was jedes derselben zu leisten im Stande
ist, damit jeder nach individuellem Geschmacke wählen könne.
Wir beginnen mit den zwei großen dramatischen Bühnen von Paris, mit
den sogenannten französischen Theatern, dem Theatre frau^iis und dem Odeon.
Beide werden vom Staate reichlich subventionirt und beide bedürfen dieser
Unterstützung, da man sich nicht dazu entschließen kann, sie ganz den Händen
eines tüchtigen Privatfpeculanten anzuvertrauen. Das größte Unglück dieser
Bühne ist zunächst Fräulein Rachel, die durch ihren persönlichen Erfolg das
Repertoir derselben in den engen Kreis längst veralteter Stücke bannt. Nun
ist sie fort und an die Stelle der unzähligen Launen dieser verhätschelten
Person sind die unverständigen Capricen des Staatsministers getreten, welche
alle jüngern Kräfte dem Gymnase zuscheuchen. Mit Ausnahme einiger Stücke
von Alfred de Musset, Mad. de Girardin und Emile Angler und der gefälli¬
gen Vaudevilles ohne Couplet von Scribe hat diese Bühne nichts aufzuweisen,
was der ausgezeichneten Kräfte, über welche sie verfügt, würdig wäre. Mit
gerechtem Unmuthe sehen die ^oniöäiLns orciirmlrös cke 8a IVI^Lsle die ordi¬
näre Vorliebe von LalVl^'este Is public den kleineren Bühnen sich zuwenden.
Eine Fliege, die im Netze der Spinne Staatsraison gefangen ist, suchen sie
vergebens aus ihren Fesseln zu entwischen und müssen vor einem gelangweil¬
ten Publicum spielen und unerhörte Anstrengungen machen, wie eben jetzt in
Legouve's „l'irr etroit, 6s conciuetL", um diese Miseren zu erhalten. Madame
Allan, Prevost, Regnier, Brehaut leisten das Unniögliche und vom Standpunkte
des Spiels und des Ensembles aus kann diese Bühne, wie übrigens die mei¬
sten Theater von Paris, nicht genug empfohlen werden. Für den Fremden
wird die Aufführung der alten Lustspiele von Molisre und Beaumarchais auch
keine unangenehme Bekanntschaft sein, doch muß er den Muth haben, einer
Sonntagspartie auf dem Lande zu entsagen, da diese Stücke meist am Sonn¬
tage gegeben werden. Sowie nämlich in Deutschland das Drama von Schiller
sich jetzt noch vorzüglich eines populären Erfolges erfreut, so werden in Frank¬
reich die Lustspiele Moliöres zu Ehren des Publicums gegeben, welches im
Theater seinen selten gesuchten Hauptspas! findet und lieber der alten Muse
clef dan ssns sich zuwendet, als den modernen Finessen der oberflächlichen
Gesellschaftsintn'gue.
Das Theater des Odeon hat das Unglück, in den unausgcbautesten Re¬
gionen jenseits der Seine im Quartier latin zu liegen, wo es nur Studen¬
ten, Grisetten und Beamte gibt und sieht sich gezwungen, gewöhnlich vor
leeren Bänken zu spielen, wenn ihm nicht von Zeit zu Zeit ein glücklicher
Wurf der Georges Sand oder Ponsardö zu Hilfe kommt. In diesem Augen¬
blicke können die Fremden Ponsards VKonnsur se l'in'xenl. ansehen, das nach
dem Staatsstreiche einen so großen Erfolg hatte, den es aber als Gelegenheitö-
stück heute nicht mehr verdient. Die Schauspieler sind im Ganzen genommen
unbedeutend, die Decorationen und Costüme von verkommenen Glänze frü¬
heren Wohlstandes. Dieses Theater zeichnet sich blos dnrch sein feuriges
Parterre aus, bestehend aus Studenten und ihren zeitweiligen Gefährtinnen,
welche in rührender Harmonie mit der bezahlten Claque für die Begeisterung
der Schauspieler arbeiten, d. h. an den seltenen Tagen, an denen es auf der
Bühne nicht mehr Personen gibt, als in den für die Zuschauer bestimmten
Räumen.
Uuter den acht Theatern mittlern Ranges sind vier der französischen
Muse deS Vaudevilles und vier dem Drama, Melodrama und der Panto¬
mime gewidmet.
Das Vaudeville, das Palais royal (früher Mintausier) das Theater deS
Variütvs und das Gymnase gehören zu ersteren. D<rs letztgenannte hat, Dank
sei es der unvernünftigen Leitung des Theatre frau^ais, sich von dem Ehc-
contracte mit Scriba loszumachen gewußt und vom Range eines gewöhnlichen
Vaudevilletheaters zu dem eines literarischen, zur vorzüglichsten Lustspielbühn
sich emporgeschwungen. Eine Gruppe von tüchtigen Kräften vereinigt sich um
Frau des Directors, um Madame Rose Chery, um diesem kleinen Theater
b'e Vogue zu erhalten, welche ihr seit Scribes Schweigen Georges Saud,
Jules Sandeau, Madame de Girardin und Alerander Dumas Sohn verschafft
haben, i.g ,»,)„t>(. von Alerander Dumas Sohn besitzt noch immer nach
der achtzigste^ Porstellung seine ungeschwächte Anziehungskraft und verdient
sowol als Pariser Lebensbild, wie auch wegen des vortrefflichen Spieles t>er
Darstellenden von jedem Besucher der allgemeinen Weltschan gesehen zu werdeu.
Die Schauspieler Geoffroy, Lafontaine, Dupuis, Lesueur gehören zu den
besten, welche Frankreich in diesem Augenblicke besitzt.
Das Baudevillethcater par excellenes leidet an Mangel an unterhalten¬
den Stücken. Seit Alerander Dumas Sohn auf diesem Theater mit der
s'ame -^ax etimelilts seine dramatische Laufbahn begonnen, seit Barreres Gilles
6e mardrs und seit den pnrwisnK von demselben Schriftsteller, konnte das
Vaudeville nicht zu einem Succeß gelangen. In den Händen der Faiseurs
Clairville und Consorten, stirbt sein Repertoir an der Auszehrung. Der Ver¬
such mit Lafond das alte wirkliche VaudevilleprogramM wieder zu beleben,
mag in Berücksichtigung der Fremden vielleicht passend sein, uns Parisern ge¬
währt er wenig Trost. Von den Schauspielern ist mit Ausnahme von Lafond
und Felix nicht viel Gutes zu sagen, und von den Schauspielerinnen, daß sie
darauf angewiesen sind, sich in kurzen Röcken und noch kürzern Mietern zu
zeigen, und eine auf den Ungeschmack eines gewissen Theils des pariser Publi-
cums berechnete Vermählung der lebenden Bilder mit dem Vaudeville an¬
streben. Wenn diese Damen nur das Singen besser könnten, denn ihre Stim¬
men sind falscher als ihr« Waden.
Das Varieletheater ist in eine neue Phase getreten unter der Leitung
des erfahrenen Cogniard. Das ist alles was von dieser Unternehmung zu be¬
richten wäre, denn wir möchten uns nicht zu Bürgen der großen Verheißungen
hergeben, welche der neue Director auf dem Wege unsrer Feuilletonreclamen
uns zukommen läßt. Arrak und der von Alter gebrochene Bouff«, der Schö¬
pfer vom pariser Taugenichts, von Michel Perrin, von den «zr>fand5 6«z troupe
sind die schauspielerischen Anziehungskräfte des Vari«t6s. Nicht viel, da beide
ihre Zeit überlebt haben.
Das Palais royal vertritt das in die Farce übergehende Vaudeville und
wenn es dem Beispiele seiner College» folgend das alte Programm wieder
auffrischte, ließe es sich mit ihm leben. Es fehlen ihm allerdings seit dem
Tode von Alexander Thousez und Sainville zwei seiner besten Komiker. Aber
die impertinente, durch die extravaganteste Arm- und Beintelegraphie unter¬
stützte Heiserkeit Grassots, die zimperlich gespreizte Dummheit RavelS, und
Levassors durch komische, aber monotone Grimassen gehobene Schnellzüngigkeit,
sowie die capitale Nase von Hyacinth machen die Farcen des kleinen Theaters
erträglich und man kann eS anch in Begleitung von verheiratheten Damen
besuchen, da die auf Kosten der Moral und des guten Geschmacks genomme¬
nen Licenzen von den wenigsten verstanden werden, da sie im pariser Jargon
vorgetragen werden, der weder aus Meidinger noch aus Mozin gelernt werden
kann. Das Palaisroyaltheater hat überdies noch den Vorzug in unmittel¬
barster Nachbarschaft von den trois fröre« proveno-nix, von Very und Vefour
placirt zu sein. Nach einem Diner, bei dem Champagner Sauterne und
Chateau Lafsitte das große Wort geführt, kann man sich zur Beförderung der
Verdauung der pariser Küche noch diesen Erceß erlauben und beide Rausche
auf einmal verschlafen.
Die vier Vaterländer des Dramas und des Melodramas sind die Porte
Se. Martin, das Ambigu, die Galt«; lind gewissermaßen auch der durch den
Staatsstreich imperialisirte Cirque national. Mit Frederic LrmaitrcS Zähnen
ging dieser vorzüglichsten Bühne deS romantischen Dramas auch die litera¬
rische Ambition an?, und eS verläßt sich auf spanische Tänzer und aus alte Spec-
takelstücke, wie die namenlose Albernheit, die unter dem Namen von Kkv-?f>t<?
die londoner Amtsgeheimnisse aus den dreißiger Jahren dem Publicum vor.-
führt. Paul Maurice, der Freund und Nachstrcber On, vknia verbo) Von
Victor Hugo, soll nächsten Monat mit seiner Ili<?lui-K etc; ?ni-i8 die literarische
Aera der Porte Se. Martin wieder beginnen. Der Stoff ist für einen ein¬
zigen Theaterabend so kolossal, daß wir mit Schrecken dieser Vorstellung ent¬
gegensehen. An Interesse wird es ihr aber nicht fehlen. Jetzt ist außer der
schönen Conception Nut; nicht viel in der Porte Se. Martin zu suchen. Am-
bigu und Galt« suchen seit zwei Jahren aus einen grünen Boden zu kommen,
weder Sejour noch Dugu« mit ihrem romantischen Unsinne, den sie aus den
Stücken von Shakespeare herauszulesen daS Talent haben — ruinirten diese
sonst so populären Bühnen. Ein Versuch des Ambigu Frederic Lemaitre in
Alerander Dumas Kean wieder auftreten zu lassen, ist mißglückt. DaS Publi¬
cum in diesen Theatern, wenn es zufällig einmal darin ist, wird dem Beobachter
mehr Interesse abgewinnen, als diese alterschwachen Schauspiele.
Der Eirque national — lap«rial wollte ich sagen, sucht seine Literatur im
Pulverdampf und Soldatenmanoeuvern, seine Kunstbcstrcbungen in den Feen¬
stücken, welche noch immer zu den beliebtesten Unterhaltungen des pari¬
ser Volkes gehören, das Besitz von diesen Schauspielen nimmt, sowie die
Costüme ein wenig welk geworden, und die nach Neuigkeiten jeder Art leckere
hohe Finanz und hohe Bourgeoisie sich daran satt gekostet hat. Die ?note?s ein
nodo werden nun zum dritten Male aufgenommen und verschwinden jetzt
wie früher, selbst nach einem Hundert von Vorstellungen, nicht von der Asfi.be.
Indessen ruhen die Pferde ans, um später in der Epopöe aus der Kaiserzeit oder
der Republik an die Stelle des TeufelSspukcs zu treten. Der Cirque olympique,
wie er zu Franconis Zeiten hieß, hat auf dramatischem Wege ebensoviel zur
Verherrlichung des Kaiserreichs beigetragen, als Beranger in der Literatur.
Der Reitercircusfe mag bei dieser Gelegenheit nur im Vorbeigehen erwähnt
werden, der Cirque de l'impcratrice auf dem Boulevard du temple (im Win¬
ter) und in den Champs eus«es (im Sommer) sowie das Hippodrom und die
Arenes impvriales theilen sich in das Privilegium, daS pariser Publicum
durch Reiterkünste jeder Art zu unterhalten, oder nach Umständen auch zu
langweilen.
Die Theater des dritten Ranges unterscheiden sich von denen des zweiten
nur durch ihre Schauspieler und nicht durch die Literatur, die man dazu sehen
bekommt. Es ist dieselbe Geschichte, dieselbe veraltende Intrigue, dieselben ver-
schollenen Späße und nur die Costüme und die Schauspieler, die sie tragen,
haben einen gewissen Geruch des drie a brav> der den größern Theatern eini¬
gen Vorzug vor ihnen gibt.
Zunächst haben wir da einige tapfre Todte jenseits der Welt d. h. der
Seine zu begrüßen, Das Pantheontheater, das Thecure Se. Marcel und das
Theater du gros caillou gingen unter an der unverzeihlicher Theilnamlosigkeit
des zu geschäftigen und zu prosaischen Publicums der outre Seine. Nur das
kleine Vobinotheatcr in der Rue madame erhält sich durch eigensinnigen
Trotz und durch das Mitleid der Studenten, für welche diese wohlfeilen Abend-
unterhaltungen denselben Reiz haben, den die Collegia früher auf einigen deutschen
Universitäten hatten, den nämlich, daß man ihnen im Schlafrocke beiwohnen und
seinen Pudel mitnehmen sonnte. Die Erlauniß im Negligee zu erscheinen
bringen die pariser Studiosi, die hart an der Thüre dieses Theaters wohnen,
mit hinein und statt der Hunde bringen sie ihre Grisetten mit und unterhalten
sich aus die ungezwungenste Weise untereinander und mit den Schauspielern,
wie die hvcharistokratische Welt Londons während einer musikalischen Abend-
unterhaltung. Dieses Theater hat überdies auch das Verdienst, die Debüts des
später so fruchtbar und jetzt so furchtbar gewordenen Clairville auf die Scene
gebracht zu haben.
Lenken wir unsern Schritt vom jenseitigen Ufer wieder auf das rechte
und begeben uns nach den belebten Regionen des Boulevard du temple, wo es
wieder ebenso lebendig einhergeht als in den vielen Theatern, welche rechts
und links mit ihren illuminirten Affichen uns anlocken, so befinden wir uns
auf dem nationalen Boden des pariser Volkstheaterö. Madame Sagin tanzt
zwar nicht mehr, Nicolet, Antinoe, Bvbeche, Jvcrisse und Galimafri sind ver¬
schwunden und auch der erlauchte Böhme, der, weil er nicht französisch genug
gewußt, sich auf die kosmopolitische Pantomime warf, auch Debureau, der
König des Funambuletheaters, ist ins Grab gestiegen. Dieser unnach¬
ahmliche Pierrot, von dem Georges Sand sagte, er sei der letzte vom Stand¬
punkte der Geschichte ans und der erste vom Gesichtspunkte der Kunst und
der Literatur aus betrachtet, hat uns zwar einen Sohn vermacht — aber
es ist kein Alexander, den dieser mehlbcstrichene Philipp hinterlassen; welche
Andacht herrschte nicht, sowie er auftrat, welche Stille folgte nicht der stummen
Beredtsamkeit von Monsieur Debureau — wehe dem, der es wagte, dieses geliebte
Schauspiel durch einen Laut zu unterbrechen, er wäre zerfleischt worden, wie
der römische Sklave, den man in einen Löwenzwinger geworfen. Jetzt sind die
Funambules nicht mehr dieselben. Pierrot trägt nur noch den Namen seines
unsterblichen Vorgängers.
Wir finden da noch die Fvlies dramatiques, die zwischen den Theatern
des zweiten und dritten Ranges schweben wie die Verdammten Dantes im
Purgatorium. Dieses Theater stammt aus dem Jahre 183-1 und die Dvlasse-
menls comiques sind noch jüngeren Ursprungs. Jetzt nähren sich diese Unter¬
nehmungen mit den Ueberresten alter vom Repertorium der andern Vandeville-
theater verschwundenen Bandevilles, die von da aus ihren graden Weg in
die Butte des Lumpensammlers nehmen. Das ehemalige Se. Antoinetheater,
heute Theatre de Beaumarchais, ist dadurch berühmt, daß es zwanzigmal ge¬
schlossen wurde, ohne wie Bilboqutt die Kasse retten zu können und doch wieder
auss neue in die Schranken trat. Sonst ist davon nichts zu rühmen.
Ein neues Theater, das unter dem Namen der Folies nouvelles vor kurzem
eröffnet wurde, macht einiges Glück, weil eine literarische Clique ihm hilfreich
zur Seite steht. Der Komiker Keim verdient auch einigen Beifall und der
Pierrot dieses kleinen Volkstheaters, das auch die sogenannte Welt besucht, ist
nicht der schlechtesten einer. Gleich neben den FunambuleS ist le Petit Lazary,
daS die letzte Stufe der dramatischen Leiter darstellt. Für fünfzehn Sous hat
man die ersten Avantscenen, jene aristokratischen Plätze, welche gekrönte Häupter
und Femmes entretenueS allein in den großen Theatern erschwingen können.
Wer da eine Komödie sucht, der muß sich, wie in den meisten kleinen Theatern,
an das Parterre und die Galerie wenden.
Gedenken wir noch des Theatre Comte im Passage choiseul, ganz hart
am italienischen Theater, wo Publicum und Acteure noch nicht aus den Kinder¬
schuhen getreten sind, sie müßten denn Ammendienste bekleiden. Das verdiente
allenfalls einmal gesehen zu werden.
Als Lord Palmerston im Februar dieses JahreS den vielgeschmähten
Aberdeen an der Spitze des englischen Cabinets ablöste, war man wol ziemlich
allgemein darüber einverstanden, dies für ein Ereigniß von der bedeutendsten
Tragweite zu halten. An den Namen Palmerston knüpften sich seit Jahrzehn¬
ten zu viele Erinnerungen der verschiedensten Art, als daß sein volles Hervor¬
treten in diesem Augenblicke nicht die größte Aufmerksamkeit hervorgerufen
hätte. Seine Erhebung fiel in einen Zeitpunkt, den Ueberzeugung oder Ahnung
der Mitlebenden für einen der verhängnißvollsten zu halten berechtigt ist.
Alter Ruhm und neue Lorbeer» stehen auf dem Spiele; den Greis, der seit
einem halben Jahrhundert — und welches halbe Jahrhundert! — Hand und
Geist in den wichtigsten Staatsgeschäften einer großen und mächtigen Nation
gehabt, erwartete, wo andere vielleicht längst das Recht zur Ruhe, zu einem
otium eum äigui^tL erlangt zu haben glauben, die Feuerprobe! Aber so über-
wältigend ist das Bewußtsein der Größe des Moments, daß mau sich wo
auch sagen mußte: bestünde er sie auch nicht, so bliebe doch noch genug übrig,
um auch dann die Bedeutendheit des Mannes als eine ungewöhnliche bestehen
zu lassen. Wie auch die Frage der Zukunft beantwortet werden mag, für die
Gegenwart ist der Umstand bezeichnend genug, daß nicht blos ganz England
vom letzten Straßenjungen bis zum Prinzen Albert, nein, ganz Europa in
einem Augenblicke, wo die Zeit zur That drängte und die Dinge zur Entschei¬
dung gereist schienen, mit Spannung auf den einen Mann blickte, in dem
Anlage, Bildung, staarsmännische Uebung und Erfolge den gebornen Staats¬
mann erkennen lassen. Wohl oder übel, mit Mißtrauen oder Bewunderung,
mußten doch alle sich gestehen, daß Lord Palmerston, dieser Brite vom Scheitel
bis zur Zehe, gehörte er in diesem Augenblicke einem andern Lande an, das
seine Stimme und sein nationales Gewicht in die schwankende Wagschale zu
werfen hätte, nicht weniger an die Spitze aller staatlichen Thätigkeit würde
gerufen worden sein, als es in England geschehen. Welche Bedenklichkeiten
auch der Erhebung des greisen Staatsmannes entgegengestanden, man kam
wie durch das Gebot einer unabweisbaren Nothwendigkeit auf Umwegen nur
wieder zu ihm zurück. Selbst die Abneigung der Königin mußte dem Drange
der Verhältnisse weichen. Man sagt, ihr sei der Mann „lcMvus" > was wir
nur ungenügend mit „lästig, langweilig" wiedergeben können. Wirklich soll
der Mann, in dem die fashionable Welt ein Muster aristokratischer Vollkom¬
menheit erblickt, das sie durch seinen feinen Takt entzückt, seiner Herrscherin
gegenüber eine staaismännisch trockene, pedantische, förmliche Seite heraus¬
kehren. Vielleicht daß er hier am meisten für seine Selbstständigkeit auf der
Hur sein zu müssen glaubt. Beim eigentlichen Volke ist Lord Palmerston
populär, und zwar, wie wir annehmen möchten, nicht blos wegen des Humors,
der seine Reden würzt und John Bull so sehr behagt; gewiß kennr dieser ge¬
nug vou den grundsätzlichen Ansichten des edlen Lord, um seine Zuneigung
auch auf diese zu gründen. Auch kommt ihm wol dabei eine seltene Verträglichkeit
mit allen Parteien seines Landes zu statten. Dem Unterhausmitgliede imponirt
die Sicherheit des Ministers, der sich, wie man weiß, nicht leicht aus dem
Sattel werfen läßt. Gleichwol würde man sich in der Annahme irren, daß
daS Urtheil der Engländer über diesen Manu, den alle gleichmäßig als den
Retter in und aus einer bedenklichen Krise erkannten, deshalb auch ein gleich¬
förmiges hätte sein müssen. Dies ist und war nicht der Fall.
Unter den Staatsmännern Englands ist Palmerston wol am meisten mit
Eanning zu vergleichen. Auch soll dieser sein Vorbild gewesen sein. Bei
seinem Eintritt ins Parlament ->80ö Tory, leitete er das Kriegsdepartement
unter Tories und Whigs, ward aber Whig und Reformer, als die Whigs
an das Ruder kamen. Vor Eanning hal Palmerston einen großen zufälligen
Vortheil: Canning von niedrigem Stande, bekämpfte die Aristokratie; Palmer¬
ston, geborner Aristokrat, findet bereits seinen Stand in der Theilung seiner
Privilegien mit den Bürgerlichen. Beide aber, Canning und Palmerston, sind
Träger des Freiheitsgedankens; ihnen beiden ist die Freiheit kein Monopol,
sondern ein Gemeingut der Well. Ob und waS Palmerston auch in dieser
Richtung erreichen werde, entzieht sich der Vermuchung. Erfahrung, Charakter¬
stärke, Willenskraft, Genie fehlen ihm nicht; aber der Erfolg hängt von dem
Zusammentreffen sovieler Factoren ad, daß selbst das Mißlingen der sittlichen
Größe des Mannes nichts wird entziehen können.
Was die Schwierigkeiten der Situation für Palmerston wesentlich er¬
leichtern mußte, war der Umstand, daß er einen Boden betrat, den er selbst am
eifrigsten herstellen hals. Die Allianz mir Frankreich ist vorzugsweise sein
Werk. Wir gehören nicht zu jenen Klugen oder Schadenfrohen, die in jedem
Wölkchen bereits den Sturm erblicken, der jenen Bund wieder auseinander¬
reißen soll. Das gemeinsame Ziel verheißt gegentheils seine loyale und auf¬
richtige Dauer; auch ist jenes noch sowenig erreicht, daß noch manche ge¬
meinschaftliche Bluttaufe die Bande fester knüpfen statt lockern dürfte. Zudem
leben wir aber doch nicht mehr in der gemüthlichen Zeit, wo der Wechsel
eines Bündnisses fast mit dem Wechsel des Rockes stattfinden konnte; und
das DIviclL ol. iwper-r ist zwar keineswegs aus der Uebung gekommen; ecla-
tante Deevrationswechsel aber sind denn doch beinahe zu Unmöglichkeiten ge¬
worden.
Wir finden eine Schilderung Palmerstonö, die mit einer höchst inter¬
essanten Parallele schließt. Man erlaube uns sie mitzutheilen: „Der Lord
(heißt eS in einem Blatte) zählt volle 70 Jahre, ist vermählt, kinderlos."
(woher man ihn nur nicht, selten für einen „alten Junggesellen" in der ver¬
wegensten Bedeutung des Wortes halten sieht?) „Die Gicht, die ihn zuweilen
ans Zimmer fesselt, ist sein einziges körperliches Leiden, ein geistiges drückt
ihn nicht; weder Eitelkeit noch Kummer. Man kann sich kaum eine ruhigere,
festere, dabei freundlichere Erscheinung eines greisen englischen Aristokraten
denken. Sonderbar vielleicht für manche, man hört seinen Namen oft neben
einem sehr berühmten nennen. Macaulay, obschon um 16 Jahre jünger, sieht
altergebeugt aus gegen den Lord, dessen fünfzigjährige Staatsdienste doch nicht
weniger Denken und tägliches Abmühen einschließen dürften, als die Studien
des großen Historikers. Mehr Milde liegt in MacaulavS Zügen und sie
fugen sich stets der augenblicklichen Bewegung des Innern bei noch so starker
Oberherrschaft des Geistes. Palmerstons Freundlichkeit scheint diplomatische
Maske mehr als Ausdruck der Seele; denn sie ist habituell. Nur in Momen¬
ten, wo alle geistige Kraft ausgeboten, zusammengefaßt und ins volle Spiel
gesetzt werden muß, legt sich ein Ernst über Stirn und Augen des Lord und sein
Haupt neigt sich mit schärferem firirenden Blick nach vornen. Hume, das alte .
Parlamentmitglied, nennt diese Miene Palmerstonö den „römischen Censor".
Macaulav ist selbst im Augenblicke, wo er begeistert oder entrüstet, von dem
Interesse für einen Gegenstand über die Linie, wo Kopf und Herz gleichmäßig
herrschen, gehoben wirb, verführerisch für Aug und Ohr. Palmerston aber
wirft alles nieder, was im Zuhörer vertrauend sich ihm genähert hal; er er¬
schüttert dann alle, und nur starke oder geübte Männer pariren den Stoß und
brechen in Cheers aus, Neulinge oder halbe Charaktere stimmen betäubt in den
Chorus mit ein. Die Nachwirkung bei den Zuhörern ist bei Macaulay eine
ungemein wohlthuende, anziehende. Man möchte dein Mann sich nähern, ihn
genauer kennen lernen, sein Freund werden. Von Palmerston wird man un¬
willkürlich festgebannt, beherrscht, unterjocht. Macaulay ist der Geist, Palmer¬
ston die That der Humanität."
Es ist einige Wochen her, daß wir das Vorstehende geschrieben. Folgten
wir dem Strome des Tagesgesprächs, so müßten wir heute so ziemlich das
grade Gegentheil zu Papier bringen; wir müßten in den Ruf einstimmen:
daß man sich getäuscht, baß Palmerston sich überlebt habe, von ber Zeit und
ihren großen Ansprüchen überholt, ja baß er so ziemlich bereits unter „das
alte Eisen" geworfen sei, stehe auch sein Name noch an ber Spitze deS eng¬
lischen Cabinets. Seltsames Geoahren in einer Zeit, die es kaum für möglich
hielt, aus dem langen Friedcnstraume durch einen Trompeteilruf des wirklichen
Kriegs aufgeschreckt werden zu können und nachdem dies geschehen, ebensowenig
begreifen kann, baß nun auf einmal die Obysseuse nicht sofort zu Unsitten
geworden. Schon drei Monate ist Palmerston Premierminister uno noch ist
England nicht umresormirt, seine Armeeverwaltung scheinbar noch die alte,
sein Heer noch nicht verdreifacht! Wir haben guten Grund zu der Annahme,
daß ein großer Theil derer, die eine ähnliche Verwunderung mit besonderer
Beflissenheit auskramen, grabe zu denen gehören, die zu Hause die zärtlichsten
Freunde jebe'r — Nichtreform sind. Die idem- unb willenlose Schwäche
fordert die Stärke bei andern oder stellt sich wenigstens so, um aus deren
vermeintlichen Mangel die Gründe ihres offnen Tadels und ihrer heimlichen
Befriedigung schöpfen zu können. Große weltgeschichtliche Krisen haben selten
schon bei ihrem Beginne ihre Träger unb rechten Helden bei der Hand; es
mag in ihrem Verlaufe manche Größe fallen, mancher Name beseitigt werben;
aber sind letztere deshalb wirklich nur klein gewesen? Hat man Palmerston
für einen Wunderthäter gehalten? Wir wissen wol, baß man eS einmal für
räthlich gehalten, aus ihm einen revolutionären Feuerbrand zu machen, eine
Art Popanz, ber dann die andre Partei freilich in richtiger Parteilogik,, aber
mir starker thatsächlicher Naivetät in ein Idol umwandeln mußte. Höchst wahr¬
scheinlich waren Popanz und Idol gleich imaginäre Schöpfungen.
Auch an den Urtheilen kann man den Charakter der Zeitgenossen und
Geschichte stuoiren. Heute soll Palmerston abgenützt sein; „man braucht gar nicht
mehr von ihm zu reden, weil alle zu reden anfangen" — schreiben uns geist¬
reiche Berichterstatter aus Altengland. Möglich daß Palmerston schon zu alt
ist, um diese Stimmen vollständig Lügen zu strafen, auch wenn ihn sonst nichts
daran hinderte; aber ins Gedächtniß möchten wir doch nur ein paar kurze
Jahre zurückrufen, in denen man auch von so manchem und so mancher
„nicht mehr zu reden brauchte", was sich nachher denn doch nicht als so gänz¬
lich „abgenützt" und todt gezeigt. Und ob wir nun einen besondern Werth
darauf legen wollen oder nicht (warum sollte man es nicht thun? im eng¬
lischen Parlamente ist vieles faul, wie „im Staate Dänemark", aber es lebt
denn doch noch), grade dieses Parlament scheint von jener „Abgenützthcit" noch
nicht so vollständig überzeugt zu sein
Also erwarten wir Großes, Erstaunliches, Ungewöhnliches von Palmer¬
ston? Eine närrische Frage, mit Erlaubniß. Sie kann uns indeß zu einer
Bemerkung führen, um die es uns vielleicht hier am meisten zu thun ist und
die wir auch an jeden andern Namen hätten knüpfen können. Was erwartet
Ihr von Preußen, von Deutschland, von Oestreich, von der Türkei :c. :c.?
Fragt die Leute so (und die Zeit fragt täglich sehr ernst), so dürft Ihr sicher
sein, auf unendlich viele Bedenken und —Ausflüchte zu treffen und Euch die
unendliche Schwierigkeit der Situation vorgehalten zu sehen. Wir wissen auch
nicht, wo daS Ziel dieser ringenden Welt geboren werden wird; wir wissen
höchstens, wo und wie es nicht geboren wird. Wir wissen, daß die Schwäche
und die Halbheit nicht seine Mütter sein können; aber wir schwören deshalb
noch nicht aus Palmerston und Louis Napoleon; wir schwören auf niemanden,
als auf den Geist der langsamen, aber unausbleiblichen Entwicklung, der zu¬
gleich die geschichtliche Nothwendigkeit ist, vor der die Weisheit des Tages wie
ein Spinnengewebe im Sturm zerstiebt und der sich seine Werkzeuge wählt
und sie wegwirft.
Oben wurde Palmerston nach einer andern Quelle „die That der Huma¬
nität" genannt. Man mißverstehe dies nicht! Er bleibt deshalb ein so guier,
richtiger Engländer, als nur je einer gelebt, der in allem nur ein Mittel sieht,
den politischen Einfluß Englands zu erweitern. Dieß ist für uns, die wir
noch nicht gelernt haben, gute, richtige Deutsche zu sein, ein scheinbarer
Widerspruch. Unser richtiges Deutschthum scheint uns fast schon gewahrt,
wenn wir uns mitten im gewaltigen Weltsturme zu der kühnen Aeußerung
emporgeschwungen haben: „Dies geht uns nichts an." Wenn nur der Sturm
so artig wäre, auch so zu denken! Und dabei will es uns fast bedünken, als sei
sogar dieser „abgenützte" Palmerston, von dem deutsche Korrespondenten gar
nicht mehr sprechen, weil er die Welt nicht mit Unmöglichkeiten überrascht,
heimlich recht arg gegen unsre Ruhe und Bequemlichkeit verschworen und sei
mit seinem Freunde über dem Kanäle um gar nichts verlegen, als um das
beste Mittel, wie unser stoischer Gleichmuth aus dem Gleichgewichte zu ver¬
rücken sei. Möglich, daß er von der Gewalt der Umstände und Ereignisse, die
drohend genug geworden, überholt wird; man vergesse aber immerhin nicht,
daß dann vielleicht nur aufgeht, was er gesäet und vor allem, daß das Gleich¬
gewicht der Kraft nicht in der Unkraft, sondern eben wieder nur in der Kraft
liegt. Hätte man recht, daß seine Schwäche seinen Sturz vorbereite, so sei
man wenigstens consequent, nicht blos ihm, sondern auch sich selbst den
Spiegel vorzuhalten!
Wir haben hier seit der Wegnahme des
Mamelon keine Nachricht über einen neuen großen Offcnsivschlag gegen die Festung
erhalten, aber der energische Charakter des Generals Pclissier, über den man hier
sehr zur Unzeit bemerkt, daß seine Operationsmcthode viele Menschen koste—-denn
wenn man nun einmal Sebastovol durch den directen Angriff nehmen will, sind
solche Opfer nicht zu vermeiden — bürgt uns dafür, daß er nicht mehr lange
werde auf sich warten lassen. Am wahrscheinlichsten ist es, daß die nächste Unter¬
nehmung der Wegnahme des Malakowthurmes gelten wird.
In den neuesten hier eingegangenen deutschen Blättern lese ich mit Befremden,
daß man geneigt ist, die russische Armee in der Krim als wesentlich ans der
Besatzung von Sebastovol bestehend anzunehmen, eine Annahme, die durchaus
weder mit den Aussagen der vom Feinde herübergekommenen Ueberläufer, noch mit
den sonstigen Erkundigungen, die man dnrch Tartaren eingezogen hat, zu verein¬
baren ist. Es bestätigt sich vielmehr die frühere Schätzung, wonach die Nüssen in
Tannen etwa über 140,000 Mann zu verfügen haben. Es ist dies der nämliche
Bestand, den die feindliche Armee bereits um Weihnachten erreicht hatte, und alle
Anstrengungen des Zaren sind seitdem nur ausreichend gewesen, sie ans ihrem Etat
zu erhalten; denn die Behauptung ist durchaus falsch, daß die Russen im Laufe
des Winters und Frühjahrs weniger wie die Verbündeten dnrch Krankheiten ge¬
litten haben. Sie verloren, nach Nachrichten, über welche hier verlautet, von denen
ich aber nur vermuthe, daß sie ans Mittheilungen beruhen, welche von Gefangenen
gemacht wurden, ihre Truppen massenweise nicht allein durch Cholera, sondern be-
sonders anch durch Typhus und Skorbut, Letzteren Krankheiten scheinen noch im
April und Mai unermeßlich viel Opfer gefallen zu sein.
Die Verbündeten befolgen in Hinsicht auf ihre Verwundeten neuerdings ein
verändertes Verfahren, indem sie dieselben nicht mehr sofort hierher transportiren,
sondern sie in provisorischen Hospitälern unterbringen, die in Kamicsch und Valaklava
selbst errichtet sind, und zu deren Organisation Vor kurzem Miß Nigthingale und
Mr. Soyer von hier abgereist sind. Wie es heißt werden die Patienten, erst wenn
das Stadium der Genesung erreicht, nach Stambul befördert, um hier bis zum
Abgang uach Frankreich die nothwendigen Kräfte zu sammeln.
Von den in der vergangenen Woche hier im Umlauf gewesenen Gerüchten sind
die Verheerungen sehr übertrieben worden, welche die Cholera unter den Nlliirten
angerichtet haben soll. Dieselbe trat im hohen Grade nnr im Lager der Sar-
dinier ans,, wo auch der Bruder des Generals he La Marmora, gleichfalls Ge¬
neral, und Commandeur der piemontesischen Schützen (Bersaglicri) daran verstor¬
ben ist.
Im heute erschienenen Journal de Constantinople befindet sich eine amüsante
Mittheilung über die Art und Weise, in welcher die Nüssen vor ihrem Abzüge vou
Kertsch versucht hatten, ihre Geschützrohre zu verbergen. Man bemerkte auf dem
Kirchhofe eine große Menge frischer Gräber, eiues neben dem anderen, und da
man von den Einwohnern nicht hörte, daß eine Epidemie stark gewüthet, schöpfte
man Verdacht, eröffnete eine der Gruben und fand darin eine Kanone. Eine jede
der übrigen Gruben barg ebenfalls ein Geschütz.
Am vergangenen Montag wurden hier 13 russische Offiziere und 356 Unter¬
offiziere und Soldaten auf zwei Dampfern von Kamicsch als Gefangene eingebracht
und alsbald gelandet. Dieses geschah auf der ersten, seewärts gelegenen der drei
großen Brücken, welche über den Hafen (goldenes Horn) führen, und, wie sich
denken läßt, nnter einem außerordentlichen Andrang von Menschen. Soviel ich weiß
erhielten die Offiziere Erlaubniß, den Stambnler Bazar zu besuchen, und machten
daselbst vielfache Einkäufe. Die Gemeinen und Unteroffiziere waren anscheinend
lustig und guter Dinge.
Ich kann nicht unerwähnt lassen, daß ganz neuerdings hier Gerüchte im Um¬
lauf sind, wonach von den Russen Vorkehrungen getroffen würden, um die Krim
D räumen. Andere Gerüchte wollen behaupten, daß es lediglich auf ein Aufgeben
er Südseite von Sebastopol abgesehen sei, indem man, nachdem die Verbündeten
auf dem Mamelvn festen Fusi gefaßt, die Communication mit den Nordforts für
e rollt erachte, und die Besatzung nicht den etwaigen Chancen eines Sturmes aus¬
setzen wolle. Da der Platz zahlreiche Abschnitte hat, scheint diese letztere Annahme
bedeutend verfrüht zu sein. Die Räumung der Halbinsel selbst erscheint aber
solange durchaus unmotivirt, als die Verbindung der Russen mit Perekop unge¬
fährdet ist. Es ist meine Ansicht, und ich nehme keinen Anstand, sie wiederholt
Wr auszusprechen: daß diese Gefährdung sofort eintreten würde, wenn die Ver¬
bündeten sich entschlössen, eine bedeutende Heeresmassc bei Eupatoria zu con-
centriren.
— Die seitherigen Ereignisse in der Krim, wiewenig zu¬
friedenstellend sie auch immerhin gewesen sind, haben nichtsdestowcnige meine Ueber¬
zeugung unerschüttert gelassen, wonach die verbündeten Mächte für ihren gegen
Rußland zu eröffnenden Angriffskrieg sich keinen vortlicilhaftcre» Schauplatz aus¬
wählen konnten, als eben jene Halbinsel. Denn vor allen Dingen kam es für sie
darauf an, die Waffen gegen einen Abschnitt zu wenden, dessen räumliche Dimen¬
sionen mit den zu verwendenden Kräften im Verhältniß standen, zu dem man sich von
mehren Seiten her Zugänge eröffnen konnte, welche den strategischen Operationen
ein freieres Spiel ließen, während, im Gegensatze dazu, der Feind mit seinen Ver¬
bindungen innerhalb dieses Raumes auf wenige Linien angewiesen war, die leicht
durchschnitten werden konnten; endlich, den man,, wenn er in Gewalt des Angriffs
gefallen wäre, leicht gegen eine Wiedereroberung abzuschließen vermochte und der
in sich selbst einen .absoluten Werth repräsentirte, welcher für die auf seine Weg¬
nahme verwendeten Opfer zu entschädigen im Stande war. Diesen Anforderungen
aber entsprach der taurischc Chersones ausnahmlos und im weitesten Umfange. Die
Größe eines Kriegstheaters bedingt allerdings nicht ausschließlich, ja nicht einmal
der Hauptsache nach die Masse der zum Angriff gegen dasselbe zu verwendenden
Kräfte; vielmehr bangt die Festsetzung derselben ungleich mehr von deu Mitteln ab,
welche der Vertheidigung zu Gebote stehen. Aber eS ist klar, daß die Chancen der
letztern sich steigern, wenn sie behufs des Answcichens einen weiten Raum neben
und hinter sich hat und daß, wenn dieser Raum nach den erwähnten Richtungen
hin eng und beschränkt ist, das Gegentheil stattfindet. An den gewaltigen räum¬
lichen Dimensionen des Kriegstheaters war Napoleon >. bei seinem Angriff gegen
Rußland im Jahre 1812 gescheitert; dieser Fall konnte sich unmöglich wiederholen,
wenn die Verbündeten ihre Operationen nach der Krim verlegten. — Was die Zu¬
gänge anlangt, so weiß man, daß zur Zeit außer dem Terrain zwischen den beide»
Häfen von Kamicsch und Balaklava. die Punkte Eupatoria und Kertsch sich in ihren:
gesicherten Besitz befinden und daß sie diese» Besitz, je uach Belieben, denn eine
Hinderung existirt nicht, auch ,über Aravat und Jenidsche, vielleicht selbst üher Kaffa
sich sehe von der provisorischen Besitznahme ah) ausdehnen könnten. Das heißt, auf
den reellen Ausdruck gebracht: das gewählte Kriegsfeld ist so beschaffe», daß der
Angriff auf drei verschieden Fronten seine Basis hiuverlcgen kann und nnr die
vierte in erster Instanz — aber durchaus nicht in letzter! — der Vertheidigung
gehört. Diese vierte Fronte umfaßt den Raum zwischen dem Meerbusen von Perekop
und dem nördliche» Endpunkt der Landzunge von Arabat, eine Strecke, die weit genug
wäre, um der Offensive eine ausreichende Basis zu bieten, wenn nicht der ganze
Mittelraum vom faulen Meere eingenommen und mithin die Vertheidigung vom An¬
beginn an auf zwei schmale Debvucheen beschränkt würde, das von Perekop und
Jenidsche, von denen letzteres neuerdings, wie bekannt, durch die Expedition nach
dem asowschen Meer nnbcnntzvar geworden ist.
Eine Armee, welche rückwärts uur ein einziges Debvnchee besitzt, vermöge dessen
sie mit ihren weiter rückgelcgcnen Hilfsmitteln communiciren und ihren Bedarf
und Ersatz an sich ziehen kaun, während der Feind, jenachdem er will, seinen An-
griff, mit Ausnahme einer einzigen, auf jedwede Fronte des KriegSranmes verlegen
kann, befindet sich aber ganz sicher in keiner günstigen Lage. Dagegen heißt es
sich aller dieser Vortheile von Seiten des Angriffs begeben, wenn er seine Massen
in der Art instradirt, daß des Feindes Verbindung mit diesem einzigen Nnckzugs-
PnnNc ungestört bleibt, wie eS augenblicklich der Fall ist, und nicht der Fall sein
würde, wenn die alliirten Feldherrn ihre Hauptmacht nach Enpatvria verlegten.
Diese Sachlage zu erkennen, bedarf es keiner militärischen Kenntnisse; sie ist für
den gesunden Menschenverstand an sich anssaßbar. Denkt man sich von den
'200,000 Manu, welche die Verbündete» augenblicklich verfügbar haben sollen, nur
'100,000 Mann bei Eupatona vereinigt, so ist klar, daß Fürst Gortschakoff sich
weder an der Tschcrnaja, noch am Bethel, noch endlich bei Baktschi Serai und
Simvheropol wird halten können, weil jene Masse nicht mehr, wie die 40,000 Mann
Omer Paschas, durch ein großes Cavalericcorps in Schach zu halten ist, sondern
vorzurücken vermag, und in diesem Falle alle Verbindungslinien, welche anfPere-
k"v hinlaufen, coupiren wird. Zwingt aber die Durchschneidung seiner Communi-
cation, oder die bloße Bedrohung derselben den russischen Feldherrn zum Zurück¬
sahen, so wird damit Scbastopol isolirt und Festung wie Belagerer werden in ein
neues Verhältniß versetzt sein, dessen Konsequenz nur der Fall des Platzes sein
kann. Denn keine Festung ist eines weit verlängerten Widerstandes sähig, wenn
ihr der Ersatz von außen her abgeschnitten ist.
Ich habe hier diese Ansichten entwickelt, um sie dem Verfahren entgegenzu-
stellen, welches bis dahin von den Verbündeten innegehalten worden ist, und mit
dem sich süglich kein logisch Denkender einverstanden erklären kann. Nicht genug
kann ich in dieser Beziehung wiederhole»: daß, wenn man die Entscheidung im
Nayon von Sebastopvl sucht, wie jetzt geschieht, man dem Feind ans dem Punkte
zu Leibe geht, wo er die ungleich bedeutendsten Mittel, seine schwere Schiffsartillcrie,
deren massenhafte Wvrräthc, und permanente Fortisicationen gegen den Angriff ver¬
wenden kann, was schon nicht der Fall sein würde, wenn man einige Stunden weit
von Sebastopol entfernt die Sache ausmachte, und ganz unmöglich wäre, falls man
die Hauptoperationcn aus Eupatvria basirte.
(Die Feier des Kadirgedjissi oder der her .
Nacht.) Am vergangenen Montag sand ich nicht mehr Zeit, in meinem Brühe
-"ö Näheren der Feier der heiligen Nacht (Nacht des Vermögens) oder Kadirged.zur
S" erwähnen. Sie ist die Siebenundzwanzigste des Ramasan oder Fastenmonat»,
steht also mehr an dessen Ende oder kurz vor dem Bairamsestc, dessen Begum so¬
eben die Kanonen verkünden. Für den Großherrn hat die Nacht die Bedeutung
daß ihm in derselben alljährlich eine neue Gemahlin zugeführt wird. D^e Auswahl
der betreffenden Dame war sonst Obliegenheit der Sultanin Mutter^ (Vallde) und
wird jetzt muthmaßlich einer der Schwestern des Kaisers zugefallen fern.
Nach unserm Kalender fiel das Fest in diesem Jahre ans die Nacht vom
10. bis zum -II. Ju^, .,is, von Sonntag zu Montag. Bereits nach Einbruch
der Dämmerung zeigte die helle Erleuchtung aller Minarets und Moscheenkuppeln
an, daß sich etwas Außerordentliches vorbereite. Ueber Skutari, Top Hane und
Stambul lag es nicht wie früher, als hellere Aetherschicht, sondern wie eine schim¬
mernde, strahlende Lichtflut hin. Endlich, gegen neun Uhr hin, verdoppelte
sich der Glanz; ans dem feuchten Wasserthalc des Bosporus leuchteten zahlreiche
bengalische Flannueu aus, bis Kanonensalvcn verkündeten, daß der Sultan sein
Palais vou Tschiraghan verlassen habe und aus dem Wege zur großen Moschee
(Nnsrctie) vou Top Haue sei. Er befand sich in einem weiß emaillirter und mit
goldnen Zierrathen bedeckten Kalk, welches, wenn ich nicht irre, vou vierundzwanzig
Rudern bewegt wurde. Eine ganze Reihe von Prachtkaiks folgte ihm, in denen
die Großbeamten des Reichs, im Besondern anch der Tansimatconseii, Platz genommen
hatten. Es war ein unvergleichlicher Anblick, den diese Fahrt, welche als große
Staatsprocession vor sich ging, darbot. Die beiden Uferpunkte, zwischen denen der
Großherr sich in rascher Aufeinanderfolge befand, strahlten jedes Mal von bunten
bengalischen Flammen, welche ihren Schein in der Mitte der Meerenge zusammen-!
fließen ließen und die Gestalt des Padischah zugleich von Asien und Europa her
kenntlich machten. Als der Zug sich Top Haue näherte, empfingen ihn neue, rollende
Kanonensalvcn. Der Kaiser stieg hier aus und widmete beinahe zwei volle Stun-
den in der Moschee der Andacht. Inzwischen wogte das Volk in den Straßen
dieses Stadtthcils, während ohne Unterlaß Raketen und Leuchtkugeln zum Himmel
aufstiegen. Zu teurem Zeitpunkt bot vielleicht Stambul einen pittoreskere» Anblick
von dem bezeichneten Schaupunkte ans dar, der zwischen der Scrailspitze und Sku-
tari gelegen ist. Die drei Stadttriangel waren abwechselnd von grünem, ro¬
them und orangefarbenen Licht erleuchtet, jenachdem die tausend Schritt im
Durchmesser haltenden Wolken von Leuchtkugeln diesen oder jenen Schimmer aus-
gossen.
Um elf Uhr hatte der Großherr seine Gebete beendet und bestieg wiederum
das Kalk, um vou seinen Ministern geleitet uach dem Palais zurückzukehren. Die
Feierlichkeit schloß erst dicht vor Mitternacht, aber noch lange darnach wogten die
Menschenmassen durch die Straßen.
Mit Ztr. TU beginnt diese Zeitschrift eilt neues -Quartal,
welches durch nlle BuchhaNdlun^en und Postämter zu be¬
ziehen ist.
Leipzig, Ende Juni 1853. Die Werlagshandlung.
Nachdem der Strom der französischen Revolution, welcher alles Bestehende
niederzureißen drohte, in seine Ufer zurückgetrieben worden war, kam es daraus
an, die Verhältnisse Europas so zu gestalten, daß für die Zukunft keine ähn¬
liche Gefahr zu besorgen war. Diese Aufgabe zu lösen war nicht leicht. Das sah
man wol ein, daß die Wiederherstellung und neue Befestigung der Zustände,
gegen welche die Revolution gerichtet gewesen war, dem revolutionären Geist
neue Nahrung geben und das Nebel schlimmer machen werde; allein die
Schwierigkeit lag darin, die neuen Zustände anzugeben, welche an die Stelle
der al.ten treten sollten, da die Revolution den geschichtlichen Gang unter¬
brochen hatte und die neuen Zustände nicht durch die Willkür, sondern durch
das Recht begründet werden sollten. Während die eine Partei zu viel verlangte,
wollte die andre zu wenig geben und hieraus entwickelte sich ein Kampf, in
welchem der eine Theil zu behaupten suchte, soviel er konnte und der andre
zu erringen strebte, soviel er vermochte. Die Revolution dauerte im Stillen
beständig fort und brach in einzelnen Momenten offen hervor. Dieser Kampf
indessen verwirrte nur die Verhältnisse und hat am Ende eine gegenseitige
Aufreibung zur Folge, weshalb dahin gewirkt werden muß, ihm ein baldiges
Ziel zu setzen. Daß hierin eine ruhige und unparteiische Auffassung der Ge¬
schichte überhaupt und namentlich auch der Geschichte der christlichen Kirche
von Gewicht ist, versteht sich von selbst. Wir machen zu diesem Zweck auf die
kochen erschienene Schrift aufmerksam: Dr. Johann Carl Ludwig Giselers
'Urchengeschichte der neusten Zeit. Von 1814 bis auf die Gegenwart. Nach
seinem Nachlasse herausgegeben von »r. C. R. Redepenning. Bonn, bei
Adolph Ma,^ ^ '
Die Hebung des nationalen Lebens und die Herstellung eines selvstständigen
freien Kirchenthums werden mit Recht als die Centralpunkre aller Bestrebungen
unsrer Zelt angegeben; nur kommt es darauf an, daß das Nationale nicht
>in Sinne einer falschen Freiheit und die Wiederherstellung der Kirche nicht als
ein Gefangennehmen des Geistes unter den todten Buchstaben verstanden wird,
fondern daß beide nebeneinander hergehen, die Kirche mit ihrem sittlichen
Geiste das Nativnalleben durchdringt und die nationale Wissenschaft die Re-
ligion praktisch macht. Um den wahren Zustand herzustellen, sind in der Zeit
zwei Extreme zu vermeiden: der Papismus und das Staatskirchenthum, ent¬
sprungen aus dem Streben nach Asterfreiheit und ein freies, aber geschicht-
und bodenloses Kirchenthum, entsprungen aus dem Streben, den menschlichen
Geist an veraltete Formen und Formeln zu binden. Indem wir dieses weiter
ausführen, folgen wir dem angegebenen Buche.
Der Papst Pius VII. trat seine Regierung wieder mit dem Entschlüsse an,
in der Negierung der Kirche zum Alten zurückzukehren. Am meisten sprach sich
diese Richtung durch die Wiederherstellung des Ordens der Jesuiten aus,
welche durch die Bulle SolliLituckv omnium vom 7. August I8IL geschah.
Pius VII. hielt mit allen katholischen Gegnern des Liberalismus dafür, daß
durch die Aufhebung jenes Ordens von Clemens XIV. dem Liberalismus ein
Opfer der Schwäche dargebracht worden sei und so glaubte er die völlige Rück¬
kehr zum Alten am besten durch jene Wiederherstellung bezeichnen und am
kräftigsten mit Hilfe eines Ordens beginnen zu können, welcher früher eine so
starke Stütze des Papalsystems gewesen war. Allein schon der Name der
Jesuiten erweckte das alte Mißtrauen wieder, sowol das der Weltgeistlichen
und der übrigen Orden, welche die Jesuiten, auf ihre Privilegien gestützt, aus
aller Wirksamkeit zu verdrängen oder sich zu unterwerfen gesucht hatten, als
das der Völker, in denen das Streben nach Freiheit Wurzel gefaßt hatte, uno
welche die Jesuiten als Unterdrücker aller Geistesfreiheit betrachteten. In den
jesuitischen Lehrbüchern erschien auch die alte jesuitische Moral mit allen un¬
sittlichen Lehren wieder und bildete einen grellen Abstich zu dem sittlichen Be¬
wußtsein der Neuzeit. In Freiburg in der Schweiz erschien ein Werk ((!om-
penclium tdeolossias moralis von I. P. Moullet 183i. 2 voll. 8.), in welchem
die alte Lehre von der moralischen Probabilität unverändert wieder auftrat und
mit ihr viele andre anstößige Lehren der alten Jesuiten, z. B. wer nur zum
Schein einen Eid geleistet habe, sei vermöge der Religion zu nichts verpflichtet,
er sei nur durch die Gerechtigkeit gehalten zu erfüllen, was er zum Schein
geschworen habe.
Ebenso charakteristisch für die Richtung, welche Rom einschlug, ist die
heftige Bekämpfung der Bibelgesellschaften, welche von England aus über den
Comment sich verbreiteten, ungeachtet dieselben unter dem katholischen Volk
nur katholische Bibelübersetzungen verbreiteten. Da sich anfangs auch häufig
katholische Geistliche denselben anschlössen, so erließ Pius VII. deshalb ein
Schreiben an den Erzbischof von Gnesen vom 29. Junius 18-16, worin die
Bibelgesellschaften als eine Pest, eine Unternehmung gottloser Neuerer, eine
Erfindung, wodurch die Grundlage der Religion erschüttert werde, bezeichnet
wurden und welche erklärte, daß Uebersetzungen der heiligen Schrift mehr
Schaden als Nutzen stifteten, sowie daß keine überhaupt zu dulden sei, welche
nicht von dem apostolischen Stuhle genehmigt oder mit Erklärungen aus den
Kirchenvätern versehen sei.
Gleich nach dem Regierungsantritte von Leo XII. erschien eine Schrift
des Dominikaners Phil, Anfossi, Magister S. Palatin Ueber die Zurück¬
gabe der geistlichen Güter, als nothwendig zum Heile derer, die solche ohne
Bewilligung des päpstlichen Stuhls erworben haben." Und nicht lange daraus,
1825, trat auch Leo mit seinem Ultimatum für die indirecre Oberherrlichkeit
des apostolischen Stuhls über die weltliche Macht hervor. Diese Schriften
machten die Regenten darauf aufmerksam. daß Rom seine frühern Grundsätze
nicht aufgegeben habe und forderten dieselben zu einer mißtrauischen Beobach¬
tung und argwöhnischen Vorsicht gegen die Curie aus.
Unter Gregor XVI. brachen die Händel mit dem preußischen Staate wegen
der gemischten Ehen aus. Die preußische Regierung wollte weiter nichts, als
Gleichstellung der Rechte ihrer verschiedenen Kirchen und verlangte daher, daß
die Eltern in dem Beschlusse darüber, welcher Kirche ihre Kinder zufallen
sollten, ganz frei ^entscheiden, in den Fällen aber, wo sie sich nicht vereinigen
könnten, oder wo nach dem Tode eines Theils noch nichts beschlossen wäre, die
Kinder der Kirche des Vaters angehören sollten. In den östlichen Provinzen
der Monarchie wurde auch diese Ordnung seit langer Zeit befolgt, nur in den
westlichen Provinzen wollten die katholischen Priester nicht davon lassen, nur
unter der Bedingung gemischte Ehen einzusegnen, daß versprochen würde, alle
Kiuder katholisch werden zulassen. Unter dem Erzbischofe von Köln, Ferdinand
August, Grafen von Spiegel, schien jedoch die Sache eine für den Frieden der
Konfessionen gedeihliche Wendung zu nehmen. Auf seine Berichte und infolge
der Verhandlungen der Regierung mit Rom erfolgte ein päpstliches Breve vom
2S. März 1830, in welchem die gemischten Ehen zwar sehr gemißbilligt
und den Geistlichen zur Pflicht gemacht ward, vor ihnen zu warnen, zugleich
aber auch bestimmt wurde, daß die Katholiken, welche solche Ehen eingingen
nicht in Kirchenstrafen verfallen, daß die katholischen Geistlichen solchen Ehen
zwar nicht eine feierliche Einsegnung, aber doch passive Assistenz leisten
und daß auch die von protestantischen Geistlichen eingesegneten Ehen sür giltig
geachtet werden sollten. Ein von den Brautleuten abzugebendes Versprechen,
ihre Kinder katholisch werden zu lassen, wurde nicht ausdrücklich vorgeschrieben
und die Bischöfe des preußische,, Rheinlandes und Westfalens einigten sich
daher auf Veranlassung der Regierung 1834 dahin, daß fortan von der For¬
derung eines solchen Versprechens ganz Abstand genommen werden solle. Als
aber der Freiherr Clemens August von Droste Vischering. Weihbischof von
Münster, 1836 den erzbischöflichen Stuhl von Köln bestieg, wurden bald
Klage» laut, daß gemischten Brautpaaren von den Pfarrern immer noch jenes
Versprechen abgefordert und daß katholischen Wöchnerinnen, welche ihre Kinder
nicht katholisch werden ließen, die Aussegnung Versagt würde. Der Erzbischof,
welcher jene Vereinigung zu halten versprochen hatte, wurde darüber von der
Regierung zur Rede gestellt, suchte zwar anfangs sich durch Ausreden zu
helfen, erklärte dann aber, daß er jene Vereinigung nur soweit beobachten
könne, als sie dem päpstlichen Breve gemäß sei, wobei er voraussetzte, daß
durch dieses BreVe die Forderung katholischer Kindererziehung nicht ausgehoben
sei. Als sich der Erzbischof nicht weisen lassen wollte, tourbe er den 20. No¬
vember 1837 nach der Festung Minden abgeführt. Dieser Schritt des Staates
gab dem Papste Veranlassung, den 10. December den Cardinälen in einer
Allocution das Ereigniß mitzutheilen und darin die Sache so darzustellen, daß
sich der Erzbischof hinsichtlich der gemischten Ehen streng nach dem päpstlichen
Breve gehalten habe und nur deshalb weggeführt sei, weil er den arglistigen
Verdrehungen desselben', welche die weltliche Macht sich erlaubt, nicht nach-
gegeben habe. Nach jener Erklärung des Papstes traten die Bischöfe des west¬
lichen Preußens von jener Vereinigung zurück; das aber nicht allein, sondern
auch in dem östlichen Theile der Monarchie, in welchem die mildere Praxis
schon seit langer Zeit bestanden hatte, glaubten die Bischöfe der ausdrücklichen
Erklärung des Papstes Folge leisten zu müssen und keine Trauung ohne das
Versprechen katholischer Kindererziehung vollziehen zu dürfen. Der Erzbischof
Durm von Posen wurde deshalb gerichtlich abgesetzt und zu Gefängnißstrafe
verurtheilt. Um mit Rom wieder in Vereinigung zu treten, hat der preußi¬
sche Staat im Punkte der gemischten Ehen nachgeben müssen und damit in
unsrer Zeit den Beweis gegeben, daß der Staat im Streite mit Rom, wenn
er kirchliche Angelegenheiten als Staatssachen behandelt, verliert.
Dagegen verliert Rom, wenn es sich dem in der neuern Zeit erwachten
nationalen Bildungstriebe widersetzt. Zum Beispiel möge die neueste Ge¬
schichte der katholischen Kirche in Frankreich und Deutschland dienen. In
Frankreich wurde das Concordat von 1801 von einer streng katholischen Partei
stets als von der Revolution dem Papstthum abgepreßt betrachtet, und es bildete
sich in tiefster Heimlichkeit die kleine Kirche (la pe-ins «Mso) aus, welche
die Geistlichen der Landeskirche nicht anerkannte, ihre eignen Priester hatte,
und den tiefsten Haß gegen die bestehende Herrschaft nährte. Als Ludwig XVIII.
zurückkehrte, trat er in sehr schwierige Verhältnisse. Zu einer gründlichen
Wiederherstellung einer 'festen und geordneten monarchischen Verfassung und
zur Ausrottung des sich noch sehr häufig regenden revolutionären Geistes schien
die Wiederherstellung der Religiosität und der Anhänglichkeit an die Kirche
durchaus nothwendig. Von diesem Gedanken gingen Ludwig und seine Nach-
geber aus, indem sie die katholische Kirche auf alle Weise wieder zu begünsti¬
gen und dem Volke zu empfehlen suchten. Als Werkzeuge dazu boten sich die
Kongregationen von Priestern an. welche sich seit dein 16. Jahrhundert zu
dem Zwecke gebildet hatten, den ordentlichen Pfarrern in der Seelsorge zu
Hilfe zu kommen, und namentlich als Bußprediger umherzureisen und in außer-
ordentlich veranstalteten gottesdienstlichen Versammlungen durch Predigten und
feierliche Ceremonien die Gemüther für die Kirche zu gewinnen; dazu gehörten
namentlich die Lazaristen, eine von Vincenz de Paula am Ende des 16. Jahrhun ¬
teres gestiftete Congregation. Zu den älteren kam im Jahre 1815 eine neue Kon¬
gregation, die der Priester der Missionen in Frankreich. Auch die Jesuiten
schlössen sich unter dem Namen l'si-k» den ihnen an. Diese Missionare
fingen an, von der Regierung begünstigt, Frankreich zu durchziehen und dem
Volke Buße und Anhänglichkeit an die Kirche, ebenso wie Gehorsam und Liebe
gegen die Bourbonen zu predigen. Sie boten alle geistlichen Künste auf,
Visionen, Wunder, kirchlichen Pomp, eifrige Predigt, um Eindruck zu machen.
Sie behandelten das französische Volk als ein von seinem Glauben abgef-ille
uns, welches daher ganz neu demselben wieder gewonnen werden und sich förm¬
lich demselben wieder widmen müsse. In ihren Predigten wurden alle Hand¬
lungen der Revolution als schwere von dem Volke zu sühnende Verbrechen ge¬
schildert, und insbesondere unter denselben die Wegnahme der Kirchengüter
und die Aufhebung der geistlichen Orden hervorgehoben. Zugleich erhoben sie
das neu aufgerichtete Königthum des heiligen Ludwig, da dessen Sache mit
der Sache der Kirche auf das engste verbunden sei. Sie pflegten ihre Mission
an jedem Orte mit einer feierlichen Ceremonie, der Aufrichtung des Kreuzes,
zu beendigen. Um die Gläubigen zugleich durch eine sinnliche Andacht noch
mehr zu fesseln und durch eine Verbindung enger zu vereinigen, wurde die
Andacht zum geheiligten Herzen Jesu und die Brüderschaft des geheiligten
Herzens Jesu allgemein verbreitet, eine Andacht, welche zur Zeit Ludwig XIV.
von den Jesuiten erfunden worden war. Diese Brüderschaft verbreitete sich
durch die Thätigkeit der Missionäre über ganz Frankreich und vereinigte die
fanatischen Anhänger der Kirche und das Königthum zu einem engen Bunde.
So gelang es denn, eine Menge Gesuche an den König zu Stande zu bringen,
denen er angegangen wurde, die Jesuiten zurückzurufen und die Charte
abzuschaffen. Eine Aeußerung dieses Fanatismus war die Verfolgung der
Protestanten im Departement du Gard im Jahre -1815, die Verfolgung der
beeidigten Priester, d. h. derjenigen Priester, welche den von der Nationalversamm¬
lung 1790 vorgeschriebenen Eid aus die damalige Constitution geleistet hatten.
Durch ein Gesetz vom 8. Mai 1813 wurde die Ehescheidung, welche durch das
bürgerliche Gesetzbuch erlaubt, aber immer noch hinlänglich erschwert war, ge¬
mäß den Grundsätzen der katholischen Kirche verboten; durch ein anderes vom
16. November 181k wurde den geistlichen Stiftungen wieder gestattet, beweg¬
liche und unbewegliche Güter zu erwerben und unveräußerlich zu besitzen. Der
Inspektor der öffentlichen Schulen im Garddepartement entsetzte 1813 alle pro-
testantischen Lehrer bei denselben aller Stellen. Ueberall erhoben sich wieder
Klöster, besonders Frauenkloster, in großer Menge, ungeachtet das Gesetz,
durch welches alle geistlichen Orden aufgehoben waren, nicht zurückgenommen
wurde. Selbst die Trappisten kehrten zurück, kauften im October 181!5 die
Abtei la Trappe in der Normandie wieder an sich, und vermehrten sich so zahl¬
reich, daß nach und nach 16 Klöster für Trappisten und Trappistinnen ent¬
standen. Besonders zeigte sich der Geist der herrschenden Partei in dem neuen,
1817 mit dem Papste abgeschlossenen Concordate, in welchem das Concordat
von 1801 und die organischen Artikel von 1802 aufgehoben, und dagegen das
Concordat von 1316 wieder hergestellt wurde. Die Bisthümer, welche 1801
aufgehoben waren, sollten wieder errichtet, also die Zahl der bisherigen 60 auf
92 vermehrt werden, und der französische Klerus statt der Besoldung, welche
er jetzt vom Staate bezog, liegende Gründe und Renten erhalten wie vorher.
Gegen dieses Concordat erhob sich aber die liberale Partei, welche schon so
vielfach gereizt worden war, mit dem größten Ungestüm, und deshalb wurde
dasselbe den Kammern gar nicht vorgelegt. Jedoch wurden 1822 die Bezirke
der Bisthümer so geordnet, daß sie größtentheils mit den Departements zu¬
sammenfielen, so daß infolge davon die Zahl aller erzbischöflichen und bischöf¬
lichen Kirchen auf 80 erhöhet wurde. Die herrschende aristokratisch-kirchliche
Partei betrachtete aber nicht nur die durch die Revolution begründeten Frei¬
heiten, sondern alle Freiheiten, auch die der gallicanischen Kirche, welche von
dem alten französischen Klerus mit so großem Eifer vertheidigt worden waren,
mit Abscheu. Die vorzüglichsten Verfechter des ultramontanischen oder, wie
seine Anhänger es nannten, des theokratischen Systems waren der Vicomte de
Bonald, der sardinische Graf und Staatsminister Joseph de Maistre (1-1821 in
Turin) und vorzüglich der Abb« de la Mennais. Der Gras de Maistre suchte
in den Schriften Du ?app (1819) und l'vKlisv KMioans (1821) besonders
vom politischen Standpunkte aus den Ultramontanismus als die festeste Stütze
der Staaten zu empfehlen. Nach de la Mennais sind die Völker, nachdem
die Fürsten sich der päpstlichen Gewalt zu widersetzen angefangen haben und
das päpstliche Recht nicht anerkennen, die Unterthanen vom Gehorsam gegen
ihre Fürsten zu entbinden, wenn dieselben vom göttlichen Gesetz abgewichen
seien, wieder in ihr altes Recht eingetreten, den Fürsten den Gehorsam aufzu¬
kündigen, wenn sich dieselben nach ihrer Meinung von dem Gehorsam gegen
Gott lossagten, und deshalb ist durch jene Losreißung vom Papste zuerst durch
die Reformation, dann aber auch durch die vier Propositionen der gallicani¬
schen Kirche der Thron ebenso wie der Altar erschüttert. Ludwig XV>>>. starb
den 16. September 1824, und ihm folgte sein Bruder, der bisher als Graf
von Artois das Haupt der absolutistischen Hofpartei war, unter dem Namen
Karl X. Die sogenannten pfeils svminmres oder geistlichen Secundärschulen
waren in der kaiserlichen Zeit unter die Aussicht der Universität gestellt; die
Bischöfe hatten sie aber immer derselben zu entziehen gesucht, und diesen Zweck
sogleich im Anfange der Restauration erreicht, indem Ludwig X,Vl!l. den
6, Oetober 181/i. durch eine Ordonanz die Bischöfe ermächtigte, in jedem De¬
partement ein solches Mit, Lömincm'ö zu errichten, welches alsdann ausschlie߬
lich unter bischöflicher Jurisdiction stehen sollte. Da nun die Jesuiten sich
nicht der Aufsicht der Universität unterwerfen wollten, so bemächtigten sie sich
mit Hilfe der Bischöfe eines großen Theils dieser pvUls svllnnairss, und be¬
wirkten auch durch ihren anderweitigen Einfluß, daß denselben eine Menge
von jungen Leuten anvertraut wurde", die gar nicht in den geistlichen Stand
zu treten beabsichtigten. Die Zahl der petits semin-riro^ wurde weit über die
gesetzlich bestimmte Norm hinaus vergrößert: es waren im Jahre 1828
deren 179, und in vielen derselben waren nur wenige Zöglinge, welche sich
wirklich dem geistlichen Stande widmeten. Es war klar, daß die Jesuiten
unter diesem Deckmantel allmälig den ganzen Gymnastalunterricht an sich
reißen und der Aufsicht der Universität entziehen wollten, um der Jugend der
gebildeten Stände ihre Grundsätze einzuprägen. Außerdem trat auch jetzt die
sogenannte Kongregation offener hervor, und gewann eine bedeutendere Ver¬
breitung. Diese Gesellschaft zur Verbreitung der römisch-katholischen Kirche
war mit Genehmigung des Papstes 1822 in Lyon von Jesuiten gestiftet, und
wurde von denselben fortwährend geleitet. Es war eine Brüderschaft, welche
sich von Zeit zu Zeit zu gemeinsamen Andachten versammelte und halv in ganz
Frankreich Mitglieder aus allen Ständen zählte, deren höchster Zweck Erhöhung
der katholischen Kirche und des bourbonischen Königthums war. Sie bildete
zu Gesellschaftszwecken eine Kasse, zu welcher jedes Mitglied wöchentlich einen Sou
beitragen mußte, welche aber durch die Menge der Mitglieder zu einem höchst
bedeutenden Beförderungsmittel der Parteizwecke erwuchs. Alle, welche sich
bei der Regierung empfehlen wollten, traten dieser Congregation bei. Diese
Gesellschaft, welche, solange die Bourbons regierten, die vorzüglichste Stütze
derselben war, hat sich auch nachher erhalten und über alle katholische Länder in
Europa und Amerika verbreitet. Die Erziehung des Herzogs von Bordeaux,
des künftigen Thronerben, wurde dem Bischof von Straßburg Thörin, einem
erklärten Jesuitenfreunde, anvertraut. Es wurden strenge Gesetze über die
Presse gegeben und die Censur eingeführt. So war alles, darauf berechnet,
die Herrschaft der katholischen Kirche im ultramontanen Sinne in Frankreich
sest zu gründen. Da der Ultramontanismus sich nicht scheute, die vier Artikel
der gallicanischen Kirchenfreiheit als ein Werk der Ketzerei zu verschreien, sahen
sich vierzehn Cardinäle, Erzbischöfe und Bischöfe veranlaßt, in Paris zusammen¬
zutreten und den 3. April 1826 eine Deklaration zu erlassen, in welcher sie
sich gegen jene Angriffe auf die gallicanischen Grundsätze erklärten. Endlich
brach der Aufruhr los und Karl X. wurde durch die in den Straßen von
Paris erkämpften Volkösiege vom 27. bis 29. Juli 1830 genöthigt, abzudanken
und mit seiner Familie Frankreich zu verlassen. Am 8. August wurde der
Herzog von Orleans, Louis Philipp, von den Kammern zum König der Fran¬
zosen erwählt und nachdem dieser durch den Aufstand vom 24. Februar -1848
dasselbe Schicksal wie sein Vorgänger erlitten, die französische Republik und
darauf das napoleonische Kaiserthum wieder hergestellt.
Unter diesen Umständen hat sich in Frankreich die Grundlage zu einem
nationalen Kirchenthum nicht gestalten können, vielmehr hat sich die neue
Schöpfung in diesem Gebiete in den wilden Schößlingen des Demokratengeistes
an den Tag gelegt. Als solcher wilder Schößling zeigte sich zunächst der
Se. Simonismus, gestiftet von dem Grafen Se. Simon, der in den amerika¬
nischen Freiheitskriegen mitgefochten und in Amerika, wo der Staat allein auf
Industrie gegründet ist, die Idee aufgenommen hatte, der Industrie, als dem
Hauptmittel einer bessern Organisation der Staaten, eine für alle Classen
wohlthätigere Gestalt zu geben. Er ging dabei von einer neuen Anordnung
der Industrie aus, ging dann auf Gelehrsamkeit und Künste und endlich auch
auf die Religion über, kündigte daher ein neues Christenthum an, welches
nicht einseitig dem spirituellen zugewendet, sondern dem Materiellen, dessen
Bearbeitung die Aufgabe der Menschen sei, sein Recht lassend und alle mensch¬
lichen Interessen vereinigend und befriedigend, das größte mögliche Glück auf
Erden verbreiten sollte, indem es von einer angemessenen Anordnung der
Industrie, als der Grundlage der Gesellschaft, ausginge, also eigentlich die
materiellen Interessen zur Religion erhöbe. Die Se. Simonisten erklärten es
für den Grundfehler der bestehenden Gesellschaft, daß eine Classe von Menschen
nur da sei, um für die andern Müssigen zu arbeiten, in deren Hände aller
Reichthum zusammengeflossen sei. Daher müsse alles Privateigentum auf¬
hören und die Gesellschaft alles Eigenthum haben: jeder der Gesellschaft Bei¬
tretende müsse also, sein Vermögen der Gesellschaft übergeben. Die Gesellschaft
sollte dann einem jeden seine Arbeit nach seiner Fähigkeit zutheilen uno ihn
nach seiner Arbeit belohnen. Alle Privilegien d.er Geburt sollten aufhören,
auch das Weib sollte nicht mehr abhängig sein vom Manne und von Aemtern
und Gewerben nicht mehr atisgeschlossen. In seiner Religion erklärt der
Se. Simonismus den Gegensatz von Geist und Materie nur sür ein Werk
menschlicher Reflexion: Gott ist das unendliche allgemeine Wesen, das Unkel'en,
die lebende Welt, nicht blos Geist, sondern auch Materie. Der Mensch ist die
endliche Offenbarung Gottes, und hat den Zweck, ohne Aufhören in Gott zu
wachsen, d. i. fortzuschreiten in Kunst, Wissenschaft und Industrie; denn alle
Wissenschaft ist ein Wissen von Gott, alle Industrie ist ein Cultus Gottes,
die Kunst, sofern sie die Gefühle anregt, ist Religion. Ein anderer wilder
Schößling schoß in den neuen Templern aus. Schon seit dem Anfange des
18. Jahrhunderts halte sich in Paris eine geheime Gesellschaft gebildet, welche
eine Fortsetzung des Templerordens zu sein behauptete. In dieser Gesellschaft
bildete sich eine nach den Ideen des -18. Jahrhunderts gemodelte Vernunft-
religion aus, von welcher anch die Schriften durchdrungen sind, welche als die
Grundlagen der Eigenthümlichkeiten der Gesellschaft zu betrachten sind, daS
Levitikon, das Ritualbuch der Gesellschaft, und ein interpolirtes Evangelium
des Johannes. DaS Glaubensbekenntniß, welches in dein Levitikon enthalten
ist, zeigt ein Gemisch von Pantheismus und Naturalismus. Die neue»
Templer traten im Jahre »83-1 aus ihrer Dunkelheit hervor und behaupteten,
in ihrer Gesellschaft das reine Christenthum zu besitze», welches durch den
Apostel Johannes und die von demselben abstammenden Johanneschristen er¬
halten, im -13. Jahrhunderte von den Tempelherren im Oriente angenommen
worden sei und sich in dieser Verbindung bis auf den heutigen Tag erhalten
habe. Ein ähnliches Product ist die l!.FliLö l^tlroliciue l^nymse des Ubbo
Ferdinand Francois Chatel, die aber diesen Namen nicht verdient, sondern
eher ein Napoleonscult heißen sollte. Chatel eröffnete im August 1830 einen
Bersaal in seiner Wohnung, und veröffentlichte -1832 eine ?rot<zssic>u no loi,
worin er die positiven Lehren der katholischen Kirche festzuhalten schien, wendete
sich aber immer enger den Theophilantropen der Revolution zu und ließ seinen
Cult in dem Napoleonöfeste am -!!>. August eulminiren. Bei dieser Lage der
Sache fehlt es annoch in Frankreich an Elementen, woraus sich ein positives
französisches Kirchenthum entwickeln könnte.
Für Deutschland setzt der -16. Artikel der deutschen Bundesacte vom
Jahre -18-In, invem er den Unterschied in politischen und bürgerlichen Rechten
Zwischen den kirchlichen Confessionen aufhebt, eine endlich herzustellende deutsche
Nationalkirche, und gleich der protestantischen Geistlichkeit hegte auch die über¬
wiegende Mehrzahl der katholischen eine nationale Gesinnung, welche durch die
von Benedict Maria Werkmeister, Oberkirchenrath in Stuttgart, von -1806
bis ->823 herausgegebene Jahresschrift für Theologie und Kirchenrecht der
^"tholiken und durch die (von Johann Anton Theiner, Professor in Breslau)
"erfaßte Schilf,: Die katholische Kirche Schlesiens, unterhalten und gefördert
wurde. Diese nationale Tendenz des katholischen Kirchenthums sollte durch
die änrchenpragmaiik der Staaten der oberrheinischen Kirchenprovinz und durch
dle Philosophisch,. Behandlung der katholischen Religionswissenschaft von
Hermes weiter gefördert werden, es wurden aber dabei solche Mißgriffe begangen,
daß der für die Gestaltung einer deutschen Nation maßgebende Endzweck nicht
nur nicht erreicht, sondern das Gegentheil davon herbeigeführt wurde. Die
Staaten der oberrheinischen Kirchenprovinz Würtemberg, Baden, die beiden
Hessen, Nassau und die hanseatischen Städte ließen im Jahre -18-18 in Frcmk-
furt eine Commission zusammentreten, um die Grundsätze festzustellen, nach
welchen sie gemeinschaftlich ein Concordat mit Nom abschließen wollten. Bei
dieser Feststellung beabsichtigte man nicht nur die Rechte deS Staates gegen^
die Kirche, sondern auch die Rechte der deutschen Kirche und Bischöfe gegen
den römischen Stuhl nach den Grundsätzen der neuern freisinnigen katholischen
Kanonisten geltend zu machen und eine größere Unabhängigkeit der deutschen
Kirche von Nom, mit derselben aber zugleich die Möglichkeit einer liberalen
wissenschaftlichen Ausbildung des Klerus zu begründen, Der wichtigste Artikel
dieser sogenannten Kirchenpragmatik, von der Wahl der Bischöfe, lautete dahin,
daß ein Wahlcollegium aus den Domcapitularen und ebensovielen Landdiakonen
der Diöces bestehend, drei Candidaten wählen und der Landesherr aus den¬
selben den Bischof ernennen solle, dabei aber auch vor der Wahl die exLlusivairr
ertheilen und auch nachher die Wahl recusiren und eine neue Wahl veran¬
lassen könne. Dieser Schritt ging offenbar dahin, die Kirche dem Staate
unterwürfig zu machen, was dem Streben unsrer Zeit zuwiderlies und der
Erklärung des Papstes wider die Kirchenpragmatik ein solches Gewicht gab, daß
deswegen der nachfolgende Abschluß des Concordates mit Nom zu Gunsten des
letztern ausfiel. Georg Hermes, Professor der Theologie in Münster, dann in
Bonn, l'183-I, ging darauf aus, der katholischen Dogmatik eine festere philo¬
sophische Grundlage zu geben und fand damit allgemeinen Beifall; aber indem
er den Zweifel für das Princip der christlichen Religionswissenschaft erklärte,
gab er dem Papste Gregor XVl. die Gelegenheit in die Hand, in dem Breve
»um ULLrblssima!- vom 26. September 1836 nicht nur seine Philosophie,
sondern überall den Einfluß nationaler Wissenschaft auf die katholische Glaubens¬
lehre zu verdammen.
Unter diesen Umständen allein war es möglich, daß eine ultramontane
Partei in Deutschland zu Einfluß gelangen konnte. Einen ultramontanen
Charakter hatte das Concordat, welches Baiern den ü. Juni 18-17 mit Nom
abschloß, indem der erste Artikel desselben verhieß, daß die katholische Religion
in Baiern geschützt werden solle, mit den Rechten und Prärogativen, welche ihr
nach göttlicher Anordnung und nach den kanonischen Bestimmungen zukämen, und
der siebente Artikel versprach, mehre Klöster sür beiderlei Geschlecht, theils zum
Jugendunterricht, theils zur Krankenpflege, theils zur Unterstützung der Pfarrer
wiederherzustellen. Seit der Thronbesteigung des Königs von Baiern Ludwig I. im
Jahre -1823 wurde in Baiern die streng katholische Partei sehr begünstigt. Die
Negierung ging daraus aus, den Unterricht in vie Hände von Geistlichen zu
dringen; das religiöse Schaugepränge, geistliche Umzüge, geistliche Schauspiele,
wurden wieder hergestellt. Schon im Jahre 183-1 war die Zahl der neu er¬
richteten Klöster bis auf-i2 gestiegen und man gründete namentlich Benedictiner-
klöster, um denselben den Unterricht in den Gymnasien zu überweisen. Das
erste Kloster dieser Art wurde zu Se, Stephan in Augsburg errichtet, um dem¬
selben das dortige katholische Gymnasium zu übergeben. Der zum Abt er¬
nannte Barnabas Huber besuchte das Jesuitencollegium zu Freiburg, um die
dortige Erziehung?- und Unterrichtsweise kennen zu lernen. Eigentlich ,'wünschte
diese Partei die Jesuiten selbst nach Baiern zu ziehen. Im Jahre 1837 begann daS
Ministerium des Herrn von Abel und demselben zur Seite stand die Univer¬
sität München, an welcher Görres, RingeiS, Phillips und die Theologen
Wiedemann Döllinger und Windischmann angestellt waren. Die vorzüglichsten
Organe der ultramontanen Partei wurden die Literaturzeitung für katholische
Religionslehrer, -18-10 von Felder in Landshut begonnen und fortgesetzt von
Mestiaux und von Kerz; der Katholik, erscheinend seit -18-19 zuerst in Mainz,
dann in Straßburg; der Allgemeine Religions- und Kirchenfreund, seit -1828
von Benkert zu Würzburg herausgegeben. Daneben wirkten Wallfahrten,
Brüderschaften, Wunder. Alexander, Prinz von Hohenlohe-Schillingsfürst,
Vicariatsrath in Bamberg fing bei einem Besuche in Würzburg -I82-I an
als Wunderthciter auszutreten. Als gegen Ende des Jahres -1830 in Frank¬
reich die Erzählung in Umlauf gesetzt wurde, daß die Mutter Gottes einer
betenden Nonne erschienen sei und derselben befohlen habe, eine Medaille mit ihrem
Bildnisse machen zu lassen, indem, wer diese Medaille trage, sich des besondern
Schutzes der heiligen Jungfrau zu erfreuen haben werde, wurde diese Medaille
mit Genehmigung des Erzbischofs von Paris geprägt und von vielen getragen.
Bald kamen zahlreiche Erzählungen von Wundern in Umlauf, welche dieselbe
gewirkt haben sollte. Auch nach Baiern verbreitete sich diese Medaille, und
wurde von dem Klerus sehr empfohlen. Vom -18. August 18-ii an sechs
Wochen hindurch wurde von dem Bischöfe Arnoldi zu Trier in der Domkirche
der Rock Christi zur Verehrung ausgestellt. In dieser Zeit strömten Hundert¬
tausende nach Trier; aber unter dem -I. October 18/ti erließ der suspendirte
schlesische Priester Johannes Ronge ein offenes Schreiben an den Bischof
Arnoldi über die Nockverehrung, welches bald von allen Zeitungen wiederholt
wurde. Als das breslauer Domcapitel, da der bischöfliche Stuhl grade er¬
ledigt war, Ronge ercommunicirte, traten breslauer Katholiken freiwillig aus
der katholischen Kirche aus und bildeten unter den Ercommunicirten eine deutsch-
kaiholische Gemeinde, welches Beispiel an vielen Orten Nachahmung fand. Die
neue Kirche hielt Ostern -I8is in Leipzig ihre erste allgemeine Kirchen-
Versammlung und stellte ein Glaubensbekenntniß aus, worin das geistliche
hierarchische Priesterthum, mit dem hierarchischen Priesterthume der geistliche
Stand, mit dem geistlichen Stande die Kirche und mir der Kirche die christ¬
liche Religion negirt wurde.
In dem protestantischen Deutschland trat bei der Jubelfeier der Refor¬
mation -18-17 hinter Luther, den deutschen Volksmann, Luther der Glaubens-
Held zurück. Die Scheidewand zwischen den beiden evangelischen Kirchen in
Deutschland war schon längst gefallen; es war daher wünschenswert!), daß
das Aufhören der Trennung auch förmlich ausgesprochen und die Vereinigung
auch äußerlich vollzogen würde. Dieses erfolgte zuerst in Nassau ans der
Generalsynode zu Jdstein im August 1817. Gleich darauf erließ der König
von Preußen, Friedrich Wilhelm III., den 27. September 1817 eine Aufforde¬
rung an die geistlichen Behörden der Monarchie, dahin zu wirken, daß zur
Verherrlichung des bevorstehenden Reformationsjubiläums die beiden Parteien
der evangelischen Kirche die Scheidewand, welche sie trenne, niederreißen und
sich zu einer evangelischen Kirche vereinigen möchten. Die Vereinigung der
beiden evangelischen Kirchen wurde darauf in einem großen Theile Deutsch¬
lands glücklich vollzogen. Mit der Vollziehung der Union war die Einführung
einer kirchlichen Gemeindeverfassung verbunden. Auch hierin ging Nassau vor¬
an, indem es noch im Jahre 1817 eine Synodal- und PreSbyterialversassung
einführte. An der Spitze der Landeskirche steht ein Bischof mit den Rechten
eines Generalsuperintendenten. Die preußische Negierung beabsichtigte eine Ver¬
schmelzung der Consistorial- und Synvdalverfassung, und berief daher im
Jahre 1819 in allen Provinzen Provinzialsynoden, welchen sie einen Entwurf
zu einer Synodalordnung zur Begutachtung vorlegte, Da aber die einlaufen¬
den Gutachten sehr verschieden waren, und einige eine reine Synodal-
vcrfassung verlangten, so blieb jene Einleitung ohne weiteren Erfolg, nur daß
jede Gemeinde aufgefordert wurde, Kirchenvorstände oder Presbyterien zu
wählen, denen indessen nicht auch zugleich ein fester Wirkungskreis und be¬
stimmte Befugnisse beigelegt wurden. Nur für die evangelischen Gemeinden
der Provinz Westphalen und der Rheinprovinz erschien 3. März 1833 eine
Kirchenordnung, in welcher den Gemeinden eine bedeutende Mitwirkung in
kirchlichen Angelegenheiten durch Presbyterien und Synoden, aber unter ge¬
nauer Staatsaufsicht, gestattet wird. So geschah auch in andern deutschen
Ländern für die Fortbildung der Kirchenverfassung mancherlei, noch mehres aber
wurde blos angestrebt, ohne ins Leben treten zu können, Das Haupthinderniß,
den Gemeinden Einfluß ans kirchliche Angelegenheiten zu gewähre», lag in
der Zeitphilosophie. Die hegelsche Philosophie nahm anfangs eine freundliche
Stellung gegen das kirchliche Bekenntniß an, und man hegte die Hoffnung,
sich ihrer zur Vermittlung zwischen dem Bekenntnisse und dem Gemeinde-
vewußtsein bedienen zu können. Da aber die Zeitphilosophie diese Stellung be¬
nutzen wollte, sich an die Stelle der Religion zu setzen, den geschichtlichen
Christus für mythisch, die christliche Religion für Zeitbewußtsein und die Ge¬
schichte der christlichen Kirche für eine Geschichte der menschlichen Beschränktheit
erklärte, so begann seit dem Regierungsantritte des Königs Friedrich Wilhelm IV.
von Preußen 186-0 der Standpunkt der Hervorhebung des kirchlichen Bekenne-
nisses der kirchlichen Gemeinde gegenüber, woraus zunächst die Versammlungen
der Lichtfreunde und darauf die Bildung der freien Gemeinden hervorgingen,
welche wie die Deutschkatholiken gegen den geistlichen Stand, gegen das kirch¬
liche Bekenntniß Protestiren.
Um den Laien in diese ziemlich schwierige Materie einzuführen, dürste es
angemessen sein, ihm gleich anfangs einige klare Vorstellungen als Anhalt
und leitenden Faden an die Hand zu geben. Seit Anwendung des Schieß-
Pulvers im Kriege haben wir zwei taktische Hauptfunctionen der Truppen zu
unterscheiden: die Bewegung und das Feuern. Die Eavalerie kennt im
Gvunde genommen keine andere Gefechtsthätigkeit als die erstere —- die Ar¬
tillerie keine andere als die letztere; und es ist der Vorzug der Infanterie und
zugleich derjenige Umstand, welcher sie zur wichtigsten Waffe des Heeres macht,
daß sie beide Activnen, der Bewegung und des Feuers, zu vereinigen weiß,
d. h. ebenso tauglich ist, durch den Stoß der Colonne wie durch die Füsilade
zu wirken.
AllerwärtS wo in der freien, offenen Ebene gleich brave und gleich gut.
geführte Truppen einander gegenüberstehen, wird letztlich der Sieg sich auf die¬
jenige Seite neigen, auf welcher die größere numerische Stärke vorhanden ist;
denn es ist klar, daß die breitere und tiefere Colonne auch den wuchtvollen
Stoß auszuüben vermag, und daß von daher, wo sich die meisten Gewehre
und Geschütze befinden, das überlegene Feuer ausgehen wird.
Nicht mit derselben Sicherheit indeß ist der Kampf zwischen zwei ungleich
starken Truppencorps dann im voraus zu bestimmen, wenn derselbe im be¬
deckten und durchschnittenen Terrain stattfindet; denn der Schwächere befindet
sich hier nicht nur in der Sagenden Stoß des Gegners, indem er denselben
"'wartet, an den Hindernissen des Bodens, auf welchem die Bewegung vor
sich geht, sich brechen zu lassen, sondern er vermag auch nicht selten unter
Benutzung der localen Verhältnisse daS Feuergefecht dermaßen zu seinem Vor¬
theil auszubeuten, daß seine eignen Leute dem Feind einen bedeutenden Scha¬
den zuzufügen im Stande sind, während sie von dessen Fernwaffen nur wenig
leiden.
Wird ein derartiger Kampf eine beträchtliche Zeit hindurch hingehalten,
so ist klar, daß der Stärkere in dem Verlauf desselben mehr wie der Schwächere
verlieren, und infolge dessen eine Deplacirung der Stärkenverhältnisse vor
sich gehen wird, vermöge welcher letztlich die numerische und namentlich mora¬
lische Ueberlegenheit sich auf die Seite der seitherigen Mindermacht neigen,
und dieselbe eben dadurch in den Stand setzen wird, aus der Defensive, die
sie bis dahin innegehalten, zur Offensive überzugehen, oder mit anderen
Worten, den Angreifenden, nachdem er seine Kräfte resultatlos abgenutzt, in die
Situation der Vertheidigung zurückzuwerfen.
Terrains, in welchen die Minderzahl ein Gefecht in der Hoffnung auf
einen derartigen Umschlag in dem Gleichgewicht der Kräfte anzunehmen im Stande
ist, finden sich durchaus nicht selten. Man erinnert sich wol des Ausspruchs
von Friedrich dem Großen, wonach man auf dem Raume von wenigen Q-uadrat-
meilen zuweilen hundert Positionen für eine Division oder eine Armee auf¬
zufinden vermöge. Unter einer so großen Zahl von Stellungen wird selbstredend
eine bedeutende Verschiedenheit in Hinsicht auf die Stärke, oder die Nutzbarkeit
zu den Zwecken der Vertheidigung, stattfinden. Aber darin werden alle einan¬
der ähneln, daß die Kunst im Stande ist, sie zu verbessern.
Man begreift diese Verbesserungen des Terrains zu Gunsten einer Min¬
dermacht, welche sich auf demselben gegen eine angreifende Uebermacht ver¬
theidigen will, unter dem Namen der Feldbefestigungen, und zwar hat man
bei demselben zwei Hauptgesichtspunkte im Auge: einmal den, die taktische Be¬
wegung deö Gegners zu erschweren, und die unsrige zu erleichtern, — und
sodann, sein Feuer für unsre Truppen so unschädlich wie möglich, dagegen das
unsrige um so wirksamer zu machen. Ersterer Gesichtspunkt führt auf Be-
wegungshindenusse für den Feind und auf Communicationen für uns — der
andere auf Deckungen und Feuerpositionen hin. ^.
Ich will hier zunächst einige Worte den Bewegungshindernissen widmen.
Wie jedermann weiß, können Fußgänger, Reiter und Geschütze auf der
ebenen Fläche sich am leichtesten und schnellsten bewegen. Je schräger die
Fläche ist, oder jemehr sie sich böscht, desto schwieriger und langsamer werden
sämmtliche Waffen auf ihr vorzuschreiten vermögen. Diese Bewegungsfähigkeit
hört für Cavalerie und Artillerie am frühesten auf; Infanterie vermag, in
zerstreuter Ordnung, noch eine um 40 Grad geböschte Fläche hineinzusteigen;
mit 45 Grad hört alle Bewegung durch Bewaffnete auf. Die Feldbefestigungs¬
kunst wird daher unter dem Gesichtspunkt der Annäherungsverhindcrnng des
Feindes es als ihre Hauptaufgabe zu erkennen haben, demselben Flächen oder
Böschungen von />ii Grad Neigung und darüber in den Weg zu legen. Die¬
sen Zweck erreicht sie im bergigen Terrain meistens dadurch, daß sie den flachen
Abhängen durch Abstechen (Escarpiren) die nothwendige Steilheit ertheilt, und
in der Ebene durch Aushebung von Gräben. Die letzteren sind insofern wirk¬
samere Hindernisse als die einfachen Abstechungen (Eöcarpirungen) weil sie
dem'Feinde anstatt einer Böschung deren zwei entgegenstellen. Die am inne¬
ren Grabenrande (auf Seite des Vertheidigers) gelegene Schrägung nennt
man die Escarpe, und die ihr entgegengesetzte die Contreescarpe. Es heißt
ferner die sie abgrenzende obere Linie ihre Crete, (Crete der Escarpe, Crete
der Cvntreescarpc) uno die untere ihr Fuß. Die zwischen dem Fuß derESccnpe
und dem der Contreescarpe gelegene horizontale Fläche nennt man die Graben¬
sohle. Wo beide Linien (der Fuß der Escarpe und derjenige der Contreescarpe)
zusammenfallen, entsteht ein Spitzgraben.
Es ist klar, daß die Contreescarpe der feindlichen Annäherung alö erstes,
die Escarpe ihr als zweites Hinderniß entgegentritt und erstere den Gegner zu
der mißlichen Operation des Hinabsteigens, letztere zu der noch zweifelhafteren
des Hinausilimmenö zwingt, denn beide Cretcu oder die Ränder des Grabens
sind selbstredend soweit auseinandergerückt, daß ein Ueberspringen nicht ver^
sucht werden kann. Desgleichen wird jedermann einsehen, daß die Bedeutung
des Grabens als Hinderniß mit seiner Tiefe und der Steilheit seiner Böschungen
nothwendig zunehmen muß. Als die geringste Tiefe wird die von zehn Fuß
betrachtet, weil bei einer kleineren Höhendifferenz zwischen Grabensohle und
innerm Grabenrand (Escarpencrete) die Erklimmung noch durch Aufsteigen
der Mannschaften auf die Schultern erleichtert werden könnte. — Es gibt noch
andre BewegungShindernisse als den Graben, mit deren Herrichtung die Feld¬
befestigung sich befaßt: Überschwemmungen, Wolfsgruben, Palissaden, Ver¬
haue .... aber sie sind nicht so wesentlich, treten meistens als Zugabe
und in secundärer Stellung auf und ihre Besprechung würde mich hier
zu weit führen; im weitern Verlause des Aufsatzes komme ich auf sie zurück.
Wie oben erwähnt hat die Feldbefestigung aber neben der Aufgabe, die
Bewegung des Feindes zu hindern, zugleich die andre, die der eignen Truppen
zu erleichtern. Sie wird daher kein Hinderniß gestalten, über welches hin in
irgendeinem Moment der diesseitige Vorgang wünschenswerth werden kann,
ohne für Uebergänge zu sorgen. Was die Gräben angeht, so bereitet man
ihre Ueberschreitung durch die eignen Truppen durch bewegliche Brücken vor,
ober durch Dämme, welche man quer hindurch stehen läßt, durch Rampen von
der Crete zum Fuß der Böschungen und durch Ansatztrcppen. Alle diese
Mittel und viele hier nicht erwähnte umfaßt man mit dem Namen der Com-
municationen.
Als den zweiten Hauptgesichtspunkt sür die Feldbesestigungstunst, neben
dem der Hinderung der feindlichen und der Beförderung der eignen Bewegung
bezeichnete ich im Vorhergehenden die Unschädlichmachung des feindlichen
Feuers und die Beförderung der Wirksamkeit des eignen. Erörtern wir hier
zunächst die erstgedachte Aufgabe.
Es ist, abgesehen von der reinen Ebene, nicht schwer, auf jedwedem Terrain
Positionen ausfindig zu machen, in denen ein größrer oder geringerer Theil der
eignen Streitlüste sich gegen die feindliche Einsicht und ebendeshalb gegen die
Wirkung der Feuerwaffen des Gegners gedeckt findet. Einsenrungen und rück¬
wärtige Abdachungen, Gebüsche und Waldstückchen bieten hierzu am häufigsten
Gelegenheit dar. Wo sich keine natürliche Deckungen vorfinden, hat die Feld-
befestignngökunft künstliche zu schaffen und zwar kann sie ihre Ausgabe ans
dreierlei Weise lösen, indem sie Einschnitte macht, oder Anschüttungen herstellt,
oder endlich beide miteinander combinirt. Es ist an sich klar, daß ein Mann,
welcher in einen sechs Fuß tiefen Einschnitt gestellt wird, das feindliche Feuer
nicht zu fürchten hat, mit Ausnahme desjenigen der Wurfgeschütze; daß ferner
ein ebenso hoher Erdaufwurf, wenn er die ausreichende Stärke (Dicke) hat, um
von der Vollkugel der schwersten Feldkanone nicht durchbohrt zu werden, ziem¬
lich dieselben Dienste leisten wird und daß endlich nichts Bedenkliches in dem
Sachverhalt sich ändert, wenn die Deckung zur Hälfte durch einen Einschnitt
zur andern Hälfte durch einen Auswurf hergestellt wird. Truppen, welche
man momentan zur Action nicht verwenden, aber in naher Bereitschaft haben
will, wirb man unter den drei gestellten Bedingungen gegen das feindliche
Feuer ziemlich sicher wissen — aber damit sie mit ihren eignen Feuerwaffen
von den betreffenden Positionen aus in den Kampf einzugreifen vermögen, wird
es noch andrer Vorkehrungen bedürfen. Es ist dies die andre Aufgabe, welche
unter den zweiten Gesichtspunkt gestellt werden muß.
Jeder, welcher ein Gewehr selbst gehandhabt oder handhaben gesehen hat,
wird wissen, daß der ausgestreckte Arm, die Schulter und das Auge dabei noch
freies Spiel haben müssen. Wollte mau einen Einschnitt (Graben) so einrichten,
daß ein auf der Sohle desselben stehender Schütze sein Gewehr gegen den aus¬
wärts stehenden Feind noch zielend abzufeuern vermöchte, so dürfte derselbe
keine größere Tiefe, als etwa vier rheinländische Fuß erhalten. ES sind
dies die sogenannten Schützengräben, welche im neueren Be-
lagcrungskr lege eine so große Rolle zu spielen begonnen haben.
Desgleichen wird, wenn man den Schützen auf den Horizont stellt, ein Erd¬
aufwurf zu seiner Deckung nicht höher, als ebenfalls vier Fuß hoch angeschüttet
werden dürfen, falls er noch von seiner Feuerwaffe nach der feindlichen Seite
hin Gebrauch machen will. Endlich würden, wo Einschnitt und Anschüttung
zu dem Doppelzweck der Deckung und des Wasfengebrauchs verbunden sind, die
Erete des Auswurfs und die Sohle des Grabens leine größere Höhendifferenz
«is die von wiederum vier Fuß trennen dürfen. In Hinsicht auf die Geschütze,
Kanonen wie Haubitzen, würde dieses Maß sich aus drei Fuß oder auf die
sogenannte Kniehöhe reduciren.
Wiewol durch ein derartiges Arrangement bereits Bedeutendes gewonnen,
nämlich vom Schützen die größere Hälfte des Körpers und vom Kanon der
Haupttheil der Lafette gedeckt ist, so verbleibt Dennoch ver Uebelstand, daß
das Laden der Gewehre nur dann gedeckt geschehen kann, wenn die Mann¬
schaft niederkniee, daß in den Gräben kein Raum zur rückwärtigen Truppenauf-
stellung und auch hinter den Auswürfen keiner vorhanden ist, der gegen Bo¬
genschusse auch nur bis auf 4 Fuß Höhe gedeckt wäre, falls nicht das Terrain
»och rückwärts abfällt. Etwaige Reserven würden daher in den Fall kommen,
sich auf den Bauch niederlegen zu müssen.
Diesem Uebelstande wird vorgebeugt, wenn man unter normalen Um¬
ständen die zur Deckung bestimmten Aufwürfe bis über Manneshöhe, also
mindestens auf sechs und einen halben Fuß erhöht und behufs der Anwendung
des kleinen Gewehrs Auftritte hinter ihnen anschüttet, die bis vier Fuß unter
ihre Erete, und für die Geschütze Bänke oder Plattformen, welche bis drei Fuß
unter dieselbe reichen. Die gesammte Anschüttungsmasse oberhalb der Auftritte
oder Bankette und der Geschützbänke nennt man die Brustwehr und die unter¬
halb den Wall; Bankette und Geschützbänke aber begreift man unter dem Namen
der Feuerpvsilionen.
Hindernißmittcl (im Besonderen Gräben) Communieati oren
(Brücken, Rampen) Deckungsmittel (Aufwürfe, Einschnitte) und Fen erpo-
litionen, deren Bedeutung hiermit entwickelt worden ist, sind ganz allgemein ge¬
nommen das, was man die Elemente, nicht nur der Feldfortification, sondern
der Befestigung überhaupt nennt. Sie sind im Besonderen die Bestandtheile,
aus welchen sich jene größeren sortificatvrischen Ganzen, die man unter dem
Namen der Werke begreift, zusammensetzen. Der Specialauödruck in der Feld¬
fortification für diesen Begriff ist Schanze.,
Eine Schanze besteht demnach aus vier Haupttheilen. Aus Auftritten
oder Banketten, respective Geschützbänken, als kunstgerecht angelegte Positionen
für den wirksamen Gebrauch der Feuerwaffen, aus davor gelegenen Deckungen,
aus einem gegen die 'Annäherung des Feindes schützenden, meistens das Ganze
umschließenden Hinderniß, und aus Eommunicationen, welche, im letzteren
Falle, der Besatzung dazu dienen, jenes je nach Belieben zu Passiren, sei es
um den Feind mit der blanken Waffe anzugreifen, oder um die Schanze be¬
hufs des Rückzugs zu verlassen. Dieses Hinderniß wird in den meisten Fällen
ein Graben, und die darüber hinführende Communication eine Brücke oder
ein baumartiger, stehengebliebener Erdteil sein. Liegt das Werk an einem
AbHange, so kann man den Graben ersparen, indem man jenen escarpirt.
Die Schanzen zerfallen in drei Classen, jenachdem sie offene oder ge¬
schlossene sino. Offene Werke machen nur nach einigen Seiten hin mit ihren
Vertheidigungslinien Fronte; geschlossene dagegen sind nach jeder Richtung hin
wehrfähig: am'meisten nach denen, welchen sie eine Frontlinie, am wenigsten
nach den anderen, denen sie nur einen Winkel zukehren.
Die einfachste offene Schanze stellt eine Deckung mit rückliegenden Bankett
(respective GeschüiMnken) und vorliegendem Graben dar, welche in gerader
Linie geführt ist. Indeß kann sie nur da angewendet werden, wo keine Ge¬
fahr vorhanden ist, daß der Feind eine Stellung in ihrer Verlängerung ein¬
nehmen wird; also zur Vertheidigung von Dämmen, Hohlwegen, Desilcen
sonstiger Art u. s, w. Zweckmäßig ist unter solchen Umständen ein sogenann¬
tes Zangenwerk (Tenaille) oder eine im eingehenden Winkel gebrochene Linie,
weil durch dieselbe ein sich kreuzendes Feuer ermöglicht wird. Der Gegensatz
davon ist die Flesche (Pfeilschanze), welche aus einer nach auswärts gebrochenen
Linie besteht. Beide Werke, die Tenaille und die Flesche, repräsentiren die
möglichst einfachen Kompositionen forlificatorischer Linien, die gedacht werden
können; zugleich stellen sie den Doppelbegriff des eingehenden (Tenaille) und
des aufspringenden (Flesche) Winkels dar. In diesen beiden Winkeln liegt
ein zweifaches defensives Princip ausgesprochen. In dem eingehenden Winkel
drückt sich der Gedanke ans, daß die eine Linie die andere zu unterstützen hat,
und der taktische Erfolg in der Concentrirung der Anstrengung (Kreuzfeuer) zu
finden ist; in dem aufspringenden Winkel dagegen strebt die Vertheidigung nach
einem seitwärtigen Abschluß hin und drückt sich das Verlangen aus, einem
etwaigen Flankenstoß deS Feindes direct zu widerstehen.
Die Unterstützung, welche beim eingehenden Winkel (oder bei der Tenaille)
die eine Linie durch ihr Feuer der anderen zu Theil werden läßt, und diese
jener, nennt man ihre Flankenwirkung, oder man sagt, beide Linien flankiren
sich gegenseitig, was soviel heißt, als je eine beschießt den gegen vie andere
vorgehenden Feind von der Seite her. Wenn dieses Feuer der einen Linie
zugleich in den Graben vor der anderen dirigirt werden kann, so sagt man,
daß eine Grabenbestreichung vorhanden ist. Eine Flesche hat an und sür sich
keine Grabenbestreichung; bei einer Tenaille dagegen ist sie vorhanden,, wenn
der eingehende Winkel kleiner als 1Ä0 Grad ist; vollkommen wird sie erst bei
90 Grad. Um eine Flesche in ein sich selbst flankirendes Werk umzuwandeln,
bedarf es mithin der Hinzufügung zweier Anschlußlinien, welche mit den
Hauptseiten im günstigsten Falle eingehende Winkel von 90 Grad formiren
würden.
Feindliche Seite.
Denkt man sich dagegen die beiden Anschlußlinien nicht im eingehenden,
sondern im ausspringeiiden Winkel den beiden Fleschenfronten angefügt, so
entsteht das, was man eine Lünette nennt. (Wegen der Aehnlichkeit des
Ganzen mit dein Gestell jener Brillen, die man Nasenquetsche nennt.)
Die Lünette ist, beiläufig bemerkt, die beliebteste Gattung der offenen
Schanzen. Freilich vermögen ihre Fronten sich weder untereinander zu
unterstützen, noch hat der Graben durch das Feuer von der Brustwehr
her eine Vertheidigung zu erwarten, welches beides bei der Flesche mit
Flanken der Fall ist; im Gegensatz zu dieser aber ist die Lünette um vieles
selbstständiger, weil sie nicht blos nach einer, sondern nach drei Richtungen hin
Widerstand zu leisten vermag/") weil der Raum, welchen sie beschießt, größer
ist und weil sie in ihrem Innern eine größere Streitmacht aufzunehmen Ver¬
mag. Wo mehre offene Schanzen innerhalb der Tragweite ihrer Feuerwaffen
neben einander zu liegen kommen, wird man sich aber vornehmlich gern der
Lünettenform (Lünettentrae«) bedienen, weil unter dieser Bedingung beid?
Werke leicht in der Art zu anangiren sind, daß die angehängte Linie oder
Flanke des einen, eine Hauptlinie des anderen bestreicht, und umgekehrt.
Dieselbe Bedeutung, welche die Lünette unter den offnen Schanzen hat:
die am häusigsten angewendete und zweckmäßigste zu sein, hat die Redoute unter
den geschlossenen.
Mit dem letztern Namen bezeichnet man ein Werk, welches, abgesehen von
seinem allseitigen Schluß, nur aufspringende Winkel im Gegensatze zu den
eingehenden hat und dessen Grundform demnach ein Vieleck (Polygon) unter
allen Umständen sein wird. Das Quadrat, das Rechteck und der Rhombus
(Raute) bezeichnen die Trae«s der einfachsten Redouten. Die größten, com-
plicirtesten und am seltensten angewendeten sind die achtseitigen.
Dem Leser wird einleuchten, daß eine Redoute an und für sich keine
Grabenflankirung hat. Verlangt man ein geschloßnes Werk, dessen Graben
von der Brustwehr (Bankett, Geschützbank) her vertheidigt wird, so bleibt nichts
übrig, als eine Sternschanze zu erbauen, von welcher jedermann eine an¬
nähernde Vorstellung hat und über die ich nur bemerke, daß sie sich aus ein-
und ausgehenden Stücken zusammensetzt, von denen erstere im 'besten Falle
9et Grad groß sind, letztere aber mindestens 60 Grad zählen müssen.
Fleschen, ohne oder mit Flanken, Lünetten, Redouten und Stern¬
schanzen sind die vier Hauptcombinationen, in denen sich die Fcldbefesti-
gungskunst ergeht. Wen dies in Erstaunen setzt, der möge erwägen, daß sich
eine große Mannigfaltigkeit der Formen erreichen läßt, jenachdem man die
offnen Werke in dieser oder jener Weise zusammenstellt oder durch Zwischen-
linien verbindet. Noch überraschender indeß dürfte es sein, daß auch die große
oder permanente Befestigungskunst, vulgär Festungsbaukunst genannt, keine
andern Formen kennt. Letzteres hier anzumerken erscheint um so nothwendiger,
als damit allein die Rechtfertigung für die ziemlich weit ausholende Einleitung
gegeben' werden dürfte.
Verständigen wir uns hier zunächst über den Zweck der Festungsbau-
kunst im Gegensatz zur Feldbefestigungskunst. Letztere hatte, wie oben
entwickelt, die Aufgabe, Stellungen, in denen eine Mindermacht den Kampf
gegen eine Uebermacht anzunehmen vermag, dermaßen durch Kunstmittel
zu verstärken, daß entweder die Dauer des Widerstandes dadurch auf
längere Zeit als es ohne Dazwischenkunft des Ingenieurs der Fall ge¬
wesen sein würde, gesichert, oder selbst ein Umschlagen der Gefechtsverhält¬
nisse d. b. der Uebergang der Vertheidigung zur Offensive und infolge dessen
letztlich der Sieg vorbereitet wird. Da nun ein Heer oder Corps, welches
es unternimmt, einem andern im Felde operirend entgegenzutreten, selbstredend,
wenn auch schwächer wie dieses letztere, dennoch in einem gewissen Verhält¬
niß der Stärke zu ihm stehen muß, was nicht allzu geringfügig sein darf, wenn
nicht die Hoffnung des operativen Widerstandes schwinden soll, so handelt es
sich für die Fcldbefestiguugskunst nur darum, der Vertheidigung in der von ihr
eingenommenen Position einen gewissen begrenzten Kraftzuwachs zu verschaffen,
zu dessen Herstellung die oben erwähnten Mittel eben ausreichend sind. Die
Bedingungen, zwischen denen sie sich zu bewegen hat, sind mithin die Position
oder das Terrain selbst, die' eignen Streitmittel und die feindlichen oder im
Besondern die Differenz der beiden letztern. Auf den kürzesten Ausdruck gebracht
heißt das: die Fcldbefcstigungskunst ermöglicht einen relativen Widerstand. Dem
gegenüber ist die Aufgabe der permanenten Fortification die Ermöglichung der
absoluten. Es wird schwer fallen, eine Position in jedweder Gegend deS Kriegs-
theaters zu finden, in der die Feldbefestigsungskunst eine Armee gegen mehr als
die doppelte Uebermacht sicher zu stellen vermag. Im äußersten Falle würde
der Feind, weil er ausreichende Streitkräfte zur Verfügung bat, sie mit einem
Theil derselben umgehen und der hartnäckigen Defensive ihre Verbindungen
nach rückwärts hin abschneiden, mithin sie, um mit General von Willisen zu
reden, in ihrer Bedürftigkeit oder Ernährungsfähigkcit angreifen. Ganz anders
der im permanenten Sinne fortisicirie Plast oder die Festung, denn ihre Werke
sollen stark genug sein, um dem directen Angriff einer beliebigen Uebermacht,
und möchte es die zehnfache sein, zu widerstehen und außerdem ist die Ver¬
pflegung der Besatzung nicht auf eine rückgelcgene Basis verwiesen, sondern der
Vertheidigungskreis schließt in diesem Falle die Mittel mit ein, deren sie zu
einem verlängerten Widerstand bedarf.
Diese Verschiedenheit der Aufgabe der FestungSbaukunst, im Gegensatze
Air Feldsortification. bedingt eine ihr entsprechende Differenz der Mittel; und da
bereits oben erwähnt worden ist. daß letztere in der Form einander gleichen, so
darf daraus gefolgert werden, daß die Mittel der permanenten Fortifieation
diejenigen der FeldbefestigungSknnst in Hinsicht auf ihre Intensivität und ihren
Umfang weit überbieten müssen.
Es fragt sich hiernächst, welche Vorstellung mit diesem größern Umfange
der Mittel und ihrer gesteigerten Jntensivität ;u verbinden ist. Gehen wir zu
dem Ende auf die sortificatorischen Elemente zurück. Dieselben sind für den
Festungsbau selbstverständlich keine andern, wie die im Felde verwendeten, näm¬
lich Hindernißmittel. Communicationen. Deckungsmittel und Feuerpositionen;
aber indem ihre Dimensionen eine Erweiterung erfahren, erfährt ihre Wirkungs-
fähigkeit eine Steigerung, welche sie im Vergleich mit denen der Feldbefestigungen
beinahe außer alle Proportion setzt.
Während, um hier zuerst von den Hindernißmitteln zu reden, der Graben
bei Feldfortifieationen selten daS oben erwähnte Minimum von zehn Fuß Tiefe
überschreitet, wird er vor permanenten Werken nicht selten über dreißig Fuß
ausgeschachtet, seine Böschungen bestehen nicht aus Erde, sondern sind mit starken
Futtermauern bekleidet, von denen die der Contreescarpe in der Regel nur durch
Minen, also aus nächster Nähe und die der Escarpe von der Crete der erster«
ans durch Brescheschießen zerstört werden kann. Letzteres ist seitens des An¬
greifers, wie dies später noch erörtert werden wird, bei dreißig Fuß hoher
Escarpc unerläßlich, weil eine derartige Hohe nicht mehr durch Leitern er¬
stiegen werden kann; denn machte man dieselben leicht, um sie schneller be¬
wegen zu können, so würden sie unter der Last der stürmenden, die nicht
einzeln hinaufsteigen können, sondern dicht auseinander solgen müßen,
brechen, — und gäbe man ihnen eine Stärke, um die Belastung aushalten zu
können, so würden sie nicht zu regieren sein. Daß ein nasser Graben unter
Umständen ein wirksameres Angriffshindcrniß als ein trockner sein wird und der
Festungsbau darum bemüht ist, sich die Mitwirkung dieses großen Hilfsmittels
zu sichern/ versteht sich von selbst. Dem Ideal eines vertheidigungsfähigen
Grabens wird aber durch einen solchen entsprochen, der vermöge eines Schleusen-
spicls je nach Belieben in einen nassen oder trocknen verwandelt werden kann,
denn die Angriffsart'eilen des Feindes, welche aus den Uebergang über die
trockene Grabensohle berechnet sind, wird man ersäufen und sein etwaiges
Brückenmaterial (Flosse) aufs Trockene setzen können.
Was die Eommunieationen anlangt, so hat die permanente Befestigung
außer den oberirdischen auch unterirdische. Brücken, die entweder zum Aufziehen
oder zum Drehen eingerichtet sind, spielen eine Hauptrolle; sodann Thore oder
Durchgänge durch den Wall in horizontaler Richtung und Poternen d. h. solche
in schräger von der innern Fußlinie des Walles auf die So!.le des Grabens
oder auf seinen Wasserspiegel. Sodann Treppen, Geschütz- und Fußrampen :c.
Wenn einerseits der Graben als mächtige Scheidelinie sich der gewaltsamen
Annäherung des Angreifers entgegenstellt, vermitteln diese zahlreichen Commu-
nicationen die Action der Besatzung nach außen und stellen es der Besatzung
anheim, auszufallen wann und wo sie will.
Im gleichen Verhältniß nehmen die Deckungsmittel hier größere Dimen¬
sionen an. Es gibt nicht mehr Mannschaften und Geschütz und zwar lediglich
gegen Horizontalfeuer, sondern auch Magazine aller Art, Lazarethe, Ar¬
tilleriewagenhäuser, Werkstätten, .gegen Schuß und Wurf zu decken. Daher
die Nothwendigkeit nicht nur eines Walles von doppelter und dreifacher Höhe,
wie die der Deckungen, deren sich die Feldbefestignng bedient, sondern auch
zahlreicher bombensicherer Räume. Die Geschütze sind nur zum Theil blos
durch die Brustwehr gedeckt; zum andern Theil stehen sie hinter Erdscharte»
und wo ihre Conservirung besonders geboten ist, wie auf den Flankeniinien,
in gewölbten Kasematten.
Wir haben demnach in der Festungsbaukuust zwischen zweierlei Feuerpositiönen
zu unterscheiden, uncingedeckten und eingevecktcn. Letztere befinden sich, weil
ihre Scharten zumeist in den Graben sehen, zugleich dem directen Schuß aus
weiterer Distance als die Crete der Contreesearpe entzogen; in Betreff der erstern
ist aber zu bemerken, daß die Höhe des Walles und die Nothwendigkeit, vieles
Geschütz, abgesehen von dem auf den Brücken, hinter Scharten.' aufzustellen,
eine mindestens zehn Schritt breite Anschüttung hinter der Brustwehr erheischt, die
man Wallgang nennt und welche um weitere acht Schritt (im Ganzen achtzehn
Schritt) verbreitert wird, wenn dieser Gang zugleich als Bewegungslinie für
die manövrirende Festungsartillerie dienen soll.
Daraus erhellt, daß in der permanenten Befestigung die Anschüttungen
mindestens den vergrößerten Dimensionen der Ausschachtungen proportional
sind. Im Unterschied von der Feldbefestigung bedient sich aber der Festungs-
bau als wesentliches Hauptbaumaterial außer der Erde des Steins, ins¬
besondere zur Herstellung der ungeheuern Revetements (Futtermauern) und der
bombensichern Räume, mögen es Geschütz-, Wohn-, oder Magazincasemaucn sein.
Was von andern Materialien zur Verwendung kommt, hat nur eine nebensäch¬
liche Bedeutung.
Soweit von den Elementen der permanenten Befestigungskunst. Die
Frage, welche sich hiernächst anschließt, ist die, in welcher Weise diese Elemente
combinirt werden, um daraus große fortificatorische Ganze, oder, wie ich es
oben ausdrückte, Werke zu schaffen. Ich bemerkte schon im Vorhergehenden,
daß auch der Festungsbau keine anderen Hauptformen als die der offenen und
geschlossenen Schanzen und unter diesen wiederum im Wesentlichen einerseits
nur Fleschen und Lünetten, andererseits nur Redouten und Sternschanzen
kenne. Indeß will diese Behauptung in einem bestimmten Sinne aufgefaßt
sein, um nicht mißverstanden zu werden.
Der Festungsbau bestrebt sich, im Unterschiede von der Feldsortiftcation,
stets, einen geschlossenen Kern zu schaffen, und zwar kann die Vertheidigung
denselben hier aus dem doppelten Grunde nicht entbehren, weil sie nicht
reich an mobilen Kräften ist, um Lücken, in welche der Angriff, einbrechen
möchte, mit diesen auszufüllen, und sodann, weil der Vertheidigungökreis
ihre Basis mit einschließt, oiese also unter allen Uniständen sicher gestellt sein
Muß, was offenbar nur durch eine feste, zusammenhängende Umschlußlinie ge¬
schehen kann.
Diese Umschlußlinie nennt man Enceinte, letztere, sammt dem eingeschlosse¬
nen Raum, heißt die Hauptfestung, der Festungskörper, corps alö pia^e. Wenn
es gestattet ist, zwischen den taktischen Massen einer zur Schlacht disponirten
Armee und den forlisccatorischen eines permanenten Platzes einen Vergleich zu
ziehen, so möchte ich diesen Festungökörper das Gros nennen. Die Avant¬
garde wird durch die vorgeschobenen Werke ober die detaschirten Forts reprä-
sentirt; endlich würde ein etwaiges Kernwerk oder Hauptrebuit, im Inneren des
Umschlusses, der Reserve entsprechen.
Die ältere Befestigung, als deren Meister wir Vanban anzusehen haben,
»ahn sowol von der Fortificirung VeS Vorterrainö, durch detaschirte Forts,
als auch von der Herstellung einer inneren Vertheidigung vermittelst eines
Reduitö Abstand, und machte die zweckgcmaße Anlage des Umschlusses zu ihrer
alleinigen Aufgabe. In dem ganzen Zeitraum, welcher mit der Einführung
der Artillerie beginnt lind mit der großen französischen Stacusumwälzung
schließt, wendet man zu diesem Behufe überwiegend nur eine Hauptmethobe
an d. h. man stellt Lünetten, welche man durch Zwischenlinien oder Conrlinen
untereinander verbindet, und die so verbunden den Namen Bastion bekommen,
in der oben beschriebenen Weise zusammen, daß je die linke oder rechte Flanke
der einen Lünette, die rechte ober linke Hauptseite (Face) der links oder rechts
liegenden Nebenlünette zu bestreichen oder zu flaukiren vermochte.
Um dieses Flankenfeuer für die Bestreichung des Grabens ausbeuten zu
können, ließ man die Contrescarpe nicht mit der Escarpc parallel laufen, son
dern man i?irigirte sie, nachdem die Grabenbreite vor dem von beiden Faceu
oder den Hauptlinien formirter Winkel bestimmt worden war, auf die gegen-
überliegenden Schulterpunkte d. h. auf die Spitzen der von Flanke und Face
gebildeten Winkel,
Den Theil der Enceinte, welcher zwischen zwei Bastivnsspitzen gelegen ist,
und mithin fünf Linien, nämlich eine Courtine nebst der linken Face und Flanke
des rcchtswärtigen und der rechten Face und Flanke der linkSwärligeu Bastion
umfaßt, nennt man eine Fronte, Eine bestimmte Enceinte umfaßt mithin stets
ebensoviele Fronten als sie Bastionen zählt. Die Thore oder etwaige Poternen
liegen da, wo sie am besten Vertheidige werden können, nämlich in der Mitte der
Courtinen, und um sie noch mehr zu decken legt man in den eingehenden
Winkel der Contreescarpe, (welche der Courtinenmittc, also dem Thor grade
gegenüber gelegen ist) eine mehr oder weniger geräumige Flasche an, welche
man Ravelin nennt.
Bei den älteren Meistern (Ingenieuren) sind die Raveline klein und decken
die Courtine von außen her nur zum Theil; bei den neueren dagegen wird
sie ganz gedeckt und der Navelingraben von den betreffenden Bastionsfacen
aus flaukirt. In der Regel liegt die Crete der Brustwehr des Ravelins um
einige Fuß tiefer als die der Courtine und der Bastiousfacen, damit letztere
Linien über das Ravelin hinwegfeuern können. Dieses Plus der Höhe dei>
rückliegenden Walles nennt man sein Commandement. Endlich werden im Ge¬
gensatz zu dem Navelin die Linien der Bastionen und die Courtinen mit dem
Namen deö Hauy twalles belegt.
Es bleibt mir letztlich noch übrig, des Glacis und des gedeckten Weges
zu erwähnen. Unter dem ersteren hat man eine nach außen hin sich ver-
laufende Erdanschüttung zu verstehen, die dazu dient, das Feuer von der
Höhe des Hauptwalleö und der Raveline rasant, d. l). mit dem Boden parallel
streichend zu machen. Der gedeckte Weg befindet sich zwischen dem Glacis
und der Contreescarpe, und wird, da feine Sohle sich nicht über die Crete der
letzteren erhebt, von ersterem in Art eines Walles gedeckt. Er umzieht den
ganzen Platz und ist seinem Zwecke nach eine äußere Position der Vertheidi¬
gung, jenseits des Grabens, von welcher aus der Ausfallkrieg betrieben wird,
der im gedeckten Weg seine eigentliche Basis hat. Ohne diese äußere Position
würden die für den Ausfall bestimmten Truppen sich nicht gedeckt (ungesehen)
zu sammeln vermögen; zurückgeworfen liefen sie aber Gefahr vom Feinde
die Contreescarpe hinabgestoßen zu werden. Der gedeckte Weg ist mit einem
aus vier Fuß unter der Glaciscrete gelegenen Bankett versehen, und dient
insofern als eine untere Fcneretage.
Gervinus Geschichte des 19. Jahrhunderts seit den wiener Verträgen
will die Zeit der Allgewalt der Machthaber und der Schlaffheit ihrer Beamten,
die Zeit der Congresse und Protokolle, der politischen Verfolgungen und der
Verschwörungen, der Hoffnungen und der Täuschungen seit -1813 darstellen.
Während der erste Abschnitt des ersten Theils die Herstellung der Bour-
bonen vom 30. März 1814 bis zum 2-i. September 1815 umfaßt, behandelt
der zweite Abschnitt den wiener Congreß, und führt uns in die Werkstatt ein,
wo der Plan zur Umgestaltung Deutschlands entworfen und die Grundsteine
zu dem Neubau gelegt wurden. Entscheidend wurde dabei die Stellung, welche
Preußen erhielt, welche einzuengen alte Rivalitäten und neuerwachter Neid
gleichmäßig beitrugen. Nußland beanspruchte ganz Polen. Von jeher hatte
es dieses Ziel erstrebt, um dadurch der civilisirten Welt näher zu rücken, um,
wie Pozzo ti Borgo sich ausdrückt, „seinen Talenten, seinen Leidenschaften
und Interessen, seinem Stolze und seiner Macht einen größeren Spielraum zu
eröffnen." Kaiser Alexander I. bot Oestreich nur etwa sechs Quadratmeilen
an; gegen Preußen hin begehrte er die Linie von Thorn auf Kalisch und
Krakau, mit diesen beiden wichtigen Endpunkten. Er sprach dasür Preußen
ganz Sachsen zu, bekanntlich damals eine Eroberung der Verbündeten. Nu߬
land hatte während der französischen Kriege gegen Persien und am schwarzen
Meere große Vortheile errungen. Es beherrschte durch den Besitz Bessarabiens
die Verbindung Oestreichs mit dem schwarzen Meere. Es drückte auf die nörd¬
lichen Vasallenstaaten der Pforte. Durch den Besitz Polens mußte es auf
hundert Stunden Nähe von Berlin und Wien vordringen. Die englischen
Staatsmänner widersetzten sich diesem Beginnen. Sie wollten Rußland auf
die Weichselgrenze beschränken. Sie wollten nicht, daß bei jeder Feindselig¬
keit desselben ganz Europa, wie bisher gegen Frankreich, so gegen Rußland
in Waffen treten müsse. Sie wollten nicht Preußen und Oestreich mit offenen
Grenzen diesem Nachbar aussetzen; denn sie sahen voraus, daß beide Staaten
dadurch von Rußland abhängig werden mußten. Oestreich wollte ebensowenig
Preußen im Besitz Sachsens, als Rußlands Vorrücken über die Weichsel.
Metternich empfahl Hardenberg dringend, Rußland auf angemessene Grenzen
zu beschränken. Castlereagh machte von Preußens Mitwirken gegen Nußland
die Erwerbung Sachsens durch diese Macht abhängig. Die preußischen Staats¬
männer, Hardenberg, Humboldt, Knesebeck pflichteten ihm vollkommen bei.
Selbst die russischen Staatsmänner, Nesselrode, Pozzo ti Borgo, Capodistria
und Stein erklärten sich gegen die Herstellung eines russischen Polens: es
werde für Rußland ein Quell neidischer Eifersucht, für Polen ein Anreiz
zur Unabhängigkeit, für die Nachbarn eine stete Bedrohung sein.
Hier trat nun die persönliche Politik der Herrscher von Nu߬
land und Preußen ein. Kaiser Alexander drohte, wenn man aus die Her¬
stellung von Russisch-Polen nicht einginge, mit Auflösung des Congresses. Als
der Herzog von Koburg gegen die Einziehung Sachsens protestirte, ließ ihm
Alerander bedeuten, er möge, wenn er so verkehrte Politik treiben wolle, die
russische Uniform ausziehen. Metternich nannte er einen „Schreiber" und
verbot seiner Umgebung, des Fürsten Haus zu besuchen. Er wollte den Polen
eine Nationalität wiedergeben, um einen Theil des an ihnen geübten Unrechts
zu sühnen, seinen Russen aber eine stattliche Vergrößerung bringen. Auf den
König von Preußen machte diese persönliche Politik Alexanders den größten
Eindruck. Er verbot seinen Ministern förmlich, mit England und Oestreich
weiter gemeinsam vorzugehen. Der König trat vollständig auf die Seite Ru߬
lands und suchte sein eignes Interesse, die Erwerbung Sachsens, auf einem
Wege, auf dem sie ihm entgehen sollte. Hardenberg, dessen Schwäche von jeher
versäumt halte, die Entschädigungen Preußens in den Verträgen mit Bestimmt¬
heit festzusetzen und welcher die Früchte des Sieges für Preußen verscherzte,
war zu eitel und charakterlos, um seine Entlassung zu fordern. Hätte er dies
gethan, so würde sich der König besonnen haben. „Aber diese Handlungs¬
weise der politischen Folgerichtigkeit wird nur in freien Staaten durch den
Zwang der Einrichtungen gefordert: in unumschränkten Herrschaften ist sie kaum
jemals durch persönliches Ehrgefühl und Charakterstärke eingegeben worden."
Unter diesen Umständen verkündete Fürst Repnin, der Sachsen bisher im
Namen der Verbündeten verwaltet hatte und dasselbe nunmehr an Preußen
übergab, am 7. November den sächsischen Behörden, daß das Land mit Preu¬
ßen verbunden werden würde, England und Oestreich hatten nur eine vor¬
läufige Ueberlassung zugestanden: Repnin war von ihnen zu seiner Erklärung
nicht ermächtigt. In Sachsen waren die Kaufleute, die Gewerbe, Leipzig, für
die Vereinigung mit Preußen; die Beamten dagegen; die Armee war gespal¬
ten, Adel und Landvolk gleichgültig. Die preußischen und deutschen Patrioten,
Niebuhr und Eichhorn an der Spitze, verlangten die Vereinigung als eine
Wohlthat für Deutschland; die Rheinbündler, die Baiern, die Particularisten,
die Fürsten und Höfe, vor allen die kleinen sächsischen Häuser, die ihr Erb¬
recht verlieren sollten, verwarfen sie. Vom Standpunkte des Rechtes hatte der
König von Sachsen sein Land verwirkt: er war der Bundesgenosse Napoleons,
seine Staaten waren von den Verbündeten erobert, er selbst kriegsgefangen.
Vom Standpunkte der Politik aus war es gerathen, Preußen mit dem großen
Kern seines Gebietes als ein Bollwerk gegen Rußland aufzustellen. Auch
sagten die Verträge Preußen ein abgerundetes und zusammenhängendes Ge¬
biet zu.
Im östreichischen Interesse dagegen lag es, durch einen Mittelstaat wie
Sachsen eine Schutzwehr gegen das rivalisirende Preußen zu haben; im euro¬
päischen Interesse konnte der Verzicht Preußens auf Sachsen ein wirksames
Mittel sein, den Verzicht Rußlands auf Warschau zu erreichen. Oestreich war
ebensosehr gegen das russische Polen, als gegen das preußische Sachsen.
Metternich suchte in schlauer Weise gegen das vereinigte Nußland und Preu¬
ßen eine Verbindung zwischen Oestreich, Baiern und Frankreich zu Stande zu
bringen. Er unterhandelte mit Nesselrode im Rücken des russischen Kaisers.
Er sagte Polen an Nußland zu, wenn letzteres die Vereinigung Sachsens mit
Preußen hintertreibe; er sagte Sachsen an Preußen zu, wenn dieses die Ver¬
bindung Polens mit Nußland hindere. Die östreichische Politik wollte Preu¬
ßen in zwei Theile gespalten nach dem Rheine zu wälzen, damit es weniger
auf Oestreich drücke. Endlich schlug sie im November -1814 die Theilung
Sachsens vor, in der Hoffnung, Preußen nachher durch die Unzufriedenheit
in dem abgetretenen Sachsen um seinen Antheil zu bringen. Dem mit dem
Theilungsplane unzufriedenen Herzog von Weimar sagte Kaiser Franz: „Nu,
nu, was bruddelns mit dem Kopf? Sie verstehen die Sache nicht; wenn c>as
Land getheilt wird, se> kommt es am ersten wieder zusammen."
Der charakterlose Hardenberg beschwor den östreichischen Minister: „Mittel
ausfindig zu machen, um Preußen zu retten, das unmöglich in einem Zu¬
stande beschämender Schwäche aus dem schrecklichen Kampfe hervorgehen könne!"
Gleichzeitig aber drohte er, Preußen müsse im Nothfalle „eher alles auf das
Spiel setzen." Metternich bot nun nur noch ein Fünftel von Sachsen mit
posenschen und rheinischen Entschädigungen. Hierauf schlössen Preußen und Ru߬
land sich enger zusammen: Großfürst Konstantin forderte die Polen auf, sich
„für ihre Existenz" zu waffnen. Metternich seinerseits schloß am 3. Januar 1813
mit England und Frankreich ein Kriegsbündniß gegen Nußland und Preußen.
Als so zwischen den verbündeten Mächten der Bruch drohte, war Talley-
rands Zeit gekommen. Schon im Anfang des Congresses hatte er die ge¬
heimen Artikel des pariser Friedens unwirksam zu machen gesucht, welche
Frankreich von den Berathungen über die Ländervertheilung ausschlossen. Jetzt
drängte er sich in den Spalt, den die sächsisch-polnische Frage unter den Mächten
verursacht hatte. Im December 1814 erhielt er mit Castlereaghs Hilfe Zu¬
tritt zu den Berathungen. Am 3. Januar 18-Is schloß er mit Oestreich und
England das Bündniß, das später durch den Zutritt Baierns, Hannovers, der
Niederlande und Sardiniens erweitert wurde.
Indessen war dieses Bündniß nur ein Vertheidigungsbündniß, während
es doch galt, die Gegner in einem thatsächlichen Besitz anzugreifen. Jeder
fürchtete den ersten Schlag: jeder fühlte seine Schwäche und scheute die mög¬
lichen Folgen. Man beeiferte sich, zu unterhandeln und Zugeständnisse zu
machen. Lord Castlereagh vermittelte. Alexander ließ Krakau als freie Stadt
fahren: er überließ den Tarnopoler Kreis an Oestreich und Thorn an Preußen,
um es sür Leipzig zu entschädigen. Hannover und Holland steuerten eine
Anzahl Seelen zu, um Preußen volle Bevölkerungsentschädigung im Westen
zu verschaffen, da es sich mit nur zwei Fünftheilen von Sachsen begnügen
mußte.
Preußen büßte seine unsichere Politik. Gegen jede der europäischen Gro߬
mächte kam es in eine nachtheilige Lage. Gegen Rußland lag es mit offenen
Grenzen, Russisch-Polen drängte sich wie ein Keil bis an die Prosna zwischen
Oestreich und Preußen. Im Süden war Sachsen ganz auf Seiten Oestreichs,
nicht minder Baiern. Im Westen konnte Preußen mit dem kleineren Theile
seines Grundgebiets eine Schranke gegen Frankreich nicht bilden. Seine end¬
lose, nicht zu behauptende Grenzlinie von Memel bis Saarbrücken war durch¬
schnitten dnrch das eifersüchtige Hannover, den Verbündeten Englands. Zu
Gunsten dieses Hannovers war die Verbindung mit der Nordsee aufgegeben,
Ostfries land aufgegeben. Die fränkischen Stammfürstenihümer waren an
Baiern überlassen. Dafür war am Rhein und in Westphalen eine Bevölke¬
rung eingetauscht, die durch religiöses Bekenntniß und französische Einrichtungen
sür den preußischen Staat schwer versöhnbare Elemente bot.
Bei dem Abschluß des zweiten pariser Friedens ging die Meinung aller
Verständigen dahin, die Nachbarstaaten Frankreichs durch eine neue Grenzlinie
dieses Staates sicher zu stellen und die Haupteroberungen Ludwigs XIV. zu-
rückzunehmen. Stein, Hardenberg, Gagern und Metternich erklärten im Haupt¬
quartier zu Heidelberg im Juni -1813, daß Elsaß, Lothringen und Französisch
Flandern von Frankreich abgelöst werden müßten. Nichts war billiger, als
daß man in der Juragrenze eine ähnliche Sicherung deS deutschen Westens
verlangt hätte, wie sie die Pyrenäen und Alpen Spanien und Italien ge¬
wahren. Stein forderte wenigstens, den Oberrhein und die Obermaaö durch
die Abreißung jener dreifachen Festungslinie sicher zu stellen, welche Frank¬
reich seine angreifende Stellung gegen Deutschland gibt. Englands Interesse
ging in diesem Punkte mit dem Interesse Oestreichs und Preußens zusammen.
Aber die deutschen Mächte hatten abermals versäumt, ihre Bedingungen vor
dem Kampfe zu stellen. Wellington, durch den überraschend schnellen Ausgang
des Krieges in den drei Junitagen die Lage beherrschend, wollte eine Besetzung
Frankreichs durch die Armee der Verbündeten, die er selbst zu befehligen hoffte,
keine Gebietöschmälerung Frankreichs, die diesen Staat zu einem neuen Kriege
gegen Deutschland stacheln werde. Er drang durch. England legte Frank¬
reich die Einstellung des Negerhandels auf und nahm für sich die ionischen
Inseln. Weitere territoriale Vortheile hatte es nicht" zu hoffen und gönnte
sie auch andern nicht.
Kaiser Alexander von Nußland brütete schon damals über dem Gedanken,
den christlichen Orient vom Joche der Türken zu befreien. Dazu bedürfte er
eines befreundeten und starken Frankreichs, um mit demselben England die
Wage zu halten, wie er Preußens gegen Oestreich sicher war. Dazu kam die
Besorgniß vor der äußern Vergrößerung und innern Erstarkung Deutschlands.
Der russische Minister Capodistria sagte zu Stein: Rußland habe ein Interesse
dabei, Frankreich stark zu lassen, damit nicht andre Mächte alle ihre Kräfte
frei hätten gegen Rußland. Auch die englischen Staatsmänner theilten
die Besorgniß vor der „Habsucht und Armuth" Oestreichs und Preußens.
Die deutschen Mächte waren uneinig. Gegen den Vorschlag Steins,
Elsaß und Lothringen als östreichische Secundogenitur an den Erzherzog Karl
zu geben, arbeitete Preußen. Gegen den Vorschlag, Elsaß an den Kron¬
prinzen von Würtemberg, Lothringen an Preußen zu geben, arbeitete Oestreich.
Metternich trat bald zu den Anträgen Englands und Rußlands über. Die
kleinen und mittlern deutschen Staaten verlangten einstimmig Sicherung ihrer
Grenze gegen Frankreich. Sie wurden abgewiesen. Hardenberg arbeitete mit
an dieser Abweisung. Er versäumte, die Niederlande, Hannover, Baiern und
Würtemberg mit Preußen zu versöhnen, Preußen an die Spitze dieser Staaten
zu stellen. Preußen blieb isolirt. Es blieb ohne die Stütze der kleinen Höhe:
es stand ohne Uebereinstimmung gegen England, Rußland und Frankreich.
Diese Jsolirung ließ alle seine Forderungen scheitern. Hardenberg ließ eS
zwar an großwortigen Forderungen nicht fehlen, so daß die englischen Staats-
männer glaubten, die Sache könne nicht ohne einen Krieg mit Preußen endigen.
Sie endigte aber damit, daß Hardenberg auch seine letzten Forderungen auf¬
gab. Dennoch behielt er sein Ministerium. In Deutschland pflegte man da¬
mals wie jetzt „den Minister anzusehen wie einen Soldaten, der, ob Vor¬
wärts oder Halt befehligt wird, in allen Fällen zu gehorchen hat."
Frankreich trat weiter nichts ab, als die meisten der fremden Gebiete, die
eS 1816- zu seinem frühern Umfang erhalten hatte.
Ebenso ungenügend war das Ergebniß der langen Verhandlungen über
die innere Einrichtung Deutschlands als Gesammtstaat. Schon -1807 hatte
man einsehen gelernt, daß die Unabhängigkeit Deutschlands nach außen eine
Hauptbedingung für die Ruhe Europas, baß für die deutschen Staaten im
Innern ein gewisses Maß ständischer Freiheit nothwendig sei. -18-13 durfte
man auf Einführung freier Bundesverfassungen und einer festen bundesstaat¬
lichen Gestaltung Deutschlands hoffen. Gleich im Anfang des wiener Con-
gresses bildeten auf Steins Betrieb die fünf königlichen Cabinetc Deutschlands
mit Ausschluß Sachsens für die Regelung der deutschen Frage einen besondern
Ausschuß, damir Deutschland, wie der Aufruf von Kalisch besagt, sich seine
Verfassung selbst gebe aus dem „ureigner Geiste" seines Volkes. Stein
hoffte dadurch die Einmischung Rußlands auszuschließen. Die Undeutschheit
der deutschen Fürsten und Minister aber nöthigte ihn, dieselbe immer aufs neue
anzurufen. Es war dies um so bedauerlicher, als Nußland schon im Kalischer
Ausruf als „Erretter Deutschlands", als „Beschützer der deutschen Verfassung"
aufgetreten war. Bevor aber noch dieser russische Einfluß zur Geltung kam,
scheiterte das deutsche Verfassungöwerk an dem hinterhältigen Benehmen Oest¬
reichs, an der Eisersucht der beiden deutschen Großmächte, an der gesonderten
Stellung des zu England gehörigen Hannovers und an den Anmaßungen
der Nheinbundsürsten.
Von einer möglichst einheitlichen Verfassung kam mau zuerst zu einer
zweiherrschaftlichen, dann zu einer sünfherrschaftlichen, weiter zu einer vielheit¬
lichen mit einheitlicher Spitze, endlich zu dem vielheitlichen Staatenbunde ohne
einheitlichen Schlußstein.
Stein war für die deutsche Staatseinheit. Er empfand mit Grimm, daß
Deutschland, welches an zwei Meeren, an den mächtigsten Flüssen, im Mittel¬
punkte Europas liegt, machtlos ist, weil es nicht eine Nation und einen
Staat bildet. Er hatte erfahren, daß das Leben in kleinen Staaten den Blick
verengt, den Charakter lahmt, kleinlich und spießbürgerlich macht, daß einem
getheilten Volke ohne große allgemeine Interessen jeder Gemeingeist, jede große
Triebfeder zu Ruhm und Thaten abgeht. Er war entrüstet über die Gewalt¬
thätigkeiten und den Landesverrat!) der rheinbündischen Fürsten und wollte
-1813 das Recht der Eroberung gegen sie in vollem Maße zur Anwendung
gebracht wissen. Er wollte die deutschen Fürsten mit Einschluß Baierns beim
Einrücken der russischen Heere in Deutschland suspendirt und über die besetzten
Länder eine Centralverwaltung eingesetzt haben. Aus ihrer mißbrauchten
Stellung als „erbliche Präfecten" sollten diese Fürsten in die „achtbare
Stellung eines großen ständischen Rathes der ganzen Nation" zusammentreten.
Er predigte dem Grafen Münster die „Einheit als sein Evangelium", damit
Deutschland zwischen Nußland und Frankreich stark und machtvoll sei. Gleichviel
ob Oestreich oder Preußen zum Herrn von Deutschland gemacht werde: jedes von
beiden sei gut, wenn es ausführbar sei. Aber keins von beiden war aus¬
führbar. Die deutschen Staaten wollten sich nicht unterwersen: es war in
Teplitz beschlossen worden, ihre Unabhängigkeit zu erhalten. Gegen Steins
Plan wäre ganz Europa aufgestanden zu einem neuen dreißigjährigen Kriege.
Stein griff nun nach einem „Auskunftsmittel und einem Uebergang":
er faßte den Plan einer Theilung Deutschlands zwischen Oestreich und Preußen.
Aber sowol Hannover als Baiern waren zu mächtig, als daß man sie ein¬
ziehen konnte und Metternich erklärte im October 1814, sein Kaiser wolle
Deutschland nicht in Nord und Süd getheilt, sondern den Bund in vollkom¬
mener Einheit. Metternich wollte diesen Bund thatsächlich allein teilen. In¬
zwischen war in Chaumont festgesetzt worden, Deutschland solle eine Bundes¬
verfassung erhalten. Stein einigte sich nun mit Hardenberg über einen drei-
theiligen Bund. Oestreich sollte in denselben nur mit seinen vordersten
deutschen Landen, selbst ohne das Erzherzogthum; Preußen nur mit seinem
Gebiet diesseits der Elbe eintrete». Beide Mächte sollten aber mit dem deut¬
schen Bunde ein unauflösliches Bündniß schließen und dessen Unverletzlichkeit
und Verfassung gewährleisten. Es sollte ein strenger Bundesstaat mit Ver¬
tretung, mit Gewähr der Landesverfassung, mit freisinnigen Grundrechten ge-
Ichaffen werden, ein Bunveöstaat, dem die eingetretenen Theile der Großstaaten
unbedingt eingefügt waren. Oestreich sollte im Bunde den Vorsitz, Preußen
das Direktorium, die Geschästsleitung erhalten. Aber Metternich wollte nicht
den dualistisch getheilten Vorsitz, die Gleichstellung Oestreichs und Preußens.
Er wollte ferner mit allen ehemals deutschen Staaten Oestreichs in den Bund
treten. Im Fünferausschuß, wo der Plan vorgelegt wurde, erklärten sich
Würtemberg und Bayern gegen jede Bunbesbestimmuugl, welche den Einzel¬
staaten irgendeine innere Beschränkung auflegte. Der Konig von Würtemberg
erklärte, die wiener Verhandlungen dürften keinerlei Einfluß auf das Verhältniß
zwischen Fürst und Unterthan haben, keine Schmälerung oder Einschränkung
seiner vertragsmäßig anerkannten Souveränetätsrechte bezwecken. Er dachte
sich den Bund als eine Allianz nach außen, vie mit dem Innern der Staaten
nichts zu thun habe. Die Bestimmung eines Minimums landständischer Rechte,
die Einrichtung eines beständigen Bundesgerichts bestritten Würtemberg sowol
wie Baiern als Eingriffe in ihre fürstlichen Rechte. Beide erklärten sich mit
unpatriotischer Offenheit gegen die Absicht, „aus verschiedenen Völkerschaften
wie Preußen und Baiern sozusagen eine Nation schaffen zu wollen." Baiern
verlangte sogar das Recht, mit innern und auswärtigen Machten Bündnisse
zu schließen in Hinsicht auf Kriege, an welchen der Bund keinen Theil nehme.
Baiern und Württemberg wollten ein blos völkerrechtliches Bündniß, einen
Fürstenbund, nur zur Sicherung gegen außen, ohne allen Einfluß auf das
Innere, bis auf die militärischen Einrichtungen, und statt der Zweihcrrschaft
Oestreichs und Preußens verlangten sie eine Fünfherrschaft der königlichen
Häuser, eine Herrschaft der Mittelmächte auf Kosten der Kraft und Einheit
Deutschlands.
Dem widersetzten sich anfangs Preußen, Oestreich und Hannover. Preußen
verlangte einen wahren Bundesstaat und für die Einzelstaaten verfassungsmäßige
Rechte. Auch Oestreich sprach sich für die Festsetzung bestimmter Unterthanen¬
rechte aus. Der Minister Hannovers, Graf Münster, erklärte, „ein Reprä¬
sentativsystem sei in Deutschland herkömmlich und rechtlich, in dem Begriff der
Souveränetät liege nicht der Begriff der Despotie. Der König von Groß-
britanien sei offenbar so souverän wie jeder andere Fürst, die Freiheiten seines
Volkes aber befestigten seinen Thron statt ihn zu untergraben: nur mit liberalen
Grundsätzen könne man Ruhe und Zufriedenheit herstellen." Aber keiner der
drei Staaten hielt bei diesen Grundsätzen fest. Stein rief die Intervention
Rußlands an und erlangte die Billigung seines Planes durch Nesselrode.
Zugleich trieb er die kleinen deutschen Höfe zu Erklärungen gegen Württemberg
und Baiern. Am -IK. November 18-14 verlangten die Vertreter von 29 Staaten
und Städten die Theilnahme an den deutschen Berathungen. Sie erklärten
sich bereit, ihre Souveränetät zu beschränken und ein Minimum ständischer
Rechte zu gewähren. Sie beantragten zugleich die Herstellung der Kaiser¬
würde. An demselben Tage trat Würtemberg trotzig aus dem Fünferausschuß.
Aber die sächsisch-polnischen Zerwürfnisse störten damals den Fortgang der
deutschen Sache. Der Ausschuß trat Monate lang nicht zusammen und die
Zwischenzeit gab Baiern und Würtemberg gewonnenes Spiel.
Am 2. Februar 18-15 drangen 32 kleine Staaten auf Wiedereröffnung
des deutschen Congresses mit Zuziehung aller Beiheiligten. Stein, bis dahin der
heftigste Gegner der kleinen Staaten und Fürsten, stellte sich von Preußen weg auf
ihre Seite und förderte ihre Pläne, die wesentlich auf die Begründung eines Bun¬
desstaates mit kaiserlichem Haupte gingen. Oestreich war nicht dawider, es wollte
aber die Kaiserwürde, die es wieder annehmen sollte, mit mächtigen Mitteln
ausgestattet. Aber Preußen, Baiern und Hannover waren gegen daS Kaiser-
thum. Stein steckte sich wieder hinter den Kaiser Alexander und veranlaßte
eine Denkschrift des russischen Ministers Capodistria, in welcher nachgewiesen
wurde, daß die Ruhe Europas und die Macht Deutschlands nur durch eine
starke Bundesverfassung mit kaiserlichem Haupte gesichert werden könne und
in welcher durch die Beziehungen Rußlands zu Preußen auch für den russi¬
schen Einfluß auf Deutschland gesorgt war. Aber Preußen erklärte es für
eine Unmöglichkeit, daß zwei Staaten von selbstständiger Macht eine .der
anderen in einem wirklichen Bundesstaat sich unterordnen könne. Der preu¬
ßische Münster Humboldt sagte in seiner Gegenschrift, daß Preußen einer
wirklichen kaiserlichen Gewalt sich nicht unterwerfen könne. Vom deutschen
Gesichtspunkte aber entwickelte er, daß Oestreich die deutschen Interessen immer
seinen eignen opfern, die deutsche Krone nur dazu benutzen würde, um seine
östreichische Macht zu stützen. Ohne die Kriegsmacht des Reiches werde der
Kaiser schwach wie immer, mit ihr aber Herr in Deutschland sein. Das Ver¬
hältniß eines Bundes mit beschließender Mehrzahl ohne einheitliches Haupt
sei das allem mögliche. Diese Gründe waren unverwerflich. Ein Mittel zu
einem einheitlichen Deutschland mit Kaiserthum war, Oestreich ganz aus dem
Bunde zu lassen. Dieses Mittel wurde vor dem westphälischen Frieden von
Hippolytus a lapide vorgeschlagen: es wurde von den Männern er¬
griffen, die von Täuschungen sich frei erhielten. Ein großes Mittel war die
Vertretung der deutschen Nation am Bunde, denn auf einem Bundestage,
wo blos, die Fürsten vertreten waren, war die Bürgschaft der Landesverfassun¬
gen grade denen anvertraut, die ein Interesse hatten, sie zu untergraben.
Beide Mittel wurden von Stein nicht ergriffen. Er war ein Mann der Ver¬
waltung: die constitutive, ordnende Gabe hat ihm Wilhelm v. Humboldt mit
Grund abgesprochen. Aber auch Humboldts Entwürfe, in denen er sich mit
Hardenberg einigte, enthielten keine Vertretung am Bunde und machten in
Bezug auf das Recht der Bündnisse bedenkliche Zugeständnisse. Sie hielten
jedoch drei Punkte fest: eine kräftige Staatsgewalt, landständische, gewährlei¬
stete Verfassungen und ein Bundesgericht. Aber auch diese Punkte wurden
mit stumpfer Widerstandslosigkeit,von Hardenberg preisgegeben. ,
Ganz anders handelte Metternich im Interesse Oestreichs. Er wollte,
daß Deutschland ein möglichst lockerer Staatenbund werde, dessen Glieder dem
Einflüsse Oestreichs, des mächtigsten Gliedes, unterworfen seien.. Schon 1813
war Metternich gegen jede eigentliche Bundesverfassung, nur für ein ausge¬
dehntes System von Verträgen und Bündnissen zwischen den deutschen Für¬
sten zum Schutz gegen außen und untereinander, ohne Rücksichtnahme auf
die Ding.e der innern Verwaltung. Im December 18-Il brachte ferner der
östreichische Minister Wessenberg einen staatenbündischen Entwurf ein ohne
allgemeine deutsche Bürgerrechte, mit landständischen Rechten, die in den ein¬
zelnen Staaten nach Herkommen und Landesart bemessen würden : die Bundes¬
glieder sollten gleiche politische Rechte und theils einzelne, theils collective
Stimmen im Bundesrathe führen. Aus diesem und dem flauesten preußischen
Entwürfe wurde Anfang Mai 1816 mit Hannover und Preußen ein dritter
Entwurf vereinbart und in elf übereilten Sitzungen vom 23. Mai bis 10. Juni
die deutsche Verfassung zu Ende gebracht. Der letzte Nest von Bestimmungen,
welche die Rechte der Unterthanen sicherten, schwand. Es hieß, „es werde
eine landständische Verfassung statthaben und in der französischen Uebersetzung
der Bundesacte mußte der Ausdruck „LousMnUon rspresöntaUve" dem Aus¬
druck ,,^Sö<zind1k«z ä'vlats" weichen. Ein Bundesgericht wurde nicht eingeführt,
ein Minimum ständischer Rechte nicht festgestellt. Das Princip der Unbeweg-
lichkeir, vor allem Oestreichs Ziel, wurde dadurch sanctionirt, daß über orga¬
nische Bnndeseinrichtungen und Abänderung der Bundesgesetze nur in dem
Plenum des Bundestages mit Sümmeneinhelligkeit entschieden werden konnte.
Selbst dann machten die Staatsregienmgen die Giltigkeit der Bundesgesetze
von ihrer Verständigung, von der Uebereinstimmung mit den Landesgesetzen
abhängig. Es blieben ferner unter den Bundesgliedern die Großmächte
Oestreich, Preußen und England-Hannover und zwei Mittelmächte Holland
und Dänemark, die einen Theil und meist den bei weitem größeren Theil
ihrer Staaten außerhalb des Bundes hatten. Die großen Machte konnten
nicht gehindert werden, ihre deutschen Kräfte in undeutschen Interessen,
Oestreich in Italien, England-Hannover in Portugal zu vergeuden. Selbst
den ganz deutschen Staaten wurden Bündnisse mit fremden Mächten gestattet,
nur daß sie nicht gegen Bund und Bundesglieder gerichtet sein sollten: mit
Fremden durften demnach Deutsche gegen andere Fremde und gegen andere mit
diesen letzteren verbundene Deutsche Krieg führen. Durch seine innere und äußere
Einrichtung war der Bund zu gänzlicher^politischer Unthätigkeit und Unbeweglich-
keit gezwungen. Es war ein monarchischer Bund ohne monarchisches Haupt,
ohne ständische Vertretung im Innern, ohne diplomatische Vertretung nach
außen. Er hinderte nicht, daß der Zusammenhang der deutschen Höfe inniger
war mit Se. Petersburg als mit Frankfurt. Er mußte seine Schicksale von
äußerer Politik oder von der Politik der Mächtigen in seiner Mitte leiten
lassen. Das aber war grade Metternichs Absicht gewesen. Er gab dem Bunde
den Beruf, „in dem Centrum Europas eine große defensive Vereinigung zur
Erhaltung der Ruhe des Welttheils zu bilden", er legte ihm die Rolle eines
regierungslosen neutralen Staates auf. Die Bundesacte, Deutschlands Ver-
fassungsurkunde, ließ er in die allgemeine wiener Congreßacte einrücken, er
stellte sie unter die Einsprache der fremden Mächte.
Stein und ähnlich gesinnte Vaterlandsfreunde erklärten den zwanzigjähri¬
gen Kampf der Deutschen mit einem „Possenspiele" beendigt, die Bundesacte,
welche einen Schritt zur Einheit thun sollte, schien ihnen vielmehr die Auf¬
lockerung des deutschen Verbandes zu fördern.
Nachdem wir im vorigen Briefe von den für das recitirende Schauspiel
bestimmten Bühnen gesprochen, wenden wir uns zu den sogenannten lyrischen
Theatern, die sich der vorzüglichen Gunst der Regierung erfreuen und als kos¬
mopolitische Institute sich besonders der Aufmerksamkeit des Fremden empfehlen.
Es gibt deren bekanntlich vier: die große Oper, die komische Oper, das
lyrische Theater und die italienische Oper. Die große Oper, die sogenannte
Acadezmie impvriale, ist seit Verons Austritt aus der Direction in fortwährend
zunehmendem Verfall. Die Zeit der Nourrit, Duprez, Levasseur, Falcon, Da-
moreau, Stolz u. s. w. ist vorüber — Ander hat seit der Stummen, Halevy
seit der Jüdin für diese Bühne kein erfolgreiches Werk mehr schreiben können.
Rossini wird gewöhnlich Doubluren zur Verarbeitung gegeben, da die besten
Sänger und Sängerinnen von Meyerbeer in Anspruch genommen werden.
Meyerbeer aber und das Ballet sind es vorzüglich, welche diese Anstalt vor gänz¬
lichem Ruin retten, was beides ein Beweis ist, daß die Franzosen die Musik nicht
lieben. Der Prophet ist noch immer das einzige Kassenstück der großen Oper
und in dem Augenblicke wo wir schreiben wird mit Verdis sicilianischer Ves¬
per ein neuer Versuch gemacht, der, wenn nach dem nicht immer unbefangenen
Spectakel, den eine erste Vorstellung macht, geurtheilt werden kann, ein glück¬
licher sein soll. Verdi ist der italienische Meyerbeer — beide machen mehr
Lärm als Spectakel, aber ersterer hat den Vorzug natürlicher Inspiration, er
macht Lärm von sich heraus, wahrend der erlauchte Giacomo Meyerbeer seinen
unmusikalischen Spectakel ängstlich in sich hinein trägt, wie ein Wucherer
Groschen auf Groschen anhäuft, bis eine hübsche Summe zusammenkommt.
Von den Darstellenden ist eben auch nicht viel Gutes zu sagen — Die Cru-
velli paßt vollkommen zum Repertorium der gegenwärtigen Oper. Von Natur
reich begabt sucht sie ihren Erfolg durch unkünstlerische, unmusikalische Hilfs¬
mittelchen und gefällt zwar durch ihren unnatürlichen Pathos sowol der Menge
als Herrn Meyerbeer, aber großen Kunstgenuß darf man sich nicht von ihr
versprechen. Das Theater des kaiserlichen Haushalts steht sozusagen blos
aus den Beinen des Ballets, auf den dicken der sonst flinken und feurigen
Beretta, auf den plastischen der schönen Cerrito (aus Urlaub) und auf den
beredten der Nocati, die seit der Elster die erste Tänzerin ist, welche mit Geist
und Empfindung tanzt. In der Oper wäre also ein Ballet anzusehen, und
Verdis stcilianische Vesper, wo nicht als musikalisches Ereignis?, so doch als
nsuts uouvkÄUtk pku'iswnne, um die Decorationen und die glänzende Aus¬
stattung der ersten musikalischen Bühne Frankreichs zu bewundern. Wer zu
Meyerbeers Verehrern cniancl meine gehört, der mag die dicke Alboni anhören,
welche durch ihre Gleichgiltigkeit, mit der sie diese hyperleidenschaftliche Rolle
singt, dem Beherrscher der europäischen Opernbühne eben kein Compliment macht.
Die italienische Oper ist womöglich noch mehr herunter, als die fran¬
zösische; sie ist das Reich der heiseren Gespenster und eines bis zum Ueber-
druß herabgedndelten Repcrtoriums. Diese Oper hat übrigens den guten Ge^
Schmack, jetzt durch ihre Abwesenheit zu glänzen und dem melodischen, herzergreifen¬
den Gesänge der herrlichen Schauspielerin Ristori ihre Räume geöffnet
zu haben. Die englische Schauspielergesellschaft wird mit der italienischen ab¬
wechseln und wir wiederholen unsren bereits ausgesprochenen Wunsch, eine
deutsche Gesellschaft als siegreiche dritte im Bunde zu sehen. Hat denn unser
Devrient sobald den Muth verloren und hat er sein uns in London ge¬
gebenes Versprechen, den glücklichen ersten Versuch öfters zu erneuern, ver¬
gessen?
Die komische Oper hat seit der Februarrevolution, indem sie in die Hände
des ebenso geschickten, als glücklichen Perrin überging, einen Aufschwung ge¬
nommen, wie sie ihn zur Zeit hatte, als Gretry, Monsigny, Dalciyrac, Mehul,
Cherubim und Boieldieu am musikalischen Horizont Frankreichs leuchteten.
Sie verdankt ihr Glück zum Theil auch der Wiederaufnahme einiger Meister¬
stücke dieser Tondichter. Das Feld der komischen Oper ist aber auch in neuester
Zeit als vorzüglich französisches von bedeutenden Talenten mit Erfolg bebaut
worden. Der greise Ander hat in diesen Tagen noch das Repertorium durch
seine vorzügliche Oper Jenny Bell bereichert und Adam Thomas, Ueber,
Masse, Grisar eisern dem Altmeister der komischen Oper nicht immer mit gleichem
Erfolge,, aber doch meist mit einigem nach. Die Kräfte der komischen Oper >
stehen in angenehmer Uebereinstimmung mit dem amüsanten Repertorium.
Man kann auch mit Zuversicht auf einen heiter verbrachten Abend in diesem
Theater rechnen, wenn nur nicht grade der Nordstern von Meyerbeer gegeben
wird. Es ist unbegreiflich, daß Perrin diese Oper nicht lieber nach dem
Theater lyrique verlegt hat, denn bei der Vogue, die sich dieser Compositeur
bei der Masse unstreitig erfreut, was wir Kritiker vom Standpunkte der Kunst
auch immer gegen ihn sagen mögen, würde die neueste Oper Meyerbeers auch
auf diesem Theater seinen Spectakel- und Decorationssucceß gefunden haben
und das Publicum nicht um einige Grvtry-, Monsigny-, Boieldieu- und Auber-
abende gebracht werden.
Das Theater lyrique bedürfte aber eines solchen Kassenstückes, da es trotz
der augenblicklichen Fülle durch Halevys Jaguarita und trotz der Berühmtheit,
die man der allerdings gefälligen Cabet a lui^e 6<z re-elams zu verschaffen
wußte, im Argen liegt. Ein Schicksal, das Perrin durch die unwürdige Ver¬
arbeitung unsres armen Freischütz wol verdient hat.
— Man macht sich auswärts schwerlich eine
klare Vorstellung von den enormen Schwierigkeiten, welche es hat, aus dem Wust und
Wirrwarr hiesiger Tagcsgcrüchte das, Wahre von dem Falschen zu sondern und
mitten aus dem Kreise der Erdichtungen die Thatsachen herauszuheben. Am gestrigen
Tage hatte dieses Treiben seinen Hühenpunkt erreicht. Nicht als ob sich vielfache
Gelegenheit gesunden hätte, Nachrichten ans der Krim zu bekommen: im Gegen¬
theil war nur der englische Steamer Miranda (die Miranda kam erst gestern, vor¬
gestern kamen Descartes und Mogador) am Abend zuvor aus Kamiesch hier ein-
Passirt, aber man wußte im voraus, daß am 18. ein Kampf von größeren Dimen¬
sionen vorgefallen sei und die Neuigkeitenverfertiger benutzten die Gelegenheit, um
ihre Worte an den Mann zu bringen. Schon am 18. Abends selbst lief das Ge¬
rücht um und wurde seltsamerweise von vielen für wahr gehalten, daß die verbündete
Dampfflotte in den äußeren Hafen von Sebastopol eingelaufen sei; man war sich nicht
bewußt, wie ein solches Eindringen in Anbetracht der russischen unterseeischen Sperrung
habe bewirkt werden können, aber man nahm dessenungeachtet die Nachricht als ein
Factum. Dasselbe erhielt sich den ganzen nächsten Tag im Ansehen und wurde
erst durch die von dem obenerwähnten Schiff Miranda überbrachten positiven Berichte
desavouirt. Es ist überraschend, daß Franzosen hier am vergangenen Dienstag die
Wegnahme des Malakowthurms als eine Thatsache ansahen. In derselben Weise
wollte man noch gestern wissen, General Bosquet habe 2—3000 Russen zu Ge¬
fangenen gemacht. Dem gegenüber treten nun heute die Mittheilungen, welche
beide hier erscheinende Zeitungen bringen. Darnach begann der Kampf am 18. früh
Morgens um vier Uhr. Die Russen machten zu derselbe» Zeit einen Ausfall aus
ihren Linien, wo die Verbündeten hinter dem Mamelon und aus deu ihm vor-
gelegencu Batterien hervorbrachen. Im raschen, heftigen Aufeinanderstoßen wurden
die Russen geworfen. Den nächsten Moment scheinen die Franzosen genützt zu
haben, um den Malakowthnrm zu bestürmen. Man bediente sich dazu der langen
Leitern, die von den in Balaklava stehenden Engländern im vergangenen Winter
angefertigt worden waren. Leider erwiesen sie sich als zu kurz und wurden damit
der Anlaß zum Mißlingen des Erstcigungsversuchs. Inzwischen hatten, wenn ich
recht unterrichtet bin, mehre Colonnen Engländer die Batterien des Redan erreicht,
waren darin eingedrungen und hatten die russische» Kanoniere neben ihren Ge¬
schützen mit dem Bajonett niedergestoßen. Eine Masse von dreitausend Mann briti¬
scher Infanterie draug zugleich mit Ungestüm in das Innere der Schiffer- und
Tartarcnstadt ein und hatte hier das Glück, sich des Arsenals, welches man, wenn
ich nicht irre, als ein großes Neduit der russischen Südostbcfestigungcu ansehen kaun,
zu bemächtigen. Die Nachrichten, welche die Miranda mitbrachte, reichen nicht weit
über diesen Zeitpunkt hinaus. Bei ihrem Abgang standen die Dinge so, daß das
Arsenal noch im Besitz der Alliirten war. General Pelissicr wollte augenscheinlich diesen
Puukt, koste es was eS wolle, halten und disponirte soeben Rescrvcmassen indie be¬
D. R.)
Die kleine Gasse, welche sich an der Mauer von Galata zwischen diesem Stadt¬
theil und dem Meere hinzieht, bot gestern einen seltsam belebten Anblick dar. Vor
den Gebäuden, die jetzt der Admiralitätscommission eingeräumt sind, lagerten mehre
hundert, auch in dem hier sich tummelnden Gewühl der verschiedenartigsten
Nationen sich ziemlich fremdartig ausnehmende Gestalten. Man hatte in den
Gruppen, welche sie ausmachten, die mannigfaltigsten Sprachen, zum Theil neben
Spanisch und Russisch auch Deutsch. Die Leute, welche auf Kasten und Küsten saßen,
waren Juden aus Kertsch. Als die Verbündeten diesen Platz zu räumen beschlossen,
nahmen sie denjenigen Theil der Bevölkerung an Bord, welcher darnach den Wunsch
ausgesprochen und die Rückkunft der Russen fürchtete. Die darum Petitiouireuden
waren, wie sich denken läßt, keine Russen, sondern Ausländer, welche der Handel
aus den Platz geführt hatte. Anfangs scheint man seltsamer und unerklärlicherweise
die Absicht gehabt zu haben, diese Auswandrer aus der Krim selbst und zwar bei
Jolta ans Land zu setzen, bis man sich bestimmen ließ, sie hierher zu bringen.
Man weiß selbstredend noch nicht, was ans ihnen werden wird. Vor der Hand
scheint die englische Hafendirection ihre Verpflegung übernommen zu haben.
Wie Sie aus den Zeitungen erfahren haben werden, wurde mir Kertsch von
den Verbündeten wieder aufgegeben und darnach verbrannt. Jenikale dagegen
blieb von einer combinirten Diviston, bestehend aus 3000 Maun Türken, zwei
französischen und einem englischen Infanterieregiment besetzt. Aus Araya will man
hier wissen, dieser Platz sei von den Russen aufs neue besetzt worden. Mir scheint
die Nachricht alleu Zweifel zu verdienen.
Seit etwa acht Tagen haben wir hier viel von der Hitze zu leiden, die nur
dann und wann von einem sanften Nordwind abgekühlt wird. Auch des Nachts
erhält sich das Thermometer ans 20" Reaumur. Mir fällt dabei ein, daß ich
neulich in dem Lehrbuch der Physik von Müller und zwar in der darin mitgetheilten
Mahlmannschen Tabelle über mittlere Temperatur verschiedener Orte in Betreff
Konstantinopels mehre Angaben sand, die mir mit der Wahrheit, oder richtiger zu
sagen mit meinen eignen Beobachtungen dermaßen in Widerspruch zu stehen scheine»,
daß ich mich veranlaßt sehe, darauf aufmerksam zu machen. Die mittlere Wärme
der drei Wintermonate gibt Mahlmann auf -s- i,8 C. (der hunderttheiligen
Skala) an. Es ist ziemlich sicher, daß sie doppelt so hoch zu stehen kommt; des¬
gleichen ist die mittlere Temperatur der drei Frühjahrsmonate mit 11,0 C.
wol zu gering veranschlagt.'
Ungeachtet die eigentliche oder alte Societe von Pera zur Zeit auf dem Lande,
zumeist in ihren Villen und Landhäusern am Bosporus weilt, herrscht dennoch in
der Stadt ein lautes und reges Leben. Alle Gasthöfe sind dicht besetzt, am meisten
das Hotel de l'Angleterre in der großen Pcrastraße, welches sein älteres Local
mit dem frühern der preußischen Gesandtschaft vertauscht hat und nunmehr die Re¬
sidenz der hier durchreisenden oder ansässig werdenden englischen Gesellschaft ist.
Im Gegensatz zu den Engländern haben die Franzosen ihren geselligen Mittel¬
punkt, wo die ho Herr Offiziere absteigen und speisen, im Hotel de l'Europe, neben
dem erstgenannten der zweitbeste nnter den hiesigen Gastlwfen. Man kann
interessante vergleichende Studien über den Charakter der beiden Nationen anstellen,
wenn man nacheinander den einen und andern Ort besucht.
Zum Schluß noch eine Anfrage: Hat man in Deutschland schon vom „Seelen¬
schreiben" (Psychographie) gehört? Lassen Sie sich über diesen Punkt Nachstehendes
erzählen. Derjenige, welcher die Seele will schreiben lassen, thut irgendeine Frage,
ans welche sein Verstand um eine Antwort verlegen ist; er nimmt die Feder in die
Hand und legt sie auf das Papier, in der Stellung wie zum Schreiben. Nach
zwanzig oder fünfundzwanzig Minuten tritt rire Art Krampf ein und die Hand
beginnt zu schreiben. Uebung, heißt es, hälfe dabei. Das Geschriebene ist eine
directe Antwort auf die gethane Frage und zeichnet sich durch guten Satzbau aus.
Die ganze Sache scheint in die Kategorie des Tischrückens Hineinzugehören.
Seit den Fälschungen des später zum Tode verurtheilten und
gesenkten Bankier Fauntlervy in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts und
der Flucht Steffensons, des Chefs des Bankhauses Nemiugtou, Stcffeuson u. C.,
der mit einem Deficit von 270,000 Pfd. sert. 1829 nach Amerika entwich, hat
kein Bankrott solches Aufsehen gemacht, als der neuliche des Hauses Snow
Strahan Paul u. Comp. Das Haus war nach dem der Herren Childe u. Comp.
das älteste i» London, und sein Gründer, Jeremias Snow, war einer der Gold¬
schmiede, deren Gelder Karl II. in Beschlagnahm. Schon damals waren die Haupt¬
kunden des Hauses die Mitglieder des englischen Adels, welche bei ihm ihre Gold-
und Silbersachen von Tafelgeschirren bis zu Trinkbechern und Fingerhüten herab
versetzten, wenn sie Geld brauchten. Der jetzige Chef der Firma vertauschte den
Namen Snow mit Strahan, weil er einen reichen Onkel dieses Namens beerbte.
Aber trotz des veränderten Namens blieben die alten Kunden und Strahan Paul
u. Comp. fuhren fort das angesehenste und besuchteste Bankierhaus im Westend
zu sein. Der Chef Strahan besaß ein Vermögen von mehr als 600,000 Pfd.,
der zweite Chef war Sir J.D.Paul, ein Baronet, und beide gehörten der streng¬
kirchlichen Richtung an. Daher genossen sie allgemeines Vertrauen und eine große
Anzahl Mitglieder der Aristokratie, wie Lord Palmerston, der Herzog von Devon-
shire, Lord Clanricardc, Herzog von Rutland, Lord Carnarvon und andere, außer¬
dem wegen des streng religiösen Charakters der beiden Chefs viele geistliche und re¬
ligiöse Gesellschaften wie Missionsvercine, pflegten ihre Gelder bei dem Hause nieder-
zulegen. Deun es ist in England Sitte, daß fast alle Menschen von einiger Wohl¬
habenheit alle Zahlungen, die bei ihnen eingehen, bei einem bestimmten Bankier
einzahlen lassen, der ohne Zinsen dasür zu geben die hinterlegten Summen in
seinem Geschäft verwenden kann, aber auch jeden Augenblick bereit sein muß, gegen
Checks (Anweisungen ans Sicht) für Rechnung des Deponenden Zahlungen bis zum
Belaufe des Contos zu machen. Auch vertraut man den Bankiers, um gegen
Verlust durch Diebe oder Feuer gesichert zu sein, seine Staatspapiere und bei
längeren Reisen sogar sein Silberzeug an. Von solchen Depositen waren Strahan
und Comp. große Summen anvertraut, denn obgleich in der City das Haus schon
seit längerer Zeit kein rechtes Vertrauen mehr genoß, war doch in dem weniger ge¬
schäftskundigen Westend sein Ansehen noch unerschüttert. Am vergangenen Freitag
veranlaßten die Chefs einige ihrer näheren Bekannten ihre Fonds ans dem Geschäft
zu ziehen d. h. sie benachrichtigten ihre Freunde von ihrem bevorstehenden Bankrott
und setzten sie in den Stand, aus Kosten der übrige» Gläubiger sich zu bereichern,
am Sonnabend zeigten sie dem Gericht ihre Insolvenz an und hatten noch einen Kassen¬
bestand von 2000 Psd. aufzuweisen. Die Masse beträgt 680,000 Pfd., die Vorhäute-
neu Activa werden auf circa 160,000 Pfd. angenommen; außerdem sind 276,000 Pfd. ita¬
lienischen Eisenbahnen vorgeschossen, die aber nicht als gute Schulden zu betrachten sind.
Das Schlimmste aber ist, daß das Haus eine ganze Masse holländischer, dänischer und
andrer Staatspapiere, die bei ihm deo'onirt waren, widerrechtlicher und betrügerischer¬
weise für 113,000 Pfund verkauft und verpfändet hat. Unter den dadurch Beein¬
trächtigten befindet sich ein »>-. Grifstths, Präbendar an der Rochcstcrkathedrale, der
deshalb den Criminalproceß gegen sämmtliche drei Chefs, Strahan, Sir I. D.Paul
und Bates veranlaßt hat. Sie befinden sich alle in den Händen der Polizei und
sind schon mehre Mal in Bvwstrect vernommen worden. Die Strafe für das Ver¬
brechen, dessen sie bezüchtigt sind, ist drei Jahr Arbeitshaus bis vierzehn Jahr
Deportation; es ist aber Zweifel darüber entstanden, ob das Gesetz sie erreichen
kann, da sie bei dem Gerichtshof für insolvente Schuldner freiwillig einen Status
über die veruntrciuten Depositen eingereicht haben, was nach der Meinung einiger
Juristen die Angeklagten straflos macht, obgleich der Vorsitzende des Gerichts sich ge-
weign hat, das Document entgegenzunehmen. Allem Anschein nach wirthschaftet das
Haus schon seit zehn Jahren ohne alle eignen Fonds. Den ersten Stoß soll es
durch einen Verlust von 13000 Pfund, die es einem mit italienischen Eisenbahnen
in Lieferungsverträgen stehenden Hause vorgeschossen, erhalten haben. Um diesen
Verlust wieder zu decken, wäre es allmälig in die Contracte seiner Geschäfts¬
freunde eingetreten und so immermehr verwickelt worden. Wie oben angegeben
hat es allerdings italienischen Eisenbahnen über eine Viertelmillion Pfund Vorschüsse
geleistet.
Als Commauditc des Hauses Snow, Strahan Paul u. Como- hat die Firma
Halford u. Comp. ebenfalls ihre Insolvenz angezeigt, doch dürfte ihre Liquidation
wenn es, wie man glaubt, juristisch zu ermöglichen ist, ihre Rechnungen von denen
Strahan u. Comp. zu trennen, noch einen Ueberschuß ergeben. Dies wäre sehr
zu wünschen, denn durch ihr Fallissement würde eine Classe von Personen leiden,
die ihr Geld schmerzlicher vermißt, als II,. Grisfiths, der vor dem Criminalgericht
erklären konnte, daß er von seinem Verlust (von 20,000 Pfd.) nicht genirt werde.
Halford u. Comp. siud nämlich Marineagcnten (Navy Agents) und vermitteln als
solche die Geldgeschäfte der in den Colonien oder dem Auslande dienenden Offiziere
der Armee und der Marine. Meistens verwalten sie dann auch nach der Pensioni-
rung oder dem Tode des Offiziers noch das«Vermögen desselben oder seiner Wittwe
fort. Hier sind daher verdiente Veteranen, Wittwen und Waisen von Männern,
die für ihr Vaterland geblutet, betheiligt und mit dem Verlust ihrer gestimmten Er¬
sparnisse bedroht, unter ander» auch die Wittwe deö Admirals Boxer, die ans diese
Weise in wenigen Wochen Gatten, Sohn und Neffen, ihr Vermögen und ihr Land¬
haus, das ihr abgebrannt ist, verloren hat.
Wir haben vor einigen Wochen den Wilhelm Meister vom künstlerischen
Standpunkt unsrer Zeit aus betrachtet. Der Vergleich mit Jean Paul ist
nicht uninteressant, da trotz des schreienden Widerspruchs seiner Dichtung gegen
die Goethesche in den Lebensanschauungen der beiden Dichter manches gemein¬
sam ist und gleichmäßig den Resultaten unsrer gegenwärtigen sittlichen Bildung
widerspricht. Da aber Jean Pauls Leben mit seiner Dichtung aufs innigste
zusammenhängt, so ist es nöthig, auch auf das erstere einzugehen. Wenn
die Resultate unsrer Untersuchung von der gewöhnlichen Meinung stark ab¬
weichen sollten, so möge man erwägen, daß Jean Paul zu den zahlreichen
Dichtern gehört, über die man entweder blos nach Hörensagen oder höchstens
nach der Erinnerung urtheilt, da man ihn gewöhnlich in einer Periode liest,
wo bei einem gesunden Gemüth die kritische Neigung sich noch gar nicht ent¬
wickelt hat.
Jean Paul Friedrich Richter wurde -1763 in Wunsiedel geboren.
Aber die reizende Gegend, in der er lebte, blieb ihm verschlossen: der Vater,
ein würdiger Dorfpfarrer, hielt den Knaben zum fortwährenden Arbeiten an;
sieben Stunden des Tages mußte er auswendig lernen, alles Mögliche bunt
durcheinander, wie es der damalige Wissenstrieb mit sich brachte. Die Natur
empfing er nicht aus unmittelbarer Anschauung, sondern nur aus der Sehn¬
sucht und aus der Beschreibung, und wer sich nicht durch den Schimmer der
Farben verblenden läßt, wird in seinen späteren landschaftlichen Schilderungen
leicht herauserkennen, daß ihm kein bestimmtes Bild, sondern nur eine un¬
klare Stimmung vorschwebte. Die Natur hat bei ihm nur Gefühle, keine
Physiognomie.
Nicht ohne Anlage zur Empfindsamkeit und zur Schwärmerei, gehört sein
Jugendleben doch ganz der Reflexion an. Dichter des Verstandes, Hippel und
Rousseau, waren seine künstlerischen Vorbilder; der Werther ließ ihn kalt, und
die Satire schien ihm die höchste Gattung der Poesie. Schon im 19. Jahr¬
hundert machte er Satiren, und unternahm es, das Leben zu verspotten, noch
ehe er einen Blick ins Leben gethan.
Wer gewohnt ist, in Goethes classischer, sonnenheller Schreibart sich das
Zeitalter abspiegeln zu sehen, wird bei Jean Paul durch die Verwilderung
der Form in Erstaunen gesetzt. Noch immer gibt es gelehrte und ungelehrte
Männer, die seinen Stil bewundern, und der Einfluß desselben macht sich in
unsrer schönen Literatur auf das verhängnißvollste geltend. Jean Paul ist
der eigentliche Vater des jungdeutschen Stils. Wie er zu diesem Stil ge¬
kommen, das läßt sich im Einzelnen genau verfolgen; wir begnügen uns mit
einigen Andeutungen.
Zunächst fehlt ihm die classische Bildung.- Seine umfassende, aber zer¬
streute Lectüre hatte ihm eine unglaubliche Menge von Kenntnissen und Ge¬
sichtspunkten zugeführt, aber ohne ihm ein Maß zu geben, diese wüste Masse
harmonisch zu gestalten. — Durch seinen falschen Begriff von Humor ließ er
sich verleiten, überall bei Vergleichungen und Effecten stehen zu bleiben und
niemals einen Gedanken, nie eine Empfindung rein zu Ende zu führen. —
Was dem Stil allein Form gibt, der plastische Gesichtssinn, kann sich nur an
Anschauungen lebendigen Lebens oder an Meisterwerken der bildenden Kunst
entwickeln, aber alle seine Anregungen knüpften sich an gedruckte Worte. Er
hatte, nach seinem eignen Geständnis), niemals Sinn für geographische Vor¬
stellungen, nie ein klares Bild von Landkarten und Länderlagen gehabt. Noch
in späten Jahren konnte er der dresdner Galerie kein Verständniß abgewin¬
nen; die Malerei blieb ihm fremd. Die einzige Kunst, die er pflegte, war die
Musik, aber auch hier floh er die Schule, den Rhythmus und das Maß, und
legte sich aufs Phantasiren. — So war er zu dem äußeren Hilfsmittel ge¬
nöthigt, bei seinen Studien das Gelesene, Gehörte, Erlebte, Gedachte, Erfun¬
dene festzuhalten, nebeneinander hinzulegen und aus diesen verschiedenen
Bruchstücken dann Neues gewissermaßen wie aus Karten zu mischen. In
der Furcht, irgendeinen Gedanken zu verlieren, ließ er den Gedanken in der
Seele nicht wachsen und reifen, er war froh, wenn er ihn auf dem Papier
hatte, um ihn für den Gebrauch aufzusparen. — Wenn andere Jünglinge ihre
Stimmungen in Gedichten niederlegten, stellte er witzige Gleichnisse zusammen.
In seinen Excerpten, die er eifrig registrirte und durchlas, traten die zusammen¬
hanglosesten Bilder und Notizen aus allen Kreisen des Wissens täglich vor
seine Seele, und die Verbindung derselben ersetzte ihm die Anregung der Wirk¬
lichkeit. Wenn er einen neuen Roman begann, trug er alle Einfälle zu Sce¬
nen, zu Charakterzügen u. s. w. in „Studienbücher" ein, und rubricirte diesel¬
ben nach allen erdenkbaren Gesichtspunkten, um durch Aneinanderreihung
fertiger Gedanken neue Gedanken zu erzeugen; aus dem Vollen zu schaffen,
war ihm bei dieser sporadischen Beobachtung unmöglich.
Man hat Goethe häufig getadelt, daß er durch die Beschäftigung mit der
Naturwissenschaft und der bildenden Kunst seinen eigentlichen Beruf Hintange-
setzt, durch die harmonische Ausbildung seines Lebens die harmonische Aus¬
bildung seines Talents beeinträchtigt habe. Wenigstens war er ehrlich in
seinem Streben, mit sich selbst fertig zu werden. Jean Paul hat für die innere
Bildung seines Geistes und Herzens nichts gethan: alles was er trieb, hatte
die unmittelbare Bestimmung, als poetisches Material verwerthet zu werden.
So blieb er nicht blos in seinem Wissen und seiner Einsicht unfertig, sondern
er nahm auch eine unwahre Stellung zum Leben ein. Goethe hat in seinen
Dichtungen mühelos die Früchte seines reichen Lebens abgeschüttelt, Jean Paul
lebte nur, um zu dichten. In seinen Romanen ist nichts geworden, sondern
alles ist gemacht; mit künstlicher Hitze trieb er sich in beliebige Lebensverhält¬
nisse hinein, um sie nachher für den Roman gebrauchen zu können. Der Laus
seines Lebens, von der frühesten Jugend an, ist eine fortgesetzte Wiederholung
überspannter und lügenhafter Liebesversuche zum Zweck novellistischer Studien;
sein Biograph Spazier macht uns darüber erschreckende Mittheilungen. Um
Liebesbriefe schreiben zu können, wählte er sich eine beliebige Geliebte, die er
dann, wenn die Briefe wirklich geschrieben waren, wegwarf. Er war in be¬
ständigem Suchen nach Modellen für die poetisch angeschauter Charaktere, die
ihm in allgemeinen Umrissen vorschwebten. Daher die Schnelligkeit, mit der
er nach der Bekanntschaft von einer Stunde mit sovielen Personen in das
glühendste Liebes- und Freundschaftsverhältniß gerieth. Die Glut verlor sich,
wenn das Resultat der Bekanntschaft erreicht war, und nun ein neues Modell
gesucht werden mußte. Doch dauerte der Verkehr fort, und die früheren Mo¬
delle hatten einen großen Antheil an der sonderbaren Familienähnlichkeit seiner
Poetischen Charaktere.
Im Jahr 1781 bezog er die Universität Leipzig. Kurze Zeit darauf ver¬
armte seine Familie, und er lernte die bittere Noth kennen. Hier nun tritt
die Stimmung hervor, die uns den Krebsschaden der Zeit versinnlicht. Jean
Paul war ein guter Mensch und eigentlich unedle Züge würde man in ihm
kaum entdecken, aber seine Sittlichkeit wurde durch die Idee untergraben, daß
er zu einer großen Laufbahn bestimmt sei und daß der Genius andre Pflichten
habe, als sonst die Sterblichen. Statt zu studiren schrieb er satirische Versuche
und lebte Romane; er gerieth in Schulden, mußte im November 1784 heim¬
lich entweichen, um seinen Gläubigern zu entgehen und kehrte nach seiner
Heimath zurück. ,.Bewundernswerth", erzählt sein Biograph, „bleibt die Cha¬
rakterstärke, mit welcher er, umgeben von Armuth, umscharrt und umtobt
von den übrigen Familienmitgliedern und von dem widrigen Geknarr einer
dürftigen Haushaltung, anhörend die täglichen Klagen über den Mangel an
jedem geringsten Bedarf, den jeder Augenblick forderte, unerschütterlich seinem
Ziele entgegenarbeitete. Es war der Zeitpunkt gekommen, wo ihn seine Be¬
strebungen nach Erreichung des Ideals, das ihm vor die Seele zu treten
anfing, so ganz ausfüllten, daß er wirklich die meiste Zeit nicht im min¬
desten gestört wurde durch das, waS um ihn vorging. Ja, er gewöhnte sich
auch in dieser harten Prüfungsschule, sich seine Arbeiten und seine Seelen¬
stimmung ganz von dem Unangenehmen, was in seiner Familie und um ihn
her vorging, so getrennt zu halten, daß er dem Ununterrichteten fast hartherzig,
theilnahmlos erscheinen mochte." — Auch in seiner äußern Erscheinung trug
er das Bewußtsein seiner Genialität zur Schau: er skandalistrte seine Umge¬
bungen durch eine abenteuerliche Tracht, um ihnen den Abstand sichtbar zu
machen. Er begann seine Rundschreiben an große Männer, um in ihren
Kreis aufgenommen zu werden, vorläufig ohne Erfolg. Im Jahre 1787 wurde
seine Existenz durch eine Hofmeisterstelle sichergestellt; als diese nach zwei Jah¬
ren aufhörte, war er endlich zu der Ueberzeugung gekommen, daß er, um zu
leben, sich in den Formen seinen Mitbürgern nähern müsse. Er warf seine
phantastische Tracht von sich und nahm 1790 eine Schullehrerstelle an. Ein
wichtiger Schritt, denn er lehrte ihn zum ersten Mal das wirkliche Leben
kennen. Was seine spätern Idyllen vortreffliches enthalten, ist aus dieser eig¬
nen Lebenserfahrung geschöpft: die Geschichte des Schulmeisterleins Wutz,
Quintus Firlein (1794), der Jubelsenior (1796) und Fibel (1809).
Leider hat der Dichter diese kleinen beschränkten Zustände nie mit warmem
Gefühl durchlebt, sondern nur mit dem angstvollen Streben, darüber hinaus zu
kommen: der Humor, mit dem er sie schildert, hat etwas Unbehagliches.
Während die modernen Dorfgeschichten das Stilleben der von der Cultur
noch nicht heimgesuchten Kreise mit der Andacht übersättigter Culturmenschen
aufsuchen, sehnt sich Jean Paul, selbst der strebsame Sohn des Volkes, aus
dieser Enge heraus, und seine Pietät gegen die Heimath ist reflectirt, es mischt
sich etwas von geringschätzigen Mitleid hinein. Sein Respect vor dem Natur¬
wüchsigen war angekünstelt; er zeigt uns die Naturmenschen nur in ihrer
Sonntagsstimmung, oder humoristisch verzerrt, nicht in ihrer wirklichen Arbeit;
er übertreibt auch die Freude an der Beschränktheit, indem er die ganze Existenz
seiner Naturmenschen auf das Alphabet beschränkt, das sie den Kindern bei¬
bringen.
Alle diese Versuche betrachtete der Dichter nur als Vorstudien zu einem
großen pädagogischen Roman: Die unsichtbare Loge. Die Tendenz des¬
selben ist, durch Erziehung das hervorzubringen, was der damaligen Generation
als das höchste Ziel galt, eine schöne Seele. Der Thectterdirector Goethe
führte seinen Helden der Bildung wegen unter die Schauspieler; der Schul¬
meister Jean Paul läßt seinen Helden Gustav durch einen edlen und
schwärmerischen Pietisten unter der Erde erziehen. Es wird ihm verheißen,
daß er einst das Sonnenlicht schauen solle, wenn er sterbe: die Idee des
Sterbens ist also die höchste Hoffnung seines Lebens. Aehnlich wie das In-
dividuum, wird auch die Gesellschaft durch einen höhern Willen symbolisch er¬
zogen. Ein geheimer Orden leitet sie in die Pfade, die sie von selbst zu finden
zu schwach ist. Jean Paul stand an einem gefährlichen Wendepunkt. Er
hatte zum ersten Mal alle seine Kräfte aufgeboten, der Erfolg mußte dies Mal
entscheidend sein; und er war ein glänzender. Er hatte 1792 das Manuscript
an Moritz geschickt, dieser antwortete begeistert und besorgte ihm einen höchst
günstigen Verlag; für den, welcher Anton Reiser kennt, wird die Seelen¬
verwandtschaft begreiflich sein.
Jean Paul gab die Vollendung der unsichtbaren Loge auf, und begann
einen neuen Roman: Hesperus oder die Hu ndspvstta g e (1792—1794),
der seinen Ruhm in Deutschland feststellte. Er verdient ihn vorzugsweise durch
die kleinen idyllischen und humoristischen Züge, die in den spätern Werken nicht
mehr übertroffen, kaum erreicht werden. In der Tendenz hat der Roman eine
unverkennbare Aehnlichkeit mit Wilhelm Meister: es ist ein Herausstreben des
bildungsbedürftigen Bürgerstandes aus seiner Sphäre, nach dem Hos. Ein
magischer Zauber zog den Dichter in den Dunstkreis der kleinen Höfe, so schwül
er ihm schon aus der Ferne vorkam und so eifrig er dies Ideal bereits im
voraus satirisch behandelte: vor seiner Einbildungskrast schwebten jene träu¬
merischen, ätherischen Blumenseelen, die nicht anders als in einer Einfassung
von Sammet und Edelsteinen gedacht werden durften. Victor, sein Abbild im
Hesperus, tritt der vornehmen Welt nicht mit der gläubigen Unbefangenheit
Wilhelms entgegen: seine Reflexion ist fertig, sein Humor und seine Empfind¬
samkeit sind gleichmäßig entwickelt. Sonst ist in seinem Verhalten zur vorneh¬
men Welt, ja selbst in seinen Schicksalen die Aehnlichkeit augenscheinlich. Seine
weibliche, empfängliche Natur, sein hingebender Bildungstrieb und seine zu¬
dringliche Bescheidenheit eignet ihn ebensowenig zum Gemahl der Gräfin Clotilde,
als der verwandte Charakter Wilhelms eine Bürgschaft für die Baroneß Nathalie
sein kann. Die Verherrlichung des bloßen Bildungstriebes in den praktischen
Lebensbeziehungen ist keinem der beiden Dichter gelungen; denn er entwickelt
sich nur in dem Verhältniß zu fertigen Männern; diese aber zu schildern, war
dem einen Dichter so schwer wie dem andern. Am meisten vergriffen sind die
tragischen Charaktere: der Pythagoreer Emanuel, eine ätherische Natur, die
nur in verklärten Empfindungen, d. h. in Illusionen lebt und weder Fleisch
noch Blut hat, und der edle Menschenfeind und Atheist Lord Horion, mit seiner
Sehnsucht nach dem Erhabenen und seiner Verachtung alles Wirklichen, mit
seinem hoffnungslosen Tugendstreben, das auf die unzweckmäßige Beschäfti¬
gung ausläuft, sieben Bastarde eines liederlichen Fürsten zu edlen Menschen
und Regenten zu erziehen, mit seiner Todteninsel und seinem Selbstmord.
Unmittelbar nach Vollendung des Hesperus schrieb Jean Paul den
S le denkns (1794—1796), ein Werk, in welchem er seine eigne Natur am
vollständigsten ausgesprochen hat und dem an getreuer Naturbeobachtung viel¬
leicht kein andrer Roman gleich steht. Wir werden durch eine Menge kleiner
Züge von blendender Wahrheit überrascht; aber je bestimmter die Umrisse sind,
desto greller tritt uns die Unsittlichkeit der Lebensauffassung entgegen. Das
Buch ist eins der unsittlichsten, die in Deutschland geschrieben sind, ebenso
unsittlich, als G. Sands Jndiana. Siebenkäs ist ein Genie, das im Be¬
wußtsein seiner Genialität alle Pflichten des wirklichen Lebens über den Hausen
wirft. Leichtsinnig vertauscht er seinen Namen mit einem andern und macht
dadurch sein.Bürgerrecht in der wirklichen Welt zweifelhaft; ebenso leichtsinnig
schließt er eine unpassende Ehe; mit frevelhaftem Leichtsinn spielt er mit dem
Glück des Wesens, an das ihn nun die Pflicht bindet, blos um zu zeigen, daß
das Genie das Vorrecht habe, den Ueberlieferungen, Sitten und Gesetzen der
Gesellschaft gegenüber den Sonderling zu spielen, und als nun infolge aller
dieser Verirrungen ihm die Ehe eine unerträgliche Last geworden ist, wirft er
sie ohne Bedenken ab, indem er sich sür todt ausgibt und unter einem andern
Namen eine andre heirathet, wie er es auch seiner Frau überläßt, eine andre
Ehe einzugehen. Dies Verhalten, das im bürgerlichen Leben ins Zuchthaus
führt, wird als das wahrhaft geniale, als das dem freien Menschen geziemende
dargestellt. Bei dieser excentrischen Subjectivität des Pflichtbegriffs wird man
den Haß Jean Pauls gegen die Kantsche Philosophie begreifen; man wird
aber auch einsehen, wie nothwendig es war, daß diese Philosophie mit uner¬
bittlicher Strenge einem Zeitalter, das allen innern Halt verloren hatte, den
kategorischen Imperativ der Pflicht einschärfte. Der Siebenkäs ist ein augen¬
scheinliches Zeugniß für die vollständige Verwahrlosung, zu welcher endlich
die Subjectivität der schönen Seelen, der hohen Menschen, der Genies :c.
kurz die Losreißung von dem Boden des Gegebenen führen mußte.
Bei diesen Arbeiten hatte Jean Paul stets das Hauptwerk seines Lebens
im Auge, den Titan, der die höchsten Spitzen des Ideals vergegenwärtigen
sollte. Da die Methode seines Schaffens bereits vor dem Beginn desselben
fertig war, so ist es hier am Ort, dieselbe näher ins Auge zu fassen.
Man wird zuweilen durch die bunte Mannigfaltigkeit seiner Figuren in
Verwirrung gesetzt und glaubt ihm einen gewissen Reichthum zusprechen zu
müssen, allein dieser Reichthum ist uur auf der Oberfläche. Zwar sind die
Genrebilder, die er zur Staffage benutzt, mit außerordentlicher Virtuosität aus¬
geführt und verrathen ein mikroskopisch geschärftes Auge für die Außenseite des
Lebens. In diesen Genrebildern ist aber keine eigentlich psychologische Ent¬
wicklung, sie sind ohne innere Geschichte und bewegen sich lediglich im Gebiet
der Erscheinung. Diejenigen Charaktere dagegen, bei denen eine Analyse uno
Entwicklung stattfindet, sind trotz des umfassenden empirischen Materials, das
in sie verwebt ist, nur abgelöste Fragmente aus des Dichters eigner Natur.
Wenn in seiner Seele die idealen Typen fertig waren, so suchte er nach Mo¬
dellen in der Wirklichkeit und häufte massenhafte Beobachtungen zusammen,
aber es gelang ihm nur selten, sie zu einer organischen Bildung zu krystalli-
siren. Nun wird zwar jeder Dichter seine Gestalten durch das innere Medium
seines Lebens anschauen, er wird in ihnen nur die Saiten ertönen lassen, die
in seinem Innern wiederklingen, es kommt eben darauf an, daß die Harmonie
seines Innern reich genug ist. Aber bei Jean Paul war der Umfang des
Seelenlebens, so excentrisch es zuweilen aussah, gering, und daher die Lebens-
formen, die er zur Gestaltung brachte, Dürftig und einförmig.
In Victor und Siebenkäs hat er die Totalität seiner Natur geschildert,
mit all den innern Widersprüchen, deren Auflösung er dem guten Willen des
Lesers überließ. Dann veranlaßte ihn das Gefühl dieser Widersprüche, seinen
eignen Charakter in seine Grundbestandteile aufzulösen und jedem einzelnen eine
gesonderte Gestalt zu geben. Zunächst wurde er zwei äußerste Pole in seiner Natur
gewahr, die ätherische, ins Blau hinausstrebende Schwärmerei einer der Welt
nicht angehörigen reinen Seele und den Cynismus einer starken Natur, welche
die Welt verachtet, weil sie in ihr nichts Ideales,, nichts Erhabenes findet
und mit ihr ein humoristisches Spiel treibt. Die erste Reihe versinnlichen uus
Emanuel, der Pietist und der nachmalige Spener; der Typus der zweiten
Reihe ist Schoppe, der humoristische Philosoph, der die Welt für ein Narren¬
haus ansieht, weil er keinen Glauben hat, der mit dem Leben spielt, weil er
keinen Inhalt darin findet, der die ideale Stimmung seines Gemüths, weil
ihr in der Außenwelt nichts entspricht, in schneidende Dissonanz verkehrt und
der seinen Namen oder im Grunde seine ganze Persönlichkeit so häufig ver¬
tauscht, daß er zuletzt an seiner Identität zweifelt, daß ihm sein Ich gespenstisch
gegenübertritt und daß er im Wahnsinn endet. Man hat aus Schoppe eine neue
Theorie des Humors hergeleitet, wie aus Lucinde eine neue Form der Ironie, aber
beides möchte gleichmäßig krankhaft sein. Der echte Humor geht aus einer
freudigen Natur hervor, der die Gegenstände in übermüthigem Spiel entgegen¬
springen, während dieser sauersüße Humor, der nie im Stande ist, die gegen¬
ständliche Welt durch eine poetische Stimmung zu verklären, unsre Seele in die
Bande des rohsten Zufalls verstrickt. In den meisten der komischen Figuren
Jean Pauls erkennt man bald einen aus dem Abstrakten ins Concrete, aus
dem Grenzenlosen ins Bestimmte übersetzten Schoppe. Sie haben zwar sehr
starke moralische Empfindungen, aber der Regulator dieser Empfindungen, das
Gewissen, scheint ihnen vollständig verloren gegangen zu sein. Was Schoppe
eigentlich ist, enthüllt uns Katzenberger. Der erhabene, die Welt vernichtende
Humor des erster,, ist nichts, als die Freude an der Mißgeburt und der
angeborne Cynismus der Seele, den der zweite mit so großem Behagen
entwickelt.
In der Mitte zwischen diesen beiden Extremen steht das gläubige Hinaus¬
streben in die Welt der Ideale: Gustav in der „unsichtbaren Loge", Gottwald,
Albano, zuletzt in ironischer Wendung Nikolaus Markgraf. In dieser „blöden
Jugendeselei" ist unser Dichter in der That zu Hause und er hat von den
stillen Träumen eines gläubigen Kindergemüths so schöne, rührende und
mannigfaltige Züge dargestellt, daß wir bedauern müssen, sie so häufig durch
den Wust des sogenannten Humors erstickt zu sehen. Allein auch bei ihnen
zeigt sich ein ungesunder Zug. Wer wollte nicht das Kind und den Jüngling
in seiner ersten Blüte um die reiche ideale Welt seines Innern beneiden,
wenn auch das spätere Leben unbarmherzig die Illusionen zerstört. Aber Jean
Pauls Helden erzeugen sich ihre Ideale aus eine künstliche, unnatürliche Weise.
Albano fühlt das ästhetische Bedürfniß, einen Freund und eine Geliebte zu
haben, um ihnen seine Gefühle zu schreiben, er fabricirt sich also dieselben.
Gottwald verfährt aus dieselbe Weise. Im gesunden Leben geschieht es anders.
Man liebt, weil man einen liebenswerthen Gegenstand findet. Die gegen¬
standslose Liebe und Freundschaft, die beiläufig sehr charakteristisch sich durch
den Grafentitel, seidene Kleider und dergleichen bestimmen läßt, ist die Frucht
der Romanlectüre und sehr gefährlich für die weitere Lebensentwicklung.
Daß dieses absolute Phantasieleben eine sehr böse Seite habe, davon hatte
Jean Paul eine lebhafte Ahnung, und sein Roquairol ist eine glänzende, in
allen Punkten treffende Satire gegen das Phantasieleben seiner eigenen
Helden. Ueberhaupt darf man in den Consequenzen immer nur einen Schritt
weiter gehen, um zu entdecken, daß die Gegensätze in seinen Charakteren nicht
zu ernst zu nehmen sind. Verbindet man Schoppe und Emanuel, was gar
nicht so schwierig ist, da die entgegengesetzten Abstraktionen sich berühren, so
erhält man Lord Horion; und nimmt man diesem die Maske ab, so tritt Don
Gaspard daraus hervor. Weil sich der Dichter nie damit begnügt, die Ge¬
genstände und Ereignisse ruhig darzustellen, sondern mit ihnen zugleich seine
Reflexion gibt, hat fast jeder seiner Charaktere einen Doppelgänger, mit dem
er verwechselt wird, der sein Schatten ist, das ironische Zerrbild seines wirk¬
lichen Inhalts.
Es kam dazu die grenzenlose Verkümmerung des deutschen Lebens, die
wir bei Goethe aus Augenblicke, gefesselt durch den Reiz der schönen indivi¬
duellen Natur, vergessen, an die wir aber bei Jean Paul fortwährend uns
erinnern, weil die Ideale seiner Helden ganz in den Schranken der Empirie
besangen sind. So schwärmt Albano für die französische Revolution und ist
entschlossen, in den Reihen ihrer Krieger zu fechten, auch gegen fein eignes
Vaterland. Diese fixe Idee geht bei ihm soweit, daß er deswegen mit seiner
Geliebten bricht. Nun stellt sich heraus, daß er das Höchste ist, was Jean
Paul sich vorstellen konnte, ein deutscher Reichsfürst, einer von jenen verlören
gegangenen Finstensöhnen, an deren Aufsuchung und Erziehung seine Intri¬
ganten alle ihre besten Kräfte verschwenden, und sofort vergißt er seine
Träume von Menschenrecht und Freiheit, heirathet eine Prinzessin und führt
auf seinen Gütern eine Musterwirthschaft ein, was er als Graf von Cesara
auch hätte thun können. Wie Wieland, schwebte auch Jean Paul als höchste
Aufgabe vor, einen edeln Fürsten zu erziehen, wobei er ganz übersah, daß
mit einem edeln Fürsten nicht viel gewonnen ist, wenn ihm ein gesunder
Staat fehlt, daß ein Graf von Cesara oder ein Lord Hvrion in der Welt eine
viel größere Stellung einnehmen, als ein Duodezfürst von Hohenfließ. Ein
wirklicher Großer der Erde, wie er sich seinen Don Gaspard vorstellt, hätte
an so armselige Intriguen seine Zeit nicht verschwendet; er hätte Hohenfließ
nicht zum Mittelpunkt seiner Wirksamkeit gemacht.
Und hier kommen wir auf einen zweiten Uebelstand. Jean Pauls Er¬
findungskraft, reich in der Zusammenstellung kleiner Seelenbewegungen, ist doch
zu dürftig, um eine wirkliche, in großen Zügen aufgefaßte Geschichte zu ent¬
werfen. Wo er es versucht, aus dem innern Leben der Charaktere heraus ein
Schicksal zu entwickeln, bleibt er im Fragment stecken; wo er dagegen die Ge¬
schichte nach künstlerischen Bedürfnissen construirt, spinnt sie sich zu einem sehr
verwickelten Jntriguenspiel aus, welches eine ungeheure Maschinerie an nich¬
tige Zwecke verschwendet und zu dem wahren Inhalt der Menschen kein Ver¬
hältniß hat. Als Zeitgenosse der Romantik strebt er nach dem Räthselhaften,
Wunderbaren, Unbegreiflichen, aber als geborner Rationalist löst er es wieder
ins Natürliche auf. Nichts ist abgeschmackter, als die Maschinerie im Titan
und Hesperus, und hier kann den Dichter nicht einmal die ungesunde Wirk¬
lichkeit entschuldigen.
Diese Zwecklosigkeit der Erfindung wird durch die sittliche Tendenz nicht
gut gemacht: sie ist vorhanden, aber sie ist nicht die Seele des Ganzen.
Um lebhaft zu empfinden, muß der Dichter einen Anlauf nehmen; um die Ein¬
gebungen seiner Willkür gegen jeden Widerspruch sicherzustellen, echauffirt er
sich, und so thun es auch seine Helden. Es ist das die Weise der Kinder,
aber bei Jean Paul geht das Kindesalter über alle Grenzen des Schicklichen
hinaus. Um ein sittliches Problem so gründlich wie es geschehen muß zu
durchvenken, wenn mau überhaupt die Neflerion hineinmischen will, ist der
Dichter zu unruhig und zu zerstreut; er erregt weder das Gefühl des natür¬
lichen Lebens, welches stets so handelt, wie eS handeln muß. noch eines rei¬
sen, durchdachten Princips. Seine Maximen sind nicht überzeugend für den
individuellen Fall und höchst gefährlich in der Anwendung. Wenn er in jenen
Jahren eine Apologie der Charlotte Corday schrieb, so wußte später bei der
Ermordung Kotzebues de Wette diese Stelle zur Vertheidigung Sands aus¬
zubeuten, und ganz mit Recht, denn ein solches Verbrechen der Reflerion
ging allerdings aus jener absoluten Subjectivität der sittlichen Empfindung
hervor, welche eher danach strebte, fein zu empfinden als recht, groß zu den¬
ken als wahr, genial zu handeln als pflichtmäßig. Der Cultus des Genius,
an den Jean Paul in seinen Romanen sovielen Weihrauch verschwendet hat,
war nicht die Religion, die unser Zeitalter erlösen konnte.
Wir wenden uns nun zu seinem äußeren Leben. Seine Lehrerstelle gab
er 1794 auf und siedelte sich in Hof an, noch immer in dürftigen Verhält¬
nissen. Die Reihe seiner Liebesversuche zu novellistischen Zwecken wurde, zu¬
nächst an Bürgermädchen, unermüdlich sortgesetzt: dazu kamen jetzt Briefe von
vornehmen Frauen, Gräfinnen und Fürstinnen, die ihn als großen Mann
anschwärmten: neue sehr interessante Modelle für Nomanfiguren. Die Hoff¬
nung, für den Titan geeignetes Material zu sammeln, wurde um so größer,
als aus Weimar ein Brief von Charlotte von Kalb ankam, in deren
leidenschaftlicher Glut er das Urbild seiner gesuchten Titanide zu finden hoffte.
Frau von Kalb war zwei Jahre älter als der Dichter, ihr erster Liebesversuch
mit Schiller war verunglückt, aber noch immer war sie eine schöne Frau, noch
immer voll von hohen Empfindungen, noch immer bereit, wenn sich ein
passender Ersatz fände, sich von ihrem Mann scheiden zu lassen. So kam der
Dichter, Juni 1796, in der Residenz der deutschen Literatur an. Er wurde auf,
Hänoen getragen, Frau von Kalb betete ihn mit Zorn an, die andern Damen
wetteiferten mit ihr, und die Herren folgten. Herder und Wieland erstarben
vor Enizückung. „Alle meine männlichen Bekanntschaften hier (ich wollte,
nicht diese allein!) singen sich mit ven wärmsten Umarmungen an." Nur zwei
Männer hielten sich fern, Goethe und Schiller; sie empfingen ihn höflich, aber
kühl; sie betrachteten ihn mit Interesse, aber auch mit Verwunderung,
„wie einen Mann, der aus dem Monde gefallen sei." Der Taumel, in den
Weimar über diese neue Art von Dichtung gerieth, konnte ihnen zeigen, daß
es mit der einheitlichen Bildung Weimars doch nicht so sicher sei, und ste
darauf vorbereiten, Kotzebue kurze Zeit darauf mit gleichem Enthusiasmus
empfangen zu sehen. — Seit dieser Zeit war das Bündnis) Jean Pauls mit
den Gefühlsdichtern, mit Herder, Jacobi, Wieland, Sophie Laroche, Tiedge,
Elise v. d. Recke, Kosegarten u. s. w., entschieden, und ebenso die stillschwei¬
gende Opposition gegen die Göthe-Schiller-Kantsche Schule, deren eifrigste
Vertreter damals die Schlegel waren.
Nach seiner Rückreise im August 1796 besuchte ihn Frau von Krü¬
de ner. „Während sie in dem Selbstgefühl, daß sie den Berg erklommen, den
kleinere Geister nicht die Kraft hätten zu ersteigen, und wo sogar der Schall
ihrer Stimme ihrem Ohre nicht mehr Disharmonie sei, Jean Paul eine trun¬
kene Freude und Rührung gab, wie er noch bei keiner Frau gehabt, weil sie
sei wie keine, schien er ihr unvergeßlich, mehr noch aus dem, was sie sah, aus
dem, was sie fühlte, da sie ihn sah > als aus dem, was sie las, wenn sie in
seinen Werken so oft mit tiefer Rührung ihn bewundert u. s. w." (Spazier.)
Im Juli 1797 trat ihm eine dritte Titanide entgegen, Emilie v. Ber-
lepsch, eine junge, schone und geniale Witwe, die aus der Schweiz kam.
„Jean Paul", erzählt sein Biograph IV. S. 71 , „war durch diese glühende
Seele auf das heftigste entzündet, indem seine Phantasie an jeder neuen Er¬
scheinung alle Tugenden der früheren zusammenfand. Sie traf grade zu
einer Zeit ein, als des Dichters Mutter dem Tode entgegenkräukelte. Trotz¬
dem vermochte Emilie soviel über ihn, und der für seinen Titan aus dieser
neuen Bekanntschaft ihm sich versprechende Gewinn erschien ihm so bedeutend:
daß er die kranke Mutter auf mehre Tage zu verlassen und der neuen Freun¬
din nach Eger und Franzensbad zu folgen wagte. Doch eben im höchsten
Rausche des Genusses poetischer Gefühlsschwelgerci an der Seite dieser schönen
und geistreichen Frau, die ihn übrigens mehr mit der Phantasie als dem
Herzen liebte, und darum seinen Geist umsomehr gefesselt hielt, weil sie ihm
von Sinnlichkeit durchaus rein erschien; — schreckte ihn plötzlich der Donner¬
schlag von dem unterdes; erfolgten Tode seiner Mutter auf ... . in deren
Nachlaß er ein Büchlein fand, in welchem sie aufgezeichnet, was sie sich in
ihren Nächten durch spinnen verdient." — Daß der Sohn diesen Umstand
gern und mit Gefühl erzählte, bezeichnete seine vornehme Bekanntschaft als
einen der rührendsten Züge in seinem Charakter! !
So verließ nun, Oetober 1797, Jean Paul seine Heimath und begab sich
mit Emilie nach Leipzig. Hier aber fand sich seine Seele sehr verstimmt, denn
während die Aristokratie auf den Knien vor ihm gelegen, wollte sich der Bür¬
ger und Kaufmann auf gleichen Fuß mit ihm stellen. Außerdem wurde ihm
das Verhältniß mit der Berlepsch unerträglich.
„Ihre Seele hing an meiner, heißer als ich an ihrer. Sie bekam über einige meiner Er¬
klärungen Blutspeien, Ohnmachten, fürchterliche Zustände; ich erlebte Scenen, die noch keine
Feder gemalt/ Einmal an einem Morgen (den !Z, Jänner), unter dem Machen einer Satire
von Leibgebcr, ging mein Inneres auseinander ; ich kam Abends und sagte ihr die Ehe zu. Sie
will thun, was ich will, will mir das Landgut kaufen, wo ich will, am Neckar, am Rhein,
in der Schweiz, im Voigtland. So liebe» und achten wird mich keine mehr, wie diese und
doch ist mein Schicksal uoch nicht entschieden von — mir." —
Das Verhältniß löste sich in Freundschaft auf, Jean Paul begleitete sie
noch nach Dresden im März 1798. Ein neuer Besuch in Weimar bestimmte
ihn, sich im Oetober ganz überzusiedeln. Das Bündniß mit Jacobi und Herder
wurde enger; sie wollten zusammen eine Zeitschrift herausgeben, und Herder
besprach mit ihm seine Metakritik, den großen Krieg gegen die Kantische Phi¬
losophie, mit der Jean Paul schon früher kleine, unbekannt gebliebene Plän¬
keleien gehabt. Jean Paul selbst gab damals seine Briefe und bevorstehenden
Lebenslauf heraus, in denen die Kantische Philosophie und die Schlegel-
sche Aesthetik verspottet wurde; eine Apotheose Herders bildete den Schluß,
Jean Paul gehörte also ganz zur streitenden Kirche, umsomehr, da ihm nach
seiner Ansicht die Goethe-Schillersche Partei den Hof vertrat, „Hier ist alles
revolutionär kühn," schreibt er, „und Gattinnen gelten nichts. Wieland
nimmt im Frühling seine frühere Geliebte, die Laroche ins Haus, um aufzu¬
leben und die Kalb stellte seiner Frau den Nutzen vor." Das Verhältniß zur
letztern wurde wieder aufgenommen. „Herder achtet sie tief und höher, als
die Berlepsch und küßte sie sogar in Feuer neben seiner Frau." Jean Paul
hatte schon im voraus einige Briefe an seinen Freund fertig gemacht, worin
er ihm bereits seine Heirat!) anzeigte. Indeß trat ihm ein neues beseligendes
Verhältniß entgegen mit einer hildburghausenschen Hofdame Karoline v. F.,
welches soweit gedieh, daß mit Einwilligung der Verwandten die Heirath
förmlich beschlossen ward und daß es — ein ganzes Jahr dauerte. Naiürlich
machte ihm Frau von Kalb heftige Scenen. „Die glühenden Briefe werden
Dir einmal unbegreiflich machen, wie ich meine Entsagung ohne Orkane
wiederholen konnte. Müßte ich ihr den Namen einer Geliebten ansagen, so
thäte sich ein Fegefeuer auf." —- Charlotte wollte ihn mit Gewalt heirathen und
er hatte Noth, sich ihrer zu erwehren. Es kam ihm hauptsächlich auf Studien
zum Titan an: er war sehr neugierig, wen Albano eigentlich heirathen werde, ob
Liane oder Linda, oder wen sonst. Nun war Linda durch vielfältige Aeußer-
lichkeiten als eine Copie der Frau von Kalb bezeichnet und wer den Ausgang
dieser Figur kennt, wird zugestehen müssen, daß es damals etwas Bedenkliches
hatte, die Geliebte eines Dichters zu sein. In andrer Beziehung aber möchten
wir diesen Ausgang rechtfertigen. Das Bestreben, ein großes Weib zu sein,
eine „Faustine" oder Titanide und die zertrümmerte sittliche Welt prächtiger im
eignen Busen wieder aufzubauen, führt zu ähnlichen Resultaten, wie die Scene
Lindas mit Roquairol.
, Der erste Band des Titan erschien 1800. Er war den vier Töchtern
des Herzogs von Mecklenburg gewidmet, deren eine die Königin von Preußen
war. Schon jetzt strebte Jean Paul, mittlerweile zum hildburghausischcn
Legationsrath erhoben, die Aristokratie in einer höhern Sphäre aufzusuchen
und so finden wir ihn im Juni 1800 in Berlin. Berlin war damals ebenso
hungrig nach ungewöhnlichen Persönlichkeiten, die es anbeten könnte, als jetzt.
Die Huldigungen, die Jean Paul von der Damenwelt zu Theil wurden,
übertrafen noch den Cultus von Weimar. Die Mittelpunkte der Gesellschaft
bei Henriette Herz, Rahel Levin u. s. w. erschlossen sich ihm, aber auch die
Equipagen der höchsten Aristokratie standen vor seiner Thür und er empfing
im Schlafrock die Besuche von Gräfinnen und Baronessen, die es sich zur
Ehre rechneten, Haare seines Pudels auf der Brust zu tragen. Selbst die
Königin Louise führte ihn in Sanssouci umher. Dem König wurde die Be-
Meisterung zuletzt zu stark. Als sich Jen» Paul um eine Präbende bewarb,
wurde sie ihm nicht bewilligt und der König äußerte: „Höre denn doch zu
viel diesen Jean Paul herausstreichen. Wie will man erst von einem großen
Staatsmann sprechen oder von einem Helden? Die Damen verstehen immer
das Maßhalten nicht/") ^_
Der Roman wurde in vier Bänden Ostern 1800 bis Ostern 1803 voll¬
endet, Jean Paul hatte fast zehn Jahre daran gearbeitet, oder wenn man
will, daran gelebt. Angeregt durch Jacob! Uttonis, schrieb er 1792 Studien
über das verirrte Genie, über den Schwächling, der durch absichtliche Phautasie-
schwelgerei moralisch und physisch sich selbst übertäubt und zerstört. Roquairol
war der erste Held seiner Dichtung. Als Gegensatz wurde ihm im Albano
ein hoher Mensch gegenübergestellt, und der Siebenkäs oder Leibgebcr-Schoppe
fand sich von selbst dazu.
Die Reise nach Weimar sollte die Farben geben, mit denen er seine Skizze
ausfüllen wollte. Er begann die Ausarbeitung 1798, ohne das Ganze zu
übersehen, ohne die Lösung der organischen Punkte gefunden zu haben. Nun
blieben von den ursprünglichen Entwürfen zahlreiche Reste, die zu der späteren
Entwicklung nicht stimmen wollten. Hätte er sich nicht zu sehr von den ein¬
zelnen empirischen Eindrücken in die Irre führen lassen, hätte er die ursprüng¬
liche Tendenz festgehalten, die Berderblichkeit des subjectiven Phantasielebens
(in Roquairol und Linda) nachzuweisen, so würde der Roman eine bedeutendere
Stelle in unsrer Entwicklung einnehmen. Freilich konnte es ihm, der selbst
im Phantasieleben befangen war, nicht gegeben sein, dasselbe mit kritischem
Ernst aufzulösen. Wie der Roman jetzt vor uns liegt, steht er dem „Wilhelm
Meister" zur Seite, Er zeigt einen ebenso lebhaften und allseitigen Bildungs-
trieb, eine ebenso unfertige geschichtliche Auffassung, Der Trotzkopf Albano
fügt sich dem Gegebenen, wie der bescheidene und empfängliche Wilhelm
Meister; aber die Welt, deren Gesetzen er sich fügt, ist im Grunde ebenso hohl
und trostlos, als die unsichtbare Loge, die den strebsamen Kaufmannssohn
empfängt
Für seine Stellung zur Literatur wurde der Aufenthalt in Berlin sehr
wichtig. Er war hingekommen als entschiedener Anhänger der Gefühlsphilo¬
sophie , als Gegner Fichtes und der Romantik. Das Athenäum hatte sich
über den Mitarbeiter an der Metakritik sehr respectwidrig ausgesprochen, es
hatte ihn mit Lafontaine zusammengestellt. Als Anhang zum ersten Bande des
Titan ließ Jean Paul den C.ovis l'lÄitiana seu LeiK^ederiuna drucken, eine
Satire gegen den transscendentalen Idealismus, die wunderlich genug aus¬
sah, die auf alle Fälle dem größern Publicum noch weniger zugänglich war,
als Fichtes Schriften selbst. Nun kam er in Berlin im Kreise der geistreichen
Frauen mit den bedeutenden Männern, die jene Richtung vertraten, in un¬
mittelbare Berührung. Er lernte Fichte, Schleiermacher, A. W. Schlegel, Treck.
Bernhardt :c. persönlich kennen, und was das Wichtigste war, die Gegner der
Romantik, Merkel an ihrer Spitze, sielen auch über ihn her. So wurde das
Bündniß schnell geschlossen, Jean Paul trat als Vertheidiger der Romantik
eins, las den Jacob Böhme mit Eifer und die 1804 erschienene Vorschule der
Aesthetik, eine Sammlung seiner „Regelbücber" legt Zeugniß von dieser
Wendung ab. Doch war das Bündniß nur äußerlich.
Schleiermacher sowol als Schlegel hatten eine natürliche Abneigung gegen
den verwilderten Stil ihres neuen Freundes, und die Apotheose des eben ver¬
storbenen Herder am Schluß der Vorschule stellte das etwas laugewordcne Ver¬
hältniß zu den Gefühlsphilosophen wieder her.
Noch wichtiger wurde der Aufenthalt in Berlin für Jean Paul durch den
Abschluß seiner Liebesversuche. Er war der vornehmen Damen müde und ver¬
lobte sich im November 1800 mit Karoline Maier, einer hochgebildeten Beamten¬
tochter; er war bereits 38 Jahr alt. Da er in Berlin keine Anstellung fand,
so ging er im Juni -1801 nach Meiningen, von da nach Koburg, bis er sich
im Frühjahr 1803 in Baireuth ansiedelte. Die Poesie seines Lebens war vor¬
über. „Bisher hager, bleich und die Unruhe seiner Seele in einem hastigen
Wort, in dem suchenden Auge und der unsteten Bewegung ausdrückend, von
einem Fleck zum andern eilend, nirgend mit einem Entschluß und dem Gefühl
des Bleibens, selbst im Gespräch nicht verharrend, wölbte sich plötzlich seine
ganze Gestalt, es füllte und brannte sich sein Gesicht, er bekam ein äußerst,
robustes Ansetzn, und man konnte ihn von da an bis zu seinem Ende fast
dick nennen, auf eine Weise, daß seine frühern Freunde ihn kaum wiederzu¬
erkennen vermochten." Er wandte sich an verschiedene Fürsten um ein Jahr¬
gehalt, er fand es endlich 1809 bei dem Coadjutor von Dalberg. Sein wei¬
teres Leben hat für die Literaturgeschichte kein Interesse, er blieb der gefeierte
Dichter, wurde von Briefen und Reisenden heimgesucht und fuhr fort, an sich
und andern Erperimente zu machen. ,,Jeder, der ihm nahestand, geschweige
der an ihm herauswuchs, konnte das eigentliche und wahre Ziel seines Stre-
bens in nichts Anderem erblicken, als ein großer Dichter, Gelehrter und
Schriftsteller zu werden, und davon waren selbst weibliche Wesen nicht aus¬
genommen. Wie lange glaubte seine älteste Tochter, die allerdings am läng¬
sten und am meisten mit ihm verkehrte, von sich das Nämliche, und ihre
Pflicht, unverheirathet zu bleiben, um nach des Vaters Tode in seiner Weise
fortzufahren! ... Da sie auf die täuschendste Weise sprach wie er, schrieb wie
er, so konnte sie leicht in glücklicher Selbsttäuschung in der vollkommenen
Aneignung dieser Form sich befriedigt glauben." — Er starb nachdem
er noch am Abend seines Lebens eine ziemlich leidenschaftliche Neigung zu
Sophie Paulus gefaßt hatte, jenem schönen Weibe, das durch den kurzen
Eheversuch mit A. W. Schlegel so unglücklich wurde.
Andauernde Volks- und Verfassungszustande sind stets mehr die Ursache
als die Wirkung der Negierungösysteme, beide zusammen sind die Wirkungen
der Volksnatur und übermächtiger allgemeiner Weltverhältnisse. Die deutsch,--
östreichischen Lande hatten fortwährend die Herrschaft der Ungarn und Böhmen,
dann der Türkei» von sich abzuwehren. Unter diesem Druck konnte kein städti¬
sches Wesen, kein reiches und unabhängiges Bürgerthum, keine große Nation
sich bilden. Als dann zur Zeit Ferdinands 1l. der östreichische und böhmische
Adel den Protestantismus ergriff, das Reich sprengen und Ungarn preisgeben
wollte, handelte es sich darum, ob in Oestreich Protestantismus lind Adels¬
herrschaft, in Ungarn türkisch-magyarische Zustände herrschen oder ob in dem
gesammten Reiche das deutsche Element erhalten werden sollte, um den, Preis
von Papstthum und Despotie. Die Nothwendigkeit, eine geschlossene Länder-
und Völkermasse in einer unumschränkten Hand zu erhalten, siegte, der
Provinzielle Geist, der Adel und seine Vorrechte wurden niedergeworfen. Nach
der verschwundenen Türkengefahr lagerte sich in Rußland eine neue Uebermacht
neben die östreichischen Lande. Daher die stumme Dienstbarkeit derselben unter
dynastische Interessen: der Volksgeist war gebrochen. Die großartigen Refvrm-
Pläne Kaiser Josephs U., die ungeheure Bewegung der französischen Revolution
gingen an Oestreich fast spurlos vorüber. Noch fand Lord Russell in
Wien die politische Erstarrung, Gleichgiltigkeit und Unwissenheit selbst über
Verhältnisse, deren Druck man empfand, vollständig. Fürst Metternich
konnte erklären, der letzte sein zu wollen, welcher der Bewegung der Welt
weichen werde.
Im Bewußtsein dieser Sicherheit wollte 18-is die östreichische Negierung
„eine Praxis liberaler Grundsätze sich gefallen lassen, wenn es nur mit Ruhe
und Ordnung zugehen könne." In diesen Zeiten trugen die Stände von
Steiermark und Tirol doch noch Bitten vor; die salzburger Stände pochten
auf ihre Befugniß, aus des Kaisers Munde selbst zu hören, ob er wolle,
daß die verarmten Bürger Salzburgs langsamen Hungertod erleiden sollten.
Damals waren noch oppositionelle Schriften über die Staatsverwaltung aus¬
drücklich erlaubt, eS galt noch der josephinische Satz, daß kein Lichtstrahl,
woher er auch komme, in der Monarchie unbeachtet bleiben solle: freisinnige,
selbst protestantische Lehrbücher waren noch in den Schulen gestattet. Derselbe
freiere Luftzug wehte in Mailand. sowol Graf Saurau, seit -1816 Präsi¬
dent der mailänder Regierung, als der josephinische jesuitenfeindliche Erzbischof
Gaisrück hatten Herz und Verständniß sür die Italiener. Er suchte in der
Verwaltung die Einrichtungen und die Beamten des Königreichs Italien mög¬
lichst zu erhalten, er widersetzte sich den geistlichen und adligen Ultras und
rieth der Regierung, auf den thätigen und aufgeklärten Mittelstand sich zu
stützen. Aber er wurde verdächtigt und als Gesandter nach Toscaria inS Erik
geschickt. Zugleich wurde Graf Sedlnitzky in Wien Polizeipräsident. Von
da an bis 1848 Absperrung gegen das Ausland, schärfste Überwachung aller
Rede, Lehre und Schrift, Angeberei und Späherei.
Im 18. Jahrhundert lebten in der Lombardei Oestreicher und Italiener
in friedlicher Eintracht, italienische Staatsmänner bekleideten in Wien die
höchsten Aemter, deutsche in Mailand; die lombardische Geistlichkeit war frei¬
sinnig und durch und durch jansenistisch, die Verwaltung national. Zu Ende
des 18. Jahrhunderts war durch die französischen Republiken in Italien der
Geist der Freiheit geweckt worden, nach dem Falle derselben blieb in dem
Königreich Italien ein nationales Leben; Napoleons Herrschaft war von freien
und heilsamen Einrichtungen begleitet. 1814 kehrten die Oestreicher zurück,
aber nicht mehr mit dem frühern Negierungösysteme. 181S wurde die verhaßte
Conscription angeordnet, die so laute Unzufriedenheit hervorrief, daß man die
Ausführung zwei Jahre unterlassen mußte. 1820 wurde sogar die Dienstzeit
verdoppelt. Die beiden Haupttheile deö lombardisch-venetianischen Königreichs
wurden möglichst getrennt gehalten unter zwei Gouverneuren, als zwei Pro¬
vinzen, mit Verschiedenheiten in der Verwaltung und Besteuerung, sie waren
getrennt durch eine Zolllinie, die erst 1822 fiel. Von einer nationalen Ver¬
waltung war keine Rede. Der Vicekönig, seit 1818 Erzherzog Rainer, war
machtlos; er gab seine Autorität an die beiden Gouverneure ab, diese die
ihrige an die wiener Hosstellen. Das östreichische Ehegesetz, das östreichische
Strafgesetz, die Gerichtsordnung und das bürgerliche Gesetzbuch wurden
nacheinander eingeführt, ohne Anbequemung an die Landessitten und Ge-
wohnheiten. Ueber das Strafgesetz sprachen Thatsachen das Urtheil: die
Naubanfälle in der Lombardei mehrten sich und Mailand glich des Nachts
einer belagerten Stadt. In allen Gerichten waren der Vorsitz und die
höchsten Stellen Deutschen vorbehalten, die Criminalhöfe beider Apellations-
gerichte konnte man jederzeit blos aus Deutschen zusammensetzen. Gras Lasanski
äußerte: „Man müsse Italien germanistren" und die Spruchsatire nannte
den Deutschen unter den drei Pester, welche das Schicksal über daS Land
verhängt habe.
Polizeiwesen und Späherei herrschten im weitesten Umfang. Metternich
erklärte, „daß die hohe Polizei jetzt mit der Politik enge verbunden sei und sie
in gewisser Weise selbst beherrsche." Selbst gegen die höchsten Beamten ging
der spähende Verdacht soweit, daß bei dem Postdirector Böcking in Mailand 18i8
alle ihre Siegel vorgefunden wurden. Eine Instruktion für die geheime Polizei
aus dem Jahre 1826 schreibt bis ins Einzelnste die geheime Bewachung nicht
nur der öffentlichen Meinung und der geheimen Gesellschaften vor, sondern
auch der Censurbehörden, der amtlichen und häuslichen Aufführung der Be¬
amten, der Lehren, des Lebenswandels und der Bekanntschaften der Geist¬
lichen und Lehrer, des Geistes und Betragens des Militärs, der fremden Besuche,
des Reisenden, des Briefverkehrs der Grenzländer und endlich der eignen Ver¬
trauten. Die Polizei sollte der „väterlichen" Negierung alle Privatverhält¬
nisse verrathen; sie sollte dem Staat alles ersetzen, waS anderswo die öffent¬
liche Meinung, Rede und Schrift weit zuverlässiger und offen und ehrlich
leistet.
Dasselbe System wurde auf alle andern Landestheile, auf das verfassungs¬
begabte Ungarn wie auf die harmlosen deutschen Erdtaube übertragen. Jede
Politische Selbstständigkeit, jede geistige Bewegung wurde gehemmt und selbst
den Aufschwung der materiellen Interessen hielt das Regierungssystem in
seiner Folgerichtigkeit nieder. Bis 1840 herrschte in Oestreich vollendeter
Stillstand.
Die unbeschränkte Machtvollkommenheit der Krone und ihrer Diener über
alle Angelegenheiten der Unterthanen blieb Grundlage des ganzen Staats¬
gebäudes. Die Regierung nahm nicht nur Macht und Gewalt, sondern auch
die Einsicht für sich allein in Anspruch. Sie erließ nicht blos Gesetze und
allgemeine Verwaltungsvorschriften, sondern bestimmte auch die Ausführung
derselben für jeden einzelnen Fall, für unvorgesehene Fälle mußte die Weisung
in Wien eingeholt werden. Nach einer Methode sollten von Wien aus die so
verschiedenartigen Länder des Reiches regiert werden, die Landesbehörden hatten
keinen selbstständigen Einfluß. Dieser unnatürlichen Centralisation gegenüber
herrschte in Wien völlige Einheitslostgkeit in der obersten Verwaltung. Es
bestand kein erster Minister. Der Kaiser, der sich rühmte, einen brauchbaren
Hofrath abgeben zu können, mischte sich persönlich in die Verwaltung ein und
von den verschiedenen einander coordinirten Hvfstellen mußte fast alles durch
Referate an den Thron gebracht werden. Nur langsam und schwerfällig kam
es von demselben in dem langen Jnstanzenzuge von den Acten zu den Facken.
Bisweilen griff auch der Kaiser, wie orientalische Fürsten, wohlthuend in
den Gang des Maschinenwcrks ein. Er stand dem Volke gegenüber als Herr
und Vater. In einem „Volksschulbuche" wurde gelehrt, der Herrscher sei
der Herr der Unterthanen und habe „alle Macht über ihren Besitz und
ihr Leben."
Durch ständische Rechte ließ die Negierung eine Schranke sich nicht setzen.
Der Form nach bestand zwar eine ständische Vertretung. Adel und Geistlich¬
keit hatten in derselben das Uebergewicht, durchschnittlich Dreiviertel der Stimmen.
Auch konnten nur sie landsäßige Güter besitzen. Landtagfähige Städte gab
es in Schlesien keine, in Galizien eine, in Böhmen rechtlich vier, aber
thatsächlich nur das eine Prag, in Mähren sieben mit nur einer Stimme, in
Niederöstreich mußten die städtischen Abgeordneten bei den Berathungen den
Saal verlassen. In Italien wurden die Mitglieder der beiden Centralcvn-
gregativnen aus den Präsentationslisten der Gemeinderäthe von der Regierung
ernannt, von der sie auch besoldet wurden und entlassen werden konnten. Ihr
Rath sollte gehört werden, wenn es der Regierung „gut dünken werde",
was in dreißig Jahren nicht eintrat. Selbst Bitten und Vorstellungen der
Stände aniwortete die höchste Ungnade. Sogar die Stände von Ungarn
wurden von -I8-I-I bis -I82L, die Stände von Siebenbürgen von 18-11
bis 1834 nicht berufen. Der östreichische Adel lebte ein Menschenalter
hindurch „ein Polypenleben, einen Winterschlaf", er hatte bis -1840 eine ver¬
krüppelte Existenz.
Das einzige Band der verschiedenen Nationalitäten des Reichs war die
katholische Kirche. Aber die Regierung benutzte sie wie den Adel nur als
ein Werkzeug zu ihren Zwecken, sie sah die Religion als einen Kappzaum für
das Volk an, die von ihr ernannten Bischöfe sollten die Anhänglichkeit an
den Kaiser zu einem kirchlichen Dogma machen. Der Kirche bedürftig, war
sie stets voll eifersüchtigen Mißtrauens gegen Rom und die Macht des
Papstes. -18-16 kam es sogar zwischen ihr und Rom zu einem förmlichen
Bruch. Der Papst hielt die Investitur italienischer Bischöfe zurück. Kaiser
Franz verbot seinen Bischöfen zur Consecration nach Rom zu gehen. Die
Spannung minderte sich erst, als der Papst -18-17 die Besetzung der vene-
tianischen Bisthümer durch den Staat zugab. Das absolute System will in
der Kirche einen zwar immer bereiten Gehilfen, aber keinen Nebenbuhler.
Ebensowenig vertrug sich der Absolutismus mit dem Protestantismus.
Die protestantische Kirche war der katholischen als eine gedrückte und kaum ge-
duldete untergeordnet. An der Spitze der protestantischen Consistorien standen
katholische Präsidenten; der Evangelische mußte seine Stolgebührcn dem katho¬
lischen Pfarrer entrichten und seine Ehen in katholischer Kirche aufbieten lassen,
auf seinem Todbette dem katholischen Geistlichen Zutritt gestatten. Er mußte
zum Hauser- und Güterkauf, zum Bürger- und Meisterrecht, zu akademischen
Würden und Civilämtern Dispensation nachsuchen. Nach 1834 wanderten
400 evangelisch gewordene Zillerthaler aus Tirol nach Preußen aus!, weil die
östreichische Regierung ihnen die Alternative stellte, entweder zur katholischen
Kirche zurückzukehren oder nach Siebenbürgen auszuwandern.
Die Schulen wurden zwar von der Regierung ausgedehnt und vervoll¬
kommnet, befanden sich aber gleichwol in traurigem Zustande. Obgleich das
schulpflichtige Alter in Oestreich nur von 6 bis 12 Jahren gerechnet wird,
so machen die schulpflichtigen Kinder nur den achten Theil der Bevölkerung
aus, während sie in Preußen den sechsten Theil ausmachen. Von diesen
2Vs Millionen schulpflichtiger Kinder in der Monarchie (Ungarn, Sieben¬
bürgen und die Militärgrenze ausgeschlossen) besuchten aber kurz nach Kaiser
Franzens Tode nur 1V-- Millionen wirklich die Schule. Lehrer und Schüler
wurden mechanisch abgerichtet und väterlich gegängelt. Die Negierung faßte
für die Lehrer wie für die Kinder selbst Jnstructionen ab, sie schrieb ihnen
Lehrbuch und Gebrauch desselben vor. Den Kindern schrieb sie vor, wie sie
sich in Schule und Haus, sogar auf dem unaussprechlichen Ort zu benehmen
hätten. Wie die Volksschulen für wohlgezogene Unterthanen, sollten Gym¬
nasien lind Universitäten für wohlabgerichtete Beamte sorgen. Auf den Gym¬
nasien war Naturgeschichte und Naturlehre ganz verbannt, Geschichte und
Geographie sehr beschränkt, die Sprachkenntnisse gingen im Griechischen nicht
über die Anfänge der Grammatik, im Lateinischen nicht über das Verständniß
des leichtesten Schriftstellers ohne Wörterbuch hinaus. Ueber sämmtliche
Schulen war die Geistlichkeit zum Wächter bestellt. Ohne ein gutes Religions-
zeugniß gab es keine Belohnung, kein Vorrücken der Schüler auf der Uni¬
versität sowenig wie auf dem Gymnasium. Bald lernte indeß der Schüler, den
schlecht besoldeten Religionslehrer mit Einladungen und Geschenken zu bestechen.
Von diesem System sagten die Italiener, es hätte in der Lombardei mehr
Skeptiker gemacht, als die Voltairesche Schule in Frankreich.
Der Geist des Auslandes wurde abgesperrt, der Besuch auswärtiger
Universitäten verboten. In östreichische Anstalten sollten weder Lehrer noch
Schüler des Auslandes eindringen. Die fremde Literatur wurde durch die
östreichische Censur abgewehrt. Eine unermeßliche Kluft entstand dadurch
zwischen Deutschland und Oestreich.
Die Finanzen waren zerrüttet. Die Zinsen für die Staatsschulden
betrugen 1816 3,381,690 Florin: 1842 betrugen sie 49 Millionen jährlich.
Der Finanzaufwand hatte sich in 26 Jahren mehr als verachtfacht. 1815,
nach hergestellten Frieden betrug die Summe des umlaufenden Papiergeldes
700 Millionen Gulden, deren Cours bis 1816 bei zunehmender Entwerthung
den stärksten Schwankungen (zwischen 300 bis 430) ausgesetzt war. 1820 hatte
die Regierung allerdings das umlaufende Papiergeld auf 430 Millionen Florin
reducirt und den Cours desselben auf 230 gehoben. Diese Summe konnte mit
einem jährlichen Aufwand von 4 Millionen Florin in 43 Jahren eingezogen
werden. Die Regierung aber überließ diese Operation der Bank. Sie
erreichte zwar dadurch die Einlösung in der halben Zeit, aber um den Preis
einer Reihe von Anleihen, die der Bank zuflössen und eine jährliche Zinsenlast
von 4 Millionen Florin dem Staat hinterließen. Die Bank wurde überhaupt
auffallend begünstigt. 1823 verpflichtete sich die Negierung, der Bank die
Baarschaften zur Verfügung zu stellen, deren sie zur Einwechselung der Banknoten
bedürfen würde. Die Bank konnte seitdem in ihren Geschäften ihren Reali-
sirungsfonds bei weitem überschreiten: der Staat war für ihre Verbindlichkeiten
Solidarschuldner. Sie gewann ungeheure Summen. Die Dividende war 1810
auf 90 Florin, die Actien von 300 Florin auf 1883 Florin gestiegen. Dabei
kam sie als Discontobank nicht der Industrie und dem kleinen Handel, sondern
wesentlich nur den großen wiener Handelshäusern zu Gute, welche große Geld¬
summen zu 4 Procent erhalten und zu 6 Procent im Lande anlegen konnten.
Diese Begünstigung der Bank lag in dem ganzen politischen System, welches
in den bevorzugten Staatsgläubigern eine Geldaristokratie schuf, die den alten
bevorrechteten Ständen, dem Adel und der Geistlichkeit, das Gegengewicht hielt,
ohne die Ansprüche derselben zu erheben. Dazu kommt die Solidarität unter
der europäischen Geldaristokratie, welche die auf Europa lastenden 20 Mil¬
liarden Florin Schulden zu besorgen hat. Der gefesselte Eigennutz derselben ver¬
bürgt die Fügsamkeit im Innern und die Ruhe nach außen.
Die Leichtigkeit, nut der die Regierung durch Anleihen finanzielle Hilfs¬
mittel sich beschaffte, erschlaffte die Triebfedern sorgsamer Verwaltung; Handel
und Industrie wurden eher gehemmt als gefördert. Ungarn verblieb in
seiner Zollisolirung. Die Zwischenzolllinien der übrigen Landestheile wurden
erst 1826 aufgehoben, aber nicht vollständig. Das Prohibitivsystem mit Grenz¬
bewachung, Schmuggel, mit den Controlebefugnissen der Zollbehörden hemmte
die Bewegung des Handels. Nach außen fehlten Häfen und Ausmündungen,
Ein- und Ausfuhr blieben gering. Venedig, eine der wenigen Hafenstädte,
hatte von 1814- bis 1818 ein Drittel seiner Bevölkerung verloren; ein zweites
Drittel lebte von Unterstützungen. Die Dampfschiffahrt zwischen Trieft und
Venedig beutete noch 1828 ein monopolisirter Engländer aus; erst Herr von
Brück, ein Rheinpreuße von Geburt, schaffte Trieft von seiner trefflichen Lage
Vortheil. Der östreichische Handel aus östreichischen Schiffen blieb geringfügig;
der kleinen Handelsflotte fehlte der Schutz einer Kriegsflotte. 18-14 übernahm
die Pforte vertragsmäßig die Sicherstellung der östreichischen Handelsschiffe ge¬
gen die Barbaresken. Die acht Kriegsschiffe und sieben Fregatten, welche
Oestreich im Jahre -18-16 in Venedig vorfand, ließ es verfallen; es hatte
England die Zusicherung geben müssen, keine großen Schiffe auf dem asiati¬
schen Meere zu halten.
Noch schlimmer lag der Landbau darnieder. Für Befreiung und Beweg¬
lichkeit des Grundeigenthums geschah nichts; Grundeigenthum konnte nicht von
Juden, die landschaftlichen Güter in den deutschen Landen konnte nur vom Adel
und vom Bürgerstand der landtagfähigen Städte erworben werden. Das Unter¬
thanenverhältniß der Gutsbauern, die feudalen Dienstbarkeiten, Roboten und
Zehnten verblieben. Noch in den vierziger Jahren wurde das Anerbieten
der Grundherrn zur Auseinandersetzung der bäuerlichen Verhältnisse zurück¬
gewiesen, bis die galizischen Ereignisse eintraten. Oestreich, das Europa mit
einem großen Theil seiner Kornbcdürfnisse versehen konnte, erzeugte nicht ein¬
mal seinen eignen Bedarf. In diesem Lande reichlicher Weiden betrug der
Ueberschuß der Vieheinfuhr über die Ausfuhr fast zwei Millionen. Mit Aus¬
nahme der gesegneten Lombardei brachte die Bodenfläche im Reiche kaum den
dritten Theil dessen, was sie liefern konnte. Es fehlte an jeder staatlichen
Forderung. Dazu kam, daß der Landwirth ein hohe directe und zu Gunsten
der Industrie eine nicht minder hohe indirecte Steuer zahlte, abgesehen von
denjenigen indirecten Steuern, welche Bettel, Klöster, Küchenlurus, unmäßige
Feier- und Wallfahrtstage verursachten. In Niederöstreich verschlang die
Schuldenlast das bäuerliche Grundeigenthum zu ^, in dem salzburger
Flachlande zur Hälfte, im Gebirgslande ganz. Dabei hielt der Staat seine
lästigen und schädlichen Salz- und Tabaksmonopole aufrecht, Ungarn blieb
von der Theilnahme an den Staatslasten zum Nachtheil des Reichsgan¬
zen erimirt, während die italienischen Provinzen, nach der Oberfläche ^g, nach
der Bevölkerung ^ des Reiches, über Vs der gesammten Grundsteuer bezahl¬
ten; die Metternichsche Kanzlei behauptete zwar, „die Lombardei könne mit dem
Golde gepflastert werden, das sie seit 30 Jahren erhielt," aber die Italiener
berechneten aus amtlichen Quellen, daß von den 78 bis 79 Millionen Lire lom-
bardischer Einkünfte Oestreich nur j3 Millionen auf das Land und seine Ver¬
waltung verwendet hat, daß der Lombardei 33, den italienischen Provinzen zu¬
sammen mit dem Zuschlag der verhältnißmäßigen venetianischen Ueberschüsse 37
bis 38 Millionen Lire jährlich entzogen wurden.
Das waren die Zustände in dem Musterstaate contrerevolutionärer Theorie.
Die Regierenden machten ausschließlich den Staat aus und deuteten ihn zu
ihrem Vortheil aus. Erst als seit dem Thronwechsel von -1840 in Preußen
ein neuer Lebenstrieb sich regte, trieb die nationale Eifersucht auch in Oestreich
zu einer neuen Bewegung der Geister und ergriff auch Staat und Regierung.
Erst seitdem fing man in Oestreich an zu begreifen, daß wahrhaft erhalten
nur da werde, wo fortwährend geschaffen wird (Is, eonservalion par 1e
prvArss.)
Es kann nicht meine Absicht sein, hier in eine Erörterung der einzelnen
Manieren einzugehen, nach denen verschiedene ausgezeichnete Ingenieure, auf
Grundlage des Bastionärsystems, Befestigungen ausgeführt haben. Nur das
eine sei hier bemerkt, daß die Länge der Linien auf die Tragweite des kleinen
Gewehrs berechnet wurde, mithin die Flanken, von den Endpunkten der Facen,
welche sie zu bestreichen bestimmt sind, nicht über diese Tragweite hinaus ent¬
fernt liegen durften, was für die. ganze Fronte oder für den Raum zwischen
je zwei Bastionsspitzen eine Ausdehnungsweite von 30V Schrill im Mari-
mum ergibt.
Demnach ist man im Stande, mit sechs bastionirten Fronten (falls man
die Bastionen selbst mit einrechnet) einen Kreisraum von gegen 1000 Schritt
Durchmesser zu umfassen. Eine Festung dieser Größe oder ein reguläres
bastionirtes Sechseck, bietet also für den inneren Anbau, für Häuser, Straßen
und Plätze ein kreisförmiges Areal von etwa siebenhundert Schritt Durchmesser
dar, sie hat sechs Bastionen, sechs Courtinen, ebensoviele Naveline und doppelt
soviele Flanken, endlich einen gedeckten Weg von etwa viertausend Schritt
Umfang.
Falls dieser Platz in der offenen, stromlosen Ebene errichtet wird, mag
eine jede seiner Fronten dieselbe Stärke, wie die übrigen besitzen. Dieses
ändert sich nur dann, wenn Verhältnisse des Terrains und der Oertlichkeit
auf die VertheidigungSfähigkeit Einfluß üben, und damit das ursprüngliche
Gleichgewicht aufheben, Umstände, unter welchen die Ingenieure, und zwar
mit Recht, es stets für eine ihrer Hauptaufgaben erkannten: die schwächeren
oder bedrohteren Fronten durch einen Zusatz von fortificatorischen Arbeiten zu
verstärken. Einer Festung von angenommen sechs Fronten würde es nämlich
nicht zu Gute kommen, wenn (von diesen sechs) fünf außerordentlich stark, da¬
gegen die sechste schwach wäre, weil selbstredend der Angriff, falls er rationell
zu Werke ginge, sich auf diese werfen, und hier durchbrechend, die übrigen in
den Rücken nehmen, mithin jeden ferneren Widerstand derselben unmöglich
machen würde.
Will der Ingenieur eine einzelne bastivnirte Fronte verstärken, so kann
er zu diesem Zweck einen von zwei Wegen einschlagen; entweder wird er sich
darauf beschränken, die fortificatorischen Elemente (siehe oben) der Fronte selbst
zu einer größeren Widerstandsfähigkeit zu erhöhen, indem er den Graben tiefer
ausschachten laßt, die Scarpcn höher aufführt, der Brustwehr eine größere
Stärke, dem Wallgang mehr Breite gibt, oder er legt vor die vorhandenen
Werke andere vor.. Im Sinne des Bastionärsystems kann dies nicht anders
als mittelst einer vorgeschobenen Fronte geschehen, (d. h. mittelst zweier halber
Bastionen nebst einer sie verbindenden Courtine) welche man durch nach rück¬
wärts laufende Anschlußlinien mit dem Corps de Place verbindet, wonach das
Ganze den Namen Hornwerk erhält. Es wird diese vordere Fronte in der
Regel kürzer ausgeführt, wie die rückgelegene (anstatt fünfhundert Schritt nur
dreihundert lang) damit diese im Stande ist, sie von beiden Seiten her zu
überflügeln, und die Anschlußlinien zu flankiren. Will man zwei nebeneinan¬
der gelegene Fronten verstärken, so kann man sich zu diesem Zweck des Kronen-
Werks d. h. zweier zusammenhängender vorgeschobener Fronten bedienen, deren
Mittelbastion dann auf der Capitale des entsprechenden Werkes der Hauptlinie
zu liegen kommt. Die doppelte Krone setzt sich aus drei vorgeschobenen Fron¬
ten zusammen, und vermag eine gleiche Anzahl rückliegender zu decken. End¬
lich führt, bei größeren Festungen, die Verstärkung einer ganzen Reihe von
Fronten des Corps de Place zur vorgeschobenen Umfassung oder zweiten
Enceinte.
Allerdings hat man sich für die vorgeschobenen Werke nicht immer der
Bastionsform bedient. Man hat, vielleicht ebenso oft, der Tenaille den Vor-
9/geben, oder der Flesche; indeß, wenn das Terrain nicht bedingend dabei
war, nur infolge einer Inconsequenz, welche das auf der Hauptlinie als
bestes erkannte System nicht ebenfalls als solches auf der vorderen Linie gel¬
ten lassen will.
Die bastionären Befestigungen besitzen, wie nicht zu leugnen ist, eine be¬
deutende frontale Stärke; ihre einzelnen Linien sind zum Theil im Stande,
sich in einem hohen Maße untereinander zu unterstützen und namentlich liegt
der Graben im Bereich eines äußerst wirksamen Feuers. Dazu kommt, daß
dieses System, wie eben entwickelt worden ist, etwaige vorhandene Schwächen
durch die Mittel, welche es bietet, in einer dem Ganzen entsprechenden Weise
auszugleichen und, je nach Belieben, eine, oder zwei, oder drei Fronten oder
eine ganze Reihe zu verstärken vermag, indem es aus dem Vorterrain ein Horn¬
werk, oder eine Krone, eine doppelte Krone oder eine zweite Enceinte errichtet.
Seine Mängel sind, daß es seine Mittel immerhin nur in linearer Form
zu entfalten vermag. Seine Stärke ist sozusagen nur frontaler Natur.
Nachdem eine einzige Hauptfronte durchbrochen worden, hört sein Widerstand
auf, weil damit alle anderen Hauptfronten sofort in den Rücken genommen
sind. Hierzu kommt noch folgendes hinzu. Das Ravelin entspricht offenbar
nur dann seinem Hauptzweck, welcher kein anderer ist, als die Courtine zu
decken, und sein Graben kann nur dann wirksam von rückwärts her bestrichen
werden, wenn die Verlängerungen seiner Facen in die Bastionsfacen einschnei-
den. Unter solchen Umständen aber ist die Courtine von jeder Action nach
außen hin mittelst ihres Feuers ausgeschlossen, weil das vorgelegene Werk
(Ravelin) sie verdeckt. Auf das Cvmmandement der ersteren Linie über das
Navelin ist in dieser Hinsicht nur wenig zu geben, weil seine normale Höhe
von einigen Fußen zwar den directen Schuß von der Courtine aus an sich,
aber, wenn das Vorwerk besetzt ist, nicht das gleichzeitige Feuern gestattet.
Die Courtine wird daher selten zum Schlagen kommen und ist um deswillen
in gewisser Hinsicht unnütz. Gleichzeitig aber ist das Navelin, welches die
Wirksamkeit der rückgelegenen Linie nach außen hin behindert, in seiner eignen
beschränkt, weil es jenseits des Grabens gelegen ist, mithin mit allen Mängeln
des Zusammenhanges und der Versorgung zu kämpfen hat, welche eine solche
Lage erzeugt. Hieraus folgt einfach, daß, weil vermöge dieses Uebelstandes
das Ravelin nicht zu einer energischen und ausdauernden Vertheidigung be¬
fähigt ist, die Cvurtine aber kein breites Schußfeld und mithin keinen Wir¬
kungsbereich vor sich hat, die Defensive ihren eigentlichen Knotenpunkt im
Bastion besitzt. Dieses wird umsomehr jedem einleuchten, welcher den Um¬
stand beachtet, daß je zwei benachbarte Bastionen durch das Feuer ihrer Flan¬
ken die einander zugewendeten Hauptlinien (Facen) wechselweise zu bestreichen
vermögen; daß die Cvurtine, welche sie verbindet, den wesentlich activen Schutz
durch sie erhält, und letztlich der Graben und das Vorterrain des Ravelins
von ihren Facen flcmkirt werden. Kein anderes Werk im System spielt eine
ähnliche Rolle. Wäre daher das Bastion thatsächlich eines seinen wichtigen
Functionen entsprechenden Widerstandes fähig, so würde, weil auf jenem die
Sicherheit aller anderen Theile der Fronte beruht, diese selbst dadurch an
Stärke gewinnen. An einer wirksamen Erfüllung seiner durch die Lage ihm
zugeschriebenen Obliegenheiten wird das Bastion durch die Kürze seiner Linien
verhindert. Im Besonderen unzureichend ist die Länge der Flanken, weshalb
schon früh die Nothwendigkeit sich geltend machte, hier ein Etagenseuer zu
arrangiren. Aber auch die Facen sind von unzureichender Abmessung, zumal
wenn man erwägt, daß sie wegen der Maskirung der Courtine durch das
Ravelin im engeren Sinne die frontale active Vertheidigung allein auf sich zu
nehmen haben. Niemand, welcher daS Vorhergehende richtig aufgefaßt hat,
wird hier den Einwand erheben: man könne diesen Uebelständen abhelfen, in-
dem man das Bastion vergrößere; denn damit wulde man auch zugleich die
ganze Fronte erweitern, mithin die Möglichkeit ausgeben, von den Flanken
aus die Facen mit dem kleinen Gewehr zu bestreichen. Wenn dergleichen
Rücksichten auch heute wenig bindend sind, waren sie es doch entschieden zur
Zeit als das bastionäre System sich ausbildete. Uebrigens komme ich im
weitern Verlauf des Aufsatzes auf diesen Punkt zurück.
Vermöge ihrer kurzen Linien sind die Bastionen an sich klein, und wiederum
können sie um deswillen wenige Vertheidigungskräfte aufnehmen, mithin auch
dem Angriff, der sich gegen diese Knotenpunkte vornehmlich hinwendet, einen
nur beschränkten Widerstand entgegensetzen. Jene wenigen Vertheidigungskräfte
befinden sich aber außerdem in einer ungünstigen Situation, denn wenn an und
für sich der knapp bemessene innere Raum ein Zusammendrängen von Mann¬
schaften und Geschütz veranlaßt, und damit die Wirkung namentlich des feind¬
lichen Wurfseuers befördert, so sind zugleich Facen und Flanken derartig zü-
einandergelegcn, daß Kugeln des Gegners, welche erstere in der Fronte fassen,
nicht selten für letztere Nückenschüsse werden.
Hiermit sind nur die Hauptgründe berührt, auf denen die Schwäche des
bastionären Systems beruhet. Der Mann, welcher dieselben zuerst vollständig
und mit Schärfe und Klarheit entwickelte, war der französische Marquis
Montalembert, ein Zeitgenosse Friedrichs II. und der französischen Revolution
(1713—1799). Er ist zugleich, — und daS macht sein Hauptverdienst aus,—
der Schöpfer zweier neuen Befestigungssysteme, die unter dem Namen der
Montalcmbertschen Tenaillen- und Polygonalbefestigungsentwürfe bekannt ge¬
worben sind. In diesen' seinen Vorschlägen sind allerdings manche Ideen
enthalten, die augenscheinlich aus den Werken älterer deutscher Ingenieure
(namentlich Dürers, Nimplers und LandsbcrgS) entnommen sind; was indeß
durchaus nicht seine Ansprüche auf den Namen des ersten Ingenieurs seiner
Zeit, vielleicht aller Zeiten! mindert. Von dem Erscheinen seiner -Werke an
datirt die Reformation, der fortificatorischcn Kunst und Wissenschaft. Zwar hat
er im allgemeinsten Sinne nicht neue Grundformen für dieselbe geschaffen;
ganz sicherlich indeß sind eS durchaus neue Principien, die er in seinen Ent¬
würfen gegeben hat.
Im Unterschiede von seinen Vorgängern, namentlich von Vaubnn, erkannte
Montalembert nicht länger im kleinen Gewehr, sondern entschieden im Geschütz,
die vornehmliche Vertheidigungswaffe der Festungen. Mittelst desselben strebte
er nicht allein die fortificatorische Defensive mit dem Angriff ins Gleichgewicht
zu stellen, sondern er suchte und hoffte ihr die Ueberlegenheit über denselben zu
sichern. Sein Hauptgrundsatz aber war der: daß der Ingenieur im Stande
sei, auf jeder Fronte, durch casemattirte Etagenbatterien dem Angriff nicht
nur eine gegen den directen Schuß wie gegen Verticalseucr wohl gesicherte,
sondern auch eine- an Stückzahl ungleich beträchtlichere Artillerie entgegenzu¬
stellen. Diese seine Maxime führte ihn nothwendig zum Widerspruch mit der
sonst giltigen fortisicatorischen Negel: daß man Mauerwerk stets der directen
Feuerwirkung des Feindes durch Contreescarpe, Glacis oder Wall zu entziehen
habe. Den Einwand, daß er, indem er seine Mauern der Einsicht und dem
directen Schuß preisgebe, deren frühzeitige Zerstörung durch den Feind ermög¬
liche, stellte er die Behauptung entgegen: daß seine artilleristische Ueberlegen-
heit ein Auskommen der Angriffsbatterien unmöglich mache.
Was abgesehen von diesen neuen Ansichten in Betreff der Arrangirung
des Profils, die Verhältnisse des Grundrisses angeht, so konnte Montalembert
sich auf keine andern Formen basiren, als auf diejenigen, welche ich bereits
bei Erörterung der Grundzüge der Feldbefestigung berührte. Da er die Lünet-
ten mit Zwischenlinien oder das bastionäre System behufs der Herstellung
seiner Hauptumfassung (Enceinte) verwarf, so verblieb ihm nur, den zu fortist-
cirenden Raum durch ein- und auöspringende Winkel zu umziehen und dem¬
gemäß das Ganze als große Sternschanze zu behandeln, oder es in zusammen¬
hängende gerade Linien einzuschließen d. h. es als große vielseitige Redoute
zu behandeln. Die erstere Manier nennt er sein Tenaillen- und die zweite
sein Polygonalsystem. Seine KreiSbesestigung kann als eine Combination des
ersteren Systems mit dem letzteren angesehen werden. Desgleichen sind seine
Festungsthürme als feste, gemauerte Redouten zu betrachten.
Die Vorzüge des Tenaillen- lind Polygonalsystems vor dem bastionären
werden für den Leser am klarsten hervortreten, wenn ich erstere helpe mit dem
letzteren direct vergleiche.
Denkt man sich die Facen des Navelins dergestalt nach rückwärts verlängert,
daß sie in die Facen der Bastionen einschneiden, so werden, wenn gleichzeitig
Flanken und Courtine in Wegfall kommen, jene eine zusaimnenhängende En¬
ceinte formiren, welche der Idee der Montalambertschen emaillirter Umfassung
conform ist. Diese Enceinte wird zugleich stärker sein, wie die frühere bastio¬
näre, weil keine Trennung der Vertheidigungskräfte durch den Hauptgraben
stattfindet; weil der mittlere aufspringende Winkel, der frühere Ravelin, nun¬
mehr ebenfalls als ein Knotenpunkt der Vertheidigung gelten kann, und
Mannschaften wie Geschütze in den aufspringenden Winkeln weniger den
Rückenschüssen preisgegeben wird, als dies in den Bastionen der Fall ist; end¬
lich weil im eingehenden Winkel eine jede Linie zur andern in das Verhält¬
niß einer Flanke, nicht nur behufs der Grabenbestreichung, sondern auch des
Vorterraius, tritt. Es wird diese Enceinte aber auch zugleich weniger kost¬
spielig sein, als die bastionirte, weil bei ihr Bastionsflanken und Courtine er¬
spart werden. Der eingehende Winkel hat in diesem System, selbstredend ein .
bestimmtes Maß, nämlich 90 Grad, weil uur diese Größe den Bedingungen
einer guten Flankenwirkung entspricht. Der ausgehende Winkel ist in der
Größe nicht beschränkt, aber er darf nicht kleiner als 60 Grad sein, um
noch ausreichende Vertheidigungskräfte fassen zu können. Hieraus erhellt,
daß jede tenaillirte Festung mindestens zwölf ausgehende und ebensoviel ein¬
gehende Winkel umfassen muß; was indeß nicht hindert, mittelst dieser Manier
noch einen Raum zu befestigen, der nicht größer wie der vom bastionirten Viereck
umschlossene ist.
Dieser großen Vorzüge ungeachtet hat bei den neueren Festungsbauten
das Tenaillenfystem nur äußerst beschränkte Anwendung gefunden, und zwar
darum, weil das polygonale noch weit eclatantere Vortheile bietet.
Auch den älteren Ingenieuren, die nach den Regeln des bastionären
Systems befestigten, war klar, daß sie eine größere frontale Feuerwirkung er¬
reichen und die Baukosten aus das geringstmögliche Minimum reduciren würden,
wenn sie, anstatt die Fronte gebrochen, als Facen, Flanken und Courtiue zu
führen, dem Feinde auf dem Raume zwischeu zwei Bastionsspitzen eine einzige,
gerade Walllinie mit vorliegendem Graben entgegenstellten; aber diese einfachste
aller Fronten war augenscheinlich ohne Flankirung, d. h. das Vorterrain war
nur von vorne, nicht von seitwärts, und der Graben gar nicht bestrichen. Um
den letzteren Zweck zu erreichen, erfand Montalembert,, allerdings auf Grund¬
lage einer älteren Idee von Dürer, die Caponniere, während er für den ersteren
verschiedene Werke jenseits des HauptgrabenS errichtete, die im Grunde ge¬
nommen keiner anderen Idee als der des Ravelins entsprechen. Mir kommt
es hier vor allen Dingen darauf an, dem Leser klar zu machen, was er unter
einer Caponniere zu verstehen hat. Er stelle sich als solche ein großes massi¬
ves, längliches Blockhaus vor, welches in der Mitte der Fronte auf der Sohle
des Grabens gelegen ist, und zwar dergestalt, daß es mit seinen langen Seiten
den Graben entlang schaut, während seine kurzen, mit der betreffenden Contre-
eSearpe und Escarpe parallel laufen. Will man den der Contreescarpe
zugewendeten Theil der Caponniere von der Escarpe her flankiren, so wird
wein ihm eine Spitze ansetzen. Bei einer Frontlänge von 500 Schritt oder
der größten, die das bastionäre System gestattet, wird die Mittellinie der Ca¬
ponniere von den Enden der Fronte oder den (aufspringenden) Winkeln des
Vielecks (Polygons) nur 230 Schritt abliegen; was etwa hundert Schritte
weniger ist wie die Entfernung der Bastionsflanken von dem betreffenden
Punkte. Hieraus erhellt aber, daß, wenn man im Polygonalsystem für die Fronte
die größte Tragweite des kleinen Gewehrs ausbeuten will, man sie um beinahe
200 Schritt länger wie die bastionäre Fronte machen kann, oder mit anderen
Worten, daß diese Manier, im Vergleich mit der bastionären, zur Umfassung
eines gleich großen Raumes entweder einer geringeren Anzahl von Fronten
bedarf, oder, bei gleicher Anzahl, die ihrigen durch eine stärkere, weil näher
gelegene Bestreichung der aussprengenden Winkel zu sichern vermag. Ent¬
scheidet man sich für die' längeren Fronten, so ist klar, daß man auf denselben
eine größere Anzahl von Vertheidigungsmitteln aufstellen kann, daß man für
den ganzen Platz weniger Caponnieren bedarf, daß der Sicherheitsdienst wah¬
rend der Belagerung sich vereinfacht u, f. w.
Mit Ausnahme der Kreisbefestigung, welche hier unerörtert bleibt, weil
ihrer praktischen Anwendung Hindernisse entgegenstehen, ist kein System so sähig,
bei einer gegebenen Wallausdchnnng einen gleich großen Raum einzuschließen,
wie das polygonale. Bei keinem liegen die Flanken, auf deren Sicherung das
Heil des Ganzen beruht, so wohl gedeckt, denn der Feind kann die Caponnieren
erst sehen, wenn er auf der Contreesearpe angekommen ist und sie zu zerstören
wird er nur von den aufspringenden Winkeln derselben Linie her im Stande
sein; kein andres System ist so durchaus gegen die Wirkung von Rückcnschüssen
gesichert und endlich gestattet keins eine so kräftige Vertheidigung der Bresche,
weil kein andres der Defensive für diesen Zweck einen gleich unbeschränkten
Raum zur Aufstellung und Handhabung der Streitkräfte darbietet. Daß es
in Hinsicht aus die Kosten an Wohlfeilheit jede andre Befestigungsmanirr über¬
trifft, liegt außerdem so klar vor Augen, daß dieser Punkt hier keiner weitern
Erörterung bedarf.
Diese großen Vorzüge des Polygonalsystems sind entscheidend für seine
beinahe ausnahmsweise Anwendung bei sämmtlichen großen FestungSneubauten
in fast allen europäischen Ländern, wo solche zur Ausführung kamen, gewesen.
Man hat dabei nicht alle Vorschläge des großen Meisters, namentlich nicht
diejenigen verwirklicht, welche auf die Ausstellung der größtmöglichen Geschütz¬
zahl lmnielen, weil sich dieses von selbst aus Gründen einer vernünf¬
tigen Oekonomie verbot, aber alles andre fußt auf seinen sonstigen großen
Principien.
Für den heutigen Ingenieur darf es als eine unumstößliche Thatsache
gelten, daß mit dem Polygonalsystem die beste Methode zur Herstellung einer
starken Enceinte gegeben worden ist, welche überhaupt gedacht werden kann;
daß nicht zu erwarten steht, es werde in Zukunft irgendwelche wesentliche Ver¬
änderung in dieser Hinsicht zur Geltung kommen und daß, falls unter der
Befestigungskunst nur das zu verstehen wäre, was die ältern Ingenieure in
diesen Begriff hineinlegten, nämlich die Kunst, einen gegebenen Raum durch
fortificatorische Mittel gegen den feindlichen Zugang abzuschließen und der
Vertheidigung auf dieser abschließenden Linie alle Vortheile zu sichern, dieselbe zu
ihrem Schluß gekommen,/ mit andern Worten, das ihr zu Grunde liegende
Problem gelöst sein würde.
Montalembert kann nicht als der Erste bezeichnet werden, welcher es aus¬
gesprochen, daß die Kunst des Ingenieurs weiter gesteckte Grenzen habe, als
die Schaffung von Umfassungen oder Enceinten; aber zum wenigsten hat er
es völlig klar und faßlich gemacht, warum die Befestigung sowol auf den von
der Hauptlinie umschlossenen inneren Raum als auch auf den vor ihr gelegenen
äußern, als auf ein zweites und drittes Feld zur Entfaltung ihrer Mittel hin¬
gewiesen ist und was sie auf beiden anstreben soll.
Wie groß und weitgcdehnt auch immerhin eine Enceinte sein mag, läuft
sie dennoch, wenn nicht besondere Umstände hinzutreten, Gefahr, umschlossen zu
werden; das heißt, der Feind hat es in seiner Hand, sie mit seinen Streit¬
kräften rings zu Hingeben, einzuengen, ihr jede Verbindung nach außen ab¬
zuschneiden und sie damit außer Stand zu setzen, von außen her sich Ersatz,
sei es an Streitkräften, sei es an Mitteln zu verschaffen. Desgleichen mag
sie noch so stark sein, d. b. ihre Fronten mögen noch soviele Widerstands¬
fähigkeit besitzen, letztlich werden sie sich doch in dem Fall befinden, durchbrochen
zu werden und zwar wird alsdann der Durchbruch der einen Fronte als
Consequenz es mit sich bringen, daß alle andern in den Rücken genommen
sind.
Aus diesen Verhältnissen erwächst dem Ingenieur der doppelte Beruf,
einmal auf dem Vorterrain durch fortificatorische Mittel der Einschließung des
Platzes entgegenzuwirken und zum andern innerhalb des Umscklufses Anstalten
zu treffen, um den etwaigen Durchbruch des Feindes durch die Enceinte seine
obenerwähnten Conseauenzen zu nehmen. Ich werde hier zuerst die Aufgabe
auf dem Vorterrain in Erörterung ziehen.
Es ist ein taktischer Grundsatz, daß der Angriff es vermeiden soll, sich in
eine Lage zu begeben, wo er Feuer aus zwei Richtungen zu gewärtigen hat;
lemehr dasselbe ihn umfaßt, desto bedenklicher wird es, sich in seinen Kreis
hinein zu begeben. Er fürchtet in dieser Hinsicht die Bedrohung zweier
Flanken und der Fronte mehr, als die der Fronte und einer Flanke und am
meisten bangt er vor einer Bedrohung seines Rückens.
Denkt man sich noch innerhalb des Feuerbereichs einer Enceinte eine
Schanze in das Vorterrain vorgeschoben, so wird der Feind, falls er die Um¬
fassung angreifen will, seine Fronte aus obigen Rücksichten so wählen, daß
er noch außer Schußweite rechts oder links an dem detaschirten Werke vorbei
gehen kann; denn ging er innerhalb der Schußweite vor, so würde, ob er auf der
einen oder der andern Seite passirt, seine Fronte nicht nur, sondern auch je eine
seiner Flanken beschossen werden. Daraus ergibt sich, daß der Feind sich noch
viel weniger in die Linie zwischen der Schanze und der Enceinte begeben wird,
daß also diese, bevor sie genommen ist, eine enge Anschließung des Platzes
sür eine gewisse Raumstrecke unmöglich macht. Falls zwei Schanzen vor¬
geschoben sind, wird der Raum, auf welchem die Einschließungslinie ausweicht,
wachsen. Im Besondern wird der Feind es vermeiden, falls beide Werke unter-
einander im Feuerverbande stehen, zwischen ihnen hindurchzugehen oder sich in
den Zwischenraum einzuschieben. Denkt man sich die ganze Festung von einer
Linie detachirter Schanzen umschlossen, so muß für diesen Fall jedermann ein-
leuchten, daß dadurch der Feind von der Enceinte gänzlich abgedrängt sein
und für ihn die Frage entstehen wird, einen dermaßen erweiterten Vertheidi-
gungskreiö abzuschließen. Glaubt der Ingenieur, daß einer großen Belagerungs-
armee die Einschließung noch gelingen könne, so hat er als Auskunftsmittel
dagegen zu einer zweiten Linie detachirter Werke zu greifen, die noch im Feuer¬
kreise der erstem gelegen sein würde; ja es ist nicht undenkbar, daß er stellen-
weise eine dritte etabliren könnte. Sind die vorgeschobenen Schanzen von be¬
trächtlicher Stärke und in gewissem Sinne selbstständig, so nennt man sie
detachirte Forts. Nirgends hat das System den Vertheidigungskreiö in dieser
Weise zu erweitern, um den Feind fernzuhalten und die Einschließung zu ver¬
hindern, eine großartigere Anwendung gefunden, als bei der Befestigung von
Paris. Es ist klar, daß durch dieses Verfahren großen Festungen nicht nur
die Verbindung nach außen offen erhalten werden kann, sondern daß sie da¬
durch auch gegen das Bombardement so lange gesichert sind, bis die Linie der
Forts durch Eroberung einiger derselben durchbrochen ist, Außerdem wird damit
dem Vertheidigungskriege zwischen den detachirten Werken und der Enceinte
ein weiter, gesicherter Raum gewonnen, in welchem große geschlagene Armeen
Zuflucht finden können und wo sie zugleich sich in der Lage befinden werden,
unter günstigen Verhältnissen den Kampf wieder aufzunehmen. Daher der
Ausspruch: „unsre großen modernen Festungen sind befestigte Schlachtfelder."
AIS im Jahre 1806 die preußische Armee nach der unglücklichen Schlacht von
Jena unter den Kanonen von Magdeburg Schutz suchen wollte, vermochte
dieser Platz der an ihn gemachten Anforderung nicht zu entsprechen. Die
Infanterie fand im Innern nicht Raum genug und mußte im gedeckten Wege
und auf dem Glacis lagern. Wäre dagegen Magdeburg mit einer Linie de¬
tachirter Werke umgeben gewesen, so würde das geschlagene Heer hier einen
Ruhepunkt gefunden, sich reorganisirt und verstärkt haben und kaum hätte
Napoleon es unter solchen Umständen gewagt, die Elbe zu überschreiten.
Soweit von der durch den Ingenieur auf dem Vorterrain der Festung
zu lösenden Aufgabe. Jetzt zu der andern, die sich ihm im Innern der En¬
ceinte in Rücksicht auf einen etwaigen Durchbruch stellt.
Es ist klar, daß die Befestigungskunst hier zwei Wege und zwar entweder
je einen von beiden oder beide zugleich verfolgen kann. Sie kann nämlich
einmal es sich zum Ziel setzen, eine jede Fronte mit einem Rückenabschluß zu
versehen, dergestalt, daß die Enceinte, im Gegensatze zu der äußern Linie de¬
tachirter Forts eine innere Linie zusammengeschlossener Forts darstellt, das
andre Mal kann sie ein Kernwerk oder ein großes Reduit schaffen, welches
in der Mitte des Platzes gelegen, jeden Durchbruch in Fronte nimmet. End¬
lich kann sie ein Kernwerk und Nückenabschlüsse der Fronten gleichzeitig zur
Anwendung bringen.
Montalembert wendet, sowol als Rückenabschluß wie als Kernwerk und
Zwar als ersteres bei größern und als letzteres bei kleinern Festungskörper», fast
ausnahmlos den casemattirten Thurm an und zwar gewinnt er bei Formirung
von Abschnitten eben hiervurch den bedeutungsvollen Vortheil, daß dieselben
nach zwei Fronten hin vertheidigungsfähig sind, dergestalt, daß der aus der
durchbrochenen Fronte gelegene dem Durchbruch nach vorwärts entgegentritt,
l>ut wenn er ebenfalls überwunden, die andern dem Feinde nach rückwärts hin
begegnen.
Die moderne Festung gliedert sich hiernach in drei sozusagen concentrische
Vertheidigungsselder oder sie bietet der Defensive drei StellungSlinien dar,
von denen die der vorgeschobenen oder detachirten Forts einem ersten Treffen,
die der Enceinte der Kampflinie des zweiten und die der innern Werke der¬
jenigen der Reserve entsprechen. Man kann Zweifel dagegen erheben, ob diese
Positionen in jedem Fall zu verwerthen sein werden, d. l). ob sich die Ver¬
theidigung möglicherweise nicht auf dem ersten Felde bereits zu sehr schwächen
wird, als daß sie, nachdem sie von dort her zurückgeworfen, die Enceinte noch
nachdrücklich halten und endlich im Innern derselben Stellung nehmen könnte.
Aber gegen die Logik deS Arrangements im Allgemeinen wird sich schwerlich
etwas Erhebliches einwenden lassen.
Die Idee steht in Verbindung mit dieser Dreigliederung des Festnngs-
gnnzen, wonach ein jedes selbstständiges Werk, also insbesondere jedes deta-
chirte Fort oder Kernwerk, aus einer vorgeschobenen oder äußeren Umfassung,
einem Hauptumschluß und einem Neduit bestehen soll. In die Stelle der
erstern tritt der gedeckte Weg, bei kleinern Werken der Rondengang, d. h. eine
Position zwischen Esearpe und Wall, welche für Infanterie eingerichtet ist
und in der Negel der Hauptsache nach aus einer crenelirten (mit Gewehr-
scharten durchbrochenen) Mauer besteht.
Die ägyptischen Pyramiden in ihren ursprünglichen Bildungen nebst einer
Darstellung der proportionalen Verhältnisse im Parthenon zu Athen
von Friedrich Roher. Mit einer lithogr. Tafel. Dresden, Verlag von
Wvld. Türk. 1 Thlr.
Bereits im vorigen Jahre erschien von demselben Verfasser unter dem
Titel: „Beiträge zur Erforschung der geometrischen Grundformen in den alten
Tempeln Aegyptens" eine Schrift, welche lxi Archäologen, Mathematikern und
Architekten ein gleiches Interesse erweckte und über welche infolge dessen
theils im Auslande (27. Jahrg. Ur. 14), theils im Magazin für die
Literatur des Auslandes (Jahrg. 1834, Ur. 4K), theils in den Grenz¬
boten (13. Jahrg. 2. Semester, Ur. 30), theils endlich in noch mehrern
andern Blättern die günstigsten Mittheilungen gemacht wurden. Aus diesem
Grunde wird es nicht befremden, jenes Interesse auch dieser zweiten eben ange¬
zeigten Schrift Herrn Röberö, die gleichsam als eine Fortsetzung der vorjäh¬
rigen angesehen werden kann, zugewendet zu sehen. Wir erlauben uns zu
richtigeren Verständniß derselben folgende Bemerkungen:
Der Geheimrath Ritter Bunsen, einer der ausgezeichnetsten Alterthums-
forscher unserer Zeit, spricht sich in seinem Werke: „Aegyptens Stelle in der
Weltgeschichte, 2. Band" ausführlich" darüber aus, wie außerordentlich wichtig
und vortheilhaft für die Erforschung der Pyramiden das 1837 ausgeführte
Unternehmen des englischen Obristen H. Vyse dadurch geworden sei, daß es
dem, den letzteren begleitenden Herrn Perring gelungen, in der ägyptischen
Me —1,713 engl. Fuß die Einheit deö ägyptischen Maßes zu finden und
sie auf die von ihm so genau gemessenen Bauten anzuwenden und ihre bestimm¬
baren Hauptmaße darnach zu berechnen. Der ihn hierbei leitende Gedanke,
war ein schon von Newton angeregter und mit bewunderungswürdigem
Scharfblick verfolgter, der nämlich, es sei wahrscheinlich, daß die Haupttheile
der großen Pyramide in rationalem Verhältnisse zur Einheit des ägyptischen
Maßes stehe, also zur Elle. Newton fand auf diese Art die wahre Größe der¬
selben aus den Maßen des Hauptgemaches und Perring entdeckte hiernach an
jener großen Pyramide ein Verhältniß der Höhe zur Basis wie ü : 8. Ritter
Bunsen nennt deshalb die größte Pyramide die „recht eigentlich mathematische",
die das unter den Pyramiden überhaupt sei, was die letzteren unter den
Bauen sind. Bei den übrigen Pyramiden, fährt er fort, sind wegen ihrer Zer¬
störung solche nähere Verhältnisse nicht zu erwarten, allein die gefundene Ein¬
heit des Maßes scheint sich auch hier durch die ungebrochenen Zahlen aufs
glänzendste zu bewähren. Soviel dürfen wir mit Zuversicht behaupten, daß
die Maße der Pyramiden zum ersten Male sicher und verstanden vor uns
liegen, wie vielleicht nicht seit der Zeit ihrer Erbauung. Der Plan einer
Pyramide mochte in den Archiven der königlichen Familie oder in einem
Tempel aufbewahrt sein: sie selbst war bereits dem Nachfolger des Bestatteten
ein versiegeltes Buch, falls sie nicht ausnahmsweise auch ihm noch zur Ruhe¬
stätte bestimmt war.
Unter den Napoleonischen Gelehrten ragt besonders Jomard hervor (vergl.
ILxposMon nu sMemv wvU'iqu«, in der großen clvsvriMv» Ap
Er nahm die kleine Conde, welche er auf die Erdmessung bezog, zu 0,1462 M.
an, während sie nach Stöbers Angabe nur 0,i60238Ä M. ist. Seit Jomard
sind eine Menge Versuche gemacht worden, die Verhältnisse in der großen Py¬
ramide aufzufinden, die man für astronomische hielt, wozu die winkelrechte Lage
nach den i Weltgegenden die Veranlassung geben mochte. Genug, die Py¬
ramiden sind nach Lepsius und Bunsen, welche Menes nach Manetho
3426 Jahre vor Christus Prof. Seyffarth aber 2782 vor Christus setzen, die
ältesten Bauten der Erde und ihre wissenschaftlich geführte Anlage ist daher
das früheste wissenschaftliche Product.
In den Denkmälern der Baukunst von Jules Gailhabaud wird
ebenfalls jeglicher Nebenzweck der Pyramiden geleugnet, die nur Grabmäler
gewesen sein können, aber Bauten, die durch ihre Kolossalität sowol, wie
durch ihre sorgsame Technik sich schon im Alterthum den Ruhm erwarben, in
die Zahl der Wunderwerke der Kunst aufgenommen zu werden.
Lepsius hat gefunden, daß die Pyramiden oft nach innen sorgsamer, als
nach außen gebaut sind und sagt: der König vollendete in den ersten Regie¬
rungsjahren eine mäßige Pyramide und legte dann, wenn ihm noch neue
Jahre vergönnt waren, einen Mantel nach dem andern um, bis er endlich
zu einem Punkte gelangte, wo eine jede neue Vergrößerung schon allein ein
Riesenwerk war und viele Jahre zur Ausführung brauchte; dann mußte er an
die letzte Vollendung denken.
Wir stimmen jedoch dein Verfasser einer vor einiger Zeit erschienenen
Schrift, deren Titel uns nicht mehr gegenwärtig ist, vollkommen bei, wenn
er etwa Folgendes sagte: „Es ist gleichgiltig zu wissen, durch welche äußer¬
lichen Zwecke, Antriebe und Umstände die alten und neuen Bauten hervorge¬
rufen worden sind, sobald man.nicht zu erfassen und zu ergründen vermag, wo
die ersten und letzten Antriebe, die Grundtriebe zu suchen sind, in welchem
natürlichen und übernatürlichen Sinn und Geist alle die Kunst und Wissen-
lchaft gehalten ist; sobald man die Idee nicht begreift, sobald man nicht
Sinn und Verstand hat, zwischen den Zeilen, den Bauwerken und Formen zu
lesen und inne zu werden, wie oft der menschliche Geist das Unendliche und
Ewige, das Geistige im Sinne führt, wenn er scheinbar nur das Materielle
ausgestattet hat." Aehnlich äußerte sich übrigens schon Diodor von Sicilien
über die 3 großen Pyramiden und deren Baumeister, obgleich er noch keine
Ahnung von dem architektonisch mathematischen Geiste haben konnte, der in
diesen Bauten liegt und die Seele derselben ist. Eben dies führt uns zu der
Röberschen Schrift zurück, aus der wir noch Folgendes mitzutheilen uns ver¬
anlaßt fühlen:
Es ist Herrn Roher gelungen, in den Pyramiden eine eigenthümliche Ge¬
setzmäßigkeit der Anlage zu entdecken. Die einzelnen Verhältnisse lassen keinen
Zweifel übrig, daß der Ursprung der Geometrie weit über die Meneödyna-
seie hinausreicht, daß der 5i. Satz im 13. Buche der Euklidschen Elemente in
Anwendung kommt und daß also diese Elemente schon bei Errichtung der
Pyramiden wenigstens zum Theil gekannt worden waren. Nach der Ent¬
deckung des Verfassers ist es der Seite 8 angegebene Triangel, welcher gleich¬
sam die Basis der Pyramiden bildet. Aus seiner Construction ergeben sich
denn anch wirklich alle Verhältnisse der einzelnen Theile der Pyramiden, von
denen Herr Roher -16 berechnet und deren Seite 21 und A2 dargestellte syste¬
matische Zusammenstellung die allen zum Grunde liegende Einheit bis zur
vollsten Evidenz darthut. Vor der Berechnung jeder einzelnen Pyramide, die
übrigens, wie schon damals bei den Tempel», bis auf wenige Decimalen mit
der Messungsangabe übereinstimmt, gibt Herr Roher stets einige kurze hi¬
storische Notizen über die Entstehung, Lage und Einrichtung derselben.
Mit besonderer Berücksichtigung dessen, waS Ritter Bunsen über die
Pyramiden sagt, scheint uns im Allgemeinen aus der Nöberschen Schrift her¬
vorzugehen, daß
Die Untersuchungen über die Grundformen der ägyptischen Tempel und
Pyramiden haben nächstdem den Herrn Verfasser veranlaßt, ebenfalls die alt
dorischen Bauten, den Parthenon, in näheren Betracht zu ziehen. Wie bei
jenen, so wurde auch hier ein geometrischer, auf proportionalen Verhältnissen
beruhender Organismus entdeckt, den wir am Schlüsse des Werkes im Interesse
der bildenden Kunst erörtert finden und welcher zu beweisen scheint, daß die
Griechen ihre geometrischen Formen für diesen so tief bewunderten Tempel von
auswärts geholt haben. Darin aber finden wir die Ansicht eines der neusten
Forscher auf dem Gebiete der Alterthumskunde bestätigt, welcher etwa Folgen¬
des behauptet: „Um zu erfahren, woher dem Parthenon seine Formen gewor¬
den, muß man in der Historie suchen und wenn wir ganz dieselben Formen
anderwärts bei ältern Völkern wiederfinden, oft in ganz anderer Verbin¬
dung, zu ganz anderen Zwecken, dann werden wir nicht anstehen zu er¬
klären, daß dieser griechische Tempel von auswärts seine Formen gesammelt
hat oder auswärts schon vorhanden war/'
Gewiß wird auch dieses verdienstliche Werk des so bescheidenen Herrn
Roher, wie das frühere, nicht wenig Aufsehen bei den Archäologen und Ma¬
thematikern erregen, aber eben deshalb empfehlen wir auch um so angelegent¬
licher die sorgfältige Prüfung einer Arbeit, die lediglich auf die geometrische
Einfachheit eines Euklid und auf ebenso einfache Potenzirung und Depotenzi-
rung der Einheit basirt ist. Möchte Herr Roher endlich auch das Versprechen
noch erfüllen, jenes geometrische Urschema ebenfalls an den organischen Natur-
gegenständen nachzuweisen und seiner Zeit zu veröffentlichen.
— Jemehr die Dinge in der Krim
unter der kräftigen, wenn auch nicht immer glücklichen Hand des Generals Pelissier
einer großen Entscheidung cntgcgendrängcn, mit um so größerer Spannung lauscht
man hier auf jedes Gerücht, welches ein bestimmteres und klareres Licht auf den
in der Ausführung begriffenen Operationsplan zu werfen im Stande ist. Die heute
ausgegebenen hiesigen Journale, sowie das, was als neuestes von Mund zu Mund
geht, sind in dieser Hinsicht nicht ohne Interesse.
Wie Sie sich erinnern werden fand die Concentrirung der Streitkräfte der
Verbündeten im letztvergangenen Monat Mai noch unter dem Regime Canroberts
statt und sicher war diese Maßregel von ihm verfügt. Man wollte damals über
die Tschcrnaja rücken, die Russen von dem Platea» zwischen dem Hafen von
Sebastopol oder der Rhede und dem Bclbcck vertreiben, damit ihr Gros von der
Festung trennen und hoffte alsdann diese, vermöge der bewirkten Isolirung mit
größerer Leichtigkeit zu überwinde».
An diesem Plane war zweierlei zu tadeln: daß er sich an deu Umkreis der
Festung band, diese nach wie vor zum Hanptobjcet machte, und es dem Feinde ge¬
stattete, deren große fortifieatorische und artilleristische Mittel unter sehr günstigen
Umständen zu verwerthen: sodann, daß dem Feinde im Fall einer Hauptentscheidung
der Rückzug offen verblieb, mit anderen Worten, die strategische Gunst der Lage
unauögebeutet blieb. Außerdem behaupteten schon damals Leute, welche das Terrain
jenseits der Tschcrnaja, namentlich die Zugänge zu dem erwähnten Plateau und
die Befestigungen der Russen auf dieser Linie kannten, daß ein Unternehmen der
Art auf kaum geringere Schwierigkeiten als die Angriffe vor Sebastvpöl stoßen und
muthmaßlich sich als unausführbar herausstellen werde.
Als General Pelissier das Commando übernahm, wollte er, so scheint es,
einen Versuch machen, ob nicht vermöge eines größeren Aufwandes von Energie
auf demselben Wege, den der Vorgänger eingeschlagen hatte, ein Resultat zu er¬
reichen sei. Daher der Vormarsch nach Tschorgun, durch welchen außerdem einige
Vortheile für die Verpflegung erreicht wurden und die schnell aufeinanderfolgenden
Offcnsivftöße gegen die Malakowfrontc. Diese Versuche waren nnr zum Theil
glücklich. Wiewol bei Abgang der letzten Nachrichten an den Laufgräben gegen den
erwähnten Thurm eifrig gearbeitet wurde, außerdem ne.le Batterien im Bau be¬
griffen waren, konnte man dennoch aus deu Arrangements im Allgemeinen entnehmen,
daß man auf eine Fortsetzung des gewaltsamen Angriffsvcrfahrens verzichtet hat,
und der Gedanke, welchen Pelissier, nachdem General Bosquet bei Tscborgnn Halt
gemacht, zunächst gehabt zu haben scheint, den Platz anch ohne vorherige Ein¬
schließung zu nehmen, wieder aufgegeben worden ist. Es entsteht aber daraus die
Frage: uach welchem Plane der General en chef nunmehr zu operiren gesonnen ist?
Das, was man neuerdings in den hiesigen Blättern liest und als Gerüchte
vernimmt, läßt der Vermuthung Raum, man werde in getheilten Massen agiren;
ein System, welches nur einmal und unter wesentlich anderen Verhältnissen (1813
gegen Napoleon) zum Siege verholfen hat, und anch damals vielleicht nicht der
kürzeste und beste Weg zum Ziele gewesen ist. Wie es heißt ist General Bosquet
mit einem zusammengesetzten Armeecorps, bestehend ans Franzosen, Piemontesen
und Türken, im Ganzen etwa 30,000 Mann, am 21. ans Tschorgnn aufgebrochen
und hat sich gegen die Höhen der Farm von Makenzie gewendet; mit welchem Er¬
folge , werden uns die nächsten Berichte kennen lehren und Sie vielleicht bereits
dnrch den Telegraphen wissen. Die Linie von Jnkerman bis gegen Balaklava ist
inzwischen dnrch neue Werke verstärkt worden und steht, wenn ich recht unterrichtet
worden bin, unter dem Befehl des Generals Canrobcrt, der hier ebenfalls Franzosen,
Piemontesen und Türken commandirt. In Balaklava befehligt Sir Colin Eampbell
(nicht zu verwechseln mit dem gefallenen Sir John Campbell) und zwar mag diese
ganze Streitmacht ans ebenfalls 30,000 Manu berechnet werden können. Demnach
besteht die gegen Scbastopol disponirte Hauptmacht noch aus dem erste» französischen
Corps, dem französischen Rcservecorps und aus je einigen tausend Engländern und
Türken. , Diese Macht hat, wie der Stnrmvcrsuch vom -18. dieses Monats bewiesen
hat, nicht ausgereicht, um eine gewaltsame große Entscheidung gegen den Platz zu
geben, aber um den förmlichen Angriff weiter zu führen, würde sie allem Anscheine
nach zureichend sein. General Pelissier will indeß eine neue Theilung vornehmen,
und zugleich die Belagerung weiter führen, was, wenn man die Kräfte berücksichtigt,
unmöglich erscheinen muß. Man entnimmt aus vielfachen Anordnungen, die er
neuerdings getroffen, daß es ans nichts Geringeres abgesehen ist, als das ganze
Ncservecorps zu entsenden, und zwar ist dasselbe, wenn man vagen Gerüchten, die
bis dahin darüber umlaufen, ein Gewicht beimessen kann, nach Eupatoria bestimmt.
Da nun General Pelissier nicht 23—30,000 Mann von der Hauptmasse ab¬
zweigen wird, ohne ihnen eine operative Aufgabe zu ertheilen, so muß man an¬
nehmen, jene 25,000 Mann würden von Eupatoria aus vorgehen sollen, um im
Rücken des Feindes zu agiren: ein Unternehmen, welches jedenfalls nicht ohne
Bedenklichkeit ist, denn dem Gegner steht es ja frei, sich aus der Mittelstellung,
welel'e er in Bezug ans die gegen ihn operircnden Theilmassen einnimmt, je nach
Belieben auf eine derselben und mit der besten Aussicht ans Erfolg grade auf diese
zu werfen — nicht mit ebenfalls nur 23—30,000 Mann sondern, wenn es darauf
ankommt, mit der doppelten Anzahl.
Wenn man neuerdings dergleichen" Ansichten hier entwickelt, wird von franzö¬
sischen Offizieren oft eingewendet, daß die Russen bei weitem nicht so stark seien,
als man annehme, und daß sie anch dnrch ihre Mittelstellung nicht in den Stand
gesetzt sein würden, auf irgendeinem Punkte eine doppelte Uebermacht zu entfalten.
Darüber kann man allerdings nicht streiten? das läßt sich nnr abwarten.
Wenn es noch eines Beweises bedürfte, wie wenig man im
Grunde jetzt weiß, was man will und was man zu wollen hat, die Thronrede
und die Haltung der officiellen Journale seither, würde diesen Beweis hergestellt
haben. Während der Kaiser sich ans unzweideutige Weise über die Langsamkeit
Oestreichs, seine durch den Vertrag vom 2. December übernommenen Pflichten zu er¬
füllen, ausspricht, druckt der Moniteur eine offiziöse Vertheidigung der östreichischen Po¬
litik ab. Wir wollen zugeben, daß seither, also grade in dem Augenblicke, wo sich der
Kaiser so bitter beschwert, befriedigende Erklärungen aus Wien gekommen seien —
der Unterschied zwischen heute und gestern in der Sprache bleibt doch immer anf-
fallend. Wir hatten gewünscht, eine Thatsache und nicht blos ein Wort zu kennen,
das diese Veränderung rechtfertigte. Eine Thronrede, welche als ein Manifest an
die Nation wie an Europa betrachtet werden muß, ist eine zu ernste Sache, als
daß sie dnrch eine einfache Erklärung umgeworfen werden könne. Wir fragen uns
vielmehr, ob denn der östreichische Gesandte nicht vor einer Zeitung über die nähere
Bedeutung der Armecreduction Anffla'ruug geben, und somit den Ausfall in der
Thronrede verhindern konnte!
Unsre Situation bleibt also dieselbe und die Westmächte scheinen die Haltung
Oestreichs und folglich anch Dentschlands zu billigen. Sie verzichten darauf die un¬
mittelbare Mitwirkung ihrer Nlliirten zu fordern. Sie begnügen sich damit, daß
Oestreich für sie die Donaufürstenthümer besetzt hält und seine Kräfte für die Zeit
aufspart, wo Frankreich und England noch geschwächter und folglich noch hilfs¬
bedürftiger sein werden — sie erwarten, daß der Mitcontrahcnt vom 2. Decem¬
ber nach wie vor beim deutschen Bunde auf Beitretung zu den vier Garantien hin¬
wirken werde und das beiläufig gesagt in dem Augenblicke, wo die englische Regie¬
rung im Parlamente erklärt, daß die vier Garantien nnr mehr dem Namen nach
er.istiren. Oestreichs Rolle beschränkt sich also, und dies muß festgehalten werden,
selbst in der Meinung seiner Alliirten darauf, die Donaufürstenthümer inne zu hal¬
ten und seiner Zeit dem deutschen Bund und eventncllcrwcise auch Rußland ge¬
genüber die Interessen der Westmächte im Sinne der Allianz vom 2. December zu
wahren. Dcizn bedarf es allerdings keiner so zahlreichen Armeen und der Westen
darf es Oestreich nicht übelnehmen, wenn dieses seinen ohnehin zu sehr belasteten
Finanzen diese Klappe zum Athemholen öffnet. Herr Granier aus Cassaignac geht
in dem halboffieicllcn Eonstitutioncl noch weiter, indem er erklärt — England und
Frankreich wollen um keinen Preis die SisiphuSarbcit im Osten aufgeben. Die
beiden westlichen Mächte wollen das Patent ans die Erfindung des localisirten
Krieges bis zu Ende ausbeuten. Wenn es nur gelingt.
Die Politik ist noch immer dieselbe unerquickliche nud Sie werden es mir er¬
lauben mit einer Anekdote meine politischen Reflexionen zu schließen—ich überlasse
es dem Leser, meine Geschichte anwendbar zu finden oder nickt.
Ein ungarischer Edelmann pflegte in seinem Landhause zwei Zigeuner mit ver¬
schiedenen Tagesarbciten zu beschäftigen. Eines Mittags lies, er sie beide auf die
Stube kommen, während er seinen Vcrdannngsschmanch pflegte. Wer von euch
ist der Mann, diese gebratene Gans da ans einen Satz zu essen? redete er die
braunen Abkömmlinge des Orients an. Ich, gestrenger Herr, schrie Miska, der eine
Zigeuner. Wer von euch will diese große Flasche Wein mit einem Schlucke hin-
abschnttcn? Ich, gnädigster Herr, ruft wieder MiSka. — Wer von euch will diesen
Schinken zum Abcndschmansc verarbeiten? Ich, Excellenz, ließ sich neuerdings
unser Miska vernehmen. Bravo Miska, du bist el» Mordkerl, meinte der Gutsherr,
nun sagt mir aber noch, wer will die drei Klaftern Holz in meinem Hofe spal¬
ten? Miska ruft seinem Kameraden zu, Marczi, sage du doch auch einmal ein
Wort.
Die gebildeten Kreise von Paris wurden diese Woche in tiefe Trauer versetzt
durch den Verlust einer Frau, von der wir in diesen Blättern zu verschiedenen
Malen gesprochen. Madame Emil Girardin, geborne Delphine Gay, ist in der
vollsten Blüte ihres Talentes hier gestorben. Diese berühmte Schriftstellerin, welche
man Mao. George Sand und Mad. Stael an die Seite stellt, hat sich in allen
Gattungen der Poesie und Literatur versucht, war ebenso ausgezeichnet durch Schön¬
heit, durch Charakterfestigkeit, wie durch ihre außerordentliche gesellige Begabung.
Mad. de Girardin konnte als Personification des französischen Convcrsationsgeistes
betrachtet werden — sie erzählte ebensogut, als sie schrieb, sie war im Umgange
ebenso geistvoll in ihren Discussionen, als in ihren polemischen Schriften.
Mad. de Giardin war ein Poet und ein Journalist zugleich. Ihre >o>i>>^
>>!>l-i5!<zii»o5>, tu welchen der Marquis de Launay die Lächerlichkeit der pariser Ge¬
sellschaft schilderte, begründeten ein neues Genre, das in jüngster Zeit in der fran¬
zösischen Presse in so starkem Maße ausgebeutet wurde. Mad. de Girardin war der
Vorgänger selbst von Karr, dessen Wespen erst später erschienen. Mad. de Girardin
begann mit lyrischen Poesien und stand mit ihrer Muse auf der liberalen Seite
und ihre, an dem Grabe des General Foy gesprochenen Verse verschaffte ihr den
Namen einer ulu^c; >!o >i> ^->uio. Erst später versuchte sie sich im Roman und
>-> ,!-mi>c! lVIi'. >>e 1!ni?.>>>> erfreute sich selbst in Deutschland einer ziemlichen Vogue.
In diesem Buche werden die Leiden eines jungen Mannes geschildert, dessen Un¬
glück von zu großer Schönheit herrührt. Der dnrch seine Kostbarkeit berühmte
Stock des Herrn von Balzac — dem gewisse Zauberkräfte angedichtet werden —
spielt eine bedeutende Rolle in diesem sonst eben nicht phantastischen Romane. Ma¬
dame Girardin schrieb später eine Judith und eine Cleopatra für Mlle. Rachel,
die beide sich keiner großen Gunst beim französischen Publicum erfreuten. Die
Cleopatra mit Unrecht, denn diese Tragödie würden wir sowol ihrer Sprache, als
ihrem dramatischen Werthe nach über alles stellen, womit' Pousard später Glück
auf dem französischen Theater gemacht. Lady Tartüffe wurde seiner Zeit in diese»
Blättern besprochen und obgleich dieses Lustspiel in Deutschland mit großem Beifall
aufgenommen worden, glauben wir anch einem offenen Grabe gegenüber, bei un¬
serm scharfen Urtheil beharren zu müssen. Die beiden letzten dramatischen Pro-
ductionen von Mad. Girardin, obgleich von geringerer Prätention, sind bedeu¬
tender, sowol was die Analyse des menschlichen Herzens betrifft, als auch in An¬
sehung der dramatischen Wirkung. I^i tun, pour ist eine intime Hcrzensgeschichte,
die Schilderung einer betrübten Mutter, die irrthümlich ihren verloren geglaubten
Sohn beweint. — I^v el,»>,öl,u <!<>. >'>><»-1oF«r ist ein in den Schwank auslaufendes
Lustspiel, aber von solcher Wahrheit, von sovieler komischer Kraft, daß wir darin
die Kundgebung einer Lustspieldichterin echten Berufs erkennen mußten.
Am eigenthümlichsten und am wirksamsten aber äußerte sich das Talent dieser
Dame in ihren I.vUrc^ >><>> >^iun»(ü>, in deuen sie die Waffe der Polemik mit eben¬
soviel Geist und Witz, als Ehrenhaftigkeit und Bonhomie handhabte. Mad. de
Girardin verstand das weibliche Herz fast noch besser als Schriftstellerinnen
überhaupt und hatte dabei das französische Talent durch ein Wort eine Situation,
einen Charakter zu bezeichnen. Sie schrieb einfach, ohne hochtrabenden Schmuck,
aber ihre Ausdrücke selbst inmitten der improvisirendcn Verve sind stets mit soviel
Takt und Glück gefunden, wie sie nnr einem Genius zu Gebote stehen. Als
Charakter war Mad. Girardin ebenso ausgezeichnet - sie kannte nicht Schriststeller-
eifcrsucht, und ihr Ehrgeiz bestand darin, alles anzuerkennen, was sich als Talent
kundgab. Für ihren Mann, von dem sie einige Zeit ehelich getrennt lebte, fühlte
sie die lebhafteste Freundschaft und sie trat muthig für ihn in die Schranken, so
oft es noththat. Sie bekämpfte Cremieux wie ihr Mann Cavaignac, aber mit der
Republik konnte sich ihr aristokratischer Geist nicht recht befreunden, obgleich sie
ihren Ansichten uach so srcisiuiiig war wie der beste Republikaner. Dem gegen¬
wärtigen Regime konnte eine Frau wie Mad. Girardin nicht hold sein und trotz
aller Avancen, die ihr gemacht wurden, hielt sie sich von der officiellen Welt des
heutigen Frankreichs entfernt. Sie besuchte Victor Hugo im Exil und verhehlte
ihre Gedanken über die' jetzigen Machthaber keineswegs. Mad. de Girardin hat
u> ihren anspruchslos hingeworfenen Blättern wie in ihren sorgsam ausgeführten
Werken Bleibendes hinterlassen — Frankreich verliert in ihr eines seiner bedeu¬
tendsten Bühnentaleute.
Ein Ereignis?, das die Runde durch alle Zeitungen gemacht,
dürfen wir nicht ganz unerwähnt vorübergehen lassen. Se. Excellenz, der fürstlich
Uvpesche Cabinetsminister, l»>. Laurenz Hannibal Fischer, ist in Koburg verhaftet
worden. Die Antecedentien dieses Mannes sind bekannt. Nacheinander hildbnrg-
häuser Demokrat, Protector des Adels, Pflegevater der Jesuiten, Verkäufer der
deutschen Flotte, politischer Reformator in Lippe, nahm er sich auch der koburg-
Üvthaischcu Ritterschaft gegen die Landesverfassung an und beschuldigte in einer
Beschwerde bei dem Bundestag den Herzog des Wortbruchs, was jene hohe Be¬
hörde veranlaßte, ihre Mißbilligung über die Form der Eingabe auszusprechen.
Trotzdem erschien 1»,'. Fischer in Koburg zur Feier eines Festes des Gymnasiums,
dem er als Schüler angehörte. Man sucht ihn zu ignoriren, er drängt sich vor,
will als Alterspräsident gefeiert sein; umsonst, man meidet »ihn; er ergeht sich in
vutrirteu politischen Reden, die schweigend geduldet werden. Bei dem Festmahle
endlich am 30. Juni setzt er zu einem längern Vortrag an, läßt seiue Schulzeug-
nisse vorlesen und entwickelt in breite» trivialen Wendungen als Basis seines Lebens
und Strebens die Sätze: lorinnu juvui! Windischgrätz ist mein Mann!
Kuka I^vn», <iun>! Iwuosltt! Er wird durch den Präsidenten Franke mit einigen kurze»
Worten abgefertigt, n»d nach den: Mahl läßt ihn die hiesige Justiz wegen Belei¬
digung des Herzogs verhaften, gestattet jedoch andern Tages gegen Erlegung von
Caution seiue Abreise. Jnspirirtc Zu»ge» habe» »icht verfehlt, über diesen Vor¬
fall zu klagen. Es ist aber doch ein kleiner Unterschied zwischen der Art und
Weise, wie die in vielen deutschen Staaten herrschende Reaction mit ihren Gegnern
verfährt und wie man in Koburg den Mann behandelt hat, welcher selbst ein Hort
der Monarchie zu sein beansprucht und die persönliche Ehre eines Fürsten verletzt,
welcher die nach schweren Kämpfen und vielfache» Co»cessto»c» vo» alle» Seiten
befestigte» Staatsverhältnisse als revolutionär bezeichnet. Der Verhaftete ist nach
dem Gesetz in feiner Hast gehalten und uach deu gesetzlichen Bestimmungen
wieder entlasse» worden.
Es fehlt nicht an Beispiele», daß i» ander» Staaten die Reaction mit Polizei¬
willkur den Verhafteten behandelt und in Widerspruch mit den Bestimmungen des
Gesetzes die persönliche Freiheit mißachtet. Umsvweuigcr angebracht ist die Sen¬
timentalität kläglicher Korrespondenten, welche die Angelegenheit mit weichem Gefühl
behandeln, und für die Stellung und das Alter des Angeklagten eine Exccptiou
fordern, überhaupt »indes versäumen, um den ganzen Vorfall in ein falsches Licht
zu stellen. So bringt die Postzeitung in Frankfurt, wohin der gegen Kaution in
Freiheit gesetzte llr. Fischer seinen Weg genommen, eine lange Reihe von Klagen.
„Ein deutscher Minister verhaftet!" heißt es da, als ob das Miuistcrporteseuille ein
Freibrief für Schmähungen gegen andere sei. Weiter „ohne Vorwissen des Bundes-
tags verhaftet!" als liege es dem Kriminalgerichte ob, Instructionen bei den,
Bundestag einzuholen, und als müßte» beim Bundestag vorgebrachte Beleidigungen
und Jujurieu straflos sein. Ebenso wunderlich klingt die Behauptung, daß U>. Fischer
in eine Falle gelockt worden sei. Se. Excellenz, Herr »r. Laurenz Hannibal
Fischer hat keine persönliche Einladung zu dem früher erwähnte» Ghmnasialfeste er¬
halte», er ist »ur der allgemeinen in die Zeitungen eingerückten Einladung gefolgt,
und daher aus freiem Antriebe und aus eigne Verantwortung uach Koburg ge¬
kommen.
Herr Fischer scheint überhaupt die Absicht zu haben, sich bei seiner Partei als
Märtyrer darzustelle». So erzählte er bei seiner Abreise sofort, er habe in seinen:
Gefängnisse nicht einmal ein Bett gehabt. Wir können jedoch versichern, daß, was
sich schon von selbst versteht, er mit jeder Rücksicht behandelt worden ist, welche
mit der nöthigen Vorsicht, um einen etwaigen Entwcichungsversuch unmöglich zu
machen, verträglich war.
Man pflegt diesen höchst merkwürdigen und in der deutschen Literatur fast
einzig dastehenden Dichter als das religiöse Gemüth in der romantischen Schule
ZU betrachten, nachdem man en.dlich aufgehört hat, der Schule im Großen und
Ganzen christliche Tendenzen beizumessen. Es wird sich im Folgenden ergeben,
daß auch bei Novalis die christliche Gesinnung nicht grade das war, was der
wahrhaft Religiöse darunter versteht, eine Heiligung und Verklärung des Ge¬
müths; daß sowol seine Reflexionen über das Christenthum, als seine pietisti¬
schen Anwandlungen aus demselben Motiv hervorgingen, das wir bei Gelegen¬
heit des Wilhelm Meister als das leitende Princip der ganzen Generation
charakterisiert haben: aus dem Streben nach allseitiger, Geist und Herz gleich¬
mäßig durchdringender Bildung. Dagegen unterscheidet sich Novalis durch einen
andern Umstand sehr günstig von seinen Mitstrebenden. Sein Leben war mit
seinem Denken und Empfinden durchaus in Einklang; er war, was man da¬
mals eine schöne Seele nannte, in der Weise, wie Goethe in Wilhelm Meister
eine schöne Seele geschildert hat. Diese Idealität seines Wesens und sein
frühzeitiger Tod machten ihn für die Schule zu einer mythischen Figur, aus
die man sich gern bezog, sobald man dunkel empfand, daß in dem eignen
Treiben mehr Reflexion, Kritik und Dilettantismus war, als echtes und ehr¬
liches Gefühl.
Friedrich von Hardenberg-Novalis war 1772 in einer frommen,
den Herrnhutern nahestehenden Familie geboren: von früh auf ein kränkliches
schwächliches Kind, aber mit einer feurigen und ernsten Seele begabt. Im
Jahre 1790 ging er auf die Universität Jena, wo er namentlich Schiller und
Reinhold mit hingebender Liebe entgegenkam. Noch bedeutender wurde die
Anregung, die er von Fichte empfing und er ahnte den in Schelling wohnen¬
den philosophischen Geist, als dieser noch in Leipzig einige Freunde auf seiner
Stube über Philosophie belehrte. Schon damals zeigte er in seinen Gesprä¬
chen, die immer voller Gehalt waren, eine gewisse Neigung zur Paradorie.
Es war das Streben nach Freiheit des Denkens, wenn er z. B. einmal einem
katholischen Freunde die Consequenz der Hierarchie schilderte, in.diese Schilde¬
rung die Geschichte des Papstthums einflocht und mit dem ganzen Reichthum
von Gründen und Bildern, die ihm Vernunft und Phantasie darboten, der
Pancgyrist der päpstlichen Alleinherrschaft wurde. Er vertrat den Katholicis¬
mus, weil er keiner wirklichen Kirche angehörte.
Bald nach Ablauf seiner Universitätszeit lernte er ein junges dreizehn¬
jähriges Mädchen kennen, Sophie von Kühn, die ihn bestimmte, sich sogleich
einer praktischen Laufbahn zu widmen, um sich einen sichern Lebensunterhalt
zu gründen. Er trat 1796 bei den kursächsischen Salinen ein. Seine Liebe
war so leidenschaftlicher Natur, daß er durch den Tod des Mädchens 1797'
innerlich gebrochen wurde. Seine Tagebücher aus dieser Zeit sind ganz merk¬
würdig. Damals setzte sich jener Gedanke bei ihm fest, das Leben sei nur
eine Krankheit des Geistes und der Tod sei eine Heilung"): ein Gedanke, den
er etwas mystisch als einen Entschluß bezeichnet. Es ist mit den Tagebüchern
einer schönen Seele immer etwas Mißliches: die ängstliche Aufmerksamkeit auf
die eignen Empfindungen veranlaßt zur Steigerung derselben, und je strenger
man nach Wahrheit in seinem Innern strebt, desto leichter vertieft man sich
in Schein.
Kaum nach Ablauf eines Jahres wurde er von einer neuen Liebe ergriffen,
gewann neue Lebenslust und schöpfte die besten Hoffnungen für die Zukunft.
In dieser Zeit arbeitete er am Athenäum mit („Blütenstaub" und „Hymnen
an die Nacht"), wurde mit Tieck genauer bekannt und setzte seinen vertrauten
Umgang mit Fr. Schlegel sort. Aber sein Körper war von einer schleichenden
Krankheit unterwühlt und er starb den 2ö. März 1801, als er es nicht
mehr wünschte.
Seine Bildung war sehr universell, namentlich in den Naturwissenschaf¬
ten und in allem, was auf sein Amt Bezug hatte. In der belletristischen Lec-
türe war seine Kenntniß lange nicht so umfassend, als die seiner Freunde; er
beschränkte sich auf einzelne Bücher, zu denen er immer wieder zurückkehrte,
namentlich den Wilhelm Meister. Der Geschichte war er fremd geblieben und
in seinen Tagebüchern finden wir (III., S. 74) tie sehr charakteristische
Aeußerung, „ich bin ein ganz unjuristischer Mensch, ohne Sinn und Bedürf¬
niß für Recht." Im Anfang trieb er mit heißer Leidenschaft die Philosophie,
jene strenge Göttin, „zu deren Priester an Kopf und Herzen er sich combabi-
siren lassen wollte" lBries an Schiller lit., S. 131). Allein schon im An¬
fang des Jahres 1800 schreibt er an Just (>>!., S. 42): „die Philosophie
ruht jetzt bei mir nur im Bücherschranke, ich bin froh, daß ich durch dieses
Spitzbergen der reinen Vernunft durch bin und wieder im bunten erquickenden
Lande der Sinne mit Leib und Seele wohne. Die Erinnerung an die aus¬
gestandenen Mühseligkeiten macht mich froh, es gehört in die Lehrjahre der
Bildung. Uebung des Scharfsinns und der Reflexion sind unentbehrlich.
Man muß nur nicht über der Grammatik die Autoren vergessen, über dem
Spiel mit Buchstaben die bezeichneten Größen." — Es war nicht ein Drang
der Erkenntniß, sondern ein poetisches Bedürfniß, was ihn zur Speculation
trieb: das, Bestreben, Kunst und Wissenschaft auf ein gemeinsames Princip
zurückzuführen, und alle Wissenschaften und Künste zu einem organischen Gan->
M ineinanderzuweben. Sein Platz in der Geschichte der Philosophie ist nicht
bedeutend, auf die Entwicklung der poetischen Ideale dagegen hat er einen
großen Einfluß ausgeübt.
Seine Schriften haben einen außerordentlichen Erfolg gehabt. Sie
wurden nach seinem Tode, 1802, von seinen Freunden Tieck und Fr. Schlegel
herausgegeben; schon 1837 erschien die 3. Auflage"). Dieser Erfolg ist um so be¬
deutender, da tels gewöhnliche Publicum daraus nichts zu machen versteht; nicht
wegen der Ueberschwenglichkeit der Form, sondern wegen des zum Theil sehr
ernsten Gedankengehaltö, der sich hinter seinen phantastischen Bildern versteckt.
Man hat daher auch vorzugsweise seine Form, d. h. seine Manier nachgebildet,
was leichter ist, als man glaubt; es bedarf nur einer gewissen Virtuosität im
Combiniren widersprechender Vorstellungen.
In früheren Zeiten überließ man die Synthese der Kunst und behielt der
Kritik die Analyse vor. Man verlangte von ihr, das Kunstwerk in seinen
Motiven auseinanderzulegen und nach festen Principien zu prüfen, ob Billi¬
gung oder Mißbilligung auszusprechen sei. Bei Novalis aber ist die Kritik
viel synthetischer, als die Poesie. Das einzelne Kunstwerk verschwindet wie
e>n Atom in der allgemeinen Construction der Poesie und die Poesie selbst
in einem Oceane von Ueberschwenglichkeit, für welchen kein Name und kein
Begriff ausreicht. Das Bestreben, reale Gegenstände darzustellen, gilt als
undichterisch; schon die Symbolik der Ideen scheint viel zu profan für den
ätherischen Beruf des Künstlers. Frühere Schwärmer meinten, daß man sich einen
Dichter nenne könne, wenn man große Empfindungen und große Gedanken
habe, jetzt wurden auch die großen Empfindungen und Gedanken als etwas
Gleichgiltiges betrachtet, da eine in sich selbst hohe Seele nickt nöthig habe,
sich erst zu Gedanken und Empfindungen herabzulassen. Dieses poetische
Princip hängt auf das genaueste mit der individuellen Natur des Dichters
zusammen.
In Novalis paart sich großer Reichthum von Ideen und Empfindungen
-mit einer absoluten Unfähigkeit zur Gestaltung und zur kritischen Unterschei¬
dung. In Bezug auf Inspiration steht er wenig Dichtern nach, aber ihm
fehlt der Regulator des Gemeingefühls; Farben und Gestalten gehen wider¬
standslos ineinander über. Aus seinen Liedern klingt uns zuweilen ein so tiefer,
seelenvoller Ton entgegen, daß er mit einem gewissem Schmerz in unser
Inneres dringt. Aber man muß sie von ferne hören, denn sucht man zu
unterscheiden, den Tönen Worte und den Worten Empfindungen und Gedanken
unterzulegen, so hört man zuletzt nichts mehr, als ein unrhythmisches Ton-
gezitter, Accorde ohne Zusammenhang, von einer realen, möglichen, mensch¬
lich begreiflichen Empfindung ist keine Spur: es ist eine Stimmung, die sich
sehnt, sich zur Empfindung zu gestalten. Seine Bilder — z. B. in den
„Hymnen an die Nacht" treffen von ferne unser Auge mit glühenden, mär¬
chenhaften Farben; treten wir aber näher, um zu sehen, was sie vorstellen,
so flimmert uns alles vor den Augen. Ganz dasselbe läßt sich von seinen
Gedanken sagen. In der aphoristischen Form werden wir von ihnen überrascht
und angezogen, zuweilen durch einen Strahl des Genius geblendet, versuchen
wir aber, sie näher auszuführen, das Fragmentarische zu ergänzen, in den Witz
einen realen Inhalt zu legen, der etwa dem Dichter vorgeschwebt haben könnte,
so überzeugen wir uns sehr bald von der Unmöglichkeit: es sind nur embry¬
onische Ideen. Ebenso embryonisch sind seine Geschichten und Persönlichkeiten.
Wir treffen in seinem „Heinrich von Ofterdingen" wol zuweilen auf
eine Gestalt oder auf ein Ereignis), von denen wir vermuthen, sie würden,
aufmerksamer betrachtet, unser Interesse erregen; aber treten wir einen Schritt
näher, so verlieren sie sich im Nebel. Auch der verworrenste Traum hat doch
eine gewisse Konsistenz, hier aber geht widerstandslos alles ineinander über:
der Dichter, seine Geliebte, sein Lehrer, der Mond, der Sinn und noch ein
Dutzend andre allegorische Begriffe, das alles ist ein und dasselbe und wir
begreifen nicht, wie in dieser Schattenwelt auch nur der Schein einer Bewegung
stattfinden konnte.
Wir werden diesen Roman, der jeden Unbefangenen in Verwirrung setzen
muß, eher verstehen, wenn wir ihn in seine Elemente auflösen; unzweifelhaft
hat ihm als Vorbild der Wilhelm Meister vorgeschwebt. Das harte Urtheil,
das er in seinen Fragmenten über dies von der übrigen Schule so leidenschaft¬
lich gefeierte Werk fällt, darf uns nicht irre machen, im Meister fand er den
Kanon seiner Poesie, wenn er auch eine entgegengesetzte Anwendung machte.
Im Meister geht die Bewegung aus dem Idealen ins Reale, aus dem Innern
ins Aeußere. Im Heinrich von Ofterdingen finden wir den Helden zuerst
gleichfalls in gemüthlicher Beschränkung und die bunte und höchst stattliche
gegenständliche Welt geht ihm erst allmälig auf, aber die Wirklichkeit dieser Welt
ist nur eine scheinbare; sie verflüchtigt sich, kaum entstanden — in ein mysti¬
sches Traumwesen und der Traum ist der Anfang wie das Ende. Das Mär¬
chen, mit dem Novalis seinen ersten Theil beschließt und in welchem er seine
geheimsten Gedanken über Poesie kund geben will, ist dem seltsamen Märchen
Goethes nachgebildet. Nachdem er uns durch diese Vermittlung in das Land
der Fabel eingeführt, geht er mit unsrer Phantasie auf eine Weise um, daß
auch dem besten Kopfe schwindeln muß. Zuweilen hat man das Gefühl eines
lebhaften Bedauerns. Denn wenn auch nicht in der ganzen Komposition, so
ist doch in einzelnen Episoden ein bezaubernder Realismus; es wird uns zwar
nicht ein historisches Zeitalter vergegenwärtigt, aber ein ideales von ziemlich
kenntlicher Physiognomie, wie ein Zauberring, nur gebildeter und poetischer:
Novalis Grundbestreben ist, die verschiedenen Seiten der gegenständlichen Welt
in dem romantischen Lichte der Poesie zu verklären und sie darin aufgehen zu,
lassen*). Die Geschichte von den Kreuzfahrern, von dem persischen Mädchen,
welches ihm zugleich einen Blick in die ferne Poesie des Orients eröffnet, die
Geschichte von dem Bergmann, die Aufsindung der seltsamen Höhle und selbst
das poetische Gelage bei Klingsohr sind mit lebhaften, hocypoetischen Farben
geschildert. Die eingestreuten Lieder sind meistens von einem seltenen musikalischen
Reiz.
Nun aber spielt in diese Welt der Romantik eine zweite noch tiefere und
dunklere ahnungsvoll hinein. Ueberall wird uns das Zeitalter des Romans
als ein bereits abgeschwächtes, prosaischer gewordenes dargestellt, durch dessen
Oberfläche von Zeit zu Zeit eine wunderbare Vorzeit ahnungsvoll durchschim¬
mert. Die fortwährenden Träume nicht blos des Helden, sondern auch seines
Vaters und anderer, zeigen uns die Bilder des Romans in einem fremden,
seltsamen Lichte, auch die Erzählungen führen uns in eine Zauberwelt der
Poesie ein, deren Farben und Umrisse sich fast verlieren. So die Umdichtung
der Sage vom Arion, von der magischen Gewalt des Dichters über die un¬
beseelte Natur, die als etwas ganz Allgemeines dargestellt wird, dann die
Sage von dem König von Atlantis, dessen Tochter die Braut des jungen
Dichters wird. In allen diesen Träumen und Sagen ist ein innerer Zusammen¬
hang und sie scheinen die Lösung des Räthsels zu enthalten, das in dem wirk¬
lichen Leben den Dichter seltsam umgibt. In der Höhle des Grafen von
Hohenzollern geht das Wunder schon mehr ins Unbegreifliche über. Der
Dichter sieht seine eigne Geschichte, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
in einem alten Chronikenbuche abgebildet. Diese ganze Zauberwelt durchweht
der Duft der blauen Blume, von welcher ein Fremder ohne bestimmte Qualität,
aber offenbar ein Zwillingsbruder deS Fremden aus dem Wilhelm Meister,
dem Helden vor Eröffnung des Romans erzählt. Alle diese Fäden verknüpfen
alles so natürlich und doch so wunderbar, man glaubt, es könne nicht anders sein und als
habe man nur bisher in der Welt geschlummert und gehe einem nun erst der rechte Sinn
für die Welt auf. — II. S. 138. „Unser Leben ist kein Tram», aber es soll und wird
vielleicht einer werden." — II. S. „In einem rechten Märchen muß alles wunderbar,
geheimnißvoll und zusammenhängend sein; alles belebt, jedes ans eine andre Art. Die ganze
Natur muß wunderlich mit der ganzen Geisterwelt gemischt sein; hier l.ne die Zeit der all¬
gemeinen Anarchie, der Gesetzlosigkeit, Freiheit, der Naturstand der Natur, die Zeit vor der
Welt ein. Diese Zeit vor der Welt liefert gleichsam die zerstreuten Züge der Zeit nach der
Welt, wie der Naturstand el» sonderbares Bild des ewigen Reichs ist. Die Welt des Mär¬
chens ist die der Welt der Wahrheit durchaus entgegengesetzte und ebendarum ihr so durchaus
ähnlich, wie das Ehaos der vollendeten Schöpfung ähnlich ist. n. s. w,"
II. S.,,Das willkürlichste Aorurlheil ist, daß dem Menschen das Vermöge» außer sich
zu sei«, mit Bewußtsein jenseits der Sinne zu sein, versagt sei. Der Mensch vermag in jedem
Augenblick ein übcrsiunlichcs Wesen zu sein, . > . Jemehr wir uns dieses Zustandes bewußt zu
sein vermögen, desto lebendiger, mächtiger, gelingender ist die Ueberzeugung, die daraus ent¬
steht, der Glaube an echte Offenbarungen des Geistes. Es ist kein Schauen, Hören, Fühle»,
es ist ans allen dreien zusammengesetzt, eine Empfindung unmittelbarer Gewißheit, ni»e An-
sicht meines wahrhaftigsten, eigensten Lebens. Die Gedanken verwandeln sich i» Gesetze, die
Wünsche in Erfüllungen." n, s- w.
sich nachher wie im Wilhelm Meister, sobald wir durch das Märchen ge¬
waltsam dem Reich der Wirklichkeit entrückt sind, und wir finden uns zu An¬
fang des zweiten Theils in einem Reich des Jenseits, dessen Gesetz uns unbe¬
greiflich ist.
Die Welt wird Traum, der Traum wird Welt,
Und was man glaubt, es sei geschehen,
Kann man von weitem erst kommen sehen.
Nicht blos die Handlung, selbst die Empfindung wird fragmentarisch, ab¬
gerissen, beziehungslos, unverständlich. Was uns vollends Tiek über die pro-
jectirte Fortsetzung mittheilt, entzieht sich jedem Begriffe. Wir sehen zwar den
Plan, alle auf die Poesie bezüglichen Phänomene des Zeitalters der Kreuz¬
züge in einen weiten Nahmen einzuspannen, bis endlich das gesammte Bild
sich in den reinen Aether der übersinnlichen Welt auflöst und unsichtbar wird,
aber der innere Zusammenhang, ja auch nur die symbolische oder allegorisch,
Tendenz bleibt uns bei der Ueberfülle der Fabelwesen verschlossen/')
Wenn wir bei Arnim und Brentano ein ähnliches Dämmerwesen, ein ähn¬
liches Hereinspielen der Geisterwelt in die Wirklichkeit antreffen, so besteht doch
ein sehr wichtiger Unterschied. Arnim ist von Natur ein wirklicher und sehr
bedeutender Realist, bei ihm erstaunen wir eigentlich nur immer über die Spuren
der übersinnlul en Welten, welche sich gewaltsam und unvermittelt uns auf¬
drängen. Bei Novalis dagegen haben wir den reinen Spiritualismus, und
nicht durch das Jenseits, sondern durch das Diesseits werden wir überrascht,
wenn es uns einmal faßbar entgegentritt. 'Gewöhnlich ist auch mir ein Schein
der Erzählung oder des Dialogs vorhanden. So machen wir z. B. ans die
erste Begegnung Heinrichs mit den Kaufleuten aufmerksam, die immer im Chor
sprechen, auch wo sie erzählen, und die über die tiefsten Geheimnisse der Poesie
reflectiren. Die Färbung bei Novalis ist ganz unhistorisch, während sie bei
Arnim bis zum Barocken historisch ist.
Die „Hymnen an die Nacht" erschienen bereits im Athenäum, die
„geistlichen Lieder" wenigstens zum Theil im Musenalmanach von 1802.
Aus der phantasicvollen, melodischen Sprache, die uns mit einem fremdartigen
Duft betäubt und berauscht, nehmen wir zunächst eine Sehnsucht nach Dingen
wahr, die sonst der Mensch zu fliehen gewohnt ist: nach der Nacht, nicht in
der Weise Philinens, sondern in einem tief symbolischen Sinne, und nach
dem reinsten Geschöpfe der Nacht, dem Tode. Vieles daran liegt in der sub-
jectiven Stimmung, in jener dunkeln krankhaften Trauer des Gemüths, das
unter dem Schein der Allgemeinheit nur sich selbst aussprach. Aber es liegt
auch noch etwas Anderes darin, eine symbolische Gedankenverbindung, welche
diese sonderbaren Erzeugnisse der Romantik den classischen Dichtern zugänglich
machen mußte. Man nehme das „Reich der Schatten" und noch ähnliche
Gedichte von Schiller, lasse die energischen Gedanken desselben in Bilder und
Stimmungen verduften, suche ihnen dann eine angemessene Form und man
wird zu etwas Aehnlichem kommen, wie die Poesie des Novalis. So ist z. B.
die 3. Hymne eine verbesserte Auflage der „Götter Griechenlands." Die sinn¬
liche Schönheit des Heidenthums ist in vortrefflichen Bildern ausgedrückt, die
wol mit Schiller würden wetteifern können, wenn Novalis den richtigen Rhyth¬
mus gefunden hätte; es ist aber die wichtige Bemerkung hinzugefügt, daß über
diesem schönen Leben ein dunkler Schatten schwebte, die Idee des Todes, die
man nicht enträthseln konnte, weil man nur an das Leben glaubte. Der
Dichter zeigt uns dann die Versteinerung dieser Zauberwelt in abstracte Ge¬
danken und Gesetze, und läßt uns ahnungsvoll die Geburt einer neuen poe¬
tischen Zeit aus dem dunklen Schooß der Nacht erblicken. Was nun hier von
dem Christenthum gesagt wird, dürfte keinen so sehr befremden, als den wirk¬
lichen Christen, der an die heiligen Traditionen gewöhnt ist. Man erkennt
wol ungefähr die Geschichten wieder heraus, aber sie haben eine ganz wunder¬
bare, seltsame Farbe gewonnen, sie sind in die phantastische Märchenwelt des
Orients getaucht. Die Religion wird in die Poesie vertieft, das Evangelium
zu einem Gedicht idealisirt. Ein Sehnsuchtöliev an die Himmelskönigin und
an den Tod, die Enträthselung alles Lebens, schließt die merkwürdigen Rhap¬
sodien, die uns ebenso verwirren, als anziehen.
Die geistlichen Lieder sind sehr schön, ja sie gehören zu den reinsten
Dichtungen unsrer Lyrik, nur ist soviel klar, daß sie keine geistlichen Lieder
sind. Niemals spricht sich die von der Kirche umfaßte Gemeinde, es spricht
sich nur ein seltsam organisirtes sehnsuchtsvolles Gemüth aus. Niemals ist
die kirchliche Tradition die Grundlage des Bildes, sondern überall eine freie
und glühende Phantasie. Alle Bilder der Religion verklären sich im reichsten
Farbenglanz der Dichtung und wie es den großen Malern des 16. Jahrhun¬
derts gelang, die kirchlichen Ueberlieferungen trotz ihres innern Widerstrebens
in das sonnenhelle Reich der Farbe und Gestalt aufzunehmen, so wird auch
hier durch eine seltene dichterische Gabe das Ueberlieferte zu einer individuellen
Erscheinung. Zu einer Zeit, wo man ganz mit Recht auf das drohende Um¬
sichgreifen des Katholicismus aufmerksam wurde, hat man auch in Novalis
in diesen Gedichten an die Jungfrau Maria u. s. w. die katholische Anschauung
wiederfinden wollen, und Fr. Schlegel, der selbst katholisch geworden war,
nahm zu diesem Zwecke einen älteren Aussatz ,,über die Christenheit", der früher
seiner Unreife wegen verworfen worden war, 1836 in die sämmtlichen Schriften
von Novalis auf. Es ist aber sehr taktvoll von Tieck gewesen, daß er bei
der 3. Auflage diese Schrift wieder ausgemerzt hat, und zwar ist es sehr richtig,
daß er auf seinen Freund das bekannte Distichon von Schiller anwendete:
„Welche Religion ich bekenne? Keine von allen,
„Die du mir nennest! Und warum keine?
Aus Religion."
Nur in einem Sinne könnte man Novalis katholisch nennen, weil ihm
die Religion durch das Medium der Phantasie aufging, während der Protestant
sie durch das Medium des Gewissens empfangen soll. Aber dieser Unterschied
war in jener Zeit überhaupt abgeschwächt und die Phantasie nahm bei No¬
valis nicht jene bedenklichen Wendungen an, die das Spiel in das Gebiet
der Wirklichkeit überführen. Man lese die folgenden Strophen an die Jung¬
frau Maria und man wird sich überzeugen, daß hier nicht von der katholischen
Mutter Gottes, soudern nur von einem freien, rein poetischen Ideale die
Rede sein kann.
„Oft, wenn ich träumte, sah ich dich,
So schön, so herzensinniglich,
Der kleine Gott aus deinen Armen
Wollt des Gespielen sich erbarmen;
Du aber hobst den hehren Blick
Und gingst in tiefe Wvlkenpracht zurück.Was hab ich Armer dir gethan?
Noch bet ich dich voll Sehnsucht an,
Sind deine heiligen Kapellen
Nicht meines Lebens Ruhestellen?
Gebenedeite Königin,
Nimm dieses Herz mit diesem Leben hin!
Die Lehrlinge von Sais sind ein Bestreben, die Natur in das Gebiet
der Poesie und Philosophie aufzunehmen, sie in Symbolik und Mythologie
aufzulösen. Es sind wol einzelne interessante Bemerkungen darin, das Ganze
aber ist schattenhafter und gestaltloser, als irgendeine andere Schrift von No-
palis. Wenn man an die spätern schädlichen Versuche in dieser Richtung
denkt so ist ein Widerwille gegen diese ebenso unkünstlerische als unwissen¬
schaftliche Methode wol gerechtfertigt. Ueberhaupt müssen wir gestehen, daß
uns auch unter Novalis Fragmenten die naturphilosophischen am wenigsten
anziehen; es zeigt sich wol darin, daß er in diesem Gebiet eine vielseitige
Kenntniß, auch eine große Gabe zu combiniren besitzt, aber der Ausdruck ist
doch zu spielend und geziert, man fühlt immer heraus, daß Mittelglieder aus¬
gelassen und daher fälschlich das bedingungsweise Richtige in das Gebiet deS
Unbedingten aufgenommen ist. Er combinirt mit unerhörter Kühnheit, ohne
in das Einzelne eine klare Einsicht erlangt zu haben; dann schmeichelt ihm
die Klangform des Gedankens alle Bedenken aus der Seele und wo die
ernste Untersuchung erst angehen sollte, machr er einen spielenden Schluß, ein
zierlicher Witz überrascht uns, wo wir eine concrete Anschauung erwarten. Hin
und wieder hat man den wunderlichen Versuch gemacht, aus diesen Fragmenten ein
Ganzes zu machen: es ist nicht viel Kluges dabei herausgekommen. So müssen
wir namentlich gestehen, daß die berühmten Fragmente über die Mathematik,
die er noch selbst hat drucken lassen und die mit den merkwürdigen Aussprüchen
schließen (II. S. 1i7) „ohne Enthusiasmus keine Mathematik, das Leben der
Götter ist Mathematik, alle göttlichen Gesandten müssen Mathematiker sein,
reine Mathematik ist Religion, zur Mathematik gelangt man durch eine Theo-
phanie" u. s. w. nichts anders zu sein scheinen, als der Versuch, Buchstaben
in ungewöhnlichen Arabesken zu combiniren.
Allein eine Seite seines aphoristischen Denkens ist uns zu wichtig für
den Entwicklungsgang der gesammten Schule, als daß wir hier nicht näher
darauf eingehen sollten. Es sind seine Gedanken über das Christenthum,
von denen wir die Hauptpunkte mit seinen eignen Worten angeben.
--Absolute Abstraction, Vernichtung des Jetzigen, Apotheose der Zukunft dieser
eigentlich bessern Welt: dies ist der Kern der Geheiße des Christenthums.--Die christliche Religion ist die eigentliche Religion der Wollust. Die Sünde ist der größte
Reiz für die Liebe der Gottheit; je sündiger, sich der Mensch fühlt, desto christlicher ist er.
Unbedingte Vereinigung mit der Gottheit ist Zweck der Sünde und Liebe. Dithyramben sind
ein echt christliches Product. —Die christliche Religion ist auch dadurch merkwürdig, daß sie so entschieden den bloßen
guten Wille» im Menschen, und seine eigentliche Natur, ohne alle Ausbildung, in Anspruch
nimmt. Sie steht tu Opposition mit Wissenschaft und Kunst nud eigentlichem Genuß. Vom
gemeinem Mann geht sie ans. Sie beseelt die große Majorität der Beschränkten ans Erden.
Sie ist das Licht, das i!i der Dunkelheit zu glänzen anfängt. Sie ist der Keim alles Demo-
kratismus, die höchste Thatsache der Popularität. —Die griechische Mythologie scheint für die gebildeten Menschen zu sein und also in gänz¬
licher Opposition mit dem Christenthum. —Unglück ist der Beruf zu Gott. Heilig kann man nur durch Unglück werden, daher sich
auch die alten Heiligen selbst ins Unglück stürzten. —Höchst sonderbar ist die Aehnlichkeit unsrer heiligen Geschichte mit Märchen: anfänglich
eine Bezauberung, dann die unerhörte Verhöhnung n. s. w. die Erfüllung der Verwünschungs-
bcdingnng. —Die Geschichte Christi ist ebenso gewiß ein Gedicht wie eine Geschichte; und überhaupt ist
nur die Geschichte eine Geschichte, die auch Fabel sein kann. —Einem gelang es, er hob den Schleier der Göttin zu Sais-'
Aberwas sah er? — Er sah. Wunder des Wunders, sich selbst.
Noch ist keine Religion. Man muß eine Bilduiigsschule echter Religion erst stiften.
Das Lamentable unsrer Kirchenmusik ist blos der Religion, der Buße, dein alten Testa¬
ment, angemessen, in dem wir eigentlich noch sind. Das neue Testament ist uns noch ein Buch
mit sieben Siegeln.Wie vermeidet man bei Darstellung des Vollkommenen die Langeweile? Die Betrachtung
Gottes scheint als eine religiöse Untersuchung zu monoton — man erinnere sich an die voll¬
kommenen Charakter in Schauspielen, an die Trockenheit eines echten rein philosophischen
oder mathematischen Systems n. s- w. So ist selbst die Betrachtung Jesu ermüdend -— die
Predigt muß pantheistisch sein, angewandte, individuelle Religion, individualisirte Theologie
enthalten. —Das Christenthum ist dreifacher Gestalt. Eine ist, als Zeuguugselement der Religion,
eine als Mittlerlhnm überhaupt, als Glaube an die Allfähigteil alles Irdische», Wein und
Brot des ewigen Lebens zu sein. Eine als Glaube a» Christas, seine Mutter und die
Heiligen. Wählt welche ihr wollt, wählt alle drei, es ist gleichviel, ihr werdet damit Christen
und Mitglieder einer einzigen, ewigen, unaussprechlichen Gemeinde. Angewandtes, lebeudig-
gewordcnes Christenthum war der alte katholische Glaube, die letzte dieser Gestalten. Seine
Allgegenwart im Leben, seine Liebe zur Kunst, seine tiefe Humanität, die Unverbrüchlichkeit
seiner Ehen, seine menschenfreundliche Mittheilsamkeit, seine Freude an Armuth, Gehorsam
und Treue, machen ihn als echte Religion unverkennbar, und entHallen die Grundzüge seiner
Verfassung. Er ist gereinigt durch den Strom der Zeiten; in inniger, nntheilbarer Verbin¬
dung mit den beide» andern Gestalten des Christenthums wird er ewig diesen Erdboden be¬
glücken. Seine zufällige Form ist so gut wie vernichtet; das alte Papstthum liegt im Grabe,
und Rom ist zum zweiten Mal eine Ruine geworden. Soll der Protestantismus uicht endlich
aufhören und einer neue», dauerhafte» Kirche Platz machen? Die andern Welttheile warten
auf Europas Versöhnung und Auferstehung, uni sich anzuschließen, und Mitbürger des Himmel¬
reichs zu werden. — —
Wir glauben nicht zu übertreiben, wenn wir behaupten, daß unter sämmt¬
lichen christlichen Religionsparteien sich keine finden wird, welche diese Sätze
als ihr Symbol anerkennen möchte, wie überraschend fein auch einzelne Be¬
merkungen sind. Der christlichen Kirche ist durch dergleichen geistreiche, tiefe,
aber immer doch nur individuelle Selbstbetrachtungen vielweniger genutzt
worden, als durch die praktisch-sittliche Entwicklung ihrer äußerlichen Ordnun¬
gen, von welchem Zweige des großen Baumes dieselben auch ausgehen
mochten.
Der auf administrativen Wege von der preußischen Negierung erzwungene
Rücktritt des Herrn Brüggemann von der Redaction der „kölnischen Zeitung"
hat in weitesten Kreisen gerechtes Aufsehen erregt; Herr Brüggemann hat jetzt
eine genauere Darstellung dieses Vorganges und zugleich eine Rechtfertigung
seiner neunjährigen Redaction erscheinen lassen.
Herr Brüggemann, 1810 in Westphalen geboren, hatte in Bonn und
Heidelberg Staatswissenschaften heübin. Er hatte eine jugendliche demagogische
Verirrung mit achtjähriger Gefängnißhaft gebüßt, in Berlin 18i2 eine „kri¬
tische Beleuchtung von Lifts nationalem System der politischen Oekonomie" und
1843 „Preußens Beruf in der deutschen Staatsentwicklung" herausgegeben,
als er im October 18is die Redaction der kölnischen Zeitung antrat. Vor
seinem Abgange nach Köln erklärte ihm warnend der damalige Minister
des Innern von Bodelschwingh, daß eine etwaige „communistisch-subversive
Tendenz seiner Redaction sofort eine Unterdrückung der Zeitung unfehlbar zur
Folge haben würde, indem die Censur nur zur Beseitigung einzelner Aus¬
wüchse, nicht aber gegen beharrliche gefährliche Tendenzen der Presse aus¬
reiche." Herr Brüggemann war indeß von Communismus sehr weit entfernt.
Schon 1842 hatte er drucken lassen: „Vor allem wird die Rettung der Prole¬
tarier aus der Schmach und Noth des Pöbelthums unsre Aufgabe sein. Es
muß dem Proletarier der Geist der Ehre und der Freiheit eingehaucht und der
Teufel des ehrlosen Leichtsinns und der Genußsucht ausgetrieben werden. Er
soll nichts als erniedrigendes Almosen empfangen, was ihm als Lohn recht¬
mäßig gebührt! Freilich läßt sich solche Umwandlung nur sehr allmälig schaffen.
Das Mittel ist die Gründung von Versicherungskassen (Kranken-, Penstons-
Wittwenkassen) selbst mit Zwangsbeiträgen und zunächst unter Oberleitung der
Behörden, aber jedenfalls auch vom Anfange an mit einiger und zwar
sich immer erweiternder Ehre der Selbstverwaltung. Hierin liegt das ein¬
zige irgend gründliche Heilmittel und Präservativ gegen Communismus."
Der Kern von Brüggemanns politischem Redactionsprogramm war ein
„von der Ortsgemeinde bis zum Staate und bis zum nationalen Reiche durch¬
geführtes Selfgov ernmen t — im Gegensatz zu dem französischen Schein-
constitutionalismus mit seiner blos theoretischen Theilung der Gewalten und
in der unmittelbaren Anlehnung an die bestehenden, noch lebensfähigen Zustände
und zwar für Preußen insbesondere an die Stein-Hardenbergische Gesetzgebung
der Rcgenerationszeit. Was die auswärtige Politik betrifft, so verlangte
Brüggemann schon damals dem Russenthum gegenüber die Einheit des
abendländischen Völkerbundes. Er wies auf den Ausspruch Fallme-
rayers hin: „Bei den Nüssen sind Religion und Wissenschaft nicht viel mehr als
Zwei gefällige Diener, die nebenher auch das Kupplergeschäft für das Weltliche zu
besorgen haben. Der Deutsche dagegen baut der Religion einen Thron in
seinem Herzen und huldigt der Wissenschaft wie einer großen weltgebietenden
Macht. Zwischen solchen Völkern ist der Hast instinctartig und jedes Ver¬
ständniß eine Unmöglichkeit, besonders wenn sie als Nachbarn .in täglicher
Berührung sind." Das sei aber ein Gegensatz, an welchem das ganze
Abendland theilnehme und er werde früher oder später der Ursprung einer
heiligen Allianz des Abendlandes werden.
Die Jahre von 1846 bis zum März 1818 waren für Preußen eine glückliche
Zeit stetig fortschreitender Verfassungsentwicklung. Vrüggemann erstrebte den
Gewinn eines repräsentativen Centralorgans für Preußen und eines
festeren Rechtsbodens für die ständische Einwirkung, damit nicht länger
alles Recht eine widerrufliche Gnade und der „ständische Beirath" nur ein
unmaßgebliches Gutachten bleibe. Es handelte sich zunächst darum, wieweit
die Competenz der Provinziallandtage gehe und ob die Regierung, wenn sie
eine die bisherige factische Ausdehnung der Gesetze von 1823 und 1824 „be¬
richtigende", d. h. beschränkende Interpretation erlassen wollte, verpflichtet
sei, hierüber mit den Ständen zusammen die durch Bundesbeschluß vom
30. Octbr. 1836- geschaffene Cvmpromißinstanz des Bundes anzurufen. Brügge¬
mann bejahte diese Frage entschieden. Es entsprach aber diese Behauptung
nicht der Würde des preußischen Staates einer Versammlung gegenüber, wieder
„Bundestag" war, sie wurde als „unpreußisch" erachtet. Dieser Umstand und
die Haltung der kölnischen Zeitung bei den bedauerlichen kölner Conflicten
Zwischen Militär und Civil im August 1846 veranlaßten im Herbst 184 6 eine
Verwarnung der kölnischen Zeitung und bedenkliche Andeutungen bezüglich der
„Concession" zur Herausgabe des Blattes. Bei dieser Gelegenheit erklärte
Brüggemann dem Referenten in Preßangclegenheiten, Geheimrath Mathis
in Berlin, sehr richtig, daß ein Blatt, wie der „rheinische Beobachter", das
damalige ofsiciöse Organ der Regierung in der Rheinprovinz, niemals wurzeln
und deshalb auch die Regierung niemals stärken könne, während die Negierung
>n der kölnischen Zeitung wenigstens eine aufrichtige und warme Vertheidigerin
der Zukunft Preußens und seines deutschen Berufs besitze.
Am 3. Februar 1847 erschien das so wichtige „allerhöchste Patent, die
ständischen Einrichtungen betreffend", welches der vereinigten Landesvertretung
nur für Anleihen und Steuererhöhungen eine entscheidende Stimme bewilligte.
Es handelte sich damals um „Ablehnen oder Annehmen?" Die kölnische Zei-
tung sprach sich für eine vertrauensvolle Annahme der königlichen Gabe aus,
nur daß sie die noch mangelnden, 1843 und 1820 versprochenen Verfassungs-
rechte vom berufenen „vereinigten Landtage" selbst „gewahrt" wissen wollte.
Sie erklärte ihre Befriedigung darüber, daß der vereinigte Landtag zwei ein¬
ander entgegenstehende Klippen vermied: den konstitutionellen Doktri¬
narismus, der unter Verkennung der dargebotenen werthvollen Anfänge und
Handhaben zu einer „Jncompetenzerklärung" führen mußte und das falsche
Vertrauen, welches alle festen politischen Formen für entbehrlich hält; daß
der Landtag sofort in sich die Reichsstände von 1820 anerkannte, aber zugleich
wegen der ihm als solchen noch nicht völlig Überantwortelen Rechte ehrerbietige
Verwahrung einlegte; daß er in standhafter Behauptung der rechten Linie der
Wohlthat der Landrentenbanken entsagte und den ersehnten Bau der großen
Ostbahn, wenn auch mit schwerem Herzen, ablehnte. Die erste Befestigung
eines sichern Rechtsbodens war erfolgt, zugleich in der Gewissens- und Cultus-
sreiheit durch das Patent vom 30. März 1847 über die Civilstandsacte der
Dissidenten ein wichtiger Schritt vorwärts gethan.
Noch war der Ausschuß des vereinigten Landtags in Berlin versammelt,
als die pariser Februarrevolution ausbrach und von 1848 bis zum Novembe-r
18S0 eine Periode wechselnder Täuschungen und Enttäuschungen folgte,
während welcher die Negierung selbst wechselnde Ziele aufpflanzte und wieder
aufgab.
Sofort nach der Kunde von den pariser Februarereignissen machte die köl¬
nische Zeitung Front gegen Frankreich und französische Propaganda. Sie
wollte die Freiheit Deutschlands, aber aus dem ureigner Geiste des deutschen
Volkes; sie wollte diese Freiheit nicht auf Kosten der Ehre und der Unabhängig¬
keit des Vaterlandes; sie verlangte rechtzeitige Kriegsbereitschaft Deutschlands,
daneben aber auch alsbaldige Berufung der deutschen Volksvertreter um die
deutschen Throne. Sie verlangte insbesondere von der preußischen Negierung
eine Konstitution sür Preußen und eine thatkräftige Initiative zur Reform des
deutschen Bundes.
Die preußische Regierung bewilligte aber am K.März nur die Periodicität
des vereinigten Landtages, berief den Landtag auf den 27. April nach Berlin
und lud die deutschen Fürsten zur „Regeneration des deutschen Bundes" zu
einer Konferenz nach Dresden auf den 23. März ein, wobei sie ausdrücklich
bemerkte, daß Oestreichs Stellung nicht präjudicirt werden solle.
Noch einmal, am 18. März, mahnte die kölnische Zeitung an die Dring¬
lichkeit des Augenblicks, die langwierige Fürstencongresse nicht zulasse, Preu¬
ßen müsse Deutschland durch eine von der Noth gebotene kühne Usurpa¬
tion retten. Aber es war jetzt zu spät. In Wien war am 19. März Met-
ternich und sein System gestürzt, die Kaiserstadt unter die Herrschaft der Aula
gefallen. In Berlin brach am -18. März der Straßenausruhr aus und wurde
am -19. März der Abzug der Garnison befohlen. Roch an demselben Tage
wurde in Köln auf dem Domkmhnen die dreifarbige Fahne aufgepflanzt
und die Demokraten und Ultramontanen begannen ihre preußenfeindlichen
Wühlereien.
Die kölnische Zeitung hielt fest an der Monarchie und an Preußen. Ob¬
gleich sie bedauerte, daß Graf Arnim an die Spitze des neuen preußischen Mini¬
steriums gestellt worden, erklärte sie: „Die rasche Regeneration Deutschlands
beruht ganz vorzüglich darauf, daß Preußen fest und mächtig — der König
durch das Volk, das Volk durch den König gestützt — das Werk beginnen könne."
Als dann der König von Preußen am 21. März erklärte, ,,er übernehme
die Leitung Deutschlands für die Tage der Gefahr und Preußen gehe fortan in
Deutschland auf", begrüßte die kölnische Zeitung des Reiches Wiedergeburt,
mahnte aber, auch dem großen Worte die That sogleich folgen zu lassen'und
„die Mannschaften deS Reichs in Kriegsbereitschaft zu setzen. Denn in Süd¬
deutschland wütheten die Republikaner und Ultramontanen gegen Preußen, in
Berlin, in den Provinzialhauptstädten und namentlich auch in Köln tagten die
Klubs als „souveränes Volk", während die Negierung unthätig blieb. Die
kölnische Zeitung schaffte Waffen und Befestigungsmittel ins Haus, um
ihre Personen und besonders ihre Pressen mit Gewalt gegen Gewalt zu ver¬
theidigen.
Unter diesen Umständen aber entfernte die kölnische Zeitung am I.April
18i8 den preußischen Adler von ihrem Titelblatt. Die Entschuldi¬
gung des Herrn Brüggemann, der Adler sei „verschlissen" gewesen, ist un¬
genügend. Es war dieser Act mindestens eine große Schwäche der kölnischen
Zeitung, wenn auch Herr Brüggemann am 30. März für das Kaiserthum bei
der Krone Preußen sich erklärte und am -I. April sagte, Preußen sei der
Staat, der allein der Gefahr gewachsen sei, dem Deutschland sich anschließen
müsse.
Inzwischen trat die preußische Negierung nicht an die Spitze der natio¬
nalen Wiedergeburt; sie zögerte in Holstein, sie ließ die Verwirrung in Posen
bestehen, die erwartete allgemeine Mobilmachung blieb aus. Man erwartete
nunmehr das Heil von den beiden nach Frankfurt und Berlin einberufenen
VersassungSparlamenten.
Aber der in Berlin von dem Ministerium Camphausen vorgelegte Ver¬
fassungsentwurf zerstörte nicht die gefürchtete Reaction rasch und factisch in
ihren Wurzeln, er enthielt keine genügenden Bestimmungen über das Ab¬
lösungswerk und über neue Landgemeinde- und Kreisordnuugen. Obgleich die
kölnische Zeitung von diesem Entwürfe nicht, befriedigt war, hielt sie doch
den radicalen Fractionen der Nationalversammlung gegenüber den echt con-
stitutionellen Vereinbarungsstandpunkt fest, bekämpfte alle Anträge auf „An¬
erkennung der Revolution" und verwarf ein „suspensives Veto" der Krone,
sie erklärte, daß in der Monarchie der Monarch als solcher nie formell ge¬
zwungen werden kann.
Aber immer hoffnungsloser wurden die Zustände. In Berlin, im Süden
und Westen Deutschlands wühlten die Demokraten, in Pommern, Preußen
und in der Mark die Junker. Da beschloß die constitutionelle Partei den
bürgerlichen Mittelstand fester zu organisiren: sie bildete die „constitutionellen
Bürgervereine". Köln wurde Vorort derselben im Rheinland und Westphalen.
Ihnen gehörte die kölnische Zeitung an, sie, mahnte zum thätigen Selbstver¬
trauen des Mittelstandes.
Inzwischen arbeitete einerseits das Ministerium Auerswald, andrerseits
die Demokraten den Junkern in die Hände. Das Ministerium, statt organische
Gesetze über'Grundlasten, Gemeinde- und Polizeiverwaltung auf dem platten
Lande rasch'durchzuführen und sowol die.reactionäre, als die demokratische
Wühlerei zu unterdrücken, bereitete gegen die Demokratie einige blos äußerliche
Widerstandemittel vor. Die Souveränitätsgelüste ver Nationalversammmlung
stiegen, andrerseits wurden die Presse des Bülow-Kummervwschen Junker¬
parlaments und die Preußenvereine immer kühner. Da erfolgte in Berlin
der Einzug des Generals Wrangel. Die Bildung des Ministeriums Branden-
burg-Manteuffel, die Vertagung und die Verlegung der Nationalversammlung
nach Brandenburg, endlich die octroyirte Decemberverfassung, welche die köl¬
nische Zeitung als eine „unerfreuliche Gabe" bezeichnete.
Die kölnische Zeitung richtete den Blick sehnsüchtig nach Frankfurt. Hier
war im April -18-58 durch das Zaudern Preußens die Gelegenheit „die Ein¬
heit Deutschlands" rasch zu schaffen, verpaßt. Die Hegemonie Preußens hielt
die kölnische Zeitung aber fortdauernd für die Reichseinheit unerläßlich;
Preußens Heer müsse der Kern der künftigen Neichserecutive sein. Oestreich
mit seinen vielen außerdeutschen Staaten müsse aus der deutschen Neichseinheit
entlassen werden, mit ihm sei daS weitere Band einer staatenbündlichen Eid¬
genossenschaft zu schließen: die einzige rein deutsche Großmacht, Preußen, sei mit
der einheitlichen Vertretung und Führung Deutschlands zu belehren. So sprach
die kölnische Zeitung am 2..August 1848. Da kamen die Herbstereignisse, der frank¬
furter Septemberaufstand, die Wühlereien, die Revolution und Contrerevolution
in Berlin und Wien, endlich die October- und Novemberkatastrophen. Stärker
als zuvor wurde der Widerstand der preußischen und der östreichischen Negierung
gegen Frankfurt. Das von der kölnischen Zeitung freudig begrüßte Programm
Schwarzenbergs von Kremsier: „Trennung Oestreichs vom deutschen Bundes¬
staat unter vorläufiger Erfüllung der allen Bundespflichten bis zur spätern Ver¬
einbarung neuer, engerer völkerrechtlicher Beziehungen" blieb wirkungslos. Am
4- Januar 1849 protestirte Schwarzenberg gegen jede Neugestaltung Deutsch¬
lands ohne Oestreichs Zustimmung. In diesem Sinne arbeiteten auch die
östreichischen Abgeordneten in Frankfurt. Endlich kam es zu den Compromiß-
beschlüssen und zur Kaiserwahl vom ij0. März -I8/i9.
Die kölnische Zeitung verlangte Annahme der deutschen Krone von Preu¬
ßen, jedoch in einer Form, welche die Revision der von den Oestreichern und
den Demokraten verdorbenen Reichsverfassung und die formelle Freiwilligkeit
des Beitritts der Einzelnstaaten zum Reiche vorbehielt. Sie tadelte die berliner
Ablehnung und die frankfurter Störrigkeit. Sie und die ganze constitutionelle
Partei war in peinlichster Lage. scheiterte das Verfassungswerk, so stand es
schlimmer als vor dem März -1848. Der kleinere Bürgerstand am Rheine war
infolge der jüngsten Novemberenttäuschungen theils indifferent geworden, theils
zu den Demokraten übergetreten. Sehr viele intelligente Männer erklärten,
die Constiuttionellen hätten die Uebertreibungen der Revolution dulden, ja
fördern müssen, bis diese die Grundlagen der feudalen und absolutistischen
Reaction erst gründlich zerstört hätten: jetzt bleibe nur noch übrig, daß die
Reaction recht maßlos auftrete, und sich selbst zu Grunde richte. Da erfolgte am
27. April 1849 in Berlin die Auflösung der zweiten Kammer und ein octroyir-
teö neues Wahlgesetz ließ nicht auf sich warten.
Die constitutionelle Partei der Rheinprovinz berief einen rheinischen' Ge¬
meinderag nach.Köln. Derselbe entschied sich sür einen „allgemeinen Adressen¬
sturm an den Thron". Aber die mitvertretenen „Demokratisch-Constitutionellen,"
welche einen förmlichen' Widerstand gegen die Einziehung der Landwehr zur
Unterdrückung der süddeutschen Bewegungen für die Reichsverfassung organisir-
ten, brachten in die abzugebende Erklärung den Satz hinein: „bei Nichtbeach¬
tung dieser Erklärung drohen dem Vaterlande die größten Gefahren, durch die
^ selbst der Bestand Preußens in seiner gegenwärtigen Zusauunensetzung gefährdet
werden kann." Diese Erklärung wurde jedoch von den Constitutionellen und
von Herrn Brüggemann nicht unterzeichnet. Dennoch warf der Oberpräsident
Eichmann der kölnischen Zeitung vor, sie „habe mit dem Abfall der Rheinpro¬
vinz" gedroht; die kölnische Zeitung protestirte sofort gegen diese Anschul¬
digung lind maß die Schuld an dem deutschen Bürgerkriege dem „unseligen"
Ministerium bei.
Inzwischen erfolgte die allerhöchste Proclamation vom Is. Mai 1849,
das Dreikönigsbündniß und der berliner Entwurf einer „Reichsverfassung vom
28. Mai 1849. Die kölnische Zeitung begrüßte denselben mit warmer Zu¬
stimmung und.ließ sich sogar das octroyirte, preußische neue Wahlgesetz gefallen.
Sie rieth ihren Freunden, nach demselben zu wählen, damit die Kammern der
Regierung in ihrem deutschen Werke kräftig zu Seite ständen. Aber der
„Reichstag" zu Erfurt im April blieb erfolglos. Nach der Endton.inuahme
der Reichsverfassung wurden die Bundeöstaatsfürsten Mitte Mai von dem
Neichsoberhauptc zu einem „Fürstcncongresse" nach Berlin geladen und hier
nicht blos über das Wie, sondern auch noch über das Ob befragt. Die
Union war todt. Die. neuprcußischc Presse, welche die Union haßte, schrieb:
„Preußen darf nicht urtergchen in Nassau und Waldeck!" Oestreich und seine
Genossen in Frankfurt faßten Bundesbeschlüsse, verfügten Bundeserecutionen,
stellten im October bairische und östreichische Bundeserecutionslrnppen an
der kurhesstschen Grenze auf. Am 3. November rückten wirklich die Baiern
in Kurhessen ein, dem von Preußen aufgestellten eaLus delli offen trotzend.
Preußen wich zurück. Die kölnische Zeitung sprach heftig ihren Schmerz und
Unmuth aus. Sie wurde „wegen Schmähung der Anordnungen der Obrig¬
keit" und wegen „Verletzung der Ehrfurcht gegen den König" vor Gericht ge¬
stellt, aber freigesprochen. Es folgten am 29. November die bekannten Punc-
tationen von Olmütz. 32 Millionen Thaler, welche die Kammern zur Durch¬
führung der Union bewilligt hatten, waren umsonst ausgegeben. Der Kreis¬
lauf der „deutschen Täuschungen" war vollendet. Mit dem November 1830 begann
der Sieg der Reaction. Die kölnische Zeitung predigte jetzt — „denn müßige
Trauer stehe niemandem gut an, am wenigsten aber einer Zeitung" — die feste
Verbindung Preußens mit den constitutionell-gesinnten deutschen Staaten, be¬
sonders Hannover, und mir dem antiruisischen europäischen Wesen. Die Ver¬
fassung vom 6. Februar 18i8 war immer noch ein breiterer Rechtsboden für
die Volksvertretung, als der vereinigte Landtag von 4848. Aber die Masse
des von der Contrerevolution am meisten bedrohten Mittelstandes zeigte eine
Mattigkeit, Bequemlichkeit und Mutlosigkeit, welche dem Andrang der ritter-
schaftlichen Reaction mit ihren Neactivirungen wenig Widerstand entgegensetzte.
Der Führer dieser Reaction, Herr von Gerlach, erklärte bereits am 7. Fe¬
bruar -1851 in der ersten Kummer bei Gelegenheit des Gesetzes über die Ab-
löslichkeit der Renten frommer Stiftungen, er würde, wenn er zur Annahme "
dieses Gesetzes riethe, eines größern Bruches des Vcrfassungöeides sich schuldig
machen, als wenn er die Cassirung der Paragraphen der Verfassungsurkunde,
die von den Kammern handele, durch eine Cabinetsordre empfehlen würde.
Ein zweiter Führer der Reaction, H e rr von Kleist-Retzow, widersetzte sich
in der zweiten Kammer der Ministerverantwortlichkeit mit der Erklärung: „die
Verfassungsurkunde von I8S0 enthält nicht unsre ganze preußische Verfassung:
es gibt Grundsätze, älter, wichtiger,'heiliger als irgendeine Bestimmung dieser'
Verfassungsurkunde. Einer derselben ist, daß Preußen eine Monarchie ist,
daß wir in Preußen einen König haben müssen." Das Organ dieser Partei,
die neue preußische Zeitung, nannte den Einfluß des mit revolutionären Irr¬
lehren reichlich durchwehten allgemeinen Landrechtö demoralisirend.
Gegen diese neue preußische Zeitung, gegen die kleine, aber mächtige
Partei kämpfte die kölnische Zeitung. Sie kämpfte gegen die Dominial-
Polizei, gegen die Restauration der Stände, gegen die Herstellung der ältern
Gemeinde- und Kreisordnungen in den östlichen Provinzen. Da erklärte
der Prinz von Preußen im April 1831 in Köln: „die kölnische Presse
säet Zwietracht und reizt zur Unzufriedenheit" und es folgten diesen könig¬
lichen Worten Vermahnungen des Regierungspräsidenten zu Köln zu „Vor¬
sicht und Mäßigung." Am 13. und 2«. Mai 1831 ordnete der Minister
von Westphalen die Einberufung der alten Kreis- und Provinzialstände an
zur Ausführung des Einkommensteuergesetzes und zur Begutachtung einer
vollständigen Umwandlung der suspendirten Gesetze vom 11. Mai 1830.
Nicht etwa blos die Konstitutionellen, sondern auch höchst conservative Män¬
ner — Graf FürsteiU'erg-Stammheim, Herr von Bethmann-Hollwcg — protestir-
ten gegen diese Untergrabung und Verletzung der Verfassung: sie verweigerten
das Erscheinen in den reactivirten Versammlungen. Die opponirende Presse
wurde zum Schweigen gebracht, der König nannte den Geist der kölnischen
Zeitung einen „feindseligen": der inzwischen zum Oberpräsidenten der Rhein¬
provinz ernannte Herr von Kleist-Retzow drohte der Zeitung mit den „streng¬
sten administrativen Maßregeln", wenn sie ihre bisherigen Angriffe auf die
Maßnahmen der Negierung nicht einstelle. Herr Brüggemann erklärte unter
dem 23 August mit den Worten: ,,V<zru, Je-cM Amen>, cle-giFnor älekre lalsa.!"
er werde sich fortan voll jeder Beurtheilung der Negierungsmaßregeln fern
halten. Einen Tendenzwechsel der Zeitung zu erzielen gelang jedoch Herrn
von Kleist-Retzow nicht. Verhandlungen mit den höchsten Behörden in Berlin
im November 1831 hatten das Resultat, daß die kölnische Zeitung ihre Ten¬
denz beibehalten und die Besprechung der preußischen Politik allseitig wieder
aufnehmen durfte. Sie sollte sich aber größter Mäßigung und Vorsicht be¬
fleißigen und weder der Regierung, noch, den mit ihr stimmenden Kammer-
Parteien „schlechte Motive" unterlegen. Die Polemik sollte alles „persönlich
Verletzende" vermeiden, doch Angriffe andrer Blätter mit gleicher Münze be¬
zahlen dürfen. Eine wirklich verfassungsmäßige Preßfreiheit war aber auch
das nicht; die kölner Zeitung erklärte bald darauf, von einer kritischen Be¬
sprechung der Thronrede, von lebhafterer Betheiligung an den Kämpfen der
Kammerparteien müsse sie Umgang nehmen.
Ein neuer Abschnitt sür die Redactionsthätigkeit des Herrn Brüggemann
begann im Frühjahr 1833 mit der orientalischen Verwicklung. Er begrüßte
froh die Gegenströmung des Westens gegen den erstarrenden russischen Eis¬
strom. Die preußische Negierung folgte anfangs dem Westen. Obgleich die
Kreuzpeilung erklärte: „Nußland ist im Recht und Preußen kann nicht wider
das Recht," erklärte die preußische Regierung in Wien mit den drei andern
Großmächten Rußland im Unrecht. Im October 1833 verwarf Preußen die
von Oestreich vorgeschlagene „deutsche Neutralität/' Aber im Februar -1854
trat ein Umschlag ein: Preußen weigerte sich, die Executive gegen Rußland
zu ergreifen. Die kölner Zeitung war wieder in die Opposition geschleudert.
Es erfolgten bereits im März 1834 neue Verwarnungen und gehäufte Beschlag¬
nahmen, zuerst, weil die kölnische Zeitung die Dvminialpolizei als eine „halbe
Leibeigenschaft" bezeichnet hatte. Dann wurde ihr bedeutet, sie dürfe nicht
mehr von „Junkerpartei" sprechen: das sei Aufreizung der Angehörigen des
Staats zum Haß gegeneinander. Im Juni -1834 folgte eine Verwarnung
des Oberpräsidenten „im Auftrag des Staatsministeriums" mit Androhung
eventueller Concessionsentziehung und mit der Forderung genügender Garantie
durch einen Nedactionswechsel. Die kölnische Zeitung verstand sich dazu, jede
verlangte „Maßhaltung" zu beobachten. Herr Brüggemann wußte aber das
„zulässige Maß" nicht zu finden. Er schrieb einen Artikel „die Wiedergeburt
des Vaterlandes", in welchem er die Kreuzzeitungspartei mit der französischen
Partei in Preußen von -1808 in eine Kategorie stellte. Da theilte der Re¬
gierungspräsident in Köln dem Verleger der kölnischen Zeitung, am 10 März 1855,
den Beschluß der höhern Behörde mit, daß er nur noch zwischen einem Re¬
dactionswechsel und der gewerblichen Concessionsentziehung zu wählen habe,
und zwar „wegen Mangel an Maßhaltung." Herr Brüggemann behauptet,
das Motiv dieser Maßregel sei nicht Mangel an Maßhaltung, sondern seine
conseguente Stellung zum Artikel 42. der Verfassung und zur Dominialpolizei
gewesen. Am 3-1. Mai 1855 legte Herr Brüggemann die Redaction nieder.
Er hat den Umständen viel Rechnung getragen, von Schwankungen sich nicht
frei erhalten. Er gesteht selbst, in Bezug auf die Mittel zum Ziel manchmal
geirrt zu haben, aber die Festigkeit und Redlichkeit seiner patriotischen Ge¬
sinnung lasse sich nicht bestreikn. Er rühmt an der ihm feindlichen ritter¬
schaftlichen Partei die energische und opferwillige Vertretung ihrer Interessen
und klagt über die „stumpfe Gleichgiltigkeit des Bürgerthums." Das Bürger-
thum sorge nicht für gemäßigte, aber bürgerfreundliche Kreis- und Volksblätter,
nicht für Wahlcomitvs: die Angesehensten und Reichsten weigern sich ost, eine
Wahl in die Kammer anzunehmen, um sich nicht „nutzlos zu ärgern." Es
sei nicht genug, Diners und Bälle zu geben, die Künste zu beschützen und
seine Kinder ausbilden zu lassen, man müsse auch seine politischen Pflichten
mit mannhaften Charkter erfüllen.
Die erste Wahrnehmung, wenn man das Treiben eines Real- und Ge¬
lehrtenschülers der Oberclassen vergleicht, ist, daß der erstere mehr zu thun hat.
Derselbe hat nicht nur gewöhnlich mehr Stunden und Unterrichtsgegenstände,
sondern es sind dieselben mehr voneinander gesondert, so daß er jedem beson¬
dere Kraft zuwenden muß. Er hat in der Mathematik, Physik, Chemie, ja
oft in mehrern Zweigen dieser Wissenschaften zugleich saubere Hefte auszu¬
arbeiten, soll daneben womöglich eins in der Religionsgeschichte, in deutscher,
englischer und französischer Literaturgeschichte, in der Geschichte und Geographie
führen, so daß er noch außer den schülermäßigen Uebungen, als Aussatz, Vortrag,
Auswendiglernen, der ganzen präparatorischen und repetitorischen Thätigkeit,
wesentlich das zu thun hat, was der Student, in neun bis zehn Dingen zugleich
den Vortrag des Lehrers zu reproduciren. Während das also seine Thätigkeit
ungemein anspannt, hat es sein gelehrter Nachbar offenbar leichter, indem das
Heftesühren sich höchstens auf die Hälfte der genannten Gegenstände, etwa
auf Geschichte, deutsche Literaturgeschichte, Mathematik, Physik und Religions¬
geschichte erstreckt, die Uebungen dagegen zwar zahlreicher, aber doch ungefähr
von ähnlichem Umfange, besonders aber von größerer Schwierigkeit sind. So
fordert die Schule von dem Realschüler Mehr und Mehrerlei, während sie
Weniges aber schwereres von dem Gelehrtenschüler beansprucht. Auch die
Art, wie man sich den Stoff zu eigen macht, wird demgemäß verschieden sein.
Hier wird treues stetiges Lernen, Gewöhnung an Pflichterfüllung und Ueber¬
windung vieler Arbeit, aber auch Unselbständigkeit und mechanisches Einpauker,
dort mehr Unregelmäßigkeit, aber größere Selbstthätigkeit und Freudigkeit im
Ueberwinden schwerer Arbeiten, und neben der Gewöhnung des Arbeitens aus
freier Wahl, arrogantes Urtheilen und Meinen sich kund thun: dort wird auch
der Geniale zu einem gewissen allgemeinen Niveau der Denk- und Anschauungs¬
form herabgenöthigt und der Schwache dazu erhoben werden, hier wird dem
guten Kopf freierer Spielraum zur Entfaltung seiner Kräfte gelassen, dem
schlechten dagegen weniger Gelegenheit geboten werden, sich einen geistigen
Mechanismus zu erbauen, der ihm anstatt eines organischen Geisteslebens
dienen kann. Bleibt er sehr zurück, so wird er weniger leicht zu einer brauch¬
baren Mittelmäßigkeit gelangen, als der talentlose Realschüler. Der Zweck,
der Geist und Sinn, mit dem gearbeitet wird, sind ebenso verschieden. Dem
Gelehrtenschüler schwebt in der Regel ein confuses Ideal von Männerwürde
und Geistesfreiheit vor; Besonnenheit, Klarheit und Ruhe werden ihm oft im
besten Falle fehlen, hohle Fantasterei, Dichtereitelkeit, Renommage aller Art
liegen ihm sehr nahe. Wohl ihm, wenn diese Strebsamkeit sich nur auf geistige
Dinge richtet, wohl der Schule, wenn sie sogenannte „wissenschaftliche" Schüler¬
vereine hegt und fördert! Der arme Realschüler dagegen wird zu solcher
Sprudelköpsigkeit weniger verleitet, er fragt leicht bei allem was er thut, cui
domo? Eine frühe Entnüchterung seiner jugendlichen Seele kann leicht den
Grund eines kalten Egoismus und trocknen Materialismus, welcher freilich
noch immer weniger gefährlich ist als der leidenschaftliche einer verdorbenen
Gelehrtenschule, legen, und während er in alle Sphären zugleich eingeführt wird,
bleibt sein Geist oft klein und eng, weil jener Zuwachs nur an ihn heran
geklebt, nicht aus ihm heraus aufgebaut worden ist. Wenn ein talentvoller
Gelehrtenschüler Vielseitigkeit, Besonnenheit und Bescheidenheit und ein ebenso
begabter Realschüler jugendlichen Schwung und Selbstkraft in der Totalität
seines geistigen Strebens bewahrt, so haben sie gewiß beide das Schwerste
auf ihrem Bildungsgange erreicht.
Betrachten wir nun die einzelnen Bildungsmittel, so stellen sich, abgesehen
von denen, welche beiden Richtungen in demselben Grade gemeinschaftlich sind
(Deutsch, Geschichte, Religion), zwei Hauptunterschiede heraus: 1) in dem
Verhältniß des Sprachunterrichts zu dem mathematisch-naturwissenschaftlichen,
der Unterordnung des einen unter den andern oder ihrem Gleichgewichte. —
2) in der Art des Sprachunterrichts und der Art des mathematisch-natur¬
wissenschaftlichen an und für sich. Fangen wir mit dem zweiten Punkt
zuerst an.
Wie wird der Sprachunterricht auf Gelehrtenschulen getrieben? Wir
antworten: durchweg noch immer zu künstlich. Zwar ist die Periode vorüber,
wo, wie in meiner eignen Schulzeit, die statarische Lectüre der Classiker den
Kernpunkt des Unterrichts bildete, ein stehender Sumpf, dessen Wasser wir vor
lauter Citatcnschlingpflanzen und grammatischen Binsen, in welchen wir die
Knoten suchen sollten, nicht zu sehn bekamen. Wahrlich, hätten wir die Lust
an den alten Autoren nicht mitgebracht, auf der Schule hätten wir sie nicht
bekommen: ja, wir würden die mitgebrachte verloren haben, wenn wir uns
nicht aus dem Wust von Citaten aus Matthias Griechischer Grammatik, HandS
Tursellinus, Hermanns Viger, in das heitere Element der cnrsorischen Privat-
lectüre geworfen hätten, wo uns einiges von der Großheit und Schönheit
eines Homer, Sophokles, Aristophanes aufzudämmern begann. Aber noch immer
hat man-nicht genug eingesehn, daß es ja nicht auf ein wissenschaftlich-philo¬
logisches, sondern nur aus ein humanes Verständniß der Alten ankommt, nicht
genug, daß das Grammatische nur als Stein des Anstoßes nicht als Wegeöziel
zu betrachten ist. Mit einem Wort: wenn man das Interesse der Schüler nicht
für den Inhalt des Gelesenen zu beleben und daran festzuhalten versteht, so
wird man zwar einzelne Philologen, aber wenige Liebhaber des classischen Alter¬
thums bilden. Es war unter den jungen Schulmännern eines norddeutschen
Landes eine ausgemachte Sache, daß man in dieser praktischen Weise lehren müsse,
und ich habe selbst bei solcher Lesung des Thucydides ein, wie ich glaube, un¬
gewöhnlich glückliches Resultat erzielt. Die Schüler machten freilich manche
schwere Stelle kurzhin ab, einzig und allein daS Ziel im Auge haltend, daß sie
sich ein klares Bild von dem Verlaufe des peloponnesischen Krieges macheu
sollten. Wenn nun so das Stoffliche in den Oberclassen stark heraustreten
soll, so handelt es sich nur darum, wie man die Schwierigkeit des Verständ¬
nisses der Sprachen auf die leichteste und einfachste Weise in den Unterclassen
besiege. Ohne viel Federlesen, ohne irgendein grammatisches Systematisieren
sollen zunächst die Formen fest eingeprägt und durch vieles Ueben ganz zur
Gewohnheit gemacht werden, Lectüre und zwar recht amüsante, wie die Jacobs-
schen Elementmbücher fürs Griechische, wie die ältern Lehrbücher des Lateini¬
schen, z. B. Bröder, waren, werden am besten dazu führen. Nur uns Himmels¬
willen keine wissenschaftliche Hanswurstiaden aufgeführt, und immer bedacht,
daß Kinder Kinder sind, und kindlich einfach und durchaus uicht in folgerechtem
System, sondern hier und da wie immer durch Zufall und Gelegenheit belehrt
kein wollen: und man wird nicht jenen traurigen Widerwillen erwecken, der
die Elemente der classischen Sprachen zu begleiten pflegt. Viel Lesen, viel
Schreiben mit scharfer, aber ja nicht zu häufiger Analyse der syntaktischen Ver¬
hältnisse ist dann das zweite Mittel, das einzige, welches in die Routine des Ver¬
ständnisses und des eignen Ausdruckes hineinbringt. Dann tritt auf der dritten
Stufe das ästhetische Lesen der Classiker ein, mit dem eben dargelegten Ziele; ich
gebe zu, daß man bei einzelnen Autoren wie Horaz das kritisch-philologische
Element zur Schärfung des Geistes überhaupt hinzutreten lassen kann, aber
das Wesentlichste ist es nicht. Die Hauptsache ist auch dort, daß der Schüler
seinen Horaz kenne und liebe, und wem es nicht gegeben ist, seine philologische
Gelehrsamkeit aus eine anziehende Weise damit zu verbinden, der lasse doch ja
seine Difteleien und Conjecturen und versuche lieber am Ganzen der Composition,
an der Entwicklung der Gedanken und.Gefühle das Interesse festzuhalten, ja
er lese lieber, wenn er selbst nicht viel Geist hat, nur schlichtweg den ganzen
Horaz mit seinen Schülern durch und lasse sie selbst urtheilen. Viel Raison-
niren verdirbt immer die Lust, wie lange Saucen den Braten. Nachgrade
weiß man das auch; die Weidmannsche Sammlung ist ein redender Beweis
der erwachten Vernunft.
Nicht viel anders sollte der Sprachunterricht auf der Realschule betrieben
werden, es ist aber hier, obgleich nicht solange, doch schon ebenso schwer ge¬
sündigt worden, als dort. Statt also im Französischen einfach, klar, kindlich
zu Werke zu gehen, wie Uhus Bücher wollen, diese so meisterhaft angelegten
und auf die Knabenlust zur Räthsellösung berechneten Büchlein, nimmt man
einen gewaltigen Anlauf, zerrt die armen Jungen durch Sprachphilosophie
und Etymologie herum, bis sie nicht mehr wissen, wo ihnen der Kopf steht und
nur sehen, daß sie irre in dem Fundamentalregeln sind und die Sprache, das
Buch und den Verfasser nach Noten verabscheuen. Wahrlich, wenn man
den albernen Hochmuth erwägt, mit dem die Verfechter des Realismus die
Gelehrtenschule verfolgt haben, so muß man lachen, wenn man sie in ihre
eigne Grube stürzen sieht. Sogar der englische Elementarunterricht hat sich der
Gelehrtthuerei schuldig gemacht; da trieb man Sprachvergleichung statt Englisch.
Hier nun gehe man doch von dem Grundsatz aus, daß deutsche Kinder doch
wol einen germanischen Dialect mir all seiner kauderwelschen Orthographie und
Aussprache, am schnellsten und besten mündlich erlernen; man gehe gleich in
me?6la,8 rizg, spreche gleich mit den Kindern, lasse sie dabei gleich ein recht
amüsantes Buch bekommen und präge ihnen dabei die Formenlehre ein, die
wahrhaftig (nur ohne alles Systematisiren) keine Hererei ist. Dann aber kommt
die Hauptschwierigkeit des Englischen, die Phraseologie und diese wird allein
durch vieles Lesen und vieles Schreiben, durch Extemporalien und mündliches
Uebersetzen aus dem Deutschen erreicht werden. Die dritte Stufe ist abermals das
ästhetische Lesen. Der geiht- und gemüthvolle Charakter dieser reichen Nation
soll sich von Anfang an geltend machen, hier aber ist er erst recht wirksam.
Aber auch für das Französische ist derselbe Gang zu nehmen, nur mit
einem andern Anfang, indem hier neben der Aussprache (die ganz früh gelehrt
werden muß oder sie wird nie gelernt werden) zuerst schlichtweg die Formenlehre
einzuprägen ist, aber ja frei von aller syntaktischen Mückensangerei. Daneben,
aber in geringerem Maße als beim Englischen, amüsante Lecture, dann auf
der zweiten Stufe rasches Lesen, Schreiben, Sprechen und endlich auf der
letzten die ästhetische Lectüre und die Uebersicht der Literaturgeschichte, obwol
hier das Französische dem Englischen nachstehen muß. .
Vergleichen wir beide Bildungsresultate, so ist der Gelehrtenschüler bei
dem jetzigen Stande der Realschule entschieden im Vortheile. Er hat auf einem
ungesatteltem Pferde ohne Zaum und. Zügel reiten gelernt und sitzt also fester,
als einer, der nur mit solchen Hilfen geschult ist. Ihm sind bei seiner spröden
Arbeit alle Kräfte flott geworden, ihm ist Stolz und Bewußtsein seiner Kraft
gekommen. Er hat Liebe und Begeisterung für das Edle, Einfache, Große,
Klare der alten fernen Heidenzeit errungen, wenn er sie auch noch nicht ganz
begreift und vielleicht nie ganz begreifen wird. In Ausdruck und Redeweise
hat er die musterhafte Präcision und Geschlossenheit der Alten vor Augen;
ihre männliche Kraft, ihr starres Heidenthum— er möchte ihnen ähnlich sein,
und glaubt ein Stück davon in sich zu fühlen. Ein traditionelles, aristokra¬
tisches Gefühl lebt in ihm, es wird ihn vielleicht vor illiberaler Gemeinheit
schützen, wenn nicht vor der Rohheit der Ncberkraft und des Uebermuthes. —
Was hat der Realschüler dafür, als seinen Gewinn aufzuzeigen? Auch er hat
einen Reichthum von Anschauungen und Denkformen aus den fremden Idio¬
men gewonnen, aber der Ringkampf war leichter, der Sieg wohlfeiler. Er hat
eine gewandte Zunge, eine geschliffene Form erreicht, wohl ihm, wenn er
daneben Begeisterung und Liebe für seine insularischen Brüder, für ihre männ¬
liche Kraft, Besonnenheit, Wahrheitsliebe, Religiosität und geistige Tiefe er¬
obert hat, die praktische Richtung derselben wird ihn schon ohnehin ansprechen,
denn er ist ein coulanter Mann, ein Kosmopolit, aber wird er auch Zeit
haben, seine Seele in einen Milton oder Shakespeare zu versenken? oder
werden seine Lehrer sie ihm erst dann lassen, wenn er Maschinen bauen,
Schmetterlinge sangen und Vögel ausstopfen soll? Wohl ihm, wenn sie weise
genug waren, ihm diese Zeit zu lassen, ihn selbst darein tiefer einzuführen.
Er hat dann doch ein Feld, wo es nicht aus geläufiges Parliren und auf er¬
lerntes Wissen und dessen geschickte Anwendung ankommt. , Er hat dann doch
einen Gegenstand seiner ehrfurchtsvollen Scheu, wo er sein cui bono? nicht
anbringen kann und die Keime des Hohen und Edeln senken sich auch in
seine Seele. Nur möge er nicht sich denationalistren — eine Gefahr, die bei
dem Gelehrtenschüler nicht verHanden ist, der ja nach alter deutscher Art den
Thurm seiner Bildung aufbaut. Eins aber hat der Realschüler voraus: er
lernt arbeiten, was der Gelehrtenschüler durchaus nicht immer lernt. Aber
warum wollt Ihr nicht auch den Gelehrtenschüler an den Vortheilen der Real¬
schule Antheil haben lassen, und umgekehrt? Ist wirklich keine Zeit da, daß
jener Französisch lerne und dieser Latein? Laßt nur dort einen Mann sein,
der kein bloßer. Parleur sondern sittlich und geistig rüchtig ist, so wird es
ihm ohne alle Schwierigkeit in zwei Stunden wöchentlich (aber von unten auf,
schon der Aussprache wegen) gelingen, so gut im geistigen Erercitium sich be¬
wegenden Knaben recht hübsch französisch zu lehren, selbst Sprechen und Schrei¬
ben. Und warum soll dem gelehrten Schüler das reiche Bildungselement der eng¬
lischen Ausdrucksweise und Literatur verschlossen bleiben, warum soll er nicht
aus der stolzen Idealität classischer Einseitigkeit durch Hinweisung auf die
Praktische Weisheit der Engländer gerissen werden? — Ich unternehme es, in
zwei Stunden wöchentlich in den drei Oberclassen die Schüler zum Verstehn
der schwersten englischen Schriftsteller und selbst zu einiger Gewandtheit im
Schreiben und Sprechen zu bringen. Und hat der Realschüler nicht auch ein
Anrecht darauf, daß er durch den schweren Kampf mit einer alten Sprache
seine Kraft stähle? Oder ist wirklich keine Zeit dazu? — Die Frage hängt
freilich mit dem mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterricht zusammen, aber
wir fragen gleich hier: Sollte mehr daran liegen, ob ein Knabe eine mathe¬
matische Disciplin mehr wisse, oder ob er von der Geschlossenheit und Tüch¬
tigkeit, der Präcision und menschenbildenden Weisheit der Alten auch durch¬
drungen wird? Wir meinen, er wird schärfern und klarern Geistes auf der
Hochschule jene Disciplin nachholen können. Auch ist dem Französischen zu
viel Platz eingeräumt, man braucht die Menge ver Stunden gar nicht, wenn
man es nur vernünftig anfängt, und gewinnt so fürs Latein, dieses bildet
dann nach wie vor die feste grammatische Grundlage für alle Sprachen. Ja
man könnte sich versucht fühlen, selbst dem Griechischen an der Realschule eine
ähnliche Stellung einzuräumen, wie dem Englischen an der Gelehrtenschule,
die formelle Schwierigkeit ist aber unbesieglich. Vielleicht könnte man es
facultativ sein lassen, wie etwa die Chemie an der Gelehrtenschule. Wie schön
würde so die unselige Spaltung der deutschen höhern Bildung, welche sich seit
einigen Jahrzehnten weiter und weiter öffnet, wieder in die Bahn der Ver¬
einigung und Versöhnung eingelenkt!!
Die Mathematik ist bisher auf der Gelehrtenschule sehr stiefmütterlich be¬
handelt worden. Wer darin auch noch so sehr zurückgeblieben war, er wurde
doch versetzt, wenn er im Uebrigen tüchtig war, und das gab natürlich in den
Oberclassen ein Gemisch von Eingeweihten, Halbwissen: und gänzlichen Igno¬
ranten, mit dem auch der beste Lehrer etwas auszurichten verzweifeln mußte.
Oft kam der Uebelstand hinzu, daß der Unterricht nicht in geschickten Händen
lag und es wurde nur ausnahmsweise von Seiten der Oberleitung Werth
darauf gelegt, ja sogar es heimlich gern gesehen, wenn die Schüler dafür wenig
oder gar nicht in Anspruch genommen wurden. Obwol diese Mangelhaftigkeit
noch manche gute Gelehrtenschule, die ich kenne, trifft, so hat sich doch ein
deutliches Streben gezeigt, den mathematisch-physikalischen Unterricht zu heben,
man hat ihm namentlich mehr Stunden in den Oberclassen, gemeiniglich <M
Preußen) vier (während früher immer nur zwei waren) zugelegt, doch auch drei.
Es wäre zu wünschen, daß man ein festes Ziel in der Elementarmathematik
nicht nur erstrebte, sondern auch wirklich erreichte: denn sonst wäre das Zu¬
legen von Stunden nur verloren. Eine so gewaltige Erscheinung wie Lessing
sollte uns lehren, was es heißt, mathematischen Scharfsinn besitzen. Aber er
besaß freilich noch mehr, als das, Geist und Charakter und unbegrenzte Wahr¬
heitsliebe, und nun wurde die mathematische Präciston seines Ausdrucks
und die mathematisch-forcible Entwicklung seines Denkens die glänzende Außen¬
seite des tieferen Innern; erst so wurde er der Vater der deutschen Gelehr¬
samkeit.
Die Realschule nun legt darauf den größten Werth. Mit vollem Recht
wird die Versetzung wesentlich auch nach diesen Kenntnissen bestimmt, denn
nirgends lassen Sprünge sich weniger gutmachen, als hier. Hier muß ganz
regelmäßig, ganz systematisch aufgebaut werden, oder man erreicht gar nichts.
Aber wir halten das Ziel an mancher dieser Schulen für sehr überspannt-
Das Heranziehen der höhern Mathematik in den Schulunterricht ist eine
Thorheit, von der man ebenso zurückkommen wird, wie von der philosophischen
Propädeutik auf Gelehrtenschulen. Man hat dafür angeführt, daß man nur
durch die Anfangsgründe der höheren Mathematik Sicherheit in dem Gebrauche
der niederen Mathematik, in ihrer Anwendung auf Optik, Akustik in. erlangen
könne. Ich muß mich hier allerdings bescheiden, da ich die höheren Zweige
der Mathematik nicht kenne, bezweifle aber, daß dies sich anders, als mit
jeder Wissenschaft verhalte. Es scheint mir ungefähr wie wenn man sagt,
ein Schüler könne nur durch Linguistik und Sprachphilosophie eine einzelne
Sprache begreifen, also müssen die Anfangsgründe des Sanskrit getrieben
werden. Ferner hat man gesagt, es sei nur dann möglich, durch die Unter¬
brechung des ersten praktischen JahrescursuS aus technischen Hochschulen nicht
gestört zu werden, wenn man durch jene Anfangsgründe der Differential- und
Integralrechnung !c. einen Durchgangspunkt für die höhere Theorie gewonnen
habe, während man doch denken sollte es sei grade umgekehrt und könne wol
die feste Basis der elementaren Mathematik diese Unterbrechung vertragen, wo¬
gegen jene höheren Anfänge ganz und gar verloren sein werden, und der
Student genöthigt sein wird, nach einem Jahr alles wieder von vorn anzu¬
fangen. Endlich widerspricht die geringe Erfahrung, die wir gemacht haben,
ven, daß der Abiturient es trotz unmäßiger Anstrengungen in diesem Fache
zu rechter Sicherheit in den höchsten Zweigen bringe, mit Ausnahme eines
entschieden bedeutenden, mathematischen Talentes, welches indeß vielleicht durch
Selbststudien ebensoweit gekommen wäre. Ich kann nicht umhin, das für eine
gefährliche Ueberspannung der Kräfte zu halten. In der Physik und Chemie
geht man auch möglichst weit. Man pfropft und pfropft, ohne zu bedenken,
daß es auch eine Zeit gab, wo Institutionen, Exegese, und Osteologie aus
Schulen gelehrt wurden, ohne den allergeringsten Nutzen.
Man könnte ja auch den Sprachunterricht herunterdrücken; da aber tritt
die Phrase vom Gleichgewicht beider Zweige entgegen, also muß auch dieser
höher gespannt werden. Gut denn, die Schüler horchen den Vorträgen in
englischer und französischer Geschichte und Literaturgeschichte, sie halten Reden
und schreiben Aufsätze in beiden fremden Sprachen, sie dichten meinetwegen
gar darin. Nun stehen wir am Rande des Unsinns, und haben Abiturienten,
die vor lauter Gelehrsamkeit keinen selbstständigen Faden mehr am Leibe haben,
die oberflächlich über das Höchste plappern können, während ihnen die erste,
einheitliche Base unter den Füßen weggeglitten ist. Ich habe diese Wirthschaft
ein Jahr angesehen und mitgemacht, nun aber erklärt, daß ich das Ziel des
Sprachunterrichts herabgesetzt, oder denselben auf Kosten des naturwissenschaft¬
lichen Unterrichts vermehrt zu haben wünschte, da ich nur auf Kosten des
Körpers und Geistes meiner Schüler so fortfahren könnte, und an der
Bildung frischer und freier Menschen, keiner abgerichteten Puppen mitzuwirken
wünschte.
Doch es könnte dies Uebermaß abgeschnitten werden, und immer noch
müßte, vorausgesetzt, daß man der Gelehrtenbildung gleichkommen will, der in
dem Sprachunterricht sich ergebende Ausfall durch den mathematisch-natur¬
wissenschaftlichen Ueberschuß gedeckt werden. Zwar ist jetzt noch meistens ein
qualitativer Vortheil da, indem die Elementarmathematik auf Realschulen besser
gelehrt wird; dies liegt aber nicht im Begriff, sondern nur in der mangelhaften
Ausführung. Denn es ist vollkommen möglich, daß streng und tüchtig auch
auf der Gelehrtenschule die Mathematik getrieben werde. Also müßte der
eigentliche Vortheil doch auch von quantitativer Seite kommen; nicht weil
Mathematik und Naturwissenschaften besser, sondern weil sie weiter dort
getrieben werden, mußten die Realschüler soviel reiferen Geistes werden; und
wäre das der Fall, so müßte man cvnsequenterweise den Sprachunterricht unter¬
ordnen und offen sein Gleichgewichtsprincip aufgeben.
Ich aber bitte um den Nachweis, daß die höhern Branchen der Mathe¬
matik und der Naturwissenschaften diesen formalen Werth haben. Ich kenne
sie nicht, glaube aber zu bemerken, daß der allgemeine Einfluß der Mathematik
lediglich ein corrigirender, ordnender sei, und daß, so herrlich es ist, wenn er
die Entwicklung des jugendlichen Geistes begleitet und alle unklare Phantasterei
Lügen straft, es dabei auf ein Mehr oder Minder des Wissens gar nicht an¬
komme.
Wie wäre es sonst auch möglich, daß der Mathematiker ex pra>ke8se> wie
kaum irgendein anderer bei aller speciellen Tüchtigkeit bald ein herzensguter,
aber unpraktischer Sonderling, bald auch der geistloseste, hölzernste Mensch von
der Welt sein, ja, daß er auch in sittlicher Beziehung mangelhaft und
selbst ohne richtiges Urtheil über andere Dinge sein kann. Diese bekannte
Thatsache erklärt sich nur daraus, daß durch die Mathematik der Verstand auf
Kosten des Herzens ganz einseitig und abstract ausgebildet wird, daß es eben
eine ganz für sich abgeschlossene Welt ist, von der aus nur eine sehr, sehr
indirecte Bahn zu den übrigen Kräften des Geistes führt. Wie wollte man
also damit vorzugsweise die ganze Fülle der jugendlichen Seele entwickeln?
Die reichsten Geister setzen bekanntlich dem mathematischen Element oft die
größte Abneigung entgegen: es muß in gewissem Maße ihnen eingeflößt wer¬
den, aber wer wollte damit wie mit einer ätzenden Flüssigkeit die edleren Keime
ersticken? — Also müßte es denn die Masse naturwissenschaftlicher Kenntnisse
sein, welche die Geister reich, stark und edel mache? — Von der Chemie wird
dies wol niemand behaupten wollen, aber von der Physik? Gewiß wird eine
Großartigkeit der Anschauung durch Eindringen in diese erhabenen Forschungen
gebildet werden: aber wo ist das eigentlich sittliche Moment? Doch nicht darin,
daß man den Menschengeist, der soviel erforscht und erkannt, bewundern und
ihm nacheifern soll? Der Schüler ist aber kein Philosoph, er ist ein Knabe:
er will lieben, zürnen, lachen. Ihm ist das speciell Menschliche, das Denken,
Empfinden, Thun der größten Geister nothwendig, um sich daran zu Aehnlichem
zu entwickeln; Geschichte und Poesie müssen auf ihn wirken, und namentlich
erstere hat jenes Element in viel ausgedehnterem Maße. Statt ehrfurchtsvoller
Scheu wird in ihm vielmehr der eigne Forschungötrieb und mit ihm der Vor¬
witz, alles natürlich zu erklären, rege. Das ist ein gefährlicher Weg, wenn er
ganz vorzugsweise eingeschlagen wird, der leicht zu frühem Materialismus und
Pantheismus führen kann. Wie die Mathematik schon leicht eine eitle Selbst¬
genügsamkeit begründet, so werden die Naturwissenschaften, wenn ein Lehrer
trefflich die Schüler zu fassen weiß, leicht bewirken, daß die Besten ihren Vor¬
witz auf alle Gebiete, namentlich auf das der Religion übertragen und es wird
sich jener Hohn früh entwickeln, der von dem des banausischen Handwerkers
gegen den unbegrissnen höhern Werth der Gebildeten sich nicht wesentlich un¬
terscheidet. Die ganze Heidenwelt mit ihrer unvollkommnen Ethik wird besser
den Jüngling afficiren, als jenes naseweise Wissen, dessen philosophische Wucht
ihm noch zu schwer ist. Ein Achill, ein Ajar in der zauberischen Darstellung
des Homer sollte doch wol den Jüngling ganz anders ergreifen, als Gletscher¬
bildung, Fallgesetz und Voltaische Säule. Denn was die Natur Schönes und
Großes hat zu lieben, bedarf es da der verstandesmäßigen Erkenntniß? Im
Gegentheil wird sie manchem die Poesie der Naturanschauung zerstören, denn
der Knabe steht noch nicht auf dem Standpunkt, den Herr von Humboldt in
seiner Einleitung zum Kosmos einnimmt.
Aber wenn die Realschulen soviel flauere Menscheneremplare liefern, wa¬
rum sie denn nicht wie eine Afterbildung ansetzn, eins jener vielen Experimente
mit der Menschheit wie die Rousseauschen Philanthropien, welche mit Stumpf
und Stiel auszurotten wären, je eher je lieber? — In einem deutschen Staat
hat man einen hübschen Anfang damit gemacht und zwar Viele wünschen es,
die religiösen und politischen Eiferer, sowie die gesammte Gelehrtenaristokratie.
Ein sehr verehrter Freund, welcher zu unseren beliebtesten Universitätslehrern
gehört und in jeder Beziehung einer der vorgezogenen Geister ist, erwiderte
mir auf meine Verbesserungsvorschläge: das helfe mir alles nichts und führe
nur zu größerer Gespreiztheit, man solle es doch grade heraus sagen, daß
man keine Gymnasien, sondern technische Vorschulen habe; wer mit groben
Fäusten arbeite, solle auch nur denken wie ein Seifensieder; Goethe habe uns
das ganze Unwesen aus den Hals gezogen, und die jetzige Zeit sei grade dazu
da, um es wieder los zu werden. Ich fürchte, mein Freund schüttet das Kind
mit dem Bade aus. Die Herren Akademiker in ihrer Götterhöhe bedenken
">ehe, daß auch sie, wenn auch gewiß von Nektar und Ambrosia, doch leben
müssen, und daß, wenn der Demos ihnen nicht mehr opfern will, sie ver¬
schmachten werden wie Tithonos, dem ewige Jugend zu erflehen vergessen war
und der sich zuletzt in eine Heuschrecke verwandelte. Sie mögen nur bei Zeiten
ein Comprvmissum mit dem Weltgeist schließen, ehe dieser sie und mit ihnen
einen sehr edlen Theil seiner selbst stürmisch über Bord wirst. Denn trotz
der vielen Charlatans, welche jede neue Richtung in ihren Anfängen begleiten,
ist eben der Realismus kein Hirngespinst einzelner Thoren, sondern der Aus¬
druck einer ganzen, ungeheuren Weltrichtung; man braucht nur den Bücher¬
markt zu überschauen und die Masse der englischen und naturwissenschaftlich-
mathematischen Werke und das Gedränge der Käufer zu sehn, während sich
vor der classischen Bude die Waare und die Kunden zählen lassen. Je länger
sich beide Richtungen feindselig gegenüberstehn, destomehr, fürchte ich, wird
die alte in starrer Abstraction dastehen, destomehr frisches Talent wird sich
der jüngeren zuwenden, und dadurch jene zu einer alten Scharteke werden,
ohne daß diese aus ihrer Verflachung gerissen wird. Man scheue sich doch
nicht vor weisem Nachgeben allerseits, nehme ebensowol das Neue quantitativ
durch Errichtung ordentlicher Lehrstühle für neuere Sprachen, qualitativ durch
Ferichaltung von jener abstrusen Gelehrsamkeit in das Universitätsleben auf,
als lasse man das Alte in der gesammten Gymnasialbildung nicht untergehn.
Da nun aber einmal zwei Lager da sind, so ist es das Vernünftigste, durch
Beschränkung und Zusatz eine gewisse Ähnlichkeit hervorzurufen, so daß die¬
selben Ingredienzien mit anderer quantitativer Mischung hier und dort vor¬
handen sind. Ob dies denn nur eine Uebergangsstufe ist; oder ob die eine
Bahn ganz in die andere verlausen wird, steht bei Gott, wir Menschen aber
sollen das Unsrige thun, die Leidenschaftlichkeit des Streites, soviel an uns ist,
zu verhindern.
— Da ich Ihnen an den beiden letztvergan¬
genen Posttagcn keinen Wochenbericht zusendete, hatte ich keine Gelegenheit, des gro¬
ßen Brandes Erwähnung zu thun, der am 24. v. M. die Umgegend des Ak-Serai
im eigentlichen Konstantinopel verwüstete und nach den seither hier angestellten Er¬
mittlungen nicht viel weniger wie viertausend Häuser und Nebcnbauten in Asche
legte. Während meines hiesigen Aufenthaltes erlebte ich keine ähnlich verheerende
Feuersbrunst-, denn die des Jahres 185-1, welche den Stadttheil betraf, wo die
Achmcdmvschee steht, stand um mehr als tausend Häuser hinter jener zurück.
Es war um 1l Uhr Vormittags, am erwähnten I4. Juni, als die Kanonen
des Gangin Koschk den Ausbruch des Brandes verkündeten. Die Fahnen, welche
man dicht unter dem Kopf des hohen Galatathurmes flattern sah, wiesen nach
Stambul hin. Bald konnte man von meiner vor Pera gelegenen Wohnung aus
eine leichte Rauchsäule hinter der imposanten Steinmasse' der englischen Gesandt¬
schaft aufsteigen sehen. Sie wurde von Augenblick zu Augenblick stärker, breiter
und höher und verkündete durch ihr Wachsen das Zunehmen der Feuersbrunst.
Inzwischen sah man türkische Wachpikets durch die Straßen eilen; Spritzen der oft
beschriebenen leichten und leider nur unzureichenden Art folgten ihnen, begleitet
von Haufen halbnackter Gestalten, den hiesigen Feuer- oder Löschmannschaften.
Mehemmed Nuschdi Pascha, der neuernannte Kriegsminister, und Haireddin Pascha,
der Polizeiminister, hatten sich aus den Schauplatz der Verwüstung begeben; des¬
gleichen eine Menge höherer türkischer Beamte, Bezirksvvrstehcr und Imaus. An
der nothwendigen Leitung fehlte es daher nicht; aber das Feuer ließ sich meist
nicht besiegen, sprang über Straßen und Plätze hinweg und verbreitete sich gleich¬
zeitig nach zehn bis fünfzehn Richtungen hin. So kam der Abend heran. In
diesem Zeitpunkte war es von entscheidender Wichtigkeit, daß der Wind, welcher
bis dahin mit ziemlicher Heftigkeit aus Süden geweht hatte, sich minderte und end¬
lich fast ganz erstarb. Man hatte ganze Straßenstrcckcu niedergerissen und war
endlich dahin gelangt, den Brand zu isoliren, der übrigens noch bis Mitternacht
fortfuhr zum Himmel auszuleuchten.
Um dieselbe Zeit, wo die Feuersbrunst am heftigsten wüthete, starb im Hos¬
pital des benachbarten Therapia ein Mann, der in den letzten zwölf oder fünfzehn
Monaten vielfach genannt worden ist, der englische Capitän Lyons, Sohn des Ad¬
mirals Sir Edmond Lyons, des Chefs der englischen Seestreitkräfte im schwarzen
Meere. Am 19. Juni vor Sebastopol verwundet, wurde er jäh aus eiuer Carriere
herausgerissen, in welcher seiner noch viele Ehren zu warten schienen. Es war
ihm vergönnt gewesen, als der Erste im vergangenen Jahre mit seiner Miranda
ins baltische Meer einzulaufen, um die russischen Häfen zu recognosciren, etwa wie
sein Bater vor beinahe dreißig Jahren bei Gelegenheit eines drohenden Krieges die
des Euxinus auf der Fregatte Blonde recognoscirt hatte. Danach sahen wir ihn
nach dem weißen Meere absegeln, vor Archangel kreuzen und endlich in die Mün¬
dung des Kolaflusses einlaufen, um die gleichnamige Hauptstadt des russischen Lapp¬
lands zu bombardiren. Im Frühjahr kam er hierher. Daß ihm die Unternehmung
gegen Berdiansk und Mariapol, Taganrog und Genitsche im asowschen Meere zu
sühren übertragen wurde, geschah wol uicht ohne Rücksichtnahme für die Wünsche
des greisen britischen Flottcncommandanten, seines Vaters, der sich seinerseits bei
dieser Gelegenheit unter den Befehl des französischen Admirals gestellt hatte. —
Es war einer der feierlichsten Züge, welcher heute vor acht Tagen den erst dreißig¬
jährigen Capitän Lyons zur letzten Ruhestätte geleitete. sämmliche hier anwesende
höhere englische, französische und türkische See- und Landvffizicre waren zugegen. Das
Grab liegt in einem kleinen einsamen Thale nahe bei Therapia. Später wird ein
Denkmal es zieren. — — Vor einigen Tagen verließen uns jene leichten und
schmucken Dampskanonenboote, die erst neulich aus England hier angekommen waren
und derselben Schiffsgattnng angehören, welcher der erwähnte Capitän Lyons bei
seinem Unternehmen im asowschen Meere die glücklichen und schnellen Erfolge ver¬
dankt. Die hier angelangten waren sechs an der Zahl; sie waren ein jedes mit
einer Schraube und zu deren Bewegung mit einer leichten Dampfmaschine versehen,
und sühren, wenn ich nicht irre, je eine Kanone größern Kalibers vorn und hin-
ten. Diese Fahrzeuge sind es werth, in Deutschland beachtet zu werden. Nach allem
zu urtheilen, was ich über sie höre, erweisen sie sich im flachen Wasser außerordent-
lich brauchbar, und zum nicht geringen Theil beruht in diesem Augenblick die Sicher¬
heit der türkischen Stellungen in Jenikale und Eupatvria ans ihrem Beistand. Wenn
ich nicht irre, waren die beiden an England gegen die Fregatte Thetis vertauschten
preußischen Dampfer Nix und Salamander nach demselben System erbaut, wenn
auch für den Kriegsgebrauch von zu schwacher Construction und mit Schaufeln.
— In einem Orte, wie Pera, wo die öffentliche Meinung
in einem so geringen Grade durch eine unabhängige Presse Unterstützung und
Halt bekommt, kann es nicht fehlen, daß ungeheuerliche, gegen alle sonstigen An¬
nahmen streitende Gerüchte auf einmal auftauchen und — nicht etwa verlacht und
als Curiosum angeführt werden, sondern Glauben gewinnen. Bei andrer Gelegen¬
heit habe ich öfters in meinen Briefen an Ihre geschätzten Blätter Belege für
diese Behauptung ausgeführt; in neuester Zeit hat sich das Uebel, wenn man es
so nennen kann, noch vermehrt; als einen schlagenden Beleg dafür, führe ich Ihnen
hier an, daß man seit vorgestern von einer Auflockerung des Vüudnisscs zwischen
der Pforte und den Wcstmächten redet, daß man wissen will, namentlich Frankreich
sei durch „gewisse Conferenzen (!), welche Aali Pascha mit Gortschcckoff und Buol
gehabt, mißtrauisch geworden, und so sei es geschehen, daß neulich von der fran¬
zösischen Legation an die Pforte das Ansinnen gestellt worden sei: Der Regierung
des Kaisers Napoleon ein Terrain in der Umgegend von Maslack (Sie sehen, es
schwimmt wieder die alte Ente!) und — zwei Schlosser des Bosporus, ersteres
für ein befestigtes Lager, letzteres behufs der Sicherung der Operationen im Pontus,
einstweilen als temporäres Besitzthum abzutreten.
Die Nachrichten vom Kriegsschauplatz sind in der Regel geläuterter, wie die
diplomatischen, wenn es auch nicht an Verdrehungen, Uebertreibungen und Zusätzen
bei ihnen mangelt. Als einen Beweis dafür nehme ich hier auf die Verlustangaben
betreffs der Kämpfe vom 18. und 19. v. Mes. Bezug. Noch vor acht Tagen
konnte man darüber in sonst gut unterrichteten Kreisen hören, daß man ans dieser
Seite an Verwundeten und Todten gegen 13,000 Mann verloren habe, d. h. man
verdoppelte die wirklich verloren gegangene Anzahl.
Die Aufgabe, Ihren Lesern in meinem heutigen Brief eine Uebersicht des
Standes der Dinge auf dem taurischen Kriegsschauplatz zu geben, setzt mich einiger¬
maßen in Verlegenheit, denn dermaßen unklar und einander widersprechend waren
die Nachrichten noch nie zuvor. Ueber die Vorgänge auf dem asiatischen Kriegs¬
theater ist man klarer; mau weiß, daß die Russen, beinahe ohne Widerstand zu
finden, im Kars eingerückt sind. Wetter vorzudringen werden sie wahrscheinlich
nicht wagen, weil ihre Streitmittcl für diesen Zweck nicht ausreichen würden. Man
mißt ihnen alles in allem eine Stärke von etwa 60,000 Mann bei, von denen
etwa i>0,000 Mann in erster Linie oder zur Führung der eigentlichen Operationen
verwendet sind, die anderen 20,000 Mann zur Reserve (Besatzung von Festun¬
gen u. s. w.) dienen.
In Hinsicht auf die Sachlage in der Krim ist vor allen Dingen voraus zu
bemerken, daß die circulirenden Gerüchte über die Dislocation der diesseitigen Streit-
träfte durchaus unsicher sind. Mau hat dieselbe«, wie ich Ihnen dies schon in
meinem letzte» Briefe schrieb, als vier gesonderte Massen von verschiedener Stärke
und Bestimmung anzusehen. Die Hauptmasse unter dem unmittelbare» Commando
des Generals en chef Pelissier, steht vor den Wällen von Scbastopol, auf einer
Linie, die sich von Kamicsch bis gegen Jnkcrman ausdehnt, und umfaßte anfänglich
das erste Corps (unter be Salles), und das dritte oder Reservecorps (unter Reg-
nault de Se. Angely), oder im Ganzen etwa 60,000 Man» Franzosen. In den
letzten Tagen indeß hat man das Nescrveeorps abgezweigt und, wie ich Ihnen be¬
reits meldete, geht das Gerücht um, daß mau es zu einer besonderen Expedition
verwenden werde. Um Mitte der vergangenen Woche vermuthete man hier: das
Ziel dieser Truppen, deren Stärke auf etwa 23,000 Mann zu berechnen ist, wonach
dem General Pelissier vor Sebastvpol nur 33,000' Mann verbleiben würden, sei
Enpatvria, indeß hat sich darüber neuerdings nichts Genaues herausgestellt. Ich
betrachte es hier als eine zweite gesonderte Masse, weil die Abtrennung schon erfolgt
ist. Die tönte steht unter dem Commando des Generals Canrobcrt und dehnt, zu
einer laugen Linie auseinandergezogen, ihre Flügel zwischen Jnkerman und Karany
aus. Ich weiß nicht, auf wieviel Divisionen man sie a»»ebene» kan»; die An¬
gabe» differire» voneinander und wechseln zwischen drei und einer. Centrum und
Sammelpunkt für die englische Macht ist nach wie vor Balaklava. Indeß scheint
außerdem eine starke Abtheilung vor der Festung selbst, und eine andere bei Jnkcr¬
man zu stehen. Diese Streitkräfte sind vcrhältnißmnßig zu unbedeutend, um hier
als Massen an sich in Rechnung gestellt zu werben. Sie schließen sich außerdem
den schon erwähnten französischen Hcertheilen wol ohne Zweifel als integrircude
Glieder an. Dasselbe kann man von den Sardinier» und Türken sagen. Diese
letztere» und die Engländer eingerechnet wird man die Streitmacht unter Pclissiers
Persönlichen Befehl auf etwa 30,000 Mann, das abgesonderte (Reserve-) Corps auf
etwa 30,000 Mann und die Truppen auf der Linie von Jnkcrman »ach Balaklava
ans 3V—40,000 Mann annchmen können, d.h. die drei bis dahin erwähnten Masse»
umfassen in runder Summe etwa ^-10 —-120,000 Mann.
Die vierte Masse, unter dem General Bosquet, welche aus Franzosen,
Piemontesen und Türken zusammengesetzt ist, soviel ich weiß etwa 30—33,000 Mann
stark, marschilte am Z-I. Juni von Tschorgun ab, um das Plateau der Farm
von Makenzie zu ersteigen und, — wenn man dem Gerücht Glanben beimessen
kann, — gegen Bartschi Serai vorzudriugc».
Leider kann man aus diesen Dispositionen keinen, auch nur seinen Umrissen
uach klaren Plan entnehmen; denn wenn jene 33,000 Mann unter General Bos¬
quet wirklich ans das Plateau der Farm Makenzie stiegen, so muß jedem einleuchten,
daß sie damit zunächst in ein gefährliches Gegenüber zur russischen Hauptmacht ge¬
bethen, die mau zur Zeit im Norden der Bai, zwischen dieser und dem Bethel
concentrirt wußte.
Der Gedanke, Scbastopol einzuschließen, ist, wenn man auf die Stärkenver¬
hältnisse beider kriegführenden Parteien eine billige Rücksichtnahme nimmt, an und
für sich barock, denn jedermann muß einsehen, daß, solange Rußland noch eine
Armee außerhalb Scbastopol im Felde stehen hat, die Verbündeten darauf angewiesen
send, anßer dem Eiuschließungscorps ebenfalls eine Feldarmee aufzustellen, daß aber,
wenn die Ceruirungslinie, wie es der Fall ist, wenn man die Nordforts in den
Kreis zieht, zehn Stunden umfaßt, sie alle Kräfte wegnimmt und für die Formi-
rung der Feldarmee, die doch der russischen mindestens numerisch gleich sein müßte,
keine mehr übrig bleiben werden.
Die Krim ist nicht anders als wie ein starker und hochgeästeter Niesenbaum
anzusehen, dessen Stamm- und Wurzelende mau bei Perekop zu suchen hat. Seine
äußerste Kronenspitze ist Scbastopvl; hat nnn wol jemals ein Holzfäller es unter¬
nommen, zur Krone hinanzusteigen, um in halsbrechender Stellung diese herunter¬
zuhauen und darnach von oben herab Zweig aus Zweig? Ist es im Gegentheil
nicht um vieles natürlicher, die Axt dem Stamme an die Wurzel zu legen?! Weiß
man etwa in Frankreich nicht mehr, daß der Augriff im strategischen Sinne nichts
Entscheidenderes thun kann, als gegen die Verbindungen der Vertheidigung zu agiren
und diese aus nichts zwingender hingewiesen ist, wie auf deren Währung?! Gäbe
man den ganzen Bclagernngspark dem Feinde preis und sammelte man die Armee
in Eupatoria, so ist klar, daß ein einziges Vorrücken um einige Meilen von dort
aus gegen Simphervpol den Feind aus dem Süden der Halbinsel abrufen und zum
Rückzug aus Perekop zwingen würde, denn er liefe Gefahr, seine Communicationen,
aus denen ihm Verpflcgungsmittel und Munition zugehen, durchschnitten zu sehen.
Es stellt den französischen Heerführern (denn sie sind die Leiter des Ganzen)
und weniger noch denen, die in Paris lenken, wahrlich kein schmeichelhaftes Zeugniß
aus, daß sie klare Verhältnisse, wie die oben berührten, seither verkannt haben.
Auch wenn sie keine Militärwissenschaft studirt hätten, der gesunde Menschenverstand,
sollte man meinen, müßte sie daraus hingeleitet haben. Es ist dieses Unterlassen
der Concentrirung bei Enpatoria die Wiederholung des an der Alma begangenen
Fehlers im größer» Maßstabe, man opfert, indem man in der Fronte fortfährt
anzugreifen, unnütze Kräfte, während ein Vorgang gegen die Flanke und den
Rücken des Feindes alles zur schnellen und vielleicht verlustlosen Entscheidung
bringen würde.
Der die sjähr ig e S om in er in Stambul. — In den vor einigen Monaten
von mir geschriebenen Briefen bemerkte ich bereits, wie sich das gegenwärtige Jahr
gleich dem letztvergangenen durch eine außerordentliche Fülle der Vegetation aus¬
zeichnet. Dieser Vorzug kann im hiesigen, mit Baumwuchs nicht in allzuhohen
Maße gesegneten warmen Süden kaum hoch genng angeschlagen werden. Man steht
noch heute die Hügelketten, welche auf der europäischen wie auf der asiatischen
Seite die Hauptstadt einschließen, im Schmuck eines von den letzten Regengüssen
und den thaureicheu Nächten angcsrischtcn Rasens prangen und der Bosporus, wel¬
cher in den beiden heißen Jahren 1851 und 52, namentlich im erstern, auch den
aus der Ferne hier Ankommenden ziemlich kahl erschien, macht jetzt wirklich
den Eindruck eines Wasserstrciseus, aus dessen Ufern die rumclische und anato-
lische Waldzone einander begegnen. Die Umgegend, die Meerenge selbst und die
Prinzeninseln sind daher in diesem Jahre mehr, wie in irgendeinem vorher gegangenen,
Zielpunkt für die alljährlich wiederkehrende temporelle Auswanderung der hiesigen
vornehmen Welt und des begüterten Handelsstandcs geworden. Da gleichzeitig die
Zahl der Landhäuser sich nicht in dem Verhältniß wie die Familien vermehrt hat,
die den Sommer dies Jahr außerhalb der Stadt zubringen, außerdem die zahl¬
reichen Fremden manche Villa mit Beschlag belegt haben, so sind die Miethpreise
ganz außerordentlich in die Höhe gegangen und sie werden sich aus doppeltem
Grunde auf dieser Höhe behaupten, zunächst, weil die Baumaterialien infolge der
großartigen Baracken- und Kasernenbanten der Franzosen und Engländer sich außer¬
ordentlich verthencrt haben und dann, weil es im Allgemeinen wol an Capital fehlt
und das vorhandene zum größern Theil von dem außerordentlich lebhaften Handel
in Anspruch genommen wird. Man schlägt vielleicht nicht im gehörigen Maße die
Größe der commerziellen VermittluugSrvllc an, welche die hiesige europäische Be¬
völkerung von Pera und Galata in Verbindung mit eingebornen Armeniern und
und Juden zwischen Europa und der musclmanischcn und christlichen Hauptmasse der
hiesigen Stadt- und Landesbewohner einnimmt. Um in dieser Hinsicht einen an¬
nähernd richtigen Begriff von den beiden Frankcnstädtcu zu bekommen, wird es
nicht genügen zu wissen, daß man allein in Galata etwa zweitausend Firmen zählt.
Man muß dazu auch die zahlreichen Kleinverkäufer rechnen, die auf offner Straße
und in Buden ihre Waaren feil haben und die Inhaber der großen Magazine und
Läden von Pera. Dieser Handel ist das ganze Jahr hindurch lebhaft, aber er
hat zu gewissen Zeiten, wie leicht begreiflich, einen lebhafter» Schwung wie in
andren. In diesem Sommer ist das Geschäft, nach den zahlreich anlangenden
Schiffen und den sehr vergnügten Gesichtern der Kaufleute zu urtheilen, besonders
großartig. Es thut dabei viel, daß die alliirtc Krimarmee ihren nächsten Bedarf
von hier entnimmt, indem die meisten hiesigen unternehmenden Häuser Comman-
diten in Kamiesch oder Balaklava haben.
Die Versorgung der verbündeten Krimheere und der zahlreichen militärischen
Fremden, die zeitweilig ihren Wohnsitz hier aufgeschlagen haben, hat das Gute zu
Wege gebracht, daß die auf Comfort Bezug nehmenden Gegenstände innerhalb des
Handels sich in diesem Jahre außerordentlich vermehrt haben. So sah man, um
nur hier ein Beispiel anzuführen, welches dahin einschlägt, im vergangenen Jahre
in den Händen der englischen Offiziere, Aerzte und Vervflegungsbcamten die ersten
Meißen, großen Sonnenschirme. Heute siud dieselben allgemein und man kann in
diesem Sommer kaum zwanzig Schritt weit in den Straßen von Pera und Galata
gehen, ohne irgendeinem derselben zu begegnen.
Der Sultan wird im gegenwärtigen Jahre seinen Ausenthalt im Tschiraghan-
Palais nicht wechseln, und zwar scheint dies, seinen Grund mit darin zu haben,
daß sein eigentliches Svmmcrschloß, Beglerbai, für den Kaiser Napoleon eingerichtet
wurde. Es ist ein bemerkenswerther Umstand, daß immer aufs neue wieder Ge¬
rüchte auftauchen, wonach die Reise desselben nach der Krim und mithin sein Be-
nies in Konstantinopel noch nicht aufgegeben worden sei. Vor der Hand wird
indeß erst Monsieur Thonvcnel erscheinen, für den man die Zimmer im französischen
Gesandtschastspalais von Therapia schon bereit hält.
In den beiden diplomatische» Schwestcrvrtschasteu auf dem europäischen Ufer
des oberen Bosporus, dem letzterwähnten und Bujukdere, herrscht in diesem
Sommer durchaus uicht das heitere und unbefangene Treiben, wie im vergangenen
Jahre, und namentlich früher, denn auch vor 12 Monaten walteten schon manche
Umstände vor, welche der Harmlosigkeit Abbruch thaten. Damals wandelten um
dieselbe Julizeit die beiden Prinzen. Cambridge und Napoleon, ans den Ufertn--
rassen auf und nieder, wo hente manch in der ärztlichen Behandlung begriffener
Krieger aus dem nahen Lazarett, an seinen Krücken dahinschleicht. Der alte
kühlende Seewind weht freilich noch ebenso erfrischend, wie jemals dort vom offenen
schwarzen Meere her, und so abkühlend wirkt der dortige Luftzug ans die Tem-
peratur ein, daß, während man jüngst in Pera 25° Neaumur im Schatten hatte,
das Thermometer dort kaum 20 überschritt.
— Denkmale deutscher Kunst von Einführung des Christen¬
thums bis auf die neueste Zeit. Herausgegeben von Ernst Förster.
Erster Band. I. Abtheilung- Baukunst. 26 Tafeln und 66 Seiten Text. II. Ab¬
theilung: Bildnerei. 12 Tafeln und 24 Seiten Text. III. Abtheilung: Malerei,
12 Tafeln und 1 i Seiten Text, Leipzig. T. O. Weigel. — Wir haben auf dieses
Werk bereits beim Beginn der Ausgabe aufmerksam gemacht; bei dem Schluß des
ersten Bandes können wir nun erklären, daß die Hoffnungen, die wir an dasselbe
knüpften, auf das glänzendste erfüllt worden sind. Den Text und die Auswahl
der Gegenstände lassen wir bei Seite, weil sich darüber erst wird urtheilen lassen,
wenn das Werk in größerem Umfang vor uns liegt; wir halten uns nur an die
Ausführung der Bilder. Schon bei der Wiedergabe der architektonischen und pla¬
stischen Kunstwerke ist die Sauberkeit und Genauigkeit nicht genng anzuerkennen,
den höchsten Preis aber verdient der Abschnitt über die Malerei. Er enthält fol¬
gende Meisterwerke der deutschen Kunst: Das Gebet des heiligen Bernhard im
Dom zu Speier, von Johann Schraudolph; die sieben Freuden der Maria, von
Meninting. in 3 Abtheilungen; Johannes der Evangelist, scholastica und Sanct
Benedict, vom Liesborner Meister; Wandgemälde in Braunschweig und Halber¬
stadt; das Dombild in Meißen, in zwei Abtheilungen; die Krönung der Maria,
vou Hans Holbein dem Großvater; die Taufe des Paulus, vou Haus Holbein
dem Aeltern, und Se. Sebastian, Se. Barbara und Se. Elisabeth, von Hans
Holbein dem Jüngcxn-. - Jede dieser Nachbildungen ist in der Ausführung ein
Meisterwerk, in Beziehung auf das Charakteristische wie auf die Eleganz des
stiess, uP, ein höchst ehrenvolles Zeugniß für die Fortschritte der deutschen Technik.
Am bedeutendsten und umfangreichsten konnte sich die Kunst in dem berühmten Ge¬
mälde von Meninting entwickeln, weil hier die Aufgabe am schwierigsten war. Es
galt, die feinen Nuancen des Hintergrundes und die sehr kühnen Perspectiven genau
und doch geschmackvoll zu versinnlichen, und dies ist dem Künstler in einer Weise
gelungen, wie wir nicht leicht etwas Aehnliches gesehen haben. Möchte nun der
reichere Theil des deutschen Publicums seinerseits seine Pflicht thun und ein Unter¬
nehmen unterstützen, welches Deutschland zur Ehre gereicht und welches ohne leb¬
hafte und allseitige Theilnahme des Volks nicht gedeihen kann. —
Grundzüge der kirchlichen Kunstarchäologie des deutschen Mittel¬
alters. Ein Auszug aus dem größere» Werke des Verfassers, vou Heinrich Otte.
Mit -118 Holzschnitten. Leipzig. T. O. Weigel. — Es hat sich dnrch die Erfahrung
gezeigt, daß das in seiner Art classische Werk von Otte, so billig der Preis im
Verhältniß zu dem, was geliefert wurde, gestellt war, doch immer noch einen zu
großen Preis hatte, um in die Masse des Publicums einzudringen. Der Verleger
hat also eine billigere Ausgabe veranstaltet, vorzugsweise für Bauschulen eingerichtet,
in der Form gedrängt und doch so vollständig als möglich. Es ist von den
vorhandenen Handbüchern unstreitig das zweckmäßigste und brauchbarste. Was den
Inhalt betrifft, beziehen wir uns auf unsere frühere Anzeige. —
Die Kunstschätze Wiens in Stahlstich nebst erläuterndem Text von A. R.
von Pcrger. Herausgegeben vom Oestreichischen Lloyd in Trieft. — Die Hefte
9—14-, die uns vorliegen, enthalten u. a. folgende Gemälde: Van Dyk, Porträt
der Gräfin Thurn und Taxis; Adrian van Ostade, der Zeitungsleser; Fra Barto-
lomeo, die Darstellung im Tempel, van Steen, der Musiklehrer; Tilbury, das
alte Mütterchen; Paul Potter, der Morgen; van Dyk, Votivgemälde, Wonwer-
mann, ein Reitergefecht; Ponssain, das Grabmal der Cäcilia Metella; Millet.
römische Landschaft! Rembrandt, die Gefangennehmung Simsons; Cornelius Bega,,
die Lautenspieler; und ein Seestück von Goyen. Ueber die Ausführung dieser
Illustrationen haben wir uns schon in Früheren ausgesprochen. —
Kritische Blätter, besonders über das neuere Bauwesen. Von Ernst
Kopp, Jena, Bostan. — Das vierte Heft dieser kritischen Blätter enthält unter
anderen die Beurtheilung der neuen Apollinariskirche bei Remagen am Rhein;
Bemerkungen über die Anwendung des Spitzbogenstils zu unsern baulichen Bedürf¬
nissen, und kritische Bemerkungen über die architektonischen Ordnungen der Griechen,
Römer und neuen Meister. —
Die wesentliche Grundlage der monumentalen Baukunst. Historisch
dargelegt an den Meisterwerken der alten Architektur. Eine Abtheilung geschicht¬
licher Vorträge, gehalten in den över Jahren «mit erläuternden in den Text ge¬
druckten Holzschnitten) von I. H. Wolfs, Professor an der Kurfürstl. Akademie der
bildenden Künste zu Kassel. Göttingen, Georg H. Wigand, 18izi. — Die vor¬
liegende Schrift ist nnr die Probe aus einem gröficrn Werk, welches in chronolo¬
gischer Folge die Geschichte der, uns überlieferten Architekturen von der ägyptischen
an bis ans die Bauweise unserer Tage enthalten soll. Ueber die Tendenz der
Schrift spricht steh der Verfasser in der Vorrede aus. Das Bestreben der neuesten Zeit,
die architektonischen Formen vorzugsweise aus volksthümliche oder auch symbolische
Motive zurückzuführen,- und somit an der Stelle der allgemeinen Form den Nach¬
druck und das Hauptgewicht auf die nationalen oder individuellen Formen zu legen,
ist im hohen Grade nachtheilig für das Fortschreiten unserer auf ewig giltigen
Grundlagen beruhenden Kunst. Die Geschichte der Architektur soll belebend und
fruchtbringend auf das Studium und mehr noch auf die Ausübung der Kunst
einwirken — und dazu ist es nöthig, daß wir uns überall vorhalten, was. die Bau¬
kunst ihrem Wesen, ihrer Bestimmung, ihrer innern Natur nach leisten will und
soll. Nach dieser Grundanschauung haben wir alsdann zu untersuchen, wie bei
jedem Volke und in jeder Zeit dieses Ziel bewußt oder unbewußt erstrebt, erreicht
oder durch mannigfache Abirrungen von dem rechten, häufig nur unvollkommen
geahnten Wege verfehlt worden ist; wir haben ferner hiernach die allmälige Ent¬
wicklung und Fortbildung des Kunststilcs einer jeden Periode zu verfolgen, sowol
im Ganzen und Großen der Massen, als in den Einzelnheiten jedes Architektur-
theilcs, von den Uranfängen an bis zu der Blüte der reichsten und feinsten Aus¬
bildung; und ebenso wieder abwärts; wir müssen endlich beobachte» und nachweisen,
wie der höchsten Blüte einer jeden Bauweise in der Regel beim Verschwinden des
ursprünglichen Sinnes und des Verständnisses ihrer Formen, eine Ueberfeincrung,
das Zeichen des Verfalles, folgt, welche dann bis zu einer völligen Umwälzung
der bestehenden Richtung fortdauert. Ans diesem Wege werden wir dazu gelangen,
an der Hand und an dem Leitfaden der Geschichte die wiederkehrenden Grundgesetze
in den plastischen Formen immer deutlicher zu erkennen; immer klarer und be¬
stimmter wird uns der Maßstab hervortreten, an welchem die größere oder geringere
Vollendung der verschiedenen Bauweisen zu bemessen ist, diese werden aufhören,
für uns eine Musterkarte von Vorbildern zu sein, vielmehr uns nnr dazu dienen,
das Vollkommenste aus einer jeden uus anzueignen, und zwar nicht sowol der
gegebenen Form als der Idee oder vielmehr der Art der Entwicklung nacb. —
Wir wünschen lebhaft, daß dem geistvollen Verfasser bald Gelegenheit gegeben würde,
mit dem Ganzen seines Werkes vor das Publicum zu treten. Es wird ihm nicht
an lebhaften principiellen Gegnern fehlen; aber seine Auseinandersetzungen sind
inhaltreich und bedeutend genug, um eine fruchtbare und folgenreiche Discussion
hervorzurufen. —
— Alexander Puschkins Poetische Werke, aus
dem Russischen übersetzt von Friedrich Boden stete. >>>. Dramatische Werke.
Berlin, Decker. 1A33. — Die Sammlung enthält das Drama Boriß Godnnoff,
ferner einige kleinere Fragmente, worunter anch der unvermeidliche Don Juan, zum
Schluß biographische Notizen über Puschkin. So geistvolle und schön gedachte Ein¬
zelnheiten anch diese Werke enthalten, so sind wir doch dnrch den letzten Band noch
mehr in unserer Ueberzeugung bestärkt worden, daß der russische Dichter im Gründe
doch nichts Anderes war, als ein feingebildeter Dilettant. Nur zum kleinsten Theil
entspringt seine Dichtung aus dem wirklichen Inhalt des Lebens, aus den Zustän¬
den seiner Nation, oder aus eignen Schmerzen und Hoffnungen; die Hauptsache
gehört der Reminiscenz an. Zwar hat er es sehr wohl verstanden, in die Gc-
sühlsform, die ihm durch Lord Byron überliefert wurde, heimische Geschichten und
Zustände einzuflechten, allein ein organisches Ganze ist daraus doch nicht hervor¬
gegangen. Zudem hat seine Lebensanschauung etwas Hektisches, und wir glauben
nicht, daß er sich in Deutschland einbürgern wird. Wir müssen anch offen gestehen,
daß wir es nicht wünschen. Die Uebersetzung dagegen ist ausgezeichnet und macht
dem feinen Sprachkcnner, von dem sie ausgeht, alle Ehre. —
Kain. Ein Mysterium. Mazeppa. Von Lord Byron. Aus dem Eng¬
lischen übersetzt von Friederike Friedmann. Leipzig, Brockhaus, 1833. —
Wir haben bei Gelegenheit einiger frühern Stücke uns über die Methode dieser Ueber-
setzerin bereits ausgesprochen und können uus im Wesentlichen darauf beziehen, doch
müssen wir hinzusetzen, daß dies neueste Werk uns viel gelungener erscheint, als die zu¬
letzt vou uns besprochenen Uebersetzungen; namentlich hat der Kain sehr schöne Stellen. —
Schillers Gedichte erläutert und auf ihre Veranlassungen und Quellen
zurückgeführt, nebst Variantensammlung und Nachlese von Heinrich Vieh off,
Professor und Director der höhern Bürger- und Prvvinzialgcwerbeschnle zu Trier.
Neue größtentheils umgearbeitete Auflage in drei Bänden. Erster Theil. Stuttgart,
Ad: Becher. 1836. — Das Werk ist mit außerordentlichem Fleiß gearbeitet und
wir glauben kaum, daß ein späterer Kommentar noch etwas hinzufügen könnte.
Nur scheint uns der Verfasser des Guten etwas zu viel gethan zu haben. Für das
größere Publieum ist seine Schrift nicht, da dieses es unmöglich ertragen würde,
den Dichter, den es genau zu kennen glaubt, bis in die kleinste Faser hinein ana-
lysiren zu lassen. Es hat offenbar den Zweck, Gymnasiallehrern, welche den Dichter
in der Classe zu erklären haben, als Handbuch zu dienen, und bei Gymnasialleh¬
rern dürste man doch wol so manches als bekannt voraussetzen, was hier ausführ¬
lich erörtert wird, z. B. S. 337 die Erläuterung von Arion, Phidias und Iris.
Europäische Chronik. 185!). Bearbeitet von mehren Publicisten. Her¬
ausgegeben von Dr. A. Buddeus. Erster Band. Januar, .Februar, März. Die
zunehmende Verwicklung der Tagesbegebenheitcn, die sich fast verwirrend audräugeude
Flut der Ereignisse macht allen denen, welche nicht ans Beruf sich mit Politik be¬
schäftigen und dennoch eine Uebersicht über den Gang der Zeitgeschichte zu bekom¬
me« wünschen, einen Gehilfen wünschenswert!), welcher die schwierige Arbeit der Sich«
trug und des täglich sich aufhäufeudeu massenhaften Stoffes, des Ausscheidens des
Wichtigen aus dem Unbedeutenden, des Wahren aus dem Falschen dem lesenden
Publieum abnimmt und ihm ein fertiges, klares Bild der Ereignisse jedes Viertel¬
jahrs hinstellt. Dieser Gehilfe bestrebt sich, die vorliegende Chronik zu sein und sie
hat wirklich ausgeführt, was sie gewollt. Einen Parteistandpunkt schließt der Zweck
eines solchen Werkes aus und so schwer die objective Ruhe in einer so bewegten
Zeit zu erhalten ist, so ist doch hier mit Glück der im Prospect ausgesprochene
Vorsatz durchgeführt, eine unpartheiische, möglichst vollständige und klare Uebersicht
aller irgend bedeutsamen Vorgänge und Ereignisse zu gewähren, wie sie die laufende
Geschichte unsers Welttheils', seines Staatensystems, seiner einzelnen Länder, seines
Politischen, nationalen und socialen Lebens bezeichnen und gestalten. Vorausgeschickt
ist ein Abschnitt „Entwicklungen und Situationen", welcher mit der orientalischen
Verwicklung beginnend, dann nacheinander die Staaten West-, Süd-, Ost-, Nord-
uud Mitteleuropas gruppenweise vornehmend, die politische Situation jedes derselben
am Schluß des vergangenen Jahres und wie sie so geworden, auseinandersetzt. So
wird der Leser auf der Bühne orientirt, auf der sich die Geschichte des laufenden
Jahres abspielt. In diesem wie in dem folgenden Abschnitte erscheint uus die
Darstellung der diplomatischen Verhandlungen zwischen den verschiedenen Gro߬
mächten wegen der Bestimmtheit, mit der die verschiedenen Interessengruppen
auseinandergehalten sind, — was die so schwierige Uebersicht eines so ver¬
wickelten Materials ungemein erleichtert — als besonders gelungen. Der zweite
Abschnitt, „der Gang der Geschichte", ist der Geschichte des laufenden Jahres ge¬
widmet, welche derselbe, die Reihenfolge der orientalischen Verwicklung, die Staaten
West-, Süd-, Ost-, Nord- und Mitteleuropas beibehaltend, monatweise abhandelt. In
diesem Abschnitt verweilen wir nacheinander bei dem sich dies Mal auf diplo¬
matische Noten und Zeitungsartikel beschränkenden Ringen der beiden deutschen Gro߬
mächte um die Hegemonie in Deutschland, bei der Ministerkrisis in England, bei den
Vorbereitungen zu den wiener Konferenzen, bei der Verwirrung in Spanien, bei den
blutigen Kämpfen in der Krim, sehen uns die stille Häuslichkeit der deutschen
mittleren und kleinen Staaten an, und kommen endlich zu dem tragischen Tode des
Herrschers aller Reußen, von dem viele vorschnell eine plötzliche Wendung in der Krisis
erwarteten, Auch hier haben wir die Klarheit der Darstellung, die Vollständigkeit des dazu
verarbeiteten Stoffs und die Unparteilichkeit nur rühmend anzuerkennen, dock) versteht es
sich von selbst, daß.sich diese Unparteilichkeit fern von der politischen Gesinnungs¬
losigkeit hält, die auch das Unrecht für berechtigt anerkennt, wenn nur die Macht
dahintersteht, und so objectiv die ganze Darstellung gehalten ist, so sehr Freund
und Gegner mit gleichem Maße gemessen ist, wird man doch herausfühlen, für welche
Seite das Herz des Herausgebers und der Mitarbeiter schlägt. Den Schluß bildet
eine Tageschronik der Ereignisse des ersten Vierteljahres. Es bleibt uns nur noch
übrig, das Werk als politisches Handbuch für jeden, der Antheil an deu Ereig¬
nissen unsrer Zeit nimmt, auf das wärmste zu empfehlen.
— In der neusten Revue des deux mondes bespricht Se. Reus Tail-
landier die neuesten belletristischen Versuche in Deutschland, den Glauben wieder¬
aufzurichten und darunter auch deu Roman: „llrius sicui, »vus". Auch dies Mal
kommt der Versasser wieder aus die Idee zurück, die ihn beständig verfolgt und
vou der er sich durch keine Versicherung der deutschen Kritik abbringen läßt, daß
nämlich das Buch von Max Stirner: „der Einzige und sein Eigenthum" das letzte
Resultat der deutschen Philosophie sei. Daß dies Buch in Deutschland im Ganzen
sehr wenig gelesen ist und daß niemand es anders aufgefaßt hat, als die Caprice
eines talentvollen, aber halbgebildeter Mannes, stört ihn in dieser Ueberzeugung
ebensowenig, als daß die Einfälle dieses wunderlichen Buchs allem, was die deutsche
Philosophie jemals gelehrt hat, auf das unbedingteste widersprechen;' weil Stirner
das bekannte Goethesche Lied: „Ich habe meine Sach aus nichts gestellt," zu seinem
Wahlspruch gemacht hat, soll die gesammte deutsche Philosophie an diesem Attentat
gegen deu gefunden Menschenverstand mitschuldig sein. Da wir nun billigerweise
nicht verlangen können, daß unsre Nachbarn jenseits des Rheins wissen, um. was
es sich in der deutschen Philosophie eigentlich handelt, so können wir diese Ver¬
sicherungen aus sich beruhe» lassen. Einen unangenehmern Eindruck aber macht die,
wenn auch nnr relative Vertheidigung des deutschen Pietismus. Vou diesem kann
sich ein Katholik gar keine Vorstellung machen, weil die Auswüchse und Verirrungen
seiner eignen Religion ganz andrer Art sind. Wenn Emile Montvgnt über die
religiös-socialen Versuche des englischen Puritanismus seine Betrachtungen anstellt,
so hat er dazu vollkommen Recht, denn er hat über das Wesen des Protestantismus
sehr tief nachgedacht, wenn nicht seine ganze Bildung protestantisch sein sollte. Das
ist aber bei Herrn Taillandicr nicht der Fall. Der modernste überzuckerte Pietis¬
mus, selbst wenn wir von seinen jesuitischen Machinationen absehen, liegt eben¬
sowenig in der natürlichen Entwicklung der deutschen Religiosität, als die HanS-
wurstiadcn Stirners in der Entwicklung der deutschen Philosophie. Das Eine ist
ein krankhafter Absceß wie das andere; aber freilich ziehen wir Stirner unendlich
dem Verfasser von „LriUs uieui, Ueu»" vor, denn bei dem ersten ist es doch nur
eine verkehrte Verstandesbildnng, bei dem zweiten dagegen, der weit mehr Talent
hat, eine innere Perversität des Gemüths.
Wir haben seit einigen Monaten über die Politik gänzlich geschwiegen.
Für denjenigen, der mit den Verhältnissen der Presse vertraut ist, wird dieses
Schweigen keiner Erklärung bedürfen. Auch heute begnügen wir uns damit,
bei Gelegenheit der vorliegenden Broschüren die durchaus veränderte Constel-
lation der Thatsachen zu constatiren; wir meinen die Umkehr der bisherigen
Politik Oestreichs. Zunächst ein Wort über den Inhalt jener Broschüren.
Die beiden ersten bemühen sich, das Verhalten Oestreichs seit dem Ein¬
tritt der orientalischen Krisis bis auf die Gegenwart sowol dem deutschen Bunde
als den Alliirten gegenüber zu rechtfertigen; die dritte beleuchtet die bishe¬
rige Kriegführung und sucht nachzuweisen, daß die Westmächte den Krieg ohne
einen bestimmten Plan und ohne einen bestimmten Zweck unternommen haben,
und daß sie sich auch jetzt noch nicht klar gemacht haben, was sie eigentlich
wollen; die vierte ist entschieden antirussisch und sucht die Nothwendigkeit eines
Zusammenwirkens Europas gegen diesen gefährlichen Staat nachzuweisen.
Alle vier sind mit Verstand und Einsicht g-eschrieben und geben uns über
manche Punkte erwünschte Aufschlüsse.
Was nun zunächst die Rechtfertigung Oestreichs -betrifft, so scheint uns
>n staatsrechtlicher Beziehung nichts dagegen einzuwenden; selbst noch der
Decembervertrag war auf Schrauben gestellt, wie auch von den englischen
Staatsmännern damals ganz richtig ausgesprochen wurde, -und die formale
Berechtigung, nach dem Abbruch der wiener Conferenzen aus dem Bündniß
mit den Westmächten herauszutreten, kann man Oestreich nicht bestreiten. An¬
ders ist es freilich, wenn man von dem Buchstaben absieht, das bisherige
Verhalten Oestreichs in Zusammenhang bringt und sich daraus eine leitende
politische Idee zu abstrahiren sucht. Von diesem Gesichtspunkt wird man wol be¬
haupten dürfen, daß Oestreich die begründeten Erwartungen Europas getäuscht
hat.
Nicht in dem Sinn, wie man es gewöhnlich nimmt. Bei der allgemei¬
nen Abneigung gegen das Princip des östreichischen Staats gab es schon im
vorigen Jahr viele, welche behaupteten, Oestreich suche die öffentliche Meinung
nur zu täuschen, es sei ihm mit dem Bündniß mit den Westmachten kein Ernst.
Diese Propheten glauben jetzt triumphiren zu können und construiren sich
in die Thätigkeit Oestreichs einen macchiavellistischen Plan hinein. Wir ha¬
ben damals diese Ansicht nicht getheilt, wir können sie auch dies Mal nicht
zugeben; nicht weil wir auf die Ehrlichkeit dieses oder jenes Staatsmannes ein
zu großes Gewicht legen, sondern erstens, weil wir das frühere Verhalten
Oestreichs durchaus natürlich fanden, zweitens, weil der jetzige Umschlag uns
auch sehr begreiflich ist und drittens, weil es absolut unmöglich ist, sür das
eine und das andere im Zusammenhang einen Plan, eine geheime Absicht
vorauszusetzen, die nur einigermaßen mit dem gesunden Menschenverstand in
Einklang zu bringen wäre.
Oestreichs Verhalten vom Beginn der orientalischen Krisis bis zum Schluß
der wiener Conferenzen war natürlich, denn es war durchaus im Sinn der
alten traditionellen Politik. Oestreich ist mehr als irgendein andrer Staat
bedroht, wenn die Türkei in russische Hände fällt, denn ein großer Theil seiner
Völkerschaften ist tausendfältig mit den türkischen Völkerschaften verflochten.
Solange ihm das schwache türkische Reich gegenübersteht, kann es hoffen,
diese Lage zu seinem eignen Vortheil auszubeuten; wenn aber diese Provinzen
in russischen Händen sind, so wird ihm ein Keil nach dem andern in sein
Inneres eingeschlagen werden. — Außerdem war durch das Ende des ungari¬
schen Feldzugs Oestreich in ein drückendes Abhängigkeitsverhältniß zu Rußland
getreten und dieses abzuschütteln, mußte als eine der dringendsten Ausgaben
des regenerirten Staats betrachtet werden. — Auf der andern Seite mußten
aber auch viel Rücksichten genommen werden. Das persönliche Verhältniß
zum Kaiser Nikolaus erheischte Schonung und die Lage Oestreichs in einem
offnen Kriege gegen Rußland war ungleich bedenklicher, als die der Westmächte.
Vor allem kam es darauf an, sich durch Preußen und das übrige Deutschland
den Rücken decken zu lassen. Alle diese Motive kamen hintereinander ins Spiel,
doch so, daß ein folgerichtiges Weitergehen bemerkbar war. Oestreichs Be¬
streben war natürlich, soviel als möglich zu gewinnen und sowenig als möglich
aufs Spiel zu setzen. Wer das tadeln wollte, müßte nicht recht bei Sinnen
sein. Es bemühte sich aus verschiedenen Wegen, Preußen und das übrige
Deutschland zu seinem System heranzuziehen und es allmälig zu einem Bündniß
mit den Westmächten zu führen, um durch den Abschluß dieses Bündnisses Ru߬
land so einzuschüchtern, daß es auf billige Forderungen einginge. Der Plan war
verständig, zweckmäßig und er war auch durchführbar.
Allein die östreichischen Staatsmänner scheinen sich nicht klar gemacht zu
haben, was zu thun sei, wenn der Plan mißlänge. Einzelne Schritte, die in
dieser Beziehung gethan wurden, z. B. das projectirte Separatbündniß mit
einzelnen deutschen Staaten, die etwa am Kriege gegen Nußland theilnehmen
möchten, sahen mehr nach einer hitzigen Aufwallung, als nach einer ruhigen
und festen Ueberlegung aus. Oestreich scheint sich serner nicht klar gemacht zu
haben, daß die wiener Conferenzen scheitern mußten, 1) weil die Westmächte gar
nicht in der Lage waren, bestimmte, auf den kriegerischen Erfolg basirte Forderun¬
gen zu stellen, 2) weil die Russen noch gar keinen Grund hatten, ernsthafte Forde¬
rungen zuzugestehen, 3) weil die russische Diplomatie fest überzeugt war, Oest¬
reich werde vor dem letzten entscheidenden Schritt zurückschrecken, wenn man es
nur nicht persönlich reizte. — Und das ist in der That im letzten Augenblick
geschehen und vielleicht grade, weil man sich erst im letzten Augenblick ent¬
schloß; in einer Weise geschehen, die für die Westmächte etwas höchst Ver¬
letzendes haben muß. Durch seine bisherige abwartende Handlung hatte Oest¬
reich doch den Westmächten sehr viel genutzt, denn es hatte die Russen gezwungen,
sehr bedeutende Streitkräfte, die sie sonst in der Krim verwenden konnten, in
den polnischen Provinzen festzuhalten. Jetzt, in einem Augenblick, wo es in
der Krim zur Entscheidung kommen soll, weigert sich Oestreich nicht nur, aus
dieser abwartenden Stellung in die aggressive überzugehen, sondern es gibt
auch jene auf. Es macht Nußland dadurch möglich, alle seine Streitkräfte,
die es acht an der baltischen Küste nöthig hat, in die Krim zu werfen und
bringt dadurch die alliirte Armee in eine Lage, die man als verzweifelt be¬
zeichnen kann. Wenn jemand nach der Note vom 20. Mai noch bezweifeln
könnte, daß Oestreich seine bisherige Stellung ausgegeben hat, so muß ihn
die gleichzeitige Desarmirung eines Bessern belehren. Oestreich steht jetzt den
Westmächten grade so gegenüber, wie Preußen.
Und dies sollte Folge einer Berechnung sein? Es wäre wenigstens eine
sehr wunderliche Berechnung. Was Deutschland betrifft, so hat die preußische
Politik einen offenbaren Sieg erfochten; freilich einen Sieg, den wir ebenso
als einen Sieg des Pyrrhus bezeichnen möchten , wie den Sieg Oestreichs über
Preußen bei Olmütz. Oestreich hat sich die Sache sehr viel Geld kosten lassen,
Preußen hat gespart. Oestreich hat die Führerschaft über die kleinen deutschen
Staaten verloren, Preußen hat sie sich angeeignet. Die öffentliche Meinung,
die es im Anfang mit Oestreich hielt, hat sich wieder davon abgewendet, weil
nur der Starke und Consequente sie auf die Dauer beherrscht. Das Verhält¬
niß zu Preußen ist nicht gebessert, sondern verschlechtert, weil Preußen im Laufe
des letzten Jahres mehrfach schwer beleidigt ist und weil es durch die letzte Wen¬
dung gelernt hat, seine Scheu vor Oestreich aufzugeben. Man mag diese Erfolge
so hoch oder so gering anschlagen, als man will, sie sind jedenfalls nicht von
der Art, daß sie Oestreich zu einer macchiavellistischen Politik verlocken konnten.
Oestreich hat nicht macchiavellistisch, sondern unter dem wechselnden Einfluß
verschiedener natürlicher Beweggründe gehandelt.
Die Erfolge in den allgemeinen europäischen Verhältnissen sind nicht viel
glänzender. Für den Augenblick zwar scheint Oestreichs Stellung günstig genug,
denn es hat die Donaufürstenthümer in Händen und die beiden Mächte, die
ihm in Italien gefährlich werden könnten, Frankreich und Sardinien, sind in
der Krim beschäftigt. Allein dieser provisorische Zustand kann doch nicht lange
dauern und nothwendigerweise muß zuletzt folgendes Dilemma eintreten: ent¬
weder überzeugen sich die Westmächte davon, was die leitenden Staats¬
männer schon lange wußten, daß sie für sich allein nicht die Mittel haben,
Rußland zu den Friedensbedingungen zu zwingen, die sie wünschen, sie schlie¬
ßen also einen beliebigen Frieden, wozu ihnen die passende Gelegenheit nicht
fehlen wird, oder sie werden von der Volksmeinung gezwungen, den Krieg
fortzusetzen und dann sehen sie sich nothgedrungen, aus dem localen Krieg
einen europäischen zu machen und die Revolution zu Hilfe zu rufen. In beiden
Fällen ist Oestreichs Lage keine sehr günstige.
Daß man ihm bei Abschluß des Friedens die Donaufürstenthümer lassen
wird, daran denkt es wol selbst nicht. Im günstigsten Fall wird man die
Friedensbedingungen so stellen, daß Oestreich kein Nachtheil widerfährt; ein
Vortheil wird ihm auf keinen Fall daraus erwachsen. Dann bleibt die Lage,
die nämliche. Frankreich , Nußland und Preußen sind seine natürlichen Gegner,
d. h. ihre Interessen collidiren an allen möglichen Orten miteinander und sie
haben an allen Orten Mittel in Händen, ihm zu schaden. Die Neigung dazu ist
aber unendlich vergrößert, denn alle drei Staaten und England noch dazu, sind
von Oestreich im Lauf dieses Jahres schwer gekränkt worden. Dies ist der
günstigste Fall und der wahrscheinliche, wenn es den bisherigen aristokratischen
Coterien in England gelingt, sich am Ruder zu erhalten. ES hat sich gezeigt,
daß die englischen Staatsmänner und Generale, die bisher den Krieg führten,
ihn im Stillen verabscheuten und nichts sehnlicher wünschten, als einen schnellen
Frieden. Aber einerseits hat die Volksstimmung in England im letzten Jahre
eine furchtbare Macht gewonnen, sie hat Schritt für Schritt das Widerstreben
der Staatsmänner beseitigt und es ist leicht möglich, daß sie das ganze System
über den Haufen wirft. Auf der andern Seite ist noch ein unberechenbarer
Factor da, der Kaiser Napoleon, der bekanntlich eine Mission zu erfüllen hat.
Worin diese Mission besteht, weiß man zwar noch nicht, aber daß sie keine
streng conservative sein wird, darüber sind auch sanguinische Politiker nicht
mehr im Unklaren. Daß auf dem bisherigen Wege der Krieg gegen Nußland
nicht durchzuführen ist, darüber sind Engländer und Franzosen einig, denn
selbst wenn es gelingt, Sebastvpol zu nehmen, so wäre von dort aus der Ein¬
marsch in das Innere Rußlands doch eine lächerliche Idee. Sie müssen also
dem Kriege einen andern Schauplatz zu geben suchen und das kann nur durch
Verbindung mit revolutionären Kräften geschehen. Daß sie diese aufrufen
können, liegt auf der Hand; daß sie es wollen, möchte noch zweifelhaft sein,
aber vielleicht werden sie es müssen und dann werden wir in ein Spiel des
Zufalls gestürzt, das jeder Berechnung spottet.
Unter diesen Umständen bleibt uns nichts übrig, als den frommen Wunsch
auszusprechen, die deutschen Mächte, namentlich Oestreich und Preußen möchten
sich vor dem endlichen Ausgang noch anders besinnen. Möglich ist es, denn
die vorstehenden Betrachtungen liegen so auf der Hand, daß sie auch den
Staatsmännern nicht entgehen werden; aber wahrscheinlich ist es uns aller¬
dings nicht und so sehen wir der nächsten Zukunft mit ziemlichem Bangen
entgegen.
Der Roman, dessen drei ersten Bände wir seiner Zeit angezeigt haben,
hat durch die unbillig lange Verspätung des Schlusses viel von seinem Er¬
folg eingebüßt; ein großer Theil der Leser, der den Anfang mit Spannung
und Interesse verfolgt hat, wird jetzt den Inhalt theilweise wieder vergessen
haben, da er nicht von der Art ist, sich stark und entschieden dem Gedächtniß
einzuprägen. — Es ist sehr schwer über dieses Werk ein unbefangenes Urtheil
zu fällen. Wir haben es mit einem höchst geistvollen Schriftsteller zu thun,
der viel gelebt und viel gedacht hat. Seine Reflexionen sind nie unbedeutend
und nie äußerlich gemacht, sie sind mit der Empfindung unmittelbar verwebt und
enthalten zuweilen ebenso tiefe als überraschende Wahrheiten. In der Malerei
und Staffage finden sich so feine, lebensvolle Züge, daß der erfreute Leser sich
gern unbedingt den Händen des Dichters anvertrauen möchte, aber es ist durch¬
aus nicht möglich, denn unter den vielen launenhaften Schriftstellern unsrer
Tage gehört Keller zu den launenhaftesten; kaum hat er uns sür eine Ge-
schichte warm gemacht, so ist er sofort wieder geschäftig, uns durch nachträglich
eingeschobene Züge zu verwirren und zu verstimmen; kaum sehen wir einen
Charakter in festen Umrissen vor uns entstehen, so verwischt er wieder die
Züge und wir haben ein anderes, unbekanntes Bild vor uns. Die Sprünge,
in welchen der Dichter über das Wesentliche hinweghüpft, sind zuweilen ebenso
wunderlich, als die Breite, mit der er sich in das Unwesentliche einläßt. Der
Schluß soll einen tragischen Eindruck auf uns machen, aber wir werden nur
verdutzt, da wir auf den Ausgang durchaus nicht vorbereitet sind. — Es ist
ein ganz sonderbares Schauspiel. Ein edles, kräftiges Gemüth und eine feine
Bildung, ein ganz ungewöhnliches Talent für Beschreibung und Charakteristik
und dabei doch diese verwaschene launenhafte Form, diese vollständige Abwesen¬
heit des Gefühls, das allein eine Dichtung von größerem Umfang berechtigt,
des Gefühls der Nothwendigkeit. Wir wünschen dem Buch recht zahlreiche und
aufmerksame Leser, denn es gehört ganz entschieden zu den geistvollsten, die im
Lauf der letzten Jahre geschrieben sind; aber wir hoffen kaum, daß unser
Wunsch in Erfüllung gehen wird, denn diesen beständigen Wechsel von Hitze
und Abspannung, von Traum und Wirklichkeit, von Schmerz und Humor er¬
trägt auf die Länge kein gesundes Gemüth. —
Wenn wir aus dem vorhergehenden Roman in diesen neuen übertreten,
so werden wir nicht grade angenehm überrascht. Im grünen Heinrich die
edelste Sprache feiner Bildung und zarter Empfindung, hier ein verwilderter
Studentertton, der mitunter in den rohesten Cynismus übergeht. Es ist ni,ehe
Mangel an Bildung, sondern Geschmacklosigkeit, waS diese Darstellung erklärt.
Wir wollen nur ein Beispiel anführen. Die Hauptperson, ein gewisser Nor¬
deck, neckt fortwährend einen ehrlichen Oberlehrer der Mathematik, Namens
Zähmann. Einmal gibt er der Gesellschaft das Räthsel auf, was ein Leim-
sieder ist, keiner konnte es rathen, und allgemein kam die Frage, wie die Lösung
sei. „Das will ich Ihnen sagen, meine werthen Herrschaften. Ein Leim-
sieder ist nämlich ein Philister, der nicht mehr mit Logarithmen zu berechnen
ist", lachte Nordeck und die Oberstin drohte ihm mit dem Finger; der gute Zäh¬
mann nickte wohlgefällig ihm zu, denn nach seiner Ansicht war der Witz ganz
gut, schon der Logarithmen wegen; daß er möglicherweise darunter verstan¬
den wäre, war ihm natürlich nicht im entferntesten in den Sinn gekommen
zu glauben. Er war überhaupt im Auffinden von Pointen bei einer Erzäh¬
lung merkwürdig auf seinen Gcistesfüßen struppirt; hier hatte ihm, wie gesagt,
nur im tiefsten Nebel das Bild des Witzes vorgeschwebt, hatte aber darum
doch Ansprüche auf sein gerechtes Gefallen sich erworben, weil es in sein Fach
schlug — und dergleichen Erzählungen und Geschichten hatten a priori das
Zutrittsrecht zu ihm." —
Es kommen nun in der Erzählung einzelne recht munter dargestellte Ge¬
schichten vor, die ihre Wirkung nicht verfehlen werden, aber fast überall wird
das Behagen durch irgendeinen geschmacklosen Ausdruck gestört. Sehr wunder¬
lich ist es, wie der Verfasser zuweilen über seine Figuren ein vollkommen
richtiges Urtheil hat und dann doch wieder durch irgendeine unklare Sympathie
sich verführen läßt, dies Urtheil halb wieder zurückzunehmen. — Man lese
folgende Charakteristik seines Helden, mit welcher dieser sogleich eingeführt wird.
„Der junge Mann repräsentirte in sich die geistige Halbbildung unsres
jetzigen Jahrhunderts, vertrat die weit und breit künstlich auf Stelzen herauf¬
geschraubte unwahre Intelligenz desselben, die in ihrem Grund und Boden
nur Oberflächlichkeit, mit einer qualisicirenden Unverschämtheit gepaart, aus¬
weisen kann....... Gründliche Studien hatte er nie gemacht, aber tausend
und tausend polypenartige Arme hatten sich aus seinem Geiste herabgesenkt
und hatten hier und hatten dort die blühende Blume der Wissenschaft, die der
Kunst schmarotzend umfangen und den lieblich schmeckenden und offen daliegen¬
den Thau der Allgemeinheit in sich aufgesogen und dem Geiste zugeführt. Bei
der Elasticität und überraschenden Schärfe seines Verstandes, die durch eine
seltene Dialektik unterstützt wurde, täuschte er oft Geweihte ihres Berufes.
Mit einigen Schlagwörtern zog er die Aufmerksamkeit auf sich, mit der ihm,
wenn er wollte, zu Gebote stehenden Bescheidenheit reizte er und führte seine
Gegner durch Hin- und Herzüge auf einem ihm nur oberflächlich bekannten
Terrain doch an die Stelle, wo er entweder mit widerrechtlichen Waffen siegte
oder doch einen ehrenvollen Frieden in der durch seine Kenntnisse gewonnenen
Achtung des Gegners abschloß. Wurde er wirklich zuweilen, was aber selten
geschah, in die Enge getrieben, so wußte er mit einer unglaublichen Schlauheit
das Terrain, auf dem gekämpft wurde, sichtlich unter seiner Rede wie weichen
Thon umzuarbeiten, und, ehe es sich jener versah, hatte er eine glänzende
Waffenthat im neuen Felde gethan, und des alten Kampfplatzes war bald ver¬
gessen. Er hatte manches und vieles in sich aufgenommen, aber in keiner
Wissenschaft, in keiner Kunst hatte er etwas Gründliches erlernt, hatte er
etwas zu Lobendes geleistet, dagegen war ihm ein Urtheil eigen, das einem
zweischneidigen Schwerte glich, wenn er es, wie er oft that, in Ironie und
Malice über dem Haupte mancher schwirren ließ u. f. w. —"
Für den Helden eines Romans ist das eine seltsame Beschreibung, und
man könnte sie eigentlich nur dann verstehen, wenn derselbe im Lauf der Ge¬
schichte ernsthaft durchgerüttelt und zu einer bessern Bildung geführt würde;
aber das geschieht gar nicht oder nur ganz oberflächlich, er bleibt im Grunde
wie er ist und trotzdem gilt er sämmtlichen Personen des Romans als ein vor-
trefflicher junger Mann, und man kann hier nicht einmal die gewöhnliche
Entschuldigung anführe», die sonst für die Schwäche der Nomanhelden eintritt,
daß sie nämlich nur den an sich gleichgiltigen Faden bilden, an welchen eine
Reihe anderweitiger bedeutender oder interessanter Charaktere sich knüpfen, wie
z. B. W, Scotts Waverley; er ist vielmehr wirklich die Hauptperson und alle
übrigen sind ihm untergeordnet. Es ist nicht zu leugnen, das -19. Jahrhundert
hat curiose Helden. —
Der vierte Band der Sammlung enthält eine dramatische Skizze: „Alfieri",
ferner eine Novelle: „die Fürstin Lapuchin und Diderot", und „die sieben
Nächte in der Haideschenke". Der talentvolle Verfasser scheint immer bequemer
und leichtsinniger zu arbeiten; in den vorliegenden Skizzen ist von Composition
kaum mehr die Rede, und doch müssen wir immer wiederholen, es ist schade
um dies ungewöhnliche Talent; es ist Herrn v. Sternberg grade so ergangen,
wie A. Dumas; der letztere hat wenigstens ursprünglich mehr Talent zur
Charakteristik, aber in der Leichtigkeit und Belebtheit der Erzählung stehen sie
sich gleich. Hätten sie ernsthafte Studien gemacht und ihre Improvisationen durch
künstlerischen Fleiß veredelt, so würden sie uns vielleicht Treffliches geleistet
haben; so aber sind ihre Geschichten wie Spreu, die vom Winde verweht
wird. —
Wir haben bei einer frühern Gelegenheit auf diese neue Ausgabe der
Romane von Henriette Paalzow aufmerksam gemacht; sie ist mittlerweile stark
fortgeschritten. Die sämmtliche Ausgabe soll 36 Lieferungen enthalten, die
Lieferung zu 3 Sgr.; davon sind bis jetzt erschienen: von Godwie-Castle
6 Lieferungen, von Se. Noch 7 Lieferungen, von Thomas Thyrnciu 4, von
Jacob van ver Nees i Lieferungen. Wodurch diese Romane auch noch in
unsrer Zeit das Interesse- des Lesepublicums fesseln können, haben wir bereits
angedeutet; es ist namentlich der ehrliche Glaube der Verfasserin an ihre
eignen Gestalten. Eine ausführlichere Charakteristik behalten wir uns nach der
Vollendung des Ganzen vor. —
Die Methode dieses Romans ist genau dieselbe, welche wir bereits bei
den frühern Ghetiogeschichten desselben Verfassers charakterisirt haben, nur daß
er sich hier in ein größeres Feld gewagt hat. Der Vorwurf seines Gemäldes
ist folgender. , Eine östreichische Judenfamilie benutzt das Edict des Kaisers
Franz Joseph, welches allen Unterthanen die Erwerbung von Grundstücken
freistellt, um sich auf dem Lande anzusiedeln. Sie hat zuerst theils mit den
Vorurtheilen der Landleute zu kämpfen, theils mit der eingebornen Abneigung
ihres eignen Standes, sich auf eine folgerichtige, zusammenhängende und an¬
strengende Thätigkeit einzulassen; allein es gelingt ihr zuletzt, diese Uebelstände
glücklich zu überwinden. Wir sind mit der Tendenz des Werks vollkommen
einverstanden. Der Romandichter wird nur dann uns wirkliches Leben dar¬
stellen können, wenn er von bestimmten Zuständen ausgeht, die er genau
kennt und für die er warme Theilnahme hegt. Durch seine Ghettogeschichten
hat uns Kompert ein neues Gebiet der Poesie aufgeschlossen, für welches wir
ihm auch dann dankbar sein wollen, wenn uns in diesem Gebiete nicht recht
wohl zu Muthe wird; allein seine künstlerische Methode ist dazu geeignet, diese
Befriedigung sehr stark zu verkümmern. Er geht, wie die meisten Dichter
unsrer Zeit, nicht darauf aus, normale, sondern excentrische Persönlichkeiten
darzustellen. Seit Tieck und Hoffmann sind wir freilich daran schon gewöhnt,
aber es ist doch immer ein Abweg der Poesie und das zeigt sich namentlich
in einem größern Kunstwerke. Die wahre Kunst des Dichters besteht darin,
den Leser mit dem lebendigen Gefühl der innern Nothwendigkeit zu durchdringen:
wo uns Räthsel aufgegeben werden, über die wir je nach Laune oder Stim¬
mung entscheiden mögen, hört die Gewalt der Dichtung über uns auf.
Wenigstens muß uns der Dichter längere Zeit vorbereiten; er muß uns zuerst
in bekannte Zustände einführen und das Jrrationelle und Wunderliche allmälig
daraus entwickeln. Kompert dagegen fällt mit der Thür ins Haus; er stellt
uns gleich zu Anfang soviel Wunderlichkeiten dar, daß wir uns in seiner Welt
nicht zu Hause fühlen und daß wir uns ihr gegenüber kritisch verhalten und
da werden wir denn freilich bald gewahr, daß so manches unhaltbar und un¬
berechtigt ist. Das Judenthum bildet eine Welt im Kleinen und da wir in
dem gewöhnlichen Handelsverkehr fast ausschließlich Gelegenheit haben, die
schlechten Seiten desselben wahrzunehmen, so verdient es allen Dank, wenn ein
. Mann mit Sachkenntniß und Interesse uns auch das Positive desselben eröffnet;
nur muß das in der ruhigen epischen Methode geschehen, nicht durch lyrische
Erclamationen, denn diesen schenken wir keinen Glauben. — Das Vorbild
des Dichters sind offenbar Auerbachs Dorfgeschichten gewesen, ein Werk, wel¬
ches trotz seines glänzenden Erfolgs wol am wenigsten zur Nachahmung zu
empfehlen sein würde, da die Art und Weise seiner Darstellung zu sehr mit
der bestimmten Individualität des Verfassers verwebt ist und sich zu direct auf
eine bestimmte Geschmacksrichtung, wenn auch oppositionell, bezieht, um mit
Glück auf ein andres Gebiet angewendet werden zu können. —
Wir begegnen hier dem talentvollen Dichter auf einem neuen Gebiet und
würden ihn gern mit einigen freundlichen Worten bewillkommnen, allein eS
scheint uns förderlicher für seine Entwicklung, grade herauszusagen, daß seine Ar¬
beit trotz vortrefflicher Einzelnheiten eine verfehlte ist. In seinen beiden Dramen
mußten wir zwar den Stoff tadeln, aber wir erkannten ein ganz ungewöhn¬
liches theatralisches Geschick heraus. Dieses Geschick vermissen wir leider bei
der vorliegenden Erzählung. Sie zerbröckelt sich in eine Reihe von Episoden,
die mehr äußerlich als innerlich zusammenhängen und selbst in der Tendenz
würden wir vergebens nach einem leitenden Faden suchen. Zuletzt freilich
drängt sich ein bestimmtes Problem in den Vordergrund, wie sich nämlich ein
wohlgesinnter, aber nicht starker Mann in den Conflict zwischen den Nei¬
gungen seines Herzens und den Ueberzeugungen seines Gewissens zu verhalten
habe. Aber grade, weil dieses Problem in der letzten Hälfte so scharf markirt
wird, fällt es uns auf, daß im Anfang gar nicht davon die Rede ist. Zudem
hat es der Dichter sehr unglücklich gelöst. Reinhold, der Held des Romans,
hat von einem kleinen deutschen Fürsten mehrmals Wohlthaten empfangen;
zuletzt stellt sich sogar heraus, daß er sein natürlicher Sohn ist. Nun wird
er durch die Bewegung von 1868 an die Spitze der liberalen Partei gestellt,
er wird constitutioneller Minister und erhält den Auftrag, einen Verfassungs¬
entwurf auszuarbeiten. Sein Gewissen gebietet ihm, die Rechte des Fürsten
darin so stark als möglich zu beschneiden, sein Herz verpflichtet ihn zur Scho¬
nung gegen seinen Vater. In diesem Conflict weiß er sich nicht zu helfen, in
der Aufregung rührt ihn der Schlag. — So wunderlich wie dieser ganz uner¬
wartete Ausgang sind auch die übrigen Verhältnisse zwischen den einzelnen
Personen; sie entsprechen weder dem wirklichen Leben, noch haben sie ein
ideales Interesse. Alfred Meißner hat es in diesem Roman unternommen, eine
Gesellschaft zu schildern, die er nicht kennt; und weil dies der Grundfehler ist,
auf den sich alle übrigen zurückführen lassen, halten wir es für unnöthig, auf
die Analyse des Einzelnen einzugehen, da die Schwächen ohnehin handgreiflich
genug hervortreten. Wir wollen statt dessen eine allgemeine Betrachtung, die sich
auf den Roman unsrer ganzen Zeit bezieht, speciell an diesen Dichter
richten, der Talent und Strebsamkeit besitzt und daher noch eine Zukunft
haben kann.
Die alte naive Erzählung der Italiener, die man sonst Roman oder
Novelle nannte, ist gegenwärtig aus dem Gebiet der Kunst verschwunden.
Man mag das billigen oder mißbilligen, genug, es ist eine vollendete That¬
sache. Der moderne Roman ist durchweg Sittenroman und zwar in Deutsch-
land noch ausschließlicher, als in den übrigen Ländern. Nun machen wir die
Erfahrung, daß mit sehr wenigen Ausnahmen alle deutsche Romane uns das
deutsche Leben als höchst jämmerlich und niederträchtig darstellen. Im wirk¬
lichen Leben begegnen wir doch fortwährend tüchtigen und kräftigen Persön¬
lichkeiten, die fest auf ihren Füßen, stehen, mit Behagen das Leben genießen
und selbst widerwärtige Schicksale mit Anstand zu tragen wissen. Im deutschen
Roman dagegen erscheinen uns nur Schwächlinge, Figuren ohne Zweck und
Inhalt, die von jedem Hauch der Zeit hin- und hergeworfen werden, dünkel¬
hafte, anmaßende Geschöpfe, die sich, wenn einmal die Noth über sie einbricht,
als hysterische Weiber geberden, kurz. Menschen, an denen kein gesundes Ge¬
fühl seine Freude haben kann. Worin der Grund dieses Unterschiedes liegt,
haben wir schon hundertmal gesagt, indessen ist es einer Classe gegenüber, die
in der sogenannten Literatur das große Wort führt, nothwendig, immer von
neuem wieder darauf zurückzukommen.
Der Deutsche ist sehr tüchtig, respectabel, behaglich und lebensfroh da,
wo er sich zu Hause sühlt, bei seiner Arbeit, die er ganz versteht, die er be¬
herrscht, in der er einen gesegneten, ununterbrochenen Fortschritt erlebt.
Der Deutsche ist dagegen sehr unausstehlich, sentimental, hypochondrisch
u. s. w. da, wo er versucht den Dilettanten zu spielen. Eine Gesellschaft
von Dilettanten ist in Deutschland das abschreckendste Bild, das man sich
vorstellen kann. In Frankreich ist es anders, weil dort der Dilettantis¬
mus in allen seinen Nüancen als Arbeit betrieben wird, wie in England
der Sport.
Gewisse Zeiten im Leben muß jeder haben, wo er Dilettant ist; der
wackerste Geschäftsmann muß einmal kannegießern, über Concert und Theater
sprechen u. s. w., das gehört nothwendig zum Leben und dient dazu, die Ein¬
seitigkeit des Geschäfts aufzuheben. Aber unsre Belletristen verfallen dem un¬
begreiflichen Irrthum, diesen Dilettantismus in ihren Schilderungen zum
Mittelpunkt des Lebens zu machen; sie bewegen sich fast ausschließlich aus
dem Gebiet der Conversation und lassen ihre Herren und Damen mit einer
Ausdauer, die einer bessern Sache werth wäre, ihre unmaßgeblichen Ansichten
und Meinungen über Völkerglück und Familienwohl, über Schiller und Goethe,
über Sinnenglück und Seelenfriede, über Homöopathie und Allopathie :c. her¬
leiern, mit etwas Politik und Liebelei zersetzt; und wenn man blos aus diesen
Schilderungen das deutsche Leben kennen lernen wollte, so sollte man anneh¬
men, daß in Deutschland die Männer und Frauen nichts Anderes zu thun
hätten, als sich über diese interessanten Gegenstände zu unterhalten. Nun
sind nur aber in der Unterhaltung sehr schwerfällig und ungeschickt, wo wir
nicht einen bestimmten Gegenstand der Unterhaltung haben, einen Gegenstand,
den wir vollkommen durchschauen. Daß die Mehrzahl unsrer Belletristen trotz-
dem nichts Anderes zu erzählen weiß, kommt davon her, daß sie selbst nichts
weiter sind als Dilettanten. Allen Respect vor der geistigen Arbeit des Ge¬
lehrten und des Künstlers, des Staatsmannes und des Philosophen, aber von
dieser geistigen Arbeit hat der literarische Handlanger keinen Begriff. Der Ge¬
schäftsbetrieb des Markthelfers, des Aufläders bis in seine tiefsten Schichten
herunter hat immer noch wenigstens einen gewissen realen Inhalt, der Geschäfts¬
betrieb des sogenannten Literaten dagegen ist darum so unerquicklich, weil er
angeblich mit idealen Gegenständen zu thun hat, während er doch in der That
an die gemeinsten Interessen verkauft ist. So hat z. B. ein großer Buch¬
händler einen ausgebreiteten Verlag, er disponirt über eine Masse von Zeit¬
schriften. Um diese zu versorgen, hat er eine Masse Literaten in seinem Dienst,
die er je nach ihren Fähigkeiten benutzt; der eine muß eine kleine Novelle
schreiben, um diese oder jene Illustration zu erklären und bei dieser Gelegen¬
heit das eine oder das andere Verlagswerk des Brodherrn dem Publicum zu
empfehlen, der andere thut dasselbe bei Gelegenheit eines politischen Artikels,
der dritte zieht das Nämliche in einem Sammelwerk zusammen u. s. w. Auch
das ist ja an sich ein ganz currenter Geschäftsverkehr, und wenn man die
Arbeit der Hand, welche die Feder führt, in Rechnung bringen will, so kann
man auch dergleichen wol Arbeit nennen; allein es ist eine Arbeit, die durch
einen falschen Idealismus täuscht, und die daher nothwendig zur Unwahr¬
heit führt.
Daß man im Volk allmälig dahinterkommt, wie schal und hohl einHolches
Treiben ist, zeigt unter andern der große Erfolg der Dorfgeschichten. Man
dankte Gott, daß es in Deutschland noch Leute gab, die nicht blos über
Schiller und Goethe, über Völkerglück und Seelenfrieden debattirten, sondern
die eine bestimmte, faßbare Beschäftigung trieben. Wenn man sich die Mühe
geben wollte, sich genauer umzusehen, so würde man finden, daß es gar
nicht nöthig ist, in den Schwarzwald zu pilgern, um Menschen anzutreffen,
die noch eine andere concrete Beschäftigung haben, als das Ausgeben von
Ansichten und Meinungen. Freilich erfordert es Mühe, diese kennen zu lernen,
so kennen zu lernen, daß man sie schildern kann, und man muß einen Augenblick
aus der bequemen Gewohnheit der Conversation heraustreten.
In vielen Fällen darf man mit den einzelnen dieser kleinen Schriftsteller
nicht so genau rechten, denn sie haben Weib und Kind, sie wollen leben, und
jeder treibt das Handwerk, das er versteht. Alfred Meißner ist nun in der
günstigen Lage, ganz unabhängig dazustehen. Er hat ein schönes Talent,
die Dinge zu sehen und darzustellen. Wenn er sich also die Mühe geben
wollte, das Leben wirklich, nicht blos aus Zeitungen und Journalen, nicht
blos aus dem Geschwätz der Salons und den Unterhaltungen der Camaraderie
zu studiren, so würde er gewiß im Stande sein, werthvolle und bleibende
Werke zu schreiben. Aber seine Reminiscenzen aus -1848 werden ihm nicht
viel helfen. Er hat als Dilettant einer dilettantischen Beschäftigung zugesehen,
er hat sich dilettantisch darüber moquirt, und seine politische Einsicht ist nicht
um einen Gran vermehrt worden. Der Dilettantismus verstimmt und ver¬
bittert; die Freude am Leben wird nicht ausbleiben, wenn er das wirkliche
Leben zu erkennen sucht.—
. Der Verfasser dieser beiden Romane, Adolph Bäuerle, hat seine Erinne¬
rungen aus dem wiener Theaterklatsch der letzten dreißig Jahre novellistisch
verarbeitet. Die Helden und Heldinnen dieser skandalösen Geschichten treten
regelmäßig unter ihrem wirklichen Namen auf, und da das Ganze lebhaft und
munter genug erzählt ist, so wird es auf das wiener Publicum seine Wirkung
nicht verfehlen. Für das übrige Deutschland, das mit den Verhältnissen weni¬
ger bekannt ist, kann dies Zigeunerleben der wiener Komödianten nicht sehr
anziehend sein. Die Pariser haben uns mit dieser Waare schon reichlich ge¬
nug versorgt, und eine durch sechs Bände fortgesetzte Liederlichkeit, so pikant
sie auch zuerst erscheinen mag, wird doch zuletzt langweilig. —
Warum der Verfasser auf dem Titel eigentlich an den Arete Tom erinnert,
ist uns nicht deutlich. Daß eine Negerin die zweite Rolle darin spielt ist doch
wol noch kein hinreichender Grund. Die Novelle behandelt die Abenteuer auf
einer Reise durch die Wüste Sahara, sehr lebhaft und amüsant erzählt, wenn
auch etwas stark in der Weise Münchhausens. —
Eins der ledernsten Bücher, die uns vorgekommen sind. Noch niemals
ist uns die Hohlheit und Nichtigkeit eines vollkommen leeren Menschen in
einer so gespreizten Form vorgekommen. Der berühmte und glänzende Vater
aller Feuilletonisten, oder wenn wir an eine bekannte Theaterfigur erinnern
wollen, aller Schmocks, ist zu seinem Anfang zurückgekehrt; aber der todte
Esel und die guillotinirre Frau hatte doch wenigstens noch den Hautgout
des scheußlichen, das jetzige Machwerk ist die reine Betise. Wir empfehlen
den Roman auf das lebhafteste allen denjenigen, die sich überzeugen wollen,
wieviel ein sogenanntes gebildetes Publicum unsrer Tage erträgt.—
Eine amerikanische Criminalgeschichte, in der gründlichen und breiten
Weise erzählt, die bei den amerikanischen Schriftstellern jetzt beliebt ist und
mit starkem melodramatischen Gewürz, aber nicht ohne plastisches Talent und
mit lebhaftem Sinn für die Wirklichkeit. —
Die Erzählung ist einfacher angelegt, als die vorhergehende. Sie erinnert
in mancher Beziehung an die Romane der Mrs. Wetherell. Auch hier ist
ein junges Mädchen, das von einer bösen Stiefmutter gequält wird, die Heldin.
Einzelne Stücke sind gut ausgeführt, das Ganze ist nicht bedeutend. —
Es tritt uns in diesem Jahrgang zunächst ein Roman von Karl v. Holtet
entgegen: „Ein vornehmer Herr, oder zwei Freunde." Die beiden Freunde
sind zwei Gegensätze, der eine ein kalter, glänzender, gewissenloser Weltmann,
der andere ein gutmüthiger, ehrlicher Tölpel, der von aller Welt betrogen
wird. Nach der Meinung des Dichters soll auf den ersten aller Schatten, auf
den zweiten alles Licht fallen; wir müssen aber gestehen, daß uns der zweite
noch viel widerlicher vorkommt, denn er ist eine echte Bedientenseele, und mit
einem Menschen, bei dem niemals auch nur der Jnstinct für das Schlechte
hervortritt, können wir kein Mitleid haben. Uebrigens ist der Stil des Dich¬
ters dies Mal noch nachlässiger, als gewöhnlich.—Die Novelle „Kaltenborn"
von Bernb von Guseck enthält eine Mysteriengeschichte aus dem vorigen Jahr¬
hundert mit soviel Beimischung von Mord, Verrath und Schurkerei, wie
man es nur bei Eugen Sue erwarten kann. — Ueber den dreibändigen
Roman von Julie Burow: „Ein Lebenstraum", finden wir vom Standpunkt
der Kritik nichts zu bemerken. Die Dichterin hat ihr dankbares Publicum und
dies wird sie auch in dem neuen Werk wiedererkennen. —
Karr ist ein feiner und gewandter Schriftsteller, der in seinen Reflexionen
einen nicht gemeinen Scharfsinn entwickelt und uns zuweilen durch seine Ein-
fälle zu blenden versteht. Außerdem erzählt er sehr lebhaft und sein Dialog
ist geweckt und munter, aber seine Erfindung ist nicht bedeutend, man merkt
überall die Mosaikarbeit aus einzelnen Einfällen. Wenn er daher ins Ernst¬
hafte und Tragische übergehen will, so greift er doch wieder zu Combinationen,
die der celtischen Einbildungskraft eines Eugen Sue Ehre machen würden.
Die Geschichte von dem Flintenduell, von der Verstümmelung eines Gesichts
durch Scheidewasser und von der Bemühung der entstellten Schönen, ihrem
Liebhaber noch immer reizend zu erscheinen, gehören in jenes unheimliche, hä߬
liche Gebiet, das wir aus der Poesie gern entfernen möchten. —
Das Reisejournal, von dem wir freilich nicht wissen, wieviel Wahrheit
ist und wieviel Dichtung, gehört auf alle Fälle zu den unterhaltendsten
Büchern, die Dumas in der neusten Zeit geschrieben hat. Die Erzählung ist
äußerst lebhaft und spannend und die Gegenstände so bunt und mannigfaltig,
daß man gar nicht daran denkt, zu fragen, ob der Verfasser oder die Verfasserin
erzählt, was er gesehen oder was er sich eingebildet hat. —
Ein zartes, liebenswürdiges Talent und eine sehr feine, saubere, geschmack¬
volle Arbeit. Das Büchlein gehört zu den zierlichsten Erzeugnissen der
neuern französischen Poesie und hat bei der französischen Kritik gerechte Aner¬
kennung gefunden. —
novellistisches Geplauder aus dem schon so häufig behandelten Zeitalter
des großen Cardinals, das übrigens einige weniger bekannte, geschickt verarbeitete
Züge enthält. —
Erlebnisse aus den Kriegsjahren 1806 u. 1807. Aus den hinterlassenen Papiere»
des Generals der Ccivalerie, Freiherrn von Ledebur.
Denkwürdigkeiten aus den Zeiten des Aufschwungs unsrer Nation, aus
den Kriegen von 1813—1813 haben sich seit langer Zeit in unsrer Literatur
auf sehr schätzenswerthe Weise vervielfältigt; dagegen sind Berichte von Augen¬
zeugen der militärischen Begebenheiten in der Unglückszeit von 1806 bei weitem
seltener: Rüste von Lilienstern, Henkel von Donnersmark, Nostiz, Müffling
sind unsers Wissens die einzigen, welche mit einiger Ausführlichkeit Selbst¬
erlebtes aus jener Zeit mittheilen und diese, die im Stäbe beschäftigt waren,
verweilen vorzugsweise bei dem trostlosen Bilde der Ratlosigkeit der Führung,
der geistigen oder physischen Unfähigkeit der höhern Befehlshaber und man
wird geneigt, dieselben moralischen Eigenschaften auch bei den Truppen zu
suchend Und doch befinden wir uns dabei auf falschem Wege. Sie waren
schwach durch mangelhafte Ausrüstung und zum Theil durch taktische Unbe-
hilflichkeit, Offiziere und Mannschaften aber besaßen sonst tüchtige militärische
Eigenschaften, wie sie dies ja auch früher in den Feldzügen von 179F u. 9L
gezeigt haben und wie dies nicht anders sein konnte, denn aus demselben
Offiziercorps gingen die Blücher, Scharnhorst, Gneisenau, York, Kleist, Schill
und alle jene Helden vom höchsten bis zum niedrigsten hervor, welche die preußi¬
sche Armee später zur thätigsten und gefährlichsten Gegnerin des Weltbesiegers
machten. Die Elemente eines tüchtigen Heeres waren schon damals vorhanden,
sie waren' aber niedergehalten und außer Thätigkeit gesetzt durch den Wust
pedantischer Formen und durch die moralische und physische Kraftlosigkeit der
obern Stellen. Einen aus diesen bessern Bestandtheilen des Heeres lernen wir
in Ledebur aus seinen hinterlassenen Briefen kennen. Obgleich stark erschüttert
von dem schrecklichen Falle seines Vaterlandes war doch sein Charakter viel zu
kräftig, als daß er sich dumpfer Verzweiflung hätte hingeben sollen. Im
Gegentheil vergißt er in der unglücklichsten Lage, in der Gefangenschaft, keinen
Augenblick, daß der Platz des Soldaten bei seiner Fahne ist und daher sinnt
er unablässig auf Mittel, wie er wieder zu dem Heere des Königs gelangen
kann und führt seinen Entschluß auch mit Kühnheit und Geschick, allen Fähr-
lichkeiten und Beschwerden mit ungebeugtem Muth und wahrhaft spartani¬
scher Genügsamkeit trotzend, glücklich aus. Diese Geschichte seiner Selbstranzioni-
rung' bildet den Haupttheil und auch den interessantesten des vorliegenden
Buches. Freiherr von Ledebur, einem westphälischen Geschlecht entsprossen,
machte 1793 seinen ersten Feldzug und zeichnete sich als Cornet bereits im
Treffen bei Pirmasens, wo sein Regiment (Borstell) -13 Geschütze nahm, von
denen Ledebur selbst 2 eroberte, rühmlichst aus. Den Feind zu kühn ver¬
folgend, wurde er lebensgefährlich verwundet und es entging ihm dadurch der
Orden pour Is merite, da man ihn schon zu den Todten zählte. Dennoch
genaß er wieder vollkommen und eilte beim Beginn des folgenden Feldzugs
wieder zu seinem Regimente. Aller obgleich ein begeisterter Cavalerist, war
er doch nicht bloßer Haudegen, wie er denn nach dem Frieden um Urlaub
bat, um ein Jahr in Göttingen zu studiren, ein Vorhaben, das sein Chef, charak-
teristisch für den damaligen Geist der höhern Befehlshaber des preußischen
Heeres, für baaren Unsinn erklärte und das er nicht ohne Mühe ausführen
konnte. In Göttingen, wo Professoren und Studenten in dem jungen Offi¬
zier blos einen Raufbold zu finden erwarteten, widmete er sich mit Eifer dem
Studium und hatte während seines ganzen Aufenthaltes kein einziges Duell.
Die Briefe, in denen Ledebur seine Erlebnisse einem Freunde, dem Grafen
zur Lippe auf Baruth mittheilt, versetzen uns gleich auf daS Schlachtfeld
von Auerjrädt, wo der junge Offizier einen Zug des Regiments Borstell, als
Flankeurs vorgeschickt, befehligt. In dieser Stellung war er ziemlich selbstständig,
denn die alten Herren hatten zu viel mit sich selbst zu thun", um sich um ihn zu
bekümmern und er hieb sich auf eigne Faust wacker mit der französischen Ca-
valerie herum. Als er sich später dem Regimente wieder anschloß, war dieses
durch einen mißlungenen Angriff etwas in Unordnung gerathen, doch keineswegs
entmuthigt. Aber es fehlte an einem Offizier, der es gegen den Feind, welcher
sichtlich vor der preußischen Cavalerie Respect hatte, führen konnte. Der Ge¬
neral war bei jenem mißlungenen Angriff an der Spitze des Regiments verwun¬
det worden, „der Commandeur Oberst Ki., aber nicht zu finden. Oberst K.......,
in der peinlichsten Verlegenheit über das, was zu thun sei, ritt hin und her,
fragte diesen und jenen und saßte auf Zureden wol einmal ein Herz, um
Marsch! Vorwärts! zu commandiren, aber mit einer solchen Unsicherheit, daß
man gleich merkte, wie es ihm kein rechter Ernst war und niemand sich des¬
halb berufen fühlte, Folge zu leisten, während Major M .... seine Unfähig¬
keit unter erkünstelten ironischen Lächeln zu verbergen suchte und that, als wisse er
wohl, was geschehen müsse, wenn er nur dürfe! Major sah... hatte den besten
redlichsten Willen und empfand den tiefsten Schmerz über diese Zustände, wagte es
»der nicht, seine untergeordnete Autorität hier geltend zu machen. Daß die
Befehle zu dem, was geschehen sollte, von oben kommen müßten, diente allen
zum Vorwande, bis dahin sich ruhig zu verhalten — von oben aber erfolgten
keine Befehle." Das unthätige Stillstehen im Kanonenseuer und die sicht¬
liche Unfähigkeit und Unentschlossenheit der Obern konnten das Regiment nur
entmuthigen, zumal da es, schon von Haus aus schlecht beritten, die Pferde kaum
von der Stelle bringen konnte. Ihm gegenüber hielt ein französisches Reiter¬
regiment, das einen Angriff der Preußen zu fürchten schien, als diese aber keine
Anstalt machten, endlich selbst antrabte, woraus die Angegriffenen Kehrt machten
und vom Schlachtfeld verschwanden! Nur einzelne blieben zurück, die nun Ledebur
Zu sammeln suchte, um sich der noch im Gefecht befindlichen Reiterei irgendwo
anzuschließen. Damit noch beschäftigt, fand er einen Schwerverwundeten Kameraden
und Freund auf dem Schlachtfelde liegen, den er zu retten versuchte. Erstieg
vom Pferde, um ihn mit Hilfe zweier anderer unberittenen Cavaleristen fortzu¬
tragen, mußte aber davon ablassen, da der Schwerverwundete zu schwach war.
Gleichzeitig näherten sich nun auch feindliche Flankeurs, und als Ledebur sein
Pferd wieder besteigen wollte, um zu den Seinen zu eilen, entdeckte er zu
seinem Schrecken, daß einer der unberittenen Cavaleristen mit seinem Pferde
bereits das Weite gesucht hatte. Er konnte nur noch nach einer nahen Weide
springen, um sich den Rücken zu decken, und den Säbel ziehen, dessen Klinge
ihm aber nach wenig Hieben sprang, so daß er sich alsbald wehrlos als Ge¬
fangener in der Gewalt eines französischen Chasseurs befand, der ihn in der
Richtung nach Naumburg hinter die Front brachte. Noch war die Schlacht
nicht entschieden und als Ledebur hinter der Front anlangte und die ganzen
Scharen Verwundeter, die zurückgingen oder gefahren wurden, die große An¬
zahl der demontirten Geschütze, die immer noch zunahm, und die sehr geringe
Anzahl preußischer Gefangener sah, die sich bis jetzt in den Händen des Fein¬
des befand, konnte er sich noch eine Zeitlang schmeicheln, daß die Entschei¬
dung günstig für Preußen ausfallen werde. Aber der Schlachtendonner wurde
zwar immer lauter und heftiger, doch kam er nicht näher, und das Saalthal
herauf strömten immer neue Regimenter Franzosen, namentlich viel Artillerie
und Reiterei. Die letzte Illusion verschwand, als Ledebur, vor dem Thore von
Naumburg wartend, eine unabsehbare Colonne preußischer Gefangener Heran¬
marschiren sah, welchen er sich anschließen mußte. Soviel deutschen Patriotis¬
mus besaß damals noch die sächsische Stadt, daß sie über das Unglück der
Preußen nicht jubelte! Die Straßen waren öde und leer, Läden und Haus¬
thüren blieben verschlossen, kein Neugieriger ließ sich sehen. Die Offiziere
wurden im Rathskeller untergebracht, wo es ziemlich eng herging, und wo
Ledebur trotz des wüsten Treibens, das um ihn herrschte, Muse fand, über sein
Schicksal und seine Zukunft nachzudenken. Keine seiner geringsten Sorgen war,
sich eine gegen die kalte Herbstluft schützende Kleidung zu verschaffen, denn
sein knappes Cvlletchen gewährte nur eine ungenügende Bedeckung. Dies
war aber nicht so leicht, denn er war ganz ohne Geld und er mußte froh
sein, von einem Kameraden, der sich einen Mantel erschwungen hatte, einen
überflüssig gewordenen alten Ueberrock geschenkt zu bekommen. Später war er
so glücklich, sich durch Hilfe eines Freundes und die den gefangenen Offizieren
von dem französischen Commandanten gewährte Geldunterstützung einen Man¬
tel, Wäsche und Schuhe anzuschaffen. Andere freilich vertrauten und ver¬
jubelten lieber das Geld. Vor allem aber beschäftigte Ledebur ein Gedanke,
wie er sich aus der Gefangenschaft befreien und wieder zu seiner Fahne ge¬
langen könne. Er hatte anfangs Gewissensscrupel, ob es ehrenhaft sei, sich
selbst zu ranzioniren und Kameraden, die er um Rath frug, dachten noch mehr
als an die Ehre an den Nachtheil und die Unannehmlichkeiten, welche die
Flucht eines Mitgefangenen ihnen zuziehen würde! Nur einer, Lieutenant
Bornstedt, schloß sich ganz Ledeburs Ansicht an, daß es Pflicht und verdienst-
lieb sei, fortzugehen, sobald man sich nicht verbindlich gemacht zu bleiben. Vor¬
läufig konnte jedoch von einer Flucht noch nicht die Rede sein, denn bei dem
Ausmarsch nach Weimar, wo keine Escorte mitgegeben werden konnte, mußte
der alte General Treskow im Namen der übrigen sein Ehrenwort geben, daß
niemand entfliehen würde, und so blieb es, bis der Transport in Erfurt an¬
kam. Hier aber bekamen die Gefangenen wieder Escorte, und nun fing Lede¬
bur ernstlich an an seine Flucht zu denken; um ja keine günstige Gelegenheit
.M versäumen, schlug er trotz großer Ermüdung sogar das Anerbieten aus, auf
dem mitgenommenen Wagen zu fahren, als die Reihe dazu an ihn kam. Ein
Kamerad, H. von Puttkammer, dem er sich anvertraute, wollte mit ihm fliehen.
In dem Gasthaus in Gotha, wo sämmtliche Offiziere einquartirt wurden,
schien sich eine günstige Gelegenheit darzubieten. Ledebur spürte im Hause
herum um die Localität kennen zu lernen, und fragte ein Hausmädchen nach
einem unbewachten Ausgang. Er erhielt hier aber keine befriedigende Aus¬
kunft ; dafür trat eine Dame — wie er später erfuhr eine Schauspielerinn —
aus einem benachbarten Zimmer. Sie hatte das Gespräch mit angehört, und
erbot sich, ihm behilflich zu sein, wenn er nur nach Dunkelwerden auf ihr
Zimmer kommen wollte. Ledebur.eilte nun zuerst auf den Boden, zog, um weder
von einem Pack beschwert zu sein noch Nothwendiges zurückzulassen, alle seine
Hemden übereinander an, legte die Schnupftücher unter dem sollet auf die Brust,
die Schuhe hinten auf die Schultern und nahm darüber den weiten Mantel.
Dann besprach er sich mit Puttkammer, der die Anfertigung von französischen
Pässen, deren Form ihm genau bekannt war, auf sich nahm, und vorschlug,
die Flucht zunächst nach dem nahen Mechterstedt zu richten, wo er in dem
Prediger einen trefflichen Mann 'kennen gelernt hatte. Unterdessen aber hatten
sich die Kameraden wegen des viel zu beschränkten Raumes des Quartiers
beschwerend an den Commandanten gewandt, und dieser hatte entschieden, daß
die gefangenen Offiziere in mehre Gasthäuser kommen sollten, wenn sie ihr
Ehrenwort geben würden, da die Wachen sonst nicht zulangten. Die Depu¬
tation war gern darauf eingegangen, und nun begann ein fast allgemeines
Ausziehen. Puttkammer und Ledebur blieben jedoch unter dem Vorwande
der Müdigkeit zurück, obgleich alle ihre nähern Bekannten, mit denen sie auf
der Reise gemeinschaftlich^wirthschafteten, das Haus verließen. Bald kehrte aber
einer zurück mit der Meldung, daß auch Ledebur bereits auswärts untergebracht
sei. Einmal ließ er sich abweisen, aber er kam noch einmal, und erklärte, die
Kameraden würden Ledebur mit Gewalt holen, wenn er nicht anginge. So
mußte er sich denn fügen, und sich auch noch das Auslachen der übrigen
gefallen lassen, als er in dem neuen Quartier beim Zubettgehen seinen Hemden¬
panzer abschnallte. Es stellte sich bei dieser Gelegenheit heraus, daß unter
den Kameraden eine förmliche Verschwörung gegen die Fluchtpläne Ledeburs
organisirt war, nicht aus selbstsüchtigen Gründen, sondern weil alle überzeugt
waren, daß ein Entweichungsversuch Ledeburs nur zu seinem Verderben aus-
schlagen könnte. Dies erklärte ihm Lieutenant Malchitzki, der als Wirth-
schaftschcf für die kleine Genossenschaft agirte, welcher sich Ledebur angeschlossen,
ganz offen. Auch auf dem Weitermarsch trat dies Bestreben mehrfach an den
Tag. Beim ersten Halt brachte Malchitzki ihm eine Gesundheit auf unzer¬
trennliches Zusammenbleiben zu, und Lieutenant Lettow trat auf ihn zu und
forderte ihn mit großer Herzlichkeit im Namen der übrigen aus, zu bleiben.
Er stellte ihm vor, wie unmöglich es sei durchzukommen, wie die Armee viel¬
leicht schon 30—60 Meilen entfernt, das Land von Feinden überschwemmt
und mit Spionen angefüllt, er selbst ohne Kleidung, ohne Paß, ohne Geld
oder Nahrung und bereits erschöpft durch die ausgestandenen Strapazen sei.
Da kein Wohlgesinnter ohne Gefahr des eignen Lebens ihm helfen könne,
sei Entdeckung auf der Flucht und schmählicher Tod sein sicheres Loos. Aber
selbst diese mit Thränen vorgebrachten Vorstellungen konnte Ledebur nicht in
seinem .Entschlüsse wankend machen. In dieser Stimmung war er, als der
Zug in die Nähe eines von der Chaussee etwas abseits gelegenen Dorfes kam,
dessen mit Hecken umzäunte Obstgärten bis unmittelbar an die Straße reich¬
ten. Diese war wegen des in der Nacht gefallenen Regens so kothig, daß
nur an den beiden Rändern ein schmaler Streif gangbar war, auf dem sich
nun der Zug, Gefangene und Escorte bunt durcheinander, dicht aufeinander¬
gedrängt im Gänsemarsch weiter bewegte. So schlüpfrig war der Weg, daß
jeder mit sich selbst vollauf zu thun hatte, um nicht zu fallen, und auf die andern
nicht achten konnte. So kamen sie auf eine Trift, die zwischen zwei Zäunen
von dem Dorfe aus grade auf die Chaussee zuführte und zwar so, daß die
rechte Zaunseite mit dieser einen spitzen Winkel bildete, gegen den das Dorf
rückwärts lag' man mußte bei der Trift fast erst vorübergehen, ehe man die¬
selbe entlang sehen konnte. Rasch entschlossen, durch einen kurzen Späheblick
sicher, daß ein Kamerad sein unmittelbarer Nachfolger war, sprang Ledebur
um die Ecke, kroch schnell auf Händen und Füßen dicht an den Zaun gedrückt
weiter, bis er an eine lockere Stelle kam, durch die er sich durcharbeitend in einen
Obstgarten gelangte, der, nach der Chaussee zu mit einer Hecke geschlossen, ihm
verhältnißmäßige Sicherheit gewährte. Auf der andern Seite des Zaunes weiter
kriechend', gelangte er an den ersten Hof des Dorfes, wo er in einem noch
unbenützten Schweinestall vorläufig Schutz suchte. Er hatte hier Zeit, seine
Lage zu überdenken. Sie war nichts weniger als glänzend. An Geld hatte
er noch keinen vollen Thaler, Lebensmittel und Papiere besaß er gar nicht
und an Kleidung nur das wenige, was er auf dem Leibe trug. Freunde
hatte er nicht in der Nähe und er mußte sich ganz aus die ungewisse Gut¬
müthigkeit fremder Menschen verlassen. Nachdem er wol eine Stunde ge-
wartet und alles längst still geworden war, wagte er sich aus seinem Versteck
heraus, um sich nach dem Weg nach dem Hessischen zu erkundigen, wohin
er sich zuerst zu wenden gedachte. Aber auch das Dorf war wie ausgestorben,
und erst an der Thür eines besser aussehenden Hauses stand eine ältliche Frau.
Von dem Fremden angeredet, holte diese ihren Mann, den Prediger des Orts,
und dieser Ort war Mechterstedt, dasselbe Dorf, welches Puttkammer als das
erste Ziel ihrer beabsichtigten Flucht empfohlen. Dem würdigen Mann gegen¬
über konnte er sich ohne allen Rückhalt aussprechen, und er fand bei ihm die
freundlichste Aufnahme und bereitwilligste Auskunft. Lebensmittel konnte er
außer einigen Schnitten Brot leider nicht geben, denn Küche und Keller waren
vollständig ausgeräumt, er brachte ihn aber richtig auf den Weg, auf dem er
noch vor Abend das Hessische erreichen konnte, und drängte, als er erfuhr,
wie traurig es mit der Kasse des Flüchtlings aussah, ihm treuherzig das ein¬
zige Geld, was er bei sich hatte, ein Viergroschenstück, wenigstens als Anden¬
ken auf. Dann übernahm eine Bauerfrau die Führung bis an eine Weg¬
scheide, von wo aus Brotterode, der Nächstliegende hessische Ort, nicht mehr
zu verfehlen sein sollte. Aber trotzdem verirrte sich der Flüchtling in Gebirg
und Wald, und mußte den ganzen Abend, eine abgehauene junge Birke als
Stütze gebrauchend, den schon früher von Flintenkugeln durchlöcherten Mantel
von Strauch und Dornen zerrissen in Fetzen um sich herumhängend, eine echte
Scherasmingestalt, wegesuchend herumlaufen, um zuletzt doch im Walde zu schla¬
fen. Am andern Morgen erfuhr er von einem Holzknecht, daß er weit vom Wege
ab sogar noch über Eisenach, wo in dieser Nacht der Gefangenentransport
gerastet hatte, hinausgekommen sei, und daß er, um Brotterode zu erreichen,
die Straße nach Fulda überschreiten müsse, wo er Gefahr lief dem Transport
zu begegnen. Wirklich sah er ihn von weitem auf der Straße kommen, als er
sich dieser näherte, und mußte in sicherer Entfernung warten bis er vorüber
war; dann aber gelangte er ohne weitere Fährlichkeit nach Brotterode, wo er
bei dem Amtmann gastfreundliche Aufnahme sand. Gern hätte ihn dieser bei
steh behalten, wenn es wegen der Nähe der Grenze, und der Ungewißheit,
ob die Franzosen die hessische Neutralität lange respectiren würden, für den
Flüchtling nicht zu unsicher gewesen wäre. Deshalb rieth er ihm, sobald als
möglich den schmakaldischen Theil von Hessen zu verlassen, und sich in das
eigentliche Kurfürstenthum zu begeben. Dies mußte jedoch, da es noch ein¬
mal durch das Eisenachsche ging, auf Nebenwegen durch das Gebirg geschehen,
weshalb der Amtmann Ledebur einen Führer mitgab. Dieser brachte ihn glück¬
lich an den Bestimmungsort, das erste hessische Dorf jenseits der eisenacbschen
Grenze, aber hier fand es sich, daß der brotteroder Amtmann, der den Flücht¬
ling sonst mit allem was ihm fehlte großmüthig ausgestattet, übersehen hatte,
dem Führer den Botenlohn vorauszuzahlen. Das kostete Ledebur mehr als
die Hälfte seiner geringen Baarschaft, so daß ihm nur noch einige Groschen
übrig blieben. Außerdem wurde er auch in der Schenke des Dorfes ziemlich
unfreundlich empfangen, weshalb er alsbald seinen Stab weiter setzte und so
glücklich war, in dem nächsten Dorfe bei dem Oberförster die freundlichste Auf¬
nahme zu finden. Von hier gelangte er nach Göttingen, unterwegs mehrmals
mit andern Selbstranzionirten zusammentreffend, und suchte Quartier in der
ihm von früher her bekannten londoner Schenke, wo er wegen seines aben¬
teuerlichen Auszugs anfangs zurückgewiesen wurde, jedoch sofort ein Zimmer
und alle mögliche Bequemlichkeit erhielt, als er seinen Namen nannte. Sein
alter französischer Sprachlehrer, Herr von Chateaubvurg, den er sogleich auf¬
suchte, machte ihn mit einem jüdischen Geschäftsmann Meyer bekannt, welcher
ihm 23 Friedrichsbor vorschoß, was ihn in Stand setzte, zunächst mit der Post
nach Braunschweig zu reisen, wo er sich auf seine alte göttinger Immatriculation
als Gutsbesitzer von Ledebur aus der Nähe von Küstrin einen Paß ausstellen
ließ, um nach Berlin zu reisen. Jedoch bereits in Halberstadt zeigte sich dies
als unausführbar, oder wenigstens als gefährlich. Der Postmeister, der ihm
diese Auskunft gab, rieth ihm nach Braunschweig zurückzukehren, und über
die Altmark und Meklenburg zu reisen. Er vertraute ihm zugleich wichtige
Briefe an den König von Pveußen an, die er nicht gewagt hatte auf dem ge¬
wöhnlichen Wege weiter zu senden. Hier erfuhr Ledebur auch zu seinem
Schmerz die Kapitulation von Prenzlau, sowie daß Blücher gegen Lübeck ge¬
zogen sei, und entschloß sich nun umsoeher, seinen Weg über Hamburg zu
nehmen. Lüneburg fand er von Preußen besetzt: General P . . (Pelee'c)
war vom Blücherschen Corps abgeschnitten worden, hatte noch vier Escadrons
seines eignen Regiments und viele Versprengte von andern Regimentern,
im Ganzen -1000--1200 Mann bei sich, und vor sich das mit nur 200 Mann
besetzte Braunschweig. Der Weg nach dem Harz stand ihm offen, und er hätte
hier im Rücken der französischen Armee leicht eine sehr unbequeme Diversion
machen können. Ledebur suchte ihn auch zu einem solchen Unternehmen zu veran¬
lassen, aber er erhielt als Antwort nur Klagen über die verzweifelte Lage des Corps.
„Alle Bagage haben wir verloren, mir und meinen Offizieren ist kein Hemde
geblieben, außer was wir auf dem Leibe tragen; keinen Groschen Gelb haben
wir in der Tasche, die Leute sind ohne Löhnung und kämpfen mit Hunger und
Mangel." Und Lüneburg war damals eine preußische Stadt, mit gefüllten
öffentlichen Kassen, aus denen alle Bedürfnisse des Heeres gedeckt werden konn¬
ten; aber so eingewohnt waren die alten Herren in die Routine des Garni¬
sonlebens, daß sie es nicht für erlaubt hielten, im Kriege sich aus diesem Wege
Mittel zu verschaffen! Man requirirte nicht einmal bei den Wirthen Nahrungs¬
mittel für die Soldaten! Nicht weniger charakteristisch war es, daß die Vor¬
posten einen Courier mit Depeschen an den Marschall Bernadotte und einen
Menschen, der eine Menge Zeichnungen, Karten und verdächtige Papiere bei
sich hatte und den man für einen Spion halten mußte, einbrachten, daß Ge¬
neral P. aber nicht etwa die Depeschen und Papiere prüfte, sondern dem Cou¬
rier und seinem Compagnon Wagen, Geld und Depeschen und sonstige Effecten
unversehrt und unerbrochen zurMgab, weil er nicht wissen könne, welch Schick¬
sal ihm selbst bevorstände, und die Franzosen, würde er gefangen, es ihm übel
lohnen möchten, wenn er einen ihrer Couriere aufgegriffen und seiner Depeschen
beraubt hätte!
Hamburg war damals der Sammelplatz vieler versprengter preußischer
Offiziere, da es von den Franzosen als neutrales Gebiet noch nicht besetzt
war, und Ledebur erlangte hier von dem preußischen Residenten ein zwei¬
monatliches Tractament und von dem französischen Konsul ein Visa nach Lübeck,
wo er die erste Schiffsgelegenheit benutzte, um nach Windau unter Segel zu
gehen. Der russische Consul in Lübeck weigerte sich, ihm den Paß zu visiren,
da er seit der Besetzung der Stadt durch die Franzosen seine Functionen ein¬
gestellt hatte, ^me Weigerung, die später aus den Verlauf von Ledeburs Reise
einen großen Einfluß hatte. Ebenso verhängnißvoll sür ihn wurde sein Be¬
gleiter, Winzer, ursprünglich Bäcker, jetzt aber der Buchführer des Petersburger
Bürgerclubs, den er in Hamburg kennen gelernt hatte. Denn als die Reisen¬
den in Windau ans Land stiegen, fand man den Paß nicht in Ordnung, weil
ihm das Visa des russischen Consuls in Lübeck fehlte. Außerdem lautete
Ledeburs Paß auf, ihn selbst und einen Bedienten, weil er seines Bruders
Diener in Hamburg als Versprengten getroffen und ihn mit bis nach Lübeck
genommen hatte, ohne seinen Namen dort ausstreichen zu lassen. Am meisten
Verdacht aber erregte es, daß, obgleich die Plaudereien seiner Reisegefährten
verrathen hatten, daß Ledebur preußischer Offizier sei, er sich nicht als solcher
SU erkennen gab, weil man bereits in Lübeck von dem nahen Abschluß eines
Bündnisses Frankreichs und Preußens gegen Rußland gesprochen hatte, und
^ deshalb aufgehalten zu werden fürchtete. Man hielt daher beide bald für
Abenteurer, bald für Spione oder politische Agenten, denn daß ein Bäcker wie
Winzer in solchen Kriegszeiten eine Reise von Petersburg nach Deutschland
und grade zu Privatzwecken machen könnte, leuchtete den russischen Behörden
nicht ein. Die Reisenden erhielten daher eine Art Stadtarrest in Windau,
einem langweiligen Neste, in trauriger ödester Strandgegend gelegen, ohne
Mauern und Thore, mit ungepflasterten Straßen, in denen man versinken
konnte und mit durchweg hölzernen Däusern, und wären ohne die großmüthige
Gastfreundschaft einiger Kaufleute und Beamten deutschen Geblüts in die größte
Noth gerathen, da ihr Geldbeutel auf einen solchen Aufenthalt nicht eingerichtet
war. Erst nach vierzehn Tagen traf Antwort vom Gouverneur von Mitau,
wohin der Windauer Magistrat berichtet hatte, ein, aber nicht etwa die Er-
laubniß zur Weiterreise, sondern der Befehl selbst nach Mitau zu kommen. Anfangs
sollte Ledebur hier gleich einen Paß erhalten, aber als er wegen des drohen¬
den Vorrückens der Franzosen gegen die russische Grenze den Wunsch aussprach,
nicht als Offizier genannt zu werden, schöpfte der Gouverneur gleich wieder
Verdacht, und erklärte, erst nach Petersburg berichten zu müssen. Zum Glück
fand Ledebur umer dem kurländischen Adel zahlreiche Bekannte, die theils
selbst im preußischen Heere gedient hatten, theils Verwandte in dessen Reihen
hatten, und so erlangte er denn endlich durch Verwendung der Herzogin von
Kurland einen Paß, der ihm gestattete am 18. December nach fast vierwöchent¬
lichen Aufenthalt in Nußland nach Preußen abzureisen, und am 20. in Po-
langen einzutreffen. Ledebur eilte nun nach Königsberg, denn er brannte vor
Begier wieder vor den Feind zu kommen, aber so wohlwollend er von dem
König und seinen Vorgesetzren aufgenommen wurde, machte es sich doch mit
seiner Anstellung nicht so rasch, da sein Regiment in Magdeburg capitulirt
hatte und daher nicht mehr vorhanden war. Zuletzt sand er unter seinem
Freund Borstell eine Stelle als Volontär bei einem Commando der Garde
du Corps, welches Ende December die Vorposten gegen den Feind bezog.
In diesem durch die schlechte Jahreszeit doppelt schwierigen Dienste zeigte sich
Ledebur sehr thätig und erwies sich als ein sehr unternehmender Reiteroffizier,
der dem Feind keinen Augenblick Ruhe ließ. Ueberhaupt war hier in Ost¬
preußen ein ganz anderer Geist in der Kriegführung, wie im Anfang des
Feldzugs von 1806, und jeder einzelne schien zu fühlen, daß er fein Mög¬
lichstes thun müsse, um die Scharte, welche die Ehre der preußischen Armee bei
Jena und Auerstädt erlitten, wieder auszuwetzen. Es war die Zeit zwischen den
Schlachten von Eilau und von Friedland, wo sich das Glück der Waffen
wieder aus Seiten der verbündeten Preußen und Russen zu wenden schien,
und wo die Hoffnung, den gehaßten Feind zu besiegen, die Kräfte eines jeden
zu verdoppeln schien. Der kleine Krieg, in dem Ledeburs Commando beschäf¬
tigt war, war reich an kecken Streichen, und Ledebur selbst hatte das Glück,
bei einem der gelungensten, dem Ueberfall von Bialokowo, der Anführer zu
sein. Er hatte von Borstell Befehl erhalten, eine Patrouille von einem Unter¬
offizier und sechs Mann gegen das belagerte Graudenz vorzuschicken, fand es
aber für gerathener, den Zug selbst in Begleitung von zwei Unteroffizieren und
zwanzig Garde du Corps zu unternehmen. Im Städtchen Garnsee zog er Er¬
kundigungen über die Stellung der feindlichen Truppen ein, und erfuhr hier,
daß sich im Dorf Bialokowo das Hauptquartier der Hessendarmstädter, nur von
wenig Cavalerie geschützt, befinde. Diese Nachricht brachte ihn auf den Ge¬
danken, einen Ueberfall zu versuchen und womöglich die ganze Gesellschaft
sammt dem französischen General Noyier und dem Prinzen Wittgenstein, die im
Dorf lagen, gefangen zu nehmen. Zwar erfuhr er, als er sich bereits inner-
halb der feindlichen Postenlinie befand, daß das Dorf auch von feindlicher
Infanterie besetzt sei, und daß vor demselben ein nicht zu umgehendes Jnsanterie-
piket stehe, was das Unternehmen sehr gefährlich machte; aber doch gab er es
nicht auf, zumal da ihn seine Leute dringend baten, den Ueberfall zu wagen.
Nachdem er seinen Leuten die Gefährlichkeit ihres Beginnens vorgestellt, nahm
er ihnen das Versprechen ab, sich durchaus nicht einzeln zu zertrennen und
mit größter Schnelligkeit und Pünktlichkeit seine Befehle zu vollziehen, wie
sehr diese ihren Wünschen auch entgegen sein möchten. Keiner durste ein Pistol
laden, und diejenigen, welche geladen hatten, mußten das Pulver von der
Pfanne schütten. Ein Förster aus der Umgegend, der sich sehr ergeben zeigte,
diente als Führer, und unter seiner Leitung ging es vorsichtig weiter, denn'er
hatte Hoffnung gegeben, das Piket, das er schon einmal schlafend gefunden, zu
überrumpeln. Wirklich brachte er, als er einmal vorgeritten war, die Nachricht zu¬
rück, daß das Wachtfeuer nicht brenne und alles im tiefsten Schlafe zu liegen scheine.
..Hieraufsetzte ich getrost meinen Marsch fort," erzählt von Ledebur weiter, „nach¬
dem ich schon vorher den einen meiner Unteroffiziere im Rücken postirt hatte mit
dein strengen Befehl, alles dicht zusammenzuhalten, keinen einzeln hinausreiten zu
lassen und überall auf die strengste Ordnung zu sehen, wenn ich selbst verhin¬
dert werden sollte, meine Aufmerksamkeit darauf zu richten. Kaum aber hatten
Wir die Anhöhe erreicht, so leuchtete mir ein hellausloderndes Feuer entgegen,
und der Förster, außer sich vor Schrecken, rief mir leise zu: „„Herr Jesus, zu¬
rück! Alles ist munter und nun kann aus der ganzen Sache nichts werden!""
Bei dem hellen Schein des Feuers konnte ich das Piket deutlich genug er¬
kennen und mich überzeugen, daß ihrer über zwanzig waren, aber ebenso anch,
daß kein Gegenstand in ihrer Nähe war, der ihnen irgend zum Schutz dienen
konnte, weshalb ich den Entschluß faßte, sogleich daraus loszugehen. Ich bat
den Förster sich so zu halten, daß er außer Gefahr, für mich aber jeden Augen¬
blick g, portes sei, und marschirte dann ruhig und leise weiter. Auf diese Weise
kam ich einer doppelten Fußvedette so nahe, daß ich dieselben nicht eher erkannte,
bis ihr„Lüi vivöl" mir entgegenschallte; in demselben Augenblick aber trat auch
der Mond hinter den Wolken hervor und erhellte die schneebedeckte Gegend so
lehr, daß ich davon großen Nachtheil befürchtete. Indessen prellte ich beim ersten
Anruf sogleich auf die Wedelten ein, die, sobald sie Verdacht schöpften, beide auf
mich abfeuerten und bann so rasch zurückliefen, daß ich im ersten Augenblick fast
irre ward und Cavalerie vor mir zu haben glaubte. Nur mit Mühe holte ich
sie ein, worauf ich beide sogleich niederritt und niederhieb, dann aber mein
Pferd nicht gleich wieder zu halten vermochte, so daß dasselbe wenigstens zehn
Schritt noch mit mir vorprnllte, während ich befürchten mußte, jene würden sich
augenblicklich wieder aufraffen und ihr Heil aufs neue gegen mich versuchen,
umsomehr, als keiner meiner Leute in dem kurzen Moment, wo dies vorging,
nahe genug war, um eS zu hindern. Beide aber waren bedeutend an den
Köpfen verwundet, so daß der eine, welcher auch vom Pferde getreten und be¬
schädigt worden, gar nicht ausstand, der andere aber langsam zu mir heran¬
kam und Pardon verlangte. Gleichzeitig näherten sich auch meine Leute und
nun dauerte es nicht lange, so war alles gefangen, wobei von feindlicher
Seite nur wenige Schüsse gefallen waren, da ein jeder dadurch zu säumen
fürchtete und schwerlich zu treffen hoffen durfte. Die Gefangenen waren meist
alle schwer blessirt, so daß ich sie getrost der Aufsicht von zwei Mann überlassen
durfte. Nachdem ich ihnen die Waffen abnehmen und in gehöriger Ent¬
fernung auf einen Haufen hatte legen lassen, sammelte ich meine Mann¬
schaft und ging grade ins Dorf hinein. Gleich am Eingänge fand ich mehre
von der Besatzung, völlig angekleidet und bewaffnet, die ich indessen für eine
Art Dorfwache hielt, weshalb ich glaubte, nicht säumen zu dürfen, sie sogleich
niederzumachen, was denn auch geschah. Einer der Leute suchte sich durch die
Flucht zureiten; ich'setzte ihm nach und als er in einen Winkel, zwischen
einem Häuschen und einer tiefen, mit Dreiern abgeschlagenen Mistgrube gerieth,
konnte er weder vor, noch rückwärts, sondern es blieb ihm nichts übrig, als
sich mir gegenüber an die Mauer zu lehnen. Der Raum war so schmal, daß
ich kaum das Pferd hätte wenden können; dies indeß nicht beachtend, war ich
immer dicht hinter ihm und als er nun nicht weiter konnte, fo stellte er sich
fest, legte an und schoß etwa aus der Entfernung von drei Schritt auf mich, fehlte
aber und erhielt in dem Augenblick, wo er meinem Pferde mit dem Bajonett
einen Stich in die Brust gab, von mir einen Hieb, oaß er stürzte. Zugleich
aber hob sich mein Pferd, vom Schmerze getrieben, so hoch es vermochte und
stürzte, zurücktretend, mit mir jählings in die Mistgrube, in der ich, im tiefsten
Schnee, wie vergraben unter dem Pferde lag. Gleichwol war ich im Augenblick
unversehrt wieder heraus, auch mein Pferd half sich und ohne zu wissen, daß es
blessirt sei, setzte ich mich wieder auf, während alle meine Leute sich auch schon
wieder um mich gesammelt hatten, wozu mein braver Unterfftzier Leute sie
mit dem Zuruf aufforderte: „Alles hierher, der Lieutenant ist getroffen!" Er
hatte nämlich geglaubt, ich sei von dem Schuß gefallen. Wie sehr ich mich
in der Erwartung getäuscht hatte, die Besatzung in ihren Betten zu finden,
war mir leider schon klar geworden; alles war auf den Beinen, in voller
Rüstung, doch aber schien meine Ankunft dies nicht bewirkt zu haben, da alles
sich ruhig verhielt. Ich ertheilte daher Befehle, durchaus kein Zusammentreffe»
zu gestatten, sondern alles einzeln gefangen zu nehmen oder niederzuhauen,
wobei es aber nicht unterbleiben konnte, daß von feindlicher Seite Schüsse
fielen, die alles allarmirten. Das Schloß auf dem Edelhofe war, ein hohes,
massives Gebäude, mit zwei Flügeln und ziemlich großem Hofraume. Den
Unteroffizier Leute ließ ich mit zehn Mann das Dorf beobachten, um mich
vor dem Abschneiden zu sichern, im Fall Hilfe kommen sollte, den Unteroffizier
Koran aber nebst der übrigen Mannschaft nahm ich mit mir auf den Edelhof.
Die paar Mann, welche sich hier zur Wehr setzten, wurden sogleich nieder¬
gemacht, dann wies ich Koran nach dem Flügel und eilte dem Schlosse zu.
Eine kleine steinerne Treppe, welche zu demselben führte, war ich in einem
Satz mit dem Pferde hinauf, und in der Erwartung, daß Garde du Corps
hinter mir wären, sprang ich dann ab, ließ das Pferd stehen und lief mit
einem Pistol in der Hand, dem zweiten in der Schärpe, den Säbel am Portepee
"n der Hand hängend, in die nächste Thür rechts hinein, wo ich aber nichts
als eine leere Streu fand. Tiefer im Hause war eine zweite Thür, hinter der
ein paar erschrockene junge Damen mich wol eher für einen Räuber, als sonst
für jemand halten mochten, als ich mit meinem wilden Aussehen, das Pistol
mit gespanntem Hahne vorgehalten, hineinstürzte, in der Erwartung, Feinde,
aber keine jungen Damen zu finden. Zu Erklärungen und Entschuldigungen
war keine Zeit; rasch fragte ich, wo die Einquartierung sei. Auf die wenig
befriedigende, blos verneinende Antwort fragte ich nachdrücklicher, und als nun
auf eine gegenüberliegende Thür gedeutet wurde, stürzte ich dort hinein, wo ich
wirklich drei Menschen fand. Dem Nächsten an der Thür, der eben im An¬
kleiden begriffen, forderte ich, mit aus die Brust gesetztem Pistol, den Säbel
und andre Waffen ab, die er auch gutwillig herausgab, indem er zugleich er¬
klärte, daß er Obristlieutenant und Adjutant sei. Mir gegenüber, an einer andern
Thür, stand ein völlig angekleideter Offizier, dem ich zurief, nicht zu weichen,
widrigenfalls ich auf ihn schießen würde; dennoch schlüpfte er zur Thür hinaus
und ich fand nun erst Ursache, es zu bereuen, daß ich keine Garde du Corps
mit mir genommen hatte. Meine Thür wollte ich nicht verlassen, aus Besorg-
niß, der Obristlieutenant möchte mir auch wieder entspringen und da ich nach
Lage der Zimmer voraussetzen konnte, daß jenes keinen andern Ausgang haben
könne, als nach dem Vorderhause, wo meine Leute sich an der Hausthür be¬
fanden, so hoffte ich, daß der Entwischte den Mannschaften doch nicht entgehen
würde. Indessen wollte ich doch sicher gehn und als endlich einige der Leute,
die den Ausgang besetzten, mir nachgekommen waren, eilte ich in das Neben¬
zimmer, wo ich zu meinem bittern Aerger die Entdeckung machte, daß der
Offizier den Sprung aus dem Fenster gewagt hatte und so entkommen war.
Es war dies ein kühnes Unternehmen, da das Haus ein hohes Souterrain
hatte und die Fenster nach der Hinterseite sogar noch weit höher lagen, als
nach vorn; mit dem Nachsetzen durfte ich mich indessen nicht aufhalten und
kehrte also zurück. Die dritte Person im Zimmer war ein junger Mensch von
sechzehn Jahren, der Kammerdiener des Generals, eben mit dem Einpacken
der Sachen seines Herrn beschäftigt, welche alle um ihn herumlagen. Ich
forderte ihn auf, mir zu sagen, wo c>er General sei, wozu ich auch den Obrist-
lieutenant zwingen wollte, indem ich beide zu erschießen drohte, erhielt aber nur
die Antwort, daß er fort sei. Nun gab ich Befehl, den Obristlieutenant fortzu¬
bringen, der sich aber über meine Harte beklagte, ihm nicht einmal zu gestatten,
sich anzukleiden und behauptete, nicht gehen zu können, indem er das Podagra
habe und keine Stiefeln anzuziehen vermöchte. Das hatte ich ganz übersehen
und war ihm nun selbst beim Anziehen behilflich — freilich ein wenig eiliger,
als es ihm lieb sein mochte, — rieth ihm aber dann, es nur soweit mit dem
Gehen zu versuchen, bis ich ihm ein Pferd geben könne, was denn auch keine
Schwierigkeiten hatte, da es so schlimm mit ihm nicht war und er nur Zeit
zu gewinnen suchte. Dem Bedienten befahl ich, mit dem Einpacken fortzufahren'
und ließ eine Wache bei ihm zurück, die alles, was sich an Effecten und Sachen
vorfand, fortbringen mußte, während ich mich selbst in den Hos zu meinen
Leuten zurückbegab. Hier kam mir Koran mit dem Prinzen Wittgenstein und
einem Lieutenant Rosenberg entgegen, die er zu Gefangenen gemacht. Beide
wurden fortgeschickt und dann die Pferdeställe untersucht, wobei es sich voll¬
kommen bestätigte, daß die Besatzung wirklich im Begriff gewesen war, aufzu¬
brechen; die Pferde waren sämmtlich gesattelt, gezäumt und aufgeschirrt. Es
wurden im Ganzen etwa dreißig zusammengebracht." Ohne weiter vom Feinde
gefährdet zu werden, gelangte Ledebur, nachdem er seine Leute gesammelt, die
Verwundeten und die Beute aus requirirten Schlitten, die Gefangenen auf den
erbeuteten Pferden, wieder nach Garnsee. Der kecke Ueberfall hatte die Aus¬
hebung der Blockade von Graudenz zur Folge und verschaffte Ledebur den
Orden pour 1e nun-ne. Bald darauf zog sich jedoch das preußische Heer wieder
gegen Königsberg zurück, Borstells Commando wurde aufgelöst, und Ledebur
erhielt neben dem Rittmeister Raven den Austrag, ein Freicorps aus Selbst-
ranzionirten zu bilden, mit dem er am 7. Juni 1807 Königsberg verließ.
Hier sollte aber seine kriegerische Laufbahn vorläufig ein Ende nehmen. Am
12. Juni stieß er bei Gesau auf den Feind, der bald eine so überlegene Cavalerie
entwickelte, daß es rathscun wurde, den Rückzug anzutreten. Dieser ging anfangs
glücklich von statten, bis ein Lieutenant ohne Befehl angriff und das Ganze
in ein Gefecht verwickelte, das wegen der Uebermacht der Franzosen — wie es sich
später zeigte, hatte man es mit der ganzen Avantgarde unter Murat zu thun
nur nachtheilig werden konnte. Lange trieb man sich hin und her und bei
einem gelungenen Angriffe verfolgte Ledebur einen feindlichen Offizier zu hitzig,
kam von seinen Leuten ab und fiel aus vielen, zum Theil schweren Wunden
blutend, nach tapferer Vertheidigung abermals in Gefangenschaft. Als er
wieder geheilt war, war der Friede geschlossen und erst 1813 war es ihm
wieder vergönnt, gegen die Franzosen zu fechten. Im Feldzuge 1813 führte
er auf dem Rückzug nach Wavre, nach der Schlacht bei Ligny, die Nachhut
und bewachte die Dyle, während die Schlacht bei Waterloo geschlagen wurde.
Er starb als General der Cavalerie am 26. April -1832.
Ihr Berichterstatter hat seiner Zeit den Uebergang des Kommandos der
französischen Krimarmce aus den Händen des Generals Canrobert in die
PelissierS als ein große Hoffnungen erweckendes Ereigniß begrüßt. Jetzt,
wo eine mit jenem Wechsel beginnende Operationsepvche abschließt, kann er
nicht umhin, das Geständniß zu machen, daß er sich getäuscht hatte.
Der gegenwärtige Generalissimus der französischen Streitkräfte übernahm
die Leitung in einem Augenblick, der nicht anders als außerordentlich günstig
bezeichnet werden kann. Die massenhaften Verstärkungen, welche man seit Ende
des Winters in Frankreich, England und Sardinien organistrt hatte, sowie
der Zustoß der Hauptmacht Omer Paschas, brachten die Belagerungsarmee
auf nahezu den doppelten Bestand, den sie vordem gehabt; es war demnach
Zeit, einen neuen Plan und von ganz andern Dimensionen wie der frühere,
ihren Operationen unterzulegen. Im Grunde genommen rechnete wol jeder
Einsichtige darauf. General Pelissier dagegen scheint sich damals fest vorgenom¬
men zu haben, genau den Tracen seines Vorgängers nachzugehen, vielleicht
nur, um damit der Welt einen neuen Beleg seiner bereits alle Anerkennung
genießenden Energie und Konsequenz zu geben und um einen einmal früher
gethanen Ausspruch, daß Sebastopol durch den directen Angriff, wenn ihm
nur der gehörige Nachdruck gegeben werde, zum Fall gebracht ^werden könne,
Zu erhärten. Mit andern Worten: mir scheint, daß seine Motive bei dem
Beharren auf dem eingeschlagenen Wege persönlicher Art waren und eine neue
Bewährung seiner sast sprichwörtlich gewordenen Energie von ihm höher in
Anschlag gebracht wurde, als die Entfaltung bedeutender strategischer Geschick-
lichkeit. Es ist des Haudegens Art und es läßt sich eben dagegen nichts einwen¬
den, als daß es bedauernswerth erscheinen muß, daß eben dieser Haudegen nach
reiflicher Erwägung der beste und tauglichste Mann war, um ihm das Hest in
die Hand zu geben.
Die günstigen Verhältnisse, welche General Pelissier bei der Uebernahme
seines Commandos vorfand, eristiren jetzt nicht mehr. Er mochte damals etwa
120,000 Mann Franzosen unter seinem Besehl haben. Heute hat er deren
wol nicht mehr als 93,000 Mann. Volle 23,000 Mann sind, auch wenn
man mäßige Berechnungen zu Grunde legt, in den täglichen Kämpfen und
Gefechten, in den drei Hauptactionen, die seitdem stattfanden und durch Krank¬
heiten zu Grunde gegangen. Das ist ein größerer Verlust, als der, welchen
die Armee muthmaßlich in zwei großen Feldschlachten erlitten haben würde, in
der ihre gesammten Streitkräfte engagirt gewesen wären.
Die Frage, welche sich uns als die allerdniigendste aufwirft, ist die: wird
die französische Regierung einen Mann, der sichtlich ohne Plan und ohne
höhern leitenden Gedanken die Armee in mechanischen Stoßen gegen schwer
überwindbare Hindernisse, die man gleichwol vom Rücken her (Eupatoria)
isoliren und damit zum Fall bringen konnte, der schnellen Zertrümmerung aus¬
setzt, — wird das Gouvernement zu Paris diesem Mann noch weiterhin das
Commando überlassen? Ich denke, man hat Grund, zu Gunsten der guten
Sache, um die es sich hier handelt, daran zu zweifeln. Aber nur der sollte
bei Ertheilung des hohen Postens in Berücksichtigung gezogen werden, der im
Stande ist, einen neuen Gedanken in das Wirrsal der seitherigen Operationen
hineinzutragen.
Man darf sich im übrigen Deutschland über die Schwere
der jüngsten Vorgänge im Königreich Hannover nicht dadurch täuschen lassen, daß
von beiden Seiten sowenig eigentlicher Lärm und Staub erregt wird. Der Nieder-
sachse ist zwar durchgehends von sicherm Rechtsgefühl erfüllt, aber von langsamer
Sinnlichkeit und einer ruhigen, fast schwerfälligen Art sich zu äußern.
Eine andre Ursache erklärt es noch besser, warum das Mitgefühl des außen¬
stehenden deutscheu Volks von seinem hartbedrängten Bruderstämme in diesen schwe¬
ren Tagen sowenig eifrig in Anspruch genommen wird. Die Negierung hat nicht um¬
sonst das Bundespreßgesctz einige Monate vor dem Zusammentritt der Stände durch
einfache königliche Verordnung in Kraft treten lassen. Sie wußte ohne Zweifel
so gut wie irgendeiner ihrer constitutionellen Gegner, daß sie sich damit der be¬
stimmtesten Gefahr aussetzen werde, von den Kammern einer Vcrsassungswidrigkcit
geziehen und demgemäß behandelt zu werden. Sie wird die taktischen Vortheile,
welche ihr die Verkündigung gab, eben höher geschätzt haben, als die nicht zu
verkennende Gefahr. Das Bundespreßgesctz hat die Eigenthümlichkeit, seine Gegen¬
stände aus der Sphäre, klarer öffentlicher Rechtsverhältnisse in die Sphäre geheimer
persönlicher Einflüsse zu versetzen. Es unterwirst die Handlanger und die capital-
bcsitzenden Eigenthümer der Presse beinahe ohne jede zuverlässige Schranke dem
Wohlwollen irgendeiner im Dunkeln bleibenden, in ihren Sympathien schlechter¬
dings nicht zu berechnenden und völlig unverantwortlichen Persönlichkeit, damit die
schutzlose Lage der Einen, verbunden mit der einflußreichen Furcht der Andern über
den unabhängigen Schriftsteller denjenigen Zaum verhänge, den man ihm mit den
Gefahren seiner persönlichen Verantwortlichkeit gegen das Publicum »ut die Ge¬
richte aufzuerlegen nachgrade wol verzweifeln mag. Man führt durch allerlei schone
Hinterpsorten die stille, eine löbliche Polizei nicht compromittirende'Ecnsur der
Verleger ein. Dieser Erfolg des allgemeinen deutschen Preßgesctzcs, mag er nun
genau die Absicht des Gesetzgebers ausdrücken oder nicht, ist in Hannover wenig¬
stens bereits zu einer Thatsache von öffentlichem Geheimniß geworden. Er hat
dem Ministerium soweit Lust gemacht, daß es für seine Pläne nur noch den leichter
stumm zu erhaltenden Widerstand der Rednerbühne in den Ständen, nicht mehr
den lautern, bleibendem und ungleich weiter reichenden Widerstand der Tagespresse
zu berechnen braucht. Diese Erleichterung ist dem Lande gegenüber nicht gering
anzuschlagen. Sie ist aber noch weit mehr, ja im Augenblick beinahe alles dem
übrigen Deutschland gegenüber, das grade in der hannoverschen Landesprcsse bisher
noch gewohnt war, Meinung und Ausdruck sich decken zu sehen, während es nun
das Schlimmste aus zahmen Redensarten oder gar aus einem weniger verständlichen
als beredtscnnen Stillschweigen entnehmen soll.
Es ist nie Sitte in den hannoverschen Kammern gewesen, durch schwungvolle
Reden und starke Worte zu glänzen. Die Vorträge der gefeiertsten parlamentari¬
schen Kämpfer, vom Platze aus und daher ohne stilistische Vorbereitung gehalten,
haben immer nur durch ihren Inhalt überzeugen, niemals durch die Form zu
Bewunderung und Beifall hinreißen können. Solange Stüve und Lehzen ihr
gegenwärtiges Ansehen behaupten, wird es bei dieser Gewohnheit sein Verbleiben
haben. Die beiden Voranträge des Verfassungsausschusses, denen die Regierung
am -13. Juli mit der Vertagung der Stände geantwortet hat, sind daher auch zu
einer Wirkung in die Ferne sowenig geeignet, wie gelegentliche Gefühlsausbrüche
von Wynekeu und dem Rittmeister v. Münchhausen in der ersten, von Lehzen und
Stüve in der zweiten Kammer. Sie sind nur dem Kenner der hannoverschen Zu.-
stände auf der Stelle einleuchtend, auch ihm vielleicht nicht einmal recht aus der
Seele gesprochen. Das beeinträchtigt abermals den Eindruck der jüngsten hannover¬
schen Ereignisse im weiteren Vaterlande. Nach einer andern Seite hin aber sind
die gegenwärtigen Führer der Stände selbst nicht von einem Unterlassungssehlcr
frei zu sprechen, der sich schwer genng an ihrer guten Sache rächt. Sie haben
mit geringen Ausnahmen von jeher und bis zuletzt gegen die Zeitnngsprcssc eine
ganz vormärzliche Gleichgültigkeit gezeigt. Sie haben es unter anderm mit an¬
gesehen, daß das einzige größere unabhängige Blatt des Inlandes, von einem an
sich sehr braven und tüchtigen Manne aus Berlin geleitet, im Punkte der inländi¬
schen Interessen bis auf den heutigen Tag so gut wie verwaist geblieben ist. Eine
wachsame und ihrer politischen Ausgabe recht bewußte Parteigenvssenschaft hätte das
nicht geduldet, sondern sich aus einem so gelegenen Stoff ein Organ geschaffen,
an dem das ganze Land bald mit dauerhafter Theilnahme festgehalten hätte. Das
war dann vom Augenblick der eintretenden Gefahr eine höchst gewichtige, wenn
anch vielleicht unscheinbare Waffe, deren nachdrncksvvllen Schläge die durchweg frei-
gesinnte Prvviuzialpresse freudig unterstützt hätte. Nicht getragen von den an¬
erkannten Häuptern der Bevölkerung, und nicht gewohnt, in alle öffentlichen An¬
gelegenheiten des Landes ein kräftig Wörtlein dreinzureden, mußte die Zeitung für
Norddeutschland vollends verstummen, als die Angst vor Verwarnungen und Ent¬
ziehung der Concession von ihrem Herausgeber Besitz ergriff. Hätte sie früher
lauter und eindringlicher zu sprechen sich befleißigt, so würde sie selbst nach dem
ätzten 1. März noch manches jetzt nicht zu wagende Wort haben heraussagen können.
In gleicher Weise bestraft es sich, daß die Männer von bewährten Charakter und
von überlegenem politischen Geist unter den hannoverschen Liberalen sich nicht von
jeher systematisch mit den großen Nachbarzeitungen in Verbindung erhalte» haben.
Würden diese nicht vorwiegend von wenig eingeweihten Literaten von Fach besorgt,
sie konnten in Hannover augenblicklich nicht nur den höchsten Dank einer geängste¬
ten, freier Meinungsäußerung bedürftigen Bevölkerung verdienen, sondern auch für
sich selbst reichliche Seide spinnen. Aber wie Stüve in selner letzten großen Rede
j»v alcun zur Erhaltung seiner geliebten Verfassung sagte: dem Verfassungsans¬
schuß, also der intellectuellen Blüte beider Kammern sind die allerdings für ver-
fassungswidrig erachteten Ausführungsverordnungen der Regierung zum Bundcs-
prcßgesetz und zum Bundcsvereinsgesetz gänzlich in den Hintergrund getreten vor
der überwiegenden Bedeutung der eigentlichen Verfassungsfrage, der Frage nämlich,
ob Stüves erste Kammer von 18i8 der vormärzlichen Adelskammer wieder weichen
solle oder nicht. Diese Überschätzung der ständischen Thätigkeit im Verhältniß zu
den übrigen Aeußerungen des politischen Lebens im Volke ist wenigstens seit 18i8
jedenfalls veraltet. Seit anch der letzte Spießbürger, der Bauer im abgelegensten
Dorf tagtäglich nach der Zeitung greift, um außer von kriegerischen Ereignissen
und Königsfahrtcn auch etwas von Finanzen, Rechtsinstituten und socialen Zu¬
ständen seiner Heimat zu erfahren, sammelt sich in den jährlich nur einmal ein
Vierteljahr lang versammelten Kammern bei weitem nicht alles mehr auf, was es
an politischen Wünschen und Gedanken im Lande gibt. Die unendliche Mehrzahl
findet sür ihre Interessen die Vermittlung der Tagespresse weit bequemer und selbst
zuverlässiger als die der Stände, in deren Petitionsausschnß manche wohlgemeinte
Eingabe unberücksichtigt liegen bleibt. Was das gedruckte Wort nicht leistet, das
thut das gesprochene in zahlreich entstehenden Vereinen von Berufsgenossen auch
wol eher uoch als eine Bittschrift an die Landesgesctzgebung, deren Wirkung der
Absender gar nicht zu berechnen vermag.
In diesen veränderten Umständen liegt vielleicht nicht nur die beste Erklärung
für die herrschende vcrhciltnißmäßige Lauigkeit der Stimmung im hannöverschen
Volk, sondern anch eine nicht geringe Beruhigung für die Gegenwart, eine große
Ermuthigung sür die Zukunft. Als Ernst August 1837 das Staatsgrundgesetz
aushob, stellte er damit den Inbegriff aller Unterthanenrechte dem Staat gegenüber
in Frage. Er unterwarf die Landesfinanzcn königlicher Willkür, während noch
kein bedeutendes Unternehmen im Lande entstehen konnte, es sei denn mit mate¬
rieller Unterstützung der Staatskasse. Er formte die Vertretung des Volks in den
allgemeinen Ständen um und veränderte damit das einzige Gesäß, in dem der
Wille der Bevölkerung damals einigermaßen zum Ausdruck gelangen konnte. Die
Wirksamkeit der Gerichte beschränkte er zugleich mit ihrer Unabhängigkeit; diejenige
der Verwaltungsbeamten, dieser willenlosen Werkzeuge in der Hand deö Leiters,
dehnte er über alles Maß aus. Mit einem Worte, das ganze öffentliche Leben
Hannovers mußte sich den Principien des Absolutismus anbequemen. Nichts der
Art wäre jetzt auch dem entschlossensten und klügsten Despoten mehr möglich. Die
Freiheit, die vor 4848 uur in den Ständen, zu athmen schien, hat jetzt tausend
kräftige Lungen an ebensoviel verschiedenen Orten bekommen. Wo wäre die Faust,
sie mit einem Griff für immer zu erdrücken? Jetzt sorgen Vereine der verschieden-
sten Art, Zeitungen in jeder halbwegs namhaften Stadt dafür, daß jedermann an
den öffentlichen Dingen wenigstens passiven Antheil nehme. Auf hundert Gleich-
giltige kommt denn doch immer ein eifriger und muthiger Geist. Daher wäre es
freilich weise gewesen, wenn die ständischen Führer den Verordnungen zum Bnndes-
preßgesetz und Buudcsvereinsgesetz mindestens dieselbe Aufmerksamkeit gewidmet
hätten wie den Vorlagen zur Umgestaltung der ersten Kammer; aber daran ist
nicht zu denken, daß mit der einen jener Verordnungen dem Vereinswesen, mit
der andern der Zeitungspresse nun sogleich das Lebenslicht ausgeblasen worden
wäre. Sie mäßigen beide ihren Ton gegen ^ die verfassungswidrigen Schritte des
Ministeriums, und enthalten sich vielleicht am sichersten gänzlich der Bearbeitung
von Gebieten, aus denen mehr Gift als gesunde Frucht geerntet wird; allein ihr
Umkreis ist hente nicht mehr so eng abgesteckt, daß sie anßer den brennenden Fragen
des Verfassuugslebens nichts mehr zu besprechen fänden. Grade den andern Feldern
der Oeffentlichkeit, der socialen und ökonomischen Entwicklung aller Zustände ist
heutzutage das volle Gesicht des Volksgeistes zugewendet, und auf ihnen liegen daher
auch die Lorbeeren dessen, der hente in Zeitungen schreiben und in gemeinnützigen
Vereinen sprechen will. Das ist kein Unglück, sondern eine nothwendige Reaction
gegen die früher vorherrschende einseitige Uebertreibung des constitutionellen Wesens.
Finanzen und ständische Vertretung sind wichtige Stoffe für den Antheil eines poli¬
tisch mündigen Volks; aber weder die einzigen, noch die zu jeder Zeit vorwiegenden.
Nachdem vom Mittelpunkt, vom Staat aus die kleineren Kreise der Gemeinden und
der Provinzen erst einmal zu selbstständigen Leben erwärmt worden sind, ist es
ihnen nicht zu verdenken, daß sie im abstracten Leben des Staats nicht mehr völlig
aufgehen wolle». Sie empfinden nachgrade, daß auch in d.en gesellschaftlichen Be¬
dürfnissen des Menschen eine natürliche Reihenfolge besteht, die man nicht ungestraft
überspringt. Sich um die Angelegenheiten des Staats eher und stärker zu beküm¬
mern als um die der eignen Gemeinde ist vielleicht eines Philosophen würdig, aber
nicht eines einfachen Bürgers.
Wir ziehen aus diesen Betrachtungen den tröstlichen Schluß, daß die ver-
sassungsfeindlichcn Mächte in Hannover noch nicht gesiegt haben werden, wenn der
Widerstand der Stände gewaltsam beseitigt ist, sondern daß der Kampf dann erst
recht aus zahllosen zerstreuten Punkten von neuem anbrechen, und endlich in der
Befreiung aller Lebenssphären von dem überwältigenden und verödenden Despotis¬
mus der Staatsgewalt ausgehen wird. Schon rüsten sich allerorts die Freiwilligen,
die in diesem friedlichen, aber an Spannung wie an Wechselfällen und an Trium¬
phen reichen Kriege den großen Massen der Bevölkerung tiraillirend voranzichen
werden, die Pioniere des Fortschritts in der Tagespresse und in den Vereinen
aller Art. Wir wünschen ihnen auf ihrem langen Marsch die reichliche Gunst von
Wind und Sonne.
Der Zweikampf zwischen Madame Ristori und Fräulein Rachel
dauert fort, und seit einigen Tagen zerfällt Paris in eine Reihe von langen
Queues. — Man macht überall Queue, bei der Rachel, bei Madame Ristori und vor
den Zeichnuugsanstaltcn für das neue Anlehen. Das Kunstinteresse und die Kunst,
Interessen ans nichts zu ziehen, werden beide mit großer Lebhaftigkeit gepflogen.
Die Industrieausstellung hat endlich auch ihre Queue, jenes untrügliche und aus¬
schließliche Zeichen des Erfolges bei einer pariser Unternehmung. Ohne Queue
kein Ruhm, ohne Queue keine Unsterblichkeit. Der Judustriepalast kann sich bis¬
her, trotz der fortschreitenden Gunst beim hiesigen Publicum, nur einer speciellen
Queue erfreuen. Nämlich dem Krondiamanten wird diese schmeichelhafte Auszeich¬
nung zu Theil. Alle anderen Kunstwerke der modernen Industrie kann man
ganz ü son hiss bewundern. Es gibt deren nicht wenige, und wer die Leistungen
der Sevresfabrik, der Gobelins und von Beauvais —- die französischen Model-,
Decorations- und Seidenwaaren, die Bijouteriegegenstände —- die französischen
und englischen Töpfererzcugnisse ohne Befriedigung betrachtet, der kann von sich
sagen, daß er ein sehr schwieriger Mann sei: Die Maschinen, die nnn im Gange
sind — die orientalische Industrie, welche sich endlich im vollen Staate befindet,
gewähren nicht minder großes Interesse. Wir wünschten blos die nöthige Geduld,
um alles so recht zu beschreiben, wie es der Mühe sich lohnte. — Aber in dieser
Hitze hat man schon genug gethan, wenn man die Pracht der Industrie und Kunst
für sich allein genießt. Der Leser mag warten. Wem die Zeit zu lange wird,
der benutze einen der sogenannten Expositionstrains, die bald aus allen Enden
von Deutschland um geringes Geld deutsche Wißbegierde nach Paris bringen
werden.
Die Negierung hat wol manchem einen Theil am Spaße verdorben, indem sie
die Augustillumiuation zum Besten der Wittwen und Waisen der Krimsvldaten un¬
terdrückte. Sie hat jedenfalls gut gethan, und es ist billig, daß man sich hier inmitten
der Bequemlichkeiten des Lebens und der Freuden des Friedens an die Leiden so-
vieler Braven in der Krim erinnere.
Also die Besucher, die uns im Monate August zuströmen, werden zwar um
das Schauspiel des illuminirten Paris verkürzt, aber sie kennen sich auf reichliche
Entschädigung in anderer Beziehung gefaßt machen. Die Königin Victoria und
ein Theil ihrer Familie werden um jene Zeit in Paris erwartet und wie man
sich leicht denken kann soll nichts verabsäumt werden, um die Schuld der Dank¬
barkeit abzuzahlen, welche der Kaiser durch den Empfang, der ihm in England ge¬
worden, eingegangen ist. Die Vorbereitungen, die man trifft, sind großartig und
das Schauspiel, das der königlichen Gäste von jenseits des Strandes harrt, ver¬
spricht an die Zeit von Ludwig XIV. zu erinnern. Wenn es sich um öffentliche
Schaulust handelt, kennt die französische Eitelkeit weder unter der Republik noch
unter der Monarchie Grenzen für ihre Freigebigkeit. Daß die Königin Victoria
mit ihrer Familie in Se. Cloud wohnen werde, ist bekannt. Die für sie einge¬
richteten Appartements sollen eine treue Copie ihrer Gemächer in Windsor Castle
werden, und die für die neue Einrichtung angewiesenen Credite, betragen die Summe
von 300,000 Franken. Hiergegen ist wenig einzuwenden, es ist selbstverständlich,
daß der Kaiser von Frankreich die Königin von England mit kaiserlicher Pracht
empfangen will. Weniger einverstanden sind wir mit dem Gedanken, das Museum
des Louvre vierzig seiner vorzüglichsten Gemälde beraubt und damit die Gemächer
der Königin Victoria geschmückt zusehen. Das Museum ist Nationaleigenthum und in
diesem Augenblicke sogar Eigenthum der ganzen gebildeten Welt. Die Regierung
hat kein Recht, diese Kunstschätze aus der Galerie zu hole», um sie in ein Privat-
schloß zu bringen, wo sie eher zufälligem Schaden ausgesetzt sind, als in dem selbst
in Zeiten revolutionärer Uebergriffe vom Volke geschonten Louvre. Schon der Trans¬
port ist eine kitzliche Sache und wir begreifen, daß H. Niewkerke, der doch nur
ein Knecht seines Herrn ist, es nicht-über sich bringen konnte, die seiner Aufsicht
vertrauten Kunstwerke ohne Protestation von sich zu lassen. Natürlich wird sich
die Gastfreundschaft des Hofes nicht auf das Louvre allem beschränken. Man denkt
an verschiedene militärische Schauspiele. In den kaiserlichen Theatern der Oper, der
komischen Oper und des Theater franiMs, werden sogenannte Galavorstellungen
stattfinden. Für Versailles ist ebenfalls Hoftheater angesagt und man spricht vor¬
züglich von einer Beleuchtung des Parkes wie zur Zeit Ludwigs XIV. Die An¬
stalten dazu sind vorhanden, und mit Hilfe der seither gemachten Fortschritte kann
dieses interessante Schauspiel uoch prachtvoller werden als unter Ludwig XIV.
Freilich sind im Schlosse große Veränderungen vor sich gegangen — aus dem
Wohngebäude der legitimen Monarchie hat der Bürgerkonig zum Theil auf eigne
Kosten ein Nationalmuseum gemacht und nur der Park, Groß- und Kleintrianon be¬
hielten ihre ursprüngliche Gestalt. Die Königin Victoria wird bei dieser Gelegen¬
heit die Gemächer besichtigen können, die ihr Ludwig Philipp in Versailles ein¬
richten ließ, und die sie niemals bezogen hat. Nun macht ihr eine andere
Dynastie die Honneurs — die spanischen Heirathen — die Februarrevolution sind
längst vergessen, obgleich noch gestern die Welt beschäftigend. Heute ist es der
Neffe des mit englischem Gelde und durch einen englischen Feldherrn besiegten
Napoleon, an dessen Arme Englands Königin die verschwundene Herrlichkeit der
Bourbonenmonarchie in Schau nehmen wird.
Die Königin wird nur geringes Gefolge mit sich führen, aber die reichen
Engländer werden ihrer Königin eine freiwillige Escorte machen. Die Hälfte der
großen Familien Englands wird nach Paris kommen, um hier während der An¬
wesenheit der Königin ihren Wohnsitz aufzuschlagen. Von den sonst angekündigten
Monarchen dürste kaum einer kommen — es wäre'denn der König von Dänemark
oder der König von Sardinien. König Leopold kommt nicht und Oestreichs Kaiser
ebenfalls nicht. Letzterer hat seine guten Gründe und wir glauben uicht zu irren,
wenn wir behaupten, daß diese Macht zu jeuer Zeit nicht einmal einen Gesandten
hier haben werde, zur Begrüßung der Königin Victoria.
Was nun den Empfang der Königin betrifft, so ist es wahrscheinlich, daß der¬
selbe sehr herzlich ausfällt. Die Königin Victoria wird hier sowol als ein Muster
des constitutionellen Königthums, sowie auch als Frau verehrt, ob aber der Em¬
pfang sich so enthusiastisch gestalten wird, wie jeuer des Kaisers in London, ist noch
eine Frage. Die Frauzosen sind im Ganzen herabgestimmt, und wir haben also
keinen Begriff von der Wirkung, welche die Erscheinung der Königin Victoria
hier hervorbringen wird. Die Neugierde wird jedenfalls sehr groß sein und die
vielen Fremden, welche gegenwärtig in Paris sich befinden, mögen dem Enthusias¬
mus der Einheimischen leicht nnter die Arme greifen.
Das Theater macht während der Exposition fast Anstrengungen. Augiers
l-e in-iri-igö it'01^of>ö ist bereits über die Bühne gegangen und Paul Maurice
Paris wird heute oder morgen zum ersten Male aufgeführt. Augiers neues Stück
behandelt die Fortsetzung von Alexander Dumas Sohn clewi monäo. Er beginnt
mit dem Ende, das wahrscheinlicher ist. — Die Frau der Halbwelt weiß ihren Mann
in ihr Garn ganz zu verstricken, dieser heirathet sie. Nun beginnt die Schwierig¬
keit des Stückes: H. Angler nahm in der Schilderung seiner Heldin das lateinische
Sprichwort: n-leur»,» kuren expoH-i« zum Motto und hatte Recht. Unrecht hatte er
sich die Genialität zuzutrauen, einen solchen Charakter psychologisch richtig und zu¬
gleich dramatisch interessant und annehmbar durchzuführen. Herrn Alexander Dumas
Fils Erfolg hat dem jungen Dichter geschadet — nicht nur die nachgrade uner¬
träglich werdende, der pariser Welt wie der französischen Literatur zur Schmach
gereichende ausschließliche Behandlung von Stoffen aus der Lorettenwelt verdanken wir
dem unglücklichen glücklichen Griffe von Dumas mit dessen clume nux oüMLiius —- auch
diese Jagd auf witzige Worte -zortt «in, Vumu« ü will« livux. Ein witziges Wort ist amü¬
sant, aber es ersetzt lange keine Situation, noch den Gang dramatischer Ereignisse. Das
Stück hat insofern dem Leben seine Motive entnommen, als in der Heldin Fräu¬
lein Constance vom Varict« theater, im Helden der Marquis von Gallifet geschildert
werden. Der Schluß ist ebenfalls, ein der pariser Wirklichkeit entlehnter. Marquis
de Pentalba. ein Spanier, hatte vor -15 Jahren seiner Schwiegertochter eine Kugel
durch den Kopf gejagt und hierauf sich selbst entleibt, weil die Frau seines Sohnes
diesen entehrte. Ani5 -> Z'->i'!!> <>n »c> mvnrl. p!>s <Jo «! >ion — weder der Skandal
noch die Kugel haben die erwähnte Dame getödtet — diese befindet sich noch heute
wohl und nnr der stolze Spanier ist ein Opfer seines großen Ehrgefühls geworden.
Auch Fräulein Constanze befindet sich wohl in ihrem früheren Stande und der Prä¬
tendent ihrer Hand — schlägt sich in der Krim. Schon ans diesen Angaben müßte
der dramatische Schriftsteller gelernt haben, daß die Realität des Lebens nicht allein
hinreiche, ein Stück wahr zu machen — Balzac hat uus in seinen Romanen die
unwahrscheinlichsten und unwahrsten Herzens- und sonstige Geschichten aufgedeckt
— aber Balzac hatte Genie und H. Angler hat nur ein kleines Talent. Seine
in-n iugö d'ol^mpo ist ein Modefabrikat und noch dazu ein schlechtes. Von Paul Man-
rices Stück wissen wir blos, daß es am Vorabende der ersten Aufführung von der
Polizei verboten wurde, weil diese sich plötzlich besann, daß ein Stück unter Na¬
poleon III., welches die Geschichte von Paris wiederzugeben beansprucht, nicht mit
Bonaparte dem General der Republik schließen könne. Paul Maurice pro-
testirte vergebens gegen dies? Censur einer ganz neuen Art. Er mußte im Inter¬
esse des Directors, der schon die größten Auslagen gemacht hatte, sein Stück selbst
leimen und dieses endet, mit Napoleon I. Kaiser der Franzosen. Was können doch
Regierungen allem sein, wenn sie sich nur die rechte Mühe geben! Wenn diese
kleinliche Schwicrigkeitenmachcrei den Zweck hat, die Erbärmlichkeit unsrer Zeit zu
zeigen, so hat sie ihren Zweck erreicht, aber weder dem Kaiserthume von ehemals
noch dem heutigen ist viel damit geholfen. Was das neue Stück an Dccorations-
wundern und Kostümen bringen wird, das mag aus dem Umstände entnommen
werden, daß die erste Generalprobe von fünf Uhr Abends bis zum andern Morgen
dauerte. Auch haben Director und Verfasser nach langer Consultation gefunden,
es dürfte nicht unzweckmäßig sein, einige leise Schnitte dem Drama des Herrn Maurice
zu versetzen. Noch eines neuen Theaters, dem musikalischen schwanke gewidmet,
können wir gedenken: I^s Iioullös purii-lors, in dem Offenbach in den Champs elysöcs
derzeit versucht, die Pariser zu amüsiren durch musikalische Farcen aller Art. Wir
wünschen ihm und seinen Zuhörern alles Glück.
— Wenn man das Verfahren der französi¬
schen und britischen Heerführer in der Krim beobachtet, möchte man fast vermuthen,
Europa habe seine großen militärischen Experimente zu Anfang dieses Jahrhunderts
umsonst gemacht, es seien während der Kriege Napoleons keine großen, leitenden
Principien an den Tag gekommen — es fehle überhaupt an solchen im ganzen
Kriegswesen und dieses sei ein auf den Zufall gestelltes, von keinem geistigen
Hauche durchwehtes, von keiner Maxime erfülltes Ding. Mau möchte glauben, ein
Unternehmen ähnlicher Art, wie das der Verbündeten gegen die Krim, sei noch
nicht dagewesen; es existirten keine Regeln für die Operationen einer auf einem
feindlichen Strande gekanteten Angriffsarmee; die Franzosen hätten vordem nicht
einen solchen Krieg in Aegvpteii, die Engländer nicht einen andern in Portugal
und Spanien geführt. Mehr noch, man ist versucht zu glauben, in England wie in
Frankreich sei vor Nnsbruch des Kampfes nie eine Eventualität wie die eines
Krieges wider Rußland in ernste Erwägung gezogen worden. Vielleicht ist letztere
Vermuthung nicht ganz ohne Grund; mindestens dürfte es lohnend sein, die Mög¬
lichkeit hier flüchtig in Erörterung zu ziehen.
Wer mit den militärischen Institutionen Preußens und Oestreichs bekannt ist,
wird wissen, daß in diesen beiden Staaten im Wege der Voraussicht etwa eintreten¬
den Kriegsfällen eine große Aufmerksamkeit gewidmet wird. In Preußen hat man
vor allen Dingen drei mögliche Fälle fest ins Auge gefaßt, einen dereinstigen Krieg
gegen Frankreich, gegen Oestreich und gegen Rußland und diesen drei Kriegen ent¬
sprechend den ganzen, Preußen angrenzenden Raum in drei Theater (Kriegstheater)
eingetheilt, von denen ein jedes dem Studium einer besondern Section des in
Berlin seinen Standort habenden „großen Generalstabs" zugewiesen ist. Man darf
annehmen, daß im Wege der Berathung alle auf diesen drei Kricgstheatern
möglicherweise eintretenden Fälle in Erwägung gezogen worden, daß Gutachten
und Entwürfe in Betreff der Grundzüge späterer Operationen ausgearbeitet worden
sind und daß in diesem ganzen Bereich kein wichtiger Fragcpunkt existirt, über den
nicht tief gehende und gründliche Untersuchungen angestellt worden wären. Aehnlich
verhält es sich in Oestreich, nur daß hier für die Maßnahmen der militärischen Vor¬
aussicht ein anders genanntes Organ, nämlich anstatt eines großen Generalstabes
eine Operativnskanzlei besteht.
Unter allen Umständen darf'man annehmen, daß Frankreich nicht durchaus ohne
eine ähnliche Einrichtung ist. aber dermaßen ist der factische Fall eines Bündnisses
zwischen dieser Macht und England und der gemeinsame Krieg gegen Rußland, zu
dem dasselbe führte, unerwartet eingetreten, daß man muthmaßlich einen Krieg im
Orient und zumal im schwarzen Meere und auf dem Boden der Krim zuvor gar
nicht in den Kreis der im voraus anzustellenden Berechnungen hineingezogen hatte.
Wäre dem nicht so, hätte mau in Frankreich den Pontusfcldzng vorher studirt gehabt,
hätte, als die ersten Dispositionen behufs desselben getroffen wurden, auch nur eine
reife Ansicht, ein einziges bewährtes Urtheil darüber festgestanden, so würde es un^
erklärbar sein, daß deßungeachtet bei Einleitung des Unternehmens so eclatante
Mißgriffe vorkommen konnten.
Sie kennen meine Ansicht über den Entschluß, den Krieg nach der Krim zu
tragen. Gegen die Wahl des Objectes kann durchaus nichts eingewendet werden.
Hier war der- vortheilhafteste Boden für den Kampf einer Armee gefunden, deren
Operationen sich auf die Beihilfe einer bedeutenden, den Euxiu beherrschenden Flotte
stützte. Außerdem war eine Halbinsel, die man in acht bis zehn Marschtagen
durcheilen konnte, ganz der Macht von noch nicht siebzigtausend Mann proportional,
mit der man den Krieg eröffnete. Aber wenn man gleich anfangs nicht mehr Kräfte
daran setzen wollte, mußte mau sich auf einen Ueberfall beschränken. Es galt also
einen Sturm ans Sebastopol, gleich nachdem man den Rayon der Festung erreicht
hatte, oder einen Schlag gegen das Heer des Fürsten Menschikoff. Der Flanken¬
marsch des letztern auf Baktschi Serai war nur für den eingetretenen Fall eine vor¬
treffliche Maßregel, daß man gegen allen gesunden Sinn sich gegen die Stadt, anstatt
gegen die Feldarmee wendete. Suchte man letztere auf, so hielt sie entweder zum zwei¬
ten Mal Stand, wie an der Alma, und durch den damals gemachten Fehler ihre Mitte
anzugreifen, anstatt ihren rechten (strategischen) Flügel zu umgehen, gewitzigt, brachte
man ihr dies Mal eine entscheidende Niederlage bei, oder sie wich und kam letztlich
bei Perekop an, bis wohin man ihr folgte. Aber diese Betrachtungen sind ziem¬
lich müßig, da man es unterlassen hatte, die gekantete Heeresmacht dnrch Beigabe
von Verpflegungscvlonnen (es waren dazu etwa 1ö—20,000 Packpferde nothwendig)
operationsfähig zu machen.
Eins war mit der Geringfügigkeit der anfänglich angreifenden Streitkräfte
nicht zu vereinigen, das Streben nach einer dauernden Besitznahme der Halbinsel.
Als Ziel konnte ein Feldherr, der an der Spitze von etwas mehr wie 60,000 Mann
landete, es sich nur setzen, flüchtige Schläge auszutheilen, möglichst weit vorzu¬
dringen und entweder dadurch Veranlassung zu geben, sich die nothwendigen Nach¬
schübe zusenden zu lassen oder letztlich wieder an Bord der Flotte zu gehen. Ich
setzte voraus, daß man zu diesem Zweck am „alten Fort" einen mit dem Werke
communicirenden Waffenplatz anlegen, die Türken mit der Ausführung und Besetzung
desselben beauftragen und sich damit eine Basis schaffen würde. Dieser Gedanke
hat sichtlich den ersten Operationen untergelegen, aber man verließ ihn leider
zu früh.
— Von einem hier in Umlauf begriffenen Gerücht, rück¬
sichtlich der von Frankreich, wie es heißt in Gemeinschaft mit England, ver¬
langten Ucberlcissnng von je zwei Dardanellen- und Bosporusschlössern und einem
weiten Lagerterrain bei Maslack werden sie schon anderweitig gehört haben.
Sie wissen, daß ich an und für sich geneigt bin, an der Wahrheit der
Nachricht zu zweifeln; indeß wird dieselbe mir nichtsdestoweniger von vielen
Seiten mitgetheilt und man macht Thatsachen zu ihrer Beglaubigung geltend,
die an und sür sich nicht in Abrede gestellt werden können und zwischen denen
einerseits und der in Rede stehenden türkischen Concession möglicherweise ein
Zusammenhang existirt. Factum ist es, daß man in der Umgegend von Maslack
seit mehren Wochen an ausgedehnten Lagerbaracken arbeitet; sodann, daß ans dem
asiatischen User des Bosporus, in Skutari, oder vielmehr Hayder Pascha ein ähn¬
liches englisches Hüttenlagcr bereits sertig dasteht; endlich, daß neuerdings Vermes¬
sungen auf dem Terrain diesseits zwischen den Höhen von Flamur und der ab¬
gebrannten türkischen Kriegsschule angestellt wurden, um muthmaßlich das hier
bestehende Feldlazarett) noch weiter auszudehnen und mit dem in der Kriegsschule
etablirten in unmittelbare Verbindung zu setzen.
Wenn das erwähnte Gerücht seine Bestätigung finden sollte, werden viele
Blätter und Blättchen, zumal regierungsfreundliche und halbosficielle, in Deutsch¬
land nicht ermangeln, Zeter zu schreien und die Westmächte offen anzuklagen, daß
sie das in Besitz nehmen wollten, was gegen Rußland zu vertheidigen sie zum Zweck
des Kriegs gemacht. Wie ich die Sache ansehe, handelt es sich bei dieser Ma߬
regel sür die Verbündeten selbstredend nur um eine temporäre Besetzung. Ich muß
gradezu in Abrede stellen, daß irgendeine kundgewordene drohende Stimmung unter
Türken oder Griechen sie bewegen könne, Schlösser an den Meerengen zu fordern,
auch daß sie irgendein Motiv haben mögen, eine gewassnete Hand aus Stambul
zu legen; was sie bezwecken, erscheint einzig und allein dies zu sein, Konstantinopel
als Hauptbasispunkt einzurichten, damit der Feldzug des nächsten Jahres, welcher
natürlich mit Mitteln und Kräften ganz andern Umfangs geführt werden wird,
eines local gut situirter Stützpunktes und vorgeschobenen Etappenortes nicht ent¬
behre.
n'illl<?g'«,!iu-'>?-/.-
— Die Periode, in welcher die im Mai eingetroffenen
massenhaften Verstärkungen der Verbündeten diesen eine namhafte Uebermacht über
die Russen verliehen, und es ihnen namentlich anheim stellten, von der Mitte
jenes Monats an die Initiative sich zu wahren, und gleichzeitig gegen die Tscher-
uaja hin, gegen Kertsch und die Festung selbst offensiv auszutreten, scheint nun¬
mehr an ihren Schluß gelaugt zu sein. Wir stehen damit abermals am Ende
einer Opcrativnsepoche, die sich über anderthalb Monate erstreckt, und mit der
Uebernahme des Commandos der französischen Armee durch General Pelisster an-
hebt. Sie wird nicht durch einen neuen Plan, welchen man den Operationen hätte
SU Grunde legen können, gekennzeichnet, sondern lediglich durch die größere Ener¬
gie, mit der man auf deu vorher schon beschrittenen Wegen vorwärtszubringen
bemüht ist. Die Unternehmung gegen Kertsch, gegen die kleinen Hafen am asowschen
Meere und gegen Auapa bildet im Ganzen nur eine verhältnißmäßig unbedeutende Epi¬
sode, denn die damit gewonnenen Resultate blieben der Hauptsache nach unbenutzt.
Was der in Rede stehenden Periode ihren Grenzstein setzt und den Beginn
einer neuen verkündet, in der andere Verhältnisse zum Dominiren berufen scheine»,
sind die Zuzüge, welche neuerdings die russische Feldarmee erhalten hat. Wir
leben dieselbe, infolge jener, wiederum ein weiteres Terrain occupiren, den Ver¬
bündeten von den Höhen der Farm Makenzie hernieder die Fronte eines Corps
von 40,000 Mann zeigen und eine Spitze gegen Tschorgun hin vorschieben. Alles
Kennzeichen dafür, daß Fürst Gortschakoff sich sür ausreichend stark erachtet, seinen
Gegnern gegenüber die Rolle der mehr passiven Defensive aufzugeben und zu einer
Mehr activen Vertheidigung überzugehen.
Es kann nicht verkannt werden, daß die bloße Kundgebung solches Entschlusses
schon einen merkbaren Einfluß auf die Maßnahmen des französischen Generalissimus
ausgeübt hat. Am Schlüsse des vorigen Monats waren es zwei Unternehmungen,
die bestimmt schienen, zu einer neuen Phase von Kriegführung überzuführen, und
eine dritte" war in der Vorbereitung begriffen; man wollte einerseits ein starkes
Armeecorps auf dem Plateau der Farm Makenzie festen Fuß fassen lassen, anderer¬
seits den Malakowthurm unter allen Umständen nehmen und somit den Fall der
Karabelnaja vorbereiten — endlich hatte man in Absicht eine neue maritime Expe¬
dition zu unternehmen, deren Bestimmung muthmaßlich das Sumpfmeer sein mochte,
und mittelst welcher man möglicherweise hoffen durste, auf die russischen Verbin¬
dungen, die in Perekop wie in einem engen Hals zusammenlaufen, einzuwirken.
^ Alle diese Pläne scheinen auf der Annahme gefußt zu haben: die Russen
würden durch etwa die Hülste der verbündeten Streitkräfte vor Sebastopol im
Zaum gehalten werden können, und man vermöge die andere Hälfte mit freier
Ungebundenheit zu verwenden. Nachdem man die Verstärkung des Feindes um
etwa 40,000 Mann erfahren hatte, mußte man auf sie Verzicht leisten, weil die
Voraussetzung, der sie ihr Dasein verdankten, nicht mehr existirte. Nicht nur Bes¬
auet wurde zurückberufen, um bei Jnkerman Stellung zu nehmen, sondern man
ging in Betreff des Angriffs gegen den Malakowthurm vou der brüsten Form des
unvorbereiteter Sturmes zu einer äußerst langsamen und methodischen über. Was
die maritime Unternehmung angeht, so scheint sie entweder ganz ausgegeben worden
zu sein, oder nur im reducirten Maßstab zur Ausführung zu kommen.
Was nunmehr zu erwarten steht, ist eine Operationsepoche, die möglicher¬
weise bis zum Schluß des nächsten Monats reichen dürfte und in welcher die Ver¬
bündeten sich wieder von außen/ d. h. von jenseits der Tschernaja her, enger gebun¬
den befinden werden. Weder zu einem Schlage gegen die russische Feldarmee noch
zu einer ins Gewicht fallenden maritimen Expedition wird General Pelisfier in
diesem Zeiträume ausreichende Kreiste haben. Aber es ist nichtsdestoweniger mög¬
lich, daß seine Energie endlich aus dem Punkte, dem er jetzt seine Hauptaustrengnng
zuwendet, nämlich gegenüber dem Malakowthurme und dem Stadttheil der Kara¬
belnaja triumphirt.
Wie es scheint will man in Paris immer erst durch die allerdringendstcn
Umstände zur Nachsendung von bedeutenden Massen gezwungen sein. Nachdem man
den ganzen Monat Juni hat verstreichen lassen, ohne einen neuen Heertheil nach
dem Orient zu senden, wird die Rückkehr der russischen Feldarmee zur offensiven
Vertheidigung es zu Wege bringen, daß man ein viertes Corps endlich abgehen
läßt. Dieses wird im September an Ort und Stelle sein, und es kann die Dinge
bis zum Winter balanciren. Was dann werden wird, das entzieht sich aller
menschlichen Voraussicht.
Wien, 22. October 1j.
Heute empfing ich einen Brief von Dir, der alt war, vorher aber zwey
andere die neuer das Licht der Welt erblickt hatten. — Den Graf Almazy
sehe ich hier tcigl. da er die Aufwartung bey'in Gtz. v. Baden hat; er ist ge-
Puzt wie ein Pfingstochse, und die Leute halten ihn für verrückt. Nach
Beterani will ich fragen. Mein Husten, nachdem er ü Wochen stark war, hört
nun auf, aber ganz kann ich ihn nicht los werden, bey den hiesigen Winden,
und dem Staube.
Du wirst schon wissen daß erst am I. Nov. der eigentliche Kongreß er¬
öffnet werden soll; das heißt so viel, daß die größeren Mächte unter einan¬
der sich vergleichen wollen, um am 1. Nov. zu declariren, was geschehen
soll. Dieses besondere Fest ist abzuwarten. Unsere Privatlage wird sich auf
einige Zeit verbessern, aber da die Folgen des jetzigen Kongresses wahr-
scheint, von der Art sein werden, daß sie neues Elend über Europa bringen
werden, so ist obige Verbeßerung doch nur temporair. Unweißheit und Egois¬
mus beseelen die hiesigen Berathschlagungen und der gute Wille der so viele
Menschen belebte, ist schändlich in die Schanze geschlagen worden. Mann hat
viel von Napoleon gelernt, unter andern auch die Frechheit. Diese trat bei
ihm vor seinem Falle ein: vielleicht ist diese Erscheinung das Zeichen des
Uebelbefindens mancher Großen. Da alle Briefe eröfnet werden, so kann
manu sich nicht ordentlich herauslasse», schon zu viel sage ich hier in diesem
Briefe: ich schreibe deßwegen auch selten. Wegen Dankelm. hat es glaube ich
Wolzogen übernommen ihm in Rußland weitere Anstellung zu verschaffen.
Edl. wird Dir darüber schreiben. —
Sachsen, halte ich vor der Hand, sür verlohren. Sart. gefällt mir nicht, er
macht gewaltige Prctensionen und ist dabey sehr schwerfällig; Gersdorf und
Edl. mögen ihn auch nicht. Ein paar sehr schöne warme Tage haben wir
gehabt, sonsten ist das Wetter meistens kalt und schlecht; die Feste bey Ge¬
legenheit des Jahrestages der Schlacht von Leipzig waren classisch schön, und
geriethen sehr gut.
Wien, ü. Februar 13.
Nun sind wir Halde am Ende. Die Hauptsache, das Schicksal Sachsens,
ist ausgesprochen, es wird zerrißen! im Laufe dieser Woche muß der Tractat
deshalben geschlossen werden, weil Lord Castlereagh nach London eilt, und
ein Resultat mitbringen will. Die Engl. geben Sachsen Preiß und die
Franz. schweigen still. Uns wird Erfurt!) und Fulda zu Theil werden,
obgleich Oeser. gerne an Bayern Fulda gäbe. Die Pr.(eußen) nehmen sich
selbst unsrer an; Sie umfaßen uns ganz, deßwegen müssen wir in ihr Horn
blasen, und dafür wollen Sie für uns Sorge tragen: Auch meinetwegen! auf
diese Welt komme ich nicht wieder, wenn die freye Wahl mir dazu gelassen
wird; es geht zu arg darin zu. Den hiesigen Auffenthalt habe ich nun dicke
satt, indessen kann, ich nicht eher weg, bis daß der Knoten geschürzt ist, und
hauptsächl. die Grundzüge der künftigen Verfaßung Deutschlands ausge¬
sprochen sind. Unsre Existenz ändert sich, in Ansehung des Ranges und des
Rechts auf dem Reichstage zu stimmen, gänzlich; und da es nun einmahl hier
so lange gedauert hat, so muß manu den Kelch bis auf die Hefen austrinken,
um sich nichts hinterdrein, daß manu etwas versäumt hätte, vorwerfen zu
können: hoffentl. geht es aber zu Ende dieses Monaths auseinander.
Meine Frühjahrs Uebel sangen an, seit ein paar Tagen sich zu regen, und
die Nieren thun weh; bis jetzt hat sich meine Gesundheit gut gehalten, von
morgen an, will ich wieder anfangen zu reiten.
Mit Wolzogen, Edling, Gersdorf, habe ich die größten Ursachen äußerst
zufrieden zu seyn, und ich muß mich glückt, schätzen diese Leute bey mir zu
haben: ohne sie wäre ich hier verrathen und verkauft. Die Oestreicher, weil ich
unter R.(ußischer) und' P.(reußischer) Protection stehe, wollen uns nicht wohl,
und möchten schaden wenn sie könnten. Die Erbärmlichkeit welche hier herrscht,
übersteigt allen Glauben; in Tirol und in, Italien macht sich das hiesige
Gouvernement ganz verhaßt, sogar in Dalmatien. Schwäche, Ungeschicklichkeit,
Falschheit sind die Grundzüge seines Characters. Leerheit ist der des von tems
in Wien.
Diese von uns schon mehrfach angeführte schätzenswerthe Sammlung ist
durch mehre neue Beiträge bereichert worden. Der bedeutendste darunter ist
eine Monographie über den General Pappenheim von Johann Eduard Heß,
ein sehr fleißig und sorgfältig ausgearbeitetes Werk, fast ausschließlich nach
Urkunden bearbeitet, die Frucht jahrelanger Studien über den dreißigjährigen
Krieg und ein höchst »richtiger Beitrag zum Verständniß jener merkwürdigen
Zeit. Wir wünschten lebhaft, daß in ähnlichen Monographien auf das De¬
tail der Geschichte näher eingegangen würde, da wir an allgemeinen Ueber¬
sichten keinen Mangel haben, und da es jetzt vorzugsweise darauf ankommt,
uns mit den kleinen Zuständen und Entwicklungen vertraut zu machen, die
der gewöhnliche Geschichtschreiber in seinem eiligen Lauf übersieht. — Die Ge¬
schichte des deutschen Kriegswesens von Barthold ist noch nicht weiter ge¬
führt worden. Wir behalten uns vor, nach dem Erscheinen der beiden folgen--
den Bände darauf zurückzukommen — Ebenso können wir über die Geschichte
der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts von I. W. Schäfer nur einige
vorläufige Bemerkungen machen. Schäfer hat sich durch seine Biographie
Goethes, obgleich dieselbe vielleicht etwas trockener ist, als zu wünschen wäre,
das große Verdienst erworben, in einer leicht faßlichen und doch im Ganzen
vollständigen Uebersicht die innere Geschichte des Dichters dem deutsche» Publi-
cum näher zu bringen. Wenn wir den Plan des gegenwärtigen Werks rich¬
tig verstehen, so will der Verfasser vorzugsweise auf diejenigen Beziehungen
eingehen, die in einer allgemeinern Literaturgeschichte nothwendig zurücktreten,
nämlich auf die besondern Verhältnisse, unter denen die geistige Thätigkeit
auch der minder bedeutenden Schriftsteller gedieh und sich geltend machte, das
stillere Wirken ihres Einflusses in den engern Kreisen u. s. w. In der Vor¬
rede bemerkt der Verfasser, daß das Verfahren vor allem in der Literatur des
vorigen Jahrhunderts seine Berechtigung hat, in welchem der Persönlichkeit
der Autoren ein weiterer Spielraum vergönnt war, und die geistige Richtung
der Nation weit mehr durch die Schriftsteller bestimmt und geleitet ward, als
diese zu sich heranzog und beherrschte. Wir können diese Methode für den
Zweck des gegenwärtigen Werks nur billigen, denn eine eigentlich kritische
Geschichte der Literatur, der es mehr darauf ankommt, die bleibenden
Leistungen zu constatiren und die Spreu vom Weizen zu sondern, ist für
ein unbefangenes Lesebuch keine angemessene Aufgabe. Wenn man dagegen
aus die Beziehungen der Schriftsteller zum wirklichen Leben eingeht, sie aus
demselben herleitet und darauf wieder zurückbezicht, so wird dadurch ein Stück
deutschen Lebens hergestellt, welches das Verständniß unsrer eignen Zustände
nur fördern kann. — Vollendet ist ein anderes Werk: „Mythe, Sage, Mähre
und Fabel im Leben und Bewußtsein des deutschen Volks;" 3 Bände, von
Ludwig Bechstein. Der Verfasser hat sich die Aufgabe gestellt, den poetischen
Inhalt, den das Volk gewissermaßen selbst producirt, in seinem innern Zu¬
sammenhang zu entwickeln. Er sucht zunächst das Gebiet der Sage als ur¬
sprüngliche Form des religiösen Bewußtseins festzustellen, geht dann auf den
Einfluß ein, den schriftliche Auffassungen aus die Vorstellungen des Volks
ausübten, und verfolgt diesen Einfluß bis in die neueste Zeit, wo die Märchen¬
dichtung nicht mehr naturwüchsig, sondern mit einer gewissen Reflexion aus¬
geübt wird; dann sucht er die Sagen geographisch zu ordnen, an die Besonder¬
heiten der deutschen Volksstämme und ihre sittliche Bestimmtheit anzuknüpfen;
zuletzt gibt er eine literarhistorische Uebersicht über die gelehrten und poetischen
Arbeiten, die in sein Fach einschlagen. — Das Studium des germanischen
Alterthums, so außerordentlich bedeutende Arbeiten es auch bereits hervorgebracht
hat, ist doch immer noch erst in der Periode des Werdens, und die Gelehrten,
denen die kritische Sonderung des Echten und Unechten obliegt, können durch
frühzeitige Popularisirung ihrer Forschungen nicht grade erbaut werden. Auf
der andern Seite hat aber auch das Volk das Recht, eine vorläufige Einsicht
in dieses ihm so naheliegende Feld zu verlangen, und so werden dergleichen
Arbeiten, so unfertig sie auch sein mögen, immer mit Dank aufgenommen wer¬
den. Wir hätten nur gewünscht, daß der Verfasser den belletristischen Schrift¬
steller weniger hervortreten ließe, als es geschehen ist.—
Ein höchst werthvolles und nach gewissenhaften Studien ausgearbeitetes
Werk, welches umsomehr als eine Quelle für die serbische Geschichte angesehen
werden kann, da der Verfasser bei seinem langjährigen Aufenthalte in jenen
Gegenden sich eine lebendige Anschauung der wirklichen Zustände erworben
hat. Daß er das Land, welches ihm werth geworden ist, in seiner allgemein
historischen Bedeutung überschätzt, darf man ihm nicht verargen, da dieses
Urtheil auf seine Darstellung keinen Einfluß ausübt. So groß oder so ge¬
ring der innere Werth jener Zustände sein mag, in ihnen liegt eines von bete
am schwersten zu lösenden Räthseln der europäischen Zukunft verborgen. So
günstig auch im gegenwärtigen Augenblick die öffentliche Meinung für die
Türken gestimmt ist, weniger aus innerer Sympathie, als aus Haß gegen
den gemeinschaftlichen Feind, so wird es doch wol nur sehr wenige geben, die
ernstlich an eine längere Zukunft für die Fortdauer des osmanischen Reichs
glauben möchten. Es kommt also vor allen Dingen darauf an, sich klar zu
machen, ob diese für den Weltverkehr so wichtige Ländermasse in der That dem
Schicksal unterworfen ist, von Nußland oder Oestreich verschlungen und so
jeder natürlichen Entwicklung beraubt zu werden, oder ob die einzelnen Theile
Lebenskraft genug haben, nach einer selbstständigen Existenz zu streben. Für
die Beantwortung dieser Frage ist das gegenwärtige Werk eine wichtige Vor¬
arbeit. Es ist außerdem bequem und selbst anziehend geschrieben und wird
deshalb auch auf das größere Publicum seine Wirkung nicht verfehlen. —
Die Sammlung, deren Plan wir schon im Frühern angezeigt haben, ist
jetzt bis zur ersten Lieferung des zweiten Theils fortgesetzt; es fehlt nur noch
die zweite Lieferung. Der zweite Theil enthält die Actenstücke über die innern
Verhältnisse Dentschlands seit Auflösung des deutschen Reichs, die Actenstücke
über Schleswig-Holstein und die Verträge in Beziehung auf die orientalische An¬
gelegenheit. — Daß bei der Unzugänglichkeit der größern diplomatischen Hand¬
bücher für das Publicum ein wohlfeiler und gedrängter Auszug wünschenswert!)
ist, haben wir schon früher angeführt, und die Auswahl und Arbeit des Ver¬
fassers ist im Ganzen verständig und sachgemäß. Aus das Weitere gehen wir
bei der Bollendung des Werkes ein. —
Mit dem vierten Bande ist dieses Werk, welches gewissermaßen zur Ein¬
leitung der Geschichte der Girondisten dient, geschlossen. Der Tod Mirabeaus
bildet die Scheidegrenze zwischen beiden. — Es geht Lamartine in seinen histo¬
rischen Werken gewöhnlich so, daß er am Anfang seinen Plan sehr breit und
ausführlich anlegt, daß er dann aber allmälig ermüdet und zuletzt mit unge¬
stümer Hast vorwärts eilt. So steht auch dieser Band an Ausführlichkeit den
früheren bei weitem nach, aber er liest sich nur um so pikanter, und da man
bei dem berühmten Dichter und Redner, der sich selbst in seinen politischen
Ercurscn stets von der Improvisation bestimmen läßt, und dem nicht blos die
Praxis, sondern selbst der Begriff der Kritik abgeht, ein eigentlich historisches
Werk nicht erwarten wird, so mag man sich dem Strom seiner Beredtsamkeit
um so ungestörter überlassen, da seine Wirkung nur für den Augenblick aus-
reicht und also im Ganzen unschädlich ist. Man trägt weder richtige noch
falsche Begriffe davon, man hat sich nur von dem Zauber der Sprache ein¬
wiegen lassen. — Wir wollen das Schlußurtheil Lamartines über die Be¬
deutung jener Zeit hier folgen lassen: „Die constituirende Versammlung hatte
einen Mangel an Einsicht oder an Willenskraft bewiesen, als sie den Tag
nach dem 1i. Juli versäumte, einen urmächtigen König und einen verdächti¬
gen Hof unter höflichen Formen zu entfernen und unter einem beliebigen
Namen die Diktatur in die Hände zu nehmen. Freilich konnte sie diese Dic-
tatur nicht selbst ausüben, denn die Versammlungen haben tausend Zungen,
aber keine Hände, sie denken, aber sie handeln nicht, wenn sie sich nicht, wie
der Nationalconvent, in einen unverantwortlichen Ausschuß concentriren, der
an Stelle der Dictatur die Tyrannei setzt. Aber es standen der constituiren-
den Versammlung Männer zu Gebot, die durch ihren Geist, ihren Rang
und ihre Popularität hinreichend dazu bestimmt waren, zeitweise über die
Nation jene durch kein Gesetz beschränkte Magistratur auszuüben, welche
alle Völker in Zeiten der höchsten Noth zu ihrem Wohl für nothwendig er¬
achtet haben. So war die Lage und das Bedürfniß Frankreichs 1790.
Zur Schande der Staatsmänner dieser Versammlung muß man sagen, sie
begriffen ihre Aufgabe nicht; nur die Volksführer begriffen sie. Erleuchtet
durch die revolutionäre Flamme, die sie zugleich begeisterte und verzehrte, waren
Marat, Robespierre und Danton die einzigen, welche damals dieses Mittel
vorschlugen, das allein der Revolution Kraft, Gedeihen und vielleicht Mäßi¬
gung geben konnte. Zwischen Mirabeau, Lafayette und dem Herzog von
Orleans, die alle drei zur Dictatur berufen schienen, mußte die Versammlung
sich entscheiden. Die Natur hatte sich für Mirabeau erklärt, die Popularität
für Lafayette. Der eine wie der andere konnte die Verantwortlichkeit über sich
nehmen, Frankreich in Belagerungszustand zu erklären, während es seine
Organe erneuerte und sein Leben auf der Schwebe stand. Mirabeau war
dieser Stellung als Staatsmann, Lafayette als Patriot gewachsen. Der eine
konnte steigen wie Marius, der andere abdanken wie Sulla. Der erste wäre
uns lieber gewesen, aber beide waren der unvermeidlichen Anarchie vorzu¬
ziehen, welche die Monarchie, die Republik, die Revolution und Frankreich ver¬
schlingen sollte. — Der Himmel und die menschliche Thorheit haben anders
entschieden. Indem man diese traurige und doch erhabene Geschichte schreibt,
wird man bald von Bewunderung der Philosophie, die sie hervorrief, ergriffen,
bald von Schmerz über die Ereignisse, die sie verwirren. Ueberall sagt man:
Ruhm sei der Revolution, Nachsicht den Menschen. So ists auch in der Natur.
Die Ideen sind göttlich, die Menschen sind Menschen. Das Gewicht der Idee,
die sie tragen, erdrückt sie; sie tragen sie einige Schritte, dann lassen sie sie
fallen in die Erschöpfung oder ins Blut. Es bedarf Generationen, um eine
Idee bis an den Ort zu tragen, welchen die Vorsehung ihr bestimmt, d. h.
bis zur festen Einrichtung. Wir wollen uns nicht entmuthigen lassen: Der
Mensch ist kurz, die Menschheit ist lang und Gott ist ewig." —
Die leichte weltmännische Methode, in welcher Herr von Neumond arbeitet,
ist bekannt; es kommt ihm mehr darauf an, von den Ergebnissen seiner Stu¬
dien den Schaum abzuschöpfen, als ihm eine feste, abgerundete und dauer¬
hafte Gestalt zu geben. Allein für kleine Beziehungen, die man bei vorgefaßten
Meinungen oder auch nur bei einem ernsthaften folgerichtigen Streben leicht Über¬
sicht, hat er ein feines Auge und seine Beschreibung ist anziehend und belebt.
Unter den kleinen Aufsätzen, die diese beiden Bände enthalten, heben wir ihres
Interesses wegen folgende hervor: Cardinal Wolsey und der heilige Stuhl;
die ständische Verfassung des Mittelalters in Savoyen und Piemont; Ben-
venuto Cellinis letzte Lebensjahre; die letzten Zeiten des Johanniterordens und
bonapartische Erinnerungen in Toscana. — So bilven nun diese vier Bände,
zu denen man als Ergänzung noch die Carafa von Maddaloni und die Jugend
Katharinas von Medici hinzufügen muß, zwar kein geschlossenes Ganze, aber
doch eine interessante Zusammenstellung von Studien über den nämlichen Gegen¬
stand, die grade ihres monographischen Charakters wegen den historischen
Sinn des Publicums zu fördern geeignet ist. —
Zwar ist es augenscheinlich die Absicht des Verfassers, durch diese Samm¬
lung für seine eigne Ueberzeugung, die Ueberzeugung des gemäßigten Deis¬
mus, Propaganda zu machen, aber man muß ihm zur Ehre nachsagen, daß
er sich möglichst objectiv gehalten hat. Er gibt Auszüge aus den Hauptschriften
der Philosophen und sucht dieselben in einen innern Zusammenhang zu bringen,
ohne ihnen zu sehr Gewalt anzuthun. Er erklärt in der Vorrede, seine Meinung
sei keineswegs, das denkende Bewußtsein unsrer Zeit könne sich noch bei den
einseitigen und kahlen Resultaten des sogenannten Zeitalters der Aufklärung
befriedigen. Die wahre, unsrer Zeit allein angemessene Form der religiösen
Aufklärung erzeuge sich fortwährend aus der Philosophie durch Popularisirung
ihrer Resultate. Um indessen dergleichen Resultate wirklich zu popularisiren,
>uuß man auf der Höhe der Philosophie stehen, und Männer, die soweit ge¬
kommen sind, pflegen sich mit populären Schriften im engern Sinne nicht
gern abzugeben, Am schwersten ist es, eine Geschichte der Philosophie zu
popularisieren, weil diese gewöhnlich durch Voraussetzungen bestimmt wird, die
der Masse des Publicums ganz fremd sind. Die Tendenz der Schrift wird
schon durch die Auswahl der Aufklärer bezeichnet. In den beiden ersten
Bänden, wo die Engländer und Franzosen behandelt werden, trifft man die
gewöhnlichen Namen wieder an; im dritten Bande finden wir folgende Schrift¬
steller: Dippel, Edelmann, Wolff, Reimarus, Bahrdt, Mendelssohn, Base¬
dow, Steinhart, Maubillon, Lesstng, Kant, (35 Seiten), Fichte, (1-1 Seiten),
Strauß und Feuerbach. Die Popularisirung Kants und Fichtes steht zuweilen
sehr drollig aus.—
Statt „historische Darstellungen" hätte der Verfasser seine Schrift auch
als novellistische Darstellungen bezeichnen können, denn obgleich der Stoff der
Geschichte angehört, ist die Behandlung durchaus im Feuilletonstil. Dagegen
wäre an sich nichts zu sagen, denn der Gegenstand verdient, unserm Volk immer
wieder von neuem eingeschärft zu werden und man darf kein Mittel verschmähen,
durch das man leichtern Zugang gewinnen kann. Allein Herr Mundt hat
dem Feuilleton zu Liebe die natürliche Ordnung und Folge der Geschichte
ziemlich stark durcheinandergeworfen und sein Stil verliert sich zuweilen in
Schwulst und Manierirtheit. Wäre das Buch rein zur Unterhaltungslectüre
bestimmt, so würden diese Fehler weniger hervortreten, da der Geschmack eines
großen Theils im Publicum mit dem Geschmack des Schriftstellers überein¬
stimmt; aber da es zugleich bestimmte Ansichten und Ueberzeugungen vertreten
und verbreiten soll, wäre etwas mehr Ernst und Bestimmtheit im Ausdruck zu
wünschen gewesen. -Am besten hätte der Verfasser gethan, die Regierungszeit
der Kaiserin Katharina II,, innerhalb deren sich seine Geschichte bewegt, in
ihrer Totalität darzustellen und nach der gewöhnlichen historischen Methode zu
verfahren: die Quellen zu studiren, sie kritisch zu prüfen, dann den Bericht
möglichst übersichtlich zu gruppiren u. s. w. —
Wir knüpfen an diese Gelegenhcitsschrift, die mit der bekannten Sorgfalt
und Gründlichkeit des Verfassers ausgearbeitet ist, eine allgemeine Betrachtung,
die sich aus das Schicksal der altberühniten Universität Königsberg bezieht.
Schon seit der Gründung der Universität Berlin ist man allmälig zu der Ueberzeu¬
gung gekommen, daß die kleinern Universiläte» sich auf die Dauer nicht werden
halten lassen. Seit der Zeit hat sich vieles ereignet, was dem Fortbestehen und
Gedeihen derselben immer mehr Abbruch thun muß. Durch die Eisenbahnen
sind die großen Städte einander so nahe gerückt und außerdem hat sich die
Verschiedenheit der Theuerung so ausgeglichen, daß der einigermaßen bemittelte
Student es selten für nöthig hält, in seiner Provinzialuniversität zu bleiben,
daß er sobald als möglich nach der Residenz eilt, wo ihm reichere Bildungs¬
mittel zu Gebote stehen und wo er sich auch leichter eine wirksame Protection
ZU erwerben hofft. Die Idee von der romantischen Isolirtheit des Studenten¬
lebens, mit welcher Schleiermacher bei der Gründung der Universität Berlin
die kleinern Lehranstalten in Schutz nahm, schwindet mehr und mehr aus der
Phantasie der Zeitgenossen; und wenn sich auch jeder noch gern an jene
träumerischen Jahre erinnert, so erkennt man doch mehr und mehr, daß
träumerische Zustände zu den sonstigen Voraussetzungen unsres Zeitalters nicht
mehr stimmen. Die Centralisation wird immer weiter um sich greifen und noch
viele von den kleinen Universitäten verschlingen. Es wäre aber ein sehr ernster
Verlust für Deutschland, wenn dieses Schicksal auch einmal Königsberg bevor¬
stände; denn Ostpreußen ist der gefährdete Vorposten der deutschen Cultur
und wenn man ihm seine geistigen Lebenssäfte entzieht, so wird es immer
weniger im Stande sein, seine Aufgabe zu erfüllen. Die Gefahr des allmäligen
Verkümmerns liegt aber in der That nahe. Jeder Gelehrte von einiger Be¬
deutung strebt dem Mittelpunkt in der Cultur zu und es müssen besondere
Umstände zusammentreffen, wenn er sich nicht bemühen soll, der isolirten Stel¬
lung sobald als möglich zu entfliehen. Hier ist es nach unsrer Ansicht Sache
des Staats, thätig einzugreifen. Die Fortdauer des geistigen Lebens in der
Provinz ist mit seinen eignen Interessen auss engste verknüpft und um diese
ZU erhalten, muß er Opfer bringen. Nur wenn der akademische Lehrer hoffen
kann, in jenem entlegenen Posten sich auch äußerlich eine günstigere Stellung
zu erwerben, als anderwärts, wird es der Universität gelingen, ihre bedeuten¬
der» Kräfte festzuhalten und das ist für das Gedeihen der deutschen Cultur im
Allgemeinen eine dringende Nothwendigkeit. —
Ein zweckmäßig eingerichtetes Compendium, welches vorzüglich sür den Ge¬
brauch von Schulen eingerichtet ist und gedrängt, aber doch deutlich die Haupt¬
sachen der preußischen Geschichte zusammenstellt. —
Der 1852 verstorbene Conferenzrath Pfaff hat in dem langen Lauf seines
Lebens Gelegenheit gehabt, mit den bedeutendsten Persönlichkeiten der deutschen
Literatur auf eine vertraute Weise bekannt zu werden und seine Denkwürdig¬
keiten bieten daher viel interessantes Material, Er wurde in der Stuttgarter
Karlsakademie erzogen bis 1793, studirte dann in Göttingen und machte in
den Jahren 1793—97 eine Neise durch Italien. Nach seiner Rückkehr lernte
er Schelling, Jacobi, Stolberg kennen und wurde auch mit den norddeutschen
Kreisen, auf deren Wichtigkeit wir vor kurzem aufmerksam gemacht haben, mit
Berger, Rist u, s. w. vertraut. Abgesehen von der Einsicht in die literarischen
Zustände, die wir aus diesen Denkwürdigkeiten gewinnen, werden uns auch
einzelne Aufschlüsse über die politischen Beziehungen Deutschlands zu Däne¬
mark zu Theil. Etwas Weitschweifigkeit wird man dem allen Herrn, der sich
um die Medicin und Naturwissenschaft große Verdienste erworben hat, gern
nachsehen. —
Der Versasser erzählt die Geschichte seines Volks aus einer sehr dunkeln
Periode mit einer Genauigkeit, die fast ängstlich zu nennen ist und die eine
sehr dankenswerthe kritische Grundlage bilden würde, wenn wir nur mit der
Methode der Kritik überall einverstanden sein könnten. Das ist aber keines¬
wegs der Fall. Am lebhaftesten wird man das Ungenügende derselben em¬
pfinden, wenn man die ziemlich ausführliche Kritik über das Buch Esther, welche
an den Schluß dieses Bandes gestellt ist, ins Auge faßt. Der Verfasser findet
selbst bei der Betrachtung der Geschichte, daß sie an vielfachen innern Unwahr-
scheinlichkeiten leivet und sich selbst häufig widerspricht. Er findet ferner, in¬
dem er die Localität und das Costüm, in weiches sie verlegt ist, ins Auge
saßt, daß sie gegen alle Voraussetzungen der wirklichen Geschichte streitet, kurz,
daß die ganze Erzählung einen sagenhaften, oder bestimmter ausgedrückt, da
die Absicht und Reflexion zu deutlich hervortritt, einen romanhaften Charakter
an sich trägt. Nun ist es immer möglich, daß solchen Romanen irgendein
historischer Zug zu Grunde liegt, aber wenn gar kein positiver Halt vorliegt,
an dem man diese Begebenheit in die wirkliche Geschichte einreihen kann, so
pflegt doch sonst der Geschichtschreiber sich damit zu begnügen, daß er er¬
klärt, er wisse den Zusammenhang nicht. Herr Herzfeld aber, in der Ueber¬
zeugung, der Sage müsse ein bestimmtes historisches Factum zu Grunde liegen,
und zwar müsse dasselbe am persischen Hofe stattgefunden haben, geht die Reihe
der persischen Könige durch und sucht denjenigen auf, dessen uns bekanntes
Leben am wenigsten den Voraussetzungen des Buchs Esther widerspricht. Als
solchen entdeckter den Terres. Zwar widersprechen auch hier die uns bekannten
Züge seines Lebens auf das unbedingteste den Vorstellungen des Buchs Esther,
aber dadurch läßt sich unser Verfasser nicht im geringsten irren. Er erklärt, der jü¬
dische Referent werde dieses oder jenes in den Einzelnheiten falsch aufgefaßt haben,
die Hauptsache aber müsse wahr sein, und er geht in seiner Ueberzeugung soweit,
daß er mit dieser Begebenheit sein Geschichtswerk beginnt; und so hat er es
auch mit den übrigen Geschichten gemacht. Ueberall befinden wir uns auf
unsicherem Boden, Sage und Geschichte werden beliebig durcheinandergeworfen.
Der Geschichtschreiber hat aber nicht die Aufgabe, nachzusehen, was von der
Sage möglicherweise mit der Wirklichkeit übereinstimmen könne, sondern er hat
genau festzustellen: dies ist ein historisch beglaubigtes Factum und dies ist
Sage, damit wir einen bestimmten, sichern Standpunkt gewinnen, von dem aus
wir vie Gesammtheit der Geschichte übersehen können. — Der zweite Band soll
die Entwicklung der Religion während dieser Periode enthalten und hier, wo
dem Verfasser reichhaltigere Quellen zu Gebote stehen, hoffen wir auf eine
correctere und reichhaltigere Darstellung. —
Die Ausgabe ist bis zur zehnten Lieferung fortgeführt, mit welcher der
dritte Band abschließt. Es ist das merkwürdigste Geschichtswerk, das uns
vorgekommen ist, das bunteste Durcheinander von Geschichte, Sagen, Anekdoten
Und Einfällen, das man sich irgend vorstellen kann, dabei aber doch mit
vieler Anmuth erzählt und nicht ohne ein gewisses belletristisches Interesse. —
Der Verfasser hat früher das große nationale Werk der Geschichte der
Eidgenossenschaft, welches von Johannes von Müller begonnen wurde, für die
Periode von 1713—1815 (fünf Bände) in französischer Sprache sortgesetzt. Die
gegenwärtige Ausgabe ist eine Zusammenstellung einzelner Bilder aus dieser
Periode für das größere Publicum, die jedoch in einem innern Zusammen¬
hang stehen und ein lebendiges Gesammtbild des 18. Jahrhunderts geben.
Die Erzählung ist lebhaft, von einer wohlthuenden patriotischen Färbung und
beruht auf gründlichen, erschöpfenden Studien. —
Eine Reihe sehr gründlicher und interessanter Monographien über den
Handelsverkehr der alten Welt. Wir wollen nur auf einige von den Resul¬
taten hinweisen. Der Verkehr mit dem Bernsteinlande ist nach dem Verfasser
zum großen Theile auf dem Landwege gepflegt worden und zwar ist Holstein
der Mittelpunkt gewesen, wo die Waare aus der Ostsee in die Nordsee trans-
portirt und dann aus den deutschen Flüssen weiter gefördert wurde. Was
Thule betrifft, so wird zwischen der Insel Thule und dem Lande um Thule
unterschieden; das erste ist eine Insel im Kattegat, das zweite die skandina¬
vische Halbinsel. Was die Begründung dieser Ansicht betrifft, verweisen wir
die Leser auf das Büchlein selbst. —
Diese Hefte sind dazu bestimmt, das größere Werk desselben Verfassers
über die Donaufürstenthümer, der sich bekanntlich längere Zeit daselbst als
preußischer Generalkonsul aufgehalten hat, zu ergänzen. —
Das Buch gehört zu einer größern Sammlung, von der seit dem Jahre
bereits acht Bändchen erschienen sind. Die bisherigen Hefte hatten ihre Stoffe
den alten epischen Liedern entnommen, in dem gegenwärtigen Band wird theils
dasjenige nacherzählt, was von Sagen der deutschen Vorzeit in den Werken
der mittelalterlichen Chronisten Ausnahme gefunden hat, theils das, was in
neuerer Zeit von den wissenschaftlichen Sagenforschern der mündlichen Ueber¬
lieferung abgelauscht und aufgezeichnet worden ist. Die Sagen sind in acht
Gruppen vertheilt. Die erste nimmt ihren Ausgang von der heidnischen Urzeit
und führt durch das Zeitalter der Kämpfe mit Rom vor und während der
Völkerwanderung bis zum Untergang der gothischen Reiche. Die zweite und
dritte Gruppe gibt die Sagen der Longobarden und der Franken, an welche
sich in der vierten die Sagen der karolingischen Herrscher anschließen. Die
fünfte vergegenwärtigt in einer Reihe von Misstonssagen und Legenden die
Pflanzung des Christenthums auf germanischem Boden, wie die Einwohnung
christlicher Denkart und Sitte in das Leben der Nation. Die sechste Gruppe
bildet der thüringische Sagenkreis, dem an Mannigfaltigkeit, Fülle und Con-
tinuität durch eine lange Folge von Menschenaltern hin unter allen deutschen
Stammsagen nur der longobardische sich vergleichen dürfte. Die Sagen der
siebenten Gruppe folgen der deutschen Reichsgeschichte durch das Zeitalter des
Ritterthums von Heinrich dem Vogler bis aus Maximilian „den letzten Ritter".
Die achte endlich schließt den Cyklus mit Sagen des protestantischen Zeitalters
„Ihr Mittelpunkt," fährt der Verfasser in der Vorrede fort, „die markige
Heroen und- Prophetengestalt Luthers, ist als die Grenzsaule anzusehen, wie
der alten Zeit überhaupt, so auch der Periode der geschichtlichen Sagenbildung.
Ueber sie hinaus wagt sich die Geschichtssage immer seltener und schüchterner
nur noch, etlichen auserwählten Lieblingen der Nation an das helle Licht der
Welthistorie nach; und so steht mit Fug und Recht am Schlüsse des Ganzen
„Ziethen und der Hexenmeister" als äußerster Vorposten der Volkssage mitten
im Jahrhunderte der Aufklärung." — Das Büchlein ist wegen seiner frischen,
ansprechenden Erzählung und wegen der Reichhaltigkeit des Materials allen
Freunden unsrer deutschen Vorzeit als eine angenehme und nützliche Lectüre zu
empfehlen. —
Ob diese beiden Schriften wirklich vom Herzog von Aumale herrühren,
ist uns nicht bekannt; jedenfalls ist der Verfasser ein sachkundiger, der seinen
Gegenstand nach langer und sorgfältiger Anschauung schildert. Da die Zuaven
die Lieblinge unsers Zeitungspublicumö sind, so kann eine ausführliche Schil¬
derung dessen, wofür man sie zu halten hat, nur von allgemeinem Interesse
sein. —
Bevor ich zur Darstellung der Angriffsoperationen gegen eine Festung
übergehe, wollen Sie mir gestatten, die Verhältnisse kurz zu erörtern, welche
es wünschenswert!) oder selbst nothwendig machen, sich eines Platzes zu be¬
mächtigen. Zwar ist der Glaube, daß man die meisten Festungen unberück¬
sichtigt und, wenn man ein kleines Corps vor ihnen zurückläßt, ohne Gefahr
im Rücken der vorwärts marschirenden Offensivarmee liegen lassen könne, in
neuerer Zeit und namentlich in Rücksicht auf die großen modernen Befestigun¬
gen, arg erschüttert worden: aber das Factum besteht nichtsdestoweniger, daß
Napoleon auf allen seinen Feldzügen nur dreimal in den Fall kam, in eine
große und auf die Kriegslage influirende Belagerung einzugehen, im italieni¬
schen Feldzuge (1796—97) gegen Mantua, im syrischen (1799) gegen Se. Jean
d'Acre, und im preußischen Kriege von 1806—7 gegen Danzig. Diese drei
Plätze sind die einzigen gewesen, welche jemals den Vormarsch der von ihm
selbst befehligten Heere zum Stehen brachten und denen es gelang, dem stets
dem freien Feld und den großen Bewegungsoperationen zustrebenden Führer
gegenüber, die Entscheidung in den Kreis ihrer Enceinte zu bannen. Der
Grund davon ist hauptsächlich darin zu suchen, daß in der gewaltigen Kriegs-
epoche, welcher die Feldzüge Napoleons angehören, die Armeen ganz plötzlich
zu einer enormen Größe angewachsen waren, während in Hinsicht auf die
Festungen damals neuere Principien noch nicht hatten zur Geltung kommen
können. Der syrische und italienische Feldzug sind grade die beiden Ausnahme¬
fälle, in welchen Napoleon eine kleine Armee zu leiten hatte; Danzig aber er¬
reichte schon -1807 die großen Dimensionen unsrer heutigen neuen Plätze.
Wenn Napoleon im Stande war, zur Beobachtung dieser oder jener Festung
ein Corps von 13-^20,000 Mann von seinem Heere abzuzweigen und mit dem
Rest weiter zu marschiren, so geschah es, will ich sagen, eben des Umstandes wegen,
weil dieser Nest bei einer Gesammtmasse von 100,000 Mann noch 80,000 be¬
trug; seine Vorgänger im siebenjährigen und in den früheren Kriegen, die
meistens nur zwischen 40 und 30,000 Mann zu führen hatten, würden nach
einer derartigen Detaschirung ihre Armee außer alle Proportion zu der des
Gegners gesetzt und eben dadurch die Chancen des Feldkrieges sehr zweifelhaft
gemacht haben, weshalb sie sich in der Regel entschlossen, denselben erst dann
wieder zu eröffnen, nachdem der belagerte Platz zum Fall gebracht worden war
und die Wiedervereinigung mit dem Belagerungscorps möglich wurde. Während
es Napoleon nur darauf ankam, eine seinen Rücken gefährdende Festung beob¬
achten oder im äußersten Falle cerniren zu lassen, waren die Feldherrn auf
ihre nachdrückliche Bekämpfung und Einnahme angewiesen. Diese Verhältnisse
sind, wie ich hoffe, klar und werden nicht mißverstanden werden. Sie sind
neuerdings wiederum in der Krim in den Vordergrund getreten, weil die Größe
des ursprünglich gekanteten Heeres auch hier (es waren nur zwischen 30 und
60,000 Mann), eine Detaschirung gegen Sebastopol und ein gleichzeitiges
Agiren im Felde nicht gestattete; sodann weil diese Festung mit ihren Dimen¬
sionen die der Angriffsarmee im Allgemeinen weit überstieg.
Was bei. dem großen Umfang der neueren Plätze, zu dem sie zunächst
durch die vom Polygvnalsystem gebotene Leichtigkeit bedeutende Räume zu um¬
fassen und sodann durch die Befestigung des Vorterrains (detaschirte Forts)
gelangt sind, am meisten berücksichtigt zu werden verdient, das ist der Umstand,
daß durch gesteigerte Ausdehnung das frühere Größenverhältniß zwischen
Festungen und Armeen wieder hergestellt worden ist, oder mit anderen Worten,
daß es, auch abgesehen von einer förmlichen Belagerung, einem modernen
großen Platze gegenüber nicht mehr statthaft sein wird, ihn mittelst eines ein¬
zelnen Corps unschädlich zu machen, sondern daß es hierzu eines bedeutenden
Theiles der ganzen Armee bedürfen, mithin eine Massentheilung nothwendig
werden wird, die man heure ebensosehr wie vor hundert Jahren zu vermeiden
Gründe hat.
Mit dem allen sind die eigentlichen strategischen Beziehungen zwischen der
feindlichen Festung und der Angriffsarmee, aus welchen sich die Nothwendig¬
keit erstere zu beobachten, zu cerniren oder zu belagern ergibt, noch nicht be¬
rührt worden. Es entsteht nämlich zunächst die Frage: worin denn im Grunde
genommen das Zwingende oder die Anziehungskraft besteht, welche die letztere
aus die Offenstvoperationen ausübt, und vermöge welcher ein Theil oder die
ganze Masse der Angriffsstreitkrüste in den Kreis ihrer Schlagweite hineinge¬
bannt werden. Ich vermag dieses Verhältniß dem Leser nicht klar zu machen,
ohne auf die Hauptlineamente des großen Krieges mindestens ein Streiflicht
fallen zu lassen.
Krieg ist im Allgemeinen eine Action im Raume; dieser Raum, welcher
gewöhnlich ganze Provinzen und Länder umfaßt, heißt das Kriegstheater.
Eine vormarschirende Armee will durch den Angriff allerdings zunächst des
Feindes Streitmittel vernichten — aber in letzter Instanz wird es doch immer
dieses Kriegstheater sein, welches sie mittelst des Sieges in Besitz nehmen will.
Diese Besitznahme kann nun nicht auf die Weise geschehen, daß die Offensive
>n der ausgedehntesten Fronte, beide Flügel an die Grenzen des fraglichen
Raumes anlehnend, vorgeht, bis sie das ganze Theater überzogen hat; an und
für sich würde keine Armee zur Formirung einer solchen Fronte ausreichen,
und dann würde dieses Arrangement den Nachtheil haben, daß die Vertheidi¬
gung irgendwo mit gesammelter Macht gegen die dünne Angriffslinie anrennen
und sie durchbrechen könnte. Im Gegentheil bewegen sich die Angriffskräfte
meistens auf einer oder mehren nebeneinander parallellaufenden und nicht zu
weit voneinander entlegenen Straßen. Letztere sind das, was man in der Kunst¬
sprache des Krieges die Operationslinie nennt. In Anbetracht, daß die Heeres-
wassen auf diesen Straßen meistens dicht beisammen gehalten werden, um,
wenn die Vertheidigung eine Schlacht bietet, schnell concentrirt werden zu
können, könnte man annehmen, daß im Kriege nur der von der marschirenden
Armee jeweilig occupirte und zwischen ihr und ven Gegner gelegene enge Raum
von Interesse sei, daß aber die bereits durchmessenen Strecken durchaus nicht
in Betracht kämen. Es wäre dies ein großer Irrthum; denn die bereits durch-
wesftne Operationslinie ist es eben, auf welcher alle jene Functionen sich
vollziehen, vermöge welcher die Existenz der Armee gesichert wird; auf diesen
Strecken geht die Nachfuhr alles Bedarfs an Lebens- wie an Kriegsmitteln
vor sich; desgleichen die Nachführung der Verstärkungen, und außerdem sind sie
der natürliche Weg, den man in, entgegengesetzter Richtung einzuschlagen hat,
wenn man im Felde eine entscheidende Niederlage erleiden sollte. Mit andern
Worten: die Operationslinie einer Angriffsarmee ist zugleich ihre eventuelle
RückzugSstraße. Es leuchtet ein, daß um dieser Umstände willen im Angriffs¬
kriege für einen Feldherrn nichts einen so hohen Werth hat, wie die Sicherung
seiner rückwärtigen Operationslinie. Gelänge es dem Gegner, sie zu durch¬
schneiden und aus ihr festen Fuß zu sassen, so würden dadurch alle jene oben
genannten Functionen ins Stocken gebracht werden; die Armee erhielte keine
weiteren Zufuhren an Proviant und Munition, keine Verstärkungen, vermöchte
nicht ihre Verwundeten und Kranken zurückzusenden und würde selbst außer
Stande sein, sich in Nachrichtverbindung mit der Basis, von der sie ausge¬
gangen wäre, zu erhalten. Käme eine Niederlage in der Fronte dazu, so möchte
die Lage gradezu verzweifelt werden und eine große Katastrophe in den meisten
Fällen unvermeidlich sein.
Alle Verhältnisse, welche dem Feinde eine Durchschneidung der rückwärti¬
gen Operationslinie zu ermöglichen im Stande sind, oder ihm bei diesem Un¬
ternehmen Vorschub leisten können, verdienen also an und für sich die vollste
Berücksichtigung der Angriffskriegleitung. Hierhin gehören alle Hindernisse, als
da sind große Sumpf- oder Strom- oder Gebirgslinien; weil alles, was im
Allgemeinen den Vormarsch erschwert, auch dem Bestreben förderlich sein wird,
seine Verbindungen zu unterbrechen. Mehr noch wie die Hindernißlinien ge¬
hören aber die Festungen in diese Kategorie, und zwar ganz besonders dann,
wenn sie mit den die Operationslinie durchschneidenden Hindernissen in Verbindung
treten. Denkt man sich eine in der Nähe der rückwärtigen Marschstraße eines
Angriffsheeres gelegene Festung unberücksichtigt gelassen d. h. nicht belagert,
nicht eingeschlossen, selbst nicht beobachtet, so ist zunächst klar, daß die Be¬
satzung derselben je nach Umständen die Opemtionslinie dann und wann be¬
unruhigen, Transporte wegnehmen, Couriere auffangen und in dieser Weise
großen Schaden bringen könnte. Derselbe würde sich vermehren, wenn der
Gegner ein Corps in den Rücken des Angriffs sendete, indem dasselbe in
der Festung ein festes Pivot für seine Operationen finden, mithin viel dreister,
als unter anderen Umständen denkbar wäre, auftreten würde. Ja das Vor¬
handensein der Festung könnte die Hauptmasse der feindlichen Armee bestimmen,
sich in den Rücken des Angriffs zu manövriren, wonach eine allgemeine Front¬
wendung, jedenfalls aber der Krieg in ungünstigere räumliche Verhältnisse für
den Angriff eintreten würde.
Bei der Frage, ob eine Festung belagert, eingeschlossen oder beobachtet
werden muß, ist es also entscheidend, ob dieselbe in der Nähe der Operations¬
linie, entweder aus dieser selbst oder in der Flanke des Vormarsches gelegen ist.
Liegt sie an einem Strome, an einer Sumpf- oder Gebirgslinie, so steigert sich
damit die Bedrohung, welche von ihr ausgeht. Wenn sie in einer entlegenen
Gegend des Kriegstheaters liegt und von welcher aus sie nicht auf die
Operationslinie des Angreifers einzuwirken vermag, wird immerhin der Um¬
stand Berücksichtigung verdienen, daß schließlich der Hauptwiderstand sich nach
dieser Richtung hinwerfen und alsdann der Platz Kern- und letzter Lebens¬
punkt der Defensive werden kann, unter welcher Voraussetzung der Versuch
einer vorherigen Einnahme selbstredend ein durchaus gerechtfertigter ist. Endlich
können noch Umstände besondrer Art das Interesse der Offensive, sich in den
Besitz einer Festung zu setzen, steigern. Hierzu gehören die Falle, wenn die¬
selbe bedeutende Vorräthe umschließt (wie Danzig 1807); wenn sie eine wich
tige Communication, etwa ein Defilee oder einen Paß abschließt, endlich wenn
sie nach ihrer Eroberung ein bedeutungsvoller Bastöpunkt für weitere Opera¬
tionen zu werden verspricht.
Ich will, bevor ich den eben erörterten Fragepunkt verlasse, noch kurz das in
Betreff Sebastopols obwaltende Verhältniß berühren. Dachte man sich die
Armee der Alliirten von ihrer jetzigen Position aus auf Baktschi Serai und
Simphervpol vperirend, so ist klar, daß sie der Festung gegenüber ein starkes
Corps nicht allein, sondern einen ganzen großen Heertheil zurücklassen müßte,
nicht nur um ihre Operationslinie gegen eine Durchschneidung, sondern
hauptsächlich, um ihre Basis zu decken. Letztere beruht auf den beiden Punkten
Kamiesch und Balaklava, insbesondere auf dem erstem. Wenn man dies be¬
rücksichtigt, vermag man sich kaum eine Situation zu denken, in welcher der
Angriff durch die Dispositionen, die er genommen, der feindlichen Festung einen
weitern Spielraum und zugleich einen entscheidendern Einfluß auf die Kriegs-
acuon gestattet hätte. Das Verhältniß wäre aber sofort ein andres, wenn man
sich die verbündete Armee in Eupatoria concentrirt dächte. Die feindliche
Operationslinie, welche von Perekop aus an jenem Platze vorüber auf
Simpheropol und Baktschi Serai läuft, käme nämlich durch diese Concentrirung
der diesseitigen Streükräfte ihrerseits in den Fall, von Eupatoria aus durch¬
schnitten zu werden. Es würde sich von dem Augenblick an, wo diese Maßregel
in Vollzug käme, nicht mehr darum handeln, Sebastopvl einzunehmen, sondern
nur darum, die russische Armee in einer großen Feldschlacht zu schlagen, denn
rings von Bergen und vom Meere eingeengt und ohne Zufuhr von Kertsch
und Perekop aus müßte dieselbe ihre derzeitige Position aufgeben, um ihre
Verbindung mit dem Isthmus wiederherzustellen. Gesetzt den für sie günstigsten
Fall: es gelänge ihr dies, ohne zur Schlacht gebracht zu werden, so würde
Zur förmlichen Belagerung von Sebaftopol alsdann nur noch der Umstand
einladen können, daß Die Vertheidigung inmittelst eines Rückschlags wiederum
die Verbindung mit der Festung gewinnen könnte (siehe oben), in jeder an¬
dern Hinsicht wäre eine einfache Beobachtung ausreichend; denn die Uebergabe
der Festung wäre von da ab nur eine Frage der Zeit.
Dieses führt mich darauf, hier ein Sachverhältniß klar zu machen, welches
für die richtige Würdigung der Bedeutung der Festungen von ausnehmender
Wichtigkeit ist. Wenn man sich vergegenwärtigt, daß eine Festung, insofern sie ein¬
geschlossen werden kann, nach ihrer Cernirung lediglich auf die innerhalb des Ver¬
theidigungskreises angehäuften Vorräthe angewiesen und letztlich zur Ohnmacht
gebracht und in dem Fall ist, sich ergeben zu müssen, wenn diese Vorräthe
verbraucht sind, so kann man behaupten: eine jede blockirbare Festung könne
durch das bloße Mittel der Einschließung überwunden werden; auch hat es mit
dieser Behauptung seine volle Richtigkeit. Allein es ist schon darum nicht das
empfehlenswertheste, weil es am langsamsten zum Ziele führt, weil die lange
Zeit, welche es erheischt, dem Feinde um so größere Chancen für eine etwaige
Umwandlung der Situation zu seinen Gunsten bietet, in deren Folge die
Einschließung leichtmöglich aufgehoben werden muß und weil endlich der mit
derselben beauftragte Heertheil diese lange Zeit hindurch zu keinen andern Opera¬
tionen verwendet werden kann.
Im schroffen Gegensatz zu dieser Methode, bei welcher kaum andere directe
materielle Verluste entstehen können, als wenn der Feind entweder von innen her
oder mittelst einer Diversion von außen die Einschließungslinie zu durchbrechen
suchte, steht der sogenannte gewaltsame Festungsangriff. Gleichwie die Ein¬
schließung nicht gegen allzuausgedehnte Plätze angewendet werden kann, sind solche
gegen den gewaltsamen Angriff sicher gestellt, deren hohe Escarpen und Evntres-
carpen eine Ersteigung ohne vorherige Bresche, sei es durch Leitern oder andre
Hilfsmittel, unmöglich machen. Neuerdings hat Sebastopol einen Beweis dafür
geliefert, daß an und für sich dieses Verfahren auch einer jeden mit einer
starken Garnison und insbesondere mit einer zahlreichen und machtvollen Ar¬
tillerie versehenen Festung gegenüber ausnehmend mißlich und wol gradezu
unthunlich ist. Es bedarf keiner weitern Erörterung , daß der gewaltsame An¬
griff in der verhältnißmäßig kürzesten Zeit in den Besitz des Platzes setzt,
daß er aber auch gleichzeitig enorme Opfer verlangt, und nur dann gerecht¬
fertigt werden kann, wenn Zeitersparung die'höchste Rücksicht ist.
Im September vorigen Jahres befanden sich die Alliirten Sebastopol
gegenüber durchaus in solcher Lage. Wenn die Expedition, welche damals nur
auf die Wegnahme der Festung hinzielte, gelingen sollte, mußte diese durch
einen Handstreich genommen werden d. h. durch den in Rede stehenden ge¬
waltsamen Angriff. Denn nur dann konnte man nachträglich die gekantete
Armee entweder wieder einschiffen, was in Ermangelung von Trains das Beste
gewesen wäre oder, den Platz zur Basis machend, den Russen im freien Felde
entgegentreten. Als man zur förmlichen Belagerung von Sebastopol schritt,
begab man sich in die Lage hinein, die nicht anders als eine äußerst unglück¬
selige bezeichnet werden kann.
Diese förmliche Belagerung steht mitten inne zwischen der Methode, den
Platz durch Einschließung und der, ihn durch den gewaltsamen Angriff in Be¬
sitz zu nehmen. Dieser Stellung entsprechend ist sie diejenige Verfahrungsart,
welche in der Regel einen mittelgroßen Zeitaufwand erfordert und die Ein¬
nahme mit mittelgroßen Verlusten erkauft. Geringer wie beim gewaltsamen
Angriff sind die letztern, weil die Annäherung an die Festung bei der förm¬
lichen Belagerung gedeckt d. h. unter Schutzmaßregeln gegen das directe feind¬
liche Feuer geschieht und größer wie bei der Einschließung ist der Verlust, weil
diese außerhalb Schußweite vor sich gehen kann und an und für sich die Noth¬
wendigkeit eines Kampfes nicht erheischt. Die Arbeiten, durchweiche der Vor¬
gang gegen den Platz gedeckt wird, nehmen aber Zeit hinweg; außerdem ver¬
mögen sie nur nacheinander ausgeführt zu werden und hierauf beruhtes, wenn
eine förmliche Belagerung Wochen, ja Monate hindurch dauert, während der
gewaltsame Angriff in wenigen Stunden zum Ziele gelangt. Kürzer als die
bloße Einschließung ist ihre Dauer dann, wenn sie mit dieser Hand in Hand
geht. In Sebastopol haben wir ein Beispiel vor uns, welches darlegt, daß
eine in förmlicher Weise angegriffene Festung länger zu widerstehen vermag,
als sie der bloßen Einschließung gegenüber ohne Angriff es vermögen würde;
denn es ist klar, daß, wenn dieser Platz seit September vorigen Jahres her¬
metisch nach außen hin abgeschlossen worden wäre, die Garnison ihre Eristenz-
und ihre Vertheidigungsmittel (Pulver, nicht Eisenmunition und Geschütz)
schon längst verbraucht haben würde. Die förmliche Belagerung ist darum die
am häufigsten zur Anwendung gebrachte Form des Festungskrieges, weil sie
gegen jeden Platz anwendbar ist.*) Wie untrennbar die ältere Kriegführung
sie mit der Einschließung, für verbunden erachtete, mag der Umstand belegen,
daß vor den Kriegen, welche infolge der'großen französischen Staatsumwälzung
entstanden, der Gebrauch allgemein war und bis ins Alterthum der Römer
und Griechen zurückverfolgt werden kann, Festungen, die man förmlich be¬
lagern wollte, zuvor durch eine ringförmige Verschanzungsliuie zu umfassen,
um ihnen jede Verbindung mit außen zu verbieten. Wenn man einen Entsatz
zu fürchten hatte, fügte man dem nach innen gewendeten Ring einen concentrisch
nach außen gekehrten bei. Man nannte diese Retranchements, welche zumeist
von enormer Ausdehnung waren, Contra- und Circumvattatiouslinien und sie
genügten in der Regel, wiewol nicht immer, die Belagerung gegen Zufällig¬
keiten und unvorhergesehene störende Zwischenfälle zu sichern. Die Anordnung
der Linien insbesondere wurde durch Terrainverhältnisse bedingt. Ihrer An¬
wendung widerstrebt in gewissem Sinne unsre heutige Taktik, wie auch der
Umstand, daß ihre Ausführung selbst zur Einschließung nur mittelgroßer
Festungen mehre Monate erheischt, wenig dazu einladet. Vor Sebastopol
haben die Verbündeten auf der Linie von Balaklava nach Jnkerman von
den Circumvallationslinien insofern Gebrauch gemacht, als sie hier eine fort¬
laufende Reihe von untereinander in wechselseitigen Feuerverbande stehenden
Werken errichteten, deren Zwischenriinme allerdings für Offensivbewcgungen
wohlweislich offen gelassen wurden; wollten sie ganz Sebastopol falso auch die
Nordforts) nach außen hin isoliren, so müßten sie sich zuvor des Plateaus
zwischen dem Bethel und der Bai bemächtigen und zwar würden die dort zu
etablirenden Vertheidigungssronten kaum anderswo als längs jenem Flusse und.
von dort den Kantschu entlang und gegen die Farm Makenzie hin sich ent¬
wickeln können. Das will sagen, man würde allein behufs der Deckung
nach außen hin eine Strecke von fünf deutschen Meilen zu verschanzen
haben.
Dieser ungeheure Aufwand an Zeit, Kräften und Mitteln, welchen die
Ausführung von Circum- und Eontravallationen erheischt, in Verbindung mit
dem Trachten nach möglichster Beschleunigung der Operationen, hat in den
Kriegen, welche der französischen Staatsumwälzung folgten, ganz von diesem
Verfahren als Einleitung der förmlichen Belagerung Abstand nehmen und es
vorziehen lassen, den Platz ausschließlich durch Truppen einschließen, nach
außen hin aber die Angriffsoperationen und das Einschließungscorps durch
eine Observationsarmee decken zu lassen. In den meisten Fällen, wo die Be¬
lagerung die Action im offnen Felde nicht zum Stillstand brachte, übernahm
aber das große Operationsheer die Pflichten der Observationsarme mit.
Um nicht zu weitläufig zu werden, will ich hier von diesem letztern Ver¬
hältniß ganz absehen und im nächstfolgenden Abschnitt mich lediglich auf die
Darstellung der Belagerungsoperationen beschränken.
Da man hier im Allgemeinen dem Widerstande von Kars keine lange
Dauer beimißt, so ist die Frage lebhaft in Erörterung gestellt worden, was
die nächsten und weiteren Folgen einer Einnahme dieser Festung durch die
Russen sein werden.
Wie ich nicht genug wiederholen kann, hat man dabei von einer ernsten
Bedrohung Konstantinopels, ja auch von einer jeden auf diesen Punkt nur
entschieden hinzielenden russischen Operation durchaus abzusehen. Es wäre
dies, von dem äußersten Basispunkt Alerandropol (Gümri) an gerechnet, ein
Marsch von mindestens 200 deutschen Meilen, auf Straßen, ti'e zum Theil
nur Saumwegc sind, und wo man Pferde, Esel, Kamele und Maulthiere als
einzige Transportmittel kennt: wo mithin im Besonderen die Artillerie, auch wenn
man sich nur auf die Mitführung leichter Feldstücke beschränkte und auf das nach¬
schleppen eines Bclagerungstrains verzichtete, schwer zu bewältigende Hinder¬
nisse fast auf jedem Schritt antreffen würde. Man denke sich dazu die Uner¬
läßlichkeit, die weite Operationslinie durch rückgelassene Streitkräfte zu decken,
wichtige Punkte auf derselben provisorisch zu befestigen und mit einer aus¬
reichenden Besatzung zu versehen, und erwäge letztlich, daß General-Murawieff
nicht über 4-0,000 Mann, ja nach ziemlich sicheren Nachrichten nur 35,000 Mann
unter seinem Commando hat, und der Lage der Verhältnisse nach nicht mehr
haben kann.
Im Grunde genommen hat den Nüssen auch wol kaum jemals die Ab¬
sicht vorgeschwebt, von dieser Richtung her soweit zu greifen; ja angenommen
selbst, sie vermöchten, was, wie eben nachgewiesen, nicht der Fall ist, auf der
Linie vom Kaukasus nach Stambul zu reussiren, und „Czarigrcid" sozusagen
vom Rücken her zu bedrohen, so würden ernste und gewichtige Zweifel sich da¬
gegen erheben: ob sie auch im Stande seien, die durch ein günstiges Unge¬
fähr der Umstände ihnen in die Hand gefallenen Vortheile zu behaupten. Auf
die Gewißheit der Erhaltung der gemachten oder zu machenden Erwerbungen
hat aber Rußland, dessen Politik sich seither als die consequenteste erwiesen
und welche bis dahin nicht einen Rückschritt gemacht hat, von jeher und mit
vollem Recht das meiste Gewicht gelegt. Dem Zaren (hierunter keine Person,
londern einen Begriff verstanden) kommt es nicht darauf an, ob diese oder
jene Beute ihm nach fünf oder zehn oder fünfzehn Jahren anheim fällt: denn
er hat Zeit und Muse zum Warten und ihm gilt kein Grundsatz höher wie
der: die Birne erst dann zu brechen, wenn sie reif geworden.
Was Rußlands asiatische Erweiterungspolitik angeht, so darf man, glaube
ich, bei Beurtheilung derselben einen Umstand vor allen anderen nicht unbe-
nicksichligt lassen. Die räumliche Continuität, welche in der weiten russischen
Ebene ausgesprochen liegt und dem Zarenstaate in Hinsicht auf seine Ge¬
sammtaction so sehr zu statten kommt, der er es allein zu danken hat, daß die
Kräfte, welche in Europa sich auf einem Gebiet von etwa 100,000 iH Meilen
snstreut finden, wenn es noth thut, dennoch verhältnißmäßig immerhin schnell
genug zusammengenommen werden und nach den meisten Richtungen hin rasch
und massenhaft vorwärtsgeworfen werden können, hört an der Steilwand des
Kaukasus auf. Das Nußland, was südwärts von dieser Gebirgskette gelegen
'se, verhält sich zum Ganzen des Reichs wie ein lose verbundenes Glied, trägt
>n seiner Bodenformation nichts von dem homogenen Charakter, der den Haupt-
Massen der zarischen Länder eigenthümlich ist, und schwerlich hat die russische
Staatskunst isganz gewiß mindestens nicht in näher liegender Zukunft) hier
Aussicht, das zu erreichen, was sie im Norden deS Kaukasus erstrebt, jene Ein¬
heit des Volkes nämlich, welche zumeist nur da sich erzielen läßt, wo sie von der
anderen Einheit der Bodennatur unterstützt wird.
Aus diesen Umständen folgert sich, baß die Politik deS Zaren in Trans-
kaukasien sich im Allgemeinen durchaus eine andere Aufgabe zu stellen hat, wie
im eigentlichen Rußland; daß jene Länder anders zunehmen, anzusehen und mit
ihnen anderes zu bezwecken ist. Sie werden kaum jemals dem großen natio¬
nalen Ganzen des russischen Reiches, und zwar schon darum nicht, abgesehen
von allen Naturhindernissen, die einer innigen Verbindung entgegenstehen,
einverleibt werden, weil auf dem südwärtigen Hange des Scheidegebirges eine
andere, von wesentlich verschiedenen Impulsen bewegte Welt, der Orient, ihren
Anfang nimmt. In dieser Hinsicht muß, denke ich, Transkaukasien als die
erste, sozusagen detaschirte Basis angesehen werden, welche Nußland in eine
Region, die seinen Hauptlandesmassen wenig verwandt und entschieden unassi-
milationsfähig ist, vorgeschoben hat, um jene von ihr aus im Wege des syste¬
matischen Vorwärtsgreifens sich zu unterwerfen.
Es durfte anfangs als sehr zweifelhaft erscheinen, ob der gegenwärtige
Krieg Nußland hierzu die erwünschte Gelegenheit bieten werde. Wenn Oestreich
gegen den Zaren zur Mitwirkung zu bestimmen gewesen wäre, würde mindestens
die englische Waffenmacht aus der Krim herausgezogen werden und diese dis¬
poniblen Truppen auf der Linie von Kars oder bei Batna haben verwendet
werden können, in welchen beiden Fällen es ziemlich unwahrscheinlich gewesen
wäre, daß der russische Feldzug über Alerandropol vorrückte. Indeß nahmen
die Dinge infolge des Nichtbeitritts Oestreichs einen Verlauf, welcher den
Nüssen die Erreichung ihrer nächsten Absichten sehr erleichterte. Es ist be¬
merkenswert!), daß sie erst dann dazu schritten, nachdem sich das Cabinet zu
Wien ausreichend bestimmt über seine demnächst zu verfolgende Politik aus¬
gesprochen hatte.
Kars ist die Mitte eines kleineren Landesabschnittes, der, zumal nach
Westen und Süden, von ziemlich steilen Bergketten umgrenzt wird. Als ein¬
zig befestigter Punkt innerhalb dieses Abschnitts ist sein Fall die nothwendige
Vorbedingung der Unterwerfung des ersteren. Die Russen werden, nachdem
sie in Kars ihren Einzug gehalten, damit ein Gebiet von etwa 330 in Meilen
mit einem einzigen Schlage und ohne weiteren Widerstand in Besitz nehmen,
und zwar werden ihre Vorposten bis auf die Hälfte des Weges zwischen
Alerandropol und Erzerum vorgelangen, ohne daß ihnen das Terrain, wie es
der Karte nach sich darstellt, türkischerseits streitig gemacht werden könnte.
Auf der Grenze des Sandschaks von Kars wird hierzu der Soghanly Dagh
die erste Gelegenheit bieten. Hier überschreitet die große Straße von Kars
auf Erzerum inmittelst von Paßwegen eine ziemlich schwierige Bergkette, die
an und für sich einem Vormarsch bedeutende Hindernisse entgegenstellt, und zu
deren Vertheidigung sich die Türken umsomehr aufgefordert fühlen werden, als
sie am ehesten dadurch sich den für ihre Defensivcmstalten in Erzerum benöthig-
ten Zeitgewinn verschaffen dürsten.
General Murawieff wird möglicherweise schon in diesem Monat, durch
den Fall von Kars, in den Stand gesetzt werden, den Soghanly Dagh zu
überschreiten. Damit hat er denn die weite Thalebene des Pastn Su oder
Aras (Arares) gewonnen und kann, nachdem er in den Pässen des erwähn¬
ten Bergzuges die nothwendigen Vorkehrungen zur Sicherung seiner Operations¬
linie getroffen, sich unverwandt auf Erzerum selbst wenden.
Muthmaßlich ist diese Hauptstadt sein Ziel für das laufende Jahr und
der locale Schlußpunkt der Campagne, wobei immer vorausgesetzt werden muß,
daß die russischen Operationen vom Glück begünstigt bleiben, und man dies¬
seits nicht im Stande ist, bis zum October eine der russischen Angriffsmacht
die Balance haltende Armee in Armenien zu sammeln. Gelingt letzteres, so
wird die Türkei in diesem Feldzug sicherlich nicht mehr wie das Sandschak von
Kars verlieren, ein Verlust, der dennoch nur als provisorisch anzusehen sein wird,
denn möglicherweise schließt mit diesem Jahre die Reihe der Kriegsunfälle ab,
und das Jahr 18ö6 bietet eine günstigere Situation.
Der neue Roman der Mrs. Stephens stellt sich an Glanz der Schilde¬
rungen ihrem vorigen gleich und wenn auch die Wahl des Stoffes insofern
nicht ganz glücklich zu nennen ist, als er nur zu excentrischen, wilden Gemüths-
zuständen Veranlassung gibt, so ist ooch in der Ausführung eine wirkliche und
ungewöhnliche Poesie nicht zu verkennen, die selbst den krampfhaften Zuckungen
der Leidenschaft den Schein eines gesetzmäßigen Lebens verleiht. Um die Na¬
turkraft des Zigeunerlebens zu schildern, hat sich die Verfasserin von der Nach¬
ahmung der empirischen Natur ganz entfernt gehalten und dieses höchst bedenk¬
liche Unternehmen ist ihr wirklich bis zu einem gewissen Grade gelungen. —
Auch der zweite Roman streift ans Excentrische. Eine der Hauptpersonen ist
ein indischer Prinz, dessen wilde, leidenschaftliche Natur zu den ungewöhnlich¬
sten Thaten treibt; aber dies Mal ist der Stoff ganz realistisch behandelt, mit
einem großen Geschick die Aufmerksamkeit und Spannung zu erregen und da¬
bei mit einem leidlichen Vorrath von gesundem Menschenverstand. Einige
Male geht der Verfasser mit seinen Schilderungen zu sehr in die Breite und
stört dadurch den natürlichen Fluß der Geschichte. — Die lustigen Soldaten¬
geschichten von Lever sind allgemein bekannt und beliebt. In dem gegenwär¬
tigen Roman entfernt sich der Verfasser aus dem gewöhnlichen Schauplatz
seiner Schilderungen, aus Irland, und vertieft sich in den bunten Schicksals-
. Wechsel der französischen Revolution, von der Schreckensherrschaft bis zur Ver-
heirathung Napoleons mit der Kaisertochter. Die Erzählung ist eine der
brillantesten des talentvollen Verfassers und wird ein dankbares Publicum
finden. — Der Roman: „die Lewell-Weiden" ist ganz naturalistischer Art. Es
ist das Aeußere der amerikanischen Zustände geschildert, ohne eine sehr erheb¬
liche humoristische Kraft. — Die Legenden des Westens sind kleine amerikanische
Originalgeschichten von verschiedener Färbung, aber meistens gut und ansprechend
erzählt. —
.j'.^,..,.-»,,
Die Verfasserin hat sich schon durch ihre beiden früheren Romane: Eine
Familie aus der ersten Gesellschaft, und: Welt und Wahrheit, einen verdienten
Beifall erworben, wenn sich auch ihre Schilderungen im Ganzen nur auf der
Oberfläche des Lebens bewegen. Das gegenwärtige Werk theilt die Vorzüge
der früheren und hat dabei den Vortheil einer geschickteren Technik. Zu jenen
Vorzügen rechnen wir einmal die solide, gewissenhafte Arbeit, die nichts un-
motivirt läßt und alles streng und gründlich prüft, und die Gesundheit und
Tüchtigkeit des Urtheils. Der letztere Vorzug würde in gesunden Zeiten nicht
viel sagen, in unsrer Zeit aber, wo die Romanschreiber meistens darauf aus¬
gehen, verschrobene Personen auftreten zu lassen, und wo sie selbst zum Theil
das Gefühl für den Unterschied des Anständigen und Unanständigen fast ganz
verloren haben, ist ein solches Verdienst sehr hoch anzuschlagen. Die Ver-
fassen» weiß in jedem Augenblick, welche von ihren Geschichten komisch und
welche ernsthaft wirken sollen, welche von ihren Personen zweckmäßig und
welche unzweckmäßig handelt, und darum erregt sie auch jedes Mal den Ein¬
druck, den sie beabsichtigt. Die Erfindung der Handlung ist nicht glänzend,
aber auch nicht ungeschickt. —
Wir constatiren zwei neue Bändchen der „Mohikaner" und ein Bändchen
„Große Männer im Hauskleide". Weitere Bemerkungen darüber zu machen,
halten wir für überflüssig. — Außerdem hat ein Herr Le Prince unternom¬
men, den Grafen Moltke Christo fortzuführen, und schon der erste Band ver¬
spricht, daß die Fortsetzung an greulichen Erfindungen dem Urbild nichts nach¬
geben wird. —
Der frühere Roman dieses Dichters, „der Irre von Se. James", hat
einen lebhaften Beifall gefunden, .was die zweite Auflage bezeugt, die soeben
in demselben Verlage erscheint. Auch der gegenwärtige Roman besticht durch
eine gewisse harmlose Gutmüthigkeit, durch die Liebe, mit der der Verfasser
auf die Scenen und Staffagen seiner Jugenderinnerungen eingeht, und durch
die Ehrlichkeit in seinen Empfindungen. Der eigentliche Lebensinhalt ist aber
ziemlich dürftig, umsomehr, da der Held des Romans, der zugleich ein Schrift¬
steller ist, sich nach allen Symptomen als ein Dilettant ausweist. —
Wir haben schon bei der Anzeige der beiden frühern Bände bemerkt, daß
der Stand des Verfassers oder des Helden sich dies Mal nicht blos auf das
Costüm bezieht, sondern ganz ernsthaft gemeint ist. Es werden die praktischen
Beziehungen eines Arztes, der sich viel im Leben versucht und viel mit Schwie¬
rigkeiten gekämpft hat, nach allen Seiten hin entwickelt, und wenn auch die
Frische und Lebhaftigkeit der Erzählung um vieles kräftiger sein könnte, so
findet man sich doch auf positivem Boden und kann sich seiner eignen Erfah¬
rungen erinnern. —
Es sind die Lebensschicksale von vier verschiedenen Personen, die von der
Kindheit bis zum reifern Alter verfolgt werden, die sich aufs mannigfaltigste
durchkreuzen und einen nicht uninteressanter Parallelismus zu Stande bringen,
da sämmtliche Stände der Gesellschaft darin vertreten sind. Die Erzählung ist
skizzenhaft, aber munter und lebhaft. —
Ein sehr interessanter Beitrag zur Detailgeschichte des Befreiungskrieges.
Rittmeister von Colomb hatte seine Schule.als leichter Cavalerievffizier in den
Rheinfeldzügen 1792—9-i unter dem Obersten von L'Estocq, dem Commandiren-
den des ehemaligen Ziethenschen Husarenregiments gemacht, der neben Blücher sich
in dem Borpostenkriege jener Campagnen besonders ausgezeichnet hat. Doch fand
er erst weit später Gelegenheit, seine hier gesammelten Erfahrungen praktisch an¬
zuwenden. Denn zwar sollte er schon -1807 bei Gelegenheit der Erpedition Blüchers
nach Schwedischpommern ein Streifcorps von Selstranzivnirten bilden, aber der
infolge der Schlacht von Friedland abgeschlossene Friede von Tilsit vereitelte diesen
Plan. Als sich endlich -1813 die Aussichten für Preußen wieder besser gestal¬
teten, war Colomb überzähliger Rittmeister im brandenburgschen Husaren¬
regiment und übernahm das Commando über die freiwilligen Jäger, von
denen sich die meisten Militärs damals nur sehr wenig versprachen. Es gelang
jedoch seinem eigenthümlichen Geschick, seine Schwadron in cirri Zustand zu ver¬
setzen, der weit besser war, als die der meisten übrigen und er führte sie in
der Schlacht von Lützen zuerst ins Feuer. Auf dem nun folgenden Rückzüge
war es, wo er Abends am Bivouacfeuer im Lager von Meißen auf seine alte
Lieblingsidee zurückkam, sich als Parteigänger zu versuchen, mit seiner
Jägerschwadron in der sächsischen Schweiz über die Elbe zurückzugehen, auf
dem Kamm des Erzgebirges längs der böhmischen Grenze so unbemerkt wie
möglich bis etwa in die Gegend von Auerbach im Bvigtlande zu gelangen, dann
herabzusteigen, gegen die Saale vorzugehen, sich in dem kleinen Waldgebirge
zwischen diesem Fluß, der Orla und der Roda zu postiren und vou da die ver¬
schiedenen Straßen zu beunruhigen, welche aus dem südlichen Deutschland und
vom Rhein bis Mainz hinab nqch der Elbe fuhren. General Blücher wollte
anfangs seine Einwilligung dazu nicht geben, da seine jungen Leute viel zu
wenig kriegerische Erfahrung für ein solches Unternehmen hätten, that es aber
zuletzt doch aus Zureden Gncisenaus mit den Worten: „Wenn er denn zum
Teufel fahren will, so fahre er!" Colomb erhielt jedoch nicht die ganze Es-
cadron, sondern nur 90 Pferde, worunter zehn Husaren unter dem Lieutenant
von Katte, das übrige freiwillige Jäger unter dem Lieutenant Eckardt, ehe¬
maligem Justizrath, der bisher viel militärischen. Eifer und Anlage an den
Tag gelegt hatte. Die meisten seiner Kameraden nahmen von ihm Abschied
auf Nimmerwiedersehn. Nur der Oberst Katzler, der alte Blüchersche Husar,
fand die Sache ganz nach seinem Geschmack.
In der Nacht des 10. Mai um elf Uhr setzte das kleine Corps ohne
Störung aus einer Fähre über die Elbe, ^ab schlich sich dann mitten durch
die französischen und sächsischen Vorposten, deren Anrufen sie hören konnten,
durch die Waldung nach Hellendorf, ohne Spitze und Seitenpatrouille, als wäre
es ein Kommando mitten unter Freunden. Auf diese Weise gelangte Colomb
mitten durch eine Grenzpostirung von polnischen Ulanen, die bestimmt waren,
den zurückkehrenden König von Sachsen in Empfang zu nehmen, nach Bären-
stein, wo er Nachricht erhielt, daß der Vicekönig von Italien über Frei¬
berg zurück nach Hause reisen werde, nach Marienberg, wo er bei den Ein¬
wohnern die zuvorkommendste Aufnahme fand, um Plauen herum und nach
Neustadt, das er wegen seiner vortheilhaften Lage zum Mittelpunkt seiner
Operationen gewählt hatte und von wo aus er sich mit dem schleizischen Major
und Kammerherrn von Strauch und dem Assessor Schwarz in Rudolstadt in
Verbindung setzte, die ihn mit den werthvollsten Nachrichten versahen. Schon
unterwegs waren mehre einzelne feindliche Offiziere mit Depeschen gefangen ge¬
nommen worden. Die eigentliche Wirksamkeit des Streifcorps fing aber erst jetzt
an. Von der Ansicht ausgehend, daß stete Bewegung in einer so isolirten Lage die
Sicherheit geben müsse, nicht vom Feinde umgangen zu werden, blieb Colomb
nie länger als ante bis zehn Stunden an einem Orte, zog Nachtmärsche vor und
verweilte auf großen Straßen gar nicht. Auf den Märschen bediente er sich
selten der Avant- oder Arriöregarde, hatte nur doppelte Spitze und gleiche
Zwischenposten vor- und rückwärts und eine Scitenpatrouille rechts wie
links, sonst alles beisammen — anfangs, um Zersplitterung zu vermeiden
und die. noch Unerfahrenen stets in der Hand zu haben, später in der ge¬
wonnenen Ueberzeugung, daß so jeder vom Augenblick befohlene Entschluß am
raschesten ausgeführt werden könne. In der Nacht hielt sich Colomb vom
Trupp entfernt in der Nähe der Spitze, um ungehindert durchs Geräusch des
Marsches horchen zu können; am Tage begab sich sowol er, wie Katte viel¬
fältig aus die neben den Straßen befindlichen Höhen, um Umsicht zu gewinnen.
Da er sich im Stande der Ruhe nach allen Seiten decken mußte, so durste
der Umkreis der Vedetten nicht zu groß sein, um deren nicht zu viel zu er¬
fordern: abgesonderte Feldwachen hätten zur Zersplitterung geführt. Deshalb
wurde die Feldwache in Bivouac selbst auf einem besondern Platz zusammen¬
gestellt, von wo die Vedetten abgelöst wurden und von dieser Regel nur ab-
gegangen, wenn die Oertlichkeit es nothwendig machte. Die Vedetten wurden
den sonstigen Regeln entgegen größtentheils nur einzeln gestellt. Von dem
ganzen Commando fütterte stets nur die Hälfte und ebenso wurde umge¬
sattelt; und zum Aufenthalt wählte Colomb womöglich den Wald oder auch
solche hochgelegene Orte, die eine Uebersicht der ganzen Gegend gestatteten.
Konnte einquartirt werden, so geschah es nur beriet- oder zugweise und in
geschlossene Höfe, die Feldwachen nach der Localität außerhalb oder auf
den Zugängen. Die Instruction war: alles bleibt bei den Pferden in den
Ställen, das Thor des Hofes geschlossen, ein Posten zu Fuß mit dem
Carabiner dabei. Dasselbe wird im Falle einer Alarmirung unter keiner
Bedingung eher geöffnet, als bis alle zu Pferde sind, um dann zusammen
hervorbrechen zu können. In dieser Verfassung begann Colomb am 22. Mai
seine Streifereien und er überfiel an diesem Tage ein Commando französischer
Kürassiere im Dorfe Züllnitz bei Lobethal, die alle in Gefangenschaft geriethen,
und einige Tage später in derselben Gegend einen großen, von Würtenbergern
geleiteten Transport, dem er 12 vierspännige Wagen, 51 Pferde und über 30
Gefangene abjagte. Ein bedeutender Fang stand ihm aber jetzt bevor. Herr
von Strauch hatte ihm sagen lassen, daß ein großer Artillerietrain über Bai-
reuth und Hof komme und wahrscheinlich schon in Plauen oder Reichenbach
sei; die Bedeckung sei drei- bis fünfhundert Mann stark. Am 28. Mai bei
Reichenbach angekommen, erfuhr Colomb, daß der Train bereits am vorigen
Tage hier vorbei gekommen sei und in Zwickau Ruhetag habe. Er ließ ge¬
flissentlich die Nachricht verbreiten, daß er nun das Unternehmen ausgebe und
marschirte wirklich nach Mylau zurück, umging dann aber Zwickau auf der
böhmischen Seite und stellte sich früh fünf Uhr am 29. in dem Pohlwald auf
der Höhe zwischen Zwickau und Mülsen auf. Die Karte. hatte ihn erwarten
lassen, daß der Wald sich bis dicht an die Straße ziehe; eS zeigte sich aber,
daß er grade auf dieser Seite in einer Breite von 200 Schritt frisch
abgeholzt war, so daß es unmöglich wurde, hier mit den Pferden überraschend
vorzubrechen. Deshalb mußte er sich entschließen, obgleich es schon Heller
Tag war, das Commando auf 100 Schritt auseinandergehen und einzeln
über die Straße nach dem jenseitigen Wald jagen zu lassen, wo er eine gün¬
stigere Aufstellung fand. Einige Leute, die zufällig Zeugen dieses Manövers
gewesen waren, unter andern ein Fuhrmann, der nach Zwickau fahren wollte,
wurden festgehalten und mitgenommen.
Nach einer ernsten Ermahnung an seine Mannschaft traf Colomb seine
Dispositionen. Die von Zwickau kommende Straße führt durch einen tiefen
Hohlweg einen Theil des Berges hinauf, sodann durch eine ziemlich ebene
Gegend ungefähr 1L00 Schritt, immer aufsteigend bis auf die Höhe, wobei
sie einen Bogen rechts macht. Den Lieutenant von Katte legte Colomb mit
3i Pferden oben im Walde, die übrigen acht- bis neunheundert Schritt wei¬
ter gegen Zwickau zu unter seiner eignen Anführung in einem ziemlich weit
von der Straße entlegenen Erlenbusch in den Hinterhalt. Er selbst schlich
sich zwischen einzelnen Büschen auf einen Punkt, von wo aus er einen voll¬
ständigen Ueberblick über die Straße von da aus, wo sie den Hohlweg ver¬
ließ, hatte. War die Avantgarde von einer Stärke, die Katte überwältigen
konnte, so wollte man sie bis auf die Höhe vorgehen lassen, wo sie dann
Katte zuerst angreifen sollte, auf dessen Signalschüsse Colomb folgte; das
Umgekehrte war verabredet, wenn sie stärker war. Vier Mann wurden aus¬
gesucht, um während des Angriffs aus die Bedeckung grade auf die Colonne
loszusprengen, ein paar Trainsoldaten von den Pferden zu hauen und Pferde
zu erschießen, um Verwirrung hineinzubringen. Die Reitknechte mit den
Handpferden, einige berittene Führer und die festgenommenen Leute wurden
benutzt, um den Wald besetzt erscheinen zu lassen. Um sieben Uhr erschien
die aus i7 Pferden bestehende Avantgarde auf der Straße, machte aber bald
Halt, was Colomb ztt dem Glauben veranlaßte, man habe Nachricht bekom¬
men; doch setzte sie sich wieder in Marsch, als die Fahrzeuge durch den
Hohlweg heraufgekommen waren. Die Infanterie der Bedeckung marschirte in
kleinen Trupps zu beiden Seiten, die Cavalerie bildet den Schluß. Als Co¬
lomb 70 Fahrzeuge gezählt hatte, hörte er Katte's Signal, worauf er eben¬
falls sofort zum Angriff vorsprengte. „Um den hinten marschircnden Haupt-
trupp anzugreifen," berichtet er in seinem Tagebuche, „mußte ich etwas rechts
gehen und befand mich, als ich der Straße nahe war, unerwartet vor einem
schmalen Wiesengrund, den ich nur auf einem Damm passiren konnte, mußte
zu Dreien abbrechen und wieder aufmarschiren, was mit nicht allzusehr geübten
Reitern und mit Pferden, die schon eine gute Strecke im weichen Acker ge¬
laufen waren, aushielt und mich besorgen ließ, daß ich Katte nicht zeitig
genug unterstützen würde. Glücklicherweise hatte der Feind nach dem gesehen, was
auf der Höhe vorging, uns gar nicht bemerkt und sich eben formirt, um seiner
Avantgarde zu Hilfe zu kommen, als wir herankamen. Im Augenblick setzten
wir über den Graben an der Straße und nach einem kurzen Handgemenge
wurde das, was wir vor uns hatten, den Berg hinaufgetrieben, während Katte
die Avantgarde herunterjagte; sie konnten ihre Pferde nicht regieren, ritten
sich wechselseitig um und wir schonten die Klinge nicht. Bis zu diesem Augenblick
war der Kampf auf der Straße neben den Fahrzeugen gewesen; das Getümmel
ging aber nun über den Graben ins Feld und was nicht heruntergehauen oder
gefangen war, wurde in den Hohlweg hineingejagt. Die Infanterie war in¬
dessen in verschiedenen Trupps ins Korn gesprungen und machte ein lebhaftes
Teuer, sobald wir nicht mehr alt den Ihrigen vermengt waren. Ohne Zeit
Zum Sammeln zu haben, rief ich den Jägern zu: „„auf die Infanterie!""
Und hier kann ich sie wie die Husaren nicht genug loben; sie fanden sich zu
6 bis -10 zusammen, ritten die einzelnen Trupps mit der größten Entschlossen¬
heit über und nahmen einen nach dem andern gefangen. Einige 30 Mann
hatten schnell die Nähe eines kleinen Gehöfts und Gebüsches erreicht, wo sie
entkommen zu können schienen. Alles war auseinander; mir blieb kein Mittel,
sie anzugreifen; ich mußte ein anderes versuchen. Da ich im Getümmel
erkannt hatte, daß es Italiener waren und der Zufall es so besonders
glücklich fügte, daß grade der Oberjäger von Heuthausen, der italienisch sprach,
in meiner Nähe war, nahm ich ihn mit mir, ritt mit eingesteckten Säbel, das
Schnupftuch in der Hand und damit winkend, auf sie los; sie ließen uns
ohne zu schießen herankommen. Nun ließ ich ihnen sagen, sie könnten den
Kosacken nicht entgehen, möchten sich lieber uns ergeben, wir würden sie gut
behandeln; denn wir führten nur Krieg gegen die Franzosen und hätten die
Italiener lieb; warum sie sich für Napoleon opfern wollten? u. f. w. Sie
waren unterdessen in einen Halbkreis um uns herumgetreten; einige schlugen
die Kolben von ihren Gewehren ab, ciAe aber kamen mit uns und ließen sich
ruhig entwaffnen. Kaum war dies geschehen und ich beschäftigt, nur wieder
einen Trupp zu sammeln, so wurde mir gemeldet, es komme noch eine Es¬
cadron von Zwickau herauf. Ich ließ Appel blasen, konnte aber kaum 30 Pferde
nebst dem Lieutenant Eckardt zusammenbringen, mit denen ich entgegenging und
dem in der Straße vorkommenden Feind eine gleiche Front entgegensetzen
konnte. Näher gekommen, erkannte ich einen Offizier an der spitze, den ich
schon im Handgemenge gesehen hatte, überzeugte mich also, daß ich eine bereits
geworfene Truppe vor mir hatte und commandirte Marsch Marsch! Der Feind
nahm die Attake an und es entstand ein ernsthaftes Handgemenge, in welchem
die über 60 Pferde starke Abtheilung, die in der Straße zwischen den Gräben
zusammengedrängt war, geworfen und den Berg hinab bis über die Mulde¬
brücke getrieben wurde, wobei viele stürzten, mehre aber nebst dem sie führen¬
den Offizier gefangen wurden. Nun trug ich dem noch hinzugekommenen
Lieutenant von Katte auf, mit Eckardt die Verfolgung durch die Stadt fortzusetzen.
Ju derselben fanden sie eine außerordentliche Theilnahme; denn als nach been¬
deter Verfolgung die gemachten'Gefangenen auf dem Markte gesammelt wurden,
verbanden Damen den durch einen Hieb im Arm verwundeten Katte. Während
dies geschah, erfolgte die Erplosion der Munitionswagen und veranlaßte den Aus¬
bruch eines allgemeinen Jubels. Ich war nämlich von der Mulvebrücke zurückgeeilt,
den Train zu zerstören, ließ ihn neben der Straße auffahren und fand, daß wir
18 Kanonen, 6Haubitzen, 36 gefüllte Munitionswagen, 4 Vorrathslaffeten, einige
Feldschmieden und andre Wagen, zusammen 72 Fahrzeuge und 398 Pferde hatten."
Die Zahl der Gefangenen betrug 373 Manu, darunter sechs Offiziere, ferner
eine Schöne, die für die Frau eines der italienischen Offiziere galt. Die Fran-
zosen hatten sie ritterlich vertheidigt, denn um den Wagen, in welchem sie saß,
fand Colomb die gefangenen Offiziere sämmtlich mit blutigen Köpfen. Sie
wurde nebst den Offizieren und Blessirten nach dem Dörfchen Pohlau ge¬
schafft. Der den Train commandirende Capitain suchte der Zerstörung desselben
dadurch vorzubeugen, daß er Colomb vorstellte, er werde sich dadurch ein schlech¬
tes Loos bei den Franzosen bereiten, denn der Gefangenschaft könne er doch
nicht entgehen; .aber unser wackerer Rittmeister ließ sich dadurch nicht abhal¬
ten, sondern ließ die Wagen verbrennen und in die Luft sprengen, 24 Geschütz¬
röhre vernageln, die Visire abseiten und sie auf andere Weise untauglich
machen. Von den Pferden wurden die besten ausgesucht und mitgenommen,
viele an die Bauern verschenkt und die untauglichen erschossen, die Gefangenen
aber, die Offiziere gegen daS Ehrenwort, die übrigen gegen das eidliche Ver-
sprechen, nicht gegen die Alliirien zu dienen, entlassen. DaS ganze Unter¬
nehmen hatte dem Strriftorps nur einen Todten und sieben Leichtverwundete
gekostet. Auf dem Weitermarsche nach Greiz passirte Colomb ein Dorf, wo
aus der Predigerwohnung neben der Kirche der Geistliche des Ortes trat und
den Rittmeister fragte, ob sie die Preußen seien, die am vorigen Tage den
Franzosen solchen Schaden zugefügt hätten? Als er dies bejahte, nahm der
Geistliche seine Mütze ab, erhob die Hände gegen die Vorbeiziehenden und
wiederholte mehrmals die Worte: „Gott segne euch!" Darauf zogen alle
Bauern die Mützen ab und nickten zustimmend mit dem Kopfe, eine Hul¬
digung, die aus die Vorbeimarschirenden einen sehr erhebenden Eindruck
machte.
Auf die Nachricht, daß in der leipziger Gegend preußische leichte Cava-
lerie streife, beschloß Colomb, in der Meinung, daß die Nordarmee die Elbe
überschritten habe, sich dieser Stadt zu nähern, stieß aber bereits bei Jena
auf das Streifcorps Lützows, der ihn über die wahre Sachlage unterrichtete.
Mit Lützow verabredete er den kühnen Plan, einen bedeutenden Artilleriepark,
der, wie er durch aufgefangene Briefe erfahren hatte, in Augsburg organistrt
wurde, zu überfallen und zu vernichten, doch wurde die Ausführung durch die
mittlerweile eintreffende Nachricht von dem zwischen Frankreich und den Verbün¬
deten abgeschlossenen Waffenstillstand vereitelt. Da den Bestimmungen dessel¬
ben gemäß alle am linken Elbufer befindlichen kleinen Corps bereits am
12. Juni diesen Fluß passirt haben sollten, Colomb aber erst diese Nach¬
richt an demselben Tage bei Jena erhielt, so schloß er mit dem französischen
^mmandanten dieser Stadt eine Convention ab, die ihm den Rückmarsch nach
der Elbe sicherte und die anch von dem Gouverneur von Erfurt, General
Doucet, bestätigt wurde. Trotzdem hätte ihn beinahe dasselbe Loos getroffen,
wie den während des Waffenstillstandes verräterisch von dem Würtenbergern
üverfallenen Lützow, indem westphälische Kürassiere am 22. Juni ihn in Grob-
zig ungeachtet der abgeschlossenen Convention angriffen und ihm noch 12 Ge¬
fangene abnahmen.
Mit dem Haupttheile seines Corps aber gelangte er glücklich bei Aker
über die Elbe und von dort über Potsdam und Berlin nach Schlesien, wo
er sich in Ohlau seinem Regiment anschloß und mit großem Jubel empfangen
wurde. Das Detaschement schenkte ihm einen Ehrensäbel und der preußische
König ehrte seine Verdienste mit dem Majorsrang und dem eisernen Kreuz,
wozu der Kaiser von Nußland noch den Se. Annenorden zweiter Classe fügte.
Nach dem Waffenstillstand behielt Colomb nicht, wie er gehofft und ge¬
wünscht hatte, seine ihm liebgewordenen freiwilligen Jäger, sondern wurde dem
Hauptquartier des General Kleist bei der böhmischen Armee zugetheilt. Seinem
Aufenthalt daselbst entnehmen wir nur die kurze Notiz, daß auch er bestätigt,
wie General Kleist den entscheidenden Entschluß, sich nach Nollendorf zu wen¬
den, ganz selbstständig faßte, ohne dazu einen Befehl vom Hauptquartier er¬
halten zu haben. Auf dem Kamm des Gebirges angekommen, erzählt er,
ergab es sich, daß das Defilv von Geiersberg, durch welches das Kleistsche
Corps ins Thal hinabsteigen sollte, mit Bagage aller Art verstopft uno
durchaus nicht passtrbar war. Man wußte, daß der Feind von Nollendorf
ins Thal vor Teplitz gefolgt war, doch nicht, ob mit einem oder mehren
Corps. Dn faßte General von Kleist am Abend des 29. August — Colomb
war selbst zugegen und von einem Befehl aus dem Hauptquartier war in
keiner Weise die Rede — den heldenmüthigen Entschluß, sich links zu wen-
den, die Straße von Nollenvorf zu gewinnen, sich dem Feinde in den Rücken
zu werfen und gewaltsam Bahn zu brechen. Wie ernst dieser Entschluß ge¬
meint war, bekundet eine Aeußerung des Obersten von Grolmann: „Wenn
wir beim Durchschlagen auch die Hälfte liegen lassen, mit der Hälfte werden
wir doch durchkommen." Nach der Schlacht von Kulm erhielt Colomb aber¬
mals ein abgesondertes Commando über 9 Offiziere, 162 Pferde aus ver¬
schiedenen Regimentern, mit denen er im Rücken der französischen Armee
operiren sollte. Charakteristisch ist, daß Colomb sein Commando stets Streif-
corps nannte und den Namen Freicorps streng verpönte, „weil damit gewöhn¬
lich eine verderbliche poetische Lizenz verbunden wird." In den ersten Tagen des
October wandte er sich nun wieder auf sein altes Terrain zwischen Saale und
Orla und setzte sich mit den früher erwähnten Personen von neuem in Ver¬
bindung. Ein Plan, den Marschall Augereau, dessen Corps damals grade
durch Thüringen marschirte, aufzuheben, schlug fehl, ba der Marschall, anstatt
wie gewöhnlich seinen Truppen erst nach einigen Stunden zu folgen, Dies Mal
in ihrer Mitte marschirte. Von dem andern User der Saale sah Colomb aus
seinem Versteck während der Nacht auf der Straße von Rudolstadt nach Jena
den langen Zug der Feinde mit Laternen die breite Chaussee entlang mar-
Schirm und folgte ihm später in kurzer Entfernung zum großen Staunen der
Einwohner von Orlamünde, Kasia u. s. w., die nicht begriffen, wie dicht
hinter einer so bedeutenden französischen Colonne eine so kleine Abtheilung
Preußen solgen könnte. Sie entfernten sich erst wieder, nachdem sie viele
Nachzügler gefangen genommen hatten, und als zwei Dragonerregimenter ge¬
gen sie ausrückten. Um sich sür den ihnen entgangenen Fang einigermaßen
zu entschädigen, bereitete Colomb einen Ueberfall auf die in und um Langen-
salza versammelten Depots der sächsischen Cavalerie vor, auf die ihn bereits
Fürst Schwarzenberg, als er sich vor dem Abmarsch aus dem Hauptquartiere
bei diesem gemeldet hatte, aufmerksam gemacht. Die neuesten Nachrichten
lauteten dahin, daß der die Depots commandirende Offizier sich in Langen-
salza nicht mehr sicher geglaubt habe, über den thüringer Wald in die Graf¬
schaft Henneberg gegangen sei und in Schleusingen und Gegend Cantonnirun-
gen bezogen hätte. Deshalb schickte Colomb den freiwilligen Jäger Ravenv
mit einem Paß als Handlungsdiener nach Schleusingen, um Erkundigungen
einzuziehen und bestimmte ihm Oberweisbach auf dem thüringer Walde als Rendez¬
vous; er selbst bewegte sich in kleinen Märschen über Pösneck nach Schlöttwein,
Birkicht und Lausenitz, wo er aus Rudolstadt erfuhr, daß ein sächsischer Offizier
mit Extrapost dort eingetroffen sei und sich nach dem feindlichen Streifcorps erkun¬
digt habe, aber über deren Nichtvorhandensein in dortiger Gegend gänzlich beruhigt
wieder abgereist sei. Bei Rudolstadt ging dann Colomb über die Saale und nach
Schwarzburg und erreichte nach einem beschwerlichen Marsch von mehr als
sechs Meilen auf großenteils schlechten Gebirgswegen Oberweisbach, welcher
Ort sofort auf das strengste umstellt wurde, so daß Ankommende wol hinein,
niemand aber heraus konnte. Der Kundschafter Navene fand sich im Laufe
des 12. Octobers ein. Er hatte sich trefflich orientirt, mit den Offizieren im
Wirthshause gegessen und aus ihren Gesprächen entnommen, daß nicht die
zufriedenste Stimmung unter ihnen herrschte. Im Uebrigen schilderte er die
Lage der einzelnen Cantonnirungen im Thale der Schleuse und Werra bis
Thcmar dem Unternehmen als günstig, obgleich sich die Zahl der daselbst ver¬
sammelten Mannschaften auf mehr als 300 mit ebensoviel Pferden belief.
Auf diese Auskunft hin beschloß Colomb, Schleusingen, wo der Cvmmandi¬
rende und alle höheren Offiziere wohnten, zu überfallen, in der Hoffnung,
durch die Gefangennehmung der letzteren altes so in Verwirrung zu bringen,
daß die andern Abtheilungen sich leicht bewegen lassen würden, sich zu ergeben.
Als sich das Streifcorps aus den schlechten Gebirgswegen herausgewickelt
hatte, betrat es die von Schleusingen nach Ilmenau führende Straße. „Als
noch ein dichter Morgennebel in der Schlucht lag," berichtet Colomb selbst,
»die wir hinabstiegen, ich mit Lieutenant von Hirschfeld und dem Jäger
Pustar an der Spitze ritt, gewahrten wir einige noch unkenntliche Gestalten,
an welche wir schnell heransprengten. Es waren drei Kürassiere, die eine
Patrouille machten, in ihre Mäntel gehüllt waren, keine Waffe in der Hand
hatten, und sehr überrascht, sich gleich ergaben. Von ihnen erfuhr ich, daß in
dem nahe vor der Stadt liegenden Dorfe Hinterrand ein Lieutenant von Watz-
dorf mit einer Feldwache stehe, welche die Pferde in Ställe gezogen habe und
in einem Hause sei, da, wie man glaube, vom Feinde durchaus nichts besorgt
werden könne. Im Fluge gings hierauf ins Dorf; die Feldwache wurde auf¬
gehoben und der Major von Steinäcker umging mit einer Escadron die Stadt
mit solcher Schnelligkeit, daß, obgleich ich nur kurze Zeit anhielt, wir gleich¬
zeitig von beiden entgegengesetzten Seiten in dieselbe hineinsprengten. Die
Thore blieben besetzt und auf dem Markte ließ ich vor der Wohnung des
Oberstlieutenants von Nostiz aufmarschiren, den ich aus dem Bette holen ließ.
Unten angekommen, überrascht, unvollständig angezogen, der Kälte des Octo-
bermorgens plötzlich ausgesetzt, befand er sich in einer höchst unangenehmen
Lage, und als ich ihm nun noch sagte: er und alle seine Abtheilungen außer¬
halb seien von allen Seiten von Kosacken umgarnt, war es nicht zu verwun¬
dern, daß er eine Convention, die ich vorbereitet hatte, ohne Schwierigkeit
unterschrieb, worin er sich verpflichtete, mit seinen sämmtlichen Untergebenen
die Waffen zu strecken und ohne Auswechselung nicht gegen die Alliirten zu
dienen. Indeß dies geschah, machte mich einer aus den komischen Theil der
Scene, auf ein Fenster aufmerksam, an welchem die Frau Oberstlieutenant
neben einer seitwärts geschobenen Gardine mit ganz schiessitzender Nachthaube
zusah, was mit dem Gemahl vorging. Alle im Orte gegenwärtigen Offiziere,
unter denen ich nur den Oberstlieutenant von Hünefeld und Major von Tet¬
tau nennen kann, wurden herbeigeschafft und unterschrieben die Convention,
nachdem ich ihnen mein Wort gegeben., daß ich sie nicht als Gefangene mit¬
nehmen, sie vielmehr entlassen werde, damit sie sich hinbegeben könnten,
wohin es ihnen beliebe, und daß sowol Offiziere als. Gemeine ihr
Eigenthum behalten und keinem das Geringste abgenommen werden solle."
Nun entstand aber die schwierige Frage, ob sich die in den übrigen Cantonni-
rungen liegenden Abtheilungen ebenso leicht ergeben würden, da man gegen
diese nur kleine Commandos abschicken konnte; vorzüglich erregte ein Offizier
Bedenken, der mit 90 Husaren in Themar lag und der, wie in Schleusingen
geäußert wurde, sich schwerlich in Geduld fügen würde. Da Colomb hier
mit bloßer Gewalt nicht durchkommen konnte, mußte er aus andere Mittel
sinnen und bemerkte daher dem Oberstlieutenant von Noftitz, der in Schleu-
stngen den Befehl führte, wie sehr Eile Noth thue, damit nicht die von
allen Seiten herbeieilenden Kosacken eintrafen, bevor die Übereinkunft vollstän¬
dig abgeschlossen wäre, da diese schwerlich so gute Bedingungen bewilligen
würden. So beweglich wußte dies Colomb darzustellen, daß das Schreckbild
der Kosacken und vielleicht auch der Umstand, daß die Offiziere, die bereits unter¬
schrieben hatten, es gern sahen, wenn die übrigen ein Gleiches thaten, bewirkte,
daß der Vorschlag angenommen wurde, den verschiedenen Commandos jedem einen
sächsischen Unteroffizier mitzugeben, der Vorausreiten und über die Lage der
Sache Auskunft geben solle, um Mißverständnissen vorzubeugen. Währenv
diese Commandos ihrem Geschäfte nachgingen, ließ sich Colomb die Vorräthe
an Material, Sattelzeug u. s. w. ausliefern und forderte auch die Kassen ein,
aus denen er übrigens vorher verschiedene Forderungen befriedigte und auch
den Offizieren einen monatlichen Gehalt auszahlen ließ. Doch blieben immer
noch über 800 Thaler übrig. Unterdessen trafen auch schon einzelne Abthei¬
lungen aus den Cantvnnirungen ein und legten die Waffen nieder und die
zurückgekehrten Commandos brachen wieder nach andern Dörfern auf. So
hatten sich allmälig 160 bis 170 Mann Gefangene auf einer Wiese bei der
Stadt versammelt, unter welchen sich von Preußen nur Colomb mit einem
Trompeter mit 18 Mann befand — ein Mißverhältniß, welches von Seiten
der versammelten Bürger spöttische Bemerkungen, daß sich so Viele von so
Wenigen hatten gefangen nehmen lassen, hervorrief. Colomb, der wohl fühlte,
welchen gefährlichen Eindruck diese Bemerkungen machen könnten, that, als ob er es
nicht hörte und wendete sich zu einigen neben ihm stehenden Cavaleristen,
denen er vorstellte, welch Glück es für sie sei, daß sie sich ihm uno nicht den
bald eintreffenden Kosacken übergeben hätten, die sie gewiß mit nach Sibirien
nehmen würden, während er ihnen gern gegen die Verpflichtung, gegen die
Verbündeten nicht zu dienen, ihre Pässe nach der Heimath ausstellen wollte.
Die Frage des Einen, ob das sein Ernst wäre, bejahte er; nun hatte Colomb
vollauf zu thun, um die fast von allen verlangten Pässe zu unterschreiben.
Dabei bemerkte er einen alten Wachtmeister, der Thränen im Auge hatte, wes¬
halb er ihn damit tröstete, daß er ja nichts verschuldet habe, das Ereigniß sei
Schicksal des Krieges. Dann sagte er ihm, er habe wol ein hübsches Pferd
geritten, und als n daraus hinwies, sagte der Major weiter: es sei nicht pas¬
send, daß ein so alter tüchtiger Soldat zu Fuß nach Hause gehe; er möge das
Pferd nehmen und fortreiten. ' Erst schien er Bedenken zu haben, als ihm
aber Colomb bemerklich machte, daß das Pferd nicht mehr seinem König ge¬
höre, sondern sein Beutepferb sei, das er ihm schenke, so nahm es der Unter¬
offizier an und sein Gesicht erheiterte sich. Unter allen diesen Beschäftigungen
war der Mittag herangekommen und nun sah sich Colomb noch genöthigt, eine Ein¬
ladung des Oberstlieutenants von Nostiz zum Essen anzunehmen, denn er konnte
doch keine Besorgnisse blicken lassen, obgleich ihn der Offizier in Themar, der
ihm mit seinen 90 Husaren noch einen bösen Streich spielen konnte, sehr er¬
hebliche einflößte. Er saß daher während der Tafel wie auf Kohlen, obgleich
er gegen die anwesenden Damen sich sorglos und heiter zu erscheinen bemühte,
und war froh, als er wieder zu Pferde saß, wo denn auch die Nachricht, daß
sich alle Commandos ohne Widerstand ergeben hätten, nicht mehr lange auf
sich warten ließ. In allem waren es 23 Offiziere incl. 5 Stabsoffiziere,
375 bis 380 Unteroffiziere und Gemeine von den Regimentern der Garde du
Corps, Zastrow Kürassiere, Prinz Clemens Ulanen, Prinz Anton, Prinz Johann
und Pohlenz Chevaurlegers und Husaren und 390 Pferde. Von beiden Seiten
war bei dem Ueberfall kein Tropfen Blut vergossen. Der bei Leipzig sieg¬
reichen verbündeten Armee voraus bewegte sich Colomb mit seinem Streifcorps
nun dem Rheine zu, wo er noch manchen kecken Streich ausführte, mieden
Angriff auf Saalmünster, und erhielt später Ordre, sich dem General von
Bülow anzuschließen, der gegen Holland bestimmt war. Hier wirkte er bei
der Einnahme von Arnheim mit, zeigte sich später im December sehr thätig in
Holland selbst und hals sogar mit seinem berittenen Freicorps die kleine Festung
Breda vertheidigen. Doch fehlt uns der Raum, uns mit diesen interessanten
Unternehmungen ausführlicher zu beschäftigen. Später in Frankreich war
wegen der feindlich gestimmten Bevölkerung ein ungünstigeres Terrain für
Parteigängerzüge und Colomb spielte mit seinem Streifcorps mehr die Rolle
einer Avantgarde des General Bülow, war mit bei Craonne und Laon und
gelangte später im April nach Paris, wo das Kommando aufgelöst wurde.
Er konnte bei seiner Meldung bei' dem König diesem berichten, daß er aus
seinem kühnen Streifzug, wo er dem Feinde soviel Schaden zugefügt hatte,
nur einen Verlust von einem Offizier, einem Chirurgus und vier Reitern an
Todten und wenige Blessirte gehabt.
Graf Keyserling war Adjutant bei dem Prinzen Biron von Kurland, der
ebenfalls ein Streifcorps aus russischen und preußischen Truppen gemischt führte
und der in Gemeinschaft mit dem ehemaligen sächsischen General Thielemann
in der Zeit bis zur Schlacht bei Leipzig mehre kühne und glückliche Unter¬
nehmungen ausführte. Mit diesen beschäftigt sich jedoch die vorliegende zweite
Abtheilung des Buches nicht, da sie mit dem Uebergang über den Rhein be¬
ginnt und in Frankreich ward den Corps weniger Gelegenheit zu kecken Unter¬
nehmungen geboten, da, wie eben bemerkt worden, die Stimmung der Bewohner
die Feinde weniger begünstigte. Ein echter Husarenstreich war jedoch die Ein¬
nahme von Ranco, das, obgleich es von Infanterie besetzt war, doch von einer
einzigen Schwadron preußischer Husaren überrumpelt wurde, denn die übrigen
Truppen konnten erst nachkommen, als der Sieg bereits entschieden war.
Mangel an Raum nöthigt uns jedoch, aus das interessante Buch selbst zu ver¬
weisen, das auch noch einiges Neue über die Schlacht von La Nothi'ore
beibringt und auch — was uns noch neu ist — mittheilt, daß Oberst von
Grollmann zuerst Gneisenau veranlaßte, Blücher den Rath zu ertheilen, über
die Marne rechts ab nach Paris zu marschiren, wahrend Napoleon dem Heere
Schwarzenbergs folgte, eine Bewegung, welche bekanntlich den Feldzug und
das Schicksal des französischen Kaisers entschied.—
Mit der Südlage von Stcnnbul (unter dem it. Breiten¬
grade) ist der Uebelstand verbunden, daß. wenn die Windströmungen aus Norden,
die über den Pontus hinweg durch die offene Pforte, welche das Marmorameer
bietet, nach dem Becken der mittelländischen See sich bewegen, ausbleiben, oder wenn
gar der Wind nach Süden umschlägt, die Temperatur sich leicht zu einer für den
Nordländer schwer zu ertragenden Höhe steigert. Wir haben jetzt selbst in frei¬
gelegenen Landhäusern vierundzwanzig Grad Reaumur, und in Pera, in den engen
und schwülen Straßen, sechs- bis stebenundzwanzig. In dieser Hinsicht erinnert der
diesjährige Sommer an den anfierordcutlich heißen des Jahres 1831. wo das
Wasser in der Hauptstadt so theuer geworden war, daß Unbemittelte die nöthige
Quantität zum Trinken kaum mehr erschwingen konnten. Da man in der Krim
in der jetzigen Jahreszeit dieselbe Witterung wie hier zu haben pflegt, außerdem
Privatbriefe ausdrücklich der schwülen Tage und erquickuugslosen Nächte erwähnen,
so steht zu erwarten, daß auch dort, ähnlich wie es hier schon geschieht, die kleineren
Bäche versiegen und letztlich auch die Tschernaja zum größeren Theil austrocknen
wird. Umstände der Art werden, ungeachtet man ans England schon vor längerer
Zeit zwei große, je mit einem Apparat zum Destillirer des Seewassers versehene
Schiffe nach Balaklava entsendet hat, sür die Verbündeten viele Beschwerden mit
sich führen; im Besondern aber werden die Russen dnrch dieselben zu leiden haben,
die der Nutzung jenes Auskunstsmittels nicht theilhaftig sind. Wie es heißt waren
sie im Frühjahr bemüht, eine Anzahl von Brunnen zu graben, hatten indeß nur
daun und wann Erfolg.
Man kann mit diesen Verhältnissen das Erscheinen des Corps von 33—40,000
Mann auf den Höhen der Farm Makenzie vielleicht in Verbindung bringen. Das¬
selbe steht dort ziemlich unbeweglich, und wurde wol nur dorthin verlegt, um die
dortigen Brunnen benutzen zu können.
Zeitungsangaben (nämlich der hier erscheinenden Blätter) und Gerüchte stimmen
darin miteinander überein, daß die Arbeiten gegen den Malakowthurm unausgesetzt
vorwärts schreiten, aber daß mau des schwierigen Bodens wegen deßungcachtet
nur langsam Terrain gewinnt. Die Russen feuern in Vergleich mit früher ziemlich
heftig, und nahmen in den letzten Tagen Anlaß, den Zustoß neuer, ihnen über
Perekop zugegangener Verstärkungen den Verbündeten durch einen Hagel von Bom¬
ben und Kugeln zu verkünden. Nach Annahme der Einen sind die neu eingetroffe¬
nen Truppen ein Theil des Corps von General Lüders — nach der der Anderen
zwei Divisionen Grenadiere. Genaues ist über diesen Umstand nicht bekannt, indeß
schätzt man den Feind auf gegen -180,000 Mann.
Die letzten Tage haben wiederum die Muthmaßung befestigt, daß es den Russen
nicht um einen entscheidenden Schlag zu thun ist, wie man jüngst noch meinte; auch
hätte derselbe den gut angelegten Verschanzungen gegenüber, durch welche die Ver¬
bündeten sich nach allen Seiten hin gesichert haben, wol nur einige Aussicht auf
Erfolg. Aber worauf man in Petersburg alle Hoffnung zu stützen scheint, das ist
ein zweiter Winter. Möglich, daß man sich in dieser Hinsicht täuscht. Die Ver¬
bündeten sind auf keine Eventualität vielleicht besser vorbereitet, als auf den Wieder¬
eintritt der schlechten Jahreszeit. Man darf in dieser Hinsicht nicht vergessen, daß
Kamiesch und Balaklava inzwischen zu militärischen Handelsstädten herangewachsen
sind, daß man an Material aller Art zu Baracken und Buden keinen Mangel mehr
leiden, Brennmaterial in Fülle vorhanden sein wird, und Chausseen, Eisenbahnen,
Packpferde und Wagen nicht fehlen. Neulich erst sah ich eine Menge hier am Orte
neu gefertigter, die nach Kamiesch eingeschifft werden sollten, an meinem Hause
vorbeifahren. Sie waren sehr leicht und zweckmäßig. — Die Russen ihrerseits haben
eine Chaussee zwischen den Nordfvrts über Baktschi-Serai nach Simpheropol in Arbeit
und nahezu beendet; demnächst, heißt es, würden sie eine sera e durch die Steppen,
von dem letzteren Orte auf Perekop in Angriff nehmen, und alsdann, nachdem sie
vollendet, eine Chaussceverbinduug zwischen Odessa und der taurischen Festung exi-
stiren. An eine Eisenbahn auf dieser Strecke sei früher gedacht worden, der Plan
indeß nachher wieder ausgegeben worden.
Aus den Nachrichten der deutschen Blätter, welche diese von Wien
her bringen, muthmaße ich, daß man dort anfängt, den Entschluß in Betreff der
Armeereduction allen Ernstes zu erneuen. Dafür scheint mir am meisten das Be¬
mühen der meisten betreffenden Korrespondenten zu sprechen, die Reduction nicht als
eine Entwaffnung Oestreichs und als einen Act, der auf seine demnächstige Politik
Einfluß gewinnen konnte, gelten zu lassen, sondern der Welt glauben zu machen,
diese Verminderung der Streitmacht verändere in nichts die Lage des Reiches
Nußland wie der Pforte und den Westmächten gegenüber; sie, habe nichts mit
einer Annäherung nach der einen Seite hin und einer Lossagung von der anderen
her gemein und dürft nnr als eine rein finanzielle Maßregel angesehen werden.
Wie Sie wissen werden, ist man soweit gegangen zu behaupten: die Wehrmacht
des Kaiserstaats sei durch die Entlassung von -180,000, Mann durchaus nicht
vermindert worden, indem man nur die Ausgedienten hätte nach Hause ziehen
lassen, während für die Ausscheidenden eine neue Altersclasse in demselben Betrage
eingetreten sei. Wie man weiß beläuft sich die Dienstzeit in Oestreich auf acht
Jahre. Angenommen die Armee wäre 640,000 Mann stark, wiewol jedermann
sich darüber unterrichten kann, daß sie diesen Stand nicht erreichte, würde eine Al¬
tersklasse sich im Maximum auf gegen 80,000 Mann belaufen; die Reduction um¬
saßt aber nicht 80,000, sondern -180,000 Mann.
Andere, weniger zu gewagten Behauptungen geneigte wiener Berichterstatter
räumen die Entlassung einer aus die Stärke der jetzt erwähnten Ziffer sich belaufenden
Heeresreduction zwar ein, wollen aber nicht zugeben, daß Oestreich dadurch wesentlich
geschwächt worden sei, indem es nach dieser Verminderung noch volle 400,000 Mann
unter den Fahnen behalte, und ein Staat mit einer solchen Armee unmöglich als
ein entwaffneter angesehen werden könne. Dem gegenüber will ich an einige That¬
sachen erinnern. Es ist in der Zeit, in welcher man noch dem hoffnungsvollen
Glauben nachhing, Oestreich werde dereinst gemeinsame Sache mit den Mächten
machen, welche im Orient das gute Recht gegen die Uebergriffe der brutalen Ge¬
walt verfechten, oft »ut in eingehender Weise entwickelt worden, wie der Kaiserstaat
etwa 400,000 Mann gegen Nußland werde ausstellen und davon etwa 300,000 Mann
zum directen Angriff verwenden können. Es ist einleuchtend, daß das, was Oest¬
reich von seiner Armee jetzt entlassen hat, von jener Masse in Abzug zu bringen
ist. Oestreich kann darnach Nußland heute nur noch mit 120,000 Mann bedrohen,
die auf einer Linie von Siebenbürgen bis Krakau auseinandergezogen stehen und
von denen kaum 60,000 Mann zu einer compacten Masse zu vereinigen sein
würden. Wem eine derartige Demonstration noch verdächtig erscheint, möge es mit
den wiener Berichterstattern glauben. Der Ihrige ist anderer Meinung.
Die sechzig Millionen Gulden, welche Oestreich durch die Maßregel des Herrn
von Brück ersparen wird, werden leider wahrlich den Einfluß nicht aufwiegen —
den seine Diplomatie hier und insbesondere — Nußland gegenüber verliert!
Aber den Beweis kann nur die nächste Zeitepoche geben. Schon beginnt ein großer
Rückschlag sich fühlbar zu machen.
Gestern*) Nachmittag verkündete das Zusammenlaufen von
Volk im Stadttheile von Top Hane auf den Straßen, daß irgendetwas Außerordent¬
liches vorgefallen sein mußte. Mitten im Bosporus, den Batterien des Artillerie-
Palais gegenüber, lag ein eben aus dem schwarzen Meere eingelaufener Steamer.
Er hatte ein Boot ans Land gesendet, welches auf dem sogenannten Place d'armes
verschiedene Personen, anscheinend von hohem Rang, debarquirt hatte. Darnach
war geblasen worden. Soviel wußte man vorerst; darnach hieß es, der Angelangte
sei Omer Pascha, der Serdar (Man) und alsbald war das Gerücht in Umlauf:
der Generalissimus sei abgesetzt worden und habe den im Jahre 1833 als Com¬
mandant der Armee von Kars vielgenannten Muschir Abdi Pascha, welcher vor
etwa acht Tagen von hier nach Balaklava sich einschiffte, zum Nachfolger erhalten.
Der Serdar ging über den genannten breiten Platz (pI»LL ä'urmos) hinweg
und bog rechts nach der Dienstwohnung des Muschirs von Top Hane ein. Sie
wissen, daß dieser, Fatsi Achmed Pascha, Schwager des Großherrn und um des¬
willen eine sehr einflußreiche Person, vielleicht die einflußreichste im osmanischen
Staate ist. Die Visite war höchst wahrscheinlich darauf berechnet, sich einen guten
Empfang im kaiserlichen Palais von Tschiraghan vorzubereiten.
Das Gerücht will ferner wissen, Omer Pascha sei durch französischen Einfluß
gestürzt worden. Mir erscheint, wenn überhaupt eine Entsetzung stattgefunden
hat, solche Annahme nicht unwahrscheinlich; außerdem hat man indeß auch wol
Gewicht auf den Umstand zu legen, daß der gegenwärtige Kriegsminister oder
Seriaskcr, Mehemed Nuschdi Pascha, Omers erbitterter Feind ist und dieser bereits
im Jahre ->8ö3 von seinem Gegner gestürzt zu werden fürchtete. (Omer Pascha
kehrte bekanntlich nach der Krim zurück. D. Red.)
Vorgestern fand hier in Pera ein ziemlich bedeutender Brand statt. Die ein¬
geäscherten Häuser, voll denen nur ein paar nicht ausschließlich aus Holz bestanden,
waren aus etwa fünfzig veranschlagt worden. Nichts ist von ihnen übrig ge¬
blieben, als die hohen Schornsteine, die nun wie abgeästete Stämme einsam anf¬
ragen. Das Aschenfeld mag wol fünfhundert Schritt im Durchmesser halten.
Vom Sultan Abdul Medschid hört man, daß er im October dieses Jahres
noch den Palast von Tschiraghan verlassen und das neue Palais von Dolma
Bagdsche zu beziehen gedenkt. Aus Anlaß dieses seines Wunsches wird nunmehr
außerordentlich eifrig an der Vollendung dieses Schlosses gearbeitet. Seine Ge¬
mächer sind sämmtlich parquetirt; im Besondern ist das kaiserliche Schlafzimmer
mit einem bedeutenden Luxus ausgestattet. Es befindet sich in demselben kein
eigentliches Bett, sondern der Padischah schläft auf einer Art hohen Estrade>, um
welche eine Galerie läuft und zu der breite und bequeme Stufen hinansühren.
Auffallenderweise sind die Matratzen einfach baumwollene. Die ganze Estrade hat
wol den Umfang eines kleinen Zimmers. Sehr unzufrieden ist der Souverän mit
der Art und Weise gewesen, in welcher im^neuen Palais die Treppen, welche von
einer Etage zur andern führen, angelegt worden sind. Sie werden jetzt durch
neue ersetzt. Außerdem wurden mehre parquctirte Fußboden wieder aufgerissen.
Der frühere englische Kriegsminister, Herzog von Newcastle, welcher nicht, wie es
anfangs abentcuerlicherweise hieß, als neuernannter Chef der englischen Krimarmee,
sondern als Privatmann hierher gekommen ist, besuchte gestern die britischen'Lazarethe
auf der asiatischen Küste des Bosporus, im Besondern das große Krankenhaus von
Kulely, welchem ein ungarischer Arzt, der seit mehren Jahren sich in englischen
Diensten befindet, vorsteht. Sein Benehmen wird als außerordentlich liebens¬
würdig gerühmt. Muthmaßlich wird der Herzog hente nach der Krim weiter reisen.
In Hinsicht auf die Begebenheiten aus dem asiatischen Kriegstheater geht das
Gerücht: die Russen hätten vor Kars eine Schlappe erlitten. Das Nähere, wie
überhaupt Sicheres kenne ich nicht darüber.
Schließlich habe ich noch beizufügen, wie es sich vollkommen bestätigt, daß
alle hier entbehrlichen Transport-, namentlich Dampfschiffe nach französischen und
englischen Häfen in Eile entsendet worden sind, um massenhafte Verstärkungen an
Bord zu nehmen, die man sich beeilt so schnell als möglich nach dem taurischen
Kriegsschauplatz zu schaffen. Es wird diese Anstrengung, wie im voraus zu er¬
kennen ist, wenig Frucht bringen, wenn man den ganzen Plan des Krieges nicht
ändert.
Bei Anzeige des Werkes: Hippolyt und seine Zeit von Bunsen, ist in
diesem Blatte bereits von dem Interesse die Rede gewesen, welches sich für die
theologische Wissenschaft an diesen Namen knüpft. Seitdem ist der Streit
über den heiligen Hippolyt eine eMse evlebre geworden. Er ist deshalb vor¬
zugsweise geeignet, auch dem Laien zu zeigen, wie der kritische Geist unsrer
Wissenschaft die alten heiligen Traditionen verklärend und zersetzend überwindet,
nicht nur von dem Standpunkt der liberalen protestantischen Theologen, son¬
dern im Grunde nicht weniger von dem der wissenschaftlich gebildeten Katho¬
liken. Es ist derselbe kritische Geist, welcher zuerst das alte Bild von Homer
verflüchtigte und uns darauf nach harten Kämpfen einen tiefen leuchtenden
Einblick in das poetische Weben und Schaffen der Volksseelen verschaffte; der¬
selbe Geist, welcher Niebuhrs römische Geschichte schrieb, derselbe, welcher kühn
die Ueberlieferungen des alten und neuen Testamentes und alle historischen
Grundlagen des Christenthums zu prüfen und ihrem Werthe nach zu schätzen
unternahm, 'der Geist deutscher Wissenschaft. Denn auf der ganzen Erde ist
es bis jetzt die deutsche Nation allein, in welcher die historische Forschung diesen
freien Standpunkt erreicht hat. Sie wird einer spätern Zeit als die edelste
Blüte unsers Lebens in einer Periode erscheinen, wo das politische Gemein¬
gefühl schwach, aber die individuelle Freiheit auf geistigem Gebiet merkwürdig
groß und rein war.
Wenn der gelehrte Streit um die Seele des heiligen Hippolyt hier benutzt
^ird, um der großen Gemeinde der Gebildeten ein Beispiel zu geben von der
Methode der deutschen Wissenschaft bei Behandlung der schwierigsten historischen
Probleme, so wird es auch erlaubt sein, einige Mal tiefer in historisches Detail
einzugehen, als sonst der Zweck dieses Blattes wünschenswerth macht.
Zuerst wird es nöthig, über die Legende, die sich an den Namen des Hei¬
ligen knüpft und über das, was die frühere Kirche von ihm wußte, Näheres
in erzählen. Schon hier ist bemerkenswert!), daß die alten Kirchensagen über
den Mann sehr von einander abweichen und sich in eine ganze Reihe der ver¬
schiedenartigsten Anekdoten auflösen.
Die berühmteste und am schönsten erzählte Legende ist die von Aurelius
Clemens Prudentius, einem spanischen Dichter aus dem Anfange des fünften
Jahrhunderts. Er war in Rom gewesen und es hatte ihn dort neben andern
Märsyrerculten besonders der angezogen, welcher in einer zwar kleinen, aber
von Silber strahlenden Kapelle gefeiert wurde, die sich über einer Krypte wölbte,
in welcher die Gebeine des Heiligen ruhten. An der Wand der Kapelle war
das Martyrium desselben abgemalt und der daselbst ausgestellte Altar trug den
Namen Seti, Hippolyti. Diese stille Kapelle war dem spanischen Geistlichen so lieb
geworden, daß er, nach Hause zurückgekehrt, in einem Hymnus d. l). in recht
hübschen, dem Ovid ganz artig nachgebildeten Distichen das Martyrium seines
Helden besang, um jede» Bischof seines Bezirks zu bitten, ihn auch seinem
Sprengel als Heiligen einzuverleiben.
Seht, sagte er, wie der Präfect der Heiden zu Rom nicht geruht hat,
alle treuen Bekenner zu morden, zu zerfleischen. Er ging noch weiter, nämlich
an die Tibermündung nach Ostia, um da ein neues Exempel zu statuiren.
Alle möglichen Torturen werden ersonnen, um die treuen Bekenner zum Götzen¬
dienst zurückzuführen, vergebens. Da wird ein Greis herbeigeführt, der noch
auf dem Wege zum sichern Tode die Seinigen beschworen hatte, an Christus
festzuhalten, aber auch an der Einheit ber Kirche; im Besondern auch von der
Sekte der Novatianer abzulassen, der er einst selbst angehört habe. Das ist
das Haupt der Gottlosen, rufen die Henker, der muß ganz besonders gepeinigt
werden, zur Abschreckung des Haufens. Auf die Frage, wie er heiße, ant¬
wortet der Greis: Hippolytus. So sollst du denn ein Hippolyt werden , ruft
der Präfect aus und läßt ihn sofort an die Füße zweier wilden Rosse binden,
diese auseinanderjagen über Berg und Thal und Dornen und so'den Leichnam
zerreißen, zerfetzen, ganz wie einst in der Mythe der Sohn des Theseus von
scheu gewordenen Rossen zerrissen war. Auf derselben Wand war aber auch
abgebildet, wie nun die fromme Christenschar den blutigen Spuren folgt, daS
greise Haupt, die zerstückten Glieder, ja möglichst alle Blutspuren selbst aus¬
sammelt, um so den theuern Leichnam würdig zu bestatten. Ebendafür hält man
aber nur Rom würdig und so wird ihm denn jene Krypte und Kapelle errichtet,
in deren Nähe, sagt Prudentius, noch ein andrer großer Tempel stand, wohin
nun jährlich am 13. August (I«Zibus ^uKust.1) die ganze Umgegend von
Campanien her zusammenströmt, um das Gedächtniß des großen Heiligen zu
begehen,.
Wunderbares ist in dieser Erzählung genug. Schon die greuliche Wuth des
Präfecten hat etwas Bedenkliches; aber in der Zeit des Decius und Valerian
sind ja wirklich furchtbare Greuel begangen worden, um den Respect vor den
alten Göttern zu erhalten. Die eigenthümliche Wahl der Todesart hat auch
etwas Auffälliges und noch größer wird das Bedenken durch die Aehnlichkeit
mit dem mythischen Hippolyt; aber die hat ja der spanische Geistliche selbst
gekannt und erschöpfte man alle Todesarten, warum sollte nicht auch einmal
Viertheilung angewandt sein? Daß nun der zerstückle, wer weiß in welche
Abgründe gestürzte Leichnam dennoch bis auf die geringsten Blutspuren con-
servirt sein soll, ist freilich das Stärkste; aber es könnte auch daS nur einige
Uebertreibung des Malers oder Dichters sein. Wer erlaubt an so heiligen
Ueberlieferungen zu rütteln?
Dies Mal die alte Kirche selbst, indem sie sofort eine zweite Legende von
einem von Pferden zerrissenen Hippolytus überliefert, nur daß dieser in Rom
selbst, nicht wie jener in Ostia zu Haus ist, auch kein Priester, sondern ein
Offizier und zugleich nur eine Nebenperson neben einem andern, noch gefeier¬
tern Helden, dem heiligen Laurentius ist. Dieser soll ein römischer Diakon
gewesen sein, sehr eifrig im Bekehrer der Heiden, bis er unter Valerian As8
ergriffen, zum Tode verurtheilt und einem hochstehenden römischen Centurio mit
Namen Hippolytus zur Bewachung übergeben ward. Dieser Hippolyt selbst aber
wird nebst seiner ganzen zahlreichen Familie von Se. Lorenz zum Christenthum
bekehrt. Se. Lorenz wird endlich zu einem gräßlichen Tode verurtheilt, bekannt¬
lich auf dem Rost gebraten, Hippolytus aber gefangen; seine Amme Concordia,
die eine besondere Rolle in dieser Tragödie hat, gibt unter den Peitschenhieben
der Henker ihren Geist auf, die übrigen Glieder seiner Familie werden ent¬
hauptet, Hippolyt aber nach mancherlei andern Martern an die Füße wilder
Pferde gebunden, die ihn zu Tode schleifen. Diese Legende findet sich wieder
in einer ganzen Reihe von Variationen, in denen nur die angegebenen Grund¬
züge sich gleichbleiben.
Es bleibt aber nicht bei diesen beiden Erzählungen, es taucht eine noch
abweichendere und fabelhaftere Hippolytuslegende auf, in Verbindung mit
einem andern Heiligenkrcis. Wir werden obendrein ganz in den Anfang der
christlichen Zeit geführt. Unter dem Kaiser Claudius lebte eine kaiserliche
Prinzessin Chryse oder Aurea, die von einem Bischof Quiriacus zum Christen¬
thum bekehrt wird. Es wüthet da aber ein Präfect, ein „olearius rü'bis" Ulpius
Romulus, gegen die Christen und verschont selbst die kaiserliche Prinzessin nicht;
er sucht sie abwendig zu machen, räth ihr namentlich, einen ihres hohen
Standes würdigen Gemahl zu nehmen, und als alles Zureden nichts hilft,
läßt sie der Vicarius in Ostia auf die Folter spannen, an ihrem entblößten
Leibe mit brennenden Fackeln zu Tode martern und dann ins Meer ver¬
senken. Hippolyt aber mit andern Genossen hebt den Leichnam heraus und
bestattet ihn feierlich. Er wir» dafür mit diesen ergriffen, auch gefoltert, er
aber speciell in eine Grube versenkt, nach andern in das Meer, nach einigen bei
Ostia, nach den meisten bei Porlus an der zweiten Tibermündung. Nach der
Versenkung hörte man geisterhafte Kinderstimmen eine Stunde lang rufen:
«rktias veo, (Gott sei Dank!)
Das Fabelhafte läßt sich hier nun freilich mit Handen greifen. Einen
vioarius urbis gibt es erst in der nachkonstantinischen Zeit; Foltern werden
gegen Christen erst seit Decius angewendet; unter dem Claudius ist an eine
eigentliche Christenverfolgung überhaupt noch nicht zu denken. QuiriacuS
heißt nur Kyn'acus, der Kirchenmann, der Christ; Romulus heißt der Ver¬
folger, als Haupt des alten heidnischen Roms, — von den Kinderstimmen gar
nicht zu reden. Auch sagt Döllinger selbst, der scharfsinnigste und gelehrteste
Vertreter der katholischen Partei in Deutschland, die ganze Geschichte sei eine
rohe Erfindung, wie die spätern Griechen dergleichen in Unzahl „nach derselben
Schablone" gemacht hätten.
Bemerkenswerth aber ist, daß Hippolyt in dieser Geschichte auch den
Namen Nonus oder Nonnus führt, und unter diesem Doppelnamen haben
wir eine vierte Hippolytuslegende, bei Petrus Damiani. Hier ist aber der
heilige Nonus, der auch Hippolyt heißt, aus Antiochia; er bekehrt dreißig¬
tausend Sarazenen, dann auch die heilige Pelagia, verfaßt dann mehre bibli¬
sche Commentare, begibt sich aber von seinem Bisthum und von Antiochia
hinweg nach Rom; hier begräbt er den Leichnam der heiligen Aurea, die bei
Ostia ertränkt wurde, dafür aber wird er in eine Grube bei Portus versenkt.
Auch sonst wird Hippolyt als Bischof von Antiochien angegeben und ein
griechisches Distichon läßt ihn ebenda in das Meer versenkt werden.
Es kommt aber noch ein Hippolyt vor, wieder in der Nähe von Rom,
abermals erst unter Valerian. Er lebt als Einsiedler in einer Grotte, bekehrt
die zu ihm kommenden Heiden zum Licht, und da endlich auch seine Schwester
Paulina und deren Gemahl Adrias sich taufen lassen, so wird er mit diesen
zusammen unter Geißelhieben zu Tode gemartert.
Die Verwirrung steigert sich aber, indem bei den Martyrologen noch ein
besonderer Presbyter Hippolytuö von Antiochia hinzutritt, der zu den
Novatianern gehört, jedoch vor dem Tode noch zur Kirche bekehrt wird, ganz
wie der Greis des Prudentius; endlich noch ein Bischof der Araber, Hippolyt
von Bostra, ohne daß von diesem mehr erzählt würde, als daß er in der Zeit der
übrigen heiligen Hippolyte gegen Mitte des dritten Jahrhunderts gelebt habe.
Soweit reicht die eigentliche Martyrologie über Hippolyt, wie gesagt nur
den Grundzügen nach, da der mit Laurentius und der mit Aurea verknüpfte
Heilige dieses Namens in den mannigfaltigsten Verstonen geviertheilt oder ver¬
senkt wird.
Schaut man, um sich aus diesem Legendenlabyrinth herauszufinden, nach
der sonstigen Kirchenkunde über Hippolyt, so tritt auch da das Verschieden¬
artigste auf. ,
Nach dem ältesten Chronographen, dem von 35t, ist ein Presbyter
Hippolytus in Rom gleichzeitig mit dem Bischof von Rom Ponticmus im
Jahr 230 in die Bergwerke Sardiniens deportirt und ebenso an demselben
Tage mit diesem Ponticmus beigesetzt worden, dieser nur auf dem Friedhof des
Callistus, jener an der Via Tiburtina. Durch die sonstige Kirchenkunde aber
wird auch nichts hell; der „Bischof und Märtyrer" ist darin ein großer Er¬
klärer des alten Testaments, Verfasser eines Osterkanonö (einer Art hundert¬
jährigen Kalenders), einer Zeitgeschichte, mehrer Streit- und Vertheidigungs¬
schriften, so auch für das Evangelium nach Johannes und die Offenbarung
Johannis. Aber bald gilt er als ein Haupt der Orthodoxie, bald ist er ein
halber Ketzer und dann wieder der entgegengesetztesten Art, ein kirchlicher Reak¬
tionär, wie man sie später nicht mochte (Montanist, Novatianer), bald ein radi¬
kaler Dualist (Valentinianer).
So ist der Heilige der alten Kirche ein wahrer Ueberall und Nirgends,
Bald zu Rom, bald zu Ostia, zu Portus, zu Antiochia, zu Bostra. Bald ge¬
viertheilt, bald in eine Grube oder in das Meer gestürzt, bald zu Tode ge¬
peitscht, bald blos deportirt. Bald allein zu Tode gebracht, bald in Verbin¬
dung mit dem heiligen Laurentius, oder mit der heiligen Aurea, oder der heili¬
gen Paulina, oder heiligen Pelagia, dann wieder mit einem römischen Bischof,
obendrein an den verschiedensten Orten gleicherweise begraben. Endlich bald
ein Bischof, bald ein Presbyter, ja was einem ganz den Athem nimmt, auch
erst kurz vor seinem Tod Christ geworden und ein Offizier! Bald ein gefeierter
Vater der rechten Kirchenlehre, ein Bestreiter „aller Ketzereien" und dann doch
selbst ein Ketzer, ein halber Montanist, ein ganzer, nun endlich noch bekehrter
Novatianer, aber auch das grade Gegentheil davon, ein Valentinianer, ein
gnostischer Dualist!
Auch die unter dem Namen des Hippolyt aus uns gekommenen Schriften
helfen hier nicht weiter; größtentheils sind es Fragmente und was das Schlimmste
ist, die meisten davon sind dringend als weit spätere Provucte verdächtig, die
nur mit dem glänzenden Namen geschmückt sind. Von einigen ist dies sogar
evident, wenn Bunsen auch keinen Anstoß daran genommen hat.
Wie hat sich nun die Wissenschaft aus diesem Wirrwarr der frühern
Kirchenkunde über Hippolytus Wesen und Wirken, Leben und Ende heraus¬
gefunden?
Es war im Jahre 1351 als man bei Rom beim Graben auf einem alten
christlichen Friedhof an der Via Tiburtina eine gutgearbeitete Statue aus
Marmor fand, die einen Kirchenmann darstellt, der auf seiner Kathedra thront;
an den Seiten und der Rückwand ist diese mit Inschriften bedeckt. Es ist
Zwar kein Name angegeben, aber deutlicher als Namen sprechen hier diese In¬
schriften. Es ist ein Osterkanon vom ersten Jahr deö Alexander Severus be-
ginnend, ein Jahrhundert umfassend: also derselbe, den Eusebius dem „Bischof
Hippolyt, ich weiß nicht wo" zugeschrieben hat. Die Inschrift an der
Rückwand führt eine Reihe von Büchertiteln aus, die den Gefeierten kenn¬
zeichnen : eine Auseinandersetzung über den Osterkanon (von der Eusebius
gleichzeitig redet) die „Chronik" (die Eusebius, Hieronymus und die ganze
Folgezeit demselben Hippolyt zuschreibt), ein Trostschreiben an Severina (und
Theodoret führt speciell von seinem „heiligen Bischof" Hippolyt ein solches
Schreiben an eine Kaiserin auf), eine Schrift zur Vertheidigung des „Evan¬
gelium nach Johannes und der Apokalypse" (von der Ebed, Jesu redete), eine
Reihe Eregetica zu den Psalmen, wie es scheint auch zu den Proverbien (bei
Eusebius und Hieronymus berührt).
Ist es also keine Frage, daß durch diese Statue ein berühmter Kirchen¬
schriftsteller Hippolyt gefeiert werden soll, so trägt die Inschrift, soweit sie er¬
halten ist, dazu bei, dessen schriftstellerische Thätigkeit noch näher kennen zu
lernen, indem einige sonst nicht nachweisbare Schriften „über das All, über
das Gute, über Auferstehung" aufgeführt sind. Aber weiter hilft auch die
Statue nicht. Ja sie selbst ist ein neues Räthsel, das sich an den räthsel¬
haften Namen knüpft, — im Uebrigen eine Freude für jeden Besucher der vati¬
kanischen Bibliothek, in der sie jetzt ausgestellt ist.
> Denn sie steht in jener, Zeit als eine völlige Ausnahme da. Es ist da¬
mals noch unerhört, daß einem Heiligen eine Statue errichtet sei. Da sie
aber einmal dem Kunststile nach, wie Winckelmann urtheilte, wirklich in die
Mitte des dritten Jahrhunderts gehört, so hat man vermuthet, sie möchte erst
in späterer Zeit grade aus den heiligen Hippolyt gedeutet und zur Kennzeich¬
nung wie zur Feier mit diesen Inschriften bedeckt sein.
Es ist daher auch so über den Hippolyt der frühern Kirchenkunde nicht
licht geworden, außer daß für den Fall ihrer Echtheit das Wahrschein¬
lichste wird, Hippolyt habe wirklich in Rom selbst gelebt und gewirkt. Woher
nun aber der Titel Bischof, da doch kein Hippolyt in den Verzeichnissen der
römischen Bischöfe vorkommt und diese doch etwa seit dem zweiten^Jahrhundert
sicher stehen? Woher serner der Anspruch von Portus, Ostia, Antiochia,
Bostra? Woher die Verdächtigung als eines ganzen oder halben Ketzers?
Bei diesem vollen Dunkel, dem halb mythischen Wesen des Heiligen und
Kirchenlehrers ist es bis in die jüngste Zeit geblieben. Da brachte der Moni-
teur Universel vom 3. Januar ->8ii die Kunde, daß unter andern Manuskrip¬
ten auch folgendes für die Bibliothöque Royale gewonnen sei: Nanuseript su
pgpier 6s ooton, ecmtimant uns refuwticm <Ze touws les dvrvsiö». Ol, (invraAk>.
et'un ÄUt<zur anonyme est «Zivisv en ckix livres, mais of trois Premiers man-
<zueilt ainsi Are la den.
Abel. Villemain war als Minister Louis Philipps durch einen besreun-
deten Griechen Mynas Mynoideö auf die literarischen Schätze des Athosklosters
aufmerksam geworden. Wer kennt nicht den Athos, an dem des Darius erste
Flotte scheiterte, den dann Xerres fruchtlos umgraben ließ, ohne daß seine Ti¬
tanenhände die Schutzgötter Griechenlands besiegen konnten? Allen, welche die
Levante oder Konstantinopel besucht haben, wird der wunderbare Berg noch in
der besten Erinnerung sein, das eine von den drei Vorgebirgen, durch welche
Makedonien in das griechische Meer hinaufspringt, trotzig seine Felsenmassen
der Meeresflut entgegenstemmend, das majestätische Haupt in das ewige Blau
des schönen griechischen Himmels erhebend. Es ist diese Höhe aber auch in¬
sofern eine Insel, als sie griechisches Wesen (nach Fallmerayer) am längsten
und treuesten aus der slawischen Sündflut emporgehalten hat. Und wenn diese
Reste der alten Helenen jetzt zur Buße für die fröhlichen Sünden des heidnischen
Griechenlands das Mönchsgewand angelegt haben, so haben sie doch noch so¬
viel altgriechisches Wesen bewahrt, daß sie mit Faust und Speer, später auch
mit Flinten und Kanonen, ihre Unabhängigkeit gegen die Osmanen stegreich
vertheidigt haben; sie geben zwar einen Tribut, sind aber sonst ganz selbst¬
herrlich geblieben. Ihr Hauptnahrungözweig besteht in einem angeblich vom
Evangelisten Lucas gemalten, durch Engel ihnen überbrachten Bildniß der hei¬
ligen Jungfrau, der Panagia, einem Palladium für die ganze orientalische
Kirche, zu dem fortwährend reichlich spendende Waller von allen Seiten strömen.
Für den Occident aber birgt dies Kloster oder vielmehr dieser Compler von
Klöstern in seiner Unberührtheit von türkischem Fanatismus einen weit kost¬
barern Schatz, eine Hanbschriftsammlung, welche die Mönche mit Argusaugen,
zwar nicht lesen, aber doch hüten. Doch französischer Einfluß drang durch,
Mynas Mono'ides wurde ins Allerheiligste nach dem gebührenden Kuß auf den
Nahmen der Panagia zugelassen. Hier fand er eine Reihe ihm unbekannter
griechischer Autoren, so insbesondere die Fabeln des kaum dem Namen nach
bekannt gewesenen Babrius, die soviel Aufsehen gemacht haben. Die in einem
eigenthümlichen semitischen Griechisch verfaßten ausgewählten Handschriften
wurden ihm käuflich überlassen. Auch jenes Manuscript Mpioi- coton
nahm Mynas mit, weil der Inhalt ihm völlig neu schien. Doch ist es in
Paris wiederum beinahe vergraben geblieben, da das Fragment mit chaldäischer
Astrologie beginnt, die keinen einlud, weiter zu lesen, bis ein deutscher Phi¬
lolog Immanuel Miller wirklich weiter las und eine ganze Reihe Fragmente
griechischer Dichter und Philosophen, des Pindar, des Heraklit, des Sertus
Empiricus u. s. s. fand, die uns großentheils neu waren, alsbald auch von
der deutschen Philologie in ihr Licht gesetzt worden sind. Als aber Miller bis
ZUM „9. Buche" vordrang, welche Merkwürdigkeiten fand er! Da wurde maßlos
auf einen Bischof in Rom, Callistus, aus dem dritten Jahrhundert, der doch
nach allem kein andrer als der Papst CallMuö sein konnte, losgezogen: cien-
der Betrüger, abgefeimter Nänkemacher, schlauer Rädelsführer, ehemaliger
Sklave und Bankrotteur, blos durch Betrug heilig geworden, ein Ketzer
ärgster Art, und der Papst vorher, Zephyrinus, sei ein „geldgieriger Schwach¬
kopf" gewesen. Zu Paris hatte man keine Lust, die Chronique scandaleuse
der Curie mit diesem neuen Stück zu bereichern, dagegen übernahm die Orfor¬
der Universität die Herausgabe, die Miller leitete, indem er wenigstens ein
Drittel der sinnentstellendsten Schreibfehler des copirenden Mönches im Drucke
berichtigte, sonst aber das Manuskript buchstäblich veröffentlichte.
Es ist begreiflich, daß dies neuentdeckte Stück Papstgeschichte, an dessen
Echtheit in der That niemand hat zweifeln können, das größte Aufsehen ge¬
macht hat. Wer hat das Werk verfaßt, wie ist es näher zu begreifen?
Die von Miller noch hingenommene Angabe des Coder selbst, Origines
sei der Verfasser, leuchtete alsbald als ganz irrig ein; nur ein römischer Geist¬
licher selbst konnte der Verfasser sein und es blieb nach allem nur die Wahl
zwischen zwei Schriftstellern dieser Zeit, einem Gegner der Montanisten, Caius,
dem auch noch viele andre Schriften antihäretischer Art zugeschrieben werden
und der ein Römer ist, und dem durch Photius und andre Griechen bekannten
Verfasser einer allgemeinen Ketzerbekämpfung, dem Hippolytus, der demnach
nicht mehr blos nach der Statue als Angehöriger Roms erscheinen würde.
Für diesen letztern haben sich die meisten erklärt, insbesondere nach Jacobi der
Ritter und Doctor Jvstas von Bunsen, der alles gelöst fand, wenn man nur
die eine Angabe festhalte, Hippolyt sei wirklich Bischof von Portus bei Rom
gewesen, als solcher habe er zu den Suburbanbischöfen von Rom gehört, als
solcher das Klagemanisest gegen die römischen Bischöfe geschleudert und mit
-allem Grund.
Ja der phantasiereiche Mann hat an das neuentdeckte Werk die weit-
greifendsten Hoffnungen geknüpft. Es soll damit die Autorität Roms, die
protestantische Orthodoxie und zugleich die ebenso unbequeme kritische Theologie
der Gegenwart gestürzt sein, — das erste wegen jener endlich wiederentdeckten
starken Anklagen gegen zwei Päpste der römischen Kirche; das zweite, weil
der neue Kirchenvater eine Art rationaler Lehre gebe; das dritte, weil durch die
vorkommenden Citate des vierten Evangeliums in dem Munde der ältesten Irr-
lehrer (wie Valentinus und Basilides) endlich sich zeige, daß dieses Evangelium
nicht erst aus der Mitte des zweiten Jahrhunderts hervorgegangen sei, wie die
Schule des Tübingers Baur beharrlich behauptet. Ja unter der Aegide dieses
neuen Heiligen soll es zu einer Art Völkerbund zwischen dem rationalen
Deutschland, das blos von der tübinger Kritik wie von.neulutherischer Un-
kritik abzulassen habe und zwischen dem orthodoxen England kommen,, welches
sich nur dem gemäßigten Nationalismus des neuen Kirchenvaters zu eröffnen
habe. So wünscht und hofft der praktische Staatsmann Bunsen.
Pius IX. hat Bunsens Werk damit widerlegt, daß er es auf den Inder
gesetzt hat, womit denn wol die Debatte überhaupt geschlossen sein sollte. Das
hat jedoch in Deutschland wenig geholfen: vielmehr ist sie um so lebendiger
fortgeführt worden von den bedeutendsten Kirchenhistorikern aller Fractionen.
Zunächst hat Gieseler, nachdem Bunsen von der göttinger theologischen Facul-
tät für sein Werk mit dem Doctorhut gefeiert war, dessen Annahmen zwar im
Wesentlichen beibehalten, um darauf hin die dogmengeschichtliche Bewegung in
jener Zeit neu zu construiren, jedoch hat er schon gar manches in Bunsens
Unterstellungen und Folgerungen verwerfen müssen. Dann hat F. Ch. Baur
die ganze Voraussetzung, worauf die neu erwachte Hippolytusfrage beruht, die
Annahme, kein anderer als der bis dahin sowenig gekannte Hippolytus sei
der Verfasser des neuausgefundencn griechischen Werkes auss scharfsinnigste und
bestimmteste verurtheilt. Es sei vielmehr das überwiegend Wahrscheinliche, daß
jener andere römische Schriftsteller Cajus der Urheber sei und Bunsens ganze
Construction sei die willkürlichste und unhaltbarste der Welt. Was aber die
Citate aus dem Johannesevangelium im Besondern betrifft, so ist die kritische
Grundvoraussetzung über die Zeit des Hervortretens des vierten Evangeliums
dadurch in der That ganz unberührt geblieben. Endlich hat auch der Katholik
Jos. Döllinger in München, großentheils mit Baur zusammentreffend, Bunsens
Versuch aufs siegreichste bekämpft, zugleich nach andern Seiten hin das Un¬
geschichtliche in seinen Unterstellungen, das Willkürliche seiner Folgerungen an
den Tag gelegt und zwar hat er die Grundvorstellung festgehalten, Hippolyt
sei allerdings der Verfasser, die Anklagen aber gegen den Papst Callirtus und
seine Kirche seien dahin umzudrehen, daß in diesem Papste eine bewunderungs¬
würdige Größe mehr in der Reihe der römischen Bischöfe und in ihm zugleich
ein Vertreter kirchlicher Orthodoxie hervortrete, in Hippolyt dagegen, dem Ge-
genbischose zu Rom selbst, nicht blos der leidenschaftlichste Haß, sondern
auch wirkliche Irrlehre. Baur hat jedoch alsbald hiergegen wie gegen einen
Versuch von Ritschl die ganze Hippolytusunterstellung abermals eingehend be¬
stritten, lebhaft dabei von Hilgenfeld im literarischen Centralblatt fecundirt:
Cajus soll der Verfasser sein, die Statue sei unecht und so fort. Gustav
Volkmar in Zürich endlich hat die ganze Streitsache nochmals erörtert und nach
gründlicher Untersuchung sich dahin entschieden, daß allerdings Hippolyt der
Verfasser der gefundenen Schrift sei; dieser Hippolyt war ein Römer, Gegen¬
bischof des Calirtus, von diesem als Anhänger der entstehenden damaligen
Dreieinigkeitslehre und als Zweigötterer ercommunicirt, von seiner kleinen Ge¬
meinde aber um so höher gefeiert; auch durch die Statue. Sein Schicksal
war, zugleich mit seinem letzten Gegenpapst in die Bergwerke Sardiniens de-
portirt und dort Märtyrer zu werden. Im Uebrigen steht der Verfasser,
namentlich gegenüber Bunsen, auf Baurs Seite.
Dieser im Ganzen vermittelnden Ansicht über die Person des Hippolyt
sei hier beigetreten, ohne daß dies Blatt den Anspruch erhebt, als Partei in
einer speciellen noch schwebenden Streitsrage der Theologie aufzutreten.
An dieser Stelle ist das Hauptinteresse, zu zeigen, wie über eine zu ihrer
Zeit so bekannte, als Schriftsteller berühmte Persönlichkeit in der christlichen
Kirche ein solches Gewirr von Mythen und abenteuerlichen Sagen entstehen
konnte. Denn daraus kann man sehen, wie unsre Gelehrten gegenwärtig die
Sagenbildung überhaupt auffassen.
Die griechisch geschriebenen Schriften des Hippolyt gingen den Römern
bald verloren. Von seinem Hauptwerk, Philosophumena, wurde das neunte
Buch, in welchem die Skandalgeschichten von anerkannten römischen Bischöfen
stehen, als zu anstößig wol unterdrückt oder außer Cours gesetzt, mit ihm
ging die Kunde von den persönlichen Beziehungen Hippolyts verloren. Er¬
halten blieben im Verkehr nur daS erste Buch deS Werkes als eine brauchbare
Uebersicht der griechischen Philosopheme und das letzte als ein ebenso brauch¬
bares Verzeichniß aller Ketzereien, es wurde getrennt vom Ganzen und ano¬
nym durch die späteren Kirchenlehrer benutzt. Und dazu kam, daß man schon
hundert Jahr nach Hippolyt in Rom nicht mehr viel griechisch kannte.
Im dritten Jahrhunderte war das Griechische noch die Sprache der Ge¬
bildeten in. Rom. Seit Konstantin der Große aber Byzanz zu Konstantinopel
machte und die Trennung der beiden Reichstheile dauernd wurde, ist die
Kenntniß des Griechischen in so reißender Schnelle in Rom zum Wegfall ge¬
kommen, daß folgender Fall im Anfang des fünften Jahrhunderts vorkam? Ne-
storius wandte sich in seiner Sprache brieflich an den römischen Bischof, dieser
verstand aber weder selbst das Griechische, noch war in Rom einer zu finden,
der den Brief des Nestorius übersetzen konnte, und es dauerte einige
Zeit, bis ein Uebersetzer aufzutreiben war. Kein Wunder, wenn seitdem auch
das neue Testament nur in dem barbarischen Latein der Vulgata bekannt
blieb. So wars denn noch im ganzen Mittelalter und als im 13. Jahrhun¬
dert die durch die Türken gescheuchten Griechen nach dem Occident flüchteten
und unsern Homer und Plato und auch das neue Testament in der Ursprache
mitbrachten, da schrien die Mönche laut auf: „da haben sie eine neue Ketzer¬
sprache erfunden."
So gingen Hippolyts Werke dem Abendland überhaupt zu Grunde, man
vergaß hier den Kirchenlehrer völlig. Es blieb nur das dunkle Gerücht, daß
der gefeierte Mann dieses Namens häretische Ansichten gehabt habe. Außerdem
dauerte in der allgemeinen Kunde nur die glänzende Lichtseite, der Martyrer-
schein, der heilige Hippolyt fort, und jeweiliger man von ihm wußte, um so
ungestörter konnte sich die Phantasie des Namens bemächtigen.
Der Name bedeute! nun im alten Griechisch einen solchen, der die Rosse
löst, ihnen die Zügel schießen läßt, es kann aber auch heißen, der von der
Rossen aufgelöst, zerrissen wird; und wie oft schon der Name hinreicht, um
ganze Geschichten daraus zu machen, dazu braucht nicht erst die Märtyrer¬
mythologie nachgesehen zu werden; alle Mythologie zeigt das.
Es kommt hier aber noch etwas Weiteres hinzu, woraus Döllinger nun
soweit geachtet hat, als es schon Prudentius bemerkte: der von den wilden
Pferden zerrissene Heilige ist nur eine Nachbildung des Theseiden Hippolytus
in der athenischen Mythe. Wer ist aber dieser Theseide?
Der Versuch, fast sämmtliche Götter- und Heroenmythen der Griechen
auf den Sonnengott und die Mondgöttin in ihrem Verhalten zueinander zu
deuten, leidet an ebenso großen Uebertreibungen, als die Wasser- und Nebel¬
kur, in welcher z. B. Forchhammer ein anderes Universalmittel zur Erklärung
aller Mythen gesucht hat. Alle dergleichen Panaceen entsprechen schlecht der
Mannigfaltigkeit geschichtlicher Existenzen. Aber in einzelnen Fällen werden
wol beide grade das Rechte getroffen haben. Viele Heroen sind sicher nichts
als verdämmerte Götter, im Besondern nur Prädicate, namentlich des Sonnen¬
gottes, von der spätern Zeit zu eignen Personen firirt. So verhält es sich
außer dem Ikarus, der nur die am Himmelsbogen aufsteigende und endlich
herabsinkende Sonne selbst ist, dem Phaeton u. s. f., sicher auch mit dem
Hippolyt.
Schon der Gigant dieses Namens (bei Apollodor I. 6, SS), der vom un¬
sichtbar machenden Helme des Aides überwunden wird, ist der in der Unter¬
welt verschwindende himmelstürmende Sonnenheld. In der spätern griechischen
Mythe aber wird der Helios Hippolytosj d. h. der Sonnengott selbst, in¬
sofern er beim Untergehen den Rossen des Sonnenwagens die Zügel schießen
läßt, zu einer besondern Heroenfigur, die nun auch einen noch älteren Sonnen¬
heros, den Theseus, zum Vater erhalten darf. Und zwar wird nun durch
die heidnische Sage später auch der Name umgedeutet: der Held wird von
scheugewordenen Pferden zerrissen. Aber auch da blickt noch der Sonnenheld
hindurch, der beim Uutergehn ins Meer von seinen Rossen gleichsam gevier¬
theilt wird; sie werden scheu vor dem „Ungeheuer des Meeres", woraus denn
weiter ein besonderes Ungeheuer wird, das vom Meere aufsteigt. Die Phädra
aber, die ihn so sehnsüchtig liebt und ihm so sehnsüchtig nachblickt, ist ur¬
sprünglich die strahlende Mondfrau, welche aufsteigt, wenn der schöne Sonnen¬
held niedersinkt und so nur das nachsehn hat, die ihn hoffnungslos liebt, ihn
nie erreicht. Die specielle Ausbildung des Mythos, worin nun Phädra zu¬
gleich die Frau des Sonnengottes, die Mutter dieses besondern Helden wird,
ist nur specifisch ätherisch. In Troezene wurde der Hippolytus zwar auch
schon als Heros cultivirt, aber noch unbefangener neben Phädra, der Mond-
"göttin, als seiner Schwester und Frau.
Noch lange, nachdem die griechische Sprache in Italien untergegangen und
das Christenthum Staatsreligion geworden war, lebte in dem Volk eine Fülle von
heidnischen Erinnerungen, Bildern und Vorstellungen. Einzelnes davon hat
sich durch die Völkerstürme vor zweitausend Jahren bis auf die Gegenwart er¬
halten, und noch ist für uns erkennbar, daß in den ersten Jahrhunderten nach
Einführung des Christenthums in Italien sich überall uralte heidnische An¬
schauungen und Mythen in das christliche Leben, in den Cultus, die Mythen,
das Ritual, die Feste und Gebrauche eingeschlichen haben. Wie wir an den
altchristlichen Sculpturen die Naivetät bewundern, mit welcher heidnische Bil¬
dungen in christliche Vorstellungen gemischt werden, so ist überall, wo die
Phantasie des Volkes selbst zur Thätigkeit kam, eine solche Vermischung sicht¬
bar. Und grade wie wir in den deutschen Volksmärchen noch überall Götter
und Heldengestalten des deutschen Heidenthums in sehr veränderter Gestalt er¬
kennen, und wie in ihnen Wuotan und Donar manchmal das heilige Gewand
von Christus und den Aposteln und noch öfter den zerrissenen Rock eines
Handwerksburschen, eines beurlaubten Soldaten, eines jüngern Sohnes an¬
gezogen haben, grade so nahmen bei den bekehrten Römern die Gestalten alter
vertrauter Heidengötter entweder Namen,, oder Farbe und Gewand christlicher
Figuren an. Wie verhaßt, verfolgt, verflucht sie auch waren, sie drangen doch
in die kirchlichen Anekdoten und wandelten und veränderten diese durch Eigen¬
thümlichkeiten ihres Wesens, sie spielten ihre Rolle in den christlichen Festen,
und schielten aus den Bildern selbst der Apostel und der Heiligen, sogar aus
dem des Erlösers auf das Volk, welches ihnen untreu geworden war. Dies
war umsomehr der Fall, je unsicherer und spärlicher die historischen Nachrichten
von der Persönlichkeit der Kirchenheiligen, und je localer die menschlichen Be¬
ziehungen der christlichen Heiligen gewesen waren.
So kam es, daß die verschiedenen Legenden vom heiligen Hippolyt sich
ausbildeten. Die Erinnerungen an einen gelehrten Christen verbinden sich mit
denen von dem mythischen Helden, er wird von wilden Pferden zerrissen, er
wird vor den Thoren Ostiaö oder beim Portus im Westen Roms, wo die
Sonne untergeht, ins Meer versenkt, oder in eine Grube gelegt, sein Wohnort
sind die Tibermündungen, die Orte, wo den Römern ihr Sonnenheros untergeht.
So schimmert in der andern Hippolytlegende hinter dem Bild der kaiser¬
lichen Prinzessin Aurea die goldene Luna, die Tochter des Himmelskönigs
hervor, die sich mit dem strahlenden Tageshelden vermählen soll. Da sie dies
beharrlich nicht thut, so wird sie an entblößtem Leibe mit brennenden Fackeln
zu Tode gemartert. Auch hier kann man die Fackeln deS Sonnengottes erken¬
nen, an deren Glut die Mondfrau untergeht. Und wieder ist es der unter¬
gehende Sonnengott, der Hippolyt. der Rosselöser, der sie aus der Tiefe hervor¬
hebt, während er selbst darin versenkt wird.
Ein anderer gefeierter Heros des christlichen Italiens, ein echt nationaler
Heiliger ist Laurentius. Es mag sein, daß ein Diakon dieses Namens zu
Rom unter Valerian bei der Untersuchung die Feuerprobe zu bestehen hatte,
das Gehen über glühende Eisen, wie Döllinger räth. Aber das reicht bei
weitem nicht aus, den merkwürdigen Eifer zu begreifen, mit welchem Laurentius
in Italien grade in frühester Zeit gefeiert wurde. In Rom bestanden schon
im fünften Jahrhundert vier Kirchen zu seiner Ehre, eine prachtvolle in Mai¬
land, andere durch ganz Italien. Er wurde dem Volke der Typus des Men¬
schen, der durch das Verbrennen des Leichnams auf dem Rost des Scheiter-
Hausens zum Gott oder Geist wird. Die heidnische Vorstellung von den
Laren personificirte sich in dem Larentius lvrgl. die Anna Larentia aus der
Urgeschichte Roms). Und es war wol die uralte heidnische Verehrung des
Hausgottes, welche die Gestalt des Feuerheiligen so ehrwürdig lieb und ver¬
traut macht.
Nichts ist schwerer und nichts ist mißlicher für die Wissenschaft, als den
Fluten unklarer, durcheinanderflimmernder mythischer Vorstellungen nachzu¬
gehen und den logischen Gang in denselben nachzuweisen. Es ist das oft
sowenig möglich, als mit dem Auge die Strömung des Meeres aus der
Hebung und Senkung der Wellenberge zu erkennen. Und wenn es irgendwo
dem Gelehrten ziemt, bescheiden zu sein, so ist es hier, wo er das heimlichste
Dämmerleben und das phantastische Träumen einer untergegangenen Welt mit
seiner. Leuchte zu erhellen hat.
Doch darf nicht verschwiegen werden, daß die kurzen Andeutungen, welche
hier über das Eingreifen heidnischer Vorstellungen in die christliche Mythen-
Melt gemacht wurden, bei breiterer Ausführung weniger fremdartig und sicherer
»scheinen, nicht selten sicher, bis zur Evidenz.
Wenn in dieser Weise heidnische Erinnerungen dazu beitrugen, die Ge¬
schichte eines eifrigen Kirchenmannes sagenhaft auszuschmücken, so waren doch
sie es nicht allein. Eine Masse Zufälligkeiten, welche sich dem Auge des For¬
schers nur zu leicht entziehen, waren außerdem dabei wie bei aller Sagenbil¬
dung thätig. So mag vielleicht die Verbindung, in welche eine Legende den
Hippolyt mit dem Leben des Laurentius bringt, darin ihren Grund haben,
daß eine dem Laurentius geweihte Kirche in der Nähe der Krvpta war, welche
dem Hippolyt geweiht war. So kann Hippolyt gar bald als eine Nebenperson
im Leben des andern als sein Wächter, als sein Offizier aufgefaßt worden sein.
Andere Berichte über den Heiligen kamen gradezu durch dürre Unwissen¬
heit und Mißverständnisse der Kirchenväter in Cours. So entstand z. B. der
Hippolyt von Bostra in Arabien.
In einer Stelle des Eusebius (K. 8. VI. 20.) sagt dieser: „Ein Bischof
war Berylluö von den Christen um Bostra, dasselbe Hippolyt, der auch Bi-
Schos von irgendeiner andern Gemeinde war." Diese griechischen Worte wurden
von Rufinus so ins Lateinische übersetzt: „Beryll war ein Bischof von Bostra,
der größten Stadt Arabiens. Ebenso war auch Hippolyt Bischof." — Der
Uebersetzer hatte die Worte „in irgendeiner andern Gemeinde" ausgelassen, und
die Römer verstanden demnach später so: auch Hippolyt war Bischof von Ara¬
bien. — Durch ein ähnliches Mißverstehen des Eusebius und durch die Un-
genauigkeit der Martyrologen ist Hippolyt zu einem Presbyter von Antiochien
geworden; und durch eine noch größere Confusion der Martyrologen wurde
der römische Kirchenschriftsteller mit einem frommen Nonnus in Asien zusam¬
mengebracht, der dort im fünften Jahrhundert eine Myriade Heiden bekehrt
haben soll. Diese Heiden aber wurden seit dem siebenten Jahrhundert, wo dort
Sarazenen erscheinen, als Sarazenen aufgefaßt.
Aus dem allen erkennt man, wie auf dem Boden von Thatsachen, welche
man einfach nennen kann, durch den ewig und in allen Völkern fortlebenden
Trieb der Sagenerfindung, durch Unkenntniß des Griechischen und durch das
Fortwuchern heidnischer Cultur und Mythen, auch nachdem ihnen der Kopf
abgeschlagen war, in christlicher Form eine Reihe Mythen entstanden sind,
gleichsam Gespenster eines abgestorbenen Lebens. Schattenhaft und wandel¬
bar fahren sie durcheinander, verschlingen sich, lösen sich ineinander auf. Eine
Bande unheimlicher, und oft dem schärfsten Auge undeutlicher Gebilde. Sie
hier wie überall zu bekämpfen und von dem Felde der Geschichte wegzuscheu-
chcn, ist noch immer eine Hauptaufgabe der historischen Forschung. Wo. dies
geschehen ist, da ist es wie bei der Gestalt des Hippolyt, des herben Feindes
der römischen Päpste überall am siegreichsten und vollkommensten geschehen mit
den Waffen, welche die freie Hand der deutschen Gelehrten geführt hat. —
Mr. John Francis, der Verfasser der Geschichte der Banken und de<Ge-
schichte der Eisenbahnen har jetzt auch eine Geschichte der londoner Börse her¬
ausgegeben, die aber, wie seine beiden frühern Werke mit Unrecht den Namen
Geschichte beansprucht, denn das Buch besteht vielmehr aus einer Sammlung
von Porträts, charakteristischen Zügen und Anekdoten aus dem englischen
Börsenleben. Geht dem Buche daher auch viel an wissenschaftlichem Werthe ab,
so ist es dafür reich an unterhaltenden Stoffe, der sich zu einer kleinen Blumen¬
lese eignet.
Der langjährige Kampf, den Wilhelm UI. gegen die ganz Europa mit
Unterjochung bedrohenden ehrgeizigen Pläne Ludwigs XIV. führte, zwang ihn,
Staatsanleihen zu machen, welche den Grund zu der später so riesenhaft ange¬
wachsenen Staatsschuld legten. Nach dem Beispiele seines Vaterlandes Hol¬
land stellt er als unwandelbares Princip auf, daß der Staat zu allen Zeiten,
mochten seine Verlegenheiten auch noch so groß sein, seinen Verbindlichkeiten
gegen seine Gläubiger auf das strengste nachkommen müßte. Dies war da¬
mals noch ein neuer Grundsatz und in andern Staaten, wie z. B. in Frank¬
reich, hat man noch bis Ende des vergangenen Jahrhunderts die versprochenen
Zinsen willkürlich heruntergesetzt. Dafür hat aber auch England vorzugsweise
vor allen andern Staaten selbst in den Zeiten seiner größten Bedrängnisse stets
Credit gehabt und z'u gleicher Zeit wurde es dadurch ermöglicht, solche Staats¬
papiere zu einem Gegenstand des Handelsgeschäfts zu machen, wodurch es
wieder dem Staat, der sie ausstellte, gegen früher unendlich erleichtert wurde,
in Zeiten der Noth Geld aufzunehmen.
Ehe jedoch dieser Staatspapierhandel entstand, bildeten ganz andre Effecten
den Gegenstand der Börsenspekulation. 1634 waren alle Speculanten von
Amsterdam, von London und Paris in fieberhafter Bewegung. Man speculirte
in Tulpenzwiebeln. „Eine Zeitlang," erzählt Mr. Francis „gewann alle Welt
und niemand verlor, wie dies gewöhnlich ist. Arme Teufel wurden reich.
Groß und Klein handelte mit Tulpenzwiebeln. Die Geschäfte erhielten ihren
Abschluß durch kostbare Vergnügungspartien. Die Notare wurden reich und
der phlegmatische Holländer glaubte eine unversiegbare Quelle des Reichthums
entdeckt zu haben. Personen jeden Standes verwandelten ihre Habe in klingende
Münze. Man verkaufte Haus und Hof zu den schmachvollsten Preisen. Jeder¬
mann war überzeugt, daß die Leidenschaft für Tulpen von ewiger Dauer sein
würde. Auf die Nachricht, daß das Fieber auch andre Länder angesteckt hatte,
überredete man sich, daß die Reichthümer der ganzen Welt an dem Ufer des,
Zuidersees zusammenströmen müßten." ^Während dieses Fiebers bezahlte man
die Tulpenzwiebel mit ein- bis zweitausend Gulden; man gab Pferde, Wagen,
Zwölf Acker Land für eine Zwiebel. Aber plötzlich zog sich das Vertrauen
Von den Zwiebeln zurück; niemand kümmerte sich mehr um sie. Wer schönen
Hausrath, schöne Pferde und Wagen und schöne Landgüter sür nichts bekommen
hatte, behielt sie. Die Zwiebelbesitzer dagegen mochten immer Versammlungen
zusammenberufen und dekretiren, daß die Tulpen noch ganz ihren frühern Werth
besäßen und daß die Zeiten ihres Mißcredits vorübergehen würden. Es half alles
nichts, die Tulpenzwiebel hatte aufgehört die Börse zu regieren. Ihr folgten in
England die Südseeactien, in Frankreich die Mississtppiactien und die Schwinde¬
leien Laws. Das Mississippiunternehmen stand im December in seiner
höchsten Blüte, die Actien hatten mehr als das Zwanzigfache ihres ursprüng¬
lichen Werthes erreicht. Die Straße Quincampoir, wo sich die Speculanten
von Paris versammelten, war vom Sonnenaufgang an von einer geschäftigen
und fieberhaft erregten Menschenmenge angefüllt, welche vergaß , zum Essen zu
gehen, keinen andern Hunger oder Durst zu fühlen schien als nach Gold, und
sich nicht eher zerstreute, als bis mit Einbruch der Nacht eine Glocke das Zei¬
chen zum Nachhausegehen gab. Das kleinste Kämmerchen in dieser Straße
wurde zu den ausschweifendsten Preisen vermiethet. Die Schreiber sahen sich
halv außer Stande. ,die täglich wachsende Zahl der Subscribenten einzuzeich¬
nen ; und man erzählt sogar, daß ein kleiner Buckliger sich auf der Straße
öl),000 Franken damit verdiente, daß er ungeduldigen Speculanten seinen
Rücken als Schreibpult anbot. Law, der Urheber des Unternehmens, war
auf einmal zum größten Unterthanen in Europa geworden. „ Ich habe ihn
nach Hofe gehen sehen," sagt Voltaire, „ehrerbietig geleitet von Herzögen,
Marschällen und Bischöfen." Und sogar Dubois, der Premierminister und der
Prinzregcnt selbst zitterten vor ihm. Wie schmählich er zusammenbrach, ist allge¬
mein bekannt. Der Staat wurde durch ihn fünfzehnhundert Millionen Schulden
los, er selbst mußte, um sein nacktes Leben zu retten, aus Frankreich entflie¬
hen; einige wenige Speculanten wurden reich, aber viele tausend unschuldige
Familien waren zu Grunde gerichtet.
Die Südseecompagnie in England begann ihre Unternehmungen im
April 1720. Im August stiegen die Actien von -130 bereits auf 1000. Die
Directoren der Compagnie eröffneten, nachdem bereits zwei Ziehungen überreich¬
licher Ertrag geliefert hatten, eine dritte und vierte Subscription, und decretir-
ten, daß von Weihnachten nächsten Jahres die Dividende nicht unter 50 Pro¬
cent sein sollte. Der glückliche Fortgang des Unternehmens rief bald noch
tausend andere Unternehmungen hervor; selbst der Thronerbe stellte sich an die
Spitze einer Waleskupfergesellschaft, obgleich alle Actienunternehmungen, die
das Parlament nicht ausdrücklich privilegirt hatte, gesetzlich verboten waren-
Erst die Drohung der gerichtlichen Verfolgung gegen die Compagnie vermochte
den Prinzen sich zurückzuziehen, nachdem er 40,000 Pfund gewonnen hatte.
Auch den Herzog von Chandos und den Grafen von Westmoreland sah man
als Directoren, an der Spitze von Schwindelunternehmungen figuriren, und
bald überzeugte sich auch das große Publicum, daß Speculiren, leichter sei, als
Arbeiten. „Chance Ulley," berichtet Lord Mahon in seiner Geschichte Englands,
„wurde seit dem utrechter Frieden eine, neue Ausgabe der Straße Quinccimpoir.
Die Häuser selbst wurden so gedrängt voll, daß man Tische mit Schreiber»
auf die Straße setzen mußte. In diesem bunten Gewühl sah man , alle Stände,
alle Gewerbe und alle Parteien untereinandergemengt; Hochkirchenleute und
Dissenters, Whigs und Tories,, Landedelleute und Makler. Ein heißer Zungen¬
kampf herrschte in diesem zweiten Babel. — Neue Reports, neue Zeichnungen,
neue Uebertragungen flogen von Mund zu Mund, und Damenstimmen (denn
selbst viele Damen speculirten an der Börse) erhoben sich gellend und uner-
inutiles über das allgemeine Getöse. — Ein Ausländer hätte nicht länger
über die englische Schweigsamkeit klagen können. Einige von den aufgebote¬
nen Unternehmungen waren von der abenteuerlichsten Art; unter andern finden
wir darunter: eine Compagnie für das Herausfischen von untergegangenen
Schiffen an der irländischen Küste, andere zur Versicherung gegen Verluste durch
Dienstboten, um Meerwasser trinkbar zu machen, um Spitäler für uneheliche
Kinder zu bauen, um Schiffe gegen Seeräuber auszurüsten, um Oel aus
Sonnenblumensamen zu Pressen, um das Bier zu verbessern, um Matrosen¬
löhnungen einzuziehen, um Silber aus Blei zu gewinnen, um Quecksilber in ein
hämmerbares und schönes Metall zu verwandeln, um eine Herde von großen
Eseln aus Spanien zu importiren, um einen Handel mit Menschenhaar zu er¬
richten, um Schweine zu mästen, zur Herstellung eines Perpetuum mobile. Die
seltsamste Einladung war jedenfalls die „zu einem Unternehmen, welches seiner
Zeit bekannt gemacht werden sollte." Jeder Unterzeichner sollte zwei Guineen
baar anzahlen und später eine Actie von hundert Guineen mit einer Eröffnung
über den Zweck des Unternehmens erhalten; und so verlockend war das Aner¬
bieten, daß an dem ersten Morgen tausend Actien gezeichnet wurden, mit deren
Ertrag der Erfinder Nachmittags verschwunden war. Mitten unter diesen
wirklichen Thorheiten erscheint ein Vorschlag, der die Speculalionswuth ver¬
spotten sollte, kaum als übertrieben. Der Plan lautete auf Begründung
einer Aktiengesellschaft, „um Säge- und Hobelspäne zu schmelzen und da¬
raus gute Bieter ohne Nisse und Astkuoten zu gießen." Nachdem, wie man
behauptet, die ungeheure Summe von 300 Millionen Pfund Sterling gezeich¬
net worden war, begann der Rückschlag, und zwar schon im September, und
in weniger als einem Monat waren die Südseeaetien auf 300 gesunken. Das
schreckliche Mißverhältniß zwischen den papiernen Versprechungen zu zahlen
und dem vorhandenen baaren Geld machte sich bald fühlbar und es entstand
eine allgemeine Geldkrisis, die viele und selbst vornehme Familien an den
Bettelstab brachte und im ganzen Lande eine ungeheure Aufregung gegen die¬
jenigen, welche als Speculanten den Neigen geführt hatten, erregte, namentlich
gegen die Südseedirectoren und gegen Sunderland, den Lord des Schatzes uno
Aislabie, den Schatzkanzler, welche die Südseebill im Parlament eingebracht
hatten. Das Parlament begann eine Untersuchung und sein Zorn fiel schwer
auf die Hauptangeklagten außer Sunderland, der freigesprochen wurde. Es
stellte sich heraus, daß die Direktoren sich der Bestechung als Mittel bedient
hatten, um die Bill durchs Parlament zu bringen. Von den deshalb Ange¬
klagten starb der Staatssekretär Craggs während der Untersuchung an den
Pocken. Sein Vater, der Generalpostmeister, vergiftete sich, Aislabie wurde ein¬
stimmig aus dem Unterhause gestoßen, nach dem Tower geschickt und mit der
Confiscation des größten Theils seines Vermögens bestraft. Die Direktoren
der Südseecompagnie wurden auf immer für unfähig erklärt, im Parlament zu
sitzen und ihr Vermögen von über zwei Millionen Pfund Sterling zum Besten
derer, welche durch das Unternehmen gelitten hatten, in Beschlag genommen.
Es gehörte Walpoles ganzes finanzielles Genie dazu, um den öffentlichen Credit
wieder herzustellen.
Jene Zeit war auch Zeugin der Geburt der ersten Börsenente. Sir Henry
Furnese, ein Director der englischen Bank, war damals der Rothschild der
londoner Börse. Er war der erste, der über das ganze Festland ein System
von Nachrichtenbureaur organisirte, das ihn in den Stand setzte, früher als
alle andern und selbst früher als die Negierung Kunde von allem Wichtigen,
was in Frankreich, Holland oder Deutschland geschah, zu haben, wie ja auch
aus Rothschilds Munde im Juli -1830 Lord Aberdeen die erste Nachricht von
der Juliusrevolutivn erhielt. Aber Sir Henry Furnese begnügte sich nicht
mit den ehrlichen Vortheilen, die ihm sein Correspondentennetz gab. „Er
fabricirte Nachrichten," sagt Mr. Francis, „brachte falsche Gerüchte in Umlauf
und war der erste Erfinder der Machinationen, welche in unsern Zeiten oft so
schlimme Nachwirkungen gehabt haben. Wenn Sir Henry Furnese kaufen
wollte, so hatten seine Agenten Befehl, ein bedenkliches Gesicht zu machen,
eine geheimnißvolle Miene anzunehmen und glauben zu machen, es seien
wichtige Neuigkeiten im Anzüge; endlich schlössen sie Verkäufe ab. Alle ihre
Bewegungen wurden auf das sorgfältigste beobachtet, die Speculanten bekamen
Angst und die Course sanken um vier bis fünf Procent; Bankerottörs und
Menschen ohne Mittel versuchten die Schwindeleien der Millionäre nachzu¬
machen und oft mit demselben Erfolg."
Wol eine der ersten und eine mit vielem Aufwand von Apparat erfundene
Börsenente flog im Jahr -17-13 auf. Es war die Zeit des ersten Jacobiten-
aufstandes in Schottland und die Nachricht von der Gefangennahme des
Prätendenten mußte das Glück der Haussiers machen. Eines Tages sah man
eine mit vier Personen besetzte Kutsche in größter Eile nach dem schottischen
Seehafen Montrose zu fahren; aber ehe die Reisenden dieses Ziel erreichten,
und während sie in einer kleinen Stadt anhielten, um Erfrischungen einzuneh¬
men, wird der Wagen plötzlich von einem Zug königlicher Truppen umringt
und die Darinsitzenden werden nach einigem Widerstand verhaftet und müssen
ihre Reise, anstatt nach Montrose, südwärts nach London fortsetzen. Natürlich
verbreitete sich die Nachricht, daß der Prätendent auf einem Fluchtversuch ver¬
haftet worden und jetzt nach dem Tower unterwegs sei, mit der Schnelligkeit,
die in jener Zeit langsamer Communication überhaupt möglich war. Wir
brauchen wol nicht hinzuzusetzen, daß sämmtliche in dem Auftritt Agirende bloße
Masken waren, und daß die Komödie denen, die sie von London aus veran¬
staltet hatten, eine reiche Quelle des Gewinns erschloß. Die Baissiers nahmen
aber ihre Revanche. Fast um dieselbe Zeit wurde ein geschickt verbreitetes Ge¬
rücht von dem Tode der Königin Anna auf dieselbe Weise benutzt. Ein mit
verhängten Zügeln einhersprcngender Courier brachte die Nachricht nach der
Stadt, wo sie sich wie ein Lauffeuer verbreitete. Es erercirte grade ein Miliz-
regiment, das sofort mit gesenkten Fahnen und umgekehrten Gewehren, zum
Zeichen der Trauer, nach Hause zog. Alle Papiere sanken sofort sehr bedeu¬
tend, aber einige Speculanten hatten Muth genug alles zu kaufen, was man
ihnen anbot, und nächsten Tags wußte alle Welt, daß sich Königin Anna
einer ausgezeichneten Gesundheit erfreute. Der geheimnißvolle Courier aber,
der die Nachricht überbracht hatte, war verschwunden. Diejenigen, welche
während des panischen Schreckens gekauft hatten, wußten wahrscheinlich von ihm
zu erzählen. Aber Beweise gegen sie ließen sich nicht beibringen, und sie behielten
ihren erschwindelten Gewinn.
Allmälig bildete sich dieses Erfinden von falschen Nachrichten zu einem
vollständigen System aus: man erfand Geschichten, die sich ebenso dramatisch
wie eine gutgearbeitete Komödie entwickelten, in welcher die Mithandelnden
oft ebenso zahlreich, ihre Rollen ebenso mannigfach wie in einem Theater¬
stück waren, und deren Autorenrecht „hochgestellte Männer" zuweilen mit sehr
zweideutigen Menschen zu theilen nicht verschmähten. Parlamentsmitglieder
verfertigten manchmal selbst Nachrichten; man gab fabricirte Briefe aus dem
Auslande herum, oder ließ sie in die Zeitung setzen, um irgendeine falsche
Nachricht in Umlauf zu bringen; und jeder Kunstgriff wurde angewendet, um
sich zuerst den Besitz von Neuigkeiten — mochten sie wahr oder falsch sein —
ZU sichern. Es wird behauptet, daß die Dienerschaft von hohen Staatsbeamten
>in Solde großer Staatspapierspeculanten stand, und selbst Ministersrauen
sagt man nach, für „Werth empfangen" sich zu willigen Werkzeugen für
Männer gemacht zu haben, denen eine neue Nachricht Tausende von Pfunden
werth war.
Während des großen Contmentaltneges zu Anfang dieses Jahrhunderts war
der Tod Bonapartes die Lieblingsbörsenente. Während des Feldzugs in Aegyp-
ten erhielt der Premierminister eine Depesche des Inhalts, daß Napoleon von
einem der Wüstenhäuptlinge ermordet worden sei. Alle Einzelnheiten waren
»Ut einer Umständlichkeit erzählt, die als eine sichere Bürgschaft der Wahrheit
erschien. Der Häuptling, hieß eS, hatte die größte Anhänglichkeit an den
Tag gelegt, bis sich eine günstige Gelegenheit darbot, wo auf ein gegebenes
Zeichen zahlreiche Stämme über Napoleon und sein Gefolge hergefallen wären und
alle niedergemetzelt hätten. Die Sage erhielt sich geraume Zeit, da sie wegen der
großen Entfernung und des durch den Krieg behinderten Verkehrs nicht rasch be¬
stätigt oder widerlegt werden konnte, die Glocken wurden festlich geläutet, niemand
Zweifelte an der Wahrheit der Erzählung, und die Fonds stiegen rasch und be-
deutend. Die Verfertiger der falschen Depesche hat man nie offen nennen
hören, auch scheint man sich gescheut zu haben, die Sache ernstlich zu unter¬
suchen ; doch deutete man zu jener Zeit an, es wären zwei große Speculanten
aus der politischen Welt und ein oder zwei Ilnterhausmitglieder. Bei
einer spätern Gelegenheit, wurde ein Mitglied des Ministeriums Gren-
ville, Lord Moira, in aller Form beschuldigt, die ihm als Minister zugekom¬
menen Nachrichten zu Börsenspeculanonen verwendet zu haben. Sein Ankläger
war ein Commis der englischen Bank; aber dieser konnte seine Anschuldigungen
nicht beweisen, und die Sache schlief wieder ein, nachdem sie beträchtliches Auf¬
sehen gemacht hatte.
Man hätte meinen sollen, daß das häufige Wiederkehren der falschen
Nachrichten von Napoleons Tode die Wirkung derselben zuletzt hätte abstumpfen
sollen. Aber noch im letzten Jahre des Krieges zeigte sie sich wirksam. Zei¬
tig im Jahre 4 81L> wurden große Ankäufe in Consols auf Zeit gemacht, und
zwar von Personen, welche den Mäklern nicht als Speculanten bekannt waren,
denn sie waren besonders ausgesucht worden. Nachdem der erste Act des
Dramas auf diese Weise beendigt war, handelte es sich darum, den zweiten Act
zu beginnen. Demnach landeten eines Morgens in Dover in einem offenen
Boote einige Personen in der Uniform französischer Offiziere, die sich sofort in
ein dasiges Gasthaus begaben und vierspännige Ertrapost bestellten, um in größter
Eile nach Louter weiter zu reisen. Zufällig ließen sie ein Wort über'den
Zweck ihrer Sendung hören: sie überbrachten die Nachricht von dem Tode Napo¬
leons. Die Neuigkeit verbreitete sich mit Blitzesschnelle weiter. Einige eilten
nach der Telegraphenstation bei Dover, um die wichtige Thatsache nach London
zu telegraphiren: aber zufällig war sehr nebliges Wetter und man konnte sich
nicht einmal mit der nächsten Station in Verbindung setzen. Daß der Tele¬
graph auf diese Weise seine Mitwirkung versagte, war ein schwerer Schlag für
die Speculanten, die nicht nur aus die schnelle Weiterbeförderung der Fabel ge¬
rechnet hatten, sondern auch darauf, daß es durch das halbosficielle Medium
des Telegraphen geschähe. Sie reisten daher sofort in einer vierspännigen
Postchaise ab, kamen auf jeder Station ihrer Reise mit dem Anscheine größter
Eile in die Städte galoppirt, bestellten mit großer Hast frische Pferde und
ließen dabei stets einige Winke über die wichtige Nachricht, welche sie brachten,
fallen. Auf diese Weise erreichten sie die Vorstädte Londons, wo die Postillione
anhielten, die angeblichen französischen Offiziere aus dem Wagen' stiegen, ihn
bezahlten und fortschickten und in einem nahen Privathaus verschwanden, um
ihre Verkleidung abzulegen. Ihre Rolle in dem Drama war ausgespielt und
die Urheber des ganzen Plans hatten nur noch die Wirkung ihrer Machinatio¬
nen abzuwarten.
Binnen kurzem erreichte die Nachricht von dem Tode Napoleons die Stock-
horse und gleich einem Schneeball hatte die Geschichte an Umständlichkeit durch
ihre lange Reise nichts verloren. Zahlreiche Einzelnheiten wurden der einfachen
bloßen Thatsache zugesetzt, bis fast jeder Einzelne bereit war, jeden kleinen
Zug der ganzen Erzählung zu verbürgen und von allen Seiten „nähere und
neueste Nachrichten" auftauchten. Natürlich stiegen die Course, aber nicht so
rasch und so bedeutend, als die Erfinder des Streiches zu hoffen berechtigt
waren, wenn man bedenkt, daß während der letzten Jahre von Napoleons
Laufbahn die Course in einer Stunde sich manchmal um acht bis zehn Procent
verändert hatten. Einige der größern Speculanten zweifelten an der Wahrheit
des Gerüchts und hielten daher zurück. Demungeachtet wurden die für die
Speculanten aufgekauften Papiere mit einem guten Gewinn verkauft, ehe die
Falschheit der Nachricht entdeckt wurde.
Die Erfinder von Börsenenten fanden es oft überflüssig, viel Phantasie
aufzuwenden oder ihren Geschichten viel Abwechselung zu geben. So fand die
Nachricht von der Verhaftung des Prätendenten, die dies Mal aber nicht aus
Montrose, sondern von der großen Nordstraße kam, auf welche man angeblich
den Verhafteten in einer verschlossenen Kutsche hatte transportiren sehen, bei
dem leichtgläubigen Publicum zum zweiten Male Anklang. Ueberhaupt waren
jene unruhigen Zeiten der Verbreitung falscher Nachrichten ausnehmend günstig
und bald war es das Gerücht von einem abgeschlossenen Frieden oder die
Nachricht von einer Kriegserklärung, welche die Börse in Bewegung setzte;
manchmal war plötzlich ein Premierminister gestorben; gelegentlich wurde der
König ernstlich krank oder ein Cabinet hatte seine Entlassung genommen.
Einige Monate nach dem England wenig ehrenvollen Waffenstillstand von
Liniers war die öffentliche Meinung in der größten Aufregung über die Frage,
ob der Krieg wieder ausbrechen werde oder nicht. Die Citybewohner wurden
daher nicht unangenehm überrascht, als sie eines Morgens -1803 am Mansion-
house, »er Wohnung des Lordmayors, folgende Nachricht, die wenigstens der
Peinlichen Ungewißheit ein Ende machte, angeschlagen fanden: „Lord Hawkes-
bury sendet dem Lordmayor sein Kompliment und hat die Ehre Sr. Herrlich¬
keit mitzutheilen, daß die Unterhandlungen zwischen diesem Lande und der
französischen Republik zu einem Friedensschlüsse geführt haben." Der Anschlag
war nachgemacht; die Erzeuger der Ente zogen jedoch keinen Gewinn davon,
denn es gelang ihnen zwar, die Course zum Steigen zu bringen und einen
großen nomineller Profit zu machen, aber da sämmtliche auf diese Nachricht
hin abgeschlossene Geschäfte für ungiltig erklärt wurden, gingen sie doch zu¬
letzt leer aus. Die neueste der Börsenenten, die Einnahme von Sebastopol,
flog bekanntlich wie ein Lauffeuer durch Europa und es dauerte acht Tage,
ehe man mit Bestimmtheit sagen konnte, daß sie erfunden sei. Ihre Wirkung
war unbedeutend, da die Erfinder sie ungeschickterweise so in Bewegung gesetzt
hatten, daß sie des Sonntags auf den Hauptbörsenplätzen eintraf und die
Leute daher Zeit hatten, sich wenigstens etwas zu besinnen.
Mr. John Francis behandelt in seinem Buche den Ursprung der vor¬
nehmsten Finanzoperationen der londoner Börse, erzählt, unter welchen Ver¬
hältnissen die ewigen Renten emittirt, die ersten Schatzsammerscheine ausgege¬
ben und die ersten Zeitkäufe abgeschlossen wurden und stets sehen wir uns bei
den ersten Schritten in diesen verschiedenen Finanzoperationen in die Zeiten
Wilhelms III. zurückversetzt, denn dieser große Regent strengte die finanziel¬
len Hilfsquellen Englands auf eine bis dahin noch unerhörte Weise an, führte
aber auch dafür England dauernd in die Reihe der Großmächte ein. Auch den
Lotterien widmet Francis ein Capitel, obgleich sie streng genommen auf die Börse
keinen Einfluß haben. Die erste in England nach dem Beispiel der Genuesen und
der päpstlichen Negierung organisirte Lotterie wurde -Is99 gezogen. Der daraus
gewonnene Ueberschuß wurde zur Ausbesserung der Häfen und Befestigungen
Englands verwendet, ein schlagendes Zeichen von der Naivetät der finanziellen
Anschauungen jener Zeit. -1620 unterdrückte man die Lotterien wegen ihrer ent¬
sittlichenden Wirkung; der ewig des Geldes bedürftige Karl I. aber stellte sie
wieder her und Karl II. gab ihnen noch größere Ausdehnung und machte sie
durch die Ausgabe von Loosen für einen Penny allen Classen zugänglich.
Wilhelm III. verschmähte nicht, aus denselben Quellen zu schöpfen, wie die
Stuarts. 169t verschaffte er sich eine Million Pfund Sterling Vermittelsteiner
Lotterie, deren Loose nach Ablauf von 16 Jahren sich in eine vierprocentige
Rente verwandeln sollten. Die Leidenschaft des Lotteriespieles steigerte sich
mit jedem Jahrhunderte. Im Jahr -1772 hatte die Spielwuth ihre heftigste
Krisis erreicht. Schmiede, Hutmacher, Austernhändler, Thee- und Taback¬
läden, Speisewirthe zeigten an, daß man bei ihnen gegen einen Einsatz
von einem viertel oder einem halben Schilling eine Weste, einen Hut, ein
Pfund Thee oder eine mit so und soviel Geld einzulösende Marke gewinnen
könne. Die Leidenschaft verbreitete sich bald über das ganze Land. Die
Lotterien mit ganz kleinen Einsalzen brachten natürlich, da sie sich an die große
Masse des Volkes wendeten, die nachtheiligsten Wirkungen hervor. Einmal
las man über einem Wurstladen in einem der ärmlichsten Theile Londons:
„Hier kann für einen Farthing (zwei Pfennige) Wurst der vom Glück be¬
günstigte Käufer ein Capital von fünf Schilling (einen Species) gewinnen."
„Mein ganzes Haus/' schreibt ein Schriftsteller jener Zeit, „ist von der
Lotteriewuth angesteckt, selbst meine Küchenmagd und ein kleiner Stalljunge,
den ich habe, versetzen ihre Sachen, um ihr Glück zu versuchen." Vergebens
sprachen sich viele einflußreiche und einsichtige Männer gegen das Unwesen
aus; der Staat bedürfte außerordentlicher Mittel und die Finanzwissenschaft
jener Zeit wußte auf keine schnellere Weise eine so reichlich fließende Hilfsquelle
zu erschließen. Außer den erlaubten Lotterien bestanden in London 400 un¬
erlaubte, die keine reelle Grundlage hatten und man hat berechnet, daß blos
die Dienstbotenbevölkerung der Hauptstadt jährlich eine halbe Million Pfund
in diesen Abgrund warf. In der Provinz war das Uebel nicht geringer und
die ungewöhnliche Zahl der Selbstmorde war ein deutliches Symptom der Ver¬
heerung, die es anrichtete. Aber auch der Humor fand in dem düstern Bilde
eine Stelle. Eine Frau, die ein Loos gekauft hatte, suchte sich die Frömmig¬
keit der Gläubigen dadurch zu Nutze zu machen, daß sie in der Kirche zum
Gebet für eine Frau „die sich in eine neue Unternehmung eingelassen hat",
zur Fürbitte auffordern ließ. Obgleich mehre Male gegen Ende des vorigen
Jahrhunderts verboten, verschwanden die Lotterien doch nicht ganz, denn die
Regierung selbst mußte noch einige Male Zuflucht zu ihnen nehmen und erst
1826 wurden sie durch das Unterhaus definitiv abgeschafft. Sie brachten damals
dem Staate 300,000 Pfund ein und die letzte Ziehung fand am 19. October
1826 statt.
Eine der traurigsten Episoden der Geschichte der Börsen bilden die großen
Krisen, welche sich fast in regelmäßigen Zwischenräumen einstellen und wo dann
mir graunerregender Schnelligkeit die größten und allem Anscheine nach soli¬
desten finanziellen Größen in den Staub sinken. Auf die große, durch den
Südseeschwindel veranlaßte Krisis folgte bereits 30 Jahre später, 1772, eine
neue. Den Anstoß dazu gab das Fallissement einer schottischen Privatbank.
Diese Bank hatte ihr Papier mit wahrhaft fabelhafter Großmuth ausgegeben.
Durch den Erfolg kühn geworden trieb sie das Vertrauen bis zur Thorheit
und lieh jedem, der zu ihr kam, selbst dem einfachen Arbeiter und Ackerknecht,
Geld; wie es gewöhnlich in solchen Fällen geht, hatte sie es endlich so weit
gebracht, daß die Capitalien mit tiefster Verachtung auf alles Metallgeld
herabblickten. Aber ebenso sicher kommt der plötzliche Rückschlag, wo kein
Mensch mehr dem Papier trauen will. Als diese Zeit für das Haus Douglas,
Heron u. Comp. kam, trat eine schreckliche Krisis ein. Selbst die königliche
Bank von Schottland und alle Privätbankiers Englands wurden aufs tiefste
erschüttert und die berühmteste finanzielle Größe jener Zeit, Sir Alexander
Fordyce war gänzlich zu Grunde gerichtet. Er hatte als einfacher Mützen¬
macher in Aberdeen angefangen und war dann, um sein Glück zu versuchen,
nach London gegangen. Hier fand er eine Anstellung in einem großen Bankier-
geschäst der City, dessen Associe er später wurde, und an dessen Spitze er den
ganzen Reichthum seines finanziellen Genies entwickelte. So erwarb er in
wenigen Jahren ein unermeßliches Vermögen. Damals waren grade einige
Abenteurer aus Ostindien zurückgekehrt, die Altengland mit ihren dort erworbenen
Schätzen in athemloses Erstaunen versetzten. Voller Ehrgeiz wetteiferte Fordyce
mit diesen Nabobs, ließ Kirchen bauen, gründete Hospitäler, wurde darauf
Ritter und erbaute sich in Rochamptvn einen prachtvollen Palast. Aber das
Glück hörte auf ihn zu begünstigen und wendete sich dann mit Hartnäckigkeit
gegen ihn. Er verlor sein ganzes Capital, benutzte sogar die ihm anvertraute»
Depositen und unterschrieb für 4 Millionen Pfund Wechsel, so groß war das
Vertrauen, welches er in der City genoß. Vergebens jedoch hoffte er auf eine
günstigere Conjunctur des Geldmarktes. Zuletzt waren seine Kräfte doch er¬
schöpft, und er stürzte plötzlich so tief, als er früher hoch gestiegen war.
Seine prachtvollen Paläste, seine schönen Parke, seine kostbaren Gemäldesamm¬
lungen verfielen dem Hammer des Aucrivnators, und er starb in der größten
Dürftigkeit.
Wir wollen zum Schluß noch einige Worte über die Organisation der
londoner Stocksbörse sagen. Sie ist sehr einfach. Ein Ausschuß von 20 Mit¬
gliedern unter einem Präsidenten und Vicepräsidenten, die jährlich erwählt
werden, besorgt die Verwaltung und erläßt die Börsenordnung. Die Befugniß
dieses Ausschusses ist unumschränkt. Er stößt die unwürdigen Mitglieder aus,
und wenn Einer seine Verbindlichkeiten nicht erfüllen will oder kann, macht es
der Ausschuß durch folgenden Anschlag bekannt: „Die mit Herrn A. in Ver¬
bindung stehenden Geschäftsfreunde werden gebeten, sich an Herrn B. zu
wenden." Die Kunstausdrücke der londoner Börse werden wol den meisten
Lesern bekannt sein: Die Haussiers heißen IZuII» (Ochsen) die Baissterö
b«ZÄr8 (Bären), die Ptene Gegangenen kams änoks (lahme Enten). Letztere
werden an die schwarze Tafel geschlagen, eine Art Börsenpranger, der zuerst
im Jahre -1787 benutzt wurde, wo 22 lahme Enten mit einem Deficit von
einer Viertelmillion Pfund aus einmal von der Börse wegblieben. Das
innerste Heiligthum der Börse sind nur Mitglieder berechtigt zu betreten. Wehe
dem Uneingeweihten, der sich aus Zufall oder Neugier hierher verirrt. Sowie
einer der Anwesenden in ihm den Fremdling erkennt, ruft er aus: „vierzehn¬
hundert neue fünf Procent!" und hundert Stimmen wiederholen das Zauber¬
wort. Darauf regnet es Püffe, Faustschläge, Fußtritte auf den Eindringling,
der entsetzt über den unvermutheten Ac»erfall sich vergeblich nach Schutz und
Hilfe oder wenigstens nach einem mitleidigen Gesicht umsieht. Man spielt
förmlich mit ihm Ball, und nur spöttische Rufe des Bedauerns vernimmt
man: „Schlagt ihn nur nicht todt! Zerbrecht ihm nur die Beine!" „Schämt
euch doch, einen Gentlemen so zu behandeln!" ruft ein.anderer, und gibt dem
Unglücklichen einen Tritt, daß er 20 Schritt weit fliegt. Zerstoßen und zer¬
bläut, den Rock in Fetzen zerrissen und den Hut in das Gesicht geschlagen,
erreicht der Mißhandelte endlich die Thür und schätzt sich glücklich, ins Freie
zu gelangen, immer noch verfolgt von dem Gebrüll: „vierzehnhundert neue
fünf Procent."
Handbuch für Reisende in Deutschland von Karl Bädeker. 1. Theil: Oestreich,
Süd- und Westdeutschland, 6. Auflage 1835. — 2. Theil: Mittel- und
Norddeutschland, 6. Auflage 1855. — Südbaiern, Tvrol und Salzburg,
Oberitalien. 6. Auflage 1855. — Die Schweiz, 5. Auflage 1854. —
Paris und Umgebungen, 1855. — Holland, 3. Auflage 1854. —
Belgien. 5. Auflage 1854. —Die Rheinlande, 5. Auflage 1855, (Sämmt¬
lich Koblenz bei Karl Bädecker.) — '
In den letzten Jahren ist eine massenhafte Literatur für Reisende ent¬
standen, von der unsre Väter noch wenig wußten, die unsern Großvätern
ausschweifend und unmöglich erschienen wäre. Nächstenliebe und Industrie
haben eine Fülle von Eisenbahn- und Passagierbüchern, Coursverzeichnissen, ja
ganze Eisenbahnbibliotheken hervorgetrieben, wie dieser feuchte Sommer die
Pilze d«s Waldes. Während es sonst für den gereisten Mann ein Haupt¬
verdienst seines spätern Lebens war, in seinem Kreise sagenhafte Kunden zu
Verbreiter von den Merkwürdigkeiten, die er in dem fremden Land gesehen
hatte und während er sich etwas darauf einbildete, ein Dutzend Gasthöfe
persönlich erforscht zu haben, in denen das Essen erträglich, der Wirth nicht
zu grob und die Bedienung nicht zu unverschämt war, hat jetzt der menschliche
Witz Zauberbücher erfunden, in denen mehr Weisheit und Erfahrung nieder¬
gelegt ist, als der leidenschaftlichste Reisende in einem Jahre verbrauchen kann.
Unter diesen guten Büchern nehmen die angeführten Werke von Karl Bädeker
für uns Deutsche jetzt wol den ersten Platz ein. Sie sind für unzählige Reisende
treue Begleiter und zuverlässige Freunde geworden, mit deren Hilfe der Wan¬
derer alles Gute sieht, alles Schöne genießt, die weichsten Betten, den besten
Wein, die rauchbarsten Cigarren und — hört! hört! — die billigsten Rech¬
nungen erhält und durch welche er jeder Möglichkeit beraubt wird, sich auf
irgendeinem Wege der Welt zu verirren und sei der Weg noch so schwer zu
.'stNltMttkK .'!'.!'/!« ..-i.i'.,, .'......... .. . . ' .
Es ist unmöglich, sich der Ansicht zu entschlagen, daß in diesen Büchern
etwas Uebernatürliches, sozusagen Feenhaftes steckt. Bekanntlich gibt es alte
Sagen von gutmüthigen Geistern, von Zaubermänteln, sprechenden Vögeln
und andern Hilfsmitteln, welche den armen Wanderer im Walde in seiner Noth
helfen. Sie sind sämmtlich, mit den erwähnten rothen Büchern verglichen,
veraltete und kümmerliche Einrichtungen des Universums. Was vermag das
graue Männchen im Walde im Vergleich zu Herrn Bädeker! Das Männchen
läßt uns in die höchste Noth kommen, wir müssen sechs Stunden in der Irre
umhergelaufen sein und uns Magen und Lippen durch Heidelbeeren geschwärzt
und ruinirt haben, ehe es vielleicht — denn die Sache ist noch nicht sicher —
die Gefälligkeit hat, aus einem Gebüsch hervorzutreten und uns in einen hohlen
Baum oder in ein Erdloch zu führen, dort erhalten wir irgendetwas Namenloses
zu essen, vielleicht eine tausend Jahr alte Wurst und sind zuletzt glücklich,
wenn wir ebendaselbst auf trocknen Blättern schlafen dürfen. Was thut da¬
gegen Herr Bädeker? Er ist immer bei uns. Er geht nie von unsrer Seite,
er ruft uns auf jedem Wege zu: Hier rechts, dort links — noch hundert
Schritt bis zu dem alten Tannenbaum, dann fünf Minuten bis zu einer ver¬
fallenen Hütte, dann nicht links, sondern rechts; und nicht über den Zaun,
sondern daran herunter u. s. w. und das thut er nicht auf einem Wege,
nein, auf allen Wegen, nicht nur durch Deutschland, sondern auch durch alle
Nachbarländer; überall raunt er uns zu: hier gehe vorüber, dort stehe still;
hier setze dich, dort sieh dich um; in diesem Wirthshaus ist der Wirth ein
Schlingel und die Betten sind dürftig (20 Stück) und wenn die Rechnung
kommt sei ein Mann und mäßige dich in Trinkgeldern. In dieser Stadt ists
gut Pfefferkuchen kaufen, in diesem Lande wünscht die Polizei so und so be¬
handelt zu werden und wenn du fette Alpemnilch trinkst, so sei ein gutes
Kerlchen und denke daran, etwas Kirschwasser daraufzusetzen. Wer die Merk¬
würdigkeiten einer Stadt nach seiner Anweisung betrachtet, der hat sicher mehr
davon gesehen, als neunundneunzig Procent der Menschen, welche ihr Leben
darin zubringen. Alte verstorbene Maler erleben in ihrem Grabe die Freude,
daß jetzt Tausende von Fremden aus aller Herren Ländern mit sicherem Schritt
hundert Meilen weit bis an die Wand reisen, auf welche die Kunst der Todten
irgend einmal ein Bild aufgemalt hat. Kein Eseltreiber in dem allerverborgen-
sten Thale der Erde ist jetzt noch im Stande, einen unerfahrenen Reisenden
zu schnellen, er merkt mit Erstaunen, daß der stockfremde Mann die Preise der
Esel ebensogut kennt, wie die Nachbarn im Thale. Alles, was der Reisende
irgend braucht, findet er in dem rothen Buch, Vergangenheit und Gegenwart,
Kunstwerke und Berühmtheiten, Fiaker, Restaurationen und Conditoreien, Trink¬
gelder und Sesselträger, das Kleinste wie das Größte ist darin aufgezeichnet;
und es ist ein wahres Glück, daß Herr Bädeker unter seinen vielen Zaubereien
nicht auch die übt, den Reisenden mit Sonnenschein und mit Geld zu ver¬
sehen; denn sonst würde alle Häuslichkeit aus der Welt verschwinden, das
ganze Menschengeschlecht würde in einen unabsehbaren Strom von Reisenden
zusammenlaufen und nur zwei Classen von Mitmenschen würden auf der Erde
bleiben, Touristen und Gastwirthe.
Es gibt auch bei uns wunderliche Leute, welche allen bequemen Reise¬
büchern und ihrem Rathe abhold sind, weil diese die Poesie des Reifens ver¬
kümmern und ein triviales Genießen befördern sollen. Es wird schwer zu be¬
weisen sein, daß in solcher Behauptung Vernunft ist. Wird das Schöne des-
halb weniger schön, weil es jetzt mit geringerer Mühe und kleinern Kosten
genossen werden kann, weil es jetzt leicht zu finden und jedermann zugänglich
ist? Wenn ein Reiz darin liegt, Schwierigkeiten zu überwinden, so finden
sich dergleichen in einer fremden Landschaft beim Bergsteigen und Durchwandern
der Städte ohnedies noch in genügender Anzahl. Wer es vorzieht, stundenlang
in der Irre umherzulaufen, vielleicht bei dem Sehenswerthesten vorbeizugehen,
und nur durch Zufall das zu finden, weshalb er gereist ist, dem sollen diese
Bücher nicht empfohlen sein, auch dem nicht, der es für vortheilhaft hält,
schlechter zu logiren, gute Reisegelegenheiten zu versäumen und sich selbst in
einem fortdauernden Hader mit den hohen Ansprüchen, welche Gewinnsucht
überall an den Reisenden macht, die Laune zu verderben. Er mag als Sonder¬
ling auf Seitenpfaden wallen und nach der Weise einer sentimentalen Zeit die
Poesie des Reiselebens da suchen, wo sie nicht zu finden ist, in einem un¬
nützen Kampfe mit den Schwächen der Menschen und den Zufälligkeiten der
Natur. Glücklicherweise ist die Zahl solcher, welche in anspruchsvoller Ab¬
geschlossenheit das verachten, was für einen tüchtigen mittlern Durchschnitt
menschlicher Bildung und menschlicher Bedürfnisse berechnet ist, bei uns nur
gering. Auch die Zahl derer ist unter uns Deutschen nicht groß, welche sich
zu Sklaven der rothen Bücher machen und in dem Bestreben, alles zu
sehen, was auf ihrer Straße angemerkt ist, die Fähigkeit des Genusses
verlieren.
Der hohe Grad von Trefflichkeit, zu welchem die Neisebücher von Bä-
deker gekommen sind, ist allerdings die Folge vieljähriger Reisen, Mühen und
Arbeiten des verdienten Mannes. Und unter dem Vielen, was sie auszeichnet,
sind besonders zwei Eigenschaften rühmend hervorzuheben, die klare Uebersicht-
lichkeit, in welche das reiche Material geordnet ist und die große Sicherheit
und Zuverlässigkeit der zahllosen statistischen Angaben über Beschaffenheit der
Gasthöfe, Preise, Führer und was sonst dazu hilft, den Reisenden vor Un¬
behagen zu schützen. Wahrscheinlich denkt das reisende Publicum nicht daran,
welchen Versuchungen die Verfasser der rothen Bücher ausgesetzt sind und daß
eine nicht gewöhnliche Energie und Integrität dazu gehört, um alle die capti-
virenden Versuche von Hotelbesitzern abzuhalten und die starken Vorwürfe,
welche gekränkte Speculanten dem Verfasser eines Reisebuchs in das Haus
schicken, mit Ruhe zu ertragen. Wenn ein bekannter Verfasser von Reisebüchern
seine Reisememoiren schreiben wollte, so würde er eine Menge von kleinen
Abenteuern zu berichten haben. Es ist bekannt, daß Herr Bädeker bei
weitem den größten Theil der zahllosen Beobachtungen, welche er in den
Reisebüchern mittheilt, selbst gemacht und auch da, wo er die englischen Neise¬
bücher von Murray zu Grunde legte, überall selbst die mitgetheilten That¬
sachen revidirt hat. Auf seinen Reisen wird er wahrscheinlich oft in der Lage
hoher Herren sich befinden, seine Beobachtungen incognito machen zu müssen und
doch mag er nicht selten genöthigt sein, Körbe mit Champagner, Bündel ausgezeich¬
neter Regalia, übermäßig niedrige Hotelrechnungen von sich abzuwehren, denn-
er kann durch seine wirkungsreiche Feder viel zur Frequenz eines Gasthofes bei¬
tragen, dem Strome von Reisenden eine neue Richtung geben u. s. w. Er ist so¬
gar genöthigt gewesen, gegen falsche Reisende zu Protestiren, welche unter dem
Vorwande, von ihm beauftragt zu sein, von den Gastwirthen Zehnten erhoben
und kleine Bestechungen betrügerisch provocirten.
Jetzt, wo nach langer Regenzeit die zurückgehaltene Wanderlust mächtig
hervorzubrechen anfängt, ist der rechte Moment gekommen, auch den Lesern der
Grenzboten die Bücher zu empfehlen, in deren Schutz man auf mehre Wochen
aller papiernen Kritik zu entfliehen wohlthun wird.
Wie Ihnen an den Ufern der Pleiße schon hinlänglich bekannt sein wird,
so hat die russische Preßposaune, der Nord, vom ersten Juli ab wirklich zu er
scheinen angefangen und alle diplomatische und polizeiliche Versuche, dem mos¬
kowitischen Kinde das junge Lebenslicht aufzublasen, sind vergeblich gewesen.
Ja, das Blatt bestrebt sich bereits sogar, populär zu werden, indem es sich den
Händen und der Lunge jener kosmopolitischen Zunft überantwortet hat, deren
Bekanntschaft auch Deutschland 1848 gemacht hat, und deren Mitglieder man
fliegende Buchhändler nannte. Wenn es anfangs hieß, daß der Nord mit der
vielverbreiteten Jndvpendance belge, die gewissermaßen im Solde der fran¬
zösischen Regierung steht, concurriren wolle, so wird das trotz der großen Geld¬
mittel, welche die Unternehmer zu ihrer Verfügung haben, nur eine kühne Idee
bleiben. Als Chefrcdacteur wurde früher Herr Crötineau-Joly bezeichnet,
der jedoch auf dringendes Ersuchen der Polizeibehörde den vielgerühmten gast¬
freien Boden Belgiens verlassen mußte. Zweien seiner Mitarbeiter, einem
Sohne Borussiens aus dem Stamme Israel und einem Sprossen aus dem
weiten Reiche des Zaren, wurde dieselbe Reiseroute anempfohlen. Der Nord
theilt sich die Misston zu, ein Unionsband zwischen dem Norden und dem Westen
zu werden. Das Programm ist ambitiös, und ich halte es auch für unvoll¬
ständig, was ich von dem Namen des ausgewiesenen Chefredacteurs herleite.
Hr. Cretineau-Joly ist einer der fanatischen Partisane der Gesellschaft Jesu;
er ist als Herausgeber einer voluminösen „Geschichte der Gesellschaft
Jesu" der Historiograph dieser berühmten Association, deren geheimste Archive
ihm der Jesuitengeneral, damals der chochwürdige Pater Roothan selbst er¬
schloß. Das Werk hat seinem Versasser wahrhafte Ovationen in allen Resi¬
denzen des Ordens, welche Herr Cretineau nach dessen Veröffentlichung besuchte,
eingetragen. DaS war nur gerecht; denn niemals war ein Schriftsteller ein
so fanatischer, so eraltirter und absoluter Bewunderer des Ordens vom heiligen
Ignaz von Loyola, als es Herr Cr^tineau gewesen ist. Bei ihm ist es mehr
als Enthusiasmus; es ist Fetischmus. Ganz natürlich haben daher die Jesuiten
einen Schriftsteller von unstreitig bedeutendem Talent, der ihnen so eminente
Dienste geleistet, mit ihren eifrigsten Sympathien umgeben. Herr Crstineau hat
außerdem bewiesen, daß er kein halber Höfling jener Institution ist, zu deren
glühendem Lobredner er sich gemacht hat. In einer andern Schrift, betitelt
„Clemens XlV. und die Jesuiten", hat er sich nicht gescheut, das
Andenken dieses Papstes, der am Ende des vorigen Jahrhunderts auf drin¬
gendstes Anhalten aller Souveräne und aller Völker Europas die Unterdrückung
des Jesuitenordens ausgesprochen hatte, mit den empörendsten Verleumdungen
zu beschmuzen. Der Name des Herrn Cretineau-Joly, beigesellt dem Journal
der Nord war also gewiß nicht ohne irgendeine specielle Bedeutung und
man dürfte keine zu große Conjectur wagen, wenn man voraussetzt, daß der
Nord nach der Absicht seiner Begründer ein kleines UnivnSband zwischen
den Jesuiten und Nußland sein sollte. Die Jesuiten sahen sich aus Rußland
ausgewiesen, wie sie in frühern Zeiten aus der Mehrzahl der Länver Europas
ausgewiesen worden sind. Rußland ist ein ausgedehntes, ein sehr ausgedehntes
Reich, welches die Jünger Loyolas nur mit Schmerz ihrer Ausbeutung ver¬
schlossen sehen. War Herr Cretineau nicht beauftragt, dem mächtigen Zaren
den Olivenzweig der mächtigen Väter zu überbringen, in deren Reich, wie in
dem Philipps it., die Sonne nicht untergeht und dennoch Zwielicht herrscht?
Gegen die Ausweisung des Herrn Cretineau und seiner Mitarbeiter hat
übrigens die belgische Presse einstimmig protestirt; und wenn die klerikalen
Blätter, gegenüber dem klerikalen Ministerium, auch geschwiegen haben, so
war selbst ihr Schweigen darum nicht weniger eine Protestation. Jeder bel¬
gische Schriftsteller, welcher Partei er auch angehöre, muß sich in seiner Würve
als Bürger eines Landes der Freiheit und Gleichheit verletzt fühlen, indem er
bei dieser Gelegenheit unsere öffentlichen Freiheiten und die Gleichheit vor dem
Gesetz dem allzubereitwilligen Wunsche, dem Auslande zu gefallen, aufopfern sah.
Dieser Wunsch hat alle unsere Minister seit 4 848 wie ein Alp gedrückt, und
das gegenwärtige Cabinet ist in solcher Dienstwilligkeit nur der Nachtreter
seiner Vorgänger. Hätten die Generale B edeau, Chan garnier und La-
moriciere, deren Verweilen in Belgien für die Tuilerien ein Gegenstand fort¬
währender Beunruhigung ist, nicht soviele und mächtige Freunde, so wäre auch
ihnen vielleicht schon längst der Zwangspaß unterzeichnet worden. Auch im vorlie-
gerben Falle hat das Cabinet blos auf den Wink jener Argusaugen gehandelt,
welche zu Paris, von der Rue de Jerusalem aus, die Civilisation und den Fortschritt
bewachen. Aber warum beeilte es sich, dem Drängen unserer Nachbarn nach¬
zugeben? Dieses Concesstonssystem vernichtet unsere Unabhängigkeit und setzt
uns Verlegenheiten aus. Was würden unsere Minister antworten können,
wenn Rußland morgen als Repressalie die Ausweisung aller fremden Schrift¬
steller verlangte, die an bonapartistischen Blättern in Belgien mitarbeiten?
Zweifelsohne wären sie verpflichtet, auch hier nachzugeben; sie würden keinen
vernünftigen Grund haben, sich solchen Uebertreibungen zu widersetzen. Dahin
könnte die Politik führen, welche unsere Staatslenker seit mehren Jahren be¬
folgen. Es ist noch nicht lange her, daß man sich vor demselben Rußland
demüthigte, dem man heute zu trotzen scheint. Um einen moskowitischen Ge¬
sandten in Brüssel zu haben wurden die polnischen Offiziere, die uns gehol¬
fen, unsere Nationalität zu erobern, aus der Armee gewiesen. Belgische
Diplomaten machten im Auslande ausschweifende Demonstrationen zu Gunsten
der russischen Politik; Herr Blondel unter anderen, der frühere feuerrothe
Demokrat, zeigte sich in Konstantinopel als eifriger Partisan des Fürsten
Menschikoff. Heute ist es die napoleonische Gewalt, der man huldigt; morgen
wird vielleicht die Reihe wieder an Rußland kommen, und so die Windfahne
in fortwährender Bewegung bleiben. Der Justizminister, von welchem, auf
Antrag der SicherheilSbehörde die Ausweisungen ausgehen, hat als Princip
aufgestellt, daß kein Fremder in der belgischen Presse befreundete Regierungen
angreifen dürfe. „Befreundete Regierungen angreifen" ist ein Vergehen von
einer so unbestimmten Qualifikation, daß Willkür dabei freies Spiel hat. Zum
Schutze fremder Fürsten gegen die Angriffe der Presse haben wir das unter
dem Justizminister Falter angenommene Gesetz. Das Cabinet halte sich an
die Ausführung dieses Gesetzes, es ist dabei in seinem Recht, es ist sogar
seine Pflicht als erecutive Gewalt, die es freilich nicht ausübt, indem die Er¬
fahrung gelehrt hat, daß die Geschworenen von dem Faiderschen Preßgesetz
nichts wissen wollen. Wenn es aber den Polizisten fremder Regierungen in
dem Maße spielt, daß es diese in einer Weise schützen will, wie das Landes-
gesetz die belgische Regierung selbst nicht schützt, so legt es damit eine Will¬
fährigkeit an den Tag, welche unsere Rechte als freie Nation verkennt. Dazu
hat es nicht einmal die Entschuldigung für sich, daß es der fremden Regierung
einen wirklichen Dienst geleistet habe: denn im vorliegenden Falle ist dieser
Dienst Null geblieben. Der Nord erscheint; nur daß er, statt von Fremden,
jetzt von Belgiern redigirt wird, an seiner Spitze Herr Victor Capelle-
mans, ein versatiler Musikant, der früher bei der Emancipation den kle¬
rikalen Serpent spielte, dann bei der Jndependance die liberale Q-uerpseife
blies, und nun, in Kaftan und Kosackenhosen, es mit der russischen Horn-
musik versucht. Propaganda wird das Blatt im Westen Europas nicht machen;
es wird diejenigen nicht zur Bewunderung des russischen Regimes bekehren,
die nicht schon Parteigänger des Absolutismus sind. Aber andererseits dürste
es einen gewissen nützlichen Charakter haben, indem es den imperialistischen
Dithyramben, tagtäglich von englischen, französischen und belgischen Blättern
angestimmt, einen Dämpfer aufsetzt, und gewisse Thatsachen, die man sich zu
verfälschen bemüht, in ihrer Wahrheit wieder herstellt.
Wenn man den Zeitungen glauben sollte, so ließen England und beson¬
ders Frankreich keine Ruhe und drängten fortwährend in die belgische Regie¬
rung, die unsrem Lande durch internationale Verträge gebotene Neutralität zu
brechen und in die westliche Allianz einzutreten, indem wir den alliirten Armeen
im Orient ein anständiges Contingent zusenden, oder, wie es zuletzt hieß,
das französische Erpeditionscorps in Rom durch 20 bis 23,000 Mann von
unsern Truppen ersetzen sollen. Haben wir doch eine unthätige Armee von
100,000 Mann, d. h. auf dem Papier, da kaum die Hälfte davon unter den
Waffen ist. Die Reise König Leopolds nach London, der man überhaupt
große politische Zwecke unterlegte, soll mit dieser zudringlichen Aufforderung
der Westmächte in Verbindung gestanden haben. Was diese Reise betrifft, so
ist es bedauerlich, zu sehen, wie einige Organe der Presse sich anstrengen, den
einfachsten Handlungen des Staatsoberhaupts eine politische Bedeutung an¬
zudichten. Als der König im vorigen Jahre eine Reise nach dem Komersee
und der Lombardei machte, was für erstaunliche Geschichten wurden da nicht
erzählt, welchen verwunderlichen Canaans überließen sich nicht die Journale!
Nach Wien, nach Berlin, nach allen vier Winden sollte er sich begeben, die
Taschen voll von wichtigen Dingen, das Reisegepäck, bis zu den Nachtmützen,
strotzend von politischen Beziehungen. Und der Zweck der ganzen Reise war
kein andrer, als daß der Gesundheitszustand einer dem Könige seit Jahren be¬
freundeten Dame eine mildere Luft wie die unsrige verlangte, weswegen er sich
mit ihr nach seiner Villa am Komersee begab. Der Ursprung der jetzigen Ge¬
rüchte ist leicht zu errathen; es sind Ballons, die man versuchsweise steigen
läßt. Die französischen Intriguen, die sich bis jetzt den Blicken zu entziehen
wußten, fangen an, sich zu verrathen, trotz der Vorsicht, womit sie sich um¬
geben. Aber bei diesen gehässigen und unloyalen Machinationen, die gegen
die Freiheit, die Unabhängigkeit und die Neutralität Belgiens gerichtet sind,
muß man, wie bei allen dunkeln Manövern, die Betrogenen und die Ver-
räther unterscheiden. Zu den Betrogenen zähle ich einige unsrer Journale,
die sich noch mit allen Lügen und Fabeln nähren, welche die Imagination der
Politischen Zeichendeuter zur Nahrung für Dummköpfe täglich zu Tage fördert.
Von diesen Journalen vernehmen wir, daß General Greindl, unser Kriegs¬
minister, vor kurzem eine ernsthafte Conversation mit Louis Napoleon gehabt
hätte, und sie geben den ganzen Tert dieser Conversation wieder, in der Ma¬
nier jenes bekannten Aufschneiders Marc de Saint-Hilaire, der die stummen
Monologe Napoleons 1., mit großen Schritten die weiten Galerien von Fon-
tainebleau durchwandelnd, stenographirt hat. Wenn sie nicht an den Thüren
gehorcht, oder von dem Kriegsminister die genaue Relation seiner Unter¬
haltung mit dem Kaiser der Franzosen erhalten haben, sehe ich nicht ein,
wie sie die Authenticität der Worte, die sie dem Erwählten des Volks
in den Mund legen, beweisen können. Diese Manie der Journale, Kon¬
versationen wiederzugeben, wovon sie unmöglich Zeuge sein konnten, da-
tirt nicht von gestern, und sie erinnert mich an jene Zeitungsschreiber,
welche die Kutscher und Lakaien der Ambassadeure auf dem Congreß von
Nimwegen ausfragten, um zu erfahren, was in der Tagessitzung ent¬
schieden worden. Voltaire hat damals diese Sorte von Federfuchsern ge¬
geißelt. Seit Voltaire aber hat die Presse an Talent und Würde gewonnen
und es verursacht ein peinliches Gefühl, Journale zu sehen, welche mit gro¬
tesker Wichtigkeit die Rolle jener Neuigkeitsklämer übernehmen, die ihre Offen¬
barungen auf den Banketten deS Vorzimmers, nach den Dictaten Lafleurs
oder jenes Schlingels von Jasmin schreiben, der durch den Grvom eines Ge¬
sandten alle geheimen Artikel des Vertrags kennt, worüber Sr. Excellenz ihn
zuweilen zu consultiren würdigt. Der Sun hat nicht ermangelt, sich ebenso
lächerlich zu machen, indem er eine Unterhaltung König Leopolds mit Lord
Palmerston wiedergab; „und es scheint," setzte der Sun hinzu, „daß die Vor¬
stellungen des Königs der Belgier den ersten Minister Englands vollständig
bekehrt haben und daß die Neutralität Belgiens in dem gegenwärtigen Kriege
auch ferner wird geachtet werden und man von ihm keinen Mann verlangt,
um Theil an dem Kriege in der Krim zu nehmen." Was der Sun von dem
Kammerdiener Lord Palmerstvns, der ihm Abends die Stiefeln auszieht, er¬
fahren hat, dem fügten unsre Journale noch die Geheimnisse bei, die ihnen
Ver Barbier eines Lampenputzers aus dem königlichen Schlosse zu Laeken an¬
vertraut hatte. In diesen Klatschereien einiger belgischen Journale sehe ich
nichts, als den Wunsch, sich eine gewisse Wichtigkeit in den Augen ihrer Leser
zu geben, daß sie mehr wissen, wie ihre Concurrenten; es ist daS eine einfache
Reclame für das Geschäft. Die Sache nimmt aber unter der perfiden und
unloyalen Feder gewisser pariser Blätter einen andern Charakter an. In ofsi-
ciöser Weise geschützt und aufgemuntert arbeiten sie in der Stille daran, alles,
was die Ehre und die Stärke deS Landes ausmacht, zu Grunde zu richten,
seine beliebte und gerechte Dynastie, seine von ganz Europa beneideten Frei¬
heiten, seine Neutralität, die das Gold und das Blut sür die Tage bewahrt,
wo daS Vaterland ihrer bedarf. Diese heuchlerischen Organe sind es, welche
die arglistige Combination erfunden haben, wonach Belgien die französische
Garnison in Rom ersetzen soll. „Das katholische Belgien," sagen sie, die
Stimme des Landes verfälschend, „wird stolz darauf sein, diese bedeutende Rolle
bei dem heiligen Vater zu übernehmen." Ich glaube die Gefühle des Landes
vollkommen zu kennen, und kann versichern, daß die belgische Armee nicht im
Geringsten stolz darauf sein würde, die französische Armee in ihrer Rolle der
römischen Gendarmerie zu ersetzen. Das katholische Belgien achtet die Rechte
der Völker und eS ist zugleich ein Belgien, stolz auf seine Nationalität, besorgt
um seine Unabhängigkeit, das -ganz gut weiß, daß es seine Mittel und die
Arme seiner Landeskinder selbst nöthig hat an dem Tage, wo das Kaiserthum
seine letzte Maske fallen lassen wird.
g)sin<ji!>'/>.es'^it,?l»»>Zides,'».'«z«qjM^
— Die Bildung einer nationalen Partei in Deutsch¬
land, eine Nothwendigkeit in der jetzigen Krisis Europas. Von Gustav Diezel.
Gotha, Schande. -— So oft man auch durch die Schriften des Verfassers veranlaßt
wird, sich über die Art und Weise, wie er persönliche Politik treibt, zu entrüsten,
so wird man doch bis zu einem gewissen Grade immer wieder durch die ^ Gut¬
mütigkeit und Ehrlichkeit seines Idealismus versöhnt. Psychologisch ist er eine
ganz merkwürdige Erscheinung. In der festen Ueberzeugung, den verschiedenen
Parteien gute Dinge zu sagen und ihnen Frieden und Versöhnung zum Kampf
gegen den gemeinsamen Feind zu predigen, überhäuft er sie plötzlich mit einer Reihe
von Schimpfwörtern, auf die man gar nicht anders antworten könnte, als durch
Schläge: Memmen, Schurken, Verräther, Blödsinnige ze. und zwar dehnt er diese
Beziehungen auf eine Weise aus, daß schwer abzusehen ist, was eigentlich von
Deutschland noch übrig bleiben soll. Wir haben aus seinen frühern Schriften mit¬
getheilt, wie er über die sogenannten Gothaer d. h. die bei weitem überwiegende
Masse des deutschen Mittelstandes denkt. Dies Mal gehts über die Demokraten her,
und er sagt über sie ungefähr das Nämliche, was wir häufig ausgesprochen haben,
nur daß wir höflichere Formen anwenden zu müssen glaubten. Man sehe z. B.
S. 136, wo er sür die Wirksamkeit der Parteien durch moralische, nicht gewalt¬
same Mittel spricht.. „Der Einwurf gegen die Wirksamkeit derselben hat wenig
M bedeuten, weil er meist von jenen Schreiern kommt, welche die Revolution fort¬
während im Munde führen und großsprecherisch in Aussicht stellen, obwol sie selbst
vor jedem Polizeidiener in Angst gerathen. Das Geschwätz von und die Hoffnung
auf künftige Revolutionen in Deutschland ist so lächerlich und so demoralisirend
Zugleich', daß dies allein schon ein vaterländisches Verdienst ist, wenn sich eine
Partei bildet, die diesen Abgeschmacktheiten mit der Kraft der Ueberzeugung ent¬
gegentritt. Es ist jetzt ungefähr wie im 16. Jahrhundert, wo auch die Reste der
besiegten Wiedertäufer u. ,s. w. dem Gang der Dinge mit Groll und Unmuth zu¬
sahen und von neuen Revolutionen träumten, ohne daß sie es zu mehr als zu
kleinen nutzlosen Pulsader brachten. Den brauchbaren und tüchtigen Mitgliedern,
namentlich der demokratischen Partei, muß Gelegenheit geboten werden, sich von
der in derselben herrschenden Coterie des politischen Unverstandes
und der durch die Verbissenheit erzeugten partiellen Verrücktheit
abzulösen und sich dem Allgemeinen wieder nützlich zu machen." — Ein ander
Mal, S. 89, sagt er: »Die Demokraten, voll Verachtung gegen den Constitutiona-
lismus als Doctrin und gegen die Constitutionellen als „„Feiglinge"" — obwol ich
nicht finden kann, daß die Führer der Demokratie in den Bewegungsjahren wesent¬
lich mehr Muth gezeigt hätten, als die Constitutionellen, die sie in ihren Vereinen
und Versammlungen zwar regelmäßig aufsetzten, aber, wenn man Miene machte,
ihre Worte ernsthaft zu nehmen, ebenso regelmäßig wieder abwiegelten, was,
beiläufig gesagt, eine durchaus demoralisirende Wirkung äußern mußte — nehmen
eine Art historisches Recht in Anspruch, die nächste Bewegung, die natürlich wieder
vom Westen kommen und mit der bekannten elementaren Gewalt den Deutschen
die Freiheit ohne Kampf und Mühe in den Schoß schütten muß, in ihre Hände
zu bekommen. Einen andern Fortschritt der Geschichte als vermittelst pariser Re¬
volutionen vermögen sie nicht zu denken, noch weniger verstehen sie ihre Thätigkeit
für das Vaterland der jetzigen europäischen Combination anzupassen, denn ihr
Princip ist ,in Wahrheit kein vaterländisches, nationales, sondern ein allgemeines
abstractes, theoretisches und da es nur dnrch eine Revolution verwirklicht werden
zu können scheint, so müssen sie vor allen Dingen die Revolution — erwarten
..... Es ist klar, daß eine Partei, welche auf unberechenbare Ereignisse wartet,
um dann eine Thätigkeit zu entfalten, eine Partei, welche in der Gegenwart zu
wirken sich außer Stande sieht, in Wahrheit keine Partei ist und höchstens den
Namen einer Sekte verdient :c."
Von diesen Vorwürfen ist Folgendes wahr. Es gibt in Deutschland keine
organisirte Partei mehr; eine demokratische Partei hat es eigentlich nie gegeben,
denn der Begriff der Demokratie war nur ein Collectivbegriff, der alle Malconten¬
ten umfaßte, die, um sich aus ihrer unbequemen Stimmung zu befreien, die äußer¬
sten Mittel nicht zu scheuen dachten. Die praktische Demokratie hörte auf, erst mit
dem Einmarsch Wrangels in Berlin, dann mit der Auslösung des Stuttgarter
Rumpfparlaments und die sogenannte gemäßigte Demokratie löste sich selbst auf,
als sie beschloß, zu den preußischen Kammern nicht zu wählen. Ein solcher Ent¬
schluß hat nur dann einen Sinn, wenn man auf einem andern Wege die bestehenden
Verhältnisse zu stürzen gedenkt; die gemäßigte Demokratie war aber entschlossen,
diesen Weg nicht zu betreten. Was die constitutionelle Partei betrifft, wenn man
nämlich von einer allgemein deutschen konstitutionellen jPartei sprechen will, so
ging sie in Erfurt zu Grunde. Es gibt zwar noch constitutionelle Opposi¬
tionen in den einzelnen deutschen Staaten, allein diese haben sowol den innern
nothwendigen Zusammenhang untereinander, als die innere nothwendige Beziehung
zu deu Classen, die sie vertreten, verloren. Deswegen sind sie keineswegs ohne
politische Bedeutung, denn bei dem immer wachsenden Gelüst der specifisch ritter¬
schaftlichen Partei bis zum Zeitalter der Karolinger zurückzukehren, können sie
wenigstens einzelne zu arge Überschreitungen hindern, ja sie können sogar im
Nothfälle die Regierungen, die schon deshalb, weil sie aus praktisch gebildeten
Staatsbeamten bestehen, nicht ganz mit jener ritterschaftlichen Partei zusammen¬
fallen, gegen das Andringen jener Partei unterstützen. Nebenbei ist es immer
zweckmäßig, daß es einen Ort gibt, wo man gegen die herrschende Partei ein
freies Wort aussprechen darf, denn die Presse darf das nicht mehr.
Es gibt gegenwärtig in Deutschland nur eine organisirte Partei, das ist
eben jene rittcrschaftlichc, oder wie man sie früher nannte, die Junkcrpartci. Sie
ist in diesem Augenblick siegreich und wird voraussichtlich in der nächsten Zeit
noch größere Siege erfechten, vielleicht sogar nach der neusten Wendung der
auswärtigen Politik an einem Ort, wo man am wenigsten daraus rechnete, in
Oestreich.
Eine neue Parteibildung, wie sie Herr Diezel vorschlägt, innerhalb der ge¬
stimmten liberalen Partei, wäre also insofern ganz denkbar, als sie eine u>buia
rs«a vorfindet. Die Neste der bisherigen Parteibildungen werden ihr kein
Hinderniß in den Weg legen. Allein der Zeitpunkt dazu scheint uns höchst un¬
geeignet.
Erstens ist sie factisch unmöglich. Jeden Versuch, sich zu organisiren, würden
die Regierungen sofort hintertreiben und kein Mensch in der Welt würde die Lust
oder die Fähigkeit haben, sie darin zu hindern. Die rosenfarbenen Ideen, die
Herr Diezel in Beziehung auf die Presse hegt, wird er bald aufgeben, wenn er
sich nur einigermaßen herabläßt, auf die polizeilichen Bestimmungen des Augenblicks
seine Aufmerksamkeit zu richten.
Sodann ist eine neue Parteibildung jetzt darum unthunlich. weil sie keinen
bestimmten Inhalt und keine bestimmten Mittel für ihren Zweck aufstellen kann.
Die Idee von der Einheit Deutschlands ist recht schön, allein wir betrachten als
die wesentliche. Errungenschaft des Jahres 1848 die Ueberzeugung, daß mit dieser
abstracten Idee noch gar nichts gesagt ist, daß eine Partei erst dann daraus her¬
vorgehen kann, wenn eine bestimmte Vorstellung von der Art und Weise, Deutsch¬
land zu einigen, festgestellt ist. Am wenigsten ist die blasirte Stimmung dieser
Tage geeignet, eine Idee hervorzubringen, welche mit elektrischer Gewalt den Willen
der Masse beherrscht. Wenn sämmtliche Regierungen Deutschlands heute, im Jahre
des Heils 1833, dem Publicum erklärten: wir wollen die Hände in den Schoß
legen, bringt ihr jetzt ein einiges Deutschland zu Stande, so würden kaum -14 Tage
vergehen, bis alle Welt die alten Regierungen ausrieft, sich wieder einzumischen,
um wenigstens den Hausfrieden zu erhalten. Es würden dann die sämmtlichen
Ritter vom Geist auftreten und wenn ihrer fünfzehn zusammen wären, so würden
sie dreißig verschiedene Ideen haben, auf welche Weise man etwa Deutschland
einigen solle, und jeder von den fünfzehn würde seine vierzehn Kollegen hängen
lassen.
Herr Diezel gibt auch wieder eine neue Idee zum Besten. Die neue Natioual-
Partei soll sich mit Ausschluß von Oestreich und Preußen in den kleinern deutschen
Staaten bilden. Erst soll sie es durchsetzen, daß in diesen kleinen deutschen Staaten
die „russischen" Einflüsse beseitigt werden; — wie^ sie das machen soll, erfahren
wir nicht, obgleich man doch schon aus den bisherigen Bundestagsverhandlungen
entnehmen kann, daß in der orientalischen Frage die Cabinete der kleinen deutschen
Staaten sich mehr auf Seite Rußlands neigten, als Oestreich, ja mehr noch als
Preußen. Wenn sie dies durchgesetzt, soll sie durch moralische Mittel Oestreich und
Preußen unterwerfen.
Sind wir denn wirklich in die politischen Kinderjahre zurückversetzt? Wir haben-
die größte Achtung vor dem moralischen Einfluß, aber zuletzt muß immer doch die
ulüm» r-uio i-Li-um eintreten. Die Radikalen des Jahres -I8L8 speculirten auf
die bewaffneten Volksmassen, aus die Turner :c., die Gothaer speculirten auf das
preußische Militär, die Großdeutschen auf das östreichische. Alle drei haben sich ver¬
rechnet, aber es war doch ein gewisser Sinn und Verstand in ihre» Rechnungen;
aber wie Kleindeutschland es anfangen soll, sein angebliches moralisches Uebergewicht,
den beiden Großstaaten auch factisch fühlbar zu macheu, das ist eine Ausgabe, mit der sich
nur Kinder belustigen können. Die früheren klcindeutschen Republikaner rechneten
wenigstens auf ihre Gesinnungsgenossen in Preußen und Oestreich, um ihnen zu
Hilfe zu kommen; jetzt sind sie aber stolzer geworden und wollen die ganze preu¬
ßische und östreichische Masse unterwerfen. Wohl bekomm' es ihnen!
Nebenbei ist es doch immer übel, wenn der alte süddeutsche Liberalismus, der
einen so schmählichen Bankrott gemacht hat, sich wieder breit machen will. Man
hat die berliner Arroganz mit vollem Recht lächerlich gemacht, aber es ist in ihr doch
immer noch mehr Sinn und Verstand, als in diesem kleinstädtischen Hochmuth, der
die Verhältnisse der großen Politik nach seinem Kirchspiel abmißt. Wenn es noch
einmal dazu kommen soll, daß Deutschland eine neue Verfassung erhält, so wird
diese nicht in Frankfurt, sondern in Berlin, oder allenfalls in Wien gemacht wer¬
den. Der Instinct des Volks ist in dieser Beziehung auch viel richtiger entwickelt,
als das Raisonnement seiner Vertreter. Vor 1847 lauschte alle Welt aus die
Propheten in Karlsruhe und Stuttgart; jetzt sucht man in den Verfassungen der
kleinen Staaten seine Privatverhältnisse so leidlich als möglich zu ordnen, die große
Politik aber erwartet man lediglich von Berlin oder Wien, und das ist auch ganz
in der Ordnung.
Wenn Herr Diezel es unmännlich nennt, ein unbestimmtes Ereigniß abzu¬
warten, so läßt sich dieser unmännliche Zustand zuweilen doch nicht vermeiden, denn
durch allmäliges Hin- und Herreden entsteht niemals jene Leidenschaft, die allein
große Umgestaltungen hervorbringt. Ein solches Ereigniß schien in der orientalischen
Krisis einzutreten. Man suchte zuerst aus das preußische Cabinet zu wirken, einen
Augenblick nicht ganz ohne Aussicht auf Erfolg, dann Scharte man sich, um die
Fahne Oestreichs, um die Eifersucht Preußens zu erwecken und dieses auf mittel¬
barem Wege zu veranlassen, sich dem Westen gegen den Osten anzuschließen. Die
Hoffnung ist fehlgeschlagen, das Bündniß mit dem Westen ist gelockert, vielleicht
wird sogar die heilige Allianz wiederhergestellt. Es kann aber in dieser Sache nur
durch die Regierungen Oestreichs oder Preußens gewirkt werde», denn auf eigne
Faust Freicorps gegen Rußland zu werben, der Gedanke ist doch wol zu absurd,
um ausführlicher besprochen zu werden. Wenn man also keine Mittel mehr hat,
auf die Regierungen zu wirken, weder durch die Kammern, noch durch die Presse,
noch durch einzelne Persönlichkeiten, so bleibt eben nichts übrig, als abzuwarten,
was da kommen wird, und vorläufig nichts zu thun. Nur aus eins sollte man
seine Aufmerksamkeit richten, daß nämlich nicht anch noch das Publicum durch falsche
Begriffe verwirrt wird. Die herrschende Partei ist im gegenwärtigen Augenblick
von der Verwerflichkeit des parlamentarischen Systems und von der Nichtsnutzigkeit
des englischen Staats überzeugt; es ist also im höchsten Grade verwerflich, daß
durch blasirte Sophisten diese Idee auch dem Volke eingeflößt wird. Der bekannte
londoner Korrespondent der Nationalzeitnng hat darin schon viel Schaden ange¬
richtet, aber er hatte doch wenigstens ein wirkliches politisches Princip, eine reiche
Erfahrung,' und man konnte nur bedauern, daß er in der Art seiner Angriffe nicht
vorsichtiger war, daß er nicht bedachte, er schreibe für ein deutsches Publicum, nicht
für ein englisches. Neuerdings spukt aber ein Korrespondent aus London dnrch
alle möglichen deutschen Blätter, bei dem diese Entschuldigung nicht stattfindet, der
weiter nichts thut, als auf'eine pöbelhafte Weise zu schimpfen. Am häufigsten be¬
gegnen wir ihm in der Deutschen Allgemeinen Zeitung und im Magazin der Literatur des
Auslandes. Wie wir hören, ist es Bettziech Beta, ein früherer berliner Feuille-
tonist. Wir nennen den Namen absichtlich, da es doch sehr zweckmäßig wäre, wenn
das Publicum einmal erfährt, wer ihm eigentlich diese politische Weisheit mittheilt.
Wie übrigens ein liberales Blatt, welches in dieser Frage auf der Seite der West¬
mächte gegen Rußland steht, fortwährend Korrespondenzen aufnehmen kann, die ganz
und gar in die Kreuzzeitung gehören, das würde uns in Verwunderung setzen,
wenn wir in dieser Beziehung nicht längst alle Verwunderung verlernt hätten. —
Nach dieser Abschweifung kommen wir auf Herrn Diezel zurück.
Die große Politik und namentlich die auswärtige scheint uns zu einer neuen
Parteibildung keine Veranlassung zu geben, weil Parteien nur durch die Möglich¬
keit einer unmittelbaren praktischen Betheiligung entstehen. Darum können wir anch
in das Triumphgeschrei der Presse über den Antrag einer deutschen Kammer auf
Bundesreform nicht einstimmen. Wenn heute eine Bundesreform möglich wäre, so
würden wir noch ganze Generationen hindurch daran zu leiden haben. Dagegen
wird, ohne daß wir etwas künstlich dazu thun, dnrch die natürliche Opposition gegen
die einzige bestehende Partei, die ritterschaftliche, sich allmälig eine neue bilden, die
wir in dem Sinn eine demokratische nennen möchten, wie der Herr Ministerpräsident
Baron von Manteuffel diesen Ausdruck erklärt hat. Bisher war in deu deutschen
Staaten die Verwaltung bürgerlich-bureaukratisch, wenn auch die höchsten Stellen
meist von Adeligen besetzt waren; jetzt erhebt sich aber eine Partei mit dem offen
ausgesprochenen Bestreben, den Staat sür den Adel und durch den Adel zu ver¬
walten. Dies Bestreben zu hintertreiben, wird sich das gesammte Bürgevthum mit
dem gesunden Theil des Adels und mit dem größern Theil der Bureaukratie ver¬
binden. Da man in sämmtlichen deutschen Staaten mit demselben Gegner zu thun
haben wird, so wird man auch gemeinsam zu wirken suchen, und daraus wird ganz
von selbst, ohne alle Aufregung und Agitation, allmälig dnrch ganz Deutschland
eine organisirte Partei entstehen, die als solche vielleicht auch einen nationalen
Inhalt gewinnt.
— Wenn man an der Richtigkeit eines
""geschlagenen Weges irre geworden ist, an dem endlichen Erfolg eines Planes zu
zweifeln beginnt, ist es das Nächste, das Nothwendigste und zugleich, wenn Kon¬
sequenz in dem betreffenden Fall ihren Werth hat, das Unerläßlichste, sich nach
neuen Wegen und Entwürfen umzuschauen, aus dem falschen Wege aber sofort Halt
zu machen, denn jeder Schritt, den man darauf nach vorwärts thut, ist vom Uebel,
muß nachträglich wieder zurückgcthan werden und kann mindestens als eine unnütze
Anstrengung gelten.
Ob dem General Pelissier im Laufe der letztvergangenen sechs oder sieben
Wochen die Einsicht gekommen ist, daß seine Art, dem großen Zwecke des Krieges
in der Krim zuzustreben, eine verkehrte ist, will und muß ich dahingestellt sein
lassen, weil mir keine Thatsache irgendwelcher Art, welche diesen Glauben stützen
könnte, darüber vorliegt. An und sür sich wahrscheinlich ist es nicht; denn nur
ein Mann, der seines richtigen Weges zum Ziele sich bewußt ist, opfert auf dem¬
selben, wie der Generalissimus der Franzosen es gethan hat, die Seinigen miriaden-
weise. Nehmen wir also an: bei General Pelissier sei die Ueberzeugung, Scbasto-
pol durch den directen Angriff zu nehmen, noch unerschüttert. Er wird, das darf
man annehmen, endlich davon zurückkehren und in diesem Augenblick wird
es sich dann für ihn oder für seinen etwaigen Nachfolger fragen: was nun?
Mir scheint es, daß zw el Hauptpläne sich einem jeden General er ches bieten,
der von der Belagerung abläßt und die Sache außerhalb des Rayons der Festung
zur Entscheidung bringen will. Der eine zunächst eine directe Action gegen die
russische Feldarmee; nach ihm wird die Hauptmasse der Verbündeten bei Eupatoria
gesammelt und von hier aus in der Absicht vorgeschoben, die Verbindungen des
Feindes mit rückwärts, im Besondern mit Perckop zu durchschneiden. Ist dies ge¬
schehen, so ist ein Verbleiben des Gegners im Süden der Halbinsel nicht denkbar.
Er wird sich mit dem Gros seiner Streitmacht gegen die Armee der Alliirten wenden
müssen, und, Sebastvpvl seinem Schicksal überlassend, den Durchbruch nach Perekop
versuchen. Gelingt ihm dieser, so ist zwar das feindliche Heer gerettet, aber die
Vertheidigung der Festung wird auf die Dauer nicht länger durchführbar und mit
ihr gehört die ganze Krim den Verbündeten. Das sind, wie gesagt, die Grundzüge
des einen Planes. Die des andern, welcher nicht so einfach, darum nicht so gut
und in Rücksicht auf eine mögliche Befestigung von Perckop zugleich nicht so sicher
ist, würden etwa nachstehende sein. Man brächte auf irgendeinem Wege das Gros
der alliirten Heere auf den Isthmus. Hierzu stehen zwei oder vielleicht selbst drei
Straßen offen. Es scheint möglich,, daß man mit flachen Fahrzeugen durch die
Meerenge von Genitsche segeln und im faulen Meere vorwärtssteuernd bis Perekop
vordringen kann. Eine Operation auf dieser Seestraße würde zunächst sich auf
Kertsch basiren, was man wieder in Besitz nähme und verschanzte und wo die
großen Depots augelegt würden. Zweiter Etapcnvunkt wäre Genitsche. Man
sortificirte es gleichfalls, wies einer kleinen Flotille den Ort als Station an und
nähme sodann in ähnlicher Weise von einem jeden Paß Besitz, dnrch den man auf
dem weitern Wege durchzusteuern hätte. In Rücksicht hierauf müßte die Expedition
mit den nothwendigen Mitteln, mit schwerem Geschütz, Faschinen, Schanzkörben
ausreichend versehen sein. Zugleich müßte die Vorwärtsbewegung möglichst schnell
ausgeführt werden, um dem Angriff ans den eigentlichen Zielpunkt zu Perekop
selbst die Vortheile der Ac berraschung zu sichern. Ich will hier nicht in
Abrede stellen, daß diese Operationslinie viele Vortheile bietet, indeß zweifle ich
ernstlich an ihrer Benutzbarkeit. Seichtes Wasser, außerdem russische Strandbatterien
und Versenkungen werden muthmaßlich unübersteigliche Hindernisse in den Weg
legen.
Einen zweiten seewärtigen Weg nach dem nämlichen Object bietet der Golf
von Pcrekop, eine weite Einbucht des Euxin, dar. Indeß weiß man, daß die
Tiefe dieser Bai dermaßen gering ist, daß man mit dem seichtesten Nachen in der
Nähe des Ufers nicht mehr fortzukommen vermag.
Mitten inne zwischen beiden auf Perekop führenden Seestraßen liegt die
Halbinsel Krim selbst und zwar ihre von Steppen erfüllte Nordhälfte. Durch
diese öden Flächen führen etwa sechs Wege hindurch, von denen der zwischen
Eupatoria und dem Isthmus allein in Betracht kommt. Es kann wol nicht die
Rede davon sein, auf diesem Pfade das Gros der Armee nach Perekop zu schaffen,
wenn man sich gleichzeitig nicht eines der beiden andern (maritimen) Wege behufs
der Verpflegung versichert hat, denn jeder sieht ein, wie ein Heer, welches von
Eupatoria durch die Steppen aus Perekop marschirte, seinen Train den Russen
rückwärts zur Beute lassen müßte und es ist klar, daß diesem Uebelstande durch
etwaige etapenweise Befestigungen nicht abgeholfen werden kann.
Schließlich wiederhole ich, wie alle diese Erwägungen auf einen Angriffsplan
hinweisen, welcher Eupatoria zum Ausgangspunkt und die russische Armee zum näch¬
sten und hauptsächlichsten Object nimmt. Es ist dies eine Aufgabe sür den dem-
ncichstigen Nachfolger des Generals Pelisster.
Wie Sie Sich vielleicht erinnern werden, habe ich von jeher die
Ansicht festgehalten, daß in jedwedem Kriege zwischen der Pforte und Rußland
der astatische Schauplatz lediglich als ein secundäres Kriegstheater, dagegen die
Donau und Balkangegend, mit einem Worte Bulgarien und Rumelien als der
Entscheidungsraum angesehen werden muß. Mit dem Rückgang der russischen Heere
aus den unteren Donauländern, verlor mithin ihr Kampf gegen die Pforte den
Charakter jener ernsten Entschiedenheit, der mit jedem Vorgehen aus der Haupt¬
operationslinie verbunden ist, denn was in Asien auch eintreten mochte, focht das
Dasein des türkischen Reiches nicht an, weil letztlich ein Vorgehen von dieser Fronte
her auf das Centrum des Reiches, am Bosporus, nicht denkbar ist.
In dieser Ueberzeugung habe ich die Nachricht von dem Vormarsch der Russen
aus Kars, und die spätere, von der eröffneten Belagerung hingenommen, was in¬
deß nicht soviel sagen soll, daß diese Operationen unwichtig und der gespanntesten
Aufmerksamkeit der Allianzmächte nicht werth seien. Vor allem scheint mir Eng¬
land diejenige, deren Interessen durch die russische Offensive am meisten angetastet
werden, im Grnnde genommen mehr wie die der Pforte selbst, denn für letztere
handelt es sich bei dem etwaigen Verlust von Kars nur um die Einbuße eines un¬
schwer zu verschmerzenden Ejalets, beim weiteren Vorrücken des Feindes um den
eines zweiten und dritten; dagegen wird England durch die Vorrückung der russi¬
schen Grenze in dieser Richtung ganz entschieden der in Zukunft wichtigste
Weg nach Innerasien streitig gemacht und eine der vielleicht schon nach einem
Jahrzehnt hohe Bedeutung gewinnenden Straßen nach Persien und Indien ent¬
rissen.
Man ist hier allgemein auf den Verlust von Kars gefaßt; auch die in Kon-
stantinopel erscheinenden offiziellen Blätter machen sich keine Illusionen über diesen
Punkt. An und für sich für eine Befestigung ungünstig gelegen, ist der Platz
ohne Rücksichtnahme ans die zu seiner Vertheidigung disponiblen Kräfte befestigt
morden. Man beschreibt mir die Werke als ausnehmend ausgedehnt, und ein an
Ort und Stelle gewesener und mit der ganzen Localität vertrauter höherer türkischer
Offizier schätzt den Truppenbedarf aus mindestens 30,000 Mann. Wieweit dieser
Forderung genügt werden konnte, mag der Umstand klar machen, daß die ganze
sogenannte Armee von Kars zur Zeit nur aus 17,000 Maun besteht. Man will
hier wissen, daß sie sich in der Festung concentrirt und Wasstf Pascha, der englische
Oberst Williams (Williams Pascha) und ein römischer Oberst, Calandrelli, sich an
ihrer Spitze befinden. Danach scheint Erzerum, welches ebenfalls befestigt wurde,
ziemlich entblößt zu sein.
Alle hier gemachten Anstrengungen sind jetzt darauf gerichtet, Verstärkungen
nach dem letzteren Punkte zu, schaffen. Erst neulich ging ein Transportdampser
mit 000 Artilleristen zu diesem Zweck nach Trapezunt ab, und gestern wie hente
folgten andere Truppen nach; mir ist unbekannt geblieben, in welcher Anzahl.
Beklagenswert!) ist es, daß die englisch-türkische Legion, deren Organisation
man auf den beiden Punkten Hünkier Jskalessi am Bosporus und Gallipoli am
Eingang der Dardanellen betreibt nur ausnehmend langsam fortschreitet. Es läßt
sich nicht absehen, wenn diese Truppenmacht, die ursprünglich auf eine Stärke von
23,000 Mann berechnet war und jetzt, wie ich höre, etwa 13,000 Mann zählt,
operationsbereit sein wird. Man sagt mir, daß außerdem in Gallipoli bedeutende
Unordnungen unter den englisch-türkischen Rekruten vorgekommen seien. Diese
letztem sind zum Theil dem türkischen Heere, zum andern Theil ohne vorheriges
Exercitium deu kriegerischesten muselmanischen Stämmen entnommen und bilden
namentlich an den Dardanellen, wo man die Reiterei zu formiren beabsichtigt,
einen sehr irregulären Hansen von Arnauten, Arabern und Kurden. Oberst Beatsvn,
welcher für das Commando dieses Corps bestimmt ist und die Organisation zu be¬
sorgen hat, soll in seinem Hause von Arnauten und Albanesen belagert und
letztlich zur Flucht gezwungen worden sein. Von seinem Dragoman aber erzählt
man sich, daß derselbe schwer mißhandelt wurde. Es ist nicht daran zu zweifeln,
daß einige Bataillone türkischer Nisams, (reguläre Truppen) die in Schanak Kalessi
nahe zur Hand sind, die Ordnung schnell wiederhergestellt haben werden. Die
Vorkommnisse bleiben aber deßungcachtct sehr bedauernswerth.
Russische Federn spotten der Bemühungen der Verbündeten, Rußland
Schaden zuzufügen; sie verhöhnen die gewaltigen Flotten, die sich außer Stande
sehen, Kronstäbe oder Sebastopol einzunehmen und sich auf den Krieg- gegen
Kauffahrteischiffe beschränken; sie behaupten, solchen ohnmächtigen Angriffen
gegenüber bleibe Rußlands Macht ungelähmt. Der- dichte Schleier, den die
Regierung des Zaren von jeher über die russischen Zustände zu breiten geliebt
hat, unterstützt dieses Bestreben aufs beste, und es wird daher der von Peters¬
burg aus inspirirter Presse leicht, dem weniger Kundigen Rußland als einen
unangreifbaren und unbesiegbaren Riesen darzustellen. Desto schätzbarer muß
uns jede Kunde sein, die uns unparteiische Stimmen aus dem Innern des
Zarenreichs bringen, und wir benutzen daher mit Freuden den Bericht eines
Engländers, der eine Reihe von Jahren in Rußland wohnhaft gewesen und
erst diesen Sommer nach England zurückgekehrt ist. In einer der geachtetsten und
zuverlässigsten englischen Monatsschriften, dem in Edinburgh erscheinenden Black-
woods-Magazin, gibt er mit der Schmucklosigkeit eines wahrheitliebenden Be¬
richterstatters in einem längeren Artikel Rechenschaft über die gegenwärtigen
Nothstände im Innern Rußlands, und wir theilen den wesentlichen Inhalt
der interessanten Arbeit in Folgendem mit. >
Am meisten leiden durch den gegenwärtigen Krieg die Grundeigenthümer.
Wird er lange fortgesetzt, so muß der größte Theil derselben zu Grunde gehen.
Als Beweis für diese Meinung mögen folgende Thatsachen dienen, die ich selbst
auf einem Gute beobachtet habe, wo ich mehre Jahre wohnte, und die als
Durchschnittsbeispiel für das ganze Land gelten können. Jedoch darf man nicht
vergessen, daß ich nur vom südlichen Nußland spreche, da ich das nördliche ver-
hältiußmäßig wenig kenne. Das fragliche Gut hat einen Flächenraum von unge¬
fähr »0,000 englischen Ackern mit 1300 Leibeigenen. Seine Haupterzeugnisse
bestehen aus Leinsamen, Getreide und Wolle, die alle über die Häfen des
schwarzen und asowschen Meeres ins Ausland verführt wurden. Da diese beiden
Meere jetzt seit längerer Zeit gesperrt sind, so verfaulen alle Rohproducte in
den Speichern der Producenten, mit der einzigen Ausnahme der Wolle, die
durch Oestreich zu Land nach Deutschland geschafft wird, wo sie einen guten
Markt findet; aber dennoch ist der Preis voriges Jahr wegen der vermehrten
Transportkosten merklich gesunken. Ich werde jetzt die Verluste, welche dieses
eine Gut im vorigen Jahre erlitten hat, im Einzelnen angeben. Das durchschnitt¬
liche Einkommen beläuft sich auf 6000 Pfund Sterling (circa 40,000 Thaler),
wovon -1300 Pfund (10,000 Thaler) an die Regierung als Zinsen für Hypo¬
theken bezahlt werden müssen. Von Leinsamen wurden voriges Jahr ungefähr
1300 Quarter (5, 6 berliner Scheffel) erbaut, die an Ort und Stelle ungefähr
60 Schillinge per Quarter gelten. Von diesen ist auch kein einziger Scheffel
verkauft worden und der Verlust bei diesem Artikel allein beläuft sich daher
auf 1200 Pfund, (8000 Thaler). Von Weizen wurde fast dieselbe Quantität
erzeugt. Der durchschnittliche Preis desselben ist 12 Schilling den Quarter;
jetzt kann man aber nur eine beschränkte Quantität zu 8 Schilling los werden.
Aber selbst angenommen, daß sämmtlicher Weizen zu diesem Preis verkauft
würde, so wäre der Verlust immer noch 300 Pfund (2000 Thaler). Da dies
jedoch nicht der Fall ist, muß man mindestens 300 Pfund annehmen. Die
Wollpreise waren voriges Jahr durchschnittlich 13 Procent und manchmal so¬
gar 20 Procent unter ihrer gewöhnlichen Höhe; für die gewöhnlich verkaufte
Quantität wurden dies Mal 1400 Pfund (9400 Thaler) bezahlt, so daß wir
wieder einen Verlust von mehr als 200 Pfund (beinahe 1300 Thaler) haben.
Auf demselben Gute befinden sich ungefähr 18,000 Schafe, von denen für ge¬
wöhnlich alljährlich 2000 wegen ihres Talgs und ihrer Felle zu einem Durch¬
schnittspreis von 7 Schilling (2'/z Thaler) per Stück verkauft werden; da es
aber sehr schwer hält, Talg auszuführen, ist der Preis auf 3 Schilling ge¬
sunken, wodurch dem Grundbesitzer wieder 200 Pfund entgehen. Aus dieser
Darlegung ersieht man, daß das Einkommen dieses einen Gutsbesitzers sich in¬
folge der durch die Blockade des asowschen und des schwarzen Meeres einge¬
tretenen Handelsstockung um mehr als ein Drittel vermindert; und da" die
gleichen Verhältnisse im ganzen südlichen Rußland bestehen, so kann man
sich einen Begriff von der Höhe machen, welche der Gesammtverlust erreicht.
Allerdings haben einige Gutsbesitzer ihre Bodenproducte zu fast nomineller
Preisen an Kaufleute abgesetzt, welche auf die Ergebnisse der wiener Konferenzen
speculirten, große Massen Getreide aufkauften und nach den verschiedenen
Häfen des Südens schafften, um sie sogleich verschicken zu können, wie die
Konferenzen den Frieden herbeiführten. Die bei den letzten Erpeditümen im
asowschen Meere vernichteten ungeheuren Getreidevorräthe gehörten nicht der
russischen Regierung, sondern Privatspeculcmten, wenigstens der größte Theil.
Freilich wären sie aller Wahrscheinlichkeit nach später von der Regierung zur
Ernährung für die Truppen mit Beschlag belegt worden, und ihre Vernich¬
tung war daher dem Kriegszweck ganz entsprechend.
Dies sind jedoch nur die Verluste, welche die Handelsstockung dem rus¬
sischen Grundbesitzer auferlegt; dazu kommen nun noch die drückenden Steuern,
welche die Regierung zur Betreibung des Krieges von ihnen fordert. Von allen
diesen wird die Recrutenlieferung am härtesten gefühlt. Im Frieden erfolgt
die Aushebung nur einmal des Jahres und zwar in der Regel nach dem Ma߬
stab von 7 aus je 1000 (männliche) Leibeigene; aber seit Ausbruch des Krieges
fanden im Jahre 185i zwei und 1833 bereits eine Aushebung statt, jede von
12 Mann auf 1 000 Seelen, so daß in achtzehn Monaten von 1000 männ¬
lichen Leibeigenen, Alt und Jung untereinander gerechnet, 36 vollkommen Ar¬
beitsfähige gestellt werden mußten. Ich weiß nicht, wie man das Verhältniß
der Arbeitsfähigen unter 1000 männlichen Leibeigenen anrechnen kann, aber
jedenfalls ist es ein sehr erheblicher Verlust sür den Herrn, wenn ihm eine so
ansehnliche Arbeitskraft entzogen wird. Das ist noch nicht alles. Wenn die
Recruten nach der Stadt geschickt werden, um von der betreffenden Behörde
untersucht zu werden, so müssen je 12 Mann mindestens noch 18 begleiten, im
Falle die andern als untauglich zurückgewiesen werden sollten; diese werden
ihrer Arbeit ohne die geringste Entschädigung manchmal zwei bis drei Wochen
lang entzogen. Daraus ersieht man, daß während der letzten 18 Monate der
Besitzer des erwähnten Gutes der Negierung 67 Recruten (von 1300 Leib¬
eigenen) gestellt und die Arbeit von ungefähr 70 Mann 14 Tage lang ver¬
loren hat. Letzteres allein zu 6 Pence (3 Sgr.) den Tag gerechnet, macht 2i
Pfund 10 Schilling (160 Thaler); den Verlust an S7 Leibeigenen, die nie
wiederkehren, können wir nicht in Zahlen ausdrücken. Aber jeder Gutsbesitzer
muß nicht blos den Recruten stellen, sondern auch eine bestimmte Summe
(ungefähr 8 Pfund) zur ersten Ausrüstung und Bewaffnung zahlen, was allein
schon einen Aufwand von 876 Pfund für iVs Jahr ergibt.*) Die südlichen
Gouvernements sind, weil sie dem Kriegsschauplatz so nahe liegen, von der
Stellung der Miliz (30 Mann von 1000 Seelen) befreit, die nur in den
nördlichen Gouvernements ausgehoben werden. Dafür sind sie einer andern
Steuer unter dem Namen freiwilliger Beiträge unterworfen. — Im Frühjahr
1834 mußte das Gut für die damals in den Donaufürstenthümern stehenden
Truppen 40 Mastochsen liefern; gleichzeitig wurden fünf Wagen mit einem
Paar Pferde und einem Fuhrmann für jeden requirirt, die nach Beendigung
des Krieges zurückgestellt werden sollen. Diese Wagen waren bestimmt, in
dringenden Fallen zum Transport des Gepäcks und der Truppen verwendet zu
werden, und aus ihnen wurden die Bataillone, die bei Jnkerman fochten,
letzten Herbst nach der Krim geschafft. Ebenfalls im Herbste 1836 wurden
von jedem männlichen Leibeigenen ein halbes Pud (20 Pfund) Schiffszwieback
für die Armee requirirt, was auf 1300 Seelen 600 Pud macht; aber der
Gutsbesitzer erbot sich zu 1000 Pud, die innerhalb drei Wochen geliefert wer¬
den mußten. Während der Schiffszwieback gebacken wurde, kam eine neue
Requisition von 10 bespannten und von einem Kutscher begleiteten Wagen, die
binnen 10 Tagen gestellt werden mußten. Dies war unmittelbar bevor die
Nachricht von der Landung der Verbündeten in der Krim zu uns gelangte.
Alle diese Requisitionen fanden grade während der Erntezeit, Ende August
statt, wo fast kein Arbeiter entbehrt werden konnte, um das Getreide einzu¬
bringen , bevor die herbstlichen Regengüsse die Wege ungangbar machten. Zum
Fortschaffen des Schiffszwiebacks waren 20 Paar Ochsen nothwendig, die fast
i Monate wegblieben, da zur Zeit der Ablieferung die Landstraßen bereits in
knietiefen Morast verwandelt waren. Etwas später im Jahre wurden abermals
Ochsen requirirt. Ich weiß nicht mehr, wie viel es waren, aber da der Be¬
sitzer bereits soviele zum Transport geliefert hatte und außerdem grade ein
Sterben unter dem Vieh war, so fand er sich bei den Behörden mit baarem
Gelde ab.
Im April des laufenden Jahres forderte man doppelt soviel Schiffs-
zwieback als vergangenes Jahr und wie ich im Monat Mai das Land durch¬
reiste, sah ich vor den Städten viele tausende von Centnern aufgespeichert, ge¬
wärtig der Weiterschaffung bis zur Armee, die natürlich von den Gutsbesitzern
und den Kronbauern besorgt werden mußte. Unterwegs traf ich lange Reihen
von Wagen, welche Zwieback laden sollten und sprach oft mit den Fuhrleuten,
die meistens aus Kronbauern bestanden. Sie klagten bitterlich über ihr hartes
Schicksal, da sie grade mit Beginn der Heuernte ihre Heimath hatten verlassen
müssen; und da sie eine Reise von ungefähr 1300 Werst hin und zurück zu
machen hatten, so konnten sie erst spät im Herbst wieder zu Hause sein, was
sie ganz außer Stand setzte, Vorsorge für den Winter zu treffen. Viele von
ihnen sagten zu mir: „Batuschka! Wir werden wol den Winter verhungern
sollen; schon vorigen Winter hatten wir genug von dem Durchzug der Truppen
zu leiden, aber dies Mal werden wir nicht einmal etwas für uns zu leben
haben, denn nur die alten Weiber sind zu Hause geblieben und was können die
thun?"
Die Kronbauern haben fast dieselben Lieferungen zu machen, wie die
Gutsbesitzer und brauchen höchstens keine Wagen zu stellen, obgleich ich auch
dies nicht sicher weiß. Ich weiß, daß sie ebenso wie die Edelleute Schiffszwie-
back und Ochsen zur Verproviantirung der Armee zu liefern haben. Es hält
jedoch ausnehmend schwer, die Höhe der diesen sogenannten freien Bauern ab¬
gepreßten Beiträge zu erfahren; denn die Beamten requniren unter der Firma
der Negierung soviel für sich, daß es ganz unmöglich wird zu unterscheiden,
was der Staat eigentlich fordert. Der Krieg ist für die Beamten eine schöne
Gelegenheit Geld zu verdienen, denn sie stellen an die Bauern ihre Forderungen
ohne eine schriftliche Ermächtigung von einer höhern Behörde beizubringen, in¬
dem sie nur den Betreffenden bekannt machen, daß die und die Gegenstände
an einem gewissen Tage geliefert werden müssen. Dies geschieht auch ohne
Widerrede und ohne weitere Erkundigungen, denn es könnte doch sein, daß
grade dies Mal die Lieferung für die Regierung wäre, und dann würde der¬
jenige, der sich weiter erkundigte, sicher als widerspenstig betrachtet und zur
Besserung seiner Gesinnung nach Sibirien geschickt werden, um andern als
warnendes Beispiel zu dienen, daß es das Beste sei, zu geben, ohne zu fragen
für wen.
Eine andere Last, unter welcher die ganze ländliche Bevölkerung schwer
seufzt, ist die Lieferung von Fuhrwerk zur Fortschaffung von Munition und
andern Kriegsbedürfnissen sür die Armee. Anfangs wurden sie für diese
Leistungen von der Negierung mit einem Schein, Contrcmarke genannt, be¬
zahlt, die bei der Entrichtung der Kopfsteuer an Zahlungsstatt angenommen
wurde; aber seit dem August 1834 ist dies anders geworden und diese Leistung
wird in Geld bezahlt d. h. gar nicht, denn die Beamten stecken das Geld ein
und wehe dem, der es fordern wollte. Die Contremarke dagegen konnte den
Beamten nichts nützen und daher bekam der Bauer wenigstens etwas für seine
Mühewaltung.
Die Leiden der Bewohner der Dörfer, welche die Truppenmassen auf
ihrem Marsch von dem Norden nach dem Süden in dem Winter 1833—34
berührten, waren so schrecklich, baß sogar die Soldaten sie bemitleideten; und
es gehört etwas dazu, das Herz eines russischen Soldaten zu erweichen. Des
Unterhalts wegen mußten die Truppen sich über eine große Strecke Landes in
der Breite ausdehnen und fielen nun den armen Bauern zur Last, deren
Wintervorräthe blos auf die Bedürfnisse ihrer Familien berechnet waren. Wie
Heuschrecken zehrten sie alles Vorhandene auf und gaben die Bevölkerung der
ärgsten Noth preis. Die Männer aber, die meistens während des Winters
mit ihren Pferden als Frachtfuhrleute einen guten Verdienst haben, mußten
auf der Hauptstraße die Artillerie und das Armeefuhrwesen fortschaffen, zu
deren Transport man sich trotz des 12 bis 13 Fuß tiefen Schnees nicht ein¬
mal der Schlitten bediente. Auf einer Reise im Februar 1834 habe ich ein¬
mal einem Zug von 300 Munitionswagen, die auf diese Weise fortgeschafft
wurden, begegnet, und daS Herz blutete mir, wenn ich sah, wie die Bauern
und ihre Pferde von den Soldaten der Bedeckung behandelt wurden. Wenn
sie an einen Hügel kamen, mußten sie manchmal das Gespann verdoppeln
und verdreifachen und an manchen Stellen mußten Wege im Schnee ausge-
graben werden, um die schwere Artillerie fortzubringen. Zu solchen Arbeiten
werden die Bauern selten länger als vierzehn Tage hintereinander verwendet;
aber sie sind oft 120 Werst vom Hause, so daß sie nach monatelanger Abwesen¬
heit zwar ihre Hütte wiederfinden, aber rein ausgeräumt von denselben hungri¬
gen Soldaten, deren Geschütze sie mit so großen Beschwerden transportirt
haben. Man darf nicht etwa denken, daß das Mitnehmen sich blos auf
Lebensmittel beschränkte, sondern dem Schicksale war alles unterworfen, was
nicht niet- und nagelfest war, selbst leichtere Stücke Hausrath. Das Gestohlene
wurde dann meistens im nächsten Quartier für Branntwein verkauft, viel¬
leicht um von dem nächsten Trupp wieder gestohlen zu werden. Häufig kam
es vor, daß sich Truppentheile auf dem Marsche kreuzten, und dann wurden
die Einzelnen so stark belegt, daß der Bauer und seine Familie in den Ställen
bei dem Vieh oder auf dem Schnee schlafen mußten, denn Slujba (wie der
Bauer den Soldaten nennt) muß sein Quartier haben. Uebrigens waren die
Leiden der Truppen auf ihren Märschen während des Winters auch nicht
gering.
Was der Krieg in ganz Nußland für Leiden nach sich zieht, wird man
sich in dem Lande selbst nicht bewußt, denn es dringt keine Kunde von einem
Ende desselben zum andern. Alles wird auf das sorgfältigste geheim ge¬
halten, und nur diejenigen, welche Mithandelnde oder unfreiwillige Zuschauer
sind, wissen etwas von dem wirklichen Stand der Sache. Selbst in Se. Peters¬
burg erfährt man weiter nichts, als was die offiziellen Bekanntmachungen mit¬
theilen, und manchmal weiß man in dieser Hauptstadt von den Zuständen im
Innern des Landes weniger als in England. Jedermann scheut sich, über
diese Gegenstände anders als in Lobeserhebungen über die Maßregeln einer
väterlichen Negierung zu sprechen. Eine hierher gehörige Anekdote wurde in
Nußland im Frühjahr erzählt. Ein Nüsse, der im Civilstaatsdienst den
Nang eines Generals erreicht hatte, äußerte sich im Theater über die lächer¬
lichen Angaben des von den russischen Truppen in den verschiedenen Schlach¬
ten erlittenen Verlustes in den Zeitungen. Der Polizeimeister, der dabei war,
hörte es und bemerkte, daß er sich gezwungen sehe, seine Aeußerungen dem
Grafen Orloff zu berichten; denn wenn er es nicht thäte, könnte es ein anderer
von den Anwesenden thun und er würde sich dann schaden. Tags daraus er¬
hielt der General eine Zufertigung, daß der Kaiser ihm befehle, sich sofort zur
Donauarmee zu begeben, um sich durch Zählen der Todten und Verwundeten
nach jeder Schlacht selbst von der Richtigkeit der amtlichen Angaben zu über¬
zeugen, und daß sein militärischer Rang der eines Majors sein solle. An
demselben Tage stand in der amtlichen Zeitung: „der wirkliche Staatsrath
ist auf seinen Wunsch mit dem Range eines Majors der activen Armee zu¬
getheilt worden."
Am meisten fällt der Druck des Krieges auf die Handwerker in den
Städten; namentlich Schuhmacher und Schneider. In allen Regimentern be-
finden sich eine Anzahl Mannschaften, welche in Friedenszeiten für ihre Kameraden
die Bekleidung, Stiefel in. anfertigen; da aber jetzt alle unter die Waffen treten
müssen, haben auch diese Nadel und Ahle bei Seite gelegt und zur Muskete
gegriffen. Die Anfertigung der Kleidungsstücke fällt jetzt den Schneidern und
Schuhmachern anheim, die von der allgemeinen Geschäftsstockung ohnedies
schon viel zu leiden haben. Sie erhalten eine gewisse Quantität Tuch oder
Leder und müssen dafür eine bestimmte Anzahl von Artikeln abliefern; aber der
Rohstoff ist bereits durch die Hände der Beamten gegangen, die als Rabatt
sür sich eine gewisse Quantität davon zurückbehalten und dennoch die von der
Regierung vorgeschriebene Zahl fertiger Artikel verlangen. Der arme Hand¬
werker muß demnach das von dem Beamten Entwendete aus seiner Tasche be¬
zahlen und verliert außerdem noch die auf die Arbeit verwendete Zeit. Vorigen
Mai konnte ich in der Stadt, wo ich wohnte, kein Paar Stiefeln gemacht
bekommen, da alle Schuhmacher zum großen Schaden ihres Beutels und ihrer
Kunden von der Regierung beschäftigt waren. Sie erhalten sür diese Arbeit
einen rein nomineller Preis, dessen größere Hälfte abermals in der Tasche der
Beamten hängen bleibt; aber sie dürfen nicht klagen und betrachten das Ganze
als ein nothwendiges Uebel.
Die Kaufleute sind nicht so schweren Verlusten ausgesetzt, als man denken
sollte, wenn man das gänzliche Aufhören alles Ausfuhrhandels in Erwägung
zieht. Allerdings müssen sie beträchtliche Summen zu den freiwilligen Bei¬
trägen zur Deckung der Kriegskosten unterzeichnen; aber da fast alle Geschäfte
gegen baar Geld gemacht werden, so ziehen sie nur ihre Capitalien ein und
warten ruhig die Ereignisse ab. In dieser Classe finden sich die meisten Patrio¬
ten; denn da sie keine andre Sprache als russisch verstehen und, unbekannt
mit andern Ländern, große Anhänglichkeit an Nußland haben, so sehen sie die
Ereignisse nur in dem Lichte, welches die falschgefärbten Darstellungen der Ne¬
gierung darüber verbreiten. Sie waren entzückt von den patriotischen Gedich¬
ten, die in allen russischen Zeitungen die Tapferkeit und die Siege der Waffen
des heiligen Rußland rühmen. Lord Palmerston wird ihnen als ein Un¬
geheuer und als der Urheber des Krieges dargestellt. In einem dieser Gedichte
wird Sr. Herrlichkeit als ein großer General karrikirt, der seine Schlachten
mit dem Zeigefinger aus der Landkarte durchsieht. Seit den Schlachten an
der Alma und von Jnkerman sind jedoch derartige Poesien seltener geworden.
Nur noch eine, die im Frühjahr 1834 verbreitet wurde,, will ich erwähnen.
Es war eine Allegorie, wenn ich nicht irre von einem Schauspieler verfaßt,
und es trat darin als Held ein russischer Molodez, (junger Bursch) auf, der
ruhig seine Straße zieht, als ihm plötzlich drei Männer in den Weg treten:
Ein beturbanter Türke, ein bärtiger Franzos und rothköpfiger englischer Kauf-
Mann. Wenige Streiche seines gewaltigen Armes machen, daß der Türke
und der Franzose ins Gras beißen, während der Engländer sich bereitwillig
dadurch das Leben erkauft, daß er seine Taschen leert. So bildet man die
öffentliche Meinung derer, welche lesen können; die es nicht können, werden
mit noch gröberen Lügen abgespeist. Der Angriff auf das Kloster Solowetzki
im weißen Meere wurde mit großer Schnelligkeit und vielen Zusätzen und
Ausschmückungen von der Priesterschaft durch das Land verbreitet. Wie mir
ein Bauer erzählte, hätten die englischen Barbaren, die weder gegen den hei¬
ligen Ort, noch gegen seine heiligen Bewohner Schonung gekannt hätten, die
Mönche gespießt. Durch solche absichtliche Entstellungen sucht man die Be¬
völkerung zu einem fanatischen Haß gegen die Engländer zu entflammen. Die
Friedensfreunde, wie die Bright und Cobden, sind bei diesen Herren sehr
beliebt und ihre Reden werden von allen russischen Zeitungen auf das ge¬
wissenhafteste übersetzt. Ueberall werden sie als die einzigen wahren Vertreter der
Ansichten der Mehrheit des englischen Volkes dargestellt, so daß die Russen
fest überzeugt sind, die Volksmasse sei zu einem Aufstande reif; und ich bezweifle
gar nicht, daß die vor kurzem in London mit der Polizei vorgekommenen Häke¬
leien in Rußland als eine durch den Druck der Kriegslasten hervorgerufene
ernsthafte Revolution dargestellt werden. Vorigen März war, ohne daß der
mindeste Grund dazu vorhanden war, eine ganz ähnliche Fabel im Umlauf.
Seit Anfang dieses Jahres ist Gold und Silber in den südlichen Pro¬
vinzen sehr selten geworden, obgleich ersteres vorigen Herbst reichlich vorhanden
war. Dieser Mangel an baarem Gelde läßt sich durch den Umstand erklären,
daß die Kaufleute ihre Capitalien aus dem Verkehr ziehen. Da wenige der¬
selben auf das Papiergeld Vertrauen setzen, so zogen sie das damals sehr
reichlich vorhandene Gold vor, welches auf diese Weise in wenig Wochen ver¬
schwand. Einer meiner Freunde, der im Februar in Simpheropol war, mußte
bei dem Umwechseln einer Hundertrubelnvte in Noten von einem, drei, und
fünf Rubel zehn Procent Agio geben und er versicherte mir, daß, wenn man
eine Kleinigkeit kaufe, deren Werth noch keinen Rubel betrage, der Kaufmann
lieber das Geschäft nicht mache, als baares Geld herausgäbe, obgleich sein
Gewinn an dem Artikel oft nicht weniger als 100 Procent betrage. Diese
Geldklemme rückt allmälig weiter nach Norden vor. In Jekaterinoslaw war
es so im April und in Charkow hielt es im Mai sehr schwer, sich Gold und
kleineres Silbergeld zu verschaffen. Charkow ist ein bedeutender Handelsplatz
und die Hauptstadt der Ukräne. Die Banknotenausgabe ist neuerdings sehr
gesteigert worden. Alles dies beweist, daß sämmtliche finanziellen Kräfte des
Landes aufs äußerste angespannt werden, um den Krieg fortzuführen.
Viele Personen wundern sich über die geringe Anzahl von Todten, welche
die russischen Schlachtberichte angeben; aber jedem, der das russische System
versteht, wird dies ganz natürlich vorkommen. Es ist Sitte, nur einen ge-
wissen Theil der Getödteten zu melden, während die übrigen noch in den Listen
fortgeführt werden und zum Vortheil der Obersten Löhnung und Rationen fort¬
erhalten. Die Obersten leben von den Rationen der Todtgeschossenen! Gefahr
der Entdeckung ist nicht vorhanden, denn die meisten Generale haben eS früher
ebenso gemacht, oder besassen sich in ihrer jetzigen Stellung noch mit ähnlichen
Praktiken, und die untern Offiziere hoffen ihrer Zeit selbst Obersten zu werden.
Ich kenne einen Regimentscommandeur, der von der Zeit an, wo sein Regiment
im letzten Sommer ausmarschirte, bis Ende vorigen Novembers seiner Familie
allwöchentlich zwei- bis dreitausend Rubel schickte, obgleich er selbst kein Ver¬
mögen hat. Natürlich rühren diese Summen von den den Nationen für die Leute
und die Pferde unrechtmäßigerweise gemachten Abzügen her, denn der Betreffende
commandirte ein Cavalerieregiment. Der russische Soldat führt ein so elen¬
des Leben, daß ich fest überzeugt bin, die Hälfte zieht den Tod auf dem
Schlachtfelde der Fortdauer einer so jammervollen Existenz vor. Für die Thiere
wird noch besser gesorgt, als für die Menschen und ein alter Cavalerieoffizicr
erzählte mir einmal, daß eine strenge Untersuchung angestellt würde, wenn ein
Pferd fällt und daß der Rittmeister Arrest bekommt, wenn ihm die geringste
Nachlässigkeit nachzuweisen ist. Wenn dagegen ein Soldat stirbt und dem
Obersten dies gemeldet wird, so sagt er „der arme Tropf! Ich hoffe, er ist
im Himmel," und dabei hat es sein Bewenden. Dies laß sich leicht erklären.
Der Oberst empfängt jährlich eine bestimmte Summe zum Anschaffen der
Pferde für das Regiment, und er hat daher jeden Verlust aus seiner Tasche
zu bezahlen; die Mannschaften dagegen kosten ihm nichts. Die Soldaten er¬
halten von der Regierung dreimal wöchentlich Fleisch, außer in der Fasten¬
zeit, und Branntwein Sonntags und an hohen Festtagen. Meistens schlagen
die Offiziere den Mannschaften vor, sich anstatt der Fleischrationen Geld aus¬
zahlen zu lassen und sich selbst zu beköstigen. Natürlich sind die Mannschaften
damit einverstanden, denn ein Vorschlag von einem Offizier ist so gut wie
ein Befehl; aber sie bekommen nie mehr als ein Viertel des Geldes zu
sehen, welches auf folgende Weise verwendet wird: Der Oberst nimmt ein
Viertel, die Bataillonscommandeure ebenfalls eins und die Hauptleute der
Compagnie ein drittes Viertel, während die Mannschaften den Nest erhalten.
Es zeigt sich hier nur dasselbe System, was im ganzen Reiche herrscht — ein
ungeheures System von Betrug, Unterschleif und Diebstahl.
Trotz der ausgedehnten Anstalten zur Erziehung von Militärs in Ru߬
land hält es doch sehr schwer, sür neue Aushebungen Offiziere zu bekommen.
Alle Offiziere müssen adlig sein und sich einer Prüfung in verschiedenen wissen¬
schaftlichen Fächern unterwerfen. Ein zur Engagirung von Offizieren in eine
Stadt des Südens geschickter Oberst überredete eine Anzahl Schreiber aus
den Regierungserpeditionen zum Eintritt in die Armee. Obgleich ihrem Range
nach adlig konnten diese Schreiber doch weiter nichts als Lesen und Schreiben.
Da sie nur einen kärglichen Gehalt erhielten, nahmen sie wegen der Aussicht
auf Avancement das Anerbieten mit Freuden an; aber sie verhehlten ihre Be¬
sorgnisse nicht, daß sie nicht im Stande sein würden, das erforderliche Eramen
zu bestehen. Der Oberst beruhigte sie jedoch und sagte, erwerbe sie selbst
prüfen. Dies geschah auf folgende Weise. Oberst: „Was ist Geographie?"
Antwort: „Das weiß ich nicht, ich habe nie davon gehört." Oberst: „Unsinn,
du mußt es wissen! Auf welchem User welchen großen Flusses liegt die Stadt
E. (die Stadt, in der sie sich befanden)?" Antwort: „Auf dem rechten Ufer
des Flusses D." Oberst: „Na, ich wußte doch, daß du in der Geographie fest
wärest, das genügt." Ein ander Mal war der Gegenstand der Prüfung die
Mathematik. Oberst: „Was ist Mathematik?" Antwort: „Habe ich in mei¬
nem Leben nicht gesehen." Oberst: „Addire zwei und zwei." Antwort: „Macht
vier." Oberst: „So, das genügt, du hast den Eramen bestanden." Natürlich
war ich bei diesen Prüfungen nicht gegenwärtig, aber mein Bericht darüber
stammt aus der zuverlässigsten Quelle.
Die Offiziere der Miliz sind meistens pensionirte Offiziere der stehenden
Armee; aber wenn in einem Gouvernement diese Classe nicht zahlreich genug
vorhanden ist, so wählt der Adel die Fehlenden aus seiner Mitte. Im Allge¬
meinen herrscht große Abneigung gegen den Milizdienst, wie gegen den Kriegs¬
dienst überhaupt, denn die Mehrheit des russischen Volkes ist trotz seiner viel¬
gerühmten Tapferkeit nichts weniger als kriegslustig.
Der Mangel an guten Aerzten wird gegenwärtig in der Armee sehr stark
gefühlt. Von allen Universitäten werden bloße Studenten zum Eintritt ge¬
nöthigt, ehe sie ihren medicinischen Cursus vollendet haben, der eigentlich fünf
Jahre dauert, jetzt aber aus 3V2 abgekürzt ist. Neuerdings sind viele Aerzte
aus Amerika und Preußen eingetroffen, die sofort nach dem Kriegsschauplatze
abgeschickt werden. In Simpheropol hatten fast alle englischen Verwundeten
amerikanische Aerzte.
Wie schwer es in Nußland hält, Armeen zu transportiren, läßt sich schon
an der Reise sehen, welche die barmherzigen Schwestern voriges Jahr von
Petersburg nach der Krim machten. Sie verließen die Hauptstadt gegen Mitte
November und reisten ohne besondere Beschwerden, solange die Chaussee
dauerte; aber von Kursk/ wo die Chaussee aufhört, bis Charkow hatten sie
schon viel auszustehen, da sie in großen schweren Diligencen, gleich den fran¬
zösischen, fuhren. Aber die ganzen Freuden einer russischen Herbstreise.fingen
hinter letzterer Stadt an. Die Schwestern verließen Charkow mit 13 Pferden
vor jedem Wagen und erreichten glücklich die erste in einem Thale gelegene
Station ungefähr 14 Werst von der Stadt; aber als sie den Berg hinaufzu¬
fahren versuchten, blieben die Räder im Schlamm stecken und die Is Pferde
konnten den Wagen nicht von der Stelle bringen; nach und nach wurden 30
vorgespannt, aber auch diese vergeudeten ihre Kraft vergebens. Endlich legte
man Ochsen vor und diese setzten den Wagen in Bewegung und auf diese
Weise verfolgten sie ihre Reise nach der Krim, um dort die Sterbenden und
Verwundeten zu pflegen, im langsamen Gehschritt, weniger als eine Stunde
Weges in jeder Stunde Zeit! Und dies war ein Fall dringendster Eile.
Wäre es unter solchen Verhältnissen nicht besser und klüger von Nußland,
wenn es, anstatt seine Kräfte in Eroberungskriegen zu vergeuden, sie zu ma¬
teriellen Verbesserungen im Innern des Landes benutzte?
So sehen wir, wie der Krieg langsam aber sicher die nothwendigsten Lebens¬
säfte des russischen Reiches aufsaugt, den Wohlstand des Landes vernichtet,
die Bevölkerung decimirt und einen Zustand stiller Abzehrung vorbereitet, der
ihm den Frieden nothwendig macht. Auch hier wird wieder die Zukunft die
Wahrheit des Erfahrungssatzes zeigen, daß Rußland keinen langen Krieg füh¬
ren kann.
'Ich komme schließlich zur Besprechung der Operationen des eigentlichen
Belagerungskrieges oder zum gedeckten, förmlichen Angriff. Früher wurde be¬
reits erörtert, wie demselben die Einschließung des Platzes oder mindestens
doch die Besetzung der Hauptverbindungslinien, mittelst welcher derselbe nach
außen hin verkehrt, vorangehen müsse; denn allein diese Maßregel vermag, wie
gesagt, den Belagerer in die vortheilhafte Lage zu versetzen, Kräfte und Mittel
zu bekämpfen, die sich nicht nur nicht zu vermehren im Stande sind, sondern
im Gegentheil mit jedem Tage an Umfang wie an Fähigkeit zum Widerstande
nothwendig abnehmen werden.
Die erste Maßregel, welche der gegen eine Festung zu führende förmliche
Angriff erheischt, ist mithin die Absendung eines ihrem Umfange, der Stärke
ihrer Besatzung und den Terrainverhältnissen entsprechenden Einschließungscorps.
Die Größe desselben ist von Theoretikern in verschiedener Weise, theils auf
Grundlage der Abmessungen des Platzes, theils im Verhältniß zu dessen
Garnison berechnet worden. Von solchen Gesichtspunkten ausgehend ist man
zu dem Resultat gekommen, daß dem Belagerungsheer die vier- bis sechsfache
Stärke des einzuschließenden Feindes gegeben werden müsse, wogegen wir in
der Praxis den Angreifer im Festungskriege selten mehr wie doppelt der Ver¬
theidigung überlegen finden. In Hinsicht auf das Masfenverhältniß versteht
es sich von selbst, daß für dasselbe die Zusammensetzung der Besatzung, auch
die Beschaffenheit der Festungswerke, und im Besondern das inneliegende Ter¬
rain entscheidend sind. Ein Platz in der freien offenen Ebene wird verhält¬
nißmäßig viel Cavalerie zu seiner Einschließung erheischen. Desgleichen
im Allgemeinen jede größere Festung. Am wenigsten verlangen kleine Plätze
und die im durchschnittenen und bergigen Terrain gelegen sind.
Es gibt einen Umstand, der im Belagerungskrieg von der höchsten Be¬
deutung ist und auf den ich hier gleich anfangs zu sprechen komme, weil er
die ersten Arrangements des Angreifers tangirt. Die Festung kann als ein
kleiner, in sich selbst basirter Kriegs- oder Vertheidigungsraum angesehen wer¬
den. Ihre Besatzung verhält sich zum Gesammtkriegstheater durchaus anders,
wie eine operirende Armee, nicht nur weil sie nicht, wie jene, mobil, sondern
local gebunden ist, sondern auch weil sie alles was sie bedarf, und zwar nicht
allein um zu eristiren, sondern zugleich und hauptsächlich um zu widerstehen,
aus ihrer unmittelbaren Nähe, oder richtiger zu sagen aus ihrem Defensivkreis
entnehmen kann. Es wird dadurch eine Schnelligkeit, ja Verzuglostgkeit jedwe¬
den Ersatzes, sei es an Munition, an Armatur oder an Lebensmitteln erreicht,
die für die Energie und ununterbrochene Aufeinanderfolge der Vertheidigungs¬
operationen von der höchsten Wichtigkeit ist, und nur dadurch ermöglicht wird,
daß sich im Platz Magazine aller Art an Lebensmitteln, wie an Kriegsbedarf,
vornehmlich auch große Werkstätten, also Etablissements für die Erzeugung des
Bedarfs und für Reparaturen befinden.
Gleich anfangs muß die Sorge des Angreifers daraus hingewendet sein,
dem Belagerungsheere mindestens annähernd dieselben Vortheile zu sichern.
Es handelt sich sür ihn mithin schon zur Zeit, wenn die ersten Einschließungs¬
truppen vor der Festung anlangen, um die Anlage von Proviantmagazinen,
um die Sammlung oder Beschaffung von Belagerungsmaterialien, um Requi-
rirung von Pferden, Zugochsen und Saumthieren, um Ausmittclung der Punkte,
auf welchen demnächst die größeren militärischen Etablissements, vor allen
anderen der große Artilleriepark, desgleichen der kleine Park, die Pulver¬
depots, das Laboratorium, die Feldlazarethe u. s w. eingerichtet werden sollen.
Es ist Regel, diese Anlagen außerhalb der weiteren Schußdistance zu etabliren.
Früher erachtete man eine Entfernung von 6000 Schritt für ausreichend; heute,
wo Pairhans bis über 3000 Schritt weit treiben, wird man auf mindestens
6000 Schritt von der Festung abbleiben müssen. Da zur Zeit, wo mit der
Anlage dieser Etablissements begonnen wird, die Belagerungsarmee meistens
erst zum Theil vor dem Platze angekommen zu sein pflegt, und die Be¬
satzung desselben sich durch diesen Umstand aufgefordert fühlen dürfte, einen
Angriff auf die in der Formation und Organisation begriffenen Parks, Depots
und Magazine zu machen, so ist es Regel, dieselben durch flüchtige Verschan-
Zungen, welche gegen die Festung hin Fronte machen und die mit einem Theil
der zur Stelle befindlichen Feldartillerie armirt werden, zu decken.
Sämmtliche hiermit berührten Arbeiten und Maßnahmen werden unter
dem Namen der einleitenden Basirungsoperationen des EinschließungScorps um¬
faßt. Ihr Zweck ist, dem Angreifer in Hinsicht auf den Ersatz seiner Bedürf¬
nisse und Hilfsmittel dieselbe Unabhängigkeit zu verschaffen, deren sich, wie eben
erwähnt, die Besatzung der Festung erfreut.
Was die Belagerung von Sebastopol angeht, so vermissen wir in der
ersten Periode größere in diese Kategorie fallende Vorbereitungen beinahe
ganz. ES steht sehr armselig um den Artilleriepark der Verbündeten, um ihre
Proviantmagazine, um die Vorräthe an Munition, es fehlt entschieden an
tauglichen Arbeitsgeräthschaften, an Sappen- und Batteriekövben, wie an Fa¬
schinen. Die Folge ist, daß, nachdem das Feuer am 17. October eröffnet
worden, es bereits am anderen Tage eingestellt werden mußte. Noch in keinem
Festungskampfe sind die Vortheile, deren die Vertheidigung vermöge ihrer be¬
reiten Hilfsmittel theilhaftig ist, in so glänzender, umfassender und entscheiden¬
der Weise zur Geltung gebracht worden, wie in diesem. Es ist vornehmlich
dieses Verhältniß: auf der einen Seite der in Ueberfülle Mit allem Nothwendi¬
gen, und mit mehr als das, versehene Platz; und auf der anderen der in
leichtsinnigster, unüberlegtester und eilfertigster Weise zu Werke schreitende
schnell an allem Mangel leidende Angreifer — es ist dieser Gegensatz,
dünkt mich, welcher dem Belagerungskriege vor Sebastopol seinen Charakter
aufdrückt.
Während die Verpflegungöbeamten die Magazine zu füllen bemüht
sind, und der Artillerist im großen und kleinen Artilleriepark seine ersten
Arrangements trifft, die Laboratorienarbeiten einleitet, und die Heranschaffung
des sich immer schwer und langsam auf den Heerstraßen bewegenden Be¬
lagerungsgeschützes durch NelaiSaufftellung zu erleichtern und zu beschleuni¬
gen sucht, beschäftigt den Ingenieur nichts mehr, als das Studium
der anzugreifenden Festung selbst, die Auskundschaftung ihrer Hilfsmittel und
vor allem die Ergründung ihrer Schwächen. Wiewol bei Anlage einer jeden
Befestigung, aus Gründen, die an sich klar sind, nach einer gleichmäßigen
Vertheilung der Widerstandsmittel über die verschiedenen Fronten getrachtet
wird, oder, mit andern Worten, das fortificatorische Gleichgewicht für jeden
Ingenieur sich als Problem hinstellt, so ist es doch ebenso wahr, daß es kaum
eine Festung gibt, die auf allen Seiten dieselbe Vertheidigungsfähigkeit be¬
sitzt. Der Angreifer würde keinen größeren Mißgriff machen können, als wenn
^ für seine Offenstvoperationen die stärkste Fronte aufsuchte; umgekehrt kann
er nicht glücklicher greifen, als wenn er zu diesem Zwecke die wirklich schwächste
herausfindet. Unter gewissen Umständen mag letzteres leicht sein. Gemeiniglich
ist es schwer, und erheischt die ganze Ueberlegung und namentlich umfassende
Vorstudien des mit der Wahl betrauten Ingenieurs. Die Rücksichten, welche
derselbe zu nehmen hat, sind doppelte, und zwar hauptsächlich in Bezug darauf,
daß der Angriff nicht allein auf die Offensive Bedacht zu nehmen hat, sondern
auch gewisse Momente ins Auge fassen muß, in welchen er sich, etwa einem
Ausfalle oder irgendeinem Rückschläge der Festung gegenüber, in defensiver
Situation befindet. Außerdem theilen Festung und Vorterrain die Aufmerksam¬
keit. In Hinsicht auf die Festung ist es entscheidend, ob die anzugreifende
Fronte umfaßt werden kann, also eine vorspringende Lage hat, ob sie von
ihren Nebenfronten eine möglichst geringe Unterstützung erhält, die Haupt¬
linien ihrer Werke bequem der Länge nach bestrichen werden können, und keine
vorgelegenen Schanzen oder detaschirte Forts, weder direct, noch durch Feuer
von der Flanke her den Zugang behindern. Das Vorterrain dagegen ist den
Angriffsoperationen günstig, wenn es verhältnißmäßig nahe zur Festung hin
eine gedeckte Annäherung gestattet, die gesicherte Zufuhr der Belagerungsbe¬
dürfnisse erleichtert, ein nahelegen der Parks und Depots ermöglicht, zugleich
durch seine Bodenbeschaffenheit die Erdarbeiten erleichtert.
Untersucht man, inwiefern diese Grundsätze von den Verbündeten vor
Sebastopol beobachtet worden sind, so kann man zunächst nicht unbemerkt
lassen, daß dieselben im Grunde genommen gar keine bestimmte Wahl getroffen
haben. An und sür sich kann es schwerlich gebilligt werden, daß man, an Statt
das Fort Severnaja (im Norden) anzugreifen, welches als Schlüssel des Platzes
betrachtet werden muß, sich gegen die Stadtbefestigung wendete; glaubt man
aber, daß Oertlichkeit und Stärkenverhältnisse zu diesem Entschlüsse zwangen,
so war es mindestens entschieden falsch, die Mittel des Angriffs auf einen
Raum, der von dem Quarantänefort bis zur Kielbucht reicht, zu zerstreuen und
damit ihre Wirkung zu schwächen. Dies hieß den Vortheil aus der Hand
geben, den der Belagerer vor dem Vertheidiger dadurch voraus hat, daß er
seine Kraftanstrengungen vor einer oder zwei Fronten concentriren kann, um
hier durchzubrechen und damit die Entscheidung zu geben, während der Be¬
lagerte mehr oder weniger in dem Fall ist, seine Widerstandskräfte und Mittel
über alle Fronten zu vertheilen. Was endlich die Verlegung des Hauvtaccents
auf den Angriff gegen die Fronten des Malakowthurms (Fronte I. und U,
rechts und links von demselben) angeht, so will mir scheine», als ob man eben
damit den oben erwähnten, größtmöglichen Mißgriff gethan hätte, indem grade
hier das Vorterrain felsig ist, grade hier detaschirte Werke (Kamtschatka, Sele-
ghinsk und Volhynien) vorliegen und die nebeneinander gelegenen Linien sich
die kräftigste Unterstützung (ich erinnere an das Flankenseuer des Redan) ge¬
währen.
Bei Führung eines jeden förmlichen Angriffs ist es Endzweck, sich einer
Position, sei es innerhalb der Peripherie des Vertheidigungskreises, oder näher
an dessenCentrum heran, zu bemächtigen, durch deren Wegnahme die Defensive
gelähmt und genöthigt wird, nicht allein, wie dies in der Feldschlacht nach der
erlittenen Niederlage geschieht, das Feld zu räumen, sondern ihre Kräfte und
Hilfsmittel dem Angreifer auszuliefern. Es ist diese letztliche Gefangengebung
eine Consequenz der vorausgegangenen Einschließung, und wenn moderne
Festungen, welche im weiten Umfange von detaschirten Forts umzogen sind,
sich gegen jene dadurch gesichert finden, so werden sie dem förmlichen Angriff
gegenüber aus dem für sie bestehenden günstigen Verhältniß selbst im un¬
glücklichsten Fall, dem des Durchbruchs ihrer Enceinte, mindestens den Vor¬
theil ziehen können, daß ihre Besatzung nicht kriegsgefangen zu werden braucht,
sondern, als eine nicht eingeschlossene, Auswege zum schließlichen Abzug sich
offen erhält.
Als solche entscheidende Position, durch deren Besitznahme der Fall des Platzes
unfehlbar herbeigeführt wurde, galt noch in den großen napoleonischen Kriegen
jedweder Theil der Hauptenceinte der Festung, bei kleineren Plätzen ein ein¬
faches Logement*) hinter der Bresche, sofern nur die Möglichkeit vorlag, von
hier aus die übrigen Fronten in den Rücken zu nehmen. Die Belagerungs-
operativnen, welche mit der Bastrung vor der Festung begannen, schlössen da¬
her gemeiniglich mit der Herstellung der ersten Bresche im Hauptwall. Moder¬
nen Plätzen gegenüber ist die Sachlage insofern eine andere, als' hier gemeinig¬
lich eine innere Vertheidigung, mindestens eine Abschnittsdefensive, vorbereitet
ist; außerdem aber die neueren Festungen auch bei Herstellung ihrer Haupt¬
enceinte dem Princip der Theilselbstständigkeit Rechnung getragen zu haben
Pflegen, dergestalt, daß mit dem Durchbruch durch eine Fronte eben nur diese
allein geschlagen ist, alle anderen aber, weil im Rücken defensibel, zu weiterem
Widerstande befähigt sind. Der Angriff mußte jedem modernen Platze gegen¬
über am letztlichen Erfolge verzweifeln, wenn eben diese Theilselbstständigkeit
einen so energischen Widerstand nach geschehenem Durchbruch einer Fronte er¬
möglichte, als vorher. Erfahrungen sind darüber bis jetzt noch nicht gemacht
worden, aber die meisten Verhältnisse, von denen wir wissen, daß sie dabei in
Frage kommen werden, sprechen gegen solche Möglichkeit.
Es ist der Unterschied zwischen dem förmlichen Angriff und dem gewalt¬
samen oder dem Sturm, daß letzterer ohne weitere Vorbereitungen seine
Massen auf die einzunehmende Position hin dirigirt Und den Wall durch Lei¬
tern ersteigen läßt, ersterer dagegen vor allem das feindliche Geschützfeuer
durch Vernichtung der feindlichen Artillerie und durch Zerstörung ihrer Scharten
Zum Schweigen zu bringen bemüht und gleichzeitig bestrebt ist, gedeckte An-
Näherungswege herzustellen, vermöge welcher zunächst schwere Kanonen auf
die Krete des Glacis geschafft werden können, um die Escarpemauer dergestalt
zu zertrümmern, daß dieselbe in der Frontbreite von mindestens einem Zuge
(fünfundzwanzig Schritt) in den Graben herniederstürzt, und dadurch eine
Rampe formirt, auf welcher die inmittelst der gedeckten Annäherungswege her¬
angeführten Sturmcolonnen den Hauptwall hinanzustürmen vermögen. Die
erwähnte Rampe nennt man die Bresche.
,
Die klerikalen Blätter melden mit Emphase, daß die Herren Minister die
parlamentarischen Ferien zum Besten des Landes benutzen, bis über die Ohren
in Arbeiten vergraben sind, indem sie verschiedene wichtige Gesetzprojecte vor¬
bereiten, welche im Verlauf der nächsten Session den Kammern vorgelegt werden
sollen. Zu wünschen ist, daß dem also wäre; denn wirklich gibt es Ma߬
regeln von großem Interesse für das Land, die noch durchzuführen sind und
die seit lange ungeduldig erwartet werden, z. B. die Zollreform. Aber
Fragen dieser Art sind es nicht, welche das gegenwärtige Cabinet am meisten
zu beschäftigen scheinen. In erster Linie stehen die Modifikationen des
Wahlgesetzes, die der klerikalen Partei schon lange am Herzen liegen. Die
Gerechtigkeit verlange sie seit langer Zeit, behaupten die scheinheiligen Organe,
und das Interesse des Landes und unsrer Institutionen erheische es, daß man
die Wahrheit der repräsentativen Negierung wiederherstelle, die jetzr durch die
Ungleichheit, welche zwischen den städtischen und ländlichen Wählern vorhanden,
verfälscht sei. Nach der jetzigen Eintheilung der Wahlkreise müssen viele der
ländlichen Wähler sich in die Städte verfügen, wo sie gewöhnlich von den
städtischen Wählern überstimmt werden; und grade die Städte sind es, welche
die liberalen Deputirten in die Kammer senden. Diesem unleidlichen Zustande
soll abgeholfen werden und die Hauptveränderungen würden sein, baß kein
Wahlbezirk mehr wie drei Repräsentanten und zwei Senatoren wählen dürfe
und daß die Wähler sich am Hauptorte des Cantons, wo sie ihren wirklichen
Wohnsitz haben, versammeln. Das ist in seiner ganzen Einfachheit der kleine
Reformplan, welchen die theokratische Partei in der nächsten Kammersesston zur
Geltung zu bringen gedenkt, Sie würde gern noch weiter gehen und sich für
ein System erklären, wonach ebensoviel«! Wahlcollegien gebildet würden, als
Deputirte zu wählen sind; aber die Herren legen Zeugniß von ihrer Mäßigung
ab und wollen sich damit begnügen, den großen Städten einen Theil ihrer
Vertretung zu rauben, um das ländliche Element im Schoße des Parlamems zu
befestigen, d. h. ihm die Oberhand zu verschaffen. Brüssel würde danach in vier,
Gent in drei, Antwerpen, Lüttich, Tournay, Mons, Nivelles und Löwen in
zwei Wahlbezirke getheilt werden. Die Idee der Abstimmung am Hauptorte des
Cantons ist keine neue Prätention. Sie wurde schon oft von den Widersachern
des Liberalismus erhoben. Ja, man ging sogar noch weiter und verlangte die
Abstimmung im Gemeindehause, also beinahe in der Wohnung, mit dem Vor¬
behalt, die Wahlzettel nach dem Hauptorte des Cantons zu übermachen. Einem
solchen Regime, welches nothwendig zu den skandalösesten Mißbräuchen führen
und aus der Mehrzahl der Wahlbezirke faule, sehr faule Wahlflecken machen
würde, hat sich der gesunde öffentliche Sinn bis jetzt energisch widersetzt. Aber
trotz dieses allgemeinen Widerwillens gegen die Durchführung ihrer Absichten
hielt sich die klerikale Partei acht für besiegt. Mit der sie charakterisierenden
Zähigkeit zählte sie auf unvorhergesehene Zufalle, welchen die Gesellschaft, wie
die Individuen ausgesetzt ist; und sie hat demzufolge manövrirt. Gegenwärtig
hält sie den Moment für günstig., und entschlossener, wie jemals, setzt sie an
die Verwirklichung ihrer Projecte um so größern Eifer, als sie auf den Erfolg
zählt. Die Chefs der jetzigen Verwaltung sind ihr ergeben, sie glaubt aus
eine parlamentarische Majorität zählen zu können und wird nicht zaudern, sich
zum Meister des Terrains machen zu wollen. Sie gibt sich nicht einmal mehr
die Mühe, zu heucheln und hält es für unnöthig, länger ihr letztes Ziel zu
verbergen, das kein anderes ist, als die ultramontane Prädominanz in
Belgien. Werden der liberalen Partei jetzt die Augen gänzlich aufgehen,
und wird sie die Nothwendigkeit begreisen, ihre Kräfte zu vereinigen, um eine
so große Gefahr zu beschwören? Den Städten besonders liegt die Pflicht des
Widerstandes ob, sie müssen die Schutzwachen unsrer Institutionen und unsrer
Freiheiten sein; ihre eignen Interessen befehlen es ihnen. Sie dürften sonst
sehen, daß sie es sind, welche von den ultramontanen Reformatoren zuerst ge¬
opfert werden.
Eine andre Frage, welche das Ministerium beschäftigt, ist von nicht
minderer Wichtigkeit wie die beabsichtigten Veränderungen des Wahlgesetzes
und die klerikale Partei erinnert in ihren Organen das Ministerium daran,
daß es Pflichten gegen sie zu erfüllen habe und daß eine seiner ersten Pflichten
die Präsentation eines Gesetzes sei, welches das Recht der todten Hand
wiederherstelle, d. h. es gesetzlich erlaube, immerwährende, fortdauernde Stif¬
tungen zu machen, die nicht der Bestätigung der Regierung bedürfen. „Wir
verlangen Freiheit für den Unterricht, für die Mildthätigkeit, für die Kirche"
^ so drückt sich die Patrie, das Organ des Bischofs von Brügge aus —
„und damit diese Freiheit wirklich vorhanden, muß sie die Gründung von
fortdauernden Werken, d. h. von Stiftungen, erlauben." Mit andern
Worten heißt das: Wir verlangen, daß es gesetzlich erlaubt sei, der Kirche
und besonders den Klöstern Legate und Schenkungen zu machen, auf Kosten
der natürlichen Erben; damit der Klerus wieder reich und allmächtig werden
und, in der Hoffart und Ueppigkeit von keiner Controle beschränkt, leben und
gedeihen kann. Unter dem vorigen Ministerium hatte der Justizminister,
Herr Falter, der Kammer zwei Gesetzvorschläge über die öffentliche Wohl¬
thätigkeit und über Legate und Schenkungen vorgelegt, worin den frommen
Herren die nach den Schätzen dieser sündigen Welt lüsternen Hände gebunden
werden. Obwol mehrfach zur Verhandlung gekommen, sind diese Vorschläge
nicht erledigt worden und sie zuerst vor allem soll das jetzige Ministerium
zurückziehen. Die ernsten Geister, welche den Gang der Theokratie in Europa
mit Aufmerksamkeit verfolgen, werden manches aus den Kämpfen lernen können,
die bei Gelegenheit der Gesetzvorlagen über die Güter der tovten Hand neuer¬
dings in Piemont und Spanien entbrannt sind. In beiden Ländern haben
die Bevölkerungen die religiösen Corporationen reichlich dotirt gesehen, im¬
mense Einkünfte genießend; sie haben gesehen, wie diese Reichthümer für den
Lurus der Klöster, für das Raffinement des materiellen Lebens vergeudet
wurden. In Spanien steht das Elend des Volks im schreiendsten Gegensatz
zu dem Reichthum der Klöster; in Piemont trieben der höhere Klerus und die
Cvngregationen, unrechtmäßige Besitzer von unermeßlichen Landstrecken, den
Egoismus und die Habgier soweit, daß sie den niedern Klerus in einem Zu¬
stande, der an Armuth grenzte, vegetiren ließen. In Belgien eristirt die todte
Hand nur in wenig ausgedehntem Maße, im verhüllenden Schatten des Trugs
und im Namen der Mildthätigkeit reclamiren jetzt die Cvngregationen den
Vortheil davon. Auf dem classischen Boden der todten Hand, in Spanien und-
ir Piemont, wird das Wort Mildthätigkeit zur Vertheidigung der kirch¬
lichen Güter nicht einmal ausgesprochen. Prälaten und Mönche rufen die
Rechte der Kirche, die Decrete des Papstes an; das Argument von der Mild¬
thätigkeit lassen sie bei Seite; sie wissen, daß sich aus dem Schoße der Nation
die Beschuldigung der Lüge erheben würde, ließen sie es sich beikommen,
gegen das erlassene Gesetz im Namen und im Interesse der Armen zu pro-
testiren. In Belgien dagegen ist es ausschließlich dieses Interesse, in dessen
Namen die religiösen Congregationen das Recht bürgerlicher Personen ver¬
langen. Nicht für sich, rufen die Partisane der todten Hand aus, wollen die
Congregationen erwerben und erben, ausgedehnte Besitzungen ankaufen, Schen¬
kungen und Legate empfangen: nur für die Armen! Hier hütet man sich, die
Rechte der Kirche, die Decrete des Papstes vorzuschieben: die Mildthätigkeit,
allein die Mildthätigkeit ist das Argument, womit man die Wiederherstellung
der todten Hand erlangen will. Des Versuchs einer neuen Erfahrung bedarf
es nicht. DaS Beispiel von Piemont und von Spanien sagt uns eindringlich
genug, welcher Sorte von Mildthätigkeit sich die Mönche ergeben, wenn sie
über Reichthümer verfügen.
Als der belgische Nationalcongreß 1830 die Grundzüge der neuen politi¬
schen und socialen Organisation des Landes verhandelte, war eine vollständige
Gesetzgebung über die religiösen Associationen vorhanden. Das einfache Recht
der Association war sehr beschränkt; nur den barmherzigen Schwestern, welche
den Dienst in den Civilwohlthätigkeitsanstalten versahen, war es durch das
Decret von 1809 erlaubt, zu erwerben und zu erben. Drei Meinungen machten
sich im constituirenden Kongresse geltend. Eine gewisse Anzahl von Deputirten
verlangte die Erhaltung der Gesetzgebung, welche das Associationsrecht be¬
schränkte. Die katholische Partei begehrte zugleich die ausgedehnteste Associations¬
freiheit und die Fähigkeit, unter dem Titel von Civilpersonen zu erwerben.
Die,Deputirten der dritten Kcttegeorie waren der Ansicht, es gebühre sich, die
Associationsfreiheit zu proclamiren, aber weiter nichts. Diese letztere Meinung
drang durch: die Freiheit der Association wurde decretirt und zu gleicher Zeit
verwarf der Congreß alle Propositionen der katholischen Partei, die dahin
Zielten, den Congregationen als Gesammtheit das Recht bürgerlicher Personen
ZU gewähren. Nach diesem System, klar von den Rednern der Majorität
des Congresses entwickelt, können alle Bürger sich beliebig associiren, unter
welcher Firma sie wollen, als Kapuziner, Jesuiten, Barfüßler, Trappisten:c.
sie können persönlich Güter besitzen, wie jeder andre Bürger; aber bei dem
Tode eines jeden von ihnen müssen die Güter das allgemeine Loos des Eigen¬
thums erleiden, der allgemeinen Bewegung der Vererbung folgen. Die klerikalen
oder gemischten Verwaltungen, die sich bis 1847 folgten, verfälschten den Geist
der vorher eristirenden Gesetze über die Materie, welche der Nationalcongreß
hatte bestehen lassen. Die todte Hand wurde auf dem Verwaltungswege und
ungesetzlich zum Vortheil einiger Congregationen und Bisthümer retablirt. Als
das liberale Ministerium Regier zur Macht gelangte, kam es auf die Tra¬
ditionen des Congresses zurück und setzte die Gesetze, welche seine Vorgänger
verletzt hatten, wieder in Kraft. Von da an datirt das famose Argument von
der Mildthätigkeit. Die Wiederherstellung der todten Hand im Namen der
bedauerlichen Vergangenheit der Congregationen verlangen, das wäre zu un¬
geschickt gewesen, das wäre eine zu verwegene Herausforderung dem gesunden
Sinne des belgischen Volks gemacht, gewesen. Die glänzende Niederlage,
welche der der Kammer gemachte Vorschlag, der katholischen Universität zu
Löwen die bürgerliche Personification beizumessen, erfahren, hatte die Kleri¬
kalen belehrt, daß sie einen neuen Vorwand erfinden müßten. Und sie erfan¬
den die Mildthätigkeit. Das Wort machteGlück. Keine dem Müßiggange
mehr offene Klöster! die Klöster werden sich in Hospitäler, in Hospizen, in
Zufluchtsstätten, in Asyle der Armen verwandeln; den Klöstern geben, hieße
der Armuth geben. Der frühere mehrmalige klerikale Minister Herr Baron
d'Anethan hat über diese neue Mode von Mildthätigkeit mehre Broschüren/
der Bischof von Brügge sogar ein dickes Buch geschrieben. Die Mildthätigkeit,
immer die Mildthätigkeit, nichts als die Mildthätigkeit, das ist die schlaue
Maske, womit man die todte Hand verhüllt. ,',!'<? -
Diese beiden schwerwiegenden Fragen: die Veränderung des Wahlgesetzes
und die Wiederherstellung des Rechts der todten Hand, sind es, welche der
nächsten Kammersession ihre Bedeutsamkeit geben, das Land in Aufregung
bringen und die grollenden Parteien in . den hitzigsten Kampf führen werden.
Noch soll der Führer des Cabinets, Herr Dedecker, zaudern; sein Programm
von der Conciliation und der Moderatton würde zu Schanden gemacht; er
fürchtet die gewagten Schritte, die Möglichkeit von gefährlichen Folgen, aber
die katholische Partei drängt, sie hält den Moment für günstig, um die Macht
für lange Zeit zu erobern, und sie droht: Vorwärts! oder wir geben dich aus;
werfe über Bord! oder du wirst darüber geworfen. Daß ein Sturm dann
die unsaubere Tenne plötzlich wieder rein fegen könnte, daß das Land der
politischen Eintracht und Ruhe bedarf, um nahenden Gefahren zu begegnen,
diese drohenden Bilder der Zukunft zeigen sich ihren entbrannten Blicken nicht,
und unwillig wendet der Freund des Vaterlandes sich ab von solchen Blend¬
lingen, die das alte Wort bewahrheiten: Sie haben nichts gelernt und nichts
VBrgessM!7!»«jr, ; uno ^n^is'^l ?»;üG chi>it<»?uns nznttü! »ff
„Den rechten Mann für die rechte Stelle!" heißt die Losung, welche
gegenwärtig durch die englische Presse geht, und diese anspornt zu untersuchen,
ob man bei der Besetzung, wichtiger Staatsposten überall nach der Befähigung
und nicht nach dem Range gefragt hat. In andern Ländern, wo eine freche
Presse nicht das Heiligthum der Bureaukratie antasten darf, wo die Furcht
vor der Amtsehrebeleidigung den guten und schlechten Beamten gleichmäßig
vor Kritik schützt, gibt es nur Staatsdiener, die ihren Platz vollkommen aus¬
füllen, in England dagegen hat man manche zu leicht befunden. Namentlich
hat man diese Erfahrung im diplomatischen Dienste gemacht, denn seit den
großen Congressen im ersten Viertel dieses Jahrhunderts hat man sich auch in
England nach dem Beispiel der Continentalstaaten gewöhnt, lieber Magnaten
mit langen und vornehm klingenden Titeln, als wie früher die einfachen Misters
und Sir James oder Pauls von bescheidener Stellung, aber großem Diensteifer,
zu diplomatischen Posten zu verwenden. Desto lauter und herber ist jetzt die
Kritik, und es'entgeht ihr keiner, von dem leidlichen Musiker, aber mittelmäßi¬
gem Staatsmann an einem großen deutschen Hofe bis zu dem diplomatischen
Alleinherrscher am Ufer des Bosporus. Der Eifer dieses letztern, seinem Vater¬
lande zu dienen, kann ebensowenig in Frage gezogen werden, wie seine, emi¬
nenten Fähigkeiten; wie sehr aber anderweitige Charaktereigenschaften ihm im
Wege- stehen, sich einen gedeihlichen Wirkungskreis zu schaffen, zeigt folgende
Skizze eines anonymen, früher in diplomatischen Diensten im Orient verwendet
gewesenen Engländers (Layard? bekanntlich früher Attache in Konstantinopel),
die allerdings etwas ins Schwarze gemalt ist, aber nach Wegtilgung einiger
überflüssiger Schatten ein ziemlich richtiges Charakterbild gibt. Der „roving
Englishman" führt ihn unter den Namen Sir Hector Stubble, Gesandter am
Hofe des Negerkönigreichs Dahomey ein, doch ist der dünne Schleier der
Pseudonymität leicht zu durchschauen.
Alle lebenden Wesen, die unter seinem Einflüsse standen, hat Sir Hector an
einander gehetzt — er hatte dafür ein wahres Talent. Man konnte nicht mit einem
englischen Unterthan, den man zufällig traf, über die Straße gehen, ohne daß
dieser englische Unterthan sofort über jeden andern englischen Unterthan in der
Stadt — und es hielten sich daselbst viele auf — zu schimpfen anfing. Ueber¬
haupt herrschte unter diesen Unterthanen die allerschönste Zwietracht; Klatschen
und Ehrabschneider, Zerrereien und Zänkereien hörten den ganzen Tag nicht
aus. Selbst die Hunde und Katzen im Orte lernten sich einander mißtrauisch an¬
sehen. Ich habe mir nie erklären können, wie es so ein durch und durch respec-
tabler Mann hat anfangen können, sich so gründlich unangenehm zu machen.
Er war ein Mann von einer ganz anständigen Durchschnittsfähigkeit — recht¬
schaffen, unermüdlich, fleißig und patriotisch, wo man ihm nicht widersprach
und immer und allerwärts ein Gentleman; aber ein härterer, schrofferer, un¬
gerechterer, unliebenswürdigerer Mann hat noch nie in dem eisstarrenden
Kreise seines eigenen Stolzes und seiner Grämlichkeit gestanden. Er war der
stolzeste und hochmütigste Mensch, der mir jemals vorgekommen ist. Er trat
anderer Menschen Gefühle so vorsätzlich und rücksichtslos mit Füßen, als
wären sie bloße hölzerne Puppen, bestimmt, ihm zu dienen. Er war kein Mann
von großer Seele, denn er hatte Favoriten und quälte sich immer mit Eifersüchteleien
und kleinlichen Feindschaften; selbst seine Leidenschaften waren dürftig, und sein
Geist keineswegs gewaltig genug, um sie vergessen zu machen.
'
l0,<Er war fast sein ganzes Leben hindurch in Dahomey gewesen, und Da¬
homey ist eine sehr schlechte Erziehungsschule sür einen englischen Gentleman.
Er war von Jugend auf im Besitz von zu viel Gewalt über andere gewesen
und zuletzt konnte er zu niemand mehr anders sprechen, als im verletzenden
Tone des herben Befehls; und niemals konnte er unterlassen, seinen höhern
Rang gegen alle, die mit ihm in Berührung kamen, auf eine Weise geltend
zu machen, die selbst den Niedrigsten demüthigen mußte. Mit dem besten
Willen von der Welt war es unmöglich, ihn lieb zu gewinnen; je länger man
ihn kannte, je mehr man eS versuchte, desto hoffnungsloser wurde das Bemühen.
Leute, die ihn seit Jahren kannten, empfing er mit kaltem Blicke, als wären
sie Fremdlinge, und er sah sie verschmachten und sterben, ohne nur einmal an
sie zu denken. Er schien die Menschen lediglich als seine Werkzeuge zu be¬
trachten. Brauchte er eines, so nahm er es, und brauchte er es nicht mehr,
so legte er es, stumpf geworden und schartig, bei Seite. Vielleicht verursachte
die lange Gewohnheit des Umgangs mit Personen, die ihm auf ungehörige
Weise untergeordnet waren, daß er jeden unter ihm Stehenden wie einen
Sklaven behandelte, dessen beste Bemühung eines Dankes nicht werth war.
Gewiß hatte die Natur nie einen Mann geschaffen, der von Haus aus so
gründlich unliebenswürdig war.
Nicht etwa daß er andern positiv oder sichtbar Böses zugefügt hätte; —
das kann kein Engländer, möge seine Stellung sein, wie sie wolle; aber er
hat manches Herz bluten machen. Er machte Jünglinge ärmer an Hoffnungen
und gab ihnen eine düstere und schwarzgallige Lebensanschauung. Wer sich
vor ihm beugte, wurde sofort zu einem Kriecher und Speichellecker; er hatte
wahrhaftig keine Wahl. Wer mit Sir Hector Stubble gut stehen wollte,
mußte sich zu seinem Sklaven machen — zu seinem demüthigen, im Staube
kriechenden Sklaven. Anders ließ er es sich nicht gefallen. Wer sich darein
nicht schicken wollte, erschien ihm als ganz und gar unnütz und keines Blickes
mehr werth; und von wem Sir Hector einmal so dachte, der konnte ihn mit
demselben freundschaftlichen Gefühl betrachten, wie er eine Person ansehen
würde, die bei der ersten besten Gelegenheit hinter einer Mauer hervor aus
sicherer Ferne eine unfehlbare Kugel auf ihn abzuschießen bereit ist. Er war
ein Tyrann, der Repräsentant eines schlechten Systems; konnte sicher und
straflos tyrannisiren und er that es. Er war zu wenig großmüthig, um jeman¬
den, der ihm mißfiel, ungeschoren zu lassen; so erhob er die starke Hand der
Aurorität und zerschmetterte den Harmlosen ohne Erbarmen. Für niemand
hatte er Herz, Gefühl, Augen, Ohren oder Gedanken, als für Sir Hector
Stubble. Für ihn war die Welt gemacht und alles, was darinnen ist; andere
Leute hatten nichts darin zu suchen, als insoweit sie ihm nützlich sein konn¬
ten. Danach wurde sogar ihr Rang und ihre Stellung bemessen. Sein
Privatsecretär oder sein Kammerdiener, überhaupt jeder, der auf seine persön¬
liche Stellung oder sein persönliches Behagen den mindesten Einfluß hatte,
war ihm eine wichtigere Person, als der größte praktische Philosoph, der die
Menschheit gebessert und höher gehoben hat.
Kein Mensch hat ihm für einen Dienst oder für ein freundliches Wort zu
danken. Siebzig lange Jahre hat er in hohen Ehren und als Staatsmann
von Ruf gelebt und sich keinen einzigen persönlichen Freund erworben. Man
konnte ebensowenig befreundet mit ihm sein, als der Schulknabe mit dem mürri¬
schen Despoten, der beständig die Ruthe schwingt, und alle, die sich Sir Hector
näherten, nahmen entweder sofort die Stellung von straffälligen Schulbuben
ein — oder sie lachten ihn aus.
Niemand entging dem schlimmen und lähmenden Einfluß seines unheim¬
lich grollenden Blickes. Vom König des Landes an — gegen den er un¬
großmüthig bramarbasirte und den er mit einer Macht bedrohte, die niemals
solchen Händen hätte anvertraut werden sollen, bis zum niedrigsten Küchen¬
jungen des Palastes betrachteten ihn alle, die nicht über ihn zu lachen wagten,
mit Haß und Furcht. Aber trotzdem war es doch vielleicht mehr ein Unglück
als seine Schuld. Seine Giftigkeit war vielleicht mehr eine angelernte Ge¬
wohnheit, als eine ursprüngliche Eigenschaft. Er war im einundzwanzigsten
Jahre zu einer Stelle ernannt worden, für die er noch nicht reif war, zum
Gesandtschaftssecretär in Dahomey. Er hatte fast seine ganze übrige Lebens¬
zeit unter Sklaven und Orientalen zugebracht, bis er es verlernt hatte, mit
freien Männern auf gleichem Fuße umzugehen. Er war leidenschaftlich, tyran¬
nisch, anmaßend, starr, eigenwillig, kindisch und lächerlich. Kein Wunder, daß
alle Menschen von früher Jugend auf der Erziehung bedürfen, denn die Keime
dieser Eigenschaften liegen in jedem Einzelnen von uns mit größerer oder ge¬
ringerer Entwicklungsfähigkeit verborgen; bei ihm hatten sie nur Zeit gesunden,
ungehindert und üppig zu gedeihen. Wie einige andere Leute, denen ich in
der Welt begegnet bin, war er viel, viel zu vornehm, um nützlich zu sein.
Damit kommt,man aber unter Engländern, nicht durch; denn kein Eng¬
länder steht so hoch über den übrigen, daß er nicht viele fände, die bereit
und sähig sind, ihm seine Stellung in ehrlichem Kampfe streitig zu machen.
So wurde denn endlich der Hauptcharakterzug von Sir Hector eine wahn¬
witzige Eifersucht. Er betrachtete jeden winzigen Viceconsul mit Argwohn, der
gut englisch schrieb und er wäre auf seinen eignen Bedienten eifersüchtig
geworden, wenn er ihn über einer Zeitung ertappt hätte.
Mir ist es manchmal vorgekommen, als wäre er sich selbst schmerzlich be¬
wußt, im höchsten Grade unbeliebt zu sein und daß ihn dies mißtrauisch
gegen Leute machte, die ihn nicht sofort ihrer Anhänglichkeit versicherten. Selbst
ein leutselig gesinnter Mann wird selten entgegenkommen, wenn er zu gleicher
Zeit stolz ist. Aber das eigentlich Wahre an der Sache ist, daß man sich
mit Hector Stubble nie setzen konnte. Er war von einem ganz allerliebsten Kreis
von Kriechern und Speichelleckern umgeben. Sie waren seine Spione und
Zuträger und erzählten ihm Lügen. Sie fielen vor ihm nieder und schwärzten
alle Welt an, um ihn zu erhöhen und sangen sein Hallelujah vom Morgen
bis zum Abend. Die Stadt war. so in Parteien zersplittert, daß ein Ruhesitz
in einem Grafschaftögericht zur Einziehung von Bagatellschulden so angenehm
gewesen wäre, wie im schönen Dahomey.
Die Einsamkeit, zu welcher ein solches Temperament den Inhaber verur¬
theilt, würde diesen allein schon ganz unfähig für seine Stellung machen.
Was konnte ein ältlicher Herr, der den ganzen Tag über einsam in seinem
Ankleidezimmer grollte, über die wirkliche Lage eines ausgedehnten Reichs er¬
fahren, das sich über drei Welttheile erstreckt und aus Völkerschaften zusammen¬
gesetzt ist, die Sprache, Sitten, Religion und Abstammung einander entfremden
und die Gefühle und Interessen noch mehr voneinander scheiden, als geogra¬
phische Grenzen ? Es lag nicht in der Natur der Dinge, daß ein Mann von
diesem Charakter, dem alle äußern Eindrücke durch ein verfälschendes Medium
zukamen, zur rechten Zeit erfuhr, was er zu thun hatte. Goldene Gelegenheiten
gingen auf diese Weise unbeachtet und ungesehen vorüber und die , großen
politischen Fragen blieben vernachlässigt, während der Gesandte einen Minister
ausschimpfte oder einem seiner Ohnmacht sich bewußten Fürsten eine Strafrede
hielt. „ So ist es denn gekommen," fährt unser Gewährsmann fort, indem
er es plötzlich verschmäht, den von ihm Geschilderten noch länger mit der
leicht zu durchschauenden Maske der Pseudonymität zu verhüllen, „daß
man Lord Stratfvrd erlaubt hat, zum Kriege zu drängen, ohne die Türkei
durch eine einzige weise oder kluge Handlung darauf vorzubereiten. Er hatte
ihr nichts Besseres anzubieten, als eine neue Anleihe, fremde Truppen
und sogar londoner Polizeimannschaften. Keine einzige Reform wurde vor¬
genommen, kein einziger Zweig der türkischen Verwaltung wirksamer eingerichtet.
Ihr Rathgeber hat zugesehen, wie sie sich hilflos in einem Netze finanzieller
Verlegenheiten verstrickte; selbst die Frage der heiligen Stätten ist noch nicht
abgemacht. Die Rajas sind zur Empörung gereizt worden; den Abenteurern,
die nach der Türkei strömten, hat man Anstellungen verweigert; Staatsbankrott
und Hungersnoth sind im Anzüge und doch hat man den Plan zu einer
Nationalbank in Konstantinopel sterben lassen, ehe er noch recht auf die Welt
gekommen war und an Maßregeln, um die dem Landbau durch den Krieg
geraubten Menschenkräfte durch Maschinen oder anderweitig zu ersetzen, hat man
nicht einmal gedacht, während man die Kornausfuhr gestattet hat, bis daS jetzig
eingetretene Verbot eine bloße Verspottung verhungernder Millionen geworden
ist. Wenn aber vor der Besetzung der Donaufürstenthümer die Türkei welt¬
kundig so gut vorbereitet gewesen wäre, als sie gleichgiltig schien und verthei¬
digungslos war, so ist kaum zu bezweifeln,, daß Rußland mit dem wirklichen
Kriege eine passendere Gelegenheit abgewartet hätte. Bis dahin, hatte es sich
nur in eilte diplomatische Intrigue eingelassen. Aber ein so kluger Mann wie
der Zar konnte schwerlich voraussetzen, daß, nachdem wir die Türkei in eine
so vollständige Passivität hatten versinken lassen, daß kaum eine Truppenschau
vorgenommen wurde und ihre Schiffe unthätig und verfaulend im Bosporus
lagen, wir uns darauf gefaßt gemacht hatten, einen vierzigjährigen Frieden zu
unterbrechen, um für sie Krieg zu sichren."
Nach den Anstrengungen zu schließen, welche die Menschen allenthalben
machen, um sich Unterhaltung zu schaffen, ist das Leben ein höchst langwei¬
liges Geschäft. Die Pariser namentlich thun das Unglaubliche, um ihren
Gästen angenehm zu werden. Als ob die pariser Sehenswürdigkeiten, als
ob die hier aufgehäuften Kunstschätze nicht genügten, als ob die beiden Aus¬
stellungen nicht Anziehungskraft genug besäßen — Paris sucht jeden Tag
einen neuen Gedanken zum Zeitvertreibe der Fremden, die noch immer nicht in
der gewünschten Zahl hier eintreffen wollen. In den Straßen merkt man das
nicht, denn nach dem Leben in diesen zu urtheilen, ist Paris bedeckt
von Ausländern. Die Stadt aber ist klein, während die Ausstellungsgebäude
groß sind, und hier fühlt man die verhältnißmäßige Leere ebenso handgreiflich,
als die Kasse der Unternehmer diese verspüren mag. Diese Theilnahmlosigkeit ist
nun nachgrade unbegreiflich, denn wenn man auch anfänglich mit Recht man¬
chen Fehlgriff an der Ausstellung tadelte, jetzt gibt jedermann zu, daß In¬
dustrie- wie Kunstschau die interessanteste Erscheinung unsrer Zeit genannt
werden dürfen. Dies' gilt aber nicht blos von der'allgemeinen Weltschau,
wir können von Paris überhaupt sagen, daß es in diesem Augenblicke ein
besonders anziehender Punkt geworden.
Man sucht den Fremden gegenüber alles hervor, was seit Anfang des
neunzehnten Jahrhunderts nach irgendeiner Richtung Aufsehen in Paris
gemacht hat, und wie die Kunstausstellung ein Nebeneinander der vorzüglich¬
sten Kunstleistungen unsrer Zeit ausdrückt, so gibt sich Aehnliches in der
Theaterwelt kund. — Was Frankreich noch an Celebritäten besitzt, das wird,
wie Cincinnatus vom Pfluge, aus dem Ruhestande geholt und wer Paris heute
besucht, lernt nicht nur das Paris von heute, sondern das Paris des ganzen
neunzehnten Jahrhunderts kennen. Man denke nur: die ewig kokette Dejazet,
der nimmer alternde Bouffv neben den beiden allerdings etwas gebrochenen
Koryphäen der romantischen Schule, neben Boccage und Frederic Lemaitre,
ste alle versuchen durch den Ueberrest ihrer Kunst einen Begriff von ihrer
ehemaligen Bedeutung zu geben. Sogar die Glorie des Kaiserreichs, die
dramatische Muse des Empire, Mlle. George, deren Talent in dem Maße zu-
genommen hat als ihre kolossale Gestalt, erscheint wieder ans den Bretern.
Ohne die lobenswerthe Dazwischenkamst der Negierung würde auch die greise
Sacauir mit ihren schlotternden Gebeinen einen Todtentanz auf dem gespannten
Seile ausgeführt haben.
Die Porte Se. Martin hat in ihrem neuesten Stücke „Paris" für
Frankreichs Hauptstadt der Vergangenheit gethan, was von den andern Un¬
terhaltungsanstalten für die französische Capitale des neunzehnten Jahrhunderts
versucht wird. Sie gibt einen illustrirten Cursus von Frankreichs Geschichte,
von der Geschichte von Paris in 26 Täbleaur, welche den großen Kindern
Frankreichs als theatralischer Orbis pictus dienen sollen.
Sowenig dramatische Bedeutung dieses Stück auch hat, so wichtig ist
es doch als Symptom für die dramatische Tendenz überhaupt. Es ist dasselbe
nämlich ein neuer Beweis, daß mit der steigenden Zunahme aristophanischer
Freiheiten die Zerfahrenheit und künstlerische Einheitlosigkeit der modernen
französischen Producte täglich, größer wird. Was der endlose Roman begon¬
nen, was die moderne Oper ohne Ende mit ihrer Decorationsüberwucherung
fortgesetzt, das scheint das moderne Volksdrama vollenden zu wollen. Die
Genialität aristophanischer Schöpfungen, das Weltumfassende seiner Dichtungen
wird hier von Maschinisten vertreten, — der Dichter sinkt zum Schneider
herab, der die losen Gebilde nothdürftig zusammennäht. — Das neue Stück
von Paul Meuricc, der von der verwandten Clique als Nonplusultra der
dramatischen Romantik aufgeschrien wurde, zeichnet sich durch seinen Decora-
tionsreichthum in eben dem Maße aus, als es durch Geistesarmut!) sich bemerk¬
lich macht und nach Mitwirkung der Censur und der Scheere des DirecrorS ist von
dem ursprünglich genug, kopflosen Werke nichts als ein illustrirtes Chaos übrig
geblieben.
Es lohnt sich der Mühe, näher auf das Werk einzugehen, weil eine solche
Prüfung am besten geeignet ist zu zeigen, was die Franzosen bei den uner¬
hörten Freiheiten, die sie sich der Geschichte, der philosophischen Anschauung
gegenüber herausnehmen, zu Tage fördern.
Das Stück, welches, wie bemerkt, nichts weniger als die Geschichte von
Frankreich zum Vorwurfe hat, beginnt so recht modern französisch im Central-
capharnumn der Lorettenwelt, im französischen Opernball. Die beiden Sprößlinge,
welche die Vertreter der feindlichen Racen sind, welche in der Weltgeschichtesich
bekämpfen, der romanischen und der germanischen, können sich kein besseres
Rendezvous geben als vor dem von Loretten, Grisetten und Phrynen umgebenen
Throne Müsards. In seiner aufrichtigen Naivetät läßt der Dichter sogar die
Seele der Stadt Paris in den Domino schlüpfen, gleichsam um symbolisch
anzudeuten, wie Paris mit Leib und Seele bei dieser Unterhaltung sich be¬
theiligt. Die feindlichen Brüder — sind doch alle Völker Brüder - Armin
und Graf Nouv, getrieben von einem unerklärlichen Hasse, der seit Jahr¬
hunderten ihre Familien gegeneinander beseelt, fordern sich zum Zweikampfe
heraus. Paris will diesen Kampf verhindern und während die trunkene
Menge sich verliert, um in den Restaurants der Boulevards die Fort¬
setzung ihrer Orgien zu feiern und der Pantheon vor dem Blicke des Zuschauers
erscheint, — tritt die Statue Frankreichs von dem Giebcldache herunter, um
im Verein mit Paris die beiden feindlichen Brüder zu retten. Sie wissen
dies nicht anders zu bewerkstelligen, als indem sie Armin und Rom«; in diesen
Schlaf versenken und ihnen im Traume die verhängnißvolle Geschichte ihrer
Race zeigen. Hiermit endigt der Prolog.
Das Stück selbst beginnt mit Merlin, also glücklich genug nicht mit dem
Sündenfalle des ersten Menschenpaares, nicht mit dem ersten Zweikampfe
zwischen Abel und Kam. Merlin wird in eine Zaubergrotte versetzt, obgleich
die Sage ihn von Viviane unter einen Strauch gebannt halten läßt.
Velleda hat einen Fehltritt begangen. Velleda ist die Seele von Paris, die
später in Heloisens sterblicher Hülle, dann in Jeanne d'Albret und endlich in
Mme. Roland Obdach sucht. Die Metempsychose ist das symbolische Band des
Stückes wie der Geist der feindlichen Racen das factische. So wandert Frank¬
reichs Seele nach und nach von der heiligen Genoveva in Jeanne d'Arc,
von dieser in Louise de la Balliere (!) und Charlotte Corday aus und ein.
Der Zauberer Merlin wird später Abälard und Moliere, — die römische
Courtisane Jmperia erscheint als Melusine, Katharine von Medicis und end¬
lich als Magdalena in der Courtisane der Revolutionszeit unter dem Namen
der kleinen Lütticherin bekannt u. s. w.
Also Velleda, sagten wir, hat einen Fehltritt begangen. Die geheiligte
Druidin hat außer ihrem Gatten Frank noch wie Norm« den Proconsul Julius
Marcius geliebt und von beiden einen Sohn gehabt. Frank bringt den
Schänder seiner häuslichen Ehre in einem Zweikampfe um und Velleda, von
ihrem Schwager Thorn verrathen, weiht sich auf Merlins Geheiß dem Tode.
Sie vertraut diesem im letzten Augenblicke zwei Stücke ihres heiligen Hals¬
bandes an, das eine für den Sohn von Julius Marcius, das andere ihr ins
Grab zu legen, ein drittes gibt sie ihrem letzten Sohne Herrmann, damit er
daran seine Brüder erkenne. Thorn aber, statt die Brüder zu versöhnen, flüstert
Herrmann zu: dies ist der Sohn des Mannes, der deine Mutter entehrt und
dem andern: dies ist der Sohn vom Mörder deines Vaters. Zweikampf.
Cäsar war gekommen, Lutetia zu erobern in dem Momente, wo Velleda mit
ihrer goldenen Sichel sich den Hals abschneidet. Merlin prophezeit ihr den
Fall des römischen Reiches und die künftige Größe Lutetiens. Cäsar betrachtet
diese armen Fischerhütten mit Ironie und glaubt offenbar nicht an Merlins
Weissagung, denn er hält sie in seinen Commentaren keiner Erwähnung werth.
Während uns das erste Tableau beinahe zwei Jahrtausende vom Prologe
zurückführt, bringt uns das zweite vier Jahrhunderte vom ersten vorwärts.
Es ist die Zeit des inmitten von Orgien und Hungersnot!) vererdenden Kaiser¬
reichs. Gallien findet im Merowinger einen Rächer. Julius Marcius fühlt
sein Ende nahe und er will im Schoße einer Orgie zu Ehren Jmperias
seinen Tod finden. — Das römische Heidenthum will an dem schonen Busen
von Venus entschlafen. Es hat auch Attila zum Todesfeste geladen, um die¬
sem in seinem Haß gegen den Merowinger die Erbschaft der römischen Macht
zu hinterlassen. Aber die heilige Genoveva, Frankreichs Seele, beschützt den
Merowinger. „Wie wirst du arme Schäferin die Geißel Gottes abzuhalten ver¬
mögen?" fragt das erstaunte Volk. „5s lui pu-Jerf,',," antwortet die Schutz¬
patronin von Paris. Das kann nicht naiver charakteristrt werden. — Die
Seele Frankreichs verläßt sich auf ihre schönen Worte. — Glaubt man nicht
Lamartine vor sich zu sehen, der das Vaterland gerettet, die Republik besei¬
tigt zu haben wähnt, wenn er aus dem Platze vor dem Hotel de Ville eine
Rede an das Volk von Paris hält? Dieses 1e lui pariert ist kostbar. Wie
gesagt gethan. — Das Bachanale ist im Zuge: die Courtisane Jmperia
liegt in verführerischer Stellung, wie es auf dem Bilde von Couture zu sehen.
Attila und der Merowinger erscheinen. — Julius Marcius trinkt ihm zu, er
trinkt aus einer vergifteten Schale und Attila macht sich bereit, wie ein echter
Engländer den römischen Palast der Thermen sammt dessen Schätzen und Be¬
wohnern mit sich zu nehmen. Da spricht die heilige Genoveva: Attila habe
einen Traum gehabt, in welchem ihm geheißen wird, vorwärts zu marschiren
und alles vor sich niederzumachen, wie der apokalyptische Reiter in Cornelius
herrlichem Carton. Aber die Wiegen müsse er verschonen und Paris ist
keine Stadt, Paris ist eine Wiege. Die Seele Frankreichs muß in Calem-
bourgs reden und der Calembourg hat gesiegt. „Du bist eine Walkyre", ruft
Attila, „du bist eine Gattin", lispelt sterbend der Römer, „du bist ein Erz¬
engel", sagt der fromme Merowinger. — Tableau. Der Vorhang fällt.
Nach diesem Anfange weiß der Zuschauer gleich, was ihm bevorsteht, er
steigt hinaus, um frische Luft zu schöpfen und vom Balkone der Foyers sieht
er erfreut dem schönen Treiben auf den Boulevards zu. — Das ist ein er¬
quickenderes Schauspiel als dieser dramatische Alp — wie das durcheinander¬
flirrt, wie das eilt und heiter durcheinanderwogt — und diese großen Kinder
alle sie werden sich an dieser Ironie erfreuen und vergnügt in die Hände
klatschen beim Anblick dieser schönen Dekorationen, die doch soweit hinter den
Boulevards zurückbleibeNj bei Nachtbeleuchtung, mit diesem bunten Treiben,
wie sie sich jetzt vor uns ausdehnen.
Wir hatten kaum Zeit, unsre Lungen mit frischer Luft anzupumpen, und
schon sind wieder sechs Jahrhunderte den schnellen Strom der Zeiten hinab-
geschwommen. Wir befinden uns im scholastischen Zeitalter des zwölften, Jahr¬
hunderts. Abälard und Heloise, Melusine und ihr Page Alienor erscheinen zu
beiden Seiten der Scene. Hören Sie, was der französische Dichter aus dem
poetischen Romane des französischen Mittelalters macht. Abälard fühlte nicht
während der philosophischen Studien mit der gelehrten Heloise zum ersten Male
die Gewalt der Liebe — es war nicht die Leidenschaft eines naiven Gemüthes.
Abälard wird als Nouv dargestellt, der in seiner Jugendzeit mit der fabelhaf¬
ten Melusine von Lusignan ein Liebesverhältniß und einen Sohn hatte. Die¬
ser Sohn, der als Page in den Netzen der schlauen Melusine za,ppelt, tritt
der Anklägerin gegen Abälard als Zeuge zur Seite. Melusine gibt nämlich
Heloise beim Rector Fulbert an und Gontran, der Bruder Heloisens, fordert
Alienor, den Pagen, zum Zweikampfe heraus. Alienor fällt. Somit hat
Abälard gewissermaßen ein Verhältniß mit der Schwester seiner Stieftochter.
Fulbert bringt den Proceß vor den heiligen Bernhard und dieser ercommuni-
cirt Abälard am Throne Ludwig VI., welcher die Fahnen der in den Orient
ziehenden Kreuzfahrer weiht. Dieser Abälardact schlägt der Geschichte auss
unverschämteste ins Gesicht — er ist auch zu lang — es mußte schon etwas
abgeschnitten werden. Abälard zieht mit seinen Schülern davon. Am An-
fange des Actes wird das berühmte Eselsfest dargestellt, jenes posstrliche Fast¬
nachtsspiel, das zotenreißende Mönche in dieser Zeit des Glaubens in der
Kirche aufführten. Man führte dabei bekanntlich den Esel vors Gesangpult
und sang dabei eine feierliche Messe ab, in welche das versammelte Volk den
Ruf des Esels nachahmend drein schrie. Der Esel wurde dann zum Doctor
gemacht. Paul Meurice läßt die Scene auf der Straße spielen und macht
ein Narrenfest der Studenten daraus. Der Zug ist posstrlich genug — aber
diese Verunzierung einer der poetischsten Gestalten Frankreichs dürfte ein Poet
von solchen Prätentionen wie Paul Meurice nicht über sich gebracht haben.
Boccage selbst wird von dieser Erbärmlichkeit gelähmt und wer den Mimen
hier zum ersten Male sieht, kann kaum begreifen, wodurch er zu einem so
großen Namen gekommen. Decorationen und Costüme sind auch in diesem
Acte außerordentlich schön.
Die Romantik der Kreuzzüge hat wahrscheinlich die Jungfrau von Orleans
erzeugt. Diese Schäferin, welche einer unwiderstehlichen Stimme ihres Herzens
folgend zum Schwert griff und auszog, den armen unglücklichen König von
Frankreich zu retten und die Engländer aus dem Lande zu jagen, durfte natür¬
lich in diesem historischen Schattenspiele nicht fehlen. Allein, wie sentimental,
wie melodramatisch, wie unbedeutend wird diese schöne Erscheinung in der Auf¬
fassung. Decoration und Costüme sind historisch, aber was darunter steckt, ist
so läppisch, daß man erstaunt, wie ein französischer Dichter es wagen kann,
die Glorie seines Vaterlandes so zu mißhandeln. Die Geschichte der feindlichen
Brüder spielt auch in diesen Act hinein; ein burgundischer Ritter verliebt sich
in Jeanne d'Arc und macht ihr eine Liebeserklärung, ein französischer sieht daS,
eilt herbei — Zweikampf. Jeanne d'Arc nimmt neuerdings Abschied von ihrem
Vater, der sie heimholen wollte — sie zieht gegen Karls VII. Feinde zu Felde.
Nun folgt der feierliche Einzug des Königs in Paris und ein Ballet, getanzt
von den vorzüglichsten Städten Frankreichs. Die Costüme sind wieder eben¬
so prachtvoll .als historisch genau und machen der Frau des Directors Fournier,
welche sie sämmtlich gezeichnet, große Ehre. Keine Oper von Meyerbeer hat
Prachtvolleres auszuweisen. Aber es ziemt wieder nicht einem Poeten, der sich
auf seine republikanische Gesinnung soviel zu Gute thut — den Triumph des
undankbaren schwachen Karl zu feiern, dieses Idioten, der seine Retterin dem
Scheiterhaufen der Inquisition von neuem überließ.
Der Kampf der Bourguignons mit den Franzosen macht dem Kriege
zwischen Rom und der Reform, zwischen den Hugenotten und den Katholiken
Platz—die Jahre waren dies Mal in den Zwischenacten wieder schnell vorüber¬
geschwunden — wir haben blos einen kleinen Sprung von anderthalb Jahr-
hunderten gemacht. Im Atelier Jean Goujons, der als Milchbruder Heinrichs IV.
dargestellt wird, bespricht Katharine von Medicis ihre scheußlichen Pläne mit
ihrem Giftmischer Nerv — es gilt dem Leben Jean Goujons und Jeanne
d'Albret, der Königin von Navarra. Katharina hetzt einen jungen Ritter,
einen eifrigen Katholiken, gegen Jean Goujon — der Leser erräth, daß er die
feindlichen Brüder vor sich steht. Jean Gojuon tritt auf in Begleitung von
Torquato Tasso, Goudimiel und Peter Ramus. Heinrich von Navarra, der
königliche Springinsfeld begrüßt die berühmten Männer. Jeanne d'Albret
erscheint auch, gefolgt von Jacques Bonhomme, welcher das französische Volk
repräsentirt. Er hat im Louvre den Plan der Bartholomäusnacht be¬
lauscht und gibt ihn der guten Königin von Navarra an. Katharine von
Medicis, welche ihrerseits den Angeber belauscht, tritt herein mit ihrer finste¬
ren Majestät, die auf ihre Zeitgenossen eine so große Wirkung ausgeübt. Sie
begehrt mit Jeanne d'Albret allein zu sein und nachdem sie vergebens versucht
hat zu leugnen nimmt sie zu einer teuflischen List ihre Zuflucht. Sie gesteht
zu, Jacques Bonhomme habe die Wahrheit gesprochen — sie habe einen
Augenblick jenen höllischen Plan gefaßt — sie fühle aber tiefe Neue und
beschwört die Königin von Navarra, den ihr zugeschleuderten Fehdehandschuh
wieder aufzunehmen und ihr zu verzeihen. Ihre Ueberredung hat die ge¬
wünschte Wirkung und das in den Handschuh gegossene Gift des berüchtigten
Parfumeurs Remo ebenfalls. Jeanne d'Albret stirbt unter den fürchterlichsten
Verzückungen. So gemein durfte Katharine von Medicis heutzutage auch
von dem verstocktesten Hugenotten nicht aufgefaßt werden. Katharine von
Medicis repräsentirte ihre Zeit, und der Widerruf des Edictes von Nantes
durch den großen Ludwig ist in unsern Augen eine verhältnißmäßig abscheu¬
lichere That, als dieses fürchterliche Gemetzel, das in der gesammten Bevöl¬
kerung von Paris seine Mitschuldigen zählt. Der Vorhang fällt und wir sehen
den Louvre vor uns, die verhängnißvolle Glocke verklingt, Leichname bedecken
die Straßen und der Mond, welcher über der Seine ausgeht, steht mit seinem
blödsinnigen Gesicht in das blutige Treiben. Jean Goujon schwankt herein und
Katharine von Medicis, die auf dem Balkon steht und ihr Werk betrachtet,
ruft ihrem Factotum Remo zu: Schieß ihn nieder den Hugenotten! Zwei Piff
pass puff — wir sind en pleine Meyerbeer. Jean Goujon fällt, an Frank¬
reichs Stern verzweifelnd. Aber seine erzene Statue Frankreichs tritt auf ihn
zu und zeigt ihm den bevorstehenden Einzug Heinrichs lV. in Paris; dieses
Bild ist nach dem bekannten Gemälde von Gerard treu copirt. Katharine von
Medicis, die indessen auf dem Louvrebalkon allein in Träumereien versunken
war, ermannt sich und ergötzt sich an dem stummen Schauspiele des Flusses,
dessen Wogen, die Räder eines kolossalen Leichenwagens, die Leichname vor
sich hinwälzen. Katharine ruft laut ihren Triumph in die stille Nacht hinein,
aber siehe da, aus der Tiefe pes Flusses erhebt sich ein Knaul von blutigen
Schatten, welche -drohend ihre Arme gegen die königliche Mörderin ausstrecken.
Vergeblich sucht sie gegen diesen fürchterlichen Eindruck zu kämpfen, er über¬
mannt sie, die starke Frau fällt mit einem gellenden Schrei ohnmächtig zu
Boden. So unsinnig auch dieser Act ist, die Decorationen machen das Bouquet
dieses phantasmagorischen Feuerwerkes daraus, welches ein Drama sein will
und sich Paris nennt.
Dem armen Ludwig XIV. wird arg mitgespielt — wir sehen ihn so recht
im Schlafrocke an Mit tepor die Etikette in Versailles als Staatssache be¬
handeln. Louise Lavailiece wird kalt abgewiesen in dem Moment, wo der
König zur Montespan geht. Vorher hat Moliere, der seine berühmte Magd
mit in die Gemächer des Königs bringt, diesen von der üblen Gewohnheit, seine
Person mit dem Staate zu identificiren, zu heilen versucht — du guter Moliere,
der du mit deinem Jahrhundert dem großen kleinen Monarchen zu Füßen lagst,
eine solche Apotheose hättest du nicht erwartet. Moliece tröstet die Lavcillieve,
der Valet des Königs schwatzt leutselig mit der Herzogin, er tröstet sie mit
seinem eignen häuslichen Unglücke und räth ihr ins Kloster zu gehen. Das
Ballet in Versailles wird aufgeführt, aber die Herzogin Lavalliere, welche mit
der Montespan zugleich nicht als Grazie figuriren wollte, erscheint als Kar¬
meliterin — Ende der Täbleaur — Ludwig XIV. als Phöbus Apollo macht
eine ziemlich lächerliche Figur.
Die Freiwilligen der Republik ziehen an die Grenze — patriotisches Tableau.
— Madame Roland wird aus der Abbaye geführt, um Charlotte Corday Platz zu
machen — die beiden Frauen schließe» Freundschaft miteinander. Rene, der
Gefängnißwärter, der die Roland befreien wollte, wird von seinem aus Deutsch¬
land kommenden Bruder Armin/ohne dessen Willen, verrathen — Thorn, der
jetzt Conventsmitglied ist, läßt Reus abfassen.
Die Freiwilligen sind heimgekehrt und haben für Frankreich die Welt er¬
obert und für sich ein paar Stiefel — und einen Kaiser. —
Dieser vertheilt die Adler an seine Legionen — ein Tableau, das statt
Bonaparte als General aus Aegypten heimkehrend unter Mitarbeiterschaft der
Polizei eingeschaltet wurde.
Wir haben aus der Krim keine Nachrichten von
irgendeiner Bedeutung. Mehr und mehr wird es zur Gewißheit, daß General Pelissier
die Ankunft der ihm in Aussicht gestellten bedeutenden Verstärkungen abwarten
will, bevor er zu einem neuen großartigen Sturmangriff sich entscheidet. Von den
Sappen- respective Minenarbeiten gegen den Malakowthnrm weiß man soviel wie
nichts; überhaupt wird neuerdings in Hinsicht auf alle Operationen und die darauf
bezugnehmenden Vorkehrungen ein Stillschweigen beobachtet, wie man es vordem
nicht gekannt. Von Paris aus sollen in dieser Hinsicht die allerstrengsten Anwei¬
sungen ergangen sein; auch ist General Pclcssier nicht der Mann, welcher seinen
Untergebenen die Mittheilung seiner Anordnungen an Unberufene nachsehen
würde. — Man will hier wissen, daß die Stimmung im französischen und engli¬
schen Lager eine etwas gedrückte sei, was nach den Vorgängen während des letzt¬
verflossenen Monats nicht in Erstaunen setzen kann. Wie es um das Vertrauen
des gemeinen Mannes zum General Pelissier steht, weiß ich nicht; nur will mir
scheinen, daß derselbe durch das, was er seither ausgeführt oder besser zu sagen
vergeblich zu erreichen versucht hat, an den alten fehlerhaften Operativnsplan zu
fest gebunden ist, um sähig zu sein, eine freie Entschließung zu treffen, d. h. die
Armee aus den einzigen Punkt hinzuführen, wo sie mit Erfolg wirken könnte:
nach Eupatoria!
Hier in Stambul beschäftigt sich das Publicum augenblicklich mit nichts so
lebhast, wie mit der Anwesenheit Omer Paschas, welcher das Hauptinteresse in
Anspruch nimmt. Niemand, welcher weiß, mit welcher Auszeichnung der Serdar
Ekräm vom Padischah empfangen worden, wird glauben, daß er aus dem Wege
sei, seinen Posten eines Oberfeldherrn zu verlieren; aber möglicherweise dürste die
Krim nicht länger mehr das Feld seiner Thätigkeit bleiben. Wenn nicht alles
täuscht, ist Omer Paschas neuer Bestimmungsort Erzerum, wohin er sich über Trape-
zunt begeben würde, um die Reservearmee zu organisiren, auf deren schneller
Ausstellung die Rettung der ostwärtigen asiatischen Provinzen zu beruhen scheint.
Einigermaßen befremdlich ist es, daß man durchaus nichts Näheres über das Ge¬
schick von Kars in Erfahrung zu bringen vermag. Der Umstand, daß die Regie-
rung letzthin gar nichts darüber veröffentlichte, hat dem Gerücht Vorschub geleistet,
wonach der Platzen die Russen übergeben worden sei; in Rücksicht aus die Be¬
wegungen des Feindes ist sowenig bekannt, daß man hier nicht mit Bestimmtheit
weiß, ob derselbe auf der Hauptstraße von Gümri (Alcxandropol,) über Kars aus
Erzerum allein oder zugleich auf der Nebenstraße von Bajasid über Toprak Kate
operirt. Letztere Annahme ist die wahrscheinlichere. Bekanntlich waren die Russen
bereits im letzten Kriege (von -1828—29) bis Erzerum vorgedrungen. Während
ihres Aufenthalts daselbst führten sie große massive, kasernenartige Bauwerke auf
und übergaben dieselben bei ihrem Abmarsch an die armenische Bevölkerung, mit
dem Bedeuten: man möge sie conserviren, denn die Erbauer würden später wieder
kommen und Gebrauch davon machen. Beinahe steht nunmehr zu fürchten, daß sich
jene Voraussetzung verwirklichen werde.
Wenn ich mich recht erinnere, schrieb ich Ihnen neulich, daß Abdi Pascha
an Omers Statt das Commando über die osmanischen Truppen in der Krim
übernommen habe. Dieses beruhte aus einem Irrthume, denn der erstgenannte
Pascha befindet sich zur Zeit hier in Stambul. Wie Sie wissen ist auch Stender
Pascha (früher Stender Bai) hier. sein Kommen steht in keinem Zusammenhang
mit der Anwesenheit des Serdar Ekräm; im Gegentheil macht er nur von einem
Urlaub Gebrauch, um den er auf Veranlassung seiner Verwundung vor Euvatoria
eingekommen war, und dessen Ausfertigung sich durch eiuen Zufall verzögert hatte.
Der Held sovieler Reitergefechte hat unter dem Einflüsse der letzten Kriegsstrapazen
ungemein gealtert, und auch viel von seiner früheren Elasticität, indeß nichts von
seinem Feuer verloren. Am 18. Juni, bei Gelegenheit des Sturms ans den
Malakowthurm, hatte er zum letzten Mal sein Pferd im Kugelregen getummelt. Er
ritt einen jener beiden herrlichen Araber, um welchen ihn die Russen, mit denen
er auf Vorposten zusammenkam, so oft beneideten, den Schapkin. Eine Kanonenkugel
streckte das Pferd unter seinem Leibe nieder. Darnach verbleibt ihm von diese Race
nur uoch der Jskender, derselbe, welcher ihn im März ans dem ihn einschließenden
Feindeshansen sicher heraustrug. Man kann Stender Pascha hier fast täglich in
der großen Pcrastraße begegnen. Seine Figur hat an Corpulenz gewonnen und er¬
scheint beinahe schwerfällig. Er trägt einen weißen Sommerrock mit Stehkragen,
vom bekannten türkischen Schnitt; hinter ihm her, und zwar dicht, um stets bereit zu
sein, ihn beim Absteigen vom Pferde zu unterstützen, reitet sein treuer Diener
Schakir Aga, (sprich Schakir A).
Der Serdar Ekräm ist dem Publicum weniger sichtbar. Aber er hat bereits
zu mehren Malen beim Padischah Audienz gehabt und ist täglich auf dem Kriegs¬
ministerium zu treffen. Nach den Aeußerungen seines Gefolges zu urtheilen, hat
er wenig Verlangen nach der Krim zurückzukehren, was in der Annahme bestärkt,
daß es sich seit seiner Hierherkunft um seine Berufung ans ein anderes Kriegs¬
theater handelt.
— Omer Pascha ist nach wie vor der Löwe des Tages;
aber immer noch ist man im Publicum nicht einig, welche Gründe man mit seinem
Kommen verbinden soll, und ob er letztlich aus seinen Posten in der Krim zurück¬
kehren wird. Nur eins steht fest: der Serdar ist keineswegs als eine gefallene
oder auch nur dem Falle nahe Größe anzusehen. Im Gegentheil scheint sich seine
Lage, nachdem sein Gegner Risa Pascha die Leitung des Kriegsmiuisteriums nieder¬
gelegt, verbessert zu haben, und wiewol zwischen ihm und dem neuen Seriasker,
Mehemed Rnschdi Pascha, vordem nicht immer ein ungetrübtes Verhältniß bestand,
so kann man heute nicht verkennen, daß beide Männer sich einander genähert
haben. Auch ist ihre Stellung der Art, daß sie recht füglich nebeneinander her¬
gehen können, ohne sich gegenseitig zu beeinträchtigen. Bei den Beziehungen zwischen
Omer und Risa kamen Eitelkeit des einen wie des anderen und gegenseitige Eifer¬
sucht ins Spiel. Der letztere war gleich anfangs mit bedeutenden Ansprüchen in
die Oeffentlichkeit eingetreten und gelangte in früher Jugend schon zu Staats¬
ämtern, die in der Regel dem reiferen Alter vorbehalten zu sein Pflegen. Um etwa
zwölf Jahre älter wie der jetzt regierende Padischah, stand er demselben bei seinem
Regierungsantritt als Rathgeber zur Seite, und mehr wie ein Mal wies die vor
zwei Jahren verstorbene Sultanin Mutter auf ihn hin, wie auf den besten Kopf,
dem sich ihr Sohn anvertrauen könne. Daher die Redensart: Der Risa ist ge¬
schehe! die ans dem Serai zu Beschiktasch ins Volk kam, und ihren Klang bis auf
die letzten Tage behalten hat. Nachdem unter dem ersten Seriaskerat des Paschas
1843 eine Volkszählung und die bekannte Armeeorganisation zu Stande gekommen
war, setzte man dem auch bei: der Seriasker (Risa) versteht die Executive und
ist energisch. Das hatte auch seine Nichtigkeit, wiewol nicht ganz in unserm
europäischem Sinne. Die beiden Männer, welche in den ersten vierziger Jahren
Risa Pascha den Rang abzulaufen drohten und später ihn wirklich überholten,
waren Reschid und Omer. Daher in jenem der tiefe Haß gegen diese zwei. Es
that demselben keinen Abbruch, daß Risa Pascha sich bestimme» ließ, unter dem
Großvezierat Reschids die Stelle des Kriegsministers weiter zu bekleiden. Omer
Pascha soll schon an der Donau in empfindlicher Weise zu fühlen gehabt haben,
daß sein Gegner sich in Stcunbul an der Spitze der militärischen Administration
befand; seine Armee wurde schlecht von dorther versorgt, selbst die regelmäßigen
jährlichen Aushebungen, die im Frieden schon schwer und im Kriege zumal nicht
zu entbehren sind, sollen durch Risa ins Stocken gebracht worden sein, weshalb
es denn geschah, daß oft längere Zeit hindurch die Lücken in Omers Armee un-
ausgefüllt blieben. In der Krim soll der Serdar im Besonderen über die mangel¬
hafte Zufuhr an, Proviant zu klagen gehabt haben, und zwar dergestalt, daß im
Winter zuweilen ganze türkische Brigaden von dem englischen Kommissariat ver¬
pflegt werden mußten. Dazu kam, daß Risa Pascha von dem französischen Ein¬
flüsse unterstützt wurde, dessen Gunst sich der Generalissimus nie zu erfreuen hatte,
und der es diesem anschaulich zu macheu schien, sich behufs der Abstellung seiner
Beschwerden in Person nach Stambul zu begeben. Der Serdar, so lautet die hier
am meisten Geltung findende Auffassung, entschloß sich zu dieser Reise, als Risa
gestürzt worden, und uur der Umstand, daß er zu seinem Kommen die Bewilligung
des Großherrn bedürfte, hat dasselbe bis neulich verzögert.
Einigen Halt gewinnt diese Annahme durch den Umstand, daß Omer Pascha
sich beinahe jeden Tag auf dem Kriegsministerium einfindet, und zumeist mehre
Stunden mit Mehemed Rnschdi arbeitet. Wenn letzterer auch im Grunde sei¬
nes Herzens kein Freund des Serdars sein mag, ist er dennoch viel zu sehr
Patriot, um seiner etwaigen Feindschaft auf Kosten der türkischen Armee Genüge zu
schaffen.
Verhalten sich die Dinge so, wie man sie hier im Allgemeinen ansieht, dann
wird die Voraussage des Journals de Constantinople sich bestätigen, wonach Omer
Pascha in einigen Tagen nach der Krim zurückreisen werde. Sein Gefolge würde,
wie es scheint, damit wenig einverstanden sein, und auch der Generalissimus selbst
zöge wahrscheinlich eine Bestimmung nach Wien der Rückkehr nach Taurien und vor
die Mauern von Sebastopol vor.
— Man darf sich im Grunde nicht darüber wundern, wenn
man im Kriege dann und wann eine Armee vor einer Festung festgebannt und im
Belagern verbissen findet, während ihr eigentlicher Platz im offenen Felde und ihre
Aufgabe der Sieg in einer großen rangirten Schlacht wäre. Menschliche Trägheit,
die dem Feldherrn nicht minder eigen ist, wie jedem andern Erdenkinde, zieht be¬
wußt oder unbewußt ihre Action in den Kreis fester Plätze hinein, wo der Wellen¬
schlag der Campagne, der im offenen Felde hoch zu gehen pflegt, sich mehr ebnet,
wo man weniger urplötzlichen großen Katastrophen ausgesetzt ist und die ganze Krieg¬
führung im langsamen Schlendergang zu verbleiben vermag. Wer die Kriegsgeschichte
kennt, wird sich erinnern, daß namentlich schwache und unentschlossene Feldherrn es
von jeher liebten, Belagerungen zu sichren, oder wenn sie das nicht vermochten,
den Feind hinter verschanzten Linien zu erwarten und ihre Fronte blockiren zu
lassen. Die Wirkung, welche die Ausführung der großen Entwürfe Napoleons l.
hatte, war vielleicht wesentlich darum so gewaltig, weil er sich von allem, was
der Schlendrian seiner Zeit liebte, rücksichtslos lossagte und indem er den Krieg
ein sür alle Mal aus dem Kreis der Festungen, die freilich damals noch nicht so
umfangreich waren, wie heute, mithin nicht eine so große Streiterzahl aufzunehmen
und eine so starke Anziehungskraft auszuüben vermochten, hinaus verlegte, ihm das
an Wechselfällen reiche Gebiet eröffnete, aus dem sein Genius die unsterblichen Er¬
folge errang. Die Generale Canrobert und Lord Raglan hatten, als sie es vor-
zogen, den zu seiner Zeit vielgepriesenen Flankenmarsch zu machen, der in Wahrheit
nur ein schlechtes Auskunftsmittel der Schwäche war, welche die Entscheidung
scheut, genugsam bekundet, daß von jenem napoleonischen Kriegsgeiste nichts in
ihnen vorhanden sei. Als General Pelissier, dem, wie niemand leugnen wird, ein
bedeutender Ruf voranging, das Kommando" der französischen Armee übernahm,
wurde dieser Wechsel von ihrem Berichterstatter mit unverhehlter Freude begrüßt.
Seine Energie, die so sehr gepriesen worden, schien dafür zu sprechen, daß, wenn
er in den Scptcmbertagen an seines Vorgängers Stelle gewesen wäre, er den
Fürsten'Menschikoff nicht unverfolgt gelassen haben würde, vorausgesetzt, daß der
Unterhalt seiner Truppen bei einem Marsch in das Innere der Halbinsel sich sichern
ließ. Dieselbe Energie schien auch die Gewähr zu leisten, daß der Krieg nunmehr
unverweilt aus der Sphäre der Festung ins freie Feld, anf die von der Natur ge¬
gebene, durch den klaren, gesunden Menschenverstand allein schon empfohlene
Operationslinic von Enpatoria aus Simphcrvpol oder Baktschi Serai verlegt werden
würde. Indem ich dies hoffte, war ich mir vollkommen bewußt, wie schwer die
bei Operationen der Art zu entwickelnde Thätigkeit aus einen Mann fallen müsse, der
wie General Pelissier das sechzigste Jahr bereits passirt hat. Aber eben jene gerühmte
Energie ließ mich erwarten, daß sie alles überwinden werde. Darin nun habe ich
mich entschieden getäuscht. Wenn nach der einen Seite den jetzigen französischen
General en chef seine im voraus ausgesprochene Meinung, daß Sebastopol durch
den directen Angriff zum Fall gebracht werden könne, in den Kreis dieser Festung
gebannt hielt, wirkte ans sein Verbleiben daselbst von der anderen Seite auch der
Umstand ein, daß ein fixirtes Hauptquartier, wie es der Commandant einer Be¬
lagerungsarmee einnimmt, einem ambulanten vorzuziehen ist, welches eine nothwendige
Konsequenz der Verlegung der Operationen ins sreie Feld sein würde.
Man wolle sich einmal recht lebhast in die Lage und in die Pflichten des Chefs
eines mobilen Opcrationsheeres auf dem Marsch hinein versetzen. Für ihn hat die
Nacht beinahe mehr Beschwerden, wie der Tag. Die Bivouacs sind von den
Truppen am späten Abend eingenommen und darnach die Vorposten ausgestellt
worden. Von diesen ans kommen die Meldungen, aus Grund welcher nun neue
Entschlüsse zu treffen sind, wol nicht vor Mitternacht ins Hauptquartier. Sie er¬
heischen eine sorgsame Kritik, Zusammenstellung, Vergleichung. zuweilen eine nach¬
trägliche Untersuchung. Die Hand des Chefs muß in Dingen der Art sehr geübt
sein, wenn er bis Tagesanbruch auf Grund der eingezogenen Nachrichten seine Dis¬
positionen getroffen hat. Es wird häufig vorkommen, daß bis einige Stunden nach
Sonnenaufgang noch nicht darüber entschieden ist, und der Ausbruch der Armee sich
bis Mittag verzögert.
General Canrobert, wiewol ein Vierziger in Jahren, ermangelte des Charak¬
ters, der moralischen Stärke, wie es scheint, um solche Pflichten aus sich zu nehmen,
und General Pelissier, ein Sechziger, ermangelt der physischen Kraft. Ein neuer
Feldherr wird nach Verlauf einer längeren oder kürzeren Zeir unfehlbar in Paris
erwählt werden müssen. Möge alsdann die Auswahl auf einen Mann fallen, bei
dem Charakter und physische Fähigkeit sich im Gleichgewicht befinden, und beide den
Anforderungen des Feldkrieges gewachsen sind.
Wer mich bei Lesung dieser Entwicklung an Blücher und Radetzki erinnern
möchte, der wolle gütigst bedenken, daß hinter jenen beiden Helden ein Generalstab
stand, der alles ans sich nahm. Sie hatten beide nur ihren Namen und ihre
äußere Persönlichkeit zu leihen während die eigentlichen Fäden der Leitung in den
Händen eines Gneisenau und Clausewitz, Haß und Schönhals ruheten.
— Die afrikanische Wüste vom Grasen D'Escayrac de
öantnre. Leipzig, Lorck. — Ein höchst interessantes und für die Kenntniß jener
seltsamen Gegenden unentbehrliches Werk, die Frucht ernster Studien und vielseitiger
Anschauung. Mit Recht bemerkt der Herausgeber, Karl Andree, daß schon die
Persönlichkeit des Verfassers uns Theilnahme abgewinnt. „Schon als Jüngling
empfindet er Abneigung gegen das unruhige Treiben in der Hauptstadt seines Vater¬
landes, er sehnt sich von der Seine weg an den fernen Nil; und in der bunten
pariser Gesellschaft mit ihren glänzenden Nichtigkeiten empfindet er einen unwider¬
stehlichen Hang, die gelbe einförmige Wüste auszusuchen. Nachdem er sich genügend
vorbereitet hat, steuert er nach Afrika hinüber, wird ein Wanderer in der Sahara
und ein Schiffer auf dem Ocean. Wir finden, daß er eine große Energie des
Willens bethätigt; er besitzt eine klare Anschauung der Dinge, ist frei von volks¬
tümlichen oder kirchlichen Vorurtheilen und dabei ein feiner Beobachter. Seine
Auffassung ist ebenso lebendig wie seine Darstellung klar und leicht; er versteht es,
mit praktischem Sinn auch für scheinbar geringfügige Einzelnheiten Theilnahme zu
erwecken. Ueberhaupt schildert er unbefangen und freimüthig, was er gesehen hat.
Die Hauptsache bleibt ihm der Mensch; er hat mit den Bewohnern der Wüste und
der Nilländer gelebt wie ein Araber oder Ruhe. Den Mohamedanismus in Afrika
betrachtet er nicht durch ein europäisch gefärbtes Glas, sondern erläutert ihn aus
dem Boden heraus, auf welchem er entstand, und aus der Eigenthümlichkeit des
Volkes, durch welches er im Orient zur Herrschaft gelaugte." — Die Sahara übt
trotz der großen Beschwerlichkeiten und Gefahren, die mit der Reise dahin verknüpft
sind, einen ganz wunderbaren Zauber aus. Es ist nicht blos die Neugierde oder
wie mau es nennen will, der Trieb wissenschaftlicher Erkenntniß, der fortwährend
neue kühne Abenteurer dahin zieht, sondern eine eigenthümlich träumerisch-poetische
Stimmung, die man dort sucht. „Es ist mit der Wüste," sagt der Verfasser, „wie mit
dem Meere. Bei lang anhaltendem schlimmen Wetter oder bei Windstillen verwünscht
der Seemann wol sein Element, aber er möchte schon wieder in See gehen, sobald
er eben ans Land getreten ist. Die geräuschvolle Stadt ermüdet einen bald, aber
niemals wird man der Einförmigkeit des Weltmeers oder der Einsamkeit der Wüste
überdrüssig." Von der Lebhaftigkeit und Anmuth der Schilderungen wird man sich
die beste Vorstellung machen können, wenn wir hier ein Fragment mittheilen. —
Oft habe ich auf den Schlaf verzichten müssen und diese Entbehrung ist mir am
peinlichsten gewesen. Ich spürte allmälig, wie meine Gedanken sich verwirrten; ver¬
geblich gab ich mir Mühe, mit meinen Führern zu sprechen oder zu singen; ich stieg
manchmal vom Kameele und wollte eine Strecke weit gehen, besprengte mir auch
das Gesicht mit Wasser. Aber es schien mir, als ob der Horizont sich ringsum
gleich einer Mauer emporthürme, der Himmel bildete das Gewölbe eines ungeheuern
Saales, der von allen Seiten geschlossen war, und die Sterne erschienen mir wie
Lampen und Kronleuchter und flimmerten mir vor den Augen. Dann fielen diese
langsam zu, und das Haupt sank herab. Plötzlich fühlte ich, daß ich das Gleich¬
gewicht verlor, rückte mich dann im Sattel wieder zurecht, versuchte abermals zu
singen und den Feind, der mich plagte, zu verscheuchen; aber ich konnte kein Wort
sprechen, sondern nur noch lallen, denn die Stimme versagte mir den Dienst; ich
verfiel wieder in den früheren Zustand, und kam abermals erst zur Besinnung, wenn
ich nahe daran war vom Kameel hinabzufallen. Dergleichen Erscheinungen traten
aber erst nach zwei oder drei durchwachten Nächten ein. Der Mangel an Schlaf
reizt am Ende das Blut dermaßen, daß man nicht einschlafen kann. Einst war ich
in Aegypten drei Nächte hintereinander unterwegs, und glaubte dann endlich eines
ruhigen Schlafes mich erfreuen zu können. Das war aber keineswegs der Fall.
Ich befand mich im Uebrigen wohl, das Essen schmeckte mir, ich konnte aber nach
Meiner Ankunft Tag und Nacht keinen Schlummer finden. Am andern Tage ging
ich ins Bad, um mein Blut zu beruhigen, und es wirkte so vortrefflich, daß ich
im Ankleidezimmer sogleich in Schlaf verfiel, und bis Sonnenuntergang liegen
blieb. Einer von meinen Dienern, der nicht so gut die Anstrengungen der Reise
auszuhalten vermochte, ließ in der dritten Stande seinen Tschibuk herabfallen, und
stieg von seinem Hedschin um die Pfeife wieder aufzunehmen. Aber er konnte nicht
einmal die wenigen Schritte thun, sondern verfiel in Schlaf, sobald er Boden unter
den Füßen hatte. Wir bemerkten noch zu rechter Zeit, daß er fehlte, sonst wäre er
bis zum hellen Tage liegen geblieben und hätte nicht einmal sich erinnert, was mit ihm
vorgegangen war. Doctor Moreau in Tours hat in einem bemerkenswerthen Buche
über die Anwendung des Haschisch in Geisteskrankheiten nachgewiesen, daß fast alle
Visionen und Abspurigkcitcn des Irren sich im Zustande des Halbwachens gleich¬
falls zeigen. Ich kann diese Wahrnehmungen bestätigen, denn ich habe sie an mir
selbst beobachtet. Einst war ich Nachts, in der Wüste am weißen Nil, im Halb¬
schlaf. Ich hörte deutlich eine Hyäne heulen; es war mir genan so, als zöge ich
ein Pistol aus dem Halfter, zielte nach dem Thiere, traf es, und sah, wie es sich
im Sande wälzte. Dann schwirrten mir wieder andere Gedanken durch den Kopf,
aber die Täuschung war vollständig. Ich ritt neben meinem Führer, und sagte:
„Hast du gesehen wie ich die Hyäne geschossen habe?" Er antwortete: „Die Hyäne
habe ich gesehen, nicht aber, daß Du uach ihr geschossen hast." — „Wie, ich hätte
nicht mit dem Pistol nach ihr geschossen?" — Er lachte und sprach: „Das ist der
Schlaf. Sich nur deine Pistolen an." Und richtig; sie waren beide noch geladen. Ein
ander Mal war ich gegen Morgen meiner Karawane etwas voraus, machte eine falsche
Bewegung und mein Hedschin drehte sich um. Ich kam aus dem Gleichgewicht,
schlug die Augen auf, und sah nun, wie meine kleine Karawane gerade auf mich
zukam. Ich erkannte sie aber nicht und glaubte, es sei eine andere, welche mei¬
nen Weg kreuze. Ich rief sie an: „Willkommen, Reisende, seid gegrüßt! Woher
kommt ihr?" Die Antwort lautete: „Wir sind Deine Diener." Der Mann,
welcher diese Worte sprach, hatte vollkommen Recht. —
Conversations - und Reisebibliothek, Leipzig, Lorck. — Es ist zweck¬
mäßig, daß der Herausgeber sür diese Sammlung, die aus eine außerordentlich
große Verbreitung berechnet ist, vorzugsweise ethnographische Schilderungen gewählt
hat, weil es doch immer diejenige Lectüre ist, die mit der geringsten Unbequemlich¬
keit den größten Nutzen verbindet. Unter den Büchern, welche dahin einschlagen,
erwähnen wir zunächst die Skizzen und Bilder aus der Krim, von Steinhart.
Der Verfasser hat sein Werk uach den vorzüglichsten dahin einschlagenden Schrift¬
stellern und Reisenden, Kohl, Moritz Wagner, Koch, Denndoff u. s. w., bearbeitet
und sich bemüht, ein vollständiges geographisch-historisches Gesammtbild daraus zu¬
sammenzusetzen. — Das neue Paris von Hans Wachen buser erzählt die Reise
des Verfassers in der Art, wie man es von Feuilletonisten überhaupt gewöhnt ist,
mit Lebhaftigkeit, Witz und nicht ohne scharfe Beobachtung. Am ausführlichsten
geht er auf die neuen Bauten ein, durch welche das alte Paris allmälig ganz
untergeht. „Man hat V. Hugo und A. Dumas die Schauplätze ihrer Romantik
demolirt, anstatt der poetischen Lumpen, der Gaunerhöhlen jener alten verschwundenen
Volksquartiere gibt es hinfort nnr Lumpen in Brokat und Gaunerpaläste; an
die Stelle des Gewissens tritt die Speculation, kein Mensch darf sich hinfort soweit
herabwürdigen, hinter zerbrochenen Fensterscheiben, in frostigen Mansarden, auf
kalten Strohsäcken und morschen Feldbetten elend zu sein; denn ,dasür baut die
Regierung Paläste, dafür hat sie alle diese alten Baracken niederreißen lassen,
daß jedermann wenigstens das Recht habe, hinter Damastvorhängcn ans wellen-
schlagenden seidenen Divans kein Geld und nichts zu essen zu haben. Die
heutige französische Regierung thut mehr als die des gerechten Monarchen, der
da wollte, daß jeder Bauer Sonntags sein Huhn im Topfe habe, die heutige
Regierung will, daß selbst der Proletarier seine Goldleisten und Sammcttapeten
habe, daß selbst der Aermste auf orientalischen Teppichen wandle. Niemand soll
fernerhin wissen noch ahnen, daß es eine Armuth, ein Proletariat gebe, es wird
die Schuld jedes Einzelnen sein, wenn er so pauvre ist, den Luxus nicht bezahlen
zu können, den ihm die Regierung so freigebig geboten u. s. w>" —
Das Buch über die Mormonen von Moritz Busch haben wir bereits besprochen.
— Recht unterhaltend sind die beiden Schriften: Eine Nordfahrt. Streifzüge in
Island von Pliny Miles. Aus dem Englischen von W. E. Drugulin; und: Ein
Sommer in Schleswig. Aus dem Dänischen von Heims. Beide Bücher bemühen
sich vorzugsweise, das Volksleben in seinen seinem Nüancen zu zeichnen. Das
letzte hat zwar eine dänische Färbung, allein diese tritt doch im Ganzen in keiner
Weise unangenehm hervor, und man lernt daraus, sich von den innern Verhältnissen
eines Landes, das man gewöhnlich nur vom politischen Standpunkt betrachtet, eine
lebhaftere Vorstellung zu machen. Für uns Deutsche hat freilich eine so objective
Betrachtung etwas Trübes, denn wenn man fortwährend an die Gewalt denken
muß, die dort unsern Namensbrüdern angethan wird, so kann die Freude an den
objectiven Zuständen keinen großen Raum gewinnen. —
Land und Leute in der alten und neuen Welt. Reiseskizzen von
Franz Löser. 2r. Bd. Göttingen, Wigand. — Wir können dies Buch als
eine sehr erfreuliche Erscheinung bezeichnen. Zwar zeigt hin und wieder der Ver¬
fasser eine gewisse Neigung zu Paradoxien und Gedankensprüngen, aber diese
Neigung wird stets dnrch einen sehr sichern gesunden Menschenverstand wieder ausge¬
glichen, und die Lebhaftigkeit und Jntensivität der Anschauung verdient vollste Aner¬
kennung. Der Verfasser hat keine Vorurtheile weder für noch gegen Amerika mit¬
gebracht, er hat ruhig und unbefangen beobachtet, und es freut uns, daß das
Resultat dieser Studien für unser eignes Vaterland ein günstiges ist. Bei allem
Werth, den die fieberhafte Thätigkeit der Amerikaner für die Entwicklung der
Cultur hat, fehlt thuen doch ganz jene innere Behaglichkeit des Lebens, die wir
mit dem Ausdruck Gemüth zu bezeichnen pflegen, und daher sind ihnen die reinsten
Blüten der Cultur versagt. Den Verfasser zeichnet noch ein anderes Talent aus,
welches für Reisebeschreibungen, wenn man ihm unbedingt den Zügel schießen
läßt, seine Bedenken hat, welches aber in seinen bestimmten Grenzen solchen Dar¬
stellungen eigentlich erst die befriedigende Form gibt; er besitzt nämlich eine ent¬
schieden poetische Anlage. Als Zeugniß dafür theilen wir hier seine Schilderung des
Urwaldes mit. — „Man fühlt sich erleichtert, wenn man aus dieser grüudunkeln
Waldnacht auf höher gelegene kahle Stellen kommt. Die Bäume verdecken auch
dort noch die freie Aussicht, aber vielleicht sieht man doch unten aus einem Thale
den blauen Rauch, der sich über der Laubdecke cmporkrciuselt, ein Zeichen, daß
Wesen da wohnen, welche suhlen und denken wie wir. Schon daß man nicht immer
Laub, Stämme, Moos und Moder, sondern auch kahlen Grund und Felsbrocken vor
Augen hat und einen halben Büchsenschuß weit sehen kann, ist eine Wohlthat.
Denn in diesen endlos dichten Wäldern legt es sich wie der Druck einer finstern
Naturgewalt auf die Seele, und wenn man singen will, hört man von selbst im ersten
Verse wieder auf und versinkt wieder in das dumpfe Schweigen der Natur. Auch
die Matrosen singen nur, wenn sie sich wieder dem fröhlichen Lande und den
Stätten der Menschen nähern. Wie ans dem Meere die heitern Gebilde, welche im
Geiste keimen, unaufgeblüht in das endlose Wellen und Wogen versinken, so ver¬
wehen in dem endlosen dumpfen Rauschen und Rollen des Urwaldes die lebhaften
Gedanken. Zuletzt Hort man nur noch auf das verhaltene Brausen und Wallen in
den Waldcstiesen, die Ideen werden trübe und verfließen ins Unendliche und Un¬
bestimmte. Damit man sein Ich nicht ganz an das mächtige Wogen der Natur
verliere, fliegt dann und wann ein greller Lichtschein durch die Seele, man weiß
nicht woher es kommt, vielleicht stürzte sich ein Flug Waldvögel kreischend ins
Dickicht, oder man sah die scharfen Augen von ein paar Eichhörnchen hinter den
Aesten lugen, oder es öffnet sich plötzlich eine Schlucht, in der tief unten Wasser
braust. Wird man auch einen Augenblick durch dergleichen aus seiner Träumerei ge¬
rissen, bald darauf ist der Geist wieder wie umweht und umhüllt von grauen Schleiern.
Der Ocean und der Urwald sind noch ein Stück wüster Urweltsgröße, unter deren
schwerem Hauche der Mensch mit seinen leichten freundlichen Ideen nicht gedeihen
kann. Aus den bahnloscn ewig gleichen Prairien, Steppen und Sandwüsten macht
man eine ähnliche Erfahrung, jedoch ist sie nicht so trübe, weil auf jenen Ebenen
frische Lust ist und weite lichte Himmelsbläue, man ist dort nicht besangen von dem
Wellendu-use des Meeres und von dem Modergeruch des Urwalds." —
— Brocchis Briefe über Dantes Göttliche Ko¬
mödie. Aus dem Italienischen von B. K. S. Bonn, Henry u. Cohen. —
Die Briefe sind aus dem Jahre 1797. Sie haben keinen gelehrten Zweck, sondern
sollen nur dazu dienen, diejenigen Laien, die empfänglichen Sinn für das Schöne
haben, aber die Mühe scheuen, einen so schwierigen Dichter gründlich zu studiren,
auf eine leichte und bequeme Weise zum Verständniß desselben anzuleiten. Diesen
Zweck erfüllen sie vollkommen, und die Uebersetzung ist daher eine dankenswerthe
Arbeit. —
Schillers Gedichte erläutert und aus ihre Veranlassungen und Quellen
zurückgeführt, nebst Variantcusammlung und Nachlese von Heinrich Viehofs,
Professor u. Director der höhern Bürger- und Provinzial-Gewerbeschule zu Trier.
Neue, größtentheils umgearbeitete Auslage in drei Bänden. Zweiter Theil. Stutt¬
gart, Ad. Becher. — Die Gründlichkeit der Erklärung haben wir schon bei Ge¬
legenheit des ersten Bandes rühmend anerkannt; sie läßt sich auch bei dem gegen¬
wärtigen nicht vermissen und macht sich im Ganzen auf eine erfreulichere Weise
geltend, da die didaktischen Gedichte, welche in demselben behandelt sind, einer
Erklärung in der That mehr bedürfen, als die leichten lyrischen Versuche aus
Schillers Jugendzeit. —
Unter den zahllosen Recensionen A. W. Schlegels in der Literaturzeitung
von 1797 zeichnen sich drei durch ein zwar nicht unbedingtes, aber doch im
Verhältniß zu den übrigen sehr bedeutendes Lob aus: die Recension der
Ammenmärchen von Peter Leberecht ^Blaubart und der gestiefelte Kater), die
Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders und der Bambocciaden.
Die erste dieser Schriften war von Tieck, die zweite von Wackenroder,
die dritte von Bernhard!. Infolge dieser Recensionen suchte der Kri¬
tiker den hoffnungsvollen jungen Dichter der Ammenmärchen, der damals
erst Jahre alt war, auf; Tieck siedelte nach Jena über und es entstand
nun zwischen den beiden eigentlich sehr abweichenden Naturen jene Gemein¬
schaft, die trotz der verschiedenen Umwandlungen in ihrer geistigen Bildung bis
in die späteste Zeit fortgedauert hat.
Einem Recensenten des Jahres 1797, der die Verpflichtung hatte, alle
belletristischen Neuigkeiten zu besprechen, ging es wie dem Recensenten von
18L4. Die meisten der neuerschienenen Schriften gehörten jener Literatur
an, die man nicht leicht angreist, ohne sich etwas die Finger zu besudeln. Nun
wurde Schlegel zwar in seinem Geschäft durch seine Frau unterstützt, welche
die Bücher für ihn las, aber er mußte sie doch wenigstens ansehen, und es' ist
sehr begreiflich, daß er mit einem gewissen Jubel aufathmete, wenn ihm
Schriften wie die von Tieck in die Hand fielen, ganz abgesehen von ihrem
Inhalt.
Ludwig Tieck war zu Berlin 1773 geboren und frühzeitig durch das
Reichardsche Haus in die Mysterien der Literatur eingeweiht. 1792 studirte
er in Halle, Göttingen und Erlangen und wendete schon damals den Mittel-
Punkt seiner Studien auf Shakespeare, dessen Sommernachtstraum er 1793
übersetzte und mit einer Abhandlung „über die Behandlung des Wunderbaren
bei Shakespeare" begleitete. 1794 kehrte er nach Berlin zurück und fiel dM
Buchhändlern in die Hände, für-die er nebst seiner Schwester Sophie alles
ausarbeitete, was man verlangte; namentlich in den „Straußfedern" von
Musäus seit 179S. Es ist in diesen Jugendversuchen vieles, was an Klinger,
an Wieland, an Musäus, aber auch, manches, was an Veit Weber, ja an
Kramer erinnert; der Unterschied liegt nur darin, daß er niemals vollständig
in seinem Gegenstand aufgeht. Die unbefangenste Laune ist in Peter Lebe¬
recht, eine Geschichte ohne Abenteuerlichkeiten, -1795; den Namen
Peter Leberecht behielt er dann für seine nächstfolgenden Werke bei. Allmälig
wandte sich seine Ironie hauptsächlich gegen die berliner Aufklärer; infolge
dessen zog sein bisheriger Gönner Nicolcn seine Hand von ihm ab und der
Bund mit Schlegel wurde geschlossen.
Das einzige Werk jener Zeit, welches Beachtung verdient, der Roman
William Lovell (1793) erinnert in feiner Tendenz wie in seiner Haltung
an Werther, aber er ist keineswegs eine sklavische Nachahmung, sondern ein
originelles, und wenn man die Jugend des Dichters in Anschlag bringt, höchst
interessantes Product. Ohne sich des Grundsatzes deutlich bewußt zu werden,
entwickelt Tieck, daß die höchste geistige Anlage in der Empfindung und im
Denken ohne den Regulator des Gewissens etwas sieches, Hohles und Er¬
bärmliches ist; daß die stofflose Genialität sich selbst verzehrt: — eine Tendenz,
die uns bei dem spätern Propheten der romantischen Schule in einiges Er¬
staunen versetzt. — Allein im Werther empfinden wir überall das Wehen der
gewaltigen, auch in ihrer Krankhaftigkeit poetischen Natur, im Lovell ist es
die phantastische Reflexion, die allen Inhalt des Lebens aushöhlt. Werther
wird uns häufig verletzen; aber die Glut seiner Empfindung reißt uns fort;
im Lovell dagegen werden nur unsre Nerven irritirt, die Erregung geht nicht
in unser Inneres über, sie bleibt uns etwas Fremdes, wie eine Fieber¬
phantasie.
In einem Traum wird Klingers Giaffcir durch den Teufel in eine Reihe
verworrener Abenteuer verstrickt und zu den ärgsten Verbrechen verleitet, bis
er plötzlich aufwacht. Der Teufel sucht ihm nun einzureden, er habe in diesem
Traume ein Bild von dem radicalen Bösen der menschlichen Natur. Allein
Giaffar bemerkt ganz richtig, daß während des Traumes die höhern Geistes¬
kräfte gebunden sind, daß die Phantasie ohne die Leitung des Gewissens und
der Willenskraft nur eine einseitige Erscheinung des Menschen ist und daß die
Bösartigkeit eines Traumes die Bösartigkeit der Seele nicht bedingt. Diesen
sehr wichtigen Unterschied hat Tieck aus den Augen gelassen. Die Ereignisse
des Romans, insofern sie auf den Charakter des Helden einwirken, laufen so
träumerisch ineinander, und er setzt ihnen einen so geringen Widerstand ent¬
gegen, daß wir an die Identität seiner Person nicht glauben können, obgleich
er uns durch eine unterbrochene Reihe von Briefen von dem Fortgang seiner
Seelenzustände zu unterrichten sucht. Werther empfindet vom ersten Augen¬
blick das Gefährliche seiner Lage ; er stellt seiner Leidenschaft , alles entgegen,
was Vernunft und Gewissen aufbieten können, aber seine Willenskraft ist zu
schwach, um dem süßen Zaubertrank zu widerstehen. Er stürzt mit sehenden
Augen in den Abgrund. Der Kampf ist ein verzweifelter, aber er erregt doch
bis zum Ende unsre Theilnahme, weil wir ihn wirklich vor uns sehen und weil
die Gewalt der Leidenschaft in unserm eignen Innern nachzittert. Bei Lovcll
ist zwar die Grundstimmung schwermüthig, wie im Werther, aber es ist keine
starke, dramatisch entwickelte Leidenschaft, die den Untergang nach sich zieht,
sondern eine Reihe kleiner, willkürlicher Empfindungen und Intriguen, die
zuweilen durch recht armselige Hebel bewegt werden, die keinen innern Zu¬
sammenhang haben und die uns weder durch ihre Naturwahrheit, noch durch
ihre Größe beschäftigen. Dem stechen Wesen des Helden fehlen selbst die¬
jenigen Eigenschaften, die sonst zuweilen den Bösewicht adeln: Muth, Kühn¬
heit, Entschlossenheit, eine gewisse Noblesse in den Formen. Gegen die Gesetze
und Erscheinungen des Lebens ist der Dichter ebenso theilnahmlos, als sein
Held und was Werther nur einmal in einem Augenblick frevelhafter Verzweif¬
lung ausruft, ist hier die Tendenz der Dichtung: das Leben ist schal und
nichtig, ein ewig gebärendes, ewig verschlingendes Ungeheuer. „Mein Leben
ist leer und ohne Inhalt!" Dieser schreckliche Refrain, den wir bei Tiecks
sämmtlichen Dichtungen wieder antreffen, klingt uns am vernehmlichsten in
diesem Jugendwerk entgegen.
So hart das Urtheil klingen mag, mit dieser Charakteristik des Lvvell
haben wir die ganze Dichtung Tiecks charakterisirt. In den 43 Jahren seiner
poetischen Laufbahn vom Lovell bis zur Vittoria Accorombona tritt dieser
unheimliche Charakter unter den buntesten Verkleidungen immer von neuem
wieder auf und Tieck hat eigentlich nie einen andern geschaffen. So glänzend
zuweilen die Farben sind, die er zu seinen Bildern verwendet, es sind immer
nur Schattenspiele ohne Inhalt und Kern, weil ihm das fehlt, was aller
Dichtung zu Grunde liegen muß: Gefühl für den Ernst des Lebens und Energie
des Gewissens.
„Tiecks reifere Werke kam, man nicht nach ihrem wahren Gehalt würdigen, ohne in die
innersten Geheimnisse der Poesie einzugehen; und man würde sich dabei nur ungern entschlie¬
ßen, die vernachlässigten Ansprüche der dramatischen und metrischen Technik geltend zu machen,
wo die Fülle und Leichtigkeit des ersten Wurfes zu sehr in die Breite geht, weil der reich-
begabte Künstler sich niemals entschiicsicn konnte, anders als »II-» rü-ima zu malen. Eine
zauberische Phantasie, die bald mit den Farben des Regenbogens bekleidet in ätherischen Re¬
gionen gaukelt, bald in das Zwielicht unheimlicher Ahndungen und in das schauerliche Dunkel
der Geisterwelt untertaucht. llucrschövflichkeit an sinnreichen Erfindungen; heiterer Witz, der
meistens nur zwecklos umherzuschwärmen scheint, aber, so oft er will, seinen Gegenstand richtig
trifft, jedoch immer ohne Bitterkeit und ernsthafte Kriegsrüstungen; ferner feine, nnr allzu-
schlane Beobachtung der Wirklichkeit und der gesellschaftlichen Verhältnisse; dies sind die Vor¬
züge, die bald die einen, bald die andern mehr in Tiecks Dichtungen glänzen." —
Dieses Urtheil A. W. Schlegels (1827) klingt zwar sehr schmeichelhaft,
aber es bezeichnet mittelbar die Schwächen des Dichters. Tieck besitzt eine
glänzende Phantasie und einen sprudelnden Witz, aber es fehlt ihm Wärme
des Lebens und Sicherheit des Gewissens. Darum ist er nie im Stande ge¬
wesen, einen Charakter zu zeichnen, ein Problem zu lösen, ja auch nur ein
Ereignis? in festen Umrissen darzustellen. Einbildungskraft und Witz sind
Rankengewächse, die einen festen Stamm auf das prachtvollste verzieren, ihn
aber nie ersetzen. Tieck hat neben seiner Einbildungskraft auch einen feinen
Verstand, aber anstatt das Eine an dem Andern zu Schulen und zu berichtigen,
läßt er beiden den freisten Lauf, er führt ein Traumleben, das unabhängig
von seiner Beobachtung der Wirklichkeit ist und stellt sich dieser ebenso oft als
altkluger Philister wie als träumerischer Phantast gegenüber. Der abgesagte
Feind aller Metaphysik und Schwärmerei, aller Verallgemeinerungen und
Ideale, wollte er das Leben und seine Empfindungen wie ein anmuthiges
Spiel behandeln, das Unbedeutendste wie das Erhabenste poetistren, ohne sich
je an die Stoffe oder an die Ideen zu verpfänden. Er hatte keinen Sinn für
das Alterthum, weil dieses Ideale darstellte und von Gesetzen ausging, und
die Naivetät und Kindlichkeit, deren er sich befleißigte, waren durchaus nicht
im Sinn der Alten; sie, gingen nicht Hand in Hand mit dem Naturgesetz,
sondern sie waren Eingebungen der Willkür. Wie seine Freunde trachtete er
nach dem Unauflösbaren, Irrationellen, aber nicht um daran zu glauben,
sondern um damit zu tändeln. Er war seinem Talent nach ein Realist oder
vielmehr ein Naturalist, aber nur in Beziehung auf die endliche Erscheinung;
wo der Ernst anfing, hörte seine Theilnahme auf. Er verspottete Schiller,
Jean Paul, Fouqus, Werner u. s. w., weil sie an ihre Ideale wirklich glaub¬
ten und wenn er ganz aufrichtig war, so traf dieser Spott ebenso seine nächsten
Freunde. Von dem transscendentalen Idealismus entlehnte er zuweilen einige
Stichwörter, um der Masse unverständlich zu sein, er legte sie seinen poetischen
Narren in den Mund; aber niemals hat er sich ernstlich damit beschäftigt.
Goethe und Shakespeare verehrte er viel aufrichtiger, als seine Freunde, aber
als Naturalist, und das kleine Gedicht des erster», in welchem die Weisheit
aufgefordert wird, die zarten Schwingen der Phantasie nicht zu verletzen, ent¬
hielt das Grundprincip seines Schaffens und Empfindens. Die Schlegel ver¬
achteten den Philister, weil er ihre Ideale nicht anerkennen wollte; sie be¬
kämpften die Aufklärung, weil sie den Bedürfnissen der Kunst widersprach.
Tieck dagegen machte sich über den Philister lustig, weil er es mit dem Glau¬
ben und mit dem Leben überhaupt ernst nahm und verabscheute die Aufklärung,
weil sie ihm die Arbeit und die Noth nahe rückte. Die Schlegel hatten doch
zuweilen, wenn auch ihr Studium nie ein ernstes war, einen Blick für die
Geschichte. Tieck machte sich über alles lustig, was in der Geschichte eine
feste, wahrnehmbare Gestalt gewinnen wollte. Darum war er zum Dichter der
Aristokratie bestimmt, die Theezirkel des unbeschäftigten Adels waren seine
ideale Welt und den Schaum des Lebens abzuschöpfen, wie der Schmetterling
an der Blüte nascht, sein Lebensberuf.
Bei allen Widersprüchen einer solchen Natur hat Tieck doch eine ziemlich
klare Einsicht in sich selbst gehabt; die Eröffnungen an seinen Freund Solger*)
(1812) sind zu aufrichtig und treffend, als daß wir sie umgehen dürsten.
Ich habe die Erfahrung schon öfters gemacht, daß sich die Menschen, die im Ganzen
mit mir einverstanden sind, ans meinen Schriften ein unrichtiges Bild von mir entworfen
haben, weil sie das Unabsichtliche, Arglose, Leichtsinnige, ja Alberne nicht genug darin
hervvrgefühlt haben. Die Heuchelei unsrer Zeit habe ich immer von Herzen gehaßt. . . jene
Bildung des Geschmacks, die aus hergebrachten Grundsätzen alles verstehen und beurtheilen
will, wie jene flatternde Schwärmerei sovieler in unsern Tagen, die ihre Unselbstständigkeit
für Gemüth und reizbaren Sinn halten, die vierteljährig ein Extrem gegen ein anderes ver¬
tauschen und um nur immer eine eingebildete höchste Höhe zu behaupten, Grund und Boden
und sich selbst verlieren.....Ich habe den nämlichen Widerwillen gegen die Einseitigkeit, Erhitzung und leere Schwär¬
merei unsrer Zeitgenossen. Jrgendetwas ist immer in Deutschland an der Tagesordnung, das
leere Form, geistlose Mode und übertriebene Einseitigkeit wird.. . Bei meiner Lust am Neuen,
seltsamen, Tiefsinnigen, Mystischen und allem Wunderlichen lag stets in meiner Seele
eine Lust am Zweifel und der kühlen Gewöhnlichkeit und ein Ekel meines Herzens, mich frei¬
willig berausche» zu lassen, der mich immer von allen diesen Fieberkrankheiten zurückgehalten
hat, so daß ich weder an Revolution, Philantropie, Pestalozzi, Kantianismus, Fichtianismus
noch Naturphilosophie als letztes einziges Wahrhcitssystem gläubig habe in diesen Formen
untergehen können. —Meine Liebe zur Poesie, zum sonderbaren und Alten führte mich anfangs fast, mit
frevlem Leichsinn zu deu Mystikern, ucunentlich zu I. Böhme, der sich binnen kurzem aller
meiner Lebenskräfte bemächtigte; der Zander dieses wundersamsten Tiefsinns nud dieser
lebendigsten Poesie beherrschte mich nach zwei Jahren so, daß ich von hier aus nnr das
Christenthum verstehen wollte. . . von meinem Wunderlands ans las ich Fichte und Schelling
und fand sie leicht, nicht tief genug ... so kam es dahin, daß mein jugendlich leichter Sinn,
meine Lust zur Poesie und an Bildern nur als etwas Verwerfliches erschien ... so gab es
Stunden, wo ich mich in die Abgeschiedenheit eines Klosters wünschte, um ganz meinem
Böhme und Tauler und den Wundern meines Gemüths leben zu können. Dies hatte sich
schon im Zerbino leicht poetisch, in der Genoveva dunkler und im Octavian verwirrter
geregt. ...
Da nun Tiecks nächste Freunde, Bernhardi und Wackenroder, ihrer
Natur wie ihrer Bildung nach derselben Richtung angehörten, so gab dieser
fremdartige Zuwachs der Schule einen ganz neuen Inhalt. Als sich Tieck
zum Apostel jener Doctrin erhob, die das Reich der Dichtung als einen wunder¬
baren Zaubergärten von der profanen Welt abschloß, als er seinen Jnstinct
und seine Neigungen durch die Idee bestärkte, daß die Kunst um der Kunst
willen da sei, daß das Leben eigentlich nur soweit Berechtigung habe, als es
der Kunst diene, da war zugleich das Princip und die Richtung dieser Kunst
vollständig umgewandelt. Die Phantasie gab es auf, einer Kunst oder einem
Glauben zu dienen, sie vertiefte sich in gegenstandlosen Selbstgenuß, und wo
sie einmal einen enthusiastischen Anlauf nahm, geschah es nur, um sich selbst
zu verspotten.
Die Jahre 1797 bis 1804 waren gleichsam die Flegeljahre der Romantik,
die dann von der jüngern Generation festgehalten und zu einer ästhetischen
Convenienz verarbeitet wurden. In dem ewigen Wechsel der Ideen tritt nur ein
leitender Jnstinct hervor: die Ironie gegen die Begriffe und den Glauben des
Zeitalters, — Es war der alte Kampf der Xenien gegen die Spießbürgerlich¬
keit, der freilich jetzt Goethe und Schiller selbst unbequem wurde. Halb und
halb ohne es zu merken sah sich die Schule auf einmal in geheimer Oppo¬
sition gegen ihren Meister, und wenn sie auch noch fortfuhr, in Goethe den
größten deutschen Dichter zu verehren, so pflanzte sie doch in ihren principiellen
Fehden eine selbstständige Fahne, die Fahne der Romantik auf.
Die einzelnen Artikel ihrer Journale machen zuweilen den sonderbarsten
Eindruck. Die Ironie, die UnVerständlichkeit, die Zwecklosigkeit wurden hier zu
einem System ausgearbeitet, man donirte mit großem Ernst, daß der Künstler
es niemals mit einer Sache ernst meinen, daß er in seinen Ideen der Masse
nie verständlich sein dürfe, daß es sein Beruf sei, absichtslos und ohne Zweck
zu leben und zu dichten. Am liebsten erging man sich in Aphorismen, die
durch eine pikante Wendung oder durch Paradorien, d. h. davurch, daß man
die Worte in einem andern Sinne gebrauchte, als dem gewöhnlichen, aber ohne
es zu sagen, zum Theil den trivialsten Inhalt überdeckten. Die frivole Ueber-
bildung des Zeitalters verdrehte in ihrer Mißachtung aller Gesetze und Tra¬
ditionen den philosophischen Idealismus in eine souveräne Ironie gegen allen
sittlichen Inhalt. Die Romantiker waren nur die Chorführer der „guten Ge¬
sellschaft;" hier war allmälig die Aufklärung trivial geworden, sie galt nicht für
courfähig. Es wurde vornehm, Sinn zu haben für das, was der bürgerlichen
Bildung als Thorheit erschien: bei der Geringschätzung gegen das Denken
und Fühle» der Masse, bei der oberflächlichen Bildung nach fremdem Zuschnitt
war es gar nicht so auffallend, wenn man auch an der Unmöglichkeit einer
übernatürlichen Welt zu zweifeln anfing.
Die romantische Ironie ist mit Recht als das charakteristische Kenn¬
zeichen der Schule betrachtet worden. Das Bestreben zu denken, zu empfinden
und zu schaffen, nur um augenblicklich darauf die Gedanken, die Empfindungen,
die Schöpfungen wieder aufzulösen, ist etwas so Seltsames, daß man es nur
aus einer Mischung von Uebermuth und Zweifel an sich selbst begreifen kann:
dem Uebermuth einer philosophischen und poetischen Bildung, die eigentlich blos
formell war, die mit spielender Leichtigkeit die geistigen Beziehungen analysirte
und darum glaubte, sie wäre auch wirklich Herr über diese geistigen Mächte;
und jenem Zweifel, der aus dem lebhaften Bewußtsein der eignen Unproduc-
tivität entsprang. Im Grunde ist die Methode dieser Genialität sehr leicht zu
durchschauen und nachzuahmen. Sie besteht dann, daß man Ideen, die nur
durch ein bestimmtes Mittelglied einen relativen Zusammenhang haben, in
einen absoluten Zusammenhang setzt und durch die Auslassung jenes Mittel¬
gliedes den Leser darüber täuscht.
Die romantische Schule hat alles aufgeboten, ihren einzigen Dichter dem
deutschen Volk als den Schöpfer einer neuen Kunst zu empfehlen. Er ist
schon damals nur in erclusiven Kreisen gelesen, aber seine Größe wurde in
sämmtlichen Journalen mit so bestimmter Ueberzeugung gefeiert, daß das Publi-
cum endlich daran glaubte, schon um nicht den Verdacht der Geschmacklosigkeit
auf sich zu ziehen. Zuletzt wurde diese Begeisterung selbst Goethe unbequem.
Der alte Herr fand es doch unschicklich, daß man ihm Tieck gradezu als Eben¬
bürtigen an die Seite stellen wollte.
Während nun die Schlegel mit der ganzen Welt in einem fortdauernden er¬
bitterten Kriege lebten, hat Tieck trotz seiner zuweilen recht bittern Ausfälle nie
einen ernstlichen Feind gehabt. Jene hatten in ihren Tendenzen wie in ihren
Sympathien etwas Bösartiges; Tieck dagegen war eine harmlose Natur. Trotz der
Paradorien in seinen Ansichten, die zum Theil der Schule angehörten, zeigte er, wo
er sich zur Unbefangenheit zwingen konnte, einen feinen gebildeten Jnstinct, zu¬
weilen einen glänzenden Scharfsinn. Er war ebensowenig fähig, große Principien
ernst und energisch zu verfolgen, als bestimmte Gestalten mit fester Hand zu zeichnen;
aber er hatte eine sinnige Empfänglichkeit für kleine Schönheiten, für unmerk-
liche Züge, und übte damit bei dem vorherrschend männlichen Charakter unsrer
Literatur eine zweckmäßige Gegenwirkung aus. In den neuen Stoffen, die
er aus den fremden Nationen dem deutschen Volk mittheilte, verfuhr er wenigstens
im Ganzen mit Takt: er gab Calderon, Dante und die Mystiker, deren Specu-
latives Wesen unsrem Nationalinstinct zu fern lag, bald auf und hielt sich an
die uns zunächst stehenden Dichter, Shakespeare und Cervantes. Was aber
vielleicht sein Hauptverdienst ist, er hat theils durch sein persönliches Verhält¬
niß, theis durch den edlen, feinen und gebildeten Stil seiner Schriften, wesent¬
lich zur Förderung jenes guten Verhältnisses zwischen Literatur und Gesellschaft
beigetragen, das unsre classischen Dichter zuerst begründet haben, das aber
jeden Augenblick in Gefahr stand, der neuen Verwilderung zum Opfer zu
fallen. Die eigne Poesie der Schule schließt sich also an diesen Dichter a»,
und wir können seine Werke als den Leitfaden für die poetische Entwicklung
der Romantik betrachten.
Durch die Volksmärchen von Peter Leberecht wurde Tieck zuerst
in die romantische Schule eingeführt; sie verdienen auch in der Literaturgeschichte
den vornehmsten Platz. Die Zahl derselben ist sehr groß; seit 1793 erschien
alljährlich eine neue Lieferung, doch genügt es, sich an diejenigen zu halten,
welche der Dichter selbst 1812 im „Phantasus" gesammelt hat.
In unsern Tagen ist die Ehrfurcht vor dem instinctartigen Schaffen des Volks
und vor den Ueberlieferungen desselben in Sagen und Märchen so groß, daß
man sich leicht einbildet, der erste, der diese Neigung angeregt hat, müsse auch
von demselben Gefühl durchdrungen gewesen sein; umsomehr, da Tieck es sich
von Zeit zu Zeit angelegen sein ließ, die berliner Aufklärer durch seine Be¬
wunderung dieser alten einfältigen Geschichten zu ärgern. Allein diese Be¬
wunderung war nichts weniger als naiv. Er betrachtete die Märchen und
Sagen als den rohen Stoff, aus dem die freie dichterische Phantasie erst etwas
zu machen habe. A. W. Schlegel hat in seiner Recension der „Altdeutschen
Wälder" 1813 rücksichtslos die ganze Verachtung ausgesprochen, welche der
Verkündiger der absoluten Kunst vor diesen Gestalten des Instincts empfinden
mußte; und wenn Tieck als geborner Naturalist in seiner Geringschätzung auch
nicht soweit ging, so zeigt doch seine Bearbeitung selbst, wiewenig er sich
aus der Ueberlieferung machte. Er steht seinen Stoffen im Grunde ebenso
ironisch gegenüber, als seine Vorgänger Musäus und Wieland: aber freilich
unterscheidet er sich sehr vortheilhaft von ihnen durch die bewundernswürdige
Feinheit und Sauberkeit seiner Arbeit und durch die unnachahmliche Anmuth
und Noblesse seines Stils.
Der Reiz jedes Märchens, des deutschen, des persischen, des slawischen,
liegt in der kindlich einfachen, unbefangenen Auffassung der Menschen und
Situationen, die dem Zusammenhange der Sittlichkeit so fern steht, daß wir sie
mit innerer Freiheit genießen. Im Märchen gibt es kein Naturgesetz, keine
verständig überlegte, sittliche Ordnung: jede Beziehung auf das eine oder die
andere, also jedes ängstliche Motiviren stört unsre Unbefangenheit. Die
Charaktere müssen von der einfachsten Anlage sein, jede Verwicklung, jeder Zug,
reißt uns aus der lustigen Idealwelt heraus.
An einem echten Volksmärchen können wir in jedem Lebensalter einen
heitern Antheil nehmen, denn die ursprüngliche Natur findet in jeder Seele
eine entsprechende Stimme. Aber solche Märchen macht man nicht, sie müssen
werden. Im Volk gehen sie von Mund zu Munde, die alten Götter und
Dämonen werden mit jedem Geschlecht behaglicher und greifbarer, der Zusam¬
menhang immer unbefangener. Will aber der Kunstdichter einen natürlichen
— d. h. ihm angekünstelten — Ton anschlagen, so fühlt jedes Kind die
Unwahrheit heraus; und will er vom Standpunkte seiner Bildung den naiven
Stoff — der auf das Nichtwissen der Widersprüche berechnet ist — ins all¬
gemein Menschliche übersetzen, und doch das Wunderbare beibehalten, so wird
dieses zum Unnatürlichen, aus dem Zufall wird Fatalismus, aus den Phantasie¬
bildern entstehen Gestalten des Grauens, die Einfalt geht in Aberglauben, die
Unbefangenheit in Ziererei über. Man sucht das Wunderbare an die bekann¬
ten Gesetze der Physik, das Abenteuerliche an die tiefen Gesetze der Seele an-
zuknüpfen, und so fällt man der Macht der schwarzen Magie in die Hände.
Bei Tieck ist überall die Wirkung auf ein Moment des Schauders, des
Grauens vor den feindseligen Mächten der Natur berechnet, was bei der Ab¬
wesenheit alles sittlichen und gemüthlichen Inhalts auf dieselbe Speculation
hinauskommt, die wir bei den Mysteriendichtern so entschieden verwerfen.
Schon die Bearbeitung der Sage vom Venusberg genügt, das Verhält¬
niß Tiecks zu seinen Stoffen zu bezeichnen. Er hat die Sage vom getreuen
Eckart und vom Rattenfänger zu Hameln in einem halb aus Romanzen, halb
aus Prosa zusammengesetzten Vorspiel verschmolzen, in einem Ton, dessen alt¬
fränkische Treuherzigkeit etwas gemacht aussieht. Mit dem Auftreten des Tann¬
häuser beginnt die eigentliche Erzählung. Der Tannhäuser ist seineu Freunden
plötzlich verschwunden; nach einigen Jahren trifft ihn einer derselben, Friedrich,
vor seiner Burg. Diesem erzählt er, er komme eben aus dem Venusberg zu¬
rück und wolle eine Pilgerfahrt nach Rom unternehmen, um sich von der Last
seiner Sünden zu befreien. Seine Verbindung mit der heidnischen Göttin sei
nur der Schluß einer Reihe von Freveln gewesen: er habe ein Mädchen ge¬
liebt, Namens Emma, diese habe ihm aber einen andern Ritter vorgezogen, er
habe denselben erschlagen, und sie sei vor Gram gestorben. Nachher will er
noch mehre entsetzliche Greuel ausgeübt und erlebt haben. — „Friedrich be¬
trachtete ihn lange mit einem prüfenden Blicke, dann nahm er die Hand seines
Freundes und sagte: Immer noch kann ich nicht von meinem Erstaunen zu¬
rückkommen; auch kann ich deine Erzählung nicht begreifen, denn es ist nicht
anders möglich, als daß alles, was du mir vorgetragen hast, nur eine Ein¬
bildung von dir sein muß, denn noch lebt Emma, sie ist meine Gattin, und
nie haben wir gekämpft oder uns gehaßt, wie du glaubst. ... — Er nahm
hierauf den verwirrten Tannhäuser bei der Hand und führte ihn in ein anderes
Zimmer zu seiner Gattin. . . . Der Tannhäuser war stumm und nachdenkend,
er beschaute still die Bildung und das Antlitz der Frau, dann schüttelte er mit
dem Kopfe und sagte: Bei Gott, das ist noch die seltsamste von allen meinen
Begebenheiten?" — Seltsam in der That; und den Leser beschleicht jenes un¬
heimliche, ungesunde Frösteln, welches nie ausbleibt, wenn uns der Wahnsinn
entgegentritt und wir nicht unterscheiden können, wer der Wahnsinnige ist. —
Daß dann der Tannhäuser doch noch nach Rom geht, ungesühnt zurückkehrt,
Emma wirklich ermordet und Friedrich durch einen glühenden Kuß nach sich
in den Venusberg zieht, dient im Ganzen nur wenig dazu, den Schauder zu
vermehren.
Ein ähnliches Motiv hat Tieck in einer zweiten, dies Mal selbststündig
erfundenen Fabel angewandt: Der blonde Eckbert. Schlegel gibt derselben
mit Recht unter allen Märchen den Preis. „Durch die Erzählung geht eine
stille Gewalt der Darstellung, die zwar nur von jener Kraft des Geistes her-
rühren kann, welcher die Gestalten unbekannter Dinge bis zur hellen Anschau¬
lichkeit und Einzelheit Rede stehen, deren Organ jedoch hier vorzüglich die
Schreibart ist: eine nicht sogenannte poetische, vielmehr sehr einfach gebaute,
aber wahrhaft poetisirte Prosa." — Aber nur der Jünger der absoluten Kunst
hat über diesem duftigen, ätherischen und ahnungsvollen Stil den Widersinn
vergessen, der in dem träumerischen Jneinanderschweben der Gestalten und
Motive liegt.
Eckbert, ein Ritter von vierzig Jahren, lebt mit seiner Frau auf seinem
Schloß in gänzlicher Einsamkeit: er hat nur mit einem andern Ritter Namens
Walther Umgang. Eines Abends erzählt seine Frau, sie sei bei einer Here
erzogen worden und habe zur einzigen Gesellschaft einen Vogel gehabt, der
immer ein Lied von der Waldeinsamkeit gesungen; sie sei mit diesem^ Vogel
und einigen Kostbarkeiten emflohen. Aus einigen Worten Walthers merkt sie,
daß dieser von der Geschichte etwas Näheres wissen müsse. Darüber wird sie
sehr verstimmt, das Verhältniß zwischen den beiden Freunden nimmt einen ge¬
spannten Charakter an, und endlich ermordet Eckbert seinen Freund, von einem
unerklärlichen Drange getrieben. Seine Frau stirbt, er lebt in immer größerer
Einsamkeit, bis er einen neuen Freund findet, Hugo, dem er seine Geschichte
erzählt und der ihm mit Theilnahme entgegenkommt. Aber auch dieser zeigt
ihm einmal ganz sonderbare Züge und als Eckbert näher zusieht, ist es Wal¬
thers Gesicht. Er flieht in den Wald, überall begegnet ihm Walther, zuletzt die
Here, die ihm erzählt, sie sei Walther, sei Hugo; Walther und Hugo hätten
nie eristirt.
„Jetzt war es um das Bewußtsein, um die Sinne Eckberts geschehen.
Er konnte sich nicht aus dem Räthsel herausfinden, ob er jetzt träume, oder
ehemals von einem Weibe Bertha geträumt habe; das Wunderbarste vermischte
sich mit dem Gewöhnlichsten, die Welt um ihn her war verzaubert, und er
keines Gedankens, keiner Erinnerung mächtig .... Gott im Himmel, sagte er
still vor sich hin, in welcher entsetzlichen Einsamkeit habe ich dann mein Leben
hingebracht!" — Das ist der bekannte Refrain aus dem William Lovell,
durchaus kein Naturlaut, sondern der Ausbruch einer durch Opium überreizten
Phantasie. Der düstere Nebel des Wahnsinns, der es ungewiß läßt, ob die
romantischen Geschichten blos im Traume, in der Einbildung, oder in der
Wirklichkeit vor sich gehen, ist im tiefsten Grunde ein Ausdruck der innern
Ironie; er widerspricht dem Wesen des deutschen Gemüths und macht es am
wenigsten möglich, die nationalen Ueberlieferungen festzuhalten, dem Volk
sein eignes instinctartiges Schaffen und Empfinden sinnlich vor Augen zu
stellen.
Mit derselben Virtuosität wird die Nachtseite der Natur in den übrigen
Märchen aufgeschlossen. Im Nuremberg ist, wenn wir von der seltsamen
Einkleidung absehen, der dämonische Sinn der Liebe zum Golde dargestellt.
Der Held des Märchens hat in einem Walde die schreckliche Königin des
Goldes gesehen, er ist ihrem Zauber entflohen und hat sich in bürgerliche Ver¬
hältnisse eingelebt; aber wie dem blonden Eckbert, tauchen ihm bei jedem
fremden Gesicht die dämonischen Züge des Waldweibes auf; eine Zauber-
tasel, die er mit sich genommen, dringt mit ihren geheimnißvollen Zeichen mit
magischer Kraft in sein Gemüth; einige bei ihm zurückgebliebene Goldstücke er¬
regen ihn zum Wahnsinn. Er stürzt in blinder Leidenschaft wie der Tann¬
häuser in seinen Wald zurück. Nach einigen Jahren zeigt er sich wieder als
zerlumpter Bettler, von einem langen struppigen Bart entstellt, er trägt einen
Sack mit Kieselsteinen, die er für Diamanten hält, und an deren Funkeln er
eine wilde Lust hat. Nachdem er seine ehemalige Frau traurig angesehen, zieht
ihn das schreckliche Waldweib wieder mit sich fort, und er verschwindet für immer.
Auch hier tritt uns also der Wahnsinn entgegen, oder vielmehr die träumerische
Bestimmungslosigkeit der Menschen; denn der unglückselige Liebhaber des
Waldweibes ist nicht der einzige, dessen Bewegungen wie ertödtete Nerven bei
einem galvanischen Experiment dem blos physikalischen Reiz gehorchen. — Die
Schilderung von der Bereitung des Liebeszaubers ist die Vollendung des
Gräßlichen. Selten wird man einen Fiebertraum erlebt haben, der die Seele
aus eine so sinnlose Weise beängstigt, und dabei haben diese wahnsinnigen
Phantasien noch einen gewissen Anstrich vom Possenhaften. — Auch im Pokal,
trotz des versöhnenden Schlusses, zerfließen die Gestalten ineinander, die Ein¬
bildungen gehen in Erinnerungen über, und umgekehrt, und es sind wieder
sinnliche, physikalische Einwirkungen nöthig, um die Seele zurecht zu stellen.
„Der Alte mochte nicht sagen, daß er jenen gekannt hatte, denn sein Dasein
war ihm zu sehr zum seltsamen Traum verwirrt, um auch nur aus der Ferne
die Uebrigen in sein Gemüth schauen zu lassen."
Diese Ueberreizungen des Nervensystems sind ästhetisch verwerflich, denn
sie wirken nicht tragisch, nicht erschütternd, sondern im besten Fall nur quälend
und beängstigend; sie verweichlichen die Phantasie, statt sie zu stählen. Im
Wahnsinn des König Lear, in den Visionen Macbeths, in dem Nachtwandeln
der Lady, empfinden wir nicht den gemeinen Sinnenkitzel des Grauens, weil
nicht blos unsre Einbildungskraft, sondern Geist und Gemüth thätig und er¬
griffen ist. Wir werden von der Größe des Verhängnisses durchbebt, und das
sinnliche Mittel drängt sich uns nicht als die Hauptsache auf. Lösen wir
aber dieses Mittel von dem tragischen Inhalt ab, so erniedrigen wir unsre
Phantasie zur Knechtschaft der Sinne und freveln an unserm tiefsten Selbst.
Wie bedenklich diese Spiele der Phantasie auch noch in anderer Beziehung
sind, zeigt sich schon in den Gesprächen im „Phantasus", wo bei Gelegenheit
dieser Märchen auf die Seltsamkeit der Träume, das Ahnungsvermögen und
dergleichen eingegangen wird, nicht, wie in den „Unterhaltungen der Ausge¬
wanderten", um durch Mannigfaltigkeit der Farben einen vorwiegend drolligen
Eindruck zu machen, sondern in bitterm Ernst, in empfindsamer Mystik. Gegen
diesen lüsternen Schauder haben wir alle Ursache auf unsrer Hut zu sein.
In der schonen Magelone wird durch den ungetheilten Sonnenschein,
durch den Mangel an Schatten alle bestimmte Gestaltung, aller innere Zu¬
sammenhang und die schöne Einfalt der alten Sage ebenso aufgehoben, wie in
den übrigen Märchen durch die ununterbrochenen nächtlichen Schauer. Die
Geschichte sieht nur wie ein Rahmen für die eingewebten kleinen Lieder aus.
Es ist das erste Beispiel sür die Methode, die epische oder dramatische Dar¬
stellung in lyrische Stimmungen verklingen zu lassen. Doch gehören diese
kleinen Lieder zu den besten unsers Dichters.
„Es liegt ein eigner Zauber in ihnen, dessen Eindruck man nnr in Bildern wiederzugeben
versuchen kann. Die Sprache hat sich gleichsam alles Körperlichen begeben und löst sich in einen
geistigen Hauch auf. Die Worte scheinen kaum ausgesprochen zu werden, so basi es fast noch
zarter wie Gesang lautet .... Stimmen von der vollen Brust weggehoben, die dennoch
, wie aus weiter Ferne leise herüberhallen."
— A. W. Schlegel. —
Im Wesentlichen heiter ist gleichfalls die Darstellung in den Elfen; allein
die Momente aus der alten Sage, daß im Lande der Elfen Jahre nur den
Raum von Stunden einzunehmen scheinen, daß die Elfen ihre Wohnsitze ver¬
lassen, wenn sie von profanen Augen gesehen werden, und ähnliche Züge von
einem bestimmten mythologischen Inhalt sind durch die Poetistrung aus ihrem
innern Zusammenhang entrückt und verlieren die Uebereinstimmung mit sich selbst.
Das Reich der Elfen, in welches die kleine Marie entführt wird, ist das Reich
der Einbildungskraft, des Märchens, der Poesie überhaupt. Die Zeit, die sie
darin zubringt, ist die Kindheit, die noch dem poetischen Spiel offen steht,
durch den Ernst der Zwecke und die Gesetze der Logik noch nicht eingeengt.
Zum Theil ist diese Poesie recht poetisch geschildert, wenn auch ein Zauberreich,
in welchem sich jeder Wunsch sofort in eine Thatsache verwandelt, bald langweilt.
Die Schilderung des Schlaraffenlandes eignet sich nur sür die komische Poesie.
Aber die Hauptsache ist, daß durch diese idealisirende Verallgemeinerung das
Wesen der durch historische Ueberlieferung fest umrissenen Elfen sich ins Un¬
bestimmte und Allegorische verflüchtigt, und daß daher der Schluß, welcher der
Tradition angehört, zu dem Vorhergehenden nicht stimmt. Endlich ist noch
die anmuthige Dialogisirung des Nothkäp p es eus zu erwähnen, in dessen
heiterer Stimmung man die Mischung von reflectirter Kindlichkeit und ver¬
kappter Altklugheit mit Behagen aufnimmt, z. B. das Gespräch des speculativen
freigeistischen Wolfs mit dem prosaischen Hunde. Tieck hätte nur den alten
Schluß des Märchens, daß der Jäger den Bauch des Wolfes aufschneidet
und das RotsMppchen mit der Großmutter wieder unversehrt herausholt, bei-
behalten sollen, denn bei possenhaften Voraussetzungen verlangt man auch ein
Possenhaftes Endergebniß.
Wenn schon die novellistische Umdichtung des Märchens dem Stoff seine
natürliche Farbe nimmt, so ist das bei der dramatischen Bearbeitung noch viel
schlimmer. Vom Drama müssen wir einen psychologischen Zusammenhang und
ethischen Gehalt verlangen: der Neiz des Märchens liegt aber grade darin,
daß man nach keinem von beiden ein Bedürfniß fühlt. Hier, wie in vielen
andern Fällen sind die Romantiker durch das Beispiel Shakespeares verleitet
worden, namentlich durch das „Wintermärchen", den „Sommernachtstraum"
und „Wie es euch gefällt."
Das Däumchen macht unter diesen Versuchen schon insofern den besten
Eindruck, als es durchaus possenhaft gehalten ist und vom Drama weiter nichts
beansprucht, als die dialogische Form. Die Idee, sich das Wesen eines
Menschenfressers im Detail auszumalen, ihn nicht blos mit dem fabelhaften
Hof des König Artus, sonvern auch mit der Bildung und den Empfindungen
der modernen Gesellschaft in Verbindung zu setzen und diese Gegensätze fratzen¬
haft ineinanderspielen zu lassen, ist mit Humor ausgedacht und ausgeführt.
Viele von den Einfällen, in denen sich dieser Schwank ausbreitet, überraschen
durch ihre Naturwüchsigst. Trotz der Unmöglichkeit und Widersinnigkeit der
Anlage ist selbst eine gewisse Charakteristik in den Figuren. Der Dichter zeigt
diesmal in der That soviel Freiheit und Uebermuth, daß er mit seinen Ein¬
fällen spielen kann, ohne sich ihnen gefangen zu geben. Hätte er für die
liebenswürdige Albernheit, die man über eine gewisse Grenze hinaus nicht mehr
ertragen kann, das richtige Maß gefunden, so würde dieses schalkhafte Spiel
einen ganz ungetrübten Eindruck machen.
Ganz anders ist die Anlage des Blaubart (1797), in welchem sich das
Märchen zu einer ausführlichen dramatischen Darstellung entfaltet. „Der.Ver¬
sasser," sagt A. W. Schlegel, „ist ein wahrer Gegenfüßler unsrer gewappneten
ritterlichen Schriftsteller: da diese nur darauf arbeiten, das Gemeinste, Ab¬
gedroschenste als höchst abenteuerlich, ja unnatürlich vorzustellen, so hat er sich
dagegen bemüht, das Wunderbare so natürlich und schlicht als möglich, gleich¬
sam im Nachtkleide erscheinen zu lassen.... Die Charaktere geben sich nicht
für dieses oder jenes, sie sind wie sie sind, ohne zu wissen, daß es auch anders
sein könnte. Dies ist in der Natur, nur in den schlechten Schauspielen reden die
Tugendhaften von ihrer Tugend und die Bösewichter von ihrer Abscheulich¬
keit u. s. w." — Hier hat Schlegel einen an sich richtigen Grundsatz auf die
Spitze gestellt und ihn dadurch verkehrt. Freilich ist es ungeschickt, wenn der
dramatische Dichter, anstatt den Inhalt seiner Charaktere in Handlungen zu
entfalten, ihnen Reflexionen über ihre eigne Schlechtigkeit n. s. w. in den
Mund legt; allein ebensowenig genügt es zur Zeichnung eines Charakters
ihn eine Reihe gleichartiger Handlungen einfach verrichten zu lassen. Der Dichter
muß zugleich die Stimmung in uns erregen, mit der wir diese Handlungen
aufnehmen sollen. Wenn im Puppenspiel ein beliebiger Tyrann ohne weiteres
einem Dutzend unschuldiger Leute den Kopf abschlägt, so erregt das nicht
Schrecken, sondern Gelächter, und diese Natur des Puppenspiels hat auch
die Einleitung zum Blaubart. Der blutdürstige Ritter beendet eine Fehde da¬
durch, daß er alle seine Feinde hängen läßt. Nun kann doch diese Einleitung
keinen andern Zweck haben, als uns die grausame und gewaltthätige Natur
des Helden zu versinnlichen. Tieck schildert aber seine besiegten Ritter ganz
im Stile der Shakespeareschen Narren; sie schwatzen untereinander, wie zu ihrem
Sieger das thörichtste Zeug; wir finden es ganz natürlich, daß er darüber lacht,
und der Tod jener komischen Personen macht auf uns den Eindruck eines
Schwanks. Nun soll das Ganze aber keineswegs ein Schwank sein, im Gegen¬
theil ist der Hauptinhalt des Märchens, die beabsichtigte Ermordung der Agnes,
mit allem Aufwand tragischer Schreckmittel ausgemalt. Die beiden letzten Acte
auf dem Schloß des Blaubart sind von einer echten und nicht gemeinen Poesie.
Tieck hat nicht nur das äußerliche, materielle Grauen hervorgerufen, er hat
auch mit großer psychologischer Feinheit motivirt. Dieser Theil der Handlung
ist also ganz dramatisch ausgeführt und steht in einem schreienden Contrast zu
den vorhergehenden Narrenspäßen. Wenn Shakespeare tragische und komische
Elemente durcheinandermischt, so ist darin doch keineswegs Willkür; die Grund¬
stimmung ist vielmehr stets sehr deutlich und energisch festgehalten. Niemals
ist er ironisch gegen seine eignen Gestalten; wenn er einen Bösewicht, wie
Richard til. oder Jago zuweilen sich possenhaft geberden läßt, so dient dieser
wilde Humor nur dazu, die dämonische Natur schärfer hervorzuheben; er ist
ein blutiger Hohn, den sie der Welt entgegenschleudern. Dem tragischen Dichter
ist es erlaubt, nicht blos zur weitern Motivirung des Tragischen, sondern auch
zum Contrast komische Momente anzuwenden, wenn diese nur nicht soweit
gehen, daß dadurch die Spannung der Seele aufgehoben wird; niemals aber
darf der komische Dichter zum Tragischen übergehen, denn dadurch beleidigt
er unser Gefühl. Nun überwiegt im vorliegenden Drama an Umfang das
komische Element; dagegen treten durch ihre Jntensivität die tragischen Stellen
am meisten hervor und so wird durch diese willkürliche Mischung jenes unklare
und schwankende Gefühl hervorgerufen, das uns bei den Begebenheiten der
Wirklichkeit zuweilen überfällt, dem wir aber in der Kunst entgehen wollen.—
Ein zweites Mißverständniß hängt genau damit zusammen. Tieck läßt die
glückliche Katastrophe nicht aus verständigem Plan, auch nicht aus dem Zufall
hervorgehen, sondern aus den Eingebungen eines Thoren. Der Bruder der
Agnes, Simon, hat ein Vorgefühl, daß seine Schwester in Noth ist; während
er sonst von seinen Brüdern als ein Träumer verspottet wird, ist jetzt die Leb-
haftigkeit seiner Phantasie so groß, daß alle mit fortgerissen werden. „Das
Tollste bei der Tollheit ist, daß sie vernünftige Menschen ansteckt." An sich
ist dieses Motiv nicht undramatisch, denn in dem, was man doppeltes Gesicht
oder Ahnung nennt, liegt bei einer Natur, die mehr in der Phantasie und
im grübelnden Gefühl lebt, als in der praktischen Welt, keine poetische Un¬
wahrheit und wenn der Philosoph dieses irrationelle Moment auflösen müßte,
so ist es dem Dichter erlaubt, es in seiner unaufgelösten Gestalt anzuwenden,
wie ja Shakespeare so häufig psychologische Thatsachen in sinnliche Erschei¬
nungen und Wunder krystallisirt. Allein Tieck hat es dadurch verdorben,
daß er die Natur Simons aus der dramatischen Färbung des Stücks heraus¬
treten läßt. Simon ist melancholisch geworden durch Vorausnahme des trans¬
scendentalen Idealismus; er reflectirt über Ich und Nicht-Ich, Sein und Nicht¬
sein, Raum und Zeit u. s. w. auf dieselbe Weise, wie Aristophanes seinen So-
krates reflectiren läßt, d. h. durchaus possenhaft, mit unzweckmäßiger Anwendung
der Speculation auf endliche, dem gemeinen Leben angehörige Gegenstände. So
macht er auf uns den Eindruck einer parodischen, dem Lustspiel angehörigen
Figur und wir gerathen außer Fassung, als aus ihm plötzlich ein tragisches
Motiv genommen werden soll. Der Dichter hat geflissentlich seinen eignen
Zwecken zuwider gearbeitet. — Dieser Mangel an dramatischer Einsicht zeigt sich
ebenso in der Nachlässigkeit der Composilioii, in der Einmischung von Episoden,
die nicht nur aus dem Zusammenhang des Stücks heraustreten, sondern die
auch an sich sehr langweilig sind. Außerdem sind die Shakespeareschen Clowns
in einer noch übertriebenen Gestalt gleichfalls eingeführt: Figuren, die sich bei
Shakespeare aus den Gewohnheiten und dem Geschmack der Zeit erklären,
die sich aber auf unserm Theater nur durch glänzendere Eingebungen recht¬
fertigen können, als es hier der Fall ist, und die man hier um so eher ent¬
behren könnte, da sich die Mehrzahl der ernsthaften Personen gleichfalls
närrisch benimmt.
Tieck hat im spätern Alter versichert, er habe seine Stücke für die Auffüh¬
rung berechnet; aber das schreibt sich erst aus einer Zeit her, wo man den Be¬
griff eines mit den Vorstellungen des Volks zusammenhängenden Theaters voll¬
ständig verloren hatte, wo der Faust, der Götz, der Sommernachtstraum, die
Antigone und Medea, die Caldervnschen Stücke, mit oder ohne Musik, neben
Joao dem brasilianischen Affen und dem Hund des Aubry ungenirt über die
deutsche Bühne gingen, wo durch die Oper die Einbildungskrast auf das
gründlichste demoralisirt war und wo Goethe sich im Gespräch mit Eckermann
behaglich über die Vorstellung ausließ, den zweiten Theil seines Faust auf
dem Theater zu sehen und sich namentlich auf die schöne Gruppe freute, deren
Mittelpunkt der Elephant, auf dem Plutus reitet, bilden sollte. Bei einer
solchen Stimmung der Phantasie war es wol begreiflich, daß man der Ab-
wechslung wegen auch einmal den gestiefelten Kater über die Breter führte.
Als Tieck aber die Volksmärchen dramatisirte, hat er schwerlich ihre Ausführ¬
barkeit in Erwägung gezogen, was schon die in Worten ausgedrückte Ouver¬
türe in der ^verkehrten Welt", die redenden Instrumente und die singenden
Blumen im „Zerbino" beweisen. Dies ist der zunächstliegende Gegensatz zu
Aristophanes; ein zweiter ist aber ungleich wichtiger.
Aristophanes geißelt solche Verirrungen seines Zeitalters, die sehr ernst
in die politischen und religiösen Zustände seines Vaterlandes eingriffen. Er
sprach zu einem Publicum, welches durch das Zusammendrängen aller höhern
nationalen Thätigkeit in einen kleinen Raum befähigt war, sich über Dinge
ein Urtheil zu bilden, die sonst nur von der feinsten Bildung verstanden werden.
Unsre modernen Aristophanesse dagegen beschäftigen sich ausschließlich mit dem
Gegenstand, den sie allein verstehen, mit der Literatur; sie lenken die Phan¬
tasie von den Gegenständen der wirklichen Welt auf die Reflexe derselben und
untergraben dadurch allen realistischen Sinn. Nebenbei ist die völlig unkünst¬
lerische phantastische Form nicht blos aus dem Vorbild des Aristophanes her¬
vorgegangen, sondern aus den Reminiscenzen der wiener Zauberposse, der
Zauberflöte, des Donauweibchens u. s. w. ES ist ein nicht ungewöhnliches
Vorurtheil, man könne die naiven Formen der Volkslustbarkeit durch Einfüh¬
rung eines höhern Grades von Bildung veredeln. Zu gewissen Späßen gehört
aber Unmittelbarkeit, ja selbst Rohheit, wenn nicht ihre Spitze abbrechen soll.
Die Loealposse benutzt das Märchen, weil sie dreistere Schwänke, überraschen¬
dere Verwandlungen darin anbringen kann. Schon darin tritt sie aus der
Naivetät heraus, der Schwank wird zur Zote, das freie Spiel der Phantasie,
die sich an die Grenzen des Möglichen und Wahrscheinlichen darum nicht
bindet, weil sie dieselben nicht kennt, zur reflectirten Albernheit. Noch mi߬
licher ist der Versuch, auf dem künstlichen Umwege der Reflexion wieder zur Un¬
mittelbarkeit zurückzukehren. Wenn der gebildete Dichter sich auch noch so fest
vornimmt, aus den Voraussetzungen seiner Bildung herauszutreten und sie völ¬
lig zu vergessen, so gelingt es ihm doch nicht ganz; er muß motiviren, näher
ausführen, muß Streiflichter werfen auf die Cultur, der er entflieht, ironischer
oder sentimentaler Art. Aus dem Wunder wird ein unheimliches Herenwerk,
aus der Willkür haarsträubende Barbarei. Eine unsrer Bildungsstufe fremde
Moral wird für unsern Geschmack zugerichtet und dadurch verdreht. Die
lustigen Gestalten der kindlichen Phantasie verwandeln sich in Fieberspuk; die
zusammenhanglosen, aber anmuthigen Geschichten in pseudophilosophische
Symbole.
Unter diesen Versuchen verdient der gestiefelte Kater (1797) ent¬
schieden den Vorzug. Das Stück sprudelt von treffenden Witzen, liebens¬
würdig tollen Einfällen und guter Laune, es hat dabei einen ziemlich abgeschlofse-
nen Rahmen und man kommt in der Handlung, wenn auch mit einiger Mühe all-
mälig vorwärts. — Allein in dem Behagen, mit welchem die Verbildung des
Spießbürgerthums geschildert ist, liegt doch etwas Erzwungenes. Das Stück,
welches der Dichter diesem verbildeten Publicum vorspielen laßt, ist in der
That der absolute Unsinn, und die Böttiger, Schlosser, Wiesener und wie die
Repräsentanten des „aufgeklärten Geschmacks" sonst heißen, hatten das größte
Recht, es auszuzischen. Am wenigsten ist es das, wofür der Dichter es ausgibt,
ein naiv dargestelltes Ammenmärchen: es ironisirt beständig sich selbst und setzt in
seinen Anspielungen eine weitgehende literarische Bildung voraus. „Ich wollte
nur den Versuch machen, sagt am Schluß der ausgepochte Dichter zum Publicum,
Sie alle in die entfernten Empfindungen Ihrer Kinderjahre zurückzuversetzen, daß
Sie dadurch das dargestellte Märchen empfunden hätten, ohne es doch für etwas
Wichtigeres zu halten, als es sein sollte." — Leider ist der gute Dichter noch
mehr in dem gewohnten Kreise seiner Bildung befangen, als das Publicum
selbst. Der bei weitem größte Theil seiner Einfälle beruht auf Beziehungen
zu der aufgeklärten Welt, gegen die er polemisirt. Seine Märchenfiguren
haben keinen realen Inhalt, sie sind nur Namen, unter denen beliebige Re¬
flexionen über das Zeitalter eingeschwärzt werden. Daher sind die directen pole¬
mischen Beziehungen das Gelungenste. Das dargestellte Publicum ist viel
ergötzlicher, als das Stück, das ihm aufgeführt wird. Den steifen und ein¬
seitigen Geschmack der Zeit durch die systematische Abgeschmacktheit läutern zu
wollen, ist auf alle Fälle verfehlt. Der „gestiefelte Kater" hat seinen großen
Erfolg theils einigen wirklich sehr glücklichen Einfällen zu verdanken, haupt¬
sächlich aber der Freude der sogenannten Gebildeten über die vielfältigen
literarischen Anspielungen. An sich ist für jedes gesunde Gemüth die blos
negative Poesie etwas Unerquickliches, namentlich wenn man merkt, daß der
Humor doch nicht mit jugendlicher Frische hervorsprudelt.
Der Einfall, das Publicum selbst aufs Theater zu bringen, hat dem
Dichter so wohl gefallen, daß er ihn in seinem nächsten Stück, die verkehrte
Welt (1799) wiederholt. Diesmal fehlen, wenn man von einzelnen kleinen
Einfällen absieht, z. B. von dem empfindsamen Rabe und seinen verehrungs¬
würdigen Kindern, die satirischen Beziehungen fast gänzlich. Der Dichter ver¬
sucht, die Ironie aus eigne Füße zu stellen , aber seine gute Laune ist nicht
sehr ausgiebig; er muß sich zum Humor zwingen. Die Komik wird dadurch
hervorgebracht, daß die Vorstellungen auf dem Theater bald als das, was sie
wirklich sind, als Schein gelten sollen, bald als das, was sie vorstellen. Dieser
an sich nicht schlechte Spaß wird mit unerhörter Pedanterie zu Tode gehetzt. Vor
Anfang des Stücks tritt ein Epilog auf, der mit den Worten beginnt: „wie hat
Ihnen das Stück gefallen?" Das ist ein guter Einfall, aber was soll man dazu
sagen, daß der Symmetrie wegen zum Schluß auch noch ein Prolog auftritt,
der die Zuschauer anredet: „Sie werden hier ein Stück sehen u. s. w.?"—
Die handelnden Personen sprechen bald in ihrer Rolle, bald als Schauspieler;
das ist noch nicht genug: auch die dargestellten Rollen sind etwas Anderes,
als wofür sie sich ausgeben. So wird z. B. Apoll und die neun Musen dar¬
gestellt; die Musen sind Grisetten, und sie werden dargestellt von Frauen¬
zimmern, die weder Grisetten noch Musen sind. Das Publicum selbst tritt im
Schauspiel auf; in diesem Schauspiel wird wieder ein anderes Schauspiel aus¬
geführt, in diesem andern Schauspiel ein drittes und darin noch ein viertes.
Dieser ungeheure Apparat, um einen doch nur sehr dürftigen Scherz hervor¬
zubringen, macht einen höchst unbehaglichen Eindruck.
Das Positive in diesen aristophanischen Lustspielen ist der Krieg gegen den
Idealismus in allen Formen, gegen den Ernst überhaupt, oder wenn man will, die
Apologie des durch Gottsched verbannten Hanswurst. Hanswurst soll wieder der
Apollo des Theaters werden und Colombine seine Muse. Das Vorbild, welches
dem Dichter vorgeschwebt, ist Goethes „Triumph der Empfindsamkeit", jene Ver¬
spottung eines falschen Idealismus, an dessen Ursprung sich Goethe mitschuldig
fühlte. Schon im „Triumph der Empfindsamkeit" ist bei der vortrefflichen Anlage
die Ausführung mittelmäßig, und die Einmischung eines ernsthaft gemeinten Mono-
drams als Contrast gegen die Caricaturen hat der Dichter selbst später als
einen Frevel empfunden. Tieck hat sich durch diese Erkenntniß nicht von einem
zweiten Versuch derselben Art abhalten lassen.
Die Elemente, die in den Volksmärchen zerstreut sind, hat der Dichter
in dem Drama: Prinz Zerbino, oder die Reise nach dem guten Ge¬
schmack, gewissermaßen eine Fortsetzung des gestiefelten Katers
(1799), aristophanisch zu krystallisiren gestrebt. Das Stück hat noch in unsern
Tagen zahlreiche Bewunderer, obgleich der Geschmack wesentlich eine andere
Richtung genommen hat. Wenn diese Bewunderung zum Theil sich auf den
innern Werth einzelner Stellen bezieht^ auf die treffenden Witze und ansprechenden
Melodien, so hat sie doch zugleich einen andern, weniger erfreulichen Grund.
Es ist die Freude einer Bildung, die ihren innern Kern verloren hat, mit
ihrem Inhalt spielen zu können, in derselben Weise, wie heutzutage die po¬
litischen Witzblätter mit dem Inhalt der modernen Ueberzeugungen spielen.
Die Methode der Composition entspricht der „verkehrten Welt". Es ist
die ausgesprochene Zwecklosigkeit, die als solche, wie es auch Schlegel in seiner
Kritik des Aristophanes ausführt, den höchsten Gipfel der echten Kunst erstiegen
zu haben glaubt. Zwar tritt dies Mal kein PublicuM auf, das der Handlung
des Stücks gegenüberstände, dafür wechseln die Figuren des Stücks selbst
beständig ihre Rollen; halv handeln sie naiv als wirkliche Personen, bald erin¬
nern sie sich daran, daß sie nur Schöpfungen der poetischen Einbildungskraft
sind. Einmal machen sie sogar den Versuch, die Mechanik deS Stücks zurück-
zuschieben, und so treten denn die vorhergehenden Scenen von neuem wieder
auf. Die einzelnen Scenen sind nach keinem andern Gesichtspunkt gruppirt,
als daß sie stets den stärksten Contrast zueinander bilden sollen; oder viel¬
mehr, sie sind nach Belieben durcheinandergeworfen, und das künstlerische
Princip ist die unbändigste Willkür: aber wohl gemerkt, eine Willkür, die nicht
naturwüchsig aus der Einbildungskraft des Dichters hervorgeht, wie z. B. im
Atta Troll, sondern die mit Absicht und Reflexion verbunden ist. Die einzelnen
Eingebungen drängen sich nicht mit unmittelbarer Macht hervor, um der Regel
und des Gesetzes zu spotten, sondern sie werden künstlich hervorgesucht, um
den Widerspruch, den Zweck des Dichters, hervorzubringen. Dazu dienen auch
die Einmischungen von sprechenden Katzen und Hunden, vom Satan, von
Zauberern u. f. w. Alle diese excentrischen Personen treten nicht als
lebendige Wesen auf, die für sich eine poetische Existenz in Anspruch nehmen
dürften, sondern nur als Arabesken, um das Gesetz des Contrastes zu versinn-
lichen.
In dieser Satire gegen den Geist des Zeitalters ist alles zusammengehäuft, was
die Romantik an der Ausklärung, an der Philanthropie und dem Rationalismus
auszusetzen hatte: das Nützlichkeilsprincip, die Hervorhebung der praktischen Zwecke
über das Spiel der Kunst, der verbildete classische Geschmack, der praktische Idealis¬
mus u. s. w. — Hier werden wir nun sowol die Verwandtschaft zwischen der
romantischen Kunst und dem transscendentalen Idealismus gewahr, als ihren
Gegensatz. Einen sehr großen Theil der satirischen Bilder, durch welche Tieck
das Streben des Zeitalters lächerlich zu machen sucht, finden wir in Fichtes
Grundzügen wieder. Aber Tieck verspottet seine Zeitgenossen, weil sie über¬
haupt Ernst machen, anstatt in müßiger Poesie zu schwelgen; Fichte verdammt
sie, weil sie nicht Ernst genug machen, weil sie auf halbem Wege stehen bleiben
und mit ihren Idealen nur spielen, anstatt ihr Leben daran zu setzen. Ferner
betrachtet Fichte die Literatur nur als ein einzelnes Symptom von den prakti¬
schen Tendenzen des Zeitalters; bei Tieck ist sie die Hauptsache, und wenn
man von einzelnen sehr unschuldigen Späßen über das Hofleben, den Kammer¬
herrndienst und dergleichen absieht, so sind die meisten satirischen Einfälle nichts
Anderes als verhaltene Recensionen über schlechte Bücher. Damals, wo diese
Bücher allgemein gelesen und bekannt waren, freute man sich über diese Satire
des Dichters, der sich damit begnügte, auf seine Ueberzeugung von der Werth-
losigkeit derselben hinzudeuten; heute, wo man die Anspielungen nicht mehr
versteht, müssen sie nothwendig Langeweile erregen, weil sie ohne allen selbst-
siändigen Gehalt sind.
Dieser prosaischen, spießbürgerlichen Welt, die das Leben und die Literatur
beherrscht, erscheinen nun die strebsamen und poetischen Gemüther, weil sie der
Gewöhnlichkeit widerstreben, als verrückt. Charakteristisch sind die Nepmscn-
lauten des Ideals: der Hanswurst, der alte König, der kindisch geworden ist,
mit Bleisoldaten spielt und sich unter ihnen „Ideale" bildet, und der Prinz
Zerbino, eine krankhaft aufgeregte Natur, welche Tieck — aus dem „Triumph
der Empfindsamkeit" entlehnt hat. Die prosaische Welt bemüht sich, diese
excentrischen Personen zu curiren, und am Prinzen gelingt die Cur zuletzt, er
wird „ein hoffnungsvoller junger Mensch". — Auch hier werden wir an Fichte
erinnert. Der Philosoph weist nach, daß die Menschen, in denen die Idee
zuerst zum Durchbruch kommt, der Welt als Thoren und Schwärmer erscheinen
müssen; aber während er die Schwärmerei nur als eine krankhafte Uebergangs¬
periode betrachtet, bleibt der Dichter bei diesem Zustand der Willkür stehen und
feiert den Wahnsinn als das Ziel der Poesie. ,
Für den Inhalt der Schwärmereien bot sich nun der transscendentale
Idealismus, welcher der öffentlichen Meinung spottete und das sogenannte Ge¬
setz der Wirklichkeit in Frage stellte, als eine bequeme Handhabe. Schon im
„Blaubart" hatte der verrückte Philosoph Simon seinen Mitspielern durch An¬
spielungen aus der Wissenschaftslehre imponirt; in dem gegenwärtigen Strick
wetteifern Hanswurst, Zerbino und der schwachsinnige alte König, die Wirk¬
lichkeit in das Reich' der Ideale oder der Träume aufzulösen. Was dem Philo¬
sophen heiliger Ernst ist, wendet der Dichter als phantastischen Spuk an, um
die Philister zu ärgern; im Grunde denkt er über die metaphysischen Abstrac-
tionen grade so, wie die Aufklärer, die er verspottet.
Nun genügt es aber dem Dichter keineswegs, die Uebergangsstufe aus der
gemeinen Wirklichkeit zum Ideal zu schildern, er vertieft sich in das innere
Heiligthum der Poesie; theils stellt er die Romantik dadurch dar, daß er Weise
und Thoren durch Zauberspuk in die tollste Verwirrung bringt, wie im
„Sommernachtstraum" u. s. w.; theils bringt er eine Reihe poetischer Schäfer
an, die grade soviel Raum einnehmen, als die prosaischen Figuren, die in
Reimen zueinander sprechen, Liebe empfinden und Lieder aus die Sehnsucht
singen. Wäre nun Sentimentalität gleichbedeutend mit Poesie, so wären wir
hier im reinsten Wunderland der Ideale; allein da diese Schäfer mit ihren
Declamationen über die Waldeinsamkeit, über die Vöglein und Blumen u. s. w-
nicht die geringste Bewegung und keine Spur von Leben zeigen, so merken wir
sehr bald, daß wir uns in — „Erwin und Elmire" befinden, nur daß Tieck
breit und massenhaft ausführt, was Goethe leise und zart andeutet. Einzelne
Lieder, die diese Schäfer in Nocococostüm an den Mann bringen, z. B. „Feld-
einwärts flog ein Vögelein", „Komme, Trost der Nacht, o Nachtigall", „der
frische Morgenwind" u. s. w., in denen Reminiscenzen an deutsche Volkslieder
durchklingen, haben eine recht schöne Melodie; allein im Ganzen wird matt
doch durch das beständige stofflose Schmachten, Trachten, Thränen, Sehnen
u. s. w., kurz durch die leere Empfindelei ermüdet. — Der höchste Gipfel der
Poesie eröffnet sich, als Zerbino und sein Bedienter Nestor auf der Reije zum
guten Geschmack in den Garten der Poesie kommen. Wer sich demselben
nähert, fängt sofort an in Versen zu sprechen. In dem Garten wandeln die
Schatten der abgeschiedenen Dichter in müßigen Unterredungen; sie setzen dem
einfältigen Nestor, dem modernen Sancho Pansa, die höhern Mysterien der
Kunst auseinander, z. B. daß die katholische Religion etwas Erhabenes ist,
daß der Protestant gegen alles Gute protestirt, namentlich gegen die Poesie,
und daß jetzt eine erbärmliche Zeit auf Erden sein muß. Man erfährt, wer
ein wahrer Dichter gewesen ist und wer nicht; zu den erster» gehört z. B. Jakob
Böhme. Nun mag man in diesen Ansichten dem Dichter beipflichten oder nicht,
jedenfalls hat man doch wieder nichts Anderes vor sich, als verhaltene Recen¬
sionen. Der Dichter hat das auch selbst gefühlt, und um die Poesie seiner
Schäfer, seiner Liebenden, seiner Waldbruder u. s. w. zu überbieten, etwas
Uebriges gethan.
Betritt den Garten, größte Wunder schauen
Holdselig ernst auf dich, o Wandrer, hin,
Gewaltge Lilien in der Luft, der lauen.
Und Töne wohnen in dem Kelche drin,
Es singt, kaum wirst du selber dir vertrauen.
So Baum wie Blume fesselt deinen Sinn,
Die Farbe klingt, die Form ertönt, jedwede
Hat nach der Form und Farbe Zung und Rede.Was neidisch sonst der Götter Schluß getrennet,
Hat Göttin Phantasie allhier vereint,
So daß der Klang hier seine Farbe kennet,
Durch jedes Blatt die süße Stimme scheint,
Sich Farbe, Duft, Gesang, Geschwister nennet,
Umschlungen all sind alle nur Ein Freund,
In feiger Poesie so fest verbündet,
Daß jeder in dem Freund sich selber findet.Und sowie Farb und Blume anders klingen
Nach seiner Art in eignen Melodien,
Daß Glanz und Glanz und Ton zusammen dringen
Und brüderlich in einem Wohllaut blühn,
So sieht man auch, wenn die Poeten singen,
Gar manches Lied im Schimmer fröhlich ziehn:
Jedwedes fliegt in Farben seiner Weise
Ein Luftbild in dem goldenen Geleise.
Wie es hier der Schäfer im Prolog andeutet, so geschieht es. Zuerst
fängt der Wald an zu reden, dann die Rosen, Lilien in., die Vögel, das
Himmelblau, die Harfe, die Flöte, welche unter andern die Bemerkung macht:
„Unser Geist ist himmelblau, führet dich in blaue Ferne ;c.", bis endlich Nestor
dem Waldhorn den Mund stopft, weil es sich schon im Sternbold laut genug
ausgesprochen, dann redet die Quelle, der Bergstrom, der Sturm in., kurz
es ist ein pantheistisches Zittern der ganzen Natur, die sich abquält, Sprache
und Gestalt zu gewinnen, da doch diese Gabe eigentlich nur dem Menschen
von den Göttern gegeben ist.
Tieck thut sich viel darauf zu gut, daß er die Sprache des Wassers, der
Blumen, der Berge und andrer Naturgegenstände nachsinge, die dem prosaischen
Gemüth verschlossen bleibt. Allein in die Blumen, Sterne und Wasserfälle aller¬
lei artige Gedanken zu verlegen, ist für den Dichter nicht schwer, denn sie
können ihm nicht widersprechen und will es nicht stimmen, so hat er nur
gescherzt. Wenn man allgemeine philosophische Ansichten über dies und jenes
aussprechen will, so möge man es in eigner Person thun; der Werth dieser
Ansichten wird dadurch nicht erhöht, daß man sie einer Rose oder Heuschrecke
in den Mund legt. Viel schwerer ist es, das wirkliche Leben der kleinen
Natur sinnig zu belauschen und in individueller Gestaltung wiederzugeben,
so daß es anschaulich in unsrer Phantasie aufgeht. Das Auge für das Klein¬
leben, welches manche unsrer neuern Dichter, z. B. Adalbert Stifter, in hohem
Grade ausgebildet haben, fehlt Tieck und den übriger» Romantikern fast gänz¬
lich. Eine sentimentale Blumensprache ist am wenigsten geeignet, uns in das
verborgene Wirken der Natur einzuführen. Die Romantiker bewegen sich nur
in Abstraktionen und in allgemein gehaltenen Empfindungen, wo die concrete
Natur anfängt, hört ihre Kunst auf. Es ist nicht Liebe zum Leben, nicht der
mächtige Trieb, auch das seelenlose in seiner innern Berechtigung anzuschauen,
was sie zur Natur treibt, sondern nur die Flucht vor der Bestimmtheit überhaupt.
Die seelenlose Natur erlaubt die Tändelei, aber ein menschliches Herz so zu
zeichnen, daß es uns in lebendiger Individualität entgegentritt und uns
zum Verständniß zwingt, das erfordert wirkliche Gestaltungskraft und weil diese
unsern Romantikern abging, haben sie sich zu Aposteln der Elemente gemacht.
Wie ihre Freunde, die Naturphilosophen, haben sie die Gebilde der Natur zu
artigen Hieroglyphen ausgeschnitzt. Man hat sich solange damit abgequält,
den Sinn derselben zu enträthseln, bis man es endlich merkte, daß man es
lediglich mit Arabesken zu thun habe.
Im Garten der Poesie entschlüpft nun der Göttin eine unbedachte Aeuße¬
rung, durch welche uns unerwartet ein Licht darüber aufgeht, wo wir uns
eigentlich befinden, als sich Nestor nämlich darüber wundert, daß er in diesem
heiligen Hain keine Raupen sieht: „kein Ungeziefer naht dem heiligen Wohn¬
sitz". Dieser Garren ist uns bereits bekannt: Goethe hat ihn im Triumph
der Empfindsamkeit sehr ausführlich geschildert. Es ist eine nachgemachte
Natur. Die Blumen sind aus Seidenstoff, der Wald aus Fransen, der Mond-
schein ist eine rothe Lampe und die Göttin, die in der Mitte sitzt, eine aus¬
gestopfte Figur, deren Inneres mit Werther, Siegewart und andern Empfind¬
samkeiten gefüllt ist.
Der Garten der Poesie ist ebenso philisterhaft eingerichtet, als die profane
Gesellschaft, gegen die er sich abschließt und sein Inhalt, seine Interessen sind
noch viel leerer und gemachter, als die Interessen, deren er spottet. Jeder
Idealismus, der sich von den allgemeinen Interessen trennt, führt zur Coterie,
und die schlechteste Art der Coterie entsteht, wenn die sogenannten schönen
Seelen sich von der Welt isoliren und sich mit ihren Inspirationen und Weis¬
sagungen nur aufeinander beziehen. Zuletzt merkt der Dichter selbst, daß es mit
dieser poetischen Welt auch nicht viel auf sich hat, er läßt sie also gleichfalls
fallen und es bleibt eine ziemlich unbehagliche Weltironie übrig, die allen
Gegenstand verloren hat.
Was das Verdienst Vaubans ausmacht und seinen Ruf begründet hat,
ist nicht nur die Ausbildung des bastionären Befestigungssystems zu einem für
die betreffende Zeit hohen Grade von Vollkommenheit, sondern zugleich die
Angabe des entscheidendsten Mittels für den Angreifer, um die Artillerie der
Festung zu vernichten. Er war der erste, welcher zu dem Schluß gelangte, daß
eine auf dem Wallgange einer Festung entwickelte Geschützmasse, außer von
der Fronte her, inmittelst sicherer Zielschüsse durch die Scharten (Demontirfeuer)
noch in andrer Weise, nämlich vermöge des Bogenschusses von einem in der
Verlängerung der Aufstellungslinie gelegenem Punkte aus (Ricochetfeuer) zer¬
stört werden könne. Diese hochwichtige Entdeckung that der Widerstandsfähig¬
keit der Festungen einen weit entschiedeneren Abbruch, als alle spätern Er¬
findungen im Artilleriewesen im Stande gewesen sind. Es war dabei von sehr
entscheidender Bedeutung, daß die Nicochetbatterien bereits auf weite Ent¬
fernung (schon zu Vaubans Zeit zwischen 700 und -1000 Schritt) errichtet
werden konnten und zwar bestimmte sie dieser Umstand zu der Rolle, den Zer¬
störungsact der Belagerung einzuleiten.
Hätte die Vertheidigung, gegenüber den die Walllinie der Länge nach
bestrcichenden Nicochetbatterien auf jede Gegenmaßregel verzichtet, so würden
die behufs des frontalen Widerstandes entwickelten Geschütze wenige Stunden,
nachdem der Angriff sein Feuer eröffnet, zertrümmert worden sein, wie denn
dies auch thatsächlich bei den ersten Plätzen, gegen welche Vauban sein neues
Verfahren anwendete, geschah, und zwar ging die Zerstörung dabei in der Weise
vor sich, daß die Kugeln des Angreifers den Höhenpunkt ihrer Bogenlinie dicht
über dem die Geschützreihe deckenden Brustwehrtheil der Nebenlinie erreichten
und hiernach, auf dem Wallgang aufschlagend, in weiterer Verfolgung ihres
Weges die Lafetten zertrümmerten, auf welche sie trafen. Die untenstehende
Skizze, eine Geschützaufstellung von hinten gesehen darstellend, wird die Sache
verdeutlichen.
Es war sofort klar, daß, um eine unbedeckte, auf dem Wallgange und hinter
Scharten stehende Geschützlinie gegen die Wirkung des Ricochetfeuers zu sichern,
ein andres Mittel vorhanden sei, als das, zwischen je zwei oder drei Artilleriestü¬
cken Traversen d. h. mit Rasen oder Schanzkörben bekleidete Erdauswürfe zu errich¬
ten, deren Bestimmung es war, als Kugelsang zu dienen. Daß man denselben
eine ausreichende Stärke, d. h. von mindestens zwölf Fuß, um nicht von
Kugeln durchbohrt oder schnell abgekämmt zu werden und eine ausreichende
Höhe, welche die der Brustwehr um etwa zwei Fuß übersteigt, damit sie
auch gegen den höhern Bogenschuß („Bogenwurf") der Haubitze schützen, geben
muß, versteht sich von selbst.
Da die Nicochetbatterien, vermöge ihrer Bestimmung, verschieden gerich¬
tete Walllinien zu bestreichen, in jedem Falle ziemlich weit auseinander gelegen
sein werden, so liegt die Gefahr nahe, daß der Feind, wenn keine weitern
Vorkehrungen getroffen würden, sie entweder auf einem der äußersten Flügel
umgehen oder zwischen ihnen hindurchbrechen könnte, um sie in der Kehle,
d. l). von der offenen Rückseite her anzugreifen. Um dies zu verhindern ist
es nicht nur unerläßlich, daß sie durch eine zusammenhängende Vertheidigungs¬
linie, welche diese Zwischenräume schließt, untereinander verbunden, sondern
daß dieselbe auch über beide Flügel hinaus bis zu einer Anlehnung oder einem
Terraingegenstand, welcher die Umgehung verhindert, fortgeführt werde. Wenn
sich ein solcher auf einem oder beiden Flügeln nicht vorfindet, schwenkt man
die Vertheidigungölinie, welche man, weil sie der Festung ziemlich gleichweit ab
bleibt, eine Parallele und in Bezug darauf, daß sie die erste ist, die erste
Parallele nennt, zu einem zurückgebogenen Haken oder legt auf dem bedrohten
Punkte eine oder mehre Schanzen an.
Die Errichtung dieser ersten Parallele, die ihrer Natur nach wesentlich defen¬
siv ist, während die Batterien offensiv sind, ist eine der wichtigsten Operationen
der Belagerung. Sie bezeichnet zugleich deren eigentlichen Beginn und scheidet
die Vorbereitungen zum Angriff von dessen eigentlicher Ausführung. In tech-
nischer Hinsicht ist zu erwähnen, daß die (erste) Parallele nicht im engern
Sinne in die Kategorie der Verschanzungen hinein gehört, indem sie eines wichti¬
gen fortiftcatorischen Elements des Hindernisses ermangelt und dagegen nur drei
Functionen übernimmt, nämlich zunächst die, der Infanterie des Belagerers,
welche die Batterien zu decken hat, zwischen diesen eine schußfeste Position
darzubieten; sodann ihr eine Aufstellung behufs der Abgabe ihres Feuers gegen
den aus der Festung ausfallenden Feind zu gewähren und endlich eine gedeckte
und bequeme Verbindung zwischen den Angriffsbatterien zu sichern. In dieser
Hinsicht ist sie Deckungsmittel, Feuerposition und Communication; — nicht
Hinbernißlinie. Man führt sie dieser Bestimmung entsprechend aus, indem
man einen Graben, dessen Erdaufwurf nach der feindlichen Seite hin zu einer
Deckung formirt wird, soweit austiefe, bis er dem darinstehenden Soldaten
einen ausreichenden Schutz gegen das Feuer der Festung gewährt und ihn so
breit macht, daß mindestens ein schweres Geschütz sich aus seiner Sohle be¬
wegen kann. Um schneller Deckung zu gewinnen, die der Graben an und sür
sich erst darbieten würde, nachdem er sechs bis sieben Fuß tief ausgeschachtet
worden wäre, bedient man sich der Schanzkörbe d. h. aus Strauchwerk ge¬
flochtener, drei Fuß hoher und anderthalb Fuß im Durchmesser haltender
Cylinder, welche man aus dem äußern (feindwärtigen) Grabenrande aufstellt,
um sie zunächst mit dem Boden anzufüllen; wonach bereits eine Grabentiefe
von drei Fuß Deckung gewährt wird.
Der Zwischenraum, welchen man zwischen Korb und Graben stehen läßt,
dient für die feuernde Infanterie als Fußbank. Er heißt Berne. Die erste
Parallele ist in der Regel zu weit von der Festung entfernt, um bereits in
ihrer Fronte die directen oder Demontirbatterien, deren Zweck es ist, die Schar¬
ten und hinter denselben die Geschütze von vorn her zu zerstören, anlegen zu
können; denn es handelt sich hierbei nicht um die bloße Auffindung der Ver¬
längerung einer Walllinie, welche auch aus weiter Entfernung her nicht schwer
ist, sondern um das genaue, sichere Treffen eines nicht allzugroßen Objectes.
Um diesen Zweck zu erreichen, wird man mindestens auf 300 Schritt, besser
auf ^00, sich dem Platze nähern müssen. Es verlangen die Demontirbatterien
mithin die Eroberung einer neuen Parallele oder den Angriff stützenden Ver¬
teidigungslinie, ein wenig diesseits von der Mitte der Entfernung der ersten
von der Festung. Der eingeführten erwähnten Bezeichnung gemäß nennt man
sie die zweite Parallele. Sie ist ganz wie die erste ausgeführt und zwar ge¬
langt man von dieser zu ihr durch Zickzacks (Zigzagö), welche auch Laufgräben
genannt werden und je nach Umständen entweder vor Ausführung der zweiten
Parallele hergestellt worden sind, oder wenn diese in überraschender („flüchtiger")
Weise zu Stande kam, mit ihr gleichzeitig angelegt worden sind.
Das Princip der Zickzacks (Zigzags, Laufgräben) ist leicht zu erfassen. Sie
sind wie gesagt nichts Anderes, als gedeckte Verbindungswege von einer Paral¬
lele zur andern und ebendeshalb Annäherungswege (Approchen) an die
Festung. Der allgemeine Name für Zickzacks und Parallelen ist Transchee
(Tranchve), was einen Einschnitt behufs der Deckung bedeutet. Wollte man
irgendeinen dieser Einschnitte, sei er Parallele oder Laufgraben (Zigzag) so diri-
giren, daß seine Verlängerung in den Vertheidigungskreis des Gegners fiele,
so würde dadurch dem Gegner die Möglichkeit gegeben, ähnlich wie der
Angriff gegen seine Walllinien verfahren, Batterien in dieser Verlängerung
anzulegen und den Einschnitt damit zu enfilüen d. h. der Länge nach zu be-
streichen. Es müssen daher alle Annäherungswege (Laufgräben), Approchen,
Communicationen, so dirigirt werden, daß ihre Verlängerungen nicht in den
Rayon des Platzes fallen d. h. den gedeckten Weg unberührt lassen, und
höchstens am Fuß des Glacis vorbeistreichen; je unternehmender der Feind ist,
desto weiter müssen die Annäherungsverlängerungen sich von ihm abhalten, denn
um so größer wird dann die Gefahr sein, daß er durch eine Gegenannäherung
nach seitwärts Raum im Vorterrain zu gewinnen suchen und eine improvistrte
Bestreichungsbatterie (Enfilirbätterie) gegen unseren Laufgraben herstellen wird.
Der feindliche Gegenannäherungsweg heißt in der Kunstsprache die Contreapproche.
Die Leser werden sich erinnern, daß die Russen sich häufig dieser Contre-
approchen gegen die Zickzacks der Verbündeten bedienten. Sie haben dadurch
wesentlich die enormen Verluste erzielt, welche letztere in ihren Laufgräben
erlitten. — Wenn man die Zickzacks (Approchen, Laufgräben) im feindlichen
Feuer und Schritt vor Schritt auszuführen hat, bedient man sich hierzu der
Sappe d. h. eines geregelten Arbeitsverfahrens, welches durch eine Zeichnung
am klarsten gemacht werden wird. Der Gedanke, welcher demselben zu Grunde
liegt, ist der, daß die avancirende Spitze des Laufgrabens im Vorrücken durch
allmälige Vertiefung und Verbreiterung der Transchee, Deckung zu gewin¬
nen habe.
Der Walz- oder Rollkorb hat die Bestimmung, den vordersten Arbeiter
gegen schräge Schüsse von vorn her zu decken.
Wenn man von der zweiten Parallele aus, die wie gesagt vom gedeckren
Wege der Festung noch um 4—300 Schritte entfernt ist, mit den Sappen-
spitzen die Mitte dieses Raumes erreicht hat, kann man nicht weiter approchiren,
bevor man seiner Infanterie nicht eine neue Position verschafft hat, von der
aus sie im Stande ist, die Annäherungen zu decken. Es würden sich deren
Töten nämlich anderenfalls dem gedeckten Wege des Feindes näher wie
der zweiten Parallele befinden, und der Belagerte mithin im Stande sein, in¬
dem er aus jener Position hervorbräche (einen Ausfall machte), die Angriffs¬
arbeiten eher zu erreichen, mithin sie zu zerstören, bevor die zu ihrer Vertheidi¬
gung in der gedachten Parallele bereit gehaltenen Truppen heranzukommen ver¬
möchten. Gleichwol kann man, um dieser Eventualität zu begegnen, keine
durchlaufende Parallele an dieser Stelle errichten, weil sie die Demontirbatterien
maskiren würde, welche ihr Zerstörungswerk noch nicht zu vollenden vermoch¬
ten. Statt ihrer führt man sogenannte halbe Parallelen aus, welche weite
Intervallen zwischen sich lassen, vermöge deren das Feuer der besagten Batterien
ungehindert fortgesetzt werden kann. In artilleristischer Hinsicht haben diese
neuen Positionen die Bestimmung, Haubitzbatterien aufzunehmen, denen eS
obliegt, die einzelnen Linien des bedeckten Weges zu bestreichen.
Wie aus dem Vorhergehenden erhellt, liegen die Halbparallelen auf einer
Entfernung von 200—230 Schritt von dem gedeckten Wege der Festung ab,
und es wird demnach, sobald die Sappentöten sich diesem bis zur Mitte jenes
Zwischenraumes (100—Iss Schritt) genähert haben, abermals der eben be¬
sprochene Fall eintreten: nämlich, daß die Angriffsarbeiten behufs des weiteren
Vorrückens einer Vertheidigungsposition bedürfen. Man führt sie als zu¬
sammenhängende Parallele aus und nennt sie die dritte. Rohrgeschütze (Kano¬
nen und Haubitzen) finden in ihr, weil sie im Verhältniß zu dem Niveau der
feindlichen Werke niedrig, am Fuß des Glacis zu liegen pflegt, kein Schußfeld
vor sich; weshalb man sie nur mit Mörserbatterien armirt, und außerdem mit
Schützen besetzt, die von hier aus kaum ihren Mann fehlen werden.
Mit der Errichtung der dritten Parallele pflegt das artilleristische Zer¬
störungswerk vollbracht zu sein. Die Ricochetbatterien (in der ersten Parallele)
hatten die Aufgabe, zunächst die Traversen abzukämmen, die Geschütze auf den
Wällen dadurch gegen die Längenbestreichung bloszulegen, und sie hiernach
entweder zu zerstören oder zu vertreiben. Wie sich von selbst versteht, wird
dies nicht ausnahmslos gelingen. Hinter besonders starken und dem Feuer
des Angriffs mehr entlegenen Traversen werden sich stets einige Stücke er¬
halten; auch steht es im freien Belieben des Festungövertheidigers, wenn er
seine Artillerie vor dem überlegenen Feuer der Ricochetbatterien zurückgezogen,
mit derselben plötzlich wieder auf dem Wallgang zu erscheinen. Solchen Vor¬
kommnissen entgegenzuarbeiten ist die Bestimmung der Demontirbatterien.
Sie sollen von der zweiten Parallele aus den Sieg der Angriffsartillerie voll¬
enden, der von der ersten her eingeleitet worden ist. In der Regel gelingt es,
wiewol nicht immer. In Hinsicht auf Sebaftopol ist zu bemerken, daß die
Verbündeten sich auffallend wenig der Ricochetbatterien bedient haben d. h.
meistens darauf verzichteten, die feindlichen Geschütze durch Längenbestreichung
zu zerstören, und sich wesentlich darauf beschränkten, directe d. h. Demontir¬
batterien zur Zerstörung der Geschütze und Scharten von vorn her in Wirk¬
samkeit zu setzen.
Beim weiteren Vorgehen von der dritten Parallele aus gegen die Festung
kann man sich der Zickzacksappen nicht mehr bedienen, weil man die Annähe¬
rungsverlängerungen nicht länger vom gedeckten Weg fern zu halten vermögen
würde. Man greift daher zur directen Sappe, die geradewegs auf das Object
zugeführt, indeß durch Traversen gegen die Längenbestreichung gedeckt wird.
Weil sie auf beiden Flanken durch eine Reihe von Sappenkörben (Schanz¬
körben) gedeckt werden muß, die doppelte Anzahl Sappeure, eine doppelte Töte
und zwei Rollkörbe verlangt, nennt man sie auch die doppelte Sappe. Man
dringt mit ihr vor, bis man die Höhe oder Tete des Glacis erreicht hat. Hier,
im dichtesten Gegenüber des gedeckten Weges, den der Feind zwar vor dem
Feuer des Angreifers geräumt haben wird, wo er aber jeden Augenblick wieder
erscheinen kann, bedarf es endlich einer vierten Verdauung oder Parallele,
welche zugleich den Zweck hat, zwei neue, noch nicht zur Anwendung gebrachte
Gattungen von Batterien aufzunehmen, diejenigen, welche das noch unversehrte
Geschütz auf den Flanken der Bastione zum Schweigen zu bringen haben und
andere, denen es obliegt, eine Sturmlücke in die Escarpe zu schießen. Erstere
nennt man Contrebatterien, letztere Breschebatterien. Man nennt diese vierte
Verdauung nicht Parallele, sondern die Krönung (Couronnement).
Das Terrain, welches der Angreifer mit seinen Annäherungen zu durch¬
laufen hat, um von der dritten Parallele aus bis zu der Stelle zu gelangen,
wo er die vierte Verdauung (Krönung, Couronnement) ausführt, ist insofern
ein unterschiedliches und ausnahmsweises, als es in der Regel unterminirt sein
wird. Der Grund, weshalb die Sphäre der Minen sich nicht weiter erstreckt,
ist der, daß es fast unmöglich ist, eine Minengalerie länger, wie hundert
Schritte zu führen, weil die Mittel fehlen, sie luftrein zu halten und den Uebel¬
ständen zu begegnen, welche die Entlegenheit des „Orts" (Minentete) von der
Basis hervorruft.
Daß die Vertheidigung aus den Minen bedeutende Vortheile zu ziehen
vermag, ist an sich einleuchtend. Durch aus Erschütterung der Sappen des
Angreifers abzielende unterirdische Erplösionen kann sie diese auf einzelnen
Punkten einstürzen; ja sie würde im Stande sein, die Bresche- und Contre¬
batterien, nach deren Armirung, in die Luft zu sprengen, wenn der Belagerer
bis dahin nicht das Defenstvminenshstem durch Gegenführung eines offensiven
zerstört hätte. In diesem Kampfe unter der Erdoberfläche sind die meisten Um¬
stände dem Angreifenden günstig. Er kann stärkere Ladungen für seine Erplo¬
sionen wählen, weil er eine oberirdisch werdende Wirkung (Trichter) nicht zu
scheuen hat, im Gegentheil dieselben als Logements für seine Schützen und
zu Erweiterungen seiner Sappen nutzen kann. Die Vertheidigung muß sich
dagegen stets nur auf schwache Ladungen beschränken und kann aus diesem
Grunde den Offensivminen gegenüber keinen anderen Zweck erstreben, als den,
diese zu quetschen.
In Ermangelung ausreichend schwerer Geschütze zum Brescheschießen
(man bedarf dazu mindestens langer Vierundzwanzigpfünder) kann man auch
von dem Errichten einer Breschebatterie Abstand nehmen und die Sturmlücke
durch Minen erzeugen; indeß setzt dies voraus, daß der Graben trocken sei
und erheischt an und für sich viel Arbeit. — Sobald die Breschebatterien
etablirt worden sind, verbleiben für den Ingenieur in der Regel nur zwei
Operationen auszuführen. Er hat der Infanterie eine gedeckte Communication
herzustellen, mittelst deren sie aus dem gedeckten Wege zur Grabensohle oder,
wenn der Graben naß ist, zu dessen Wasserspiegel gelangen kann, und des-
gleichen, in beiden Fällen, einen möglichst gegen das feindliche Feuer gedeckten
Grabenübergang vorzubereiten. Trockene Gräben passirt man mit der Sappe;
nasse auf Flossen, die auf der vom Nebenbnstion flankirten Seite Schulter¬
wehren, d. h. einen Wall bis zur Kopfhöhe des Mannes, erhalten. Hiernach
erfolgt die Bestreichung der Bresche.
Das Eindringen des Angreifers in die Sturmlücke entscheidet nur dann
über den Besitz der Festung, wenn dahinter kein Abschnitt vom Vertheidiger
aufgeführt worden ist. In neuerer Zeit ist letzteres zur Regel geworden, und
wenn nicht eine gleichzeitige Erschöpfung aller Mittel und Kräfte zur Ueber¬
gabe zwingt, wird man eine Kapitulation eine nicht ehrenhafte nennen, die
nach der ersten Bresche zu Stande käme. Bei der Gelegenheit erinnere ich an
das, was im zweiten Abschnitt dieses Aufsatzes über die Einrichtung der Festun¬
gen behufs der inneren Vertheidigung gesagt worden ist.
Was daraus werden mag? Ich meine blos aus dem Wetter. Die Natur
besinnt sich auf sich selbst, sie weiß nicht recht, was sie zunächst beginnen soll.
Sie sinnt und brütet und schwitzt — man merkts an der schwülen Luft. Da
droben stehen die Wolken still und blicken schläfrig zur Erde; der Wind hält
den Athem an, brennt vor Ungeduld und lauscht — Regen? Gewitter? Sturm?
Die Natur besinnt sich noch, die Bäume zucken die Achseln......
Wir haben Mitte August; das ist aus Norderney die Zeit der Vollsaison.
Vor all den Häusern und Häuschen, die so zierlich und sauber aus den
Blumen- und Fruchtgärtchen Hervorscheinen, sind Zeltdächer von grauer Lein¬
wand ausgespannt; ein Zeichen, daß die Zimmer des Hauses besetzt sind; auf
den rothen Steinpsaden, die an den Sandstraßen hingehen und in den Bos-
quets beim Conversalionöhause ist ein reges Treiben. Herren und Damen in
bequemen Badecostümen machen dort ihre Mvrgenpromenade; über den Rücken
der Damen, die eben vom Bade kommen, aus das weiße umgeknüpftc Tuch
herab hangen schwer die Fluten feuchter Haare. Vor dem Conversationshause
spielt die Musik und die numerirten Kellner sorgen unter der Säulenhalle
für die Bedürfnisse des Theiles der Badegesellschaft, dem nach Gegenständen
gelüstet von mehr consistenter Natur als Lust und Musik und Meeresrauschen.
Die Insulaner haben böse Tage in dieser Zeit. Während die fremden
Gäste dem vergnüglichsten Dolcefarniente sich hingeben und wahrlich soviel
Mit Nichtsthun zu thun haben, daß ihnen keine Zeit mehr übrig bleibt noch
etwas Andres zu thun; derweil die Sonne ihre schärfsten Pfeile versendet und
jeder Luftzug, als fürchte er sich vor den brennenden Geschossen, den Athem
anhält, sind die Jnseleinwohner lauter Unruhe und Geschäftigkeit, lauter Sorge
und Arbeit, um den vielseitigen Bedürfnissen der Badegäste gerecht zu werden;
und mancher ehrliche Norderneyer, mancher redliche Seewolf wünscht die Fremd¬
linge, die alljährlich zur Mittsommerzeit seine Insel überströmen, mit einem
kräftigen Fluche in das Land, wo der Pfeffer wächst.
Es ist sonderbar; der Norderneyer selbst hat keinen Glauben an die Heil¬
kraft des Seebades, und es fällt ihm nicht ein, der Gesundheit wegen oder
auch nur zur Annehmlichkeit sich in die Flut zu tauchen.
Der Raum zwischen dem Festland« und der Insel heißt das Watt; eine
trübe einförmige Wasserfläche, mäßig bewegt, ohne eigentlichen Wellenschlag.
Zur Zeit der Ebbe kann man zu Wagen Hindurchsahren. Gewöhnlich bringt
indessen ein Schiff die Badegäste herüber. Wenn das Segelboot oder
Dampfschiff sich dem feuchtblitzenden Strande bis auf hundert Schritt ge¬
nähert hat, nimmt ein Leiterwagen die Passagiere auf. Am Landungsplatze
werden die neuen Ankömmlinge von den Badegästen begrüßt und kritistrt;
hinter dem Conversationshause verläßt man wohl durchgeschüttelt die Leiter¬
wagen, um sich eine Wohnung auszusuchen.
Das saubere Jnseldorf, aus der Südwestseite des Eilandes gelegen, zählt
206 Wohnhäuser, alle sehr reinlich von rothen Backsteinen auferbaut, die im
Innern ziemlich gleichartig und sehr einfach eingerichtet sind. Während der
Badezeit ziehen sich die Insulaner in die Küche des Hauses zurück, und ver-
miethen die vorderen Räume an Fremde.
Bekanntlich gilt Lichtenberg als der Erfinder des Gedankens, am deutschen
Nordseestrande eine Badeanstalt zu begründen. Er war es, der im Jahre
1793 zuerst öffentlich anfragte, weshalb Deutschland noch kein Nordseebad be¬
sitze? Dies war gleich nach seiner Rückkehr aus England; der geistreiche
Commentator Hogarths hatte dort wohleingerichtete, vielbesuchte Seebäder
gefunden und er that durch Schrift und Wort das Seinige, in Deutschland
die Begründung ähnlicher Heilanstalten zu veranlassen. Indessen war ein
Jnselbewohner, der Pastor Janus auf der Insel Juist, der nie in England
gewesen und schwerlich jemals davon gehört, daß dort bereits Seebadeanstalten
beständen, schon früher als Lichtenberg für die Begründung eines deutschen
Seebades thätig gewesen. Zehn Jahre vor Lichtenberg hatte dieser Geistliche,
im Jahre -1782, eine Borstellung an die ostfriesische Provinzialregierung gerich¬
tet, worin er seine praktischen Beobachtungen und Erfahrungen niedergelegt hatte
und auf Grund derselben die Einrichtung einer Seebadeanstalt in Vorschlag
brachte. Aber der wohlwollende Prediger hatte seinen Antrag zu gründlich
motivirt. In der Begeisterung sür die Ausführung seines Planes hatte er
alles Mögliche zu Gunsten seines Projects angeführt und unter andern auch
die Seekrankheit, welche die Badegäste aus der Reise vom Festlande nach der
Insel befallen werde, als besonderes Motiv für die Einrichtung eines See¬
bades auf Juist hingestellt. Das ward nun von den zugezogenen Medicinern
sehr übel aufgenommen, und vielleicht war es dieser Punkt, der seinem ganzen
Project den Hals brach. Die Gutachten der Aerzte sprachen sich ungünstig
aus: „Man wisse nichts von solchen Neuerungen, und was das durch die
Ueberfahrt zu erregende Erbrechen betreffe, so möge das viele von der Reise
abschrecken, da solches bequemer und wohlfeiler zu Hause verursacht werden
könne." Die Angelegenheit wurde einstweilen zur Seite gelegt, und erst im
Jahre 1797 wieder aufgenommen, wo denn die Provinzialregierung die An¬
legung des Seebades auf der Insel Norderney beschloß und in Ausführung
brachte. Seit dem Jahre -18-19 hat die hannoversche Regierung das Bad
übernommen. Norderney ist seitdem unter den Nordseebädern wol das erste
durch seine natürlichen Vorzüge und durch die solide und bequeme Einrich¬
tung seiner Anstalten.
Die Erkenntniß der allgemeinen Verhältnisse, welche den Krieg in der
Krim beherrschen, ist allenthalben —nur nicht, wie es scheint, in Paris und
im Kriegsrath des Generals Pelissier — soweit gelangt, daß bereits in den
Massen des Publicums die Ansicht feststeht, wie es nur einen erfolgreichen
Operationsplan für die alliirte Armee gibt; — daß es zufolge desselben dar¬
auf ankommt, eine Massenconcentrirung aller englisch-französisch-türkisch-
sardinischen Streitkräfte zu Eupatoria auszuführen und zwar so schnell wie
möglich, denn die Tage, in denen man auf diesen Punkt gestützt operiren
kann, sind gezählt und werden vielleicht schon in der zweiten Hälfte des Sep¬
tember, wenn die Stürme, welche zur Zeit der Nachtgleichen den Pontus auf¬
wühlen und die offene Rhede von Kosloff (Eupatoria) für eine Flotte un¬
haltbar machen, beginnen, ihr Ende erreichen; — daß ferner es eine Rücksicht
zweiter Bedeutung ist, ob man bei dieser Concentrirung den Belagerungstrain
(Park) vor der angegriffenen Festung retten kann oder nicht, denn aufgegeben,
wird er später dennoch, sammt Sebastopol, in die Hände der Verbündeten
fallen, wenn dieselben im Vormarsch von Eupatoria auf Simpheropol oder
Baktschi Serai das Geschick des Feldzuges siegreich im Felde entschieden haben
werden.
So klar, nun dies alles immerhin auch ist, und wiewenig Zweifel dar¬
über bestehen mögen, daß die große Aufgabe ungelöst bleiben wird, wenn
man, anstatt jenen großartigen Weg der schnellen und radicalen Entscheidung
zu betreten, auf dem alten, längst verurtheilten des unmittelbaren Angriffs
gegen die Festung verharrt, so weisen nichtsdestoweniger alle Maßregeln, die
man treffen sieht, daraus hin, daß letzteres geschehen wird. Nicht nur wird,
wie ich höre, im Gegensatz zur Feldmunition namentlich Schießbedarf für die
schwere Belagerungsartillerie in Toulon und Marseille eingeschifft, sondern
man hat auch bereits mit dem Verkauf eines großen Theiles der mit bedeu¬
tenden Kosten beschafften Packpferde, ohne welche ins Innere greifende Ope¬
rationen nicht ausführbar sind, begonnen, und hat desgleichen die meisten
Ochsenwagen, die man zu dem Zwecke zusammengebracht hatte, um sie zur Formi-
rung von Verpflegungscolonucn für die Operationsarmee zu benutzen, aus
Kamiesch nach Sinope schaffen lassen. Es sind dies Kennzeichen, die kaum
trügen können. Die verbündete Armee wird also vor Sebastopol, aus dem
schmalen Terrain zwischen Jnkerman, Balaklava und Kamiesch aushalten; sie
wird die Belagerung, wenn man das so nennen kann, weiter führen und
wird, wenn sie im Verlauf der nächsten Monate nicht irgendeine große Kata¬
strophe, wie der Ausbruch der Pest oder der Typhusepidemie ereilt, einen neuen
Winter unter den Wällen des Platzes zubringen. Am Schluß dieses Monats,
von 150,000 Mann, welche sie heute zählt, auf 180,000 M. verstärkt, wird
sie mitten im Winter höchst wahrscheinlich ihren gegenwärtigen Stand noch
nicht erreichen und im Frühjahr — doch was dann geschehen wird, vermag
niemand zu ahnen.
Ihren Lesern wird nicht entgangen sein, daß in der neulich in Paris er¬
schienenen Broschüre polnischen Ursprungs der nämliche Plan sich entwickelt
findet, von dem ich oben schrieb, nur mit dem Unterschiede, daß dem General
Pelissier die Rolle zugetheilt wurde, mit 30,000 Mann vor der Festung zurück
zu bleiben, um diese im Zaum zu halten und den Artilleriepark zu wahren,
während das Hauptheer, in Stärke von 140,000 Mann, von Eupatoria aus
verbrechen sollte. Mir war es von einem bedeutenden Gewicht, aus einer
Bemerkung zu entnehmen, daß diese Dispositionen auch die Billigung der
Kritik des Herrn von Mieroslawski haben würden, eines Mannes nämlich,
dessen Ansehen als bedeutende, militärische Autorität es nur wenig Ab¬
bruch zu thun vermag, daß er mit seinen Plänen in Polen, Baden und
Sicilien scheiterte. Aber ich kann nichtsdestoweniger die erwähnte Verkei¬
lung der Kräfte nicht gut heißen. > Es hat offenbar keinen rechten Sinn,
sich, lediglich um etwa 1000 schwere Feuerschlünde zu wahren, die, im
Fall alles bei Simpheropol zur Entscheidung kommend, kaum noch in Thä¬
tigkeit kommen würden, der Mitwirkung von S0,000 Mann, oder falls man
Kamiesch besetzt hält, von mindestens 30,000 Mann, behufs jenes großen
Schlages zu entheben. Mit anderen Worten heißt das soviel als: jemehr
Truppen man bei Eupatoria zu concentriren vermag, desto besser. Vielleicht
daß eben in jenen 30,000 Mann der Kraftzuwachs ausgesprochen ist, welchen
die Umwälzung der Entscheidung, Abschneiden, Schlagen und Gefangennahme
der russischen Armee erheischen.
— In den letzten Tagen kreuzten sich mehr
wie jemals vielleicht abenteuerliche Gerüchte in Pera und fanden, wiewol sie unter¬
einander im Widerspruch standen, Glauben, nicht nur an der Börse, sondern anch
in anderen Kreisen. Das Verbot der östreichischen, im eignen k. k. Gebiet anßer
Cours gesetzten Kupferkreuzer als Scheidemünze, und der Beschluß der Pforte,
türkische Fünf-, Zehn-, und Zwanzigperastücke vom Realwerthe in ausreichender
Menge prägen zu lassen, führte dunkle und unklare Köpfe auf die Vermuthung:
die Beziehungen zwischen Oestreich und dem Divan könnten sich getrübt haben.
Von gut unterrichteter Seite erfahre ich dagegen, wie in diesen Beziehungen durch¬
aus keine Veränderung eingetreten sei, und daß man lediglich einen kleinen Zwischen-
fall zu beklagen habe, der sich am Tage ereignete, wo der Beschluß rücksichtlich der
Kupfermünzen getroffen wurde, der indeß an sich ohne alle Bedeutung ist. Baron
Koller, der hiesige k. k. Geschäftsträger und Jntcruuntius, hielt es für angemessen,
dem bezüglichen Medschliss (Divanberathung) in Person anzuwohnen, wogegen der
Grvßvezier ihm höflich und in aller Form vorstellte, daß die zu verhandelnde An¬
gelegenheit eine rein innere sei, und um deswillen die Einmischung eines aus¬
wärtigen Repräsentanten durchaus nicht gestatte. Der östreichische Diplomat soll
hiervon empfindlich berührt worden sein, indeß ist es klar, auf wessen Seite sich
das Recht befindet, und es kann kaum einem Zweifel unterworfen werden, daß man
in Wien den richtigen Takt besitzen wird, in dieser Angelegenheit durchaus keine
weiteren Schritte zu thun.
Unter solchen Umständen hat es mir um so befremdender geschienen, daß man in den
letzten Tagen von gewissen Vibrationen in der ministeriellen Sphäre und dem un¬
erwarteten Schwanken des Großvcziers (Aali Pascha) und des Seriaskers (Mchem-
med Nuscbdi Pascha) hörte. Ich sehe diese Gerüchte vorerst nur als solche an, und
bin der Ansicht, daß sich in denselben die Wünsche einer Coterie von Emigranten
aussprachen, denen nichts erwünschter kommen würde, wie ein Bruch der Pforte
mit Oestreich.
Von Omer Pascha heißt es, daß er dennoch entschieden als eine gesunkene
Größe angesehen werden müsse. Man wollte neuerdings von seiner definitiven Er¬
nennung zum Scriaskcr für Anadoli wissen, indeß ist man wol bis jetzt noch nicht
soweit. Vom Sultan bekam der Serdar Ekräm neulich zwei äußerst bedeutende
Geschenke: eine Summe von dreitausend Beuteln (ein jeder Beutel zu fünfhundert
Piaster) und ein großes Tschiftalik aus dem Nachlasse von Chosrew Pascha, welcher,
wie Ihnen wol erinnerlich, der Krone anheim fiel. Man sieht Omer Pascha nur
ausnehmend selten, anch auf dem türkischen Kriegsministerium erscheint er jetzt nicht
mehr so häufig, wie noch vor kurzem. Als seinen Nachfolger nennt man den Müschir
Achmed Pascha, von dem ich Ihnen im letzten Winter ein Porträt entwarf.
Letzterer weilt bis zur Stunde hier, und hat seine Residenz in einem ihm zu¬
gehörigen Konak auf dem asiatischen Ufer des Bosporus genommen.
— Der Serdar Ekräm, Omer Pascha, welcher immer
noch- hier verweilt und dessen Aufenthalt sich noch auf längere Zeit ausdehnen
dürfte, hatte bei seiner Ankunft in Stambul nicht, wie ich voraussetzte, den großen
Konak bezogen, welchen er im eigentlichen Konstantinopel nahe am Ausgangspunkte
der, von Galata aus über das goldene Horn führenden sogenannten neuen Brücke
besitzt, weil das genannte türkische Palais seit einer Reihe von Jahren schon un¬
bewohnt geblieben, mithin uneingerichtet ist, sondern hatte ein Anerbieten Mehem-
med Ruschdi Paschas, des Seriaskers (Kriegsministers), angenommen, der ihm sein
großes, freilich nur türkisch garnirtes Haus, welches er im reizend gelegenen Dorfe
'Kadikoj, auf dem asiatischen Ufer, besitzt, einräumte. Ich bemerke dies ausdrücklich,
weil mir daraus hervorzugehen scheint, daß die alte Feindschaft zwischen diesen
beiden bedeutenden Männern im osmanischen Staate, und die jetzt eben das ganze
Heerwesen in ihren Händen halten, sich ausgeglichen hat. Die Annäherung geschah
vielleicht am entschiedensten von Seite Omer Paschas, der, wie man nicht mehr
verkennen kann, mit der französischen Partei und deren Vertretern sich durchaus
überwerfen hat, und auch zur englischen wol nicht mehr die Beziehungen unterhält,
wie früher. Da ich keine persönlichen Berührungen, weder mit dem Seriasker noch
mit dem Serdar Ekräm habe, im Gegentheil mein Urtheil nur nach dem feststelle,
was ich über beide höre, so mag dasselbe leicht einem Irrthum unterworfen sein:
indeß bin ich der Ansicht, dies Mal nicht zu irren. Bemerkenswerth ist es, daß
Achmed Pascha, der Admiral der türkischen Seemacht im schwarzen Meer, unver¬
kennbar das Bestreben zeigt, mit Omer und Mehemmed Ruschdi ein Trio zu for¬
mtreu, aus dessen Schoße alsdann die Leitung der Angelegenheiten ihren Impuls
empfangen würde. Unzweifelhaft ist es, daß in diesen drei Männern sich augen¬
blicklich alles concentrirt, was in der Türkei von Selbstständigkeit und freier, be¬
wußter Action vorhanden ist. Aus ihrem engen Kreise beginnt eine Opposition
sich zu erheben, die zunächst wol nur bemüht ist, das zurückzugewinnen, was dem
osmanischen Reiche an der Macht zu unbeengten Entschließungen verloren gegan¬
gen ist.
Es wäre ein großer Irrthum, wenn man annehmen wollte, Oestreich habe
mit der Stellung der drei Männer irgendetwas gemein oder bei ihren Strebungen
seine Hand mit im Spiele. Eine solche Vermuthung läßt sich zu allererst nicht mit
den Persönlichkeiten, die hier in Rede stehen und die, soviel mir bekannt, zu keiner
Zeit eine Hinneigung zu der Politik des großen „Donaureiches" bekundeten, in
Verbindung bringen. Sodann widerstrebt die ganze Annahme der Zeitströmung —
hierunter das Gefühl verstanden, welches in den Massen ist und von dem deren
Leiter stets mehr oder weniger abhängig sind. Sie dürfen es für gewiß annehmen,
daß in jüngster Zeit hier keine Macht mehr an politischem Einfluß und Ansehen,
— von Sympathie gar nicht zu reden — eingebüßt hat, wie eben Oestreich und
daß für die nähere Zukunft der größere Theil des gehabten Verlustes unwieder¬
bringlich verloren sein dürfte. Wenn der viclgefeierte Herr von Brück während
seines hiesigen Wirkens einiges beigetragen hat, um die Stellung des wiener Hofes
der Pforte gegenüber imposanter zu machen, so läßt sich nicht leugnen, daß er nach¬
träglich durch den Umschlag, welchen er in der östreichischen Politik hervorrief, die
zehnfache Einbuße veranlaßt hat.
Von dem hiesigen Wirken der östreichischen Diplomatie hört man neuerdings
nicht viel, oder richtiger zu sagen, ich befinde mich nicht in der Lage, darüber
Auskunft zu geben, weil mir die Möglichkeit fehlt, bestimmte Nachrichten einzu¬
ziehen. Im englischen Sommerpalais zu Therapia scheint die Verstimmung vorzu-
herrschen. Lord Redcliffe kommt meistens sehr düster aus seinen Geschäftszimmern
zu Tisch und redet bei Tafel kaum ein Wort mehr. Von Monsieur Thouvenel
weiß ich gar nichts zu sagen. Natürlich hatten die hiesigen Zeitungen in den letzten
Wochen viel von seinen Visiten bei seinen diplomatischen Kollegen und von der
Empfangsaudienz beim Großherrn zu berichten. — Die hier herrschende Hitze nimmt
eher zu, wie ab und wird dann und wann für den nicht im Lande Geborenen fast
unerträglich. Wir haben nicht selten ->- 27" Neaumur im Schatten; dabei oft
Südwind, der Kopfschmerzen erzeugt und die Atmosphäre weniger reinigt, wie die
entgegengesetzte Luftströmung.
Alle Welt sehnt sich unter solchen Temperaturverhältnissen dem Herbst mit
seinen längeren und kühleren Nächten entgegen.
— Kiepert. Neuer Handatlas über alle Theile der
Erde in 40 Blättern entworfen und bearbeitet von Dr. Heinrich Kiepert, Mit¬
glied der königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Berlin, Dietrich
Reimer. — Wir zeigen hiermit dem Publicum den Beginn eines Werkes an, von
welchem man schon wegen des Namens des Verfassers das Bedeutendste und Werth¬
vollste erwarten darf, und das schon in der ersten vorliegenden Lieferung diese Er¬
wartungen vollkommen rechtfertigt. Der Atlas des alten Griechenlands von Kiepert
ist ein classisches Werk, die Frucht der tiefsten und reifsten Studien, allein er war
vorzugsweise oder ausschließlich für die Gelehrten berechnet. Diesmal wendet sich
Kiepert an ein größeres Publicum und zeigt, daß er, ohne das Geringste von der
strengen Gewissenhaftigkeit seiner Forschung aufzugeben, auch populär sein kann.
Freilich kommt ihm dabei wesentlich die Buchhandlung zu Hilfe, die alles aufge¬
boten hat, um-das Werk nicht nnr zweckmäßig, sondern glänzend auszustatten. Die
Sorgfalt, Genauigkeit und Zierlichkeit des Drucks verdient die größte Bewunderung.
Die Ausgabe des Atlas ersolgt in zehn Lieferungen, jede von vier Blättern, zum
Snbscriptionsprcis von 16 Thlrn. für den vollständigen Atlas, der in drei Jahren
vollendet sein soll. Das Format ist mit Rücksicht aus die Leichtigkeit des Hand¬
gebrauchs so gewählt, daß es die Mitte hält zwischen den allzu großen und dadurch
unbequemen Karten und denjenigen, die allzu oft zur Theilung des zusammenge¬
hörigen Stoffs auf verschiedene Blätter nöthigen. Es war die Rücksicht maßgebend,
die Hauptgruppen der deutschen Länder in gleichem Maßstabe (1 Million) darzustellen,
dem dann sür die übrigen europäischen Länder sowol, als für die außerenropäischen
Welttheile bestimmte Maßstäbe sich in möglichst einfachen Verhältnissen anschließen.
Durch diese Anordnung wird die Vergleichung der Größenverhältnisse der verschie¬
denen Länder bis in ihre Details hinein ungemein erleichtert. Auf jeder Karte
ist das vom Nahmen umschlossene Gebiet vollständig ausgeführt, um das Verständ¬
niß der mannigfachen geographischen Bezüge zur jedesmaligen Umgebung zu er<
leichtern. Die Vollständigkeit ist dnrch eine sehr strenge Auswahl des Wichtigen
und Nothwendigen erzielt worden. Alle Orte, die irgendeine Merkwürdigkeit dar¬
bieten, sind ausgenommen und das Größenverhältniß derselben für den schnellen
Ueberblick stark markirt. Auch die Uebersicht über die Bevölkerungszahl wird da¬
durch erleichtert, daß dünnbevölkerte Gegenden nicht mit Namen unbedeutender Orte
angefüllt, sondern leer gelassen sind. Die Verkehrsstraßen find genan angegeben;
hinsichtlich der Ausführung der Bergzeichnung ist vom Verfasser nichts unterlassen,
um durch genaue Studien der Originalwerke ein wirklich treues, nirgend übertrei¬
bendes, aber auch keinen wichtigen Zug der Oberflächengcftaltung vernachlässigendes
Bild jedes Landes zu geben. Wir sind der festen Ueberzeugung, daß das schöne
Werk den Preis über alle seine Nebenbuhler davon tragen wird. Die erste Liefe¬
rung enthält die Karten Italien, Niederlande Großbritannien und Australien.
Deutsches Wörterbuch von Jncob Grimm und Wilhelm Grimm.
II. Band. 3. Lieferung. Bnchstäbchen bis Dampskugel. Leipzig, S. Hirzel. —
Mit Behagen fühlt der anspruchslose Subscribent unsres großen Nationalwerks sich
durch dieses Heft auf einmal tiefer in den Staatenbund des Alphabets versetzt.
Nach einem langen und zuweilen etwas anstrengenden Marsche durch das weite
Territorium des B, sührt ein kurzer Spaziergang durch den Garten des C, —
einer fremdartigen Anlage mit künstlich zugeschnittenen Hecken ohne Blüten und
Früchte, — in das Reich des D, ein stattliches ansehnliches Gebiet, in welchem der
Leser wol durch vier bis fünf Hefte zu verweilen veranlaßt werden wird. Sobald
man das D betritt, bemerkt man ein anderes Wesen, und — um im Bilde zu
bleiben, — eine andere Handhabung der Wörtetpolizei. Es ist ein anderer Geist,
dessen Herrschaft hier beginnt; es bleibt nicht verborgen, daß hier der andere der
beiden Brüder regiert. Zunächst sehen wir mit großer Freude, daß die anspruchs¬
volle Gendarmerie der lateinischen Erklärungen nur selten sichtbar wird; die meisten
Erklärungen sind schlicht und bürgerlich, in ehrliches Deutsch gekleidet. Ferner
finden wir die einzelnen Wortcommunen vollständiger organisirt; große Accuratesse
und Sauberkeit in den Definitionen, emsiges Streben nach Vollständigkeit, eine Ge¬
nauigkeit, die auch das Kleinste an der rechten Stelle erwähnt, bei den Stamm¬
wörtern ein systematisches Aufzählen der Verbindungen mit Präpositionen u. s. w.,
überall eine feine Disposition. Auch daß der Citate weniger geworden find, be¬
grüßen wir als einen Fortschritt. Daß die etymologischen Erklärungen kürzer ge¬
worden, auch das müssen wir für praktisch erkennen, obgleich wir gestehen, daß
in dem ersten Buchstaben grade die ausführlichen Etymologien es waren, bei denen
die kolossale Gelehrsamkeit und der Forschergeist des ältern Bruders die höchsten
Triumphe feierten. Wenn man die beiden BeHandlungsweisen miteinander vergleicht,
wird man durch sie kein übles Bild von der verschiedenen Art der beiden Heraus¬
geber erhalten. Wenn bei den frühern Buchstaben ein großer, oft genialer Wurf,
die immense Arbeitskraft, das kühne Herumarbciten eines großen Gelehrten in dem
massenhaften Stoff in Erstaunen setzte und fortriß, und wenn die leisen Protestatio-
nen von uns Nichtgelehrten durch ein gewisses erhabenes Uebersehen zum Schweigen
gebracht wurden, so erfreut und befriedigt hier vorzugsweise das Detail der Aus¬
führung, die strenge Methode, das Maßhalte« und die logische Ordnung. Offen¬
bar hat das Werk durch das Eintreten der neuen Methode an Handlichkeit für den
nachschlagenden Leser sehr gewonnen, und lebhaft wird der Wunsche daß dies metho¬
dische Verfahren bei allen spätern Heften beibehalten werden möge.
Friedrich der Große. Für das deutsche Volk dargestellt von Ludwig
Hahn. Mit 10 Portraits und -10 Bildern aus Friedrichs des Großen Leben.
Nach Originalzeichnungen von W. Camphausen in Düsseldorf. Berlin, W. Hertz. —
Es liegen uns von diesem Werke zunächst zwei Lieferungen vor. Von dem Text
dürfen wir wol abstrahiren; die politische Richtung des Verfassers ist bekannt, die
Darstellung scheint, soweit wir hineingesehen haben, deutlich und correct zu sein.
Die Hauptsache sind die Illustrationen. Die beiden Portraits, Friedrich der Große
und der alte Dessauer, sind musterhaft ausgeführt, in einer höchst kräftigen, charak¬
teristischen Manier, die uns die tüchtigen Züge jener Männer edel und würdig
versinnlicht. Die beiden andern Gemälde, Friedrich nach der Schlacht bei Kuners-
dorf und Friedrich im Gespräch mit Voltaire in Sanssouci, sind gleichfalls gut
ausgeführt, aber die Wahl der Gegenstände scheint uns nicht glücklich, und die
Zeichnung ist wenigstens nicht brillant genug, um dafür zu entschädigen. Bei dem
wettern Erscheinen des Werkes werden wir ausführlicher darauf zurückkommen. —
Schillers Lied von der Glocke. In 40 Blättern bildlich dargestellt
von Bernhard Ueber. Nach den Entwürfen des Meisters zu den Wandgemäl¬
den im großherzoglichen Schlosse zu Weimar, auf Holz gezeichnet von Leutemann
und geschnitten von Flegel. Nebst einem Vorwort von Karl Vogel. Leipzig,
Rudolph Weigel. — Die Bilder sind zum großen Theil geistreich erdacht, und es
ist dem Künstler gelungen, den Realismus, der für deu Gegenstand nöthig war,
mit einem edeln und würdigen Stil zu vereinigen. Das Costüm ist mittelalterlich,
mäßig idealisirt; unpassend ist in der Reihe nur der Jupiter, der, um das Symbol
des Feuers auszudrücken, mit seinem Blitz und seinem Adler plötzlich in die Reihe
der christlichen Vorstellungen hineinstürmt, man weiß nicht woher. Am gelungen¬
sten sind die Bilder vom Glockenguß selbst, wenn auch eine gewisse Monotonie sich
nicht vermeide» läßt, und wenn anch einzelne Motive, z. B. der Arbeiter, der einen
Krug Bier leert, unnöthig wiederholt werden. Die andern Bilder, welche die Sce¬
nen ans dem gewöhnlichen Leben darstellen, haben eine weniger realistische Fär¬
bung, und namentlich der Jüngling, der mit einem Spieß und einem Hunde wild
ins Leben hinausstürmt, ist zu unbestimmt gedacht. Indeß läßt sich in keinem
dieser Bilder gemüthliche Auffassung und correcte Zeichnung vermissen. Den höch¬
sten Preis aber verdient die Technik. Mit großer Freude sehen wir, wie der
Holzschnitt immer mehr Raum gewinnt und den unglückseligen Stahlstich, der den
Geschmack unsers Publicums aus eine so unerhörte Weise verdorben hat, immer
mehr verdrängt. Die vorliegenden Holzschnitte sind durchweg kleine Meisterstücke;
es ist eine markige Kraft und Entschiedenheit darin, die jeden Freund des Schönen
erfreuen wird, und schon aus diesem Grunde wünschen wir dem Werk eine recht
große Verbreitung. —
Wig»n6« pookvl. Uisvvll»»^. Vol. III. KöuiliFvo, 6. WiF»o«I. —
Der dritte Band dieser höchst verständig eingerichteten Schnlsammlung schließt sich
würdig den beiden frühern an. Er enthält u. a. folgende Stücke: Bemerkungen
über englische Schriftsteller der Gegenwart von Alison; Schilderungen aus dem
Leben der englischen Armen von Mayhew; die Fischereien an der Küste von
Eornwall von Wilkin Collins; eine Skizze von Washington Irving, und
verschiedene belletristische Kleinigkeiten, die sich sämmtlich durch guten Stil auszeichnen.
Von der ziemlich großen Anzahl neuer poetischer Versuche tritt
schon wegen des Namens des Verfassers zuerst das erzählende Gedicht, Robert und
Guiscard, vou Robert Freiherrn von Eichend orfs hervor (Leipzig, Voigt und
Günther). Die Stimmung und Färbung ist auch in diesem Gedicht zuweilen
wieder reizend schön, die Composition aber womöglich noch loser als sonst. Es be¬
handelt eine Episode aus der französischen Revolution. Zwei Brüder, Söhne
eines altadeligen Hauses, schließen sich verschiedenen politischen Parteien an und
gerathen dadurch in Gefahr, einander im tödtlichen Kampf zu begegnen. Es
könnte das ein ganz interessanter Stoff sein, wenn die Geschichte nur einigermaßen
psychologisch motivirt wäre. — In derselben Periode spielt das historische Gedicht
von Adolf S chutes: Ludwig Capet (Elberfeld, Bädeker). Es behandelt die Ge¬
schichte Königs Ludwig XVI. von der ersten Zeit seiner Gefangenschaft bis zu seinem
Tode. , Die Erzählung ist correct, von einem angenehmen poetischen Klang, aber
im Ganzen ohne große poetische Erfindung. — Das Gedicht: Florine, (Berlin,
Alexander Duncker) behandelt die schon häufig in Novellen verwerthete erste Jugend¬
liebe Heinrichs IV. im steifen und altfränkischen Romanzenton. — Die Dichtung:
Psyche, ein Märchen ans dem Alterthum, (Göttingen, Wigand) verarbeitet die be¬
kannte Dichtung ans eine sinnige, gemüthliche Weise, etwas zu breit und feierlich. —
Unter den eigentlich lyrischen Gedichten können wir als bedeutend nnr die Gedichte
von Friedrich Teich nennen. (Gera, Kanitz). Die Naturschilderungen in diesen
Gedichten sind zuweilen von einer Deutlichkeit und Frische, wie wir sie in unsrer
blos musikalischen Lyrik selten finden. Wie uns der Verleger mittheilt, ist der
Verfasser ein harmloser Postbote, früher ein armer Weber; um so auffallender ist
diese zarte und dabei ungewöhnlich starke Natnrempstndung, die sich in fernen Lie¬
dern ausspricht, da auch die Form meistens correct ist. — Die Gedichte von Emil
Nittershans (Elberfeld, Bädeker), das stille Leben von Julius Freye (Stolp.
Fritsch), Lust und Leid, von Friedrich Kuh is (Königsberg, Pfitzcr) und Gedichte
von Ferdinand Sander (aus seinem Nachlaß herausgegeben von Julius von
der Traun, Wien, Tendler) enthalten sämmtlich einige recht angenehme Verse, die
in individuelle» Beziehungen gedacht ihren guten Eindruck nicht verfehlen werden,
über die wir aber vom Standpunkt der literarischen Kritik nichts Weiteres beizu¬
bringen wissen. — Noch fügen wir hinzu: das Liederglöckchen, eine Auswahl von
Liedern und Gesängen aus alter und neuer Zeit für Volksschulen, herausgegeben
von F. A. Schulz (Osterode, Sorge), eine recht zweckmäßige Sammlung.
Wenn es auch zuweilen den Anschein haben will, als ob seit einem Jahr-
zehent die Spekulation in Deutschland um allen Credit gekommen wäre, so
zeigen doch fortwährend neue Versuche, daß man die Hoffnung, auf diesem
Wege zur Wahrheit zu dringen, noch immer nicht aufgegeben hat, daß man
nur noch nicht darüber ins Klare kommen kann, in welcher Art dieser Weg
am sichersten zum Ziele führt. Bei der immer größern Ausdehnung der natur¬
wissenschaftlichen Studien ist es begreiflich, daß man sich zunächst bemüht,
hier anzuknüpfen und so sehen wir denn auch den meisten neuen philosophischen
Systemen naturwissenschaftliche Notizen zu Grunde gelegt. Gewiß wird sich
das Meiste von diesen neuen Versuchen als unzulänglich erweisen, indeß
scheint es doch der Mühe werth, Act davon zu nehmen. — Unter den neuen
Schriften dieser Gattung erwähnen wir zunächst:
Der Versasser erklärt als das Grundprincip des Sensualismus: eben¬
dasselbe durch sinnlich klare oder lichtvolle Begriffe, Urtheile und Schlüsse
innerlich schauen zu wollen, wofür die speculative Philosophie nur übersinn¬
liche Annahmen oder dunkle Worte hat. Das ist gewiß ein sehr löbliches
Princip und wird von aller Welt gebilligt werden, selbst von den Theologen,
von denen der Versasser mit Recht bemerkt, sie seien von den dunkeln Worten
der Offenbarung nicht befriedigt und hofften dereinst zu schauen, was ihnen
hier unklar war. Allein wenn eine Wissenschaft das ernstliche Bestreben hat,
nur mit klaren Begriffen zu operiren, so sollte sie sich vorher genau darüber
prüfen, welche Begriffe ihr zur Klarheit geworden sind und welche nicht; mit
andern Worten, was sie weiß und was sie nicht weiß. Diese strenge Prüfung
scheint aber der vorliegende Sensualismus noch nicht angestellt zu haben. Er
beginnt z. B. das Capitel über Materie und Raum mit folgendem Satz:
„Aus zahlreichen physikalischen und chemischen Erscheinungen darf man schließen,
daß alle Körper aus unsichtbar kleinen Theilchen bestehen, welche ausgedehnt,
begrenzt und nicht mehr zusammengesetzt sind." Wenn der Verfasser aus seinen
Erfahrungen wirklich diesen Schluß gezogen hat, so wünschen wir ihm Glück,
können aber nicht umhin, ebendeshalb seine speculative Befähigung in Zweifel
zu ziehen. Die Unmöglichkeit eines solchen Schlusses aus der Erfahrung hätte
er aus jedem beliebigen Compendium der Logik lernen können. Freilich traut
er der Logik im Ganzen wenig zu. „Es ist bekannt," sagt er S. til, daß
die Logik kein Unterscheidungsmerkmal für eine richtige oder angemessene und
eine zu weite Deduction hat." Wenn die Logik das wirklich nicht hätte, so
wäre durch sie freilich für das menschliche Denken nicht viel gewonnen; freilich
würde dann die bloße Beobachtung auch nur ein sehr schwankender Grund sein,
um irgendwelche Schlüsse darauf zu bauen. „Wenn ich also behaupte," fährt
er an derselben Stelle sort, „daß die Induction, die Natur selbst habe eine
Ursache, viel zu weit ausgedehnt und deshalb eine unrichtige Hypothese ist>
daß innerhalb der Natur allerdings ungemein Vieles entstehe, aber kein hin¬
reichender Grund sei, daß sie selbst einen Anfang genommen oder eine Ursache
habe: wenn ich somit die Existenz oder Dauer der Natur von Ewigkeit be-
behaupte, so läßt sich vom Standpunkt der Logik durchaus nichts dagegen ein¬
wenden; schwankt man bei den logisch vollkommen gleichberechtigten oder gleich¬
möglichen Ansichten, so können nur andere Gründe, namentlich die der direc-
tem sinnlichen Erfahrung die mehr berechtigte Annahme der einen oder der
andern entscheiden."
Es ist ein wunderlicher Gemüthszustand, der uns in diesen Behauptungen
entgegentritt. Auf der einen Seite die Ewigkeit der Welt und ihrer Gesetze
zu behaupten, auf der andern die Absolutheit des Causalitätsgesetzes zu leug¬
nen, ist fast nicht weniger seltsam, als die Annahme der Möglichkeit, sich durch
directe sinnliche Erfahrung von der Ewigkeit oder von der Schöpfung der
Welt zu überzeugen. Was übrigens die Ewigkeit der Welt betrifft, so hat
alle Philosophie, welcher Schule sie auch immer angehören möge, darüber nur
eine Meinung: sie weiß, daß die Beziehung der Erscheinungen zum absoluten
Wesen, zu Gott, keine zufällige, der Zeit angehörige ist, und die Vorstellung,
daß Gott irgendeinmal die Welt geschaffen habe, da er in der Zeit doch eben¬
sogut etwas Anderes hätte thun können, gehört gar keiner Art von Philosophie
an. Jede Philosophie, sie habe einen Namen, welchen sie wolle, hält die
Naturgesetze für ewig, weil sie dem Begriff und nicht der Zeit angehören.
Aber der Versasser der vorliegenden Schrift dehnt die Ewigkeit der Welt be¬
deutend weiter aus; er bezieht sie auch aus die Erscheinungen und hier kommen
wir allerdings auf das Gebiet der endlichen Wissenschaft. Die Geologie und
die mit ihr verbundenen Wissenschaften haben entdeckt oder zu entdecken ge¬
glaubt, daß eS eine Zeit gab, wo aus der Erde zwar nicht andere Naturge¬
setze, aber andere Combinationen und mithin andere Erscheinungen herrschten;
eine Zeit, wo es keine Menschen, überhaupt kein organisches Leben auf der¬
selben gab. Wie nun aus diesem chaotischen Uebergangszustand organisches
Leben entstanden sei, darüber hat man allerlei sonderbare Hypothesen gewagt;
die einzig wahre Antwort der Wissenschaft kann aber nur die sein: ich weiß
es nicht. Herr Czolbe sucht nun diese Annahme, die, soviel uns bekannt ist,
von sämmtlichen Gelehrten getheilt wird, zu widerlegen und dagegen nachzu¬
weisen, daß die Erde in aller Ewigkeit ausgesehen habe wie heute, daß es
namentlich zu allen Zeiten lebende Wesen, zu allen Zeiten Menschen gegeben
habe. Er widerlegt die angeblichen Entdeckungen der Geologie auf ein paar
Seiten, hauptsächlich folgendermaßen: Es ist uns nur Europa, ein Theil von
Nordamerika, einige Küstenlinien der andern Welttheile und einige Inseln,
was einen verhältnißmäßig sehr kleinen Theil der Erde bildet, geognostisch
ziemlich genau bekannt, während nicht nur aller Meeresboden, der allein zwei
Drittheil der Erdoberfläche bildet, sondern auch das Innere der großen Conti¬
nente von Asten, Afrika, Südamerika, Neuholland und Grönland fast ganz un¬
bekannt sind. Aus dem Mangel menschlicher Ueberreste in jenem sehr kleinen
Theil der Erde den Mangel derselben in den ältern Schichten der ganzen
Erde zu folgern, dürfte also eine leichtsinnige Induction sein. Es wäre
ferner möglich, daß durch die vulkanischen Erscheinungen, sowie die voraus¬
gehenden neptunischen Erscheinungen alle Spuren organischer Reste fast ver¬
wischt sind. „Wenn aber in einem ewigen Kreislaufe aus den geschmolzenen
Mineralien die wässerigen Niederschläge und aus diesen wiederum geschmolzene
Massen entstehen, dürfte die Vorstellung, daß die Neste heutiger Organismen
und auch des Menschen in ihren Elementen Theile der uns bekannten pluto-
nischen Gesteine bilden, nicht ganz abzuweisen sein." — Das sind nun aller¬
dings Deductionen, auf welche zu antworten nicht der Logik, sondern der
Geologie zukommt. Wie wir glauben, wird sie einige Oberflächlichkeit darin
entdecken. — Das Buch, welches wir zunächst anführen, hat insofern eine
verwandte Richtung, als es auch den Gegensatz der naturwissenschaftlichen
Forschungen gegen die theologischen Vorstellungen hervorhebt; es ist jedoch für
ein anderes Publicum berechnet. ^
Gewiß enthält der Kirchenglaube sehr vieles, was die Wissenschaft wider¬
legt, und es ist daher sehr zweckmäßig, auch dem größern Publicum gegenüber
stets von neuem daraus aufmerksam zu machen, da wissenschaftliche Untersuchun¬
gen leicht in Vergessenheit gerathen. Nur ist es im Interesse der guten Sache
wünschenswert!), daß in solchen Fällen der herausfordernde Ton vermieden
wird, namentlich wenn sich derselbe durch die Höhe des wissenschaftlichen Stand¬
punkts nicht rechtfertigt. Zum Schluß spricht sich der Verfasser über die leidi¬
gen Menschen aus, welche die Mittelstraße gehen wollen. „Sie finden, die
Vernunft müsse ihre Rechte haben, jedoch nicht minder der Glaube. Sie
wollen einen Frieden vermitteln, wie voriges Jahr die vier Machte zwischen
Russen und Türken. Der Usurpator soll einiges von seinen Ansprüchen fahren
lassen, aber der angegriffene Theil sich auch zu Opfern verstehen. Der Glaube
soll die allzu revoltirenden Ingredienzien ausscheiden, dafür soll dann die Ver¬
nunft um des lieben Friedens willen sich zusammennehmen und den Nest der
Mirtur ohne den Mund zu verziehen getrost hinunterschlucken. Wir dagegen
wählen einen Weg, bei welchem beide Theile zu ihrem vollen Rechte kommen.
Wir glauben nämlich just das, was wir wissen. Wovon wir das grade
Gegentheil wissen, das verwerfen wir, und thun damit den betreffenden
Theilen der Kirchenlehre nichts als ihr Recht an. Wo wir endlich keine zu-
reichenven Gründe haben, um uns für oder wider zu entscheiden, da lassen
wir die Sache bis aus weitere Aufschlüsse dahingestellt sein." Der burschi¬
kose Ton dieser und ähnlicher Stellen ziemt sich umsoweniger, da die Deduction
höchst oberflächlich ist. Der Glaube darf allerdings ein abgesondertes Gebiet
neben dem Wissen beanspruchen, weil er einen ganz verschiedenen Gegenstand
hat. Es ist ein unsterbliches Verdienst vom alten Kant, darauf aufmerksam
gemacht zu haben, daß der Glaube sich nicht auf physische Dinge beziehen darf,
sondern nur aus sittliche. Zu verlangen, daß man an die Geschichte von Josua
und der Sonne glaubt, wenn man das Gegentheil weiß, ist eine Thorheit,
denn unsre Sinne und was damit zusammenhängt, sind nicht dem Gewissen
unterworfen. Die höchsten sittlichen Ideen dagegen zeigen sich nur in der
Form des Glaubens wirksam, und wenn dieser auch allerdings eine unmittel¬
bare Beziehung zur Intelligenz haben muß, und wenn es auch die höchste
Aufgabe der Philosophie bleibt, diese Beziehung aufzudecken, so darf doch der
Glaube an das Sittengesetz nicht deshalb von dem subjectiven Belieben halb¬
gebildeter Menschen abhängig gemacht werden, weil sie sich Philosophen nennen.
Es ist im Interesse der Wahrheit und Freiheit, daß dem jetzt einbrechenden
Materialismus, welcher mit der Leugnung des Uebersinnlichen in der Er¬
scheinungswelt auch die Leugnung der übersinnlichen Ideen in der moralischen
Welt verbindet, ein sehr ernsthafter Widerstand geleistet werde. Es treten jetzt
grade innerhalb der Naturwissenschaft talentvolle Männer auf, die angeblich
aus der Naturwissenschaft zu erweisen suchen, daß die Lehren der Religion und
indirect die der Sittlichkeit nur auf Einbildungen beruhen. Da es nun im
Interesse der Theologie liegt, die freie Untersuchung von allen den Gebieten
abzuwenden, zu denen sie in mittelbarer oder unmittelbarer Berührung steht,
so wird es ihr leicht werden, den widerstrebenden Staat ganz auf ihre Seite
zu ziehen, wenn sie ihm nachweist, die freie Wissenschaft sei nicht nur negirend
in der Physik und Metaphysik, sondern auch auf dem ethischen Gebiet. Der
Staat wird heutzutage Anstand nehmen, denjenigen zu verfolgen, der die Um¬
drehung der Sonne um die Erde leugnet; wenn man ihn aber darauf auf¬
merksam macht, daß derselbe auch den Unterschied des Guten und Bösen
leugnet, und daß das Eine nothwendig mit dem Andern zusammenhängt, so wird
er in gutem Glauben zu handeln vermeinen, wenn er solchen Einflüsterungen
Gehör gibt. Um dies zu vermeiden, müssen wir stets darauf zurückkommen,
daß die Naturwissenschaft mit dem Glauben d. h. mit dem Glauben an sitt¬
liche Ideen gar nichts zu thun hat, daß sie ihn weder bekräftigen noch leugnen
kann; und diesen Unterschied müssen wir selbst immer auss lebhafteste vor Augen
haben, wenn wir für das Princip der freien Forschung kämpfen.
7 Der Verfasser ist ein entschiedener Gegner des modernen Materialismus
und stellt sich als seine Hauptaufgabe die Bekämpfung desselben vor. Er sucht
das Absterben der bisherigen Schulen nachzuweisen, namentlich der jüngsten, der
Hegelschen Schule. „Ein Theil, durch die Folgerungen des Junghegelschen
Zweifels abgeschreckt, ist zu älteren Standpunkten zurückgekehrt; derjenige Theil
aber, der sich das Ansetzn gibt, treu bei der Lehre zu beharren, beweist die
wesentliche Abschwächung auch seines Glaubens dadurch, daß demselben keine
Werke nachfolgen." Der Verfasser ist nun zwar der Ansicht, daß durch die
Hegelsche Philosophie der Zweifel nicht so beseitigt ist, wie es in der echten
Philosophie geschehen sollte, aber er hält den Weg, den die deutsche Philosophie
bisher eingeschlagen hat, dennoch im Wesentlichen für den richtigen, und
glaubt, daß nur ein cousequenter Fortgang auf demselben uns über die augen¬
blicklichen Verirrungen wieder hinausführen könne. Einen solchen Fortschritt
will er unternehmen, nur scheint es ihm gerathener, den Versuch früher durch
mündliche Vortrage, als durch eine Schrift zu machen. Das gegenwärtige
Schriftchen soll also zunächst weiter nichts sein, als eine Einladung zu diesen
Vorlesungen. Wir begnügen uns damit, in Beziehung auf dieselben dem Ver¬
fasser zweierlei zu empfehlen: erstens möge er stets sein eignes Wort im Auge
behalten, daß die Wissenschaft, um verständlich zu sein, sich die Mühe geben
müsse, deutsch zu reden; zweitens möge er durch seinen gerechten oder unge¬
rechten Zorn über die modernen Demagogen sich nicht verleiten lassen, Schimpf¬
worte als Argumente zu gebrauchen, wo es sich um eine wissenschaftliche Wider¬
legung handelt. Die nachfolgende Art der Deduction möge er daher in seinen
Vorlesungen vermeiden: „Die Vorstellung des allgemeinen Weltzustandes als
anfängliches Chaos ist der bleibende Zustand derjenigen Form des Wahnwitzes,
welche bestimmt als der Blödsinn zu bezeichnen ist. Nur der Blödsinnige ist
es, der sich keinen rechten Begriff von Gott machen kann. Sowie andererseits
der Schein des ursprünglichen Naturzustandes, der in Verderben übergegangen
und durch halbe Rückkehr zu sich selbst zu verbessern sein soll, sein subjectives
Gegenbild in der Tollheit überhaupt (s. g. Nunia sine clslirio) sich jenen
ersten Zustand der Nacktheit, Wildheit, Besitzlosigkeit, Vielweiberei, (in der
s. g. Nymphomanie), als den wahren sittlichen Zustand des Menschen ein.
Als tolle Sucht (Monomanie) sieht sie denselben als verderbt an, will ihn
aber noch nicht verbessern, sondern nimmt an der vorausgesetzten Verderbnis?,
als Putzsucht, Vergnügungssucht, Hab- und Proceßsucht, Rang- und Titel¬
sucht, eheliche Eifersucht ohne weiteres Theil. Als Raserei und Tobsucht
endlich (s. g. Nanig, einen «Zelirio) glaubt sie sich der vermeintlichen Verderbniß,
dem vermeintlichen Unrechte (der Zwangsjacke) widersetzen und ihren eignen
Zustand, freilich einen halben Naturzustand, wieder hervorrufen zu müssen."
Der Verfasser hat sich Mühe gegeben, den Entwicklungsgang der deutschen
Philosophie seinem Publicum so objectiv als möglich darzustellen. Da nun
aber jeder, der sich mit Philosophie beschäftigt, sich über das Werthverhältniß
der bisherigen philosophischen Systeme eine bestimmte Ansicht gebildet haben
muß, so kann auch dieses Buch seine subjektive Färbung nicht verleugnen. In
einem wissenschaftlichen Werk, welches zusammenhängende Gründe für und
wider angäbe, würde diese Sujectivität wieder aufgehoben werden; allein wenn
man seine Vorlesungen für ein gemischtes Publicum berechnet, welches weder
die genügende Vorbildung hat, um sich selbst ein Urtheil zu bilden, noch das
Bedürfniß, den gewöhnlichen Weg der Schule zu betreten, behält die subjective
Form leicht etwas Willkürliches. Viele von den Behauptungen des Verfassers
sind uns zwar anderwärts schon häusig vorgekommen, sie sind aber nichtsdesto¬
weniger aus der Luft gegriffen. So z. B. die hundertmal wiederholten Vor¬
würfe gegen Schelling, er habe für die Philosophie ein besonderes Organ,
intellectuelle Anschauung, gefordert. „Die sogenannte intellectuelle Anschauung,"
sagt der Verfasser Seite 172, „weil sie nicht mitgetheilt werden kann, weil sie
eine Gabe der Natur ist, muß dem überlassen bleiben, der sie hat, der dann
zusehen mag, was er damit ausrichtet..... Wir andern müssen auf andre
Weise zur Erkenntniß zu gelangen suchen und uns das Urtheil, daß uns das
höchste Organ abgeht, gefallen lassen. Eine Philosophie, die ein Organ, das
nur wenige haben, als nothwendig voraussetzt, kann schon darum nicht All¬
gemeingut werden. Will sie aber dies, so muß sie von dem ausgehen, was
allen erreichbar ist." — Einmal hat die wissenschaftliche Philosophie noch nie
Anspruch darauf gemacht, Gemeingut zu werden; die sogenannte Populär¬
philosophie, die Gemeingut werden kann und zum Theil auch geworden ist,
bedeutet etwas Anderes, sie drückt nichts weiter aus, als was das Volk in
seinen Sprichwörtern sich selbst sagt; sodann ist der Begriff der intellectuellen
Anschauung nicht von Schelling, sondern bereits von Fichte aufgestellt, und die
Anforderung, die damit an den Schüler der Philosophie gemacht wird, ist im
Ganzen eine sehr bescheidene, sie besteht darin, daß man fähig sein muß, im
Begriff Ich zugleich Subject und Object zu erkennen. Fichte pflegte in diesem
Cardinalpunkt seines Systems sehr ausführlich zu sein. Er sagte zu seinen
Studenten: Meine Herren, denken Sie sich einmal die Wand, nun denken Sie
sich den, der die Wand gedacht hat u. s. w. Unter Studirenden wie unter
Nichtstudirenden gibt es immer noch viele, für die dergleichen Distinctionen zu
hoch sind, denen also das Organ der intellectuellen Anschauung fehlt. So
gibt es ja auch viele Leute, die kein Gehör haben d. h. nicht, die taub sino,
sondern die nicht einen musikalischen Ton vom andern unterscheiden können.
Zu diesen sagt der Musiklehrer mit Recht, sie möchten sich vom Studium der
Musik fernhalten, da sie doch darin keinen Schritt weiter kommen würden, und
mit demselben Recht sagen Fichte und Schelling zu dem ersteren, er möge sich
vom Studium der Philosophie fernhalten, weil ihm gleichfalls das Organ da¬
zu fehlt. Aehnliche Anforderungen macht ja eigentlich jede Wissenschaft,
namentlich die Mathematik, wenn sie über die ganz mechanischen Rechenerempel
hinausgeht, und es liegt darin gewiß nichts Unbescheidenes; es ist ja durchaus
kein Grund vorhanden, daß alle Welt Philosophie treiben soll. Und darum
haben eben populäre Vorlesungen über die Philosophie etwas sehr Bedenkliches.
Populäre Vorlesungen über Physik, Chemie, Geschichte und dergleichen gehen
doch stets darauf aus, dem Publicum ein gewisses Quantum von Kenntnissen bei¬
zubringen, mögen diese Kenntnisse auch noch so unzusammenhängend sein. Der
Philosophirende Dilettant dagegen veranlaßt von vornherein seine Zuhörer zur
Kritik, und das ist unrecht, denn man soll nur dasjenige kritisiren, was man
versteht. Da indessen in unsern Salons zu den beliebten Gesprächen, durch
welche man in die etwas einförmige Beschäftigung des Walzers und Galop-
virens eine angenehme Abwechslung bringt, auch die Gespräche über Philo¬
sophie gehören, so sind Vorlesungen, durch welche man über diesen Gegenstand
etwas erfährt, ein tiefgefühltes Bedürfniß, und der Verfasser der vorliegen¬
den gehört unzweifelhaft zu den gebildetsten und verständigsten seiner Gat¬
tung. —
Indem wir nun die Philosophie verlassen und zur Naturwissenschaft über¬
gehen, haben wir zunächst den zweiten Band eines Werks zu erwähnen,
welches in seinem Fache als ein classisches bezeichnet werden kann:
Die genauere Darstellung des Inhalts behalten wir unserm betreffenden
Referenten vor. Für das größere Publicum ist grade dieser Band, wie der
Verfasser selbst gefühlt hat, am wenigsten geeignet; doch werden auch hier
einzelne Abschnitte allgemeines Interesse erregen 5. B. die poetischen Bearbei¬
tungen der Botanik und die Verirrungen der Wissenschaft in spielende Mystik. —
Die andern Bücher, die wir anzuführen haben, sind populärer Natur. Zu¬
nächst erwähnen wir den fünften Band der vortrefflichen Sammlung
Der Band enthält Abhandlungen über das Brot und seine Stellvertreter,
über die Einwirkung der Atmosphäre auf den Erdkörper, über den Dampf und
über die Säugethiere der Vorwelt. — Daran schließt sich:
Heft 9—10 enthalten die Fortsetzung von Johnstons Chemie des täg¬
lichen Lebens und eine Abhandlung über die geheimen Naturkräfte (Schwere,
Elektricität u. s. w.) von Bernstein. Der letztere entwickelt in seinen popu¬
lären Bearbeitungen der Naturwissenschaft ein ebenso großes Talent, das
Hauptsächliche und Wesentliche klar und einfach darzustellen, als in seinen
politischen Arbeiten, und gehört unzweifelhaft zu den einflußreichsten und acht¬
barsten Schriftstellern dieser Gattung. —
Der heilige Vater in Rom hatte die Würdenträger der Kirche um sich
versammelt, um über ein Dogma zu entscheiden, das, seit es im Schoße der
Kirche aufgetaucht, die verschiedensten Ansichten hervorgerufen hat. Man
könnte in den Aeußerlichkeiten jener Berufung die Form eines allgemeinen
Conciliums wiederfinden, müßte man nicht annehmen, daß die Entscheidung
längst vorher gesaßt war und der heilige Fischer mit Petri Ring gar wohl
wußte, was er aus den abgegebenen Votis der Kirchenfürstkn herauszufischen
habe. Man sagt, durch den Entscheid für die unbefleckte Empfängniß Marias
habe der Jesuitenorden zeigen wollen, daß er wieder allmächtig in der katholi¬
schen Kirche sei. Hätte er nie Schlimmeres gethan! obwol das neue Dogma
ganz geeignet scheint, aus einer großen Zahl guter, aber denkender Katholiken
„Ketzer" zu machen. Ein trauriger Gewinn bei der so pomphaft verkündeten
Frage! Wollte man aber annehmen, es gelte nicht einem so ganz positiven
Dogma und die Kirche werde auch hier wie bei einigen andern in der An¬
wendung mit sich handeln lassen und ihr ^n-Msina 8it I nicht weiter als durch¬
aus nothwendig ausdehnen, so stimmt dazu wenigstens nicht der Anschein von
großartiger Wichtigkeit, den man der ganzen Angelegenheit gegeben und der
Aufwand von Feierlichkeiten, den die Kirche bei der Verkündigung in Scene
gesetzt.
Seltsam! der Gedanke, die dogmatische Streitfrage der unbefleckten Em-
pfcingniß Mariens zur Entscheidung zu bringen, scheint eine Frucht des Erils
zu sein, in einer Zeit entstanden, wo die politische Existenz der päpstlichen
Macht selbst eine offene Frage gewesen. Der flüchtige Pius IX. richtete von
seinem Zufluchtsorte Gaeta aus am 2. Febr. -I8i9 an alle Glieder des katho¬
lischen Episcopats ein Rundschreiben, in dem er ihre Meinung über jenen
Punkt verlangte. Es ist nicht das erste Mal, daß das äußerlich gedemüthigte
Pvntisicat der Welt sich durch Fragen bemerklich machte, welche einestheils
deren Vergessen vorbeugen, anderntheils den Beweis liefern zu sollen schienen,
daß die Kirche auf dem Felsen Petri durch kein Mißgeschick gebeugt werden
könne, ihr Auge selbst über Stürmen wache. Genug, dem Ansinnen wurde
entsprochen und die eingelaufenen Antworten bildeten nicht weniger als sieben
Bände in Quart. Welche Fülle dogmatischer Gelehrsamkeit und Subtilität
mögen sie verschließen! Der zurückgekehrte Papst hatte die Frage nicht fallen
lassen, eine Commission von Cardinälen und Theologen die Bulle im voraus
entworfen, und die Versammlung zahlreicher geistlicher Würdenträger im De¬
cember vorigen Jahres hatte bekanntlich wenig weiter zu thun, als der schon
getroffenen Entscheidung und ihrer Verkündigung die größere Weihe zu geben.
In die Geheimnisse des fraglichen Dogma einzugehen kann hier unsre
Sache nicht sein. Nur um einem möglichen oder entschuldbaren Vergessen zu
begegnen, sei daran erinnert, daß es sich bei jenem Dogma nicht um den
Glauben handelt, Maria habe Jesum Christum ohne Sünde, weil vom
heiligen Geist, empfangen — dies ist ein bereits feststehender Glaubenssatz für
alle Katholiken; — das Gewicht der Frage liegt darin, ob Maria „durch die
zuvorkommende Gnade Gottes" bei ihrer Empfängniß von ihrer Mutter Anna
nicht durch den Makel der Erbsünde befleckt worden sei, der doch alle im Fleisch
Geborenen unterworfen sind. Diesen Unterschied halte man fest; denn von
letzterem hat man bis jetzt nichts gewußt, oder wenigstens kaum mehr daran
gedacht. Ferner ein Wort über Dogmen. In der römischen Kirche sind die
Dogmen die Wahrheiten, welche Gott offenbart hat und welche die Gläubigen
zu glauben verpflichtet sind. Die Kirche schafft nicht die Dogmen, sondern
macht Nur, wie ihre Gelehrten sagen, diejenigen mit Gewißheit kennen, welche
Gott offenbart hat. Die Theologen unterscheiden nun zweierlei Dogmen:
solche, welche die römische Kirche direct von Gott zu besitzen versichert, und
solche, welche sie durch für unmittelbar und evident behauptete Consequenzen
daraus ableitet. So haben die Katholiken im Gegensatz zu den Protestanten
als Glaubensdogmen nicht allein die klar und ausdrücklich in der Schrift ver¬
kündeten Wahrheiten, sondern auch die von der Tradition überlieferten, das
heißt: durch das constante und einmüthige Zeugniß der Kirchenväter, durch
die Decrete der allgemeinen Concilien, durch die in der ganzen Kirche aner¬
kannten Entscheidungen des Papstes, durch die gemeinsame und allgemeine
Ansicht der Theologen.
Wir haben es also hier nur äußerlich damit zu thun, ob die vorstehenden
Principien ihre Anwendung auf das neue Dogma zulassen — eine Mehr nUr
historische Erörterung einer Frage, die auch sür Nichtkatholiken von Wichtig¬
keit sein und auch für paritätische Lande eine nicht gleichgiltige Tragweite er¬
langen könnte. Die gelehrigen und bei der ganzen Angelegenheit interessirten
Organe des römischen Hofes haben nun nicht ermangelt zu behaupten, daß
der Glaube an die unbefleckte Empfängniß mit der Tradition der Kirche
übereinstimme; sie wollen glauben machen, daß damit nur-ein alter Glaubens¬
satz wieder hervorgesucht werde, und zur gebührenden Ehre komme. Allein
dieser Aufstellung widersprechen gleich gelehrte, aber weniger befangene Stimmen,
die überhaupt in der Fabrication von Dogmen kein besonderes Heil sür die
Kirche zu erblicken vermögen, und zwar Mit historischer Berechtigung. Sie
meinen dem Dogma eine sehr neue und sehr nahe Quelle zuerkennen zu
müssen.
Die Häretiker des fünften Jahrhunderts (wir sprechen nur historisch über
die Frage), Pelagius, Coelestinus und Julianus, leugneten die Erbsünde ganz.
Der heilige Augustin, bekanntlich einer der größten Lehrer der katholischen
Kirche, behauptet, ohne dabei Maria auszunehmen: „Niemand werde aus
Adam geboren, der nicht mit den Banden der Sünde und Verdammniß um¬
schlungen sei." Gegner der Lehre von der unbefleckten Empfängniß in ihren
Schriften, zum Theil eifrige Bekämpfer derselben, waren serner folgende be¬
rühmte und später heilig gesprochene Kirchenautoritäten: Anselm von Canter-
bury, dem Benedictinerorden angehörig, Bernhard, der Stifter des Cistercienser-
ordens, Bonaventura, sonst ein sehr großer Verehrer Mariens, der „seraphische"
Doctor der Kirche genannt, aus dem Franziscanerorden, Thomas von Aquino
(»octor aiiMlicms) Dominicaner; serner der große Gelehrte Aegidius Colona,
Augustiner u. a. Noch Papst Sirtus IV. (-j- 1484), wol in richtiger
Erkenntniß, daß ein so dornenvoller Gegenstand am besten unberührt bleibe,
hat die Ercommunication über diejenigen ausgesprochen, welche, sei es den
Glauben oder das Nichtglauben an die unbefleckte Empfängniß zu einer Be¬
hauptung der Ketzerei und Sünde machen würden; — es blieb nur eine als
fromme Meinung, pia opinic), geltende Lehre, an die man allenfalls auch
nicht glauben konnte, ohne deshalb ein voeniger treuer Anhänger der Kirche
zu sein.
Auch das Concil zu Basel beschäftigte sich mit diesem Gegenstande. Re¬
ferent darüber war Cardinal Johann von Torquemada aus dem Dominicaner-
orden, ein Theolog von großem Ruse (nicht der berüchtigte Großinquisitor).
Es kam aber seinerseits nicht mehr zur Berichterstattung, da er bei den aus¬
gebrochenen Zerwürfnissen dem sich von Basel entfernenden Papste auf das
Concil zu Ferrara folgte. Der Bericht wurde indeß 1Si-7 zu Rom gedruckt
und entscheidet sich gegen die unbefleckte Empfängnis) unter Anführung von
nicht weniger als 100 „Theologen und (kanonischen) Rechtsgelehrten." Das
Concil zu Basel aber, dessen allgemeiner Charakter nach dem Rücktritt des
Papstes und eines Theiles der Väter zweifelhaft geworden, ja nach Cardinal
Lamberti (später Papst Benedict XlV.) nichts mehr als ein „schismatisches
Conciliabulum" war, entschied sür die unbefleckte Empfängniß.
Wer sind nun die historischen Stützen dieses Dogmas? Die Franzisccmer,
Duns Scotus an der Spitze, und besonders die Jesuiten (l5i0 gestiftet),
glaubten und vertheidigten die unbefleckte Empfängniß. Es muß nun aller¬
dings für einen eigenthümlichen, beachtenswerthen Umstand gelten, daß heute
die alten Häretiker Pelagius :c. wenigstens zum Theil Recht bekommen und
die Ansichten deS Kirchenvaters Augustin und sovieler gelehrter und der
Kirche heiliger Männer aus den alten Orden der Benedictiner, Cistercienser,
Dominicaner und Augustiner, eines römischen Cardinals und treuen An¬
hängers des Papstes vor den Behauptungen der späteren Franzisccmer und
des verhältnißmäßig neuen Jesuitenordens zurücktreten sollen! Möglich, daß
grade dies der Angelpunkt der ganzen Frage ist, aber auch ihrer all¬
gemeinen Bedeutsamkeit, und daß jene vollkommen Recht haben, welche hierin
ein gutes Stück jenes „Adlerfluges" erblicken wollen, in dem der Orden Jesu
vielleicht bereits wieder die Well umkreisen zu können glaubt.
Man kann serner gar wohl der vielfach ausgesprochenen Vermuthung
beitreten, daß es sich auf jenem Concilium in Rom (wir wollen es so nennen)
auch um das Entwerfen einer allgemeinen Ordre de bataille gegen die Ge¬
fahren gehandelt habe, von denen sich die „Kirche" in ihren neuaufgelebten
Ansprüchen bedroht zu sehen glaubt; — also ein geistlicher Kriegsrath. Wer
die bezügliche Allocution des Papstes vergleichen will, kann in dieser Ver¬
muthung nur bestärkt werden. Das neue Dogma erscheint dabei gleichsam als
das Panier, als die neue Fahne, als Erkennungszeichen. Die subtilen Unter¬
schiede in der theologischen Streitfrage füglich den Liebhabern solcher dornen-
''
voller Erörterungen überlassend, bleibt für die allgemeine Betrachtung Haupt¬
sache der Umstand, daß man eine so lange offengehaltene Frage grade jetzt
glaubte nach der einen Seite hin in päpstlicher Machtvollkommenheit ein für alle
Mal entscheiden zu müssen und zu können. Ob es ein Angriff auf den gesunden
Menschenverstand sei, darnach fragt die Kirche nichts; am wenigsten, wenn
diese Ansicht aus Ketzermund kommt. Ob es ein „gewagter" Angriff, muß
die Zeit lehren. Eben dadurch hat das Ganze fast mehr ein culturgeschicht¬
liches Interesse als ein kirchliches, und erlaubt oder fordert auch ein Laien¬
urtheil. Es ist ein vielfach noch verbreiteter, freilich längst als solcher nach¬
gewiesener Irrthum, daß die römische Kirche in Annahme und Verwerfung
von Glaubenssätzen eine stete Consequenz zeige. Die Geschichte der Kirche
zeigt hinlänglich, wie man früher oft angenommen, was später verflucht
wurde, und ebenso ercommunicirt, was nachher als allein wahr zur Geltung
kam. Man hielt dies Mal ein neues Dogma d. h. eine feierliche Entscheidung
sür nöthig und räthlich, und man traf sie. An verwendbaren Material dazu
kann es nicht fehlen; die Theologen haben dafür gesorgt. Karl Passaglia
aus der Gesellschaft Jesu forniulirte den Gegenstand in seinem neuesten Werke
(Rom und die „erstgeborenen Söhne" des h. Vaters konnten natürlich
der Welt nicht das ärgerliche Schauspiel geben, anders zu stimmen als zu
stimmen war. Passaglia sagt: „Es ist alles rücksichtlich der Gnade und
Heiligkeit der h. Jungfrau als ein Wunder anzusehen, und zwar als ein
unaussprechliches Wunder, als das größte der Wunder, als ein Schatz von
Charismen (Gnadengaben) und als eine verborgene Tiefe von Gnaden."
Damit fällt alles Weitere weg und bleibt nur die Opportunist und das
äußere Verfahren bei der Aufstellung des Dogma übrig. In dem Verfahren
wollte man bekanntlich eine vollständige Revolution der Kirchenverfassung im
absolutistischen Sinne erblicken,, indem nach den Lehren anerkannter Kirchen¬
lehrer (z. B. Walter) nur ein allgemeines Concilium, nicht aber der Papst
und eine Versammlung wie die in Rom versammelt gewesene endgiltige Aus¬
sprüche, was Glaubenswahrheiten seien, thun könne. Vielleicht war es eben
nur um den Gegenbeweis dieser Meinung zu thun, und — dem Muthigen
gehört die Welt!
Ein Curiosum wollen wir noch erwähnen, nämlich die angeblich mehr als
ein Jahrhundert alte und vom „Univers" ausgegrabene Prophezeihung über
das besprochene Dogma, wonach es in einer Woche verkündet werden sollte,
die keinen Freitag hätte, und in einer Epoche, welche eine große Revolution
in dem chinesischen Reiche, die Erschütterung, wenn nicht den Fall des otto-
manischen Reiches, große Kriege zwischen den christlichen Fürsten u. dergl.
sehen würde? So wörtlich schön ist noch keine Prophezeihung in Erfüllung
gegangen! Der Tag der Verkündigung des Dogma war der Freitag des
Advents. Der Papst hatte es nicht für passend gehalten, daß „die Kinder in
Traurigkeit seien, wenn ihre Mutter feierlich gekrönt werde". Indem er die
Gläubigen von der Enthaltsamkeit und dem Fasten dispensirte, die auf den
8. December als Freitag sielen, hat er ihm nicht seine charakteristischen Züge ge¬
nommen, die Natur dieses Tages geändert, einen Freitag unterdrückt, gleichsam
„ausgelöscht?" Da hätte man also „die Woche ohne Freitag!" Nichts kann
klarer sein. Die feurigen Anhänger des Dogma haben es als ein Zeichen
der Zeit, als die Morgenröthe großer Veränderungen und großer Wohl¬
thaten für die Welt und die Kirche verkündet. Gewiß, eine sixrmturg,
tömpvruin ist es!
Sie erinnern sich wol aus meinen früheren Mittheilungen der reizend gelege¬
nen kleinen Ortschaft Kandili (Kanlidja) auf dem asiatischen Ufer der Bosporus¬
straße. Sie bezeichnet den markirtesten Vorsprung, welchen die Küste auf
dieser Seite der Meerenge im Sehbereich der Hauptstadt macht; wenn mau
von dort aus uach Europa hinüberschaut, hat man hart rechts das Thal der
süßen Wasser von Asien, links Vanj-Koj, gegenüber, auf dem rumelischen
Strande, Bebel, und gleich daneben die alten Thürme, welche unter dem
Namen der Hissaren bekannt sind, und, von ihrer Felsenhöhe niederschauend,
einen imposanteren Eindruck machen, als irgendeines der altersgrauen Schlösser
am Hellespont. Zauberisch entfalten sich die Ufer der Seeenge, jenachdem
man die Blicke nach Südwesten oder Nordosten schweifen läßt, und Stambul
selbst mit seinen Hunderten von Minarets und der funkelnden Serailspitze
schließt nach der einen Seite das weite Panorama, während auf der andern
der Herkulesberg (Josuadagh) mit seinen grünen Hängen es abgrenzt. Hier,
in diesem irdischen Paradies, ist es, wo Fuad Pascha, vordem Fuad Effendi,
im Sommer seinen Aufenthalt zu nehmen gewohnt ist. Sein Haus macht sich
bereits aus der Ferne durch seinen hellen Anstrich bemerkbar. In den Dimen¬
sionen tritt es allerdings gegen manches andere, zumal gegen das Serai auf
der Höhe (wenn ich nicht irre gehört es Haut Pascha) zurück, aber es sucht
das Auszeichnende, was es bietet, weder in der Größe noch im äußeren
Schmuck, sondern in der inneren Einrichtung. Fuad Pascha hat beinahe alle
Hauptstädte Europas besucht, liebt fränkische Sitte und Art und hat sich durch¬
aus im abendländischen Geschmack etablirt. Möbeln aus Paris und London
verkünden gleich beim Eintreten in die Zimmer, daß hier die Ausschließlichkeit
des Divans ihre Grenze gefunden hat. Nur was der Orient an Vorzügen
bietet, ist beibehalten worden: die in prachtvollen Farben schimmernden Teppiche,
und die sammetreichen und buntgemusterten Matten.
Neulich war das Haus von Kandili Sammelpunkt einer auserlesenen
Clique der Society von Pera. Wie ich hörte gab Fuad Pascha ein Diner zu
Ehren des neuen französischen Gesandten Herrn von Thouvenel. Es wurde
von mir bereits früher bemerkt, daß man bei derartigen Gelegenheiten durch¬
aus in europäischer Weise speist. An den Toasten nehmen die osmanischen
Minister und Würdenträger mit derselben Ungezwungenheit wie die Europäer
Theil. Nur im englischen Palais ist es Sitte, wenn Pfortenminister zur Tafel
sind, doppelt, fränkisch und türkisch, serviren zu lassen.
Fuad Effendi ist vielleicht derjenige osmanische Große, welcher über das
reichste Silbergeschirr verfügt. Schon dieser Umstand gibt seinen Diners einen
besonderen Glanz. Nach aufgetragenem Desert erscheinen die reich mit Diaman¬
ten besetzten Pfeifen. Die Edelsteine befinden sich nur am bernsteinernen Mund¬
stücke. Der Kopf ist unverziert und sowenig Luxus wird mit demselben ge¬
trieben, daß der reichste Tschibuck einen schlicht thönernen führt, den man für
fünf Pera kaufen kann.
Fuad Effendi ist verhältnißmäßig noch jung; aber er scheint vor den
Jahren gealtert zu haben. Seine augenblickliche Stellung, namentlich in
Hinsicht aus Reschid Pascha, ist mir nicht ganz klar. Gern würde er, wie es
scheint, zwischen diesem und der sogenannten nationalen Partei vermitteln, weil
ihn dies für beide möglich machen würde. Muthmaßlich war auch Omer
Pascha mit unter den an der Ministertafel Versammelten. Er stand vordem
Fuad mehr fern; jetzt indeß, wo er in einige Beziehungen zu Mehemmed
Ruschdi getreten, wird auch hier ein Entgegenkommen nicht ausbleiben.
^elk.rv8 ein KlarüeKal lie 8t. ^manet. 1'aris, Nieliol I^co^.)
Wer in diesem Briefwechsel Aufschlüsse über die geheime Geschichte des
Staatsstreichs vom zweiten December oder der Krimerpedition zu finden erwartet,
wird sich bitter getäuscht fühlen. Die Zeit für solche Enthüllungen ist noch lange
nicht gekommen, zumal wenn sie in Paris gedruckt werden sollen. Die drei
Perioden, in welche das Leben des verstorbenen Marschalls zerfällt, sind von
dem Herausgeber sehr ungleich bedacht worden. Le Noi Se. Arnaud trat
1827 in die Armee ein, verließ sie aber bal,d wieder aus unbekannten Gründen
und war in England und in Griechenland. Diese Zeit bildet die erste Periode
seines Lebens. Der zweite Abschnitt beginnt mit seinem Wiedereintritt in die
Armee nach der Julirevolution und umfaßt sein militärisches Wirken in Algier,
wo er sich als tüchtiger Soldat auszeichnete, die Gunst des Marschalls Bu-
geaud gewann und rasch bis zum Generalmajor stieg. Die dritte umfaßt seine
Wirksamkeit als Kriegsminister der französischen Republik unter Ludwig Napo¬
leons Präsidentschaft, seinen Antheil an dem Staatsstreich vom zweiten December,
endlich die Expedition nach der Türkei und nach der Krim und seinen Tod im
ersten Rausch des Sieges, wie ihn ein Krieger sich nicht besser wünschen kann.
Ausführlich beschäftigt sich der Briefwechsel nur mit der zweiten Periode; aus
der dritten sind eine ziemliche Anzahl Briefe mitgetheilt, die interessant sind,
weil sie eine originelle Persönlichkeit charakterisiren, was aber der Leser
am liebsten aus jener Zeit wissen möchte, erfährt er von dem Marschall
nicht.
Ueber die erste Lebensperiode, über welche sich die böse Welt mancherlei
Skandal ins Ohr flüstert, schweigt dieser Briefwechsel ganz. Nur einzelne
kurze Andeutungen bestätigen, was man von der abenteuerlichen Lebensweise
des Verstorbetten in seinen frühern Mannesjahren erzählt. Es ist von seiner
stürmischen Jugend und von seinen körperlichen und geistigen Vorzügen die
Rede, die ihn zum Helden ^manches romantischen Abenteuers gemacht haben.
Auch ein längerer Aufenthalt in England wird erwähnt, ohne daß man er¬
fährt, wodurch veranlaßt; und nqch Griechenland unter die Philhellenen trieb
den Erlieutenant jedenfalls nicht Begeisterung für die um ihre Freiheit kämpfen-
den Nachkommen der Athener und Spartaner. Im Gegentheil würdigt er sie
sehr unbefangen und seine Aeußerungen würden die süddeutschen Schwärmer
für das neubyzantinische Reich sehr wenig erbauen. „Wenn ein Grieche einen
Franzosen im Verdacht hätte, ein paar Sous in der Tasche zu haben, so wird
er ihn gewiß Meuchelmörder," schrieb er einmal. „Einer meiner Landsleute
machte neulich seine Flinte rein, nahm sie auseinander und legte die einzelnen
Stücke neben sich hin. Ein Grieche stahl ihm das Schloß von demselben Ge¬
wehr, mit dem sich der Franzose täglich für die griechische Sache schlug. Die
Griechen" setzt Se. Arnaud hinzu, „hätten mich todtgeschlagen, um meinen Capot
zu bekommen und damit er kein Loch bekäme, mich durch den Kopf
geschossen." Einige andre Aeußerungen lassen eher vermuthen, was den
Erlieutenant eigentlich ins Ausland trieb. So schreibt er im December 1839
über seine Familie: „Es geht also mit unsern Kindern gut und sie nehmen
an Gesundheit und Verständigkeit zu! Gott sei gelobt! Die Verständigkeit
wird nicht aller Welt gegeben. Mein armer Freund, ich bin zu spät zum Appell
gekommen, als man sie ihr vertheilte. Die Leute mögen sagen, was sie wollen,
es kommt dabei viel auf das Temperament an und man wird zum soliden
Menschen geboren, wie man zum Maler oder zum Koch geboren wird. Ich
meinestheils bin zum Soldaten geboren, mit einigen der Schwächen und
einigen der guten Eigenschaften des Handwerks." Noch unverhüllter zeigt uns
der Briefsteller in einem andern Schreiben seine Privatverhältnisse. „Schickt
mir neulich ein lyoner Schneider," schreibt er aus setis im Juni 1830, „nach
Konstantine einen Wechsel von mir von 330 Franken, zahlbar den 13. Juni
1820 in Paris! Ich kann mich weder auf den Wechsel, noch aus den Schnei¬
der besinnen! Allerdings war die dreißigjährige Verjährung eingetreten, aber
solche Mittel sind nicht für uns. Ich habe Befehl gegeben, ihn zu bezahlen.
Dieser Schwanz aus der Jugend ist länger als der des Herrn Considvrant^),
aber was für ein Auge hat auch er! Ach mein Sohn! was wird er alles
von mir lernen!"
Einzelnes mit Einzelnem zusammengestellt, erfahren wir, daß der spätere
Marschall sich in seiner Jugend durch Schönheit und Eleganz des Benehmens
und durch Lebhaftigkeit des Geistes auszeichnete, daß er aber seinen Leiden¬
schaften oft mehr die Zügel schießen ließ, als weltliche Klugheit gut heißen
konnte; daß er sein Regiment verließ, vielleicht von Gläubigern bedrängt, viel¬
leicht auch um in jener thatenloser Zeit anderswo Befriedigung für seinen
Hang zu Abenteuern zu suchen; daß er den Griechen zu Hilfe eilte, ohne von
dem Vaterland des Miltiades und Themistokles begeistert zu werden, sondern
daß er sehr bald von allen Illusionen zurückkam und sich die Dinge unbe¬
fangener ansah, als die meisten andern Philhellenen, daß er endlich beim
Ausbruch der Julirevolution sich in England befand. Daß er, so in der Welt
herumgeworfen, nicht unterging, ist ein Beweis, daß in seinem Charakter ein
tüchtiger Kern war und so rauschend und stürmisch er auch gelebt haben mag,
so hat er doch seine Bildung keineswegs vernachlässigt, sondern auf seinen
Reisen nachgeholt, was er in frühern Jahren versäumt hat. Er sprach und
schrieb correct zwei bis drei fremde Sprachen, das Lateinische ungerechnet, das
er mit Geschmack und Belesenheit zu citiren weiß. Er widmete sich mit Nei¬
gung der Musik. „Die Herzogin" schrieb er von Blave 1833 (wo er Ge-
fangenwärter der Herzogin von Berry war) „hört mich gern singen. Sie hat
mir befohlen, heute Abend meine Guitarre mitzubringen." Er liebt eS auch,
schöne Verse vortragen zu hören und spricht mit Begeisterung von der Reichel
„Ich war gestern mit Pajol im Polyeucte. Die Rachel übertrifft alles, was
Du mir von ihr gesagt hast. Sie sprach das oroigl.. auf eine Weise, die alle,
die es hörten, beim Herausgehen aus der Kirche hätte in die Beichte schicken
müssen." Er machte sogar selbst Verse, von denen sich im Briefwechsel mehr
als ein Beispiel findet, unter andern eins von 18. October 1833, als General
Meunier dem Lieutenant Se. Arnaud an der Spitze einer Compagnie die für
sein Regiment bestimmte Fahne übergab.
Die Julirevolution gab ihn der militärischen Laufbahn zurück. Er war
33 Jahr alt, verheirathet und erst Souslieutenant. Kein Wunder, daß die
Sehnsucht nach Avancement sich sehr häufig und lebhast in seinen Briefen
äußert, so häufig und lebhaft, daß sie fast verletzt, denn es tritt darin weniger
der Ehrgeiz hervor, der nach einem größeren Wirkungskreis trachtet, alö der
Wunsch, seine materielle Lage zu verbessern. Alle andern Sorgen scheinen vor
dieser einen zurückzutreten. So liest man in einem Briefe aus Bordeaux
vom 17. April 1834 : „Die Lage unsres Landes läßt mich der Zukunft mit
Grauen entgegensehen und dennoch verhindert mich ein ohne Zweifel tadelns-
werthes selbstsüchtiges Gefühl im Grunde meines Herzens sie zu beklagen; denn
man steht auf einem Vulkan und man wird sich schlagen; die Leute von Muth
und Charakter werden sich zeigen und dein Bruder wird zu Grunde gehen
oder aus der Masse hervortreten." Ein ander Mal (1837) schreibt er: „Ich
befinde mich wohl und fühle Neigung mich tüchtig zu schlagen, denn Kon¬
stantine muß mir etwas einbringen." — Dann wieder, als er an der Hand
eine leichte Wunde erhalten hatte. „Kannst du dir einen Esel denken, der
mich auf vier Schritt fehlte? Hätte er mich in den Arm oder wo anders hin
getroffen, so hätte er mich zum Oberstlieutenant gemacht. Zum Teufel mit dem
Tölpel! Unterdessen wärme ich mich in seinem Burnuß." Das Herbe dieses
Egoismus, der in der drohenden politischen Lage seines Vaterlandes, in dem hei¬
ßen Kampfe der Feldschlacht nur ebensoviel Gelegenheiten zum Avanciren sieht und
weiter nichts, wird nur einigermaßen gemildert durch Aeußerungen, welche dieses
Trachten nach weltlichen Vortheilen eher als väterliche Fürsorge für das künftige
Wohlergehen seiner Familie erscheinen lassen. So schreibt Se. Arnaud 1841 aus
Metz: „So krank ich bin und so große Sorgen mir für die Zukunft meine
Gesundheit macht, so wünsche ich doch nichts sehnlicher, als sobald als möglich
nach Afrika zurückkehren zu können. Es ist besser für meine Kinder, wenn sie
Waisen eines Obersten, als wenn sie Waisen eines Bataillonschefs sind."
„Nur um meiner Kinder wegen" schreibt er an seine Mutter von Ueb Jsly
im December 18L3, „um ihnen einen geehrten Namen zu hinterlassen und
ihnen eine Stellung in der Welt zu verschaffen, nutze ich mich an Geist und
Körper ab und führe ein Leben, um das mich kein Postpferd beneiden wird."
Aber dieser Ehrgeiz, diese Sucht emporzusteigen, ist noch nicht der hervorstechendste
Zug in dem Charakter Se. Arnauds. Er'hat ganz recht, wenn er von sich
sagt , er sei zum Soldaten geboren und er besitze neben einigen Fehlern auch
einige der guten Eigenschaften des Handwerks. Noch mehr, er ist ganz Soldat;
er schwelgt in der Wollust, seine ganze Existenz einzusetzen und mit dem Feinde
um Ruhm und Leben zu spielen, er liebt den Krieg um seiner selbst willen,
ohne zu fragen was seine Ursache und was sein Ziel sei. Ihn reizt darin
nur die gewaltige Gemüthsbewegung, der Ruhm und die Aussicht auf Avance-
mein; die Gefahr und der Lärm der Schlachten ist für ihn die Mutter der Be¬
geisterung. „Wie hättest du mich am 8. umarmt" schreibt er seinem Bruder
aus Blidah im October 18-i-I, „als ich mein Bataillon mit Blut und mit Beute
vom Feinde bedeckt in seine Stellung zurückführte, ich selbst mit blutender
Hand, zerbrochenen Pistol und die Klinge meines Säbels bis über die Hälfte
von Blut geröthet! Das sind schöne Augenblicke, Bruder; man vergißt sie
niemals und sie bringen viele Schmerzen, viele Sorgen in Vergessenheit."
„In welchen Rausch versetzt der Sieg, Bruder (von Ueb Foddah im Februar
-1843); die glückliche Liebe tritt vor diesen Empfindungen in den Schatten."
Dieses Schwelgen in der Aufregung des Krieges, diese Leidenschaft für den
Ruhm tritt allerwärts an das Tageslicht. „Wenn ich Zeit hätte, Dir zu
schreiben (aus Bon« im September -1837), so könnte ich Dir schöne Sachen
erzählen, denn ich habe ein prächtiges Schauspiel vor Augen: 10,000 Mann
im Zeltlager um Bona, ein zahlloser Generalstab, unermeßliches Kriegs¬
material. .. Diese ganze Armee setzt sich ungefähr den 23. in Bewegung und
marschirt aus Konstantine.. . man wird sich schlagen wie sich gehört. — Ich
selbst, ich lebe, ich athme, ich bin in meinem Element. Der Bivouak, der Marsch
und das Gefecht sind alle für mich eine Freude. Ich muntre meine Soldaten
auf, ich bereite sie vor, ich unterrichte sie und ich glaube, daß ich ihnen
etwas in meinem Knopfloch zu danken haben werde." Eine ganz
ähnliche Aeußerung, nur etwas anders ausgedrückt, findet sich 20 Jahre später,
als der Marschall Se. Arnaud im Mai -1854 in Gallipoli über die Armee
Heerschau hielt, die er zum Siege führen sollte. „Als ich durch die Glieder von
33,000 Franzosen ging, habe ich vor Freude und Stolz geweint." Der
kriegerische Drang, der heiße Durst nach Thaten spricht sich einige Wochen dar¬
nach in Varna noch ungestümer aus. „Was," ruft er aus, „wir sollen weiter nichts
thun, als die Herrschaft über das schwarze Meer behaupten und unbedeutende
Truppenbewegungen unterstützen? Sieht das nicht aus, als ob wir mit über-
einandergeschlagenen Armen stehenbleiben wollten und nicht gekommen wären,
um den Türken zu helfen? Als ich gestern auf den Höhen von Varna die
Diviston Canrobert die Revue pussiren ließ, sprang mir das Herz im Leibe
und ich hatte Lust zurufen: Vorwärts! Wohin könnte man mit solchen Trup¬
pen nicht gehen?" Manchmal ist es, als ob er seiner Bewegung, seiner Kampf¬
lust und seines Muthes nicht mehr Herr wäre; die Aussicht auf einen Zu¬
sammenstoß mit dem Feinde wirkt aus ihn berauschend wie junger Wein auf
den Kops eines unerfahrenen Trinkers; beim nahenden Kriegsgetöse zittert er
vor ungeduldiger Freude wie das Schlachtroß beim Schalle der Trompete. AIS
er in Varna schon halb im Sterben lag, und seinen Körper nur noch die
Aussicht, wenigstens auf dem Schlachtfelde zu sterben, zusammenzuhalten schien,
schrieb er an seine Frau: „Ich habe eine traurige Nacht gehabt, trotz der Blut¬
egel, die man mir gestern gesetzt hat. Nach dem Frühstück mußte ich mich
wieder ins Bett legen, und um vier Uhr ließ ich mir eine spanische Fliege
legen, mein letztes Hilfsmittel um meinen Feind zu bekämpfen. . . Ich bin da,
ich kämpfe, ich warte, aber vor allem: ich hoffe... Aber die Krisen werden
häufiger und heftiger. Ich hoffe, daß der lange andauernde Donner!
derKanonen auf meine Nerv en und meine Brust wirken wird. Das
ist eine Möglichkeit, an die ich mich klammere, wie ein Ertrinkender an einen
Weidenzweig. Der Zweig bricht vielleicht. . . Es liegt alles in der Hand
Gottes. . ." Es liegt etwas .Rührendes und zugleich Heroisches in dieser Klage
des kranken Kriegers, der nach der Schlacht lechzt, wie nach einem letzten
Heilmittel. Aber nicht blos in seinen letzten Krankheitswochen finden wir
diese fast fieberhafte Erregtheit. Schon im Juni -185 2 schreibt Se. Arnaud
aus Milianah: „Mein Kopf ist eine Projectenmühle, die beständig
arbeitet; und des Nachts stehe ich auf, um die Ideen aufs Papier zu werfen,
die ich für gur halte, obgleich sie mich nicht schlafen lassen." Dann wieder:
„Die Hölle für mich ist die Ruhe, die Unthätigkeit. Ich will es zu gut machen
und zu viel Dinge auf einmal und nehme mir alles zu sehr zu Herzen; das
ist der Fehler großmüthiger Charaktere; aber diese Art Leute leben nicht lange;
sie nutzen sich zu rasch ab, und ich fühle es; aber es ist nicht mehr Zeit
anders zu werden." In den spätern Briefen aus Konstantinopel und Varna lodert
noch dieselbe wilde Flamme, und es gährt noch ebenso im Kopfe und im
Herzen. „Lieber Bruder" schreibt er von Imi Keile am Bosporus, „ich habe
deine beiden Briefe empfangen. Ich sehe, daß du dich immer noch mit Eifer
mit Feldzugöplänen beschäftigst. Ich habe bereits mit angestrengtem Fleiße
mehr als 20 angefertigt, und werde wahrscheinlich nicht einen ausführen. Die
Leute sagen: Man muß stets über seinen Plan im voraus einig sein; ich
sage: man muß auf alles gefaßt sein." Und endlich, als es gilt den ent¬
scheidenden Entschluß zu fassen, und als viele schwanken (so schreibt der
Marschall selbst), vielleicht mit Klugheit, schwankt er nicht; sein Plan ist dies Mal
gemacht: „Ich habe meine Freunde, meine Waffenbrüder, meine Soldaten, die
meine Kinder sind, wie vom Blitz getroffen scharenweis hinsinken sehen, und ich bin
in diesem Beinhaus leben geblieben," schreibt er am -18. August 18Si aus Varna.
„Es ist, als ob in meinem von Leiden gebrochenen, von der Arbeit und vom
Denken abgenutzten Körper die Kräfte in dem Maße sich steigern, wie sie bei
meiner ganzen Umgebung abnehmen. Welche Probe am Schlüsse meines
Lebens! Ich werde unverletzt daraus hervorgehen, weil ich glaube und weil ich
ein Herz habe, das vor nichts zagt. Wenn ich unterliege, so bin ich mit Ehren
gefallen; das ist das einzige stolze Gefühl, das ich in mir dulde----Welches
Jahrhundert! Welches Jahr!.... Die Welt ist bewegt wie ein stürmisches
Meer unter einem schwarzen Himmel. Bis Ende des Jahres werden wir noch
viele Sachen sehen.... Ich für meinen Theil wünsche einen großen
Schlag, einen schönen Sieg, und dann eine vollständige unbe¬
dingte Ruhe... Ach, Montalais! Ach, Malromv! Wann werdet ihr mich
ganz in eure so süße Stille einhüllen, fern von Geschäften, von Sorge und
von Menschen!"
Vervollständigen wir das Bild, dessen einzelne Züge uns der Marschall.
in seinen Briefen selbst liefert, noch mit einem Citat aus Se. Simon, und
wir sind mit Se. Arnaud, dem Soldaten und Feldherrn fertig. Der geistreiche
und kaustische Herzog sagt von dem Marschall Villars: Neben sovielen und
solchen Fehlern wäre es ungerecht, ihm Begabung abzusprechen; er hatte An¬
lagen eines Feldherrn . . . Sein Blick, obgleich gut, war nicht immer von
gleicher Richtigkeit, und im Gefecht war sein Kopf klar, aber zu vielem Feuer
ausgesetzt, und dadurch sich verwirrend .... Seine Pläne waren manchmal
mehr für sich als für die Sache," — eine Charakteristik, die man Wort für
Wort auf den Sieger an der Alma anwenden kann.
Weit mehr als den Politiker und den Militär lernen wir den Menschen
Se. Arnaud kennen und man muß gestehen, daß es eine an originellen Zügen
reiche Gestalt ist. Wir finden in ihm nicht nur einen Offizier von seltener
Energie und einer an Verwegenheit grenzenden Kühnheit, sondern auch einen
Geist voll Phantasie und Feuer, eine äußerst bewegliche und vielseitige Natur,
begeistert für ihren Beruf und alle andern Verhältnisse bald mit übermüthigem
Spott und großer Schärfe kritisirend, bald mit einer frischen Originalität, die
das Glück eines Schriftstellers von Profession machen würde, schildernd.
Dadurch machen seine vertraulichen Causerien aus Algier einen so angenehmen
Eindruck. Mit wie wenigen und kräftigen Zügen weiß er ein malerisches und
treffendes Bild von den Kabylen hinzuwerfen, wenn er im Juni -1838 schreibt:
„Ich sehe alle Tage die Numidier Judas und Massinissas. Vor Konstantine
habe ich die Horden Jugurthas gesehen. Es sind dieselben Menschen, die¬
selben Pferde ... "Was hat ihnen die Zeit und die Civilisation gebracht?
Schlechte Flinten und große türkische Sättel." Alle seine Charakter¬
züge, seine Freude am Kriegsleben, seine Sorgen als Colonist, seine stolze
Eleganz, seine aufopfernde Geselligkeit, seine gute Laune beim Leiden, seine
miileidigen Umwandelungen, seine ungeduldige Energie, treten hier nach¬
einander an den Tag. Heute zeigt er sich als den menschenfreundlichsten,
morgen als den härtesten Menschen: hier läßt er arme Soldaten auf sein
Pferd steigen, pflegt sie wie seine Kinder und rettet sie auf einem verhängniß-
vollen Rückzug vor dem Selbstmord; dort läßt er Höhlen von seinen Colonnen
blokiren und S00 Kabylen darin ersticken. „Die Erde wird auf immer die
Leichen dieser Fanatiker begraben" schreibt er am 13. August 1863 aus dem
Bivouak Ain Meran. „Niemand ist in diese Höhlen hinabgestiegen, niemand
.... Wer weiß, daß dort unten 300 Räuber liegen, die keine Franzosen
mehr hinschlachten? In einem vertraulichen Bericht habe ich dem Marschall
alles erzählt, einfach, ohne schauerliche Poesie oder Bilder. . . " Und einige
Zeilen weiter fährt er sort: „Bruder, ich bin wie wenige Menschen gut aus
Neigung und aus Charakter. Vom 8. bis zum 12. war ich krank, aber
mein Gewissen macht mir keine Vorwürfe. Ich habe meine Pflicht als Be¬
fehlshaber gethan und morgen würde ich von neuem anfangen, aber Afrika
fängt mich an anzuekeln ..." Das war die berühmte Beduinenräucherei,
die in ganz Europa soviel Aufsehen machte und so gerechten Abscheu erweckte.
Se. Arnaud weiß sich jedoch mit der Nothwendigkeit zu trösten und er geht
über so entsetzliche Ereignisse mit derselben Leichtigkeit hinweg, wie über die
Kalamitäten und Beschwerden, die ihn selbst auf seinen Kriegszügen treffen.
In den schlimmsten Lagen, mitten in den größten Entbehrungen, findet er
noch ein pikantes Wort, einen manchmal frivolen Scherz, der die Stimmung
oder Umgebung auf das treffendste zeichnet: „Welches Land, Brüder, so herr¬
lich bis Hieher! Gegenwärtig ist alles Greuel und Entbehrung (es war auf
dem Marsch nach Konstantine), nächstens werden wir einen ganzen Tag kein
Wasser haben. DaS ist das Schrecklichste von der Welt. Aber — am Ende
— wenn der liebe Gott neutral bleibt sind die Kabylen verloren."
„Wir wären in Orleansville beinah verbrannt;" schrieb er im October 1816,
„hätte der Wind seine gewöhnliche Richtung gehabt, so wären unsere Pro¬
viantvorräthe und vielleicht unsere Häuser draufgegcingen, aber Gott blies
Nordwind ... und es ist uns gelungen, alles zu retten, außer ein paar
hundert Centner Gerste . . ." „Wir stecken im Wasser bis über die Ohren,"
schreibt er ein ander Mal am 3. April 18i2, aus dem Bivouak. „Kaum hatten
wir die Beni-Menad und die Beni-Menasses erreicht, so kam die Sündflut
über uns. Mahomet hat offenbar die Woche ...." „Wir haben
Wüstentrüffeln gegessen (Tagüin 13. Mai 1861), die vortrefflich sind. Es ist
eine rundliche Knolle von ausgezeichnetem Geschmack. Die Araber besitzen,
um sie aufzufinden, einen sah wein e in se in et ..." „Dein Brief kam grade
zur rechten Zeit, um mir einen sehr langen, sehr ermüdenden und siroccoschwülen
Tag vergessen zu machen (im Mai 1830), und dazu mußte ich noch einen
Schwanz von 10—I2,gg0 Schafen hinter mir herziehen ... eine Meile
Hammelkeulen .. . meine Razzia ist vortrefflich gelungen ..." In Fonduck
(am 27. August 18A8) ladet er den Scheik eines befreundeten Beduinenstammes
zum Frühstück. „Ich habe ihm seine Gastfreundschaft reichlich vergolten,"
schreibt der Hauptmann Se. Arnaud, „ich habe ihn guttatim benebelt, denn
er wollte Wein nur tropfenweise trinken, aber er hat soviel Tropfen getrunken,
daß er so voll war wie ein Schlauch. Eigenthümliches Schauspiel, diesen
Menschen zu sehen, wie er ganz neue Empfindungen fühlte, sich darüber
wunderte, sie bekämpfte, ihnen wider seinen Willen nachgab, lachte und ganz
verdutzt, sich lachen zu hören, plötzlich wieder aufhörte, als ob ein andres
Wesen in ihm lachte. Ich beobachtete als Philosoph und genoß als
Beobachter." Aber weinselige Beduinen im Burnus bleiben nicht die einzigen
Gäste Se. Arnauds. Unter andern sah er im November -185 6 in Orleans-
ville den Marschall Bugeaud mit einem Gefolge von Deputaten und Schrift¬
stellern bei sich. „Seit 5 Tagen," schreibt er bei dieser Gelegenheit, „kommen
mein Geist, meine Beine und meine Pferde nicht aus dem Zeuge. Der Körper
ist weniger ermüdet, als der Geist. Aber einem Marschall, der gern redet,
vier Deputirten und zwei Journalisten, die ohne Unterlaß nach dem und
jenem fragen, die Spitze bieten, ist zuviel . . . Am 23. holte ich den
Marschall mit einer Schwadron in Ueb-Fodda ab. . . Die Deputirten Toc-
queville, Lavergne, Bechameil und Plichon, und die Schriftsteller Broöt und
Bussieres begleiteten ihn . . . Wir haben drei homerische Gelage, zu je
18 Couverts gehabt, Empfang und eueres roz-vis in Orleansville, Kanonen,
Truppen im Spalier, Illumination, Theater u. f. w. u. f. w. Nur die Akrobaten
fehlten. Meine Hyänen haben ihre Stelle ersetzt. Sie haben einen rasenden
Erfolg gehabt. Marie und Fanny wird vielleicht ein Artikel in den Debatö
gewidmet werden . . . Nach dem Frühstück theilten wir uns in zwei Parteien ...
dann bin ich nach Orleansville zurückgekehrt und reise nächsten Montag zurück
nach Teiles. Der ewige Jude war nur ein Faullenzer." Diese so wohl erzo¬
genen Hyänen spielen eine große Rolle im Briefwechsel. Ueberhaupt liebt
Se. Arnaud die Thiere und wie sich von einem Soldaten von selbst versteht,
zuerst sein Leibpferd Ja-Alet, von dem er, als es gefährlich krank war, schreibt:
„es macht mir viel Sorge. Seit vier Jahren leben wir zusammen, ich oben
drauf, er unter mir ... er geht zuerst drauf und ich werde ihn beweinen."
Dann in einem andern Briefe: „Ich habe Dir schon von meinen Hyänen
Marie und Fanny geschrieben. Sie sind prächtig und ganz zahm. Ich erwarte
zwei Löwen, rechne dazu noch, um meine ganze Menagerie zu kennen, drei
Gazellen, -5 0 Enten, Ä9 Gänse, -12 Gangastruthühner und eine Unzahl Hühner
und Tauben.. .. leb wohl, ich muß der Cvnsultativcommission Vorsitzer." In
diesem Catalog hat der Oberst noch einen großen Geier und einen Affen, Namens
La France, die er mit einer ganzen Herde Ratten im Hofe seiner Wohnung
in Biidal) vorgefunden hatte, in jener Stadt, die er in einem andern Briefe
in dem poetischen Bilde beschreibt: „diese schöne Kokette mit dem Gürtel von
Orangenbäumen, die in meinen Augen nur Werth bekommen würde, wenn ich
sie von einer Aureole von Feuer umgeben fände." „Ich habe meine Mena¬
gerie mit zwei jungen Löwen, Juba und Cirta vermehrt," schreibt er weiter
aus Konstantine im Juli 18S0. Man kann nichts Komischeres sehen als ihr
Spielen mit den Affen; diese nehmen in ihren Mähnen vertrauliche Besichti¬
gungen vor; wenn aber Juba diese Familiaritäten, die er sich gefallen läßt,
zu arg werden und er zu drohen und zu brummen anfängt, sind die Affen
mit zwei Sätzen auf der Spitze ihrer Säule und verhöhnen von dort den König
der Thiere." Es läßt sich nicht leugnen, daß Se. Arnaud eine glückliche und
seine Feder besitzt, die auch allerliebste Genrebilder skizziren kann. Doch wir
dürfen über Se. Arnaud den eleganten Briefsteller nicht Sr. Arnaud den po¬
litischen Charakter vergessen. Eine Anekdote, die von ihm erzählt wird, zeich¬
net ihn vortrefflich. Bei einem der früher erwähnten homerischen Gelage, die
Marschall Bugeaud und seinem Gefolge von Deputaten und Schriftstellern
zu Ehren gegeben wurden, sprach man von den Fortschritten der Colonie. Der
Marschall war stolz auf das, was er gethan hatte mit und vollem Rechte.
„Erzählen Sie doch diesen Herren, Oberst, was Sie alles hier gethan haben,
sagte er zu Se. Arnaud. Ist es nicht wahr, daß Sie ihre Colonisten vom
Civilstande sehr gut behandeln, und daß sie sehr zufrieden sind?" „Ganz
entzückt," entgegnete der Oberst, „sie müssen auch bei Gott zufrieden sein ! wenn
sie nicht zufrieden wären, würde ich sie kopfüber in ihre Silos werfen lassen!"
Das ganze NegierungSsvstem des Marschall Samt Arnaud zeigt sich in dieser
energischen Aeußerung seines Vertrauens in die Kraft des Säbels als Negie-
rungsmittel für das menschliche Geschlecht. In diesem Sinne hat er mehre
Provinzen Algeriens, Milianah, Orleansville, Mostaganem, Konstantine ver¬
waltet, nicht ohne glückliche Erfolge, aber stets mit der kräftigen und harten
Hand des Soldaten und mit der gebieterischen Sprache des Herrn. Jede selbst¬
ständige Regung war seinen Augen ein Greuel. „Ich regiere," schreibt er von
Milianah im August 18i2, „und ich regiere fast ohne Controle. Ich habe weder
Kammern, die mich controliren, noch Minister, die mir rathen und meinen
Willen durchkreuzen ... es ist die schönste Epoche meines Lebens, Bruder. ..
dann, ebendaher „ich bin hier eiserner Stab; nichts darf geschehen, was ich
nicht weiß, und was ich nicht befehle. . und meine Municipalcommission, welche
ich fast fortgeschickt hätte! . . . Um hier einen Kirchhof aufzufinden, haben sie
mir eine Verlegenheit bereitet, die zum Lachen wäre, wenn die Sache weniger
wichtig wäre. Ach, die Dummköpfe, die Dummköpfe, immer unverbesserlich
und immer in der Majorität!" In einem andern Briefe aus Orleansville
vom April 1847 findet sich ein ganzes Glaubensbekenntnis;. „Ich habe einen
Brief von unserm Bruder (sein Schwager Hrn. de Forcade) erhalten, der mich einen
alten Aristokraten nennt. Ich glaube, er hat recht; was ich von der Freiheit
gesehen habe, ist schuld daran. Wer als die Presse, die Kammer, eure unnützen Re¬
volutionen, haben die Menschen todtgeschlagen und die Mißbräuche leben lassen?
mit einem Worte, alles was ich alle Tage mit großem Ekel sehe." Endlich
aus Konstantine im September 1850: „Man muckst nicht in meinem Gouver¬
nement; ich würde hart zuschlagen." Dasselbe Princip beobachtet er gegen seine
Offiziere, nur daß er gegen die Kameraden die äußere Form der Höflichkeit
beobachtet, die er gegen die verachteten Civilisten, gegen den Pekin, zu ost
vergißt. Kein Wunder, daß er sich überall als einen leidenschaftlichen Gegner
des constitutionellen Negierungssystems zeigt. Was nicht die Uniform anhat,
ist ihm ein Epicier; Schriftsteller und Advocaten sind ihm gleich verhaßt.
Man hört nichts als bittere Anklagen gegen die Errungenschaften der Juli¬
revolution. Er liebt die Dynastie; er bewundert den Muth und die Gewandt¬
heit des Königs; er findet einige rührende Worte über die Königin; aber die
parlamentarische Regierung ist ihm ein Dorn im Auge, der König ist zu
liberal, der Minister Guizot zu friedlich gesinnt, die Kammern schwatzen zu
viel und die Zeitungen geniren zu sehr. Beständig klagt er, daß die Kammern
zu wenig für Algier und für die Armee thun. ,,Die Deputirten handeln um
den Ruhm wie um ein Pack Lichter. Die Leute, die aus ihren gepolsterten
Bänken mit warmen Füßen und vollem Magen nach Laune oder Leidenschaft
entscheiden, ob man diese oder jene Eroberung behalten soll oder nicht, ahnen
nicht, was sie uns gekostet hat." Nur blinde Leidenschaft konnte solche Klagen
aussprechen, denn wie alle Welt weiß waren grade die Kammern das trei¬
bende Element, welches die verschiedenen Ministerien Ludwig Philipps ver¬
anlaßte, die französische Herrschaft in Algerien immer weiter auszudehnen,
und schwerlich hätte sich Se. Arnaud unter der despotischsten Regierung eines
schnelleren Avancements erfreuen können, als unter der parlamentarischen Lud¬
wig Philipps, denn er landete 1837 in Algier als simpler Lieutenant, unbe¬
kannt und ohne Verbindungen und war 1847 bereits Generalmajor und Com-
thur der Ehrenlegion. Die Liebe zu einem verehrten Führer nimmt auch
einmal die Maske der Opposition vor; Marschall Clausel, der ehemalige Gou¬
verneur in Algerien, besuchte 1838 als einfacher Privatmann seine Besitzun¬
gen in der Metidscha. „Meine Befehle," schreibt Se. Arnaud, „schwiegen
über die Art, wie ich ihm die Honneurs machen sollte oder ob ich ihn über¬
haupt in Empfang nehmen sollte. Ich hatte meine Compagnie, 100 Mann
stark und zwanzig Jäger zu Pferde; die Lage war schwierig, heiklich, Bruder;
ich habe sie mir reiflich überlegt und hielt es für das Beste, der Stimme
meines Gewissens zu folgen. Ich sah vor mir einen mit dem höchsten Grade
der Armee geehrten Mann; ich habe nur an seine Erfolge gedacht, und grade
weil er in Ungnade war, wollte ich ihm zeigen, daß die Armee, die er ost
zum Siege geführt, dessen nicht vergessen hätte. Er ging in Civil, ohne
Orden. Ich gab meinem Detaschemcnt Befehl, ihn zu empfangen, als. ob er
mit dem weißen Hutfedern und den Orden käme, die er auf dem Schlachtfelde
erworben hat. Ich bin belohnt worden, Bruder, denn ich habe Thränen über
die gebräunten Wangen des alten Kriegers rinnen sehen, als ihn bei seiner
Ankunft an der Brücke von Ueb el Koma, wo mein kleines Detaschement auf¬
gestellt war, Trompetenschall und Hörnerklang empfing und die Mannschaft
präsentirte. Er dankte mir mit den kräftigsten Worten, indem er meine Hände
ergriff. Als er von mir Abschied nahm, sagte er zu mir: ,,,,Auf Wiedersehen,
Capiiän, wir sehen uns gewiß wieder."" Wenn die militärische Behörde mit
mir unzufrieden ist, wenn der Parteigeist meine Absichten entstellt, so werde
ich um eine Antwort nicht verlegen sein." Se. Arnaud konnte sich beruhigen;
die Regierung und die Kammern schwiegen, und er konnte dem Zuge seines
Herzens straflos folgen.
Die letzten Briefe sind aus dem Orient und zeigen uns die peinliche Lage,
in der sich der ehrgeizige und thatendurstige Marschall befand, als ihm wie
seinem Heere Siechthum und Seuchen Stillstand geboten', wo er Lorbeeren zu
ernten gehofft hatte. „Ich befinde mich mitten in einem ungeheuern Grabe,
schreibt er aus Varna am 9. August 4834, biete der Geißel die Spitze, die
mein Heer decimirt und sehe meine tapfersten Soldaten in dem Augenblicke
hinsterben, wo ich sie am nothwendigsten brauche. . . . Findet man in der
Geschichte viele Lagen, die der meinigen ähnlich sind? . . . Den Tod im
Herzen, die Ruhe aus der Stirn, so lebe ich. ." „Nichts hat mir gefehlt,
Bruder: Cholera, Feuersbrunst, und ich erwarte blos noch einen Sturm, um
auch ihm zu trotzen (23. August). Die Cholera macht mir am meisten Kum¬
mer. Wenn sie fortdauert, kann sie mich in diesem Leichenhause Varna fest¬
nageln. Auch die Flotte ist angesteckt, einzelne Linienschiffe haben den zehnten
Theil ihrer Mannschaft verloren." Endlich in einem Briefe vom 30. August,
ebenfalls aus Rama an seine Gemahlin, gießt er seinen ganzen Schmerz aus
und läßt uns einen tiefen Blick in seine fast verzweifelnde Seele thun: „Liebe
Louise, ich stehe im traurigsten Zustande von der Welt auf: eine schreckliche
Nacht, Schwäche, Schmerzen, ein Windstoß auf der Rhede, mit einem Worte,
alle denkbaren physischen und moralischen Widerwärtigkeiten. Trotzdem schiffe
ich mich um 2 Uhr ein . . . ich enthalte mich jeder Bemerkung; die ich machen
könnte, wären so bitter, daß sie nicht mehr eines Christen würdig wären. Habe
ich genug von dem bittern Kelche getrunken? Es gibt Augenblicke, wo meine
ganze Seele sich auflehnt und empört. Das Gebet hat keine andre Wirkung
mehr auf mich, als ein Sturm. Seine Ohnmacht wirst mich zuweilen dem
Zweifel in die Arme und ich leide so sehr, daß mein Glaube wankend wird.
Ich frage mich, warum sich auf ein armes Menschenkind soviele Qualen
und Leiden der Seele und des Körpers häufen? Wenn noch der physische
Schmerz mir alle meine Kräfte ließe, so würde ich fortkämpfen; aber die Kräfte
ermatten im Kampfe, er dauert zu lange. .. "
Er fand noch einen Trost. Er durste noch einmal siegen und sein
schönes, eines antiken Helden würdiges Ende, nachdem er, dem Tode nahe,
von zwei Ordonnanzen aus dem Pferde gehalten, seine letzte Schlacht geleitet,
macht fast die Verbrechen vergessen, die der Verstorbene an der Freiheit seines
Vaterlandes begangen.
Bevor wir auf die Originaldramen eingehen, erwähnen wir zwei Ueber¬
setzungen aus Molisre: Der Tartüffe, und die Klagegeister, das erste
von Adolf Laun (Oldenburg, Schmidt), das zweite von einem Ungenannten
(Oldenburg, Schultze). Beide sind getreu im Versmaß des Originals, mit
vielem Geschick übersetzt, und werden vielleicht dazu beitragen, den Alexandriner
für das Lustspiel, wenn auch nur ausnahmsweise, auf unsrer Bühne wieder
einzubürgern. — Unter den Originaldramen heben wir zuerst hervor: Michel
Angelo. Ein Drama in zwei Acten von Friedrich Hebbel. Wien, Tend¬
ler. — Der Inhalt dieses Lustspiels ist folgender. Michel Angelo hat eben eine
Statue des Jupiters fertig, ist aber in einiger Besorgniß, ob die Wahl des
Gegenstandes auch seinem Hauptkunden, einem Herzog, und ob die Aus¬
führung dem Publicum gefallen wird. Den ersten weiß er durch listige Rede¬
wendungen, durch scheinbaren Widerspruch zu bestimmen, eben jene Statue bei
ihm zu bestellen, über das zweite beschließt er auf eine etwas complicirtere Weise
zu täuschen. Er schlägt seiner Statue einen Arm ab, schwärzt sie und läßt
sie an einem Ort vergraben, wo den andern Tag Nachgrabungen gehalten
werden sollen. Die Statue wird gefunden, für eine Antike gehalten, und alle
Welt bezeichnet sie unserm Künstler als ein Muster, das er nie erreichen werde.
Zur allgemeinen Beschämung zieht er dann den abgeschlagenen Arm hervor
und zeigt, daß er die Statue selbst gemacht habe. — Etwas literarische Ten¬
denz wird man dieser Erfindung wol leicht anmerken; es soll der Unverstand
des Publicums und der Kunstfreunde gegeißelt werden, die nur die historisch
beglaubigten alten Kunstwerke gelten lassen, vor den neuen Schöpfungen da¬
gegen, in die sie sich erst hineinarbeiten müßten, ihren Sinn verschließen.
Indeß ist gegen diesen Seitenhieb auf das Publicum nichts einzuwenden, da
das kleine Lustspiel gegen Hebbels Gewohnheit munter und realistisch genug
gehalten ist. Der alte leidenschaftliche Michel Angelo hatte ganz recht, ein
starkes Selbstgefühl zu haben und das Publicum gering zu schätzen. Freilich
darf man daraus nicht den Schluß ziehen, daß jeder, der ein starkes Selbst¬
gefühl hat und das Publicum verachtet, deshalb ein großer Künstler ist. —
In der Ausführung ist der Schluß zu tadeln. Hebbel führt ganz unnöthiger-
weise den Raphael aus die Bühne, um eine sentimentale Umarmung einzu¬
leiten, die gegen die Stimmung des Stücks verstößt; ja er läßt auch noch
den Papst hinzutreten und die beiden Künstler seiner Protection versichern,
was einmal wieder überflüssig ist, außerdem aber auch noch eine starke Ver¬
sündigung gegen das Costüm, denn ein Papst mischt sich nicht so ohne weiteres
in das Gedränge des Publicums, daß man ihn gar nicht bemerkt, bis er end¬
lich zu reden anfängt. — Auf dem Theater würde die gar zu einfache Hand¬
lung, die wesentlich doch nur als Grundlage zu den ausgesprochenen Ansichten
berechnet ist, wol kaum Glück machen. — Die übrigen Stücke gehören dem
historischen Genre an. Es sind zum Theil bekannte und berühmte Namen,
die sich in diesem Felde versucht haben. Als gelungen können wir aber kein
einziges bezeichnen. Fast überall liegt der Fehler schon in der Wahl des
Stoffs, und auf diesen Punkt wollen wir uns hier ausschließlich beschränken,
da im Uebrigen in Beziehung auf die Composition und die Ausführung der
einzelnen Scenen sich mehr oder minder Talent bei allen zeigt. — Julius
Mosen hat Herzog Bernhard von Weimar zum Gegenstand seiner Tragödie
gemacht (Leipzig, Brockhaus); gewiß eine interessante Erscheinung für den
Historiker wegen des ebenso kurzen als glänzenden Laufs seiner Thaten:
allein der dramatische Dichter wird nicht im Stande sein, die Figur zu einem
befriedigenden Bilde zu gestalten, weil ihr der sittliche Inhalt fehlt. Trotz
aller Sympathie, die wir Protestanten für den jugendlichen Helden haben,
können wir uns doch der Einsicht nicht verschließen, daß er im Grunde ein
politischer Abenteurer war. Man sucht das Tragische seines Schicksals da¬
durch herzustellen, daß man ihm eine großartige patriotische Gesinnung unter¬
schiebt, die dann durch die Verbindung mit Frankreich zu einem innern Con¬
flict gebracht worden sei; allein dadurch bekommt die ganze Geschichte eine
falsche Färbung. Dazu kommt noch die unvermeidliche Convenienz in Liebes¬
angelegenheiten, der unsre Dramatiker einmal nicht entgehen können. Als
man dem historischen Herzog Bernhard Anträge in Bezug auf die Nichte deS
Cardinal Richelieu machte, antwortete er, sie sei ihm zur Frau nicht vornehm,
zur Maitresse nicht schön genug. Was soll aber aus diesem reizenden Einfall
werden, wenn man die beiden Personen edel und zart halten will? Uebrigens
sind einzelne Scenen kräftig und poetisch durchgeführt. — Alfred Meißner
hat unter dem Titel: Der Prätendent von Aork, das Thema durchgeführt,
welches Schiller in seinem Warbeck sich vorgesetzt hatte; allein er hat den Plan
Schillers ganz verlassen und einen eignen entworfen, der daran leidet, daß
die Intriguen und Verwicklungen zu sehr in die Breite gehen. Dies muß
man beim historischen Drama umsomehr vermeiden, wenn die Mehrzahl der
darin auftretenden Personen zu Intriguanten des gewöhnlichen Schlages ge¬
hört. Meißner hat in seinen beiden frühern Dramen mit einer gewissen
Paradorie die schwarze Seite der menschlichen Natur dargestellt. DaS ist
dies Mal weniger der Fall. Zwar würden wir gern einen großen Theil der
untergeordneten Personen entbehren, dasür ist aber in den beiden Hauptpersonen,
in König Heinrich und in dem Prätendenten, ein kräftiger historischer Zug,
der wenigstens für Augenblicke den Leser mit fortreißt. Die Aufführung wird
starke Striche nöthig machen; doch sollten sich bei der großen Armuth, die jetzt
auf dem dramatischen Gebiet herrscht, die Theater diese interessante Arbeit nicht
entgehen lassen. — Viel schwächer ist das historische Trauerspiel von Robert
Giseke: Johannes Rathenow, ein Bürgermeister von Berlin. Leipzig, Brock¬
haus.— Der Roman von W. Aleris, nach welchem das Stück gearbeitet ist,
gehört zu den besten unsrer Literatur. Er stellt uns das brandenburgische
Städteleben zu Ende des Mittelalters mit einer Plastik dar, die etwas Be¬
zauberndes hat, und über der wir einzelne verwirrte Scenen leicht vergessen.
Allein zu dieser Plastik gehört ganz nothwendig die Breite der Nomandar-
stellung. Die Art und Weise, wie uns in dem Drama die berliner Finanz¬
verhältnisse vorgestellt werden, sowie die Einmischung der Localitäten, nament¬
lich des steinernen Roland, ist ganz äußerlich und kann unser Interesse nicht
erregen, während wir sie im Roman vollkommen verstehen. Zwar hat der
Verfasser geschickt die einzelnen dramatischen Momente getroffen, aber sie haben
keinen innern Zusammenhang, und wenn seine Bildung auch viel umfassender
ist, als die der Frau Birch-Pfeiffer, so ist seine Methode doch ganz die näm¬
liche. — Am schwächsten ist das historisch-romantische Drama: Napoleon auf
Helena, von Kahlbau. Tangermünde, Döger. — Der Versuch, das Ende
Napoleons sentimental aufzufassen, wird wol im lyrischen Gedicht gelingen,
aber nicht im Drama, wo man notwendigerweise bestimmt umrissene Ge¬
stalten verlangt; am wenigsten wird er gelingen, wenn man schwärmerische
Damen mit ins Spiel bringt. — Ein andres Gebiet betreten wir in dem
Drama von Adolph Widmann: Nausikaa (Berlin, Franz Duncker.) Der Ver¬
sasser hat den Goethescher Plan zu Grunde gelegt und ihn nicht ohne Geschick
durchgeführt, wie wir denn schon in seinen frühern Werken eine wirklich poetische
Begabung anerkannten. Allein um dem ziemlich dürftigen Stoff ein wirkliches
Interesse zu verleihen, wäre eine glänzendere Fülle von Gedanken, Bildern
und Empfindungen nöthig gewesen, als sie dem Verfasser zu Gebote stehen.
Die Stimmung des Stücks ist nicht classisch, sondern romantisch. In den
Selbstmord der Nausikaa wird ein ethischer Inhalt gebracht. Poseidon, er¬
zürnt über den Schutz, den man seinem Feind hat angedeihen lassen, verwan¬
delt das Schiff, das ihn heimgeführt, in Stein, und umgibt die ganze Insel
mit einer Steinmauer. Das Volk ist in Verzweiflung, da bietet sich die
Prinzessin, die schon zu Anfang ganz gegen den Sinn der Fabel eine gewisse
Anlage zur Schwärmerei gezeigt, dem Gott des Meeres als Opfer, die Wogen
theilen sich, Poseidon steigt aus den Fluten auf und trägt'sie im Arm, das
Schiff wird frei, und passende Chorgesänge feiern diese Thatsachen. — Ferner
erwähnen wir als ein heiteres und sehr geschickt ausgearbeitetes Lustspiel: Die
Brüder Urbani, oder Hypochondercuren, von Rudolph Reichenau, welches am
19. April 1855 mit Beifall auf dem Friedrich-Wilhelmstädtischen Theater zu
Berlin aufgeführt wurde, und abgesehn von einigen Wiederholungen, die leicht
zu entfernen sind, überall einen guten Eindruck machen wird. Zum Schluß:
Deal monde. Von Alexander Dumas Sohn. Deutsch von P. I. Rein¬
hard. Wien, Wallishauser. — Die Halbwelt besteht aus Frauen, die ihren
Männern durchgegangen sind, sich von ihren Liebhabern unterhalten lassen,
Spielhäuser dirigiren u. s. w. Das Stück hat in Paris Furore gemacht,
hauptsächlich des Inhalts wegen, denn grade dem ehrlichen Spießbürger ist
es höchst angenehm, einmal zu sehen, wie eS unter liederlichen Leuten zugeht,
um so angenehmer, wenn er dabei noch einen moralischen Zweck haben.kann,
denn der Versasser ist außerordentlich tugendhaft, er will nicht etwa die Lieder¬
lichkeit empfehlen, sondern alle jungen und alten Leute davor warnen; so ver¬
bindet er auf eine sehr geschickte Weise das Nützliche mit dem Angenehmen.
Die Behandlung des Stoffs ist ganz in der Weise Scribes; doch ziehen wir
den alten ehrlichen Scribe bei weitem vor, eben weil er handgreiflicher ist und
nicht so raffinirte Motive anwendet. Die Sprache ist bei den modernen Fran¬
zosen allerdings viel feiner zugespitzt und die Einfälle verrathen eine viel
größere Routine im Umgang mit den verschiedenen Classen der Gesellschaft,
aber wir können nicht sagen, daß diese zusammengesetzte Gesellschaft der moder¬
nen Romantiker verständiger oder auch nur spaßhafter ist, als die bürgerliche
Gesellschaft Scribes. Noch viel schlimmer ist es freilich, wenn man diese
Halbwelt tragisch behandelt, wie derselbe geschickte Verfasser in der Camelien-
dame gethan. Aber auch im Lustspiel tritt doch zu sehr die widerliche Seite
dieses Lebens hervor. Will man die Unsittlichkeit komisch behandeln, so muß
eS auf die dreiste, ja freche Art geschehen, wie es Moliere im George Daudin
versucht hat. So etwas würden freilich heute unsre Nerven nicht mehr ertragen.
Es sind harmlose kleine Geschichten aus dem Leben unbemittelter Offiziere,
armer Schauspielerinnen in., mit Liebe und Wärme aufgefaßt und mit großem
Geschick wiedergegeben. —
In der Vorrede hat Ludwig Steub seinem Freunde ein Denkmal gesetzt.
Friedrich Lentner war 181 i zu München geboren, ursprünglich für den Buch¬
handel bestimmt, aber seit dem Jahre 1841 vorzugsweise mit schriftstellerischen
Arbeiten beschäftigt. Die Aufgabe seines Lebens war, die Sitten und Zustände
des Lechthals in möglichster Treue novellistisch darzustellen. Er hat diese Auf¬
gabe mit einer Treue und Ehrlichkeit gelöst, die ihm eine ehrenvolle Stelle in
der populären Literatur bewahren wird. Eine gemüthliche Natur, harmlos und
dem Volk wahrhaft ergeben, hatte et doch das seltsame Schicksal, sowol von
Seiten der Regierungen als des Volks fortwährend Anfechtungen zu erleiden.
Nur einmal schien ihm das Glück günstig. Im Jahre 18i6 übertrug ihm der
damalige Kronprinz Maximilian die Ausführung eines höchst zeitgemäßen Ge¬
dankens. Es sollte, erzählt der Herausgeber, des Baierlandcs Volksthum gleich¬
sam inventarisirt werden. Alles, was sich in Städten und Dörfern noch an
altem deutschen Herkommen finden ließe, sollte der Sammler aufzeichnen, zu¬
sammentragen, vergleichen und auslegen. Lieder und Sagen, Volksmeinungen
und Bauerregeln, Glauben und Aberglauben, Gebräuche im Winter und
Sommer, bei Geburten, Hochzeiten und Sterbefällen, ältere und neuere Trach¬
ten, auch die Arten des Haus- und Feldbaues, kurz das ganze Thun und
Lassen, insoweit es nicht in das sprachliche Gebiet einschlug, das schon Andreas
Schmeller in seinem unübertrefflichen bairischen Wörterbuche behandelt, das
Alles sollte jetzt zusammengesucht werden. Lentner ging mit freudigem Eifer
an seine Aufgaben, an deren vollständiger Durchführung ihn leider sein früher
Tod 1852 verhinderte. — Die vorliegende Novelle ist aus seinem Nachlaß.
Sie gehört nicht zu der aufregenden Lectüre, ist aber im Ganzen eine ge¬
sunde Kost und gehört entschieden zu den bessern Leistungen der populären
Literatur. —
Wir haben bei den frühern Romanen des Verfassers das Talent gut zu
sehen und lebhast zu erzählen, anerkannt. In dem gegenwärtigen Buch wird
das Talent dadurch einigermaßen verkümmert, daß er nicht unbefangen ist. Er
scheint mit. seinem frühern Recensenten unzufrieden zu sein und schildert, um sich
gewissermaßen seiner Haut zu wehren, einen Schriftsteller, den das Loos, ver¬
kannt zu werden, gleichfalls getroffen hat. Leider sind wir in der Lage, uns
den Gegnern dieses Schriftstellers beigesellen zu müssen, denn die Maximen,
nach denen er handelt, können vor einem gesunden Urtheil nicht bestehen. So
hat er z. B. einen Mündel, der trotz seiner poetischen Anlagen im Abiturienten-
eramen durchfällt, weil er im lateinischen Exercitium zu viel Fehler macht.
Die natürliche Alternative eines unbemittelten jungen Mannes ist nun, ent¬
weder das Studium aufzugeben und ein praktisches Geschäft zu treiben, oder
fleißiger zu sein, um nachträglich das Eramen zu bestehen. Gegen dies letztere
sträubt sich aber das Selbstgefühl des jungen Poeten, dem die Beschäftigung
mit den todten Sprachen als etwas Ueberflüssiges erscheint. Er will sich so¬
fort seinem eigentlichen Beruf zuwenden, d. h. schriftstellern. Statt ihn nun
zur Vernunft zu bringen, bestärkt ihn sein wohlwollender Vormund in seinem
Vorhaben. Das ist nicht blos albern, es ist gewissenlos gehandelt. Ein
Schriftsteller kann eine sehr tüchtige Stellung im Leben einnehmen, wenn er
dem Publicum an Bildung überlegen ist; es steht aber schlimm mit ihm, wenn
er nicht einmal die gewöhnlichen Anforderungen erreicht. Ob man nun ein
Paar lateinische Regeln mehr oder weniger weiß, wird zwar den Stand der
Bildung nicht wesentlich ändern, aber es verhält sich hier wie mit dem bekannten
sophistischen Scherz über die Kahlköpfigkeit: der Unterschied eines Haars macht
nicht zum Kahlkopf, und doch muß zuletzt eine Grenze gesteckt werden. In
Dingen, die in das Bereich des menschlichen Willens fallen, steckt man diese
Grenze mit einiger Willkür, und da müssen wir behaupten, daß die Anforde¬
rungen, die man an die Bildung eines Abiturienten stellt, so mäßig sind, daß
derjenige, der nicht einmal sie zu erfüllen im Stande ist, auch nicht den Beruf
haben kann, der Nation als Lehrer entgegenzutreten, was doch der Schriftsteller
sein soll.
Einzelne Einfälle in diesen humoristischen Skizzen sind ganz vortrefflich;
aber sie sind weder zahlreich noch bedeutend genug, um die Uebelstände, die
mit der aphoristischen Form stets verknüpft sind, zu beseitigen. Wenn man in
einer fortgesetzten Spannung der Neugierde bleibt, so sieht man dem Erzähler
manche Schwächen nach; wo man sich aber fortwährend zu einer neuen Auf¬
merksamkeit zusammenraffen muß, verlangt man etwas Ungewöhnliches und
Bedeutendes. — Die gegenwärtigen Erzählungen bilden den ersten Band einer
größern Reihe von Schriften desselben Verfassers. —
Ein schönes Buch, voll Kraft, Natur und Leben, welches sich den frühern
Skizzen des berühmten Verfassers würdig anschließt und seines echt menschlichen
Inhalts wegen verdient, auch von dem deutschen Publicum mit Aufmerksamkeit
und Interesse betrachtet zu werden. —
Diese sehr geistvolle und fein gearbeitete kleine Novelle erschien in der
Revue des deur mondes. Der Uebersetzer erzählt nach dem Bericht eines fran¬
zösischen Kritikers, daß sie eigentlich die Ueberarbeitung eines ältern italienischen
Romans ist, Vittoria Savorelli, welcher 18i1 in Paris erschien und die Ge¬
schichte eines schönen Mädchens erzählte, welche schändlichen Familienintriguen
zum Opfer fiel. Es war ein einfacher, rührender Bericht über ein Ereigniß,
das im Jahr 1838 ganz Rom beschäftigt hatte, und der Bericht wurde durch
Actenstücke unterstützt. Eben deshalb wurde das Buch unterdrückt und bis
auf wenige Exemplare vernichtet. Die gegenwärtige Bearbeitung hat in Paris
großen Beifall gefunden. — Die beiden zuletzt genannten Werke gehören zu
der Conversations- und Reisebibliothek, die im Lorckschen Verlage erscheint.
Wir führen aus derselben noch eine andere Schrift an: Die Biographie Benja¬
min Franklins von Mignet, die wir schon bei Gelegenheit des Originals be¬
sprochen haben. —
Die interessanteste Lieferung dieser Sammlung ist der Anfang eines nach¬
gelassenen Werks von Balzac: Z^es pfeils hour^eois, das freilich, wie die
meisten Schriften des berühmten Verfassers durch die Virtuosität im Analy¬
siren und die Zusammenhäufung empirischer Details einigermaßen ermüdet,
aber doch wieder als eine sehr werthvolle Studie über die materielle Seite des
pariser Lebens zu betrachten ist. Bei seinem eminenten Scharfsinn würde
Balzac noch viel Bedeutenderes geleistet haben, wenn er nicht den Fehler be¬
ginge, die Anomalien der Wirklichkeit zu übertreiben. — Ein ausführlicher
Roman in zwei Bänden von Gondrecourt: IVlömoire8 et'un visux Kg,r<?on, zeigt
wieder ziemlich glänzend die Fähigkeit der modernen französischen Bellerristen,
die schlechten Seiten der Wirklichkeit hervorzukehren. Er verfällt einige Male
in sehr starke Unwahrscheinlichkeiten, ist aber nicht ohne Interesse. — Eine No¬
velle von Charles Barbara: l.'a88g,88in!U ein ^oiU-ron^e, ist eine sorgfältig
ausgearbeitete psychologische Analyse mit vorwiegend moralischem Zweck. Daß
um dieses Zwecks willen manche unnöthige Greuelgeschichten mit in den Kauf
gegeben werden, wird bei einem Franzosen der neuesten Schule nicht über¬
raschen. — Voll dem Roman: 'l'aneröäö <l<z LKü,t<zaubrnn par Kabrisl I?srr^
(Louis de Bellemare), ist bis jetzt nur der erste Band erschienen, aber er ent¬
hält schon genug, um die celtische Phantasie des Verfassers, der ganz ebenbür¬
tig neben A. Dumas und E. Tue steht, zu bekunden. —
— Der letztvergangene Dienstag (7. August)
war durch ein schweres Gewitter ausgezeichnet, wie in dieser Stärke nicht nur
im gegenwärtigen Sommer, sondern überhaupt während einer ganzen Reihe von
Jahren keines hier vorgekommen ist. Schon der Aufgang der Sonne über den
kahlen Bergen im Nordosten der Hauptstadt, auf dem jenseitigen Bosporusufer, der
hinter einem Vorhange von finsterem Gewölk vor sich ging, schien zu verkünden,
daß der Tag etwas Außerordentliches bringen werde. Gleich nachdem es hell ge¬
worden begann ein seiner Sprühregen zu fallen; eine Stunde darnach war der
Himmel rings umzogen und über die sonst lichtstrahlende Stadt, deren Minaret¬
spitzen und Moscheenkuppeln kaum je anders wie im Sonnenglanze blitzend darge¬
stellt werden, hatte sich ein sast unheimlicher Dämmerungsschimmer ausgebreitet.
Dann und wann leuchteten einzelne Wcttcrstrahlen am äußersten Gesichtskreise
und verkündeten den gleichzeitigen Heranzug mehrer Gewitter, die vou verschiedenen
Seiten hernahend, wie es schien, die Metropole zum Stelldichein gewählt hatten.
Ich befand mich um diese Zeit aus dem Wege von meiner nicht weit vom Bosporus
gelegenen Wohnung zum äußersten Endpunkt des goldenen Hornes. Kaum jemals
sind mir die Straßen von Pera so finster vorgekommen. In den am Hafen sich
entlangziehenden Türken- und Judenviertcln Kasfun Pascha und Haskoj nahm das
Dunkel noch zu. Endlich gelangte ich zu einem der weitgedehnten Kirchhöfe und
damit ins Freie. Der von einem drei Monate währenden Sonnenbrande ausge¬
dörrte Boden, auf welchem selbst der frühere Rasen sich in Staub verwandelt hatte,
lechzte scheinbar dem Regen entgegen, und es lag ein eigenthümlicher Contrast in
der Eile, mit welcher die wenigen, aus dem einsamen Wege zwischen Leichensteinen
und über leere Felder hin mir begegnenden Leute, zumeist Juden, mit dem Bündel
unter dem Arm, ihren Behausungen zustrebten, und der melancholischen, regungs¬
losen Stille in der Natur. Endlich begann ein leises Singen und Flüstern in den
Wipfeln der dies Mal mir noch grauer und brauner wie sonst erscheinenden Cypressen.
hoch über den Gräbern; vor und hinter mir beginnt eS zu donnern; erst dumpf
wie aus weitester Ferne, aber bald lauter und mehr aus der Höhe des Himmels.
Der Losbruch des Unwetters ist nahe, und kann jeden Augenblick eintreten. Ich
warf einen Blick zum Zenith hinan, wo die Wolken im massenhaften Gedränge, von
entgegengesetzten Luftströmungen getrieben, mindestens momentan zum Stillstand ge¬
kommen waren. Einzelne große Tropfen fielen von oben hernieder. Plötzlich
zuckt es wie ein Heller glitzernder Riß in Windungen und Zacken über den
Himmel hin, und gleich daraus wird die Atmosphäre von einem jener Donner¬
schläge erschüttert, wie man sie so ohrenbetäubend in unsrem Norden kaum kennt.
Dumpf hallt das Rollen der Aethcrschlacht in den Thälern der Meerenge fort, bis
es in dem Wehgeheul und Kleffen der hundert und aberhundert Hunde sich ver¬
liert, die das Gekrach ans ihrem trägen Schlummer auf den Gassen der benach¬
barten Stadtheile erweckt hat. Eben hatte ich einen mächtigen Baum erreicht,
der mit weitgestreckten Aesten ein weites Laubdach um seinen Stamm hin aus¬
breitet, als der Platzregen begann und im harten Aufprallen aus den steinfesten
Boden rings um mich her das Feld wie von einer gewaltigen Cascade überspült
erscheinen ließ. — Da der Negen nach längerem Warten nicht nachlassen wollte,
befand ich mich in der unangenehmen Lage, meinen Weg beim wolkenbruchartigen
Gusse noch eine Strecke weit über das Feld hin und sodann durch winkelige und
schnnizige Gassen fortsetzen zu müssen. An ein sich Flüchten unter Dach und
Fach eines Hauses ist in türkischen Stadtvierteln bei solchen Gelegenheiten nicht
wol zu denken, indem die muselmanische Sitte das Eintreten in das Haus
überhaupt, ganz im Besonderen aber dem Fremden — der Frauen wegen —
verbietet.
Das am frühen Morgen begonnene Unwetter währte den ganzen Tag und die
nachfolgende Nacht fort. Gestern bei Tagesanbruch regnete es noch, aber um
Mittag war der Himmel wieder klar, und am Nachmittag schon hatte die Sonne
alle Feuchtigkeit vom Boden aufgekHt. Ich erwähne diese Umstände ausdrücklich,
weil sie mit Bezug aus die Krim, wo dieselben Witterungsverhältnisse wie hier vor¬
herrschen, von Interesse sind. Durch Negen schwierig werden dort wie hier die
Wege eigentlich erst im November und December, indem die Sonne bis dahin
genug Kraft behält, um den aufgeweichten Boden nach wenigen Stunden wieder
abzutrocknen. Wenn die Stürme im Pontus sich nicht schon zu Ende Septembers
einstellten und aus die Operationen der Verbündeten durch Unterbrechung ihrer
Verbindung mit der Basis einen bedeutenden Einfluß zu üben vermöchten, könnte
man daher behaupten, daß General Pelissier noch mindestens drei Monate für
sich habe. Die Acquinoctialorkane verkürze» dieselbe indeß auf kurze sechs Wochen und
das ist, wie jedermann ermessen kann, viel zu wenig, um einen neuen OvcrationS-
plan einleiten und durchführen zu können. Eines neuen aber bedarf es zur Er¬
reichung des Zweckes; denn es ist eine Bötise, nachdem die russische Armee neuer¬
dings sich um mindestens 60,000 Mann verstärkt hat, den directen Angriff gegen
Scbastopvl weiter verfolgen zu wollen. Daraus läßt sich schließlich keine andere
Folgerung ziehen, als die: daß die alliirten Armeen einen zweiten Winter vor
der Festung werden zubringen müssen; daß dieses Jahr, gleich dem vorigen, nur
ein Zeitraum der Vorbereitung gewesen ist, und daß nicht früher wie im nächsten
eine wichtige Entscheidung fallen kann. Dieses nächste große Jahr, das Jahr 1856,
wird an historischer Schwere muthmaßlich allen an der jetzt lebenden und handeln¬
den Generation vorübergegangenen überlegen sein. Es schaltet sich ein, wie ein
gewaltiger Wendepunkt unsres Jahrhunderts und unsrer Geschichte. Die Frage:
ob Nußland oder den europäischen Nationalitäten, vor allem den Deutschen, Eng¬
ländern und Franzosen, die Zukunft gehören soll, kann alsdann nicht länger mehr
unentschieden, nicht länger mehr umgangen bleiben.
Sie werden aus den Zeitungen bereits die Ankunft des Generals Canrobert,
des vormaligen Commandanten der französischen Orientarmee, in Paris erfahren
haben. Wie es heißt hatte derselbe am 3. August (Freitag) Abends den Befehl
zur schleunigen Abreise nach Frankreich durch den Telegraphen bekommen. Am 4.
ging er, ohne daß vorher von seiner Abreise irgendetwas verlautet hatte, an Bord
des französischen Dampfschiffes Amsterdam, mit dem er hier am Montag etwa um
die Zeit eintraf, wo ich meinen letzten Brief (vom 6. August) an Sie zur Post ge¬
geben. Der Steamer legte bei der Batterie von Tvphane an, und zwar benutzte
der General den mehrstündigen Aufenthalt, welchen die Ueberschaffnng seines Ge¬
päcks auf ein anderes Schiff („Indus") veranlaßte, um ans Laud zu treten und
mit dem hiesigen Platzcommandanten, General Larchcy, eine kurze Besprechung zu
halten. Der Sultan Abdul Medschid erschien kurz darnach in Tophaue und lud die
beiden französischen Generale ein, in seinen Köschk (Kiosk, Pavillon) einzutreten,
wo er ihnen eine halbstündige Audienz ertheilte. — Sie wollen mir gestatten, über
die vielfachen Gerüchte mit Schweigen hinwegzugehen, die rücksichtlich der Gründe,
welche der Abreise Canrvberts unterliegen, verbreitet sind. Es dürfte, wenige
Personen ausgenommen, die mit dem General in Berührung kamen, kaum irgend-
jemand in der hiesigen Hauptstadt von dem wahren Zusammenhang unterrich¬
tet sein.
Außer dem ehemaligen Generalissimus der französischen Armee kehrte noch
General Sir Richard England in diesen Tagen ans Tannen nach seiner Heimath
zurück. Muthmaßlich ist UnWohlbefinden das Motiv seiner Abreise. Wenn ehestens
der alte ergraute Sir Collin Campbell sich einschiffen sollte, würde kaum ein General
bei der englischen Krimarmee anwesend sein, der den Feldzug von Anfang an mit¬
gemacht.
Nach dem heute erschienenen Journal de Constantinople verlange» Krankheiten
aller Art, nach wie vor, in dem alliirten Lager viele Opfer. Außer der Cholera,
von der eS heißt, daß sie etwas nachgelassen, wüthet auch der Skorbut, und zwar
schreibt man seinen Ausbruch dem Mangel an frischen Lebensmitteln zu.
'
Aus Kars sind hier durchaus keine Nachrichten eingelaufen. Dagegen er¬
fährt man, daß in Erzerum die Reservearmee sich bereits zu sammeln beginnt.
Ob Omer Pascha das Kommando über dieselbe übernehmen wird, ist allem An¬
schein nach noch nicht entschieden. Einstweilen wohnt der Serdar noch in Arnaut-
koj und stattet dem Kriegsminister fleißig Besuche in den Amtssälcn des Seras-
kierats ab.
Die letzten Tage waren arm an irgendwie belangreichen
Ereignissen. Bezeichnend ist in dieser Hinsicht, daß die vorgestern erfolgte Ueber¬
gabe des Bathordcns an den Serdar Ekräm Omer Pascha als die große Begeben¬
heit der Woche angesehen wird und beinahe ausschließlich die Aufmerksamkeit und
das Juteresse in Anspruch nahm. Der erwähnte Act war von dem britischen Ge¬
sandten zum Gegenstand einer besonderen Feierlichkeit im größeren Stil gemacht
worden, indem der osmanische Generalissimus behufs der Empfangnahme persönlich
in das englische Palais eingeladen wurde. Er erschien daselbst mit großem Gefolge,
und kehrte später in demselben feierlichen Aufzuge durch Pera zurück. Ich kann
nicht umhin, Sie bei dieser Gelegenheit auf das durchaus unterschiedliche Benehmen
aufmerksam zu machen, welches die beiden der Pforte verbündeten Regierungen
gegen deren Oberfeldherrn seither inne hielten. England nahm ihn von Anfang
an als einen ergebenen Freund und Anhänger seiner Politik und hielt mit Sorg-
samkeit und unausgesetzt daraus, daß die Beziehungen zwischen der wichtigsten und
einflußreichsten Persönlichkeit des osmanischen Reiches, als die man unbedingt
Omer Pascha bezeichnen kann, und der britischen Negierung, keinen Augenblick unter¬
brochen blieben. Zu dem Ende bediente sich Lord Stratford eines außcrordent-
lich geschickten Agenten, des frühern Capitains und späteren Obersten Symonds
(ich weist nicht genau, welches die Schreibart des Namens ist). Dieser Mann ist der
nämliche, welcher unter anderen zuweilen auch als Ingenieur an Omer Paschas
Seite thätig gewesen ist. Es war zwischen der französischen und englischen Re¬
gierung die Verabredung getroffen worden, daß erstere einen Offizier in gleicher
Eigenschaft dem Hauptquartier des Serdars beiordnen solle. Die Wahl traf auf
den Oberstlieutenant, späteren Obersten Dien, einen ausgezeichneten Militär, den
ich Ihnen als den unverhältnißmäßig bedeutendsten unter den seither im Orient ver¬
wendeten höheren französischen Offizieren bezeichnen möchte, welcher aber, wie es
scheint, ein geringeres Maß von diplomatischem Talent, wie sein englischer
College (Symonds) zur Verfügung hat^ Indeß will ich einräumen, daß möglicher¬
weise anch sein Verhalten, indem es sich innerhalb der Grenzen der ihm zuertheil-
ten Vorschriften bewegte, ebendarum eine gewisse Geschmeidigkeit, dem Generalis¬
simus gegenüber, nicht zuließ. Im August des vorigen Jahres, also genau vor
zwölf Monaten, war zwischen dem Serdar und dem Obersten Dien bereits eine ge¬
wisse Erkaltung eingetreten, die es letztlich bewirkte, daß dieser um seine Abbe¬
rufung aus dem osmanischen Hauptquartier einkam, welchem Ersuchen kurz vor
oder nach dem Abgange Omer Paschas nach der Krim Folge gegeben wurde. Von
diesem Augenblick an konnte es hier dem aufmerksamen Beobachter keinem Zweifel
mehr unterliegen, daß etwas zwischen dem türkischen Generalissimus und den Leitern
der französischen Orientarmee bestand, welches einem vertrauensvollen Einvernehmen
Eintrag that. Seinerseits benutzte Omer Pascha jede Gelegenheit, um das Be¬
nehmen der Engländer im Gegensatz zu dem der Franzosen in ein vortheilhaftes
Licht zu stellen, und was letztere angeht, so geschah es nicht ohne Berechnung,
wenn sie den ägyptischen (arabischen) Truppen und ihren Führern gegenüber von
einer ausnahmsweisen Artigkeit und Zuvorkommenheit waren, dagegen den Türken
und ihren Paschas im Allgemeinen mir eine frostige Seite wiesen.
Was die jüngste Rückkunft des Serdars aus der Krim angeht, so wußte schon
vor einem Monat jedermann, daß der französische Obergeneral Peiissier die Motive
für den Entschluß Omer Paschas durch sein Benehmen diesem gegenüber minde¬
stens unterstützt hatte. In dieser Hinsicht ist es nun von der höchsten Bedeutung,
daß England eben diesen Moment sich aussucht, um dem osmanischen Generalissi¬
mus eine Auszeichnung zukommen zu lassen, die, wenn nachträglich Frankreich nicht
eine entsprechende ertheilen sollte, was wenig wahrscheinlich ist, beinahe wie eine
Demonstration des einen Alliirten gegen den anderen angesehen werden kann.
, ,Jn den jüngsten Tagen ist aus den hiesigen Lazarethen eine außerordentlich
große Anzahl von in der GenesNng vorgeschrittenen Kranken und von Verwundeten,
die ausgeheilt worden, aber als Invaliden zu betrachten sind, nach Frankreich ein¬
geschifft worden. Man sah daher lange Züge von Kranken, die sich um gehen zu
können zumeist der Stöcke bedienten, sich durch die Straßen bewegen. Die Verstüm¬
melten wurden gefahren, und gern bediente man sich zu diesem Zweck der leichten,
den berliner Droschken vergleichbaren einspännigen Arabas, von denen man hier
und dort auf Reihen zu vierzig und fünfzig stieß.
Nach dem letzten wvlkenbrnchähnlichen Gewitter, über welches ich Ihnen in
meinem letzten Briefe ausführlich schrieb, hat sich die Temperatur hier bedeutend
ermäßigt; muthmaßlich wird die Abkühlung indeß nur für die Dauer weniger Tage
anhalten, und darnach die Hitze, wie dies hier zu Ende August zu geschehen pflegt,
im verstärkten Maße austreten.
Ein Gerücht, wonach jüngst hier eine außerordentlich große Menge von nament¬
lich englischen Verwundeten angekommen wären, scheint auf einem Irrthum zu be¬
ruhen. Als Ankunftstage wurden Freitag und Sonnabend genannt.
In Hinsicht auf die Abreise des Generals Canrobert habe ich noch zu bemerken,
daß dieselbe scheinbar im besten Einvernehmen mit dem jetzigen Generalissimus vor
sich gegangen ist. Derselbe gab dem scheidenden Exchef mit einem großen Theil
des französischen Gcneralstabes das Geleit von dem Hauptquartier nach Kamiesch.
Pelissier und Canrobert saßen in demselben Wagen.
— Eine interessante Neuigkeit ist Duncans „L-im^-nFn»
wiu> u,<z rin'Ks i» ^«>->" als die erste zuverlässige Kunde, die uns über die
gegenwärtigen Zustände des türkischen Heeres in Asien zukommt. Als der Verfasser
Anfang vorigen Jahres in Erzerum ankam, befand sich die türkische Armee in der
jämmerlichsten Lage, denn sie hatte seit 18 Monaten keine Löhnung erhalten;
während Duncans Aufenthalt in Erzerum erhielt sie einen Monatsold und sofort
trat eine wahrhaft wunderbare Veränderung in den Soldaten ein. Kaum hatten
sie ihre 20 Piaster (etwas über -I Thlr.) erhalten, so eilten sie nach den Bädern,
reinigten sich und verrauchten dann in ernster Würde den Nest. Das Betragen der
Truppen war vortrefflich, selbst als sie vor Kälte und Mangel starben: „Trotz der
Noth, in welcher die Truppen schmachteten, vergaß der türkische Soldat auch nicht
für einen Augenblick die merkwürdige Geduld und Ehrlichkeit, die ihn auszeichnet.
Die Kaufleute im Bazar klagten selten über Diebe, obgleich die Vorräthe von Kaffee,
Tabak und eingemachten Früchten die halbverhungerter Truppen in starke Versuchung
gesetzt haben müssen. In den einsamen Straßen sah man Hühner, (von deren
Eiern die Einwohner hauptsächlich lebten), unbeaufsichtigt und unbelästigt zwischen
den aus der Erde erbauten Hütten herumwandern. Selbst in der schlimmsten Zeit
ihrer Prüfungen legten die türkischen Soldaten nie Hand an diese verlockende
Beute und ich bezweifle sehr, ob eine civilistrtere Armee eine ebenso große Ach¬
tung vor dem Eigenthum andrer an den Tag gelegt haben würde." Mr. Duncan
reiste am 18. März 18S4 von Erzerum nach Kars. Unterwegs wurde er von der
Grenzbcvölkerung, unter der Verbrechen fast so selten sind, wie Armuth, mit der
größten Gastlichkeit aufgenommen. Kars liegt im Westen einer der Hochebenen,
die sich vom Araxes nach dem Arpatschai hinziehen und ungefähr 12 Stunden von
der russischen' Grenzstadt Gumri oder Alcxandropol. Die Truppen befanden sich
hier in einer noch viel schlimmern Lage, als in Erzerum und die Kälte war sehr
groß. Manchmal war Holz nur durch Einreißen der Häuser zu erlangen, denn ans
diesen 7000 Fuß über dem Meere gelegenen Hochebenen wachsen keine Bäume.
Dagegen waren im Sommer die Flöhe um so reichlicher vorhanden. Die Armee
stand unter dem Befehle des Muschirs oder Feldmarschalls Zarif Mustapha, eines
Civilisten, der nicht das Mindeste vom Militär verstand und der keine'Section hätte
commandiren können. Zu seinem Beistand hatte er 21 militärische und eine aus¬
gewählte Gesellschaft Civilpaschas. Verschiedene ehemalige Offiziere des magyari-
scheu Heers waren dem Muschir attaschirt, unter andern die Generale Guyon, Kmeti
und Colmar. Erstrer war Generalstabschef, hatte aber keine Macht; er konnte
nur guten Rath ertheilen, der selten befolgt wurde. Ueber ihn'und Kmeti ist im
Buche manches Interessante nachzulesen: die Ehre der Rettung der türkischen Armee
bei Kars gebührt ihnen und der letztgenannte besaß ganz das Vertrauen der Baschi
Bojuts. Diese Irregulären waren nicht so schlimm, als man sie geschildert hat
und ihre Unbotmäßigkciten finden in dem Benehmen der türkischen Regierung gegen
sie ihre Entschuldigung. „In Perghct," erzählt Duncan, „traf ich einen Häupt¬
ling dieser Irregulären, der mit seiner Schar aus der syrischen Wüste gekommen
war. Er trug das wallende und farbige Gewand der Araber, das seine fröstelnde
Gestalt umhüllte und peinlich von dem tiefen Schnee und dem heulenden Winde ab¬
stach. „„Ich weiß,"" bemerkte er im Laufe der Unterredung, „„daß man uns verab¬
scheut, aber ich versichere Euch, daß wir es bei gehöriger Führung und Unter¬
stützung mit den alten Mameluken aufnehmen würden. Sind etwa unsre Pferde
weniger geschwind, oder sind wir weniger gewöhnt, die Lanze zu schwingen? Aber
seht nur, wie man uns behandelt. Wir verlassen unsre Heimat auf die ausdrück¬
liche Verpflichtung der Regierung, uus 80 Piaster monatlich zu zahlen, wogegen
wir Pferde und Waffen mitbringen und uns selbst beköstigen müssen. Nun seht
aber unsre Lage an und sagt, ob wir nicht eher zu bemitleiden, als zu verdammen
sind. Die Regierung hat uns nicht bezahlt, das wenige Geld, das wir hatten, ist
ausgegeben und viele haben ihre Waffen verkauft; wie kann man nun meine Leute
tadeln, wenn man sie verhungern läßt und wenn sie sich ans den Dörfern selbst
das Nöthige holen, um nur zu leben?"" So sprach der alte Häuptling und er hatte
im Ganzen recht. "
Einige Paschas verfuhren gegen pflichtvergessene Lieferanten mit einer despoti¬
schen Justiz, die hier ganz am Orte war. „Bisher hatte das den Truppen gelieferte
Brot sowol hinsichtlich der Qualität wie der Quantität sehr viel zu wünschen
übrig gelassen und die Lieferanten waren rasch reich geworden. Haireddin Pascha
ließ den Hauptlieferanten, dessen geheimer Associe der Commandirende Achmet Pascha
war, zu sich kommen und machte ihm Vorstellungen. Der Lieferant gab zu, daß
das Brot nicht gut sei und versprach den nächsten Tag besseres zu liefern. Der
Morgen kam mit demselben schwarzen sandigen Brot ohne alle Besserung. Der
Pascha schickte noch einmal nach dem Bäcker, der abermals für den nächsten Tag
besseres Brot versprach. Drei Tage hintereinander wiederholte sich dieser Austritt
und am dritten Tag war das Brot womöglich noch etwas schlechter. Haireddin
Pascha ließ nun dem Lieferanten, der ein Grieche und Millionär war, ein Pröb-
chen türkischer Gerechtigkeit kosten. Er ließ fünf große Brote bringen, die ganze,
schlechte, schwarze, grobe Krume herausnehmen und zwang den Lieferanten diese
ganze ekelhafte Masse hinuutcrzuschlingen. Der würdige Maun wurde doppelt so
dick, als er hereingekommen war, hinausgetragen und war auf immer von der Lust
geheilt, den armen Soldaten um das Seinige zu bringen. Bei einer andern Ge¬
legenheit applicirte der Mnschir einem betrügerischen Lieferanten eigenhändig den
Stock: „Der Muschir schickte Abends nach dem Lieferanten Kosmo, der die Brot¬
lieferungen für die Truppen übernommen hatte und warf ihm vor, seinen Ver¬
pflichtungen nicht nachgekommen zu sein. Kosmo, der durch eine Reihe von
Lieferungen für die Negierung sich große Reichthümer erworben hatte, entschuldigte
sich damit, daß kein Mehl zu bekommen sei; eine Entschuldigung, die er schon
wiederholt bei ähnlichen Gelegenheiten vorgebracht hatte. So oft man ihm jedoch
mit Strafe gedroht hatte, war auch Mehl dagewesen und die Truppen hatten ihre
gewöhnliche Nation schlechtes, halbausgcbackenes Brot bekommen. Dies Mal verlor
der Muschir, als er die so ost vorgebrachte Entschuldigung noch einmal hören
wußte, alle Geduld und rief seine Dienerschaft herbei, die den armen Teufel auf
den Fußboden legten, während der Feldmarschall höchst eigenhändig seinen Rücken
recht tüchtig mit dem Stock bearbeitete." So schlimm der Winter in Kars war,
hatte doch auch der Sommer seine Beschwerden. „Jedes lebende Wesen mit Aus¬
nahme der Araber und der syrischen Baschi Bojnts — und der Flöhe, unterlag
dem Einfluß der erstickenden Hitze. Schneider, um einen von den schweren Winter¬
kleidern zu erlösen, die man fortzutragen gezwungen war, gab es nicht. Nach dem¬
selben Princip, daß brühheißcr Thee kühlt, bedeckten die Kurden ihre ungewaschenen
Schultern mit einer doppelten Last Schaffelle, welche in der glühenden Sonnen¬
hitze ebenso ekelhaft von Aussehen, als von Geruch wurden. Die irregulären
Horden aus der Wüste freuten sich über alle Maßen über die Wärme und ich
konnte in den jubelnden und lärmenden Reitern, die ans ihren prachtvollen kleinen
Pferden über die Ebene sprengten, kaum die fröstelnden, verkümmert und betrübt
aussehenden Gestalten der Wintermonate wiedererkennen. Die Flöhe und die Fliegen,
AM andere ausgezeichnete Mitglieder der Jnsektensamilie nicht zu erwähnen, zeigten
eine ebenso verdienstliche als lästige Thätigkeit. Zimmer, Zelte, die Luft, ich glaube
sogar das Wasser, schwärmten von Myriaden dieser liebenswürdigen Geschöpfe.
Nachts gehörte ein ganz ungewöhnliches Quantum physischen und moralischen Muthes
dazu, um sich nur zum Schlafen hinzulegen; und ich für meinen Theil sah diesem
unvermeidlichen Augenblick immer mit unaussprechlichem Grauen entgegen. Künst¬
liche Mittel, um sich gegen die schreckliche Hitze zu stärken, waren nicht bei der
Hand, weder Sodawasser, noch blasses Ale, geschweige denn in Eis gekühlter
Wein oder Sorbet boten dem vertrockneten Gaumen Erquickung dar. Nicht einmal
das Wasser, diese letzte Zuflucht des durstigen Wandrers, war erfrischend. Wir
tranken das Wasser des Karstschai, das ganz lau und unrein war und in dem eine
sorgfältige Analyse gewiß einen Ueberschuß von animalischen Leben entdeckt haben würde."
Die Schlacht von Kuruckdere war von Anfang bis zu Ende eine große Confusion.
Mau beabsichtigte den Feind zu überfallen und er erhielt sofort von dem ganzen Plane
Nachricht. Der Angriff sollte von der einen Straße her gemacht werden und die Trup¬
pen kamen ans der andern heranmarschirt. Die Reiterei riß aus und das Fußvolk
wollte sich nicht schlagen. Die Artillerie allein hielt sich gut. Wir schließen mit
Zwei Anekdoten ans der Schlacht. „Der türkische linke Flügel näherte sich jetzt
dem Schlachtfeld und Kernn Pascha befahl der Reserve seiner Division schleunigst
vorzurücken, um die Stellung bis zum Eintreffen seiner Unterstützung zu behaupten.
General Colmar sprengte fort, um die Bewegung zu beschleunigen. Als die Nedif-
bataillone, aus denen die Reserve bestand, hörten, daß sie in die Feuerlinie ein¬
rücken sollten, liefen sie auseinander und zwar die Offiziere zuallererst; ein schmäh¬
licheres Schauspiel konnte man sich gar nicht denken. Nur ein oder zwei Bataillone
blieben geschlossen; ich hörte, wie Colmar an eins derselben eine Ansprache hielt,
auf welche die Mannschaft mit lautem Zuruf Jnschallah! antwortete. Er befahl dem
Major des Bataillons (es waren Nediss aus Stambul) vorzurücken, aber der Major
zitterte vor Furcht und verweigerte den Gehorsam. „Ich habe keine Befehle von
meinem Obersten" gab er zur Antwort. „Ich befehle dir im Namen des Muschirs
vorzurücken — Memme!" schrie ihn Colmar an. Die Mannschaften waren ganz
entrüstet über die Feigheit ihres Majors und drohten ihm mit ihren Bajonetten;
daraus wendete er sein Pferd und ritt davon. General Colmar befahl darauf dem
ältesten Capitän das Bataillon vorzuführen und dieser gehorchte. Alle Versuche
von Europäern, der türkischen Reiterei Muth einzuflößen, blieben vergebens. Ein
französischer Offizier, Capitän Bclnot, der in den oküssöui'-z et'^lrique gedient hatte,
setzte sich an die Spitze eines Reiterregiments und sprengte gegen eine russische
Infanteriewaffe an; er war bis in die feindliche Tirailleurlinie vorgedrungen, als
er zu seiner Bestürzung entdeckte, daß das Regiment, welches er hinter sich zu haben
vermeinte, hundert Schritte weiter zurück Halt gemacht hatte und aus unschädlicher
Ferne feine Carabiner ans den Feind abschoß. Capitän Belnot wendete sogleich
sein Pferd und ritt zurück mitten durch die Tirailleurs, die jedoch auf ihn losstürz¬
ten und ihn aufzuhalten versuchten. Was nnn folgte, war fast lächerlich. Ein
Russe schoß aus unmittelbarster Nähe seine Flinte auf Capitän Belnot ab, aber
die Kugel fuhr ohne Schaden zu thun dem Franzosen vor der Nase vorbei, der
sein Pferd parirte und die Pistolen aus dem Halfter zog. caniiüle," brüllte
der Capitän, „tu poux einen» tiier sun un l^r-r-ran-sins!" und schoß den Russen durch
den Kopf. Ein zweiter stieß nach Belnot mit dem Bajonett, ,,1'ikns", rief letzterer
aus, »et toi uussi" und streckte auch diesen mit seinem zweiten Pistol todt nieder.
Dann zog er seinen Säbel, hieb sich aus den feindlichen Tirailleurs heraus und
erreichte, unterstützt von einigen europäischen Offizieren, die ihm zu Hilfe geeilt
waren, wohlbehalten die türkischen Linien.
Meyers Volksbibliothek für Länder-, Völker- und Natur¬
kunde. Mit Kupfern und Karten. Hildburghausen, bibliographisches Institut.—
Im Princip müssen wir uns natürlich gegen eine Sammlung, die im Grunde ledig¬
lich auf Nachdruck beruht, auf das entschiedenste erklären; sehen wir aber davon
ab, so gestehen wir zu, daß dieselbe für das größere Publicum sehr verführerisch
ist, denn es wird demselben zu einem lächerlich billigen Preise eine Sammlung
von naturwissenschaftlichen Abhandlungen geboten, die zum größten Theil sehr in¬
teressant, zuweilen selbst bedeutend sind. Die Ausstattung ist bequem und Karten
und sonstige Beilagen zweckmäßig ausgewählt. Die Bibliothek ist bis zu ihrem
66. Bändchen vorgeschritten und soll ans 100 und eventuell mehr ausgedehnt
werden. Sie erscheint jetzt in der zweiten Auflage, vou der ersten Auflage sind
über 12,000 Exemplare verkauft worden. Da die gesetzlichen Bestimmungen in
dieser Beziehung noch ganz unklar sind, so möchte das vorliegende Unternehmen
unter allen ähnlichen für das Publicum am nützlichsten und für die Schriftsteller
das am wenigsten schädliche sein.
Beim Beginn der abgelaufenen Periode der Sitzungen war ein Theil der
Opposition in der Stimmung, als wäre der preußische Parlamentarismus
hoffnungslos, oder gebe wenigstens nicht soviel Aussicht auf eine gedeihliche
Entwicklung, um den Einzelnen für seine unerfreuliche Thätigkeit in der Kam¬
mer zu entschädigen. Von den ausgezeichnetsten Führern der Opposition traten
mehre aus, und die Wahlen wurden wenigstens in einem Theil der Mon¬
archie lässig betrieben. So kam es denn, daß die Wahlen ungünstig aus¬
fielen. Die Opposition war in der Minorität, und das war um so schlimmer,
da sie aus drei ganz entgegengesetzten Elementen bestand: aus den Liberalen,
den vereinigten Katholiken und den Polen. Die beiden letztern waren sehr
unzuverlässige Bundesgenossen, und selbst da, wo sie in der Abstimmung sich
an die Liberalen anschlössen, mußte man sich häufig gestehen, daß es aus sehr
verschiedenen Gründen geschah.
Es wäre schlimm, wenn die neuen Wahlen ein ähnliches Resultat gäben.
Zwar sind die Aussichten der liberalen Partei dadurch etwas günstiger, daß
die sogenannte demokratische Partei d. h. derjenige Theil der Liberalen, die
sich bisher an dem parlamentarischen Leben Preußens nicht betheiligt hatten
zum großen Theil voraussichtlich dies Mal ein anderes Verfahren einschlagen
wird. Allein man darf den Einfluß dieser Betheiligung nicht überschätzen,
denn der Einfluß der untern Volksschicht ist bei dem gegenwärtigen Wahl¬
system ein sehr geringer, und es bleibt noch immer zweifelhaft, ob man sich
überall über die Candidaten einigen wird. Dagegen ist die Abspannung in
den Bürgerclassen noch größer geworden, und namentlich ein Punkt im Pro¬
gramm der liberalen Partei, der im vorigen Jahre im Publicum großen An¬
klang würde gefunden haben, die auswärtige Politik, würde dies Mal man¬
nigfaltigen, in der Natur der Sache begründeten Bedenken begegnen. Darum
ist es nothwendig, daß die Opposition sich darüber klar macht, worauf sie bei
der bevorstehenden Periode ihr Hauptaugenmerk zu richten habe.
Nach unsrer Ansicht soll sie die auswärtige Politik ganz und
gar bei Seite lassen und sich lediglich den Fragen der innern
Politik zuwenden. Unsre Gründe dafür sind folgende.
Einmal wird voraussichtlich der Einfluß der Kammern auf die Regierung
ein sehr geringer sein. Wir haben nicht nöthig, das weiter auszuführen. In
den Fällen, wo sie auf dem Rechtsboden stehen, werden sie sich Geltung ver¬
schaffen, oder sie müssen es wenigstens versuchen; wo es sich aber um Wünsche,
Hoffnungen und dergleichen handelt, wird ihnen die Regierung eine ruhige
Ablehnung entgegensetzen. Nun hat zwar die Beschäftigung mit der großen
Politik für die Abgeordneten wie für das Publicum in der Regel den grö߬
ten Reiz, aber wenn sie eine Zeitlang ununterbrochen und ohne allen Erfolg
getrieben wird, so verliert sie sich leicht in Declamationen, und das wäre für
den ganzen Parlamentarismus ein Unglück.
Sodann ist in jedem Staat ein Einfluß der Kammern auf die auswärtige
Politik der Regierung nur dann denkbar, wenn sie von einem gewaltigen Strom
der öffentlichen Meinung getragen werden. Das ist seit dem Rücktritt Oestreichs
von der westmcichtlichen Allianz nicht mehr der Fall. Zwar sind die Sympa¬
thien des Volks noch immer für die Westmächte und gegen Rußland, aber sie
sind nicht mehr so stark, um den Wunsch zu begründen, die Segnungen des
Friedens gegen einen zweifelhaften Principienkrieg zu vertauschen. Das Bei¬
spiel Oestreichs wird noch lange sehr nachtheilig wirken. Es hat im letzten
Jahr eine ungeheure Summe ausgegeben, um im entscheidenden Augenblick
zurückzutreten. Dieser Politik gegenüber wird der bei weitem größere Theil
des Publicums die Politik des Ministeriums Manteuffel loben und preisen,
denn wenn sie auch Preußen nicht sonderlich gefördert hat, so hat sie doch auch
dem Lande kein Geld gekostet. Dabei vergißt man freilich, daß die Haltung
Preußens auf die wunderliche Wendung der östreichischen Politik wesentlich
eingewirkt hat. Aber auch das kann man dem Publicum kaum verdenken,
denn am Ende des vorigen Jahres waren die östreichischen Noten gegen
Preußen so herausfordernd, daß alle Welt davon überzeugt sein mußte, dieser
Staat werde eine unabhängige Politik verfolgen und sich von Preußen in
keiner Weise beirren lassen. Daß Oestreich diese Erwartung getäuscht hat,
gibt namentlich der persönlichen Politik des Ministerpräsidenten, von dem man
keineswegs glaubt, daß er unbedingt sür die Kreuzzeitungspartei und sür Nu߬
land ist, einen großen Vorschub, und ein Versuch, von dieser Seite seine
Politik anzugreifen, würde heute bei dem unbetheiligten Bürgerthum wenig
Anklang finden. Ja wir gehen weiter. Die Unklarheit der Situation ver¬
mehrt sich noch dadurch, daß man über das Verhältniß der Westmächte zu
Deutschland so gar keine gewisse Nachricht hat. Man hat im vorigen Jahre
immer angenommen, die Engländer und Franzosen würden durch die Größe
der Situation auch zu einer größern Auffassung bestimmt werden; sie würden
ihren kleinlichen, erbärmlichen Neid gegen Deutschland aufgeben. Das scheint
aber keineswegs der Fall zu sein. Sie haben sich nicht einmal bewogen ge¬
funden, Oestreich durch Anerbietung starker Subsidien in seiner bisherigen
Stellung zu erhalten, viel weniger werden sie geneigt sein, in Beziehung auf
die dänische Frage, die einzige, aus der Deutschland reelle Vortheile ziehen
kann, Concessionen zu machen. Wir sind über die geheimen Verhandlungen
nicht unterrichtet, aber die Aeußerungen der englischen Presse sind deutlich ge¬
nug. Wenn Preußen sich dem Kriege gegen Rußland anschließt, so ist das
ein so ungeheures Unternehmen, daß es mit Recht auch große Anforderungen
stellen kann. Solange sich nun England nicht bereit erklärt, auf diese einzu¬
gehen, wird man auch kaum die preußische Regierung zum Kriege drängen
dürfen. Solange Oestreich in Waffen stand, war die Sache anders; aber an
eine neue Bewaffnung Oestreichs wird vor der Hand nicht geglaubt werden
können, und so wird auch Preußen eine günstigere Situation abwarten dürfen,
um für große Opfer auch Großes zu gewinnen.
Mit dieser Erklärung wollen wir keineswegs der bisher befolgten Politik
Recht geben. Hätte Preußen und mit ihm die deutschen Mächte sich im vori¬
gen Jahr dem Decemberbündniß angeschlossen, so hätten wir jetzt entweder den
Frieden, oder der Krieg erhielt eine europäische Ausdehnung und sein Object
wurde nothwendiger Weise die Modifikation des bisherigen Besitzstandes. Jetzt
aber ist die Situation vollkommen unklar, und aus unklare Voraussetzungen
kann keine Partei ihr politisches Programm begründen.
Zudem hat die Opposition in Bezug auf die Politik eine viel wichtigere
Aufgabe. Ihre Stellung muß hier eine durchaus conservative sein, konserva¬
tiv gegen den Drang der kleinen, aber mächtigen Partei, die bisher Schritt
für Schritt mehr Terrain gewonnen hat; und in dieser konservativen Oppo¬
sition, in der alle Nüancen verschwinden, kann sie auf die ungeheure Mehrzahl
des Volks zählen. Es gilt erstens, die Verfassung selbst aufrecht zu halten,
zweitens die strenge Beobachtung derselben zu controliren, endlich drittens die
bürgerliche Gesetzgebung, welche die altpreußischen Principien der Stcin-
Hardenbergschen Zeit gänzlich zu verlassen droht, wieder auf den richtigen
Weg zu lenken. Nach allen drei Richtungen hin wird die Kammer in der
nächstfolgenden Periode einen schweren Kampf zu bestehen haben; einen Kampf,
in dem sie nicht unbedingt dem Ministerium gegenübersteht. Man erinnere
sich, daß vor wenig Jahren Herr von Manteuffel öffentlich erklärte, das
demokratische Princip, das man mit seinen Verirrungen keineswegs identificiren
dürfe, habe in den Bedürfnissen und der Geschichte Preußens seine volle Be¬
rechtigung. In der That ist die preußische Gesetzgebung seit 40 Jahren eine
vorherrschend bürgerliche gewesen, und das feudalistische Princip, das man an
die Stelle derselben zu setzen sucht, ist eine Neuerung. Die Opposition gegen
den Adel ging in den Zeiten der Aufregung zu weit, denn man wollte ideelle
Güter zerstören, die sich auf materielle Weise nicht zerstören lassen; man ver¬
kannte ferner die Vorzüge des Adels im Staatsleben, die darin bestehen, daß
neben dem Interesse auch der Begriff der Ehre festgehalten wird. Seine volle
ideelle Geltung soll also der Adel behalten, aber der herrschende Stand darf
er nicht wieder werden. In der Wirklichkeit ists auch unmöglich, da gegen
die Natur der Dinge auf die Länge keine Partei und keine Doctrin aufkommt.
Aber auch die Versuche können verhängnißvoll werden, und diese Versuche
rechtzeitig abzuwenden, ist die Aufgabe der konservativen Opposition. Dem
Adel soll es unverwehrt sein, seine Interessen und Ideen innerhalb der be¬
stehenden Verhältnisse geltend zu machen, aber die Mittel dazu muß er inner¬
halb der bürgerlichen Bedingungen suchen, weil sie die allein realen sind.
Jeder einsichtsvolle Edelmann wird darin auf Seite des Bürgerthums stehen,
weil er begreift, daß gewaltsam gesteigerte Ansprüche, wo doch die Kraft aus
die Dauer nicht ausreicht, zu den allergefährlichsten Rückschlägen führen müssen.
Mit dem Feinde des deutschen Reiches, mit der Republik Frankreich,
schloß Preußen 1793 den Separatfrieden von Basel. Es wurde eine Demar-
cationslinie gezogen und Preußen verbürgte sich für die strenge Neutralität der
innerhalb der Linie gelegenen Regierungen. Oestreich dagegen schloß mit Eng¬
land ein neues Schutz- und Trutzbündniß, dem beizutreten auch Rußland ein¬
geladen wurde, um zur Herstellung und Erhaltung des Friedens in Europa
eine Tripelallianz zu gründen. Deutschland war somit in ein östreichisches und
preußisches Lager getheilt.
Ein solches Ende nahm die östreichisch-preußische Coalition. Dieser Bund,
der einen Kreuzzug für Thron und Altar angekündigt hatte, war in einen selbst¬
süchtigen Kampf um Sonderinteressen umgeschlagen. Weder die östreichische
noch die preußische Politik hatten irgendein Verständniß für die Zeit und für
ihre eigne Aufgabe. Der östreichische Minister, Graf Thugut, ohne Glauben
an eine sittliche Weltordnung, ohne Achtung und Vertrauen für die Menschen,
eine skeptische und negative Natur von mephistophelischer Färbung, hatte den
überlieferten Zwiespalt mit Preußen geschürft, statt ihn zu mildern, hatte in den
Kampf für den großen gemeinsamen Zweck diplomatische Kabalen getragen und
Belgien, den Preis des Kampfes, aufgegeben, um dafür Baiern einzutauschen
und in Polen sich zu entschädigen. Der preußische Minister, Graf Haugwitz, ein
gewandter, vielerfahrener Höfling, kein Staatsmann, leer an gründlichen Kennt¬
nissen, ohne Geschäftserfahrung, faul, abgespannt, zerstreut, wußte gefügig den
wechselnden Zeitströmungen sich anzupassen und brachte die preußische Politik in
den Ruf jener verschlagenen Pfiffigkeit, welche doch nur die trügerische Kunst
vorübergehender Auskunftsmittel ist. Seine Staatskunst verscherzte, was mit '
dein guten, tapferen Schwerte der preußischen Soldaten gewonnen war. Sie
brachte es dahin, daß Frankreich an den Rhein mitten ins deutsche Gebiet
vorrückte, daß Rußland im Osten den Zwischenraum übersprang, der es von
Deutschland trennte.
In Preußen sprach sich über den baseler Separatfrieden eine selbstgenug-
same Zufriedenheit aus: es wurde sogar die Meinung laut, dieser Friede ge¬
nüge noch nicht: ein enges Bündniß mit der Republik Frankreich sei die
natürliche Politik Preußens. In der deutschen und östreichischen Presse erhob
sich dagegen ein Sturm gegen Preußen: es unterhalte mit dem Neichsfeinde
freundschaftlichen Zusammenhang: eS stimme wie Judas noch an dem Tische
des Kaisers und seiner versammelten Mitstände für die Eingehung eines ge¬
meinsamen Friedens. Preußen erwiederte, der Friede sei ihm eine Nothwendig¬
keit gewesen: da der allgemeine Friede nicht zu erreichen war, habe es einen
Separatfrieden schließen müssen, den es jedoch nur als Mittel zur Herstellung
des Reichsfriedens ansehe. Es hätte zu seiner Entschuldigung noch anführen
können, daß auch Oestreich und die Reichsfürsten ihre Sonderinteressen ver¬
folgten, daß von den bewilligten 30 Steuermonaten Ostern 1793 43 Reichs¬
stände nur einen Theil und 94 gar nichts bezahlt hatten.
Aus dem Reichstage zu Regens bürg suchte Preußen nunmehr zu seinem
Separatfrieden womöglich daS ganze Reich, wenn auch im Nothfall ohne den
Kaiser, herüberzuziehen: Oestreich dagegen strebte mit allen Mitteln die Mehr¬
zahl der Reichsstände bei seiner Politik festzuhalten und ihnen den Uebergang
zur preußischen Neutralität zu verwehren.
Nach bewegten Verhandlungen kam endlich am 3. Juli ein Reichsgutachten
zu Stande, das einen Mittelweg einschlug. Die preußische Friedensvermitte¬
lung wurde zwar nicht abgelehnt, aber doch in einer Weise genehmigt, daß
Oestreich zustimmen konnte. Man beschloß, „in ungetheilter, unwandelbarer
Vereinigung sämmtlicher Reichsstände mit dem Reichsoberhaupt einen allge¬
meinen Reichsfrieden im Wege der Konstitution und durch denselben Wieder¬
herstellung der Integrität seines Gebiets und Sicherheit seiner Verfassung je
eher je besser zu erhalten." Im August wurde eine Friedensdeputation er¬
nannt. Aber der Gang der Ereignisse trug das bedächtige Friedenswerk im
regensburger NeichstagSsacile bald zu Grabe.
Frankreich blieb bei dem baselcr Frieden nicht stehen, es verlangte mit
zudringlicher Hast ein engeres Bündnis) mit Preußen. Es verlangte die
Rheingrenze, welche Oestreich unter keiner Bedingung zugestehen wollte. Den
deutschen Reichsständen aber erschien als die natürliche Politik: nette sich wer
kann! Das sprach der Herzog von Braunschweig unverholen aus. Die
östreichische Diplomatie dagegen schlug den Ton eines wahrhaft revolutionären
Patriotismus an. Einer ihrer Publicisten schrieb: „Auf, Deutsche, zu unsrem
Kaiser! Laßt uns ihn beschwören, daß er uns ein Unterhaus gibt, wo der
Eigenthümer und Stadtbürger sich selbst repräsentiren kann, und dann wollen
wir sehen, wo Deutschlands Ehre und Ansehen besser verfochten werden, im
Unterhause deutscher Bürger oder im Oberhause deutscher Reichs-
fürsten?" Das landesfürstliche Lager verglich diesen kaiserlichen Publicisten
mit den japanischen Rednern des Palais Royal und rechnete Oestreich das
ganze Sündenregister seiner Hauspolitik vor, die Deutschland in der Stunde
der Gefahr Preis gab. In der That hatte kein Theil dem andern viel vorzu¬
werfen. Oestreich trachtete nur darnach, sich durch den Erwerb von Baiern zu
arrondiren. Die Entzweiung Oestreichs und Preußens nahm darüber immer
mehr zu: Oestreich suchte eine Stütze an Rußland, Preußen bemühte sich an
Frankreich und an den einzelnen Reichsfürsten ein" Gegengewicht zu gewinnen.
Das Reich ging nach allen Richtungen auseinander: Oestreich, durch britische
Subsidien gewonnen und von Frankreich in seinen Absichten auf Baiern nicht
unterstützt, wirkte dem Reichsfrieden entgegen: Preußen stand im Separat¬
frieden mit Frankreich; die kleineren Reichsstände hatten entweder schon ihren
Frieden mit Frankreich gemacht oder standen im Begriff, dem Beispiel der
Mächtigeren zu folgen.
Dieser Zerrüttung und Zwietracht gegenüber verfolgte Frankreich sein
System der „natürlichen Grenzen". Die französische Armee überschritt den
Rhein, besetzte mit Verletzung der Demarcationslinie den Ort Eikelskamp bei
Duisburg, und nöthigte Düsseldorf zu capituliren. Der östreichische General
Clcrfait eroberte wieder die Linien, welche vor dem Mißgeschick von -1793
von den Preußen besetzt waren. Kraft des am -I. Januar 1796 geschlossenen
Waffenstillstandes hielten die Oestreicher das rechte Rheinufer von Basel bis
zur Sieg besetzt; links' vom Rhein ging ihre Grenze von Speier bis zum
Hundsrück und der Nahe hin und berührte bei Oberdiebach den Rhein. Aber
trotz dieses glücklichen Feldzuges mußte Clerfait seinen Abschied nehmen, weil
er eine eigne Meinung und einen eignen Willen zeigte, weil er die Bedürfnisse
und Mängel des Krieges furchtlos vor Augen legte. Thugut und sein Hof¬
kriegsrat!) konnten aber nur Creaturen brauchen.
Bei den Verhandlungen über den Reichssrieden beharrten inzwischen die
Franzosen aus der Rheingrenze. Hessen-Kassel schloß einen Separatfrieden
mit Frankreich. Die Neichsfriedensdeputation blieb ein todtgebornes Ding.
Oestreich drohte, es werde fortan seinen eignen Weg auch ohne das Reich
gehen. Preußen erntete die Früchte seiner Neutralitätspolitik. Die von ihm
stipulirte Demarcationslinie war erst von den Franzosen, dann von den Oestrei¬
chern verletzt worden, die Verwahrungen und Einsprache Preußens wurden
beiderseits mit Achselzucken beantwortet. Mit Oestreich war Preußen über den
Separatfrieden zerfallen; mit Rußland stand ihm ebendeswegen ein offener
Bruch bevor; die deutschen Reichsfürsten von Oestreich zu trennen und unter
Preußischer Aegide zu sammeln, war mißlungen: es blieb Preußen nichts übrig,
als die zweideutige Freundschaft mit dem Reichsfeind, mit Frankreich.
Es folgte der Feldzug von 1796. Die Last des Kampfes lag hauptsächlich
auf Oestreich, die meisten übrigen Reichsstände zögerten, selbst ihre bescheidenen
Beiträge zu zahlen. Moreau überschritt den Rhein und überschwemmte mit
seinen Truppen den schwäbischen Kreis. Hätte dieser Kreis sich dazu verstanden,
die 23 Millionen Livres dem Reiche zu liefern, die er jetzt dem fremden Feinde
ohn? Widerspruch bezahlte, so wäre dieses Unglück vermieden worden. Nun
desertirten die kleinen Reichsfürsten. Die geistlichen Kurfürsten flüchteten weit
ins Innere des Reiches: der Mainzer nach Erfurt, der von Trier nach Dres¬
den, der kölner nach Leipzig, wohin sich auch der Landgraf von Hessen-Darm-
stadt rettete. Eine ganze Reihe kleiner Herren suchten Schutz in dem
Neutralen Preußen. „Diese große, merkwürdige Fürstenflucht" — sagt ein
loyales Blatt jener Tage, „war ohne Beispiel, sowie die raschen Märsche der
französischen Heere." Der Kurfürst von Sachsen schloß einen Neutralitätsver¬
trag mit Moreau, Würtemberg und Baden schlossen Separatfrieden mit Frank¬
reich; diese beiden deutschen Staaten verpflichteten sich sogar, keiner mit der
fränkischen Republik verbündeten Macht Hilfe zu leisten, „selbst wenn sie als
Mitglieder des deutschen Reiches dazu aufgefordert würden." Die Auflösung
des Reichsverbandes schritt rasch vor. Die französische Politik trennte den
Südwesten Deutschlands von Oestreich und isolirte dieses Reich, bis es auch
seinerseits endlich mit Frankreich auf Kosten Deutschlands Friede» schloß. Preußen
vermochte weder jetzt noch bis zur Katastrophe von 1806 zu einem rechten
Entschluß nach der einen oder andern Seite hin sich zu entscheiden; es strebte
mit beiden kämpfenden Parteien in leidlichem Frieden zu sein und verscherzte
damit das Vertrauen beider. Die Tradition Friedrichs it., daß ein Staat
wie Preußen in jeder großen politischen Verwicklung eine entscheidende Rolle
spielen müsse, war vergessen; erst bittere Erfahrungen lehrten, daß ein Staat,
der in solcher Krise müßiger und unentschlossener Zuschauer- bleibt, infolge dieser
Selbstgenügsamkeit Ansehen und Namen einer Großmacht einbüßt. Zunächst
machte Preußen im EinVerständniß mit Frankreich zweideutige oder auch ver¬
jährte Ansprüche an Reichsgebiete geltend. Am 4. Juli 1796 ergriffen preußische
Regimenter im Namen der Krone Preußen von der Reichsstadt Nürnberg Be¬
sitz; während Oestreich tapfer gegen den gemeinsamen Feind kämpfte, überfiel
Preußen plötzlich eine wehrlose Reichsstadt. Am 3. August schloß es sogar
einen geheimen Vertrag mit Frankreich, in welchem es „die Erhaltung der
Integrität des Reiches" förmlich aufgab: es stimmte ohne Clausel zur Ab¬
tretung der Rheingrenze, zu dem Grundsatz der Säcularisationen und ließ sich als
Entschädigung sür seine linksrheinischen Gebiete einen Theil des Stiftes Münster
und der Herrschaft Recklinghausen versprechen. Der Norden und der Südwesten
Deutschlands waren den Franzosen völlig hingegeben.
Jourdan drang inzwischen verwüstend in Franken ein und bedrohte Re¬
gensburg, den Sitz des deutschen Reichstags. Ein Theil der Gesandten reiste
ab, ein andrer schickte an den Feind eine Deputation, um Schutz sür den
Reichstag nachzusuchen. Der östreichische Generalissimus, Erzherzog Karl,
machte dem Reichstage unter dem 31. Juli bemerklich, wie er „mehr Contenance,
Standhaftigkeit und Entschlossenheit von der erleuchteten Reichsversammlung
erwartet hätte/' Bald befreite dieser Held Süddeutschland von seinen Drängern.
Er schlug die Franzosen im October 1796 auf das linke Rheinufer zurück. An¬
fang 1797 mußten sogar die Brückenköpse von Kehl und Hüningen von ihnen
den Oestreichern übergeben werden. Unter diesen Umständen räumte Preußen
wieder Nürnberg.
Aber in Italien erfolgte eine Entscheidung, wie sie den französischen Er¬
oberungsplänen entsprach. Bonaparte siegte am 16-. Januar 1797 bei Rivoli
und eroberte am 2. Februar Mantua. Mit Italien im Reinen, konnte er
seine Kraft ungetheilt gegen Oestreich selbst wenden. Schon im März stand
er in Jllyrien, am 26. März besetzte er Laibach, am 5. April Judenburg, die
Vorhut ging bis Leoben vor. Wien war bedroht. In dieser Hauptstadt ver¬
steckte sich schon Ende des JahreS 1796 hinter der officiellen Kriegslust eine
rührige Friedensintrigue Thuguts. Dieser Minister verbarg seinen Vertrauten
nicht mehr, daß um den Preis der Nheingrenze der Friede nicht zu theuer er¬
kauft sei; die Integrität des deutschen Reichs sei gleichgiltig, wenn für Oestreich
eine tüchtige Entschädigung herauskäme. Ende März bezeichnete er den Frieden
als unvermeidlich. Er schloß die Präliminarien desselben durch den Neapoli¬
taner Gallo in Göß bei Leoben. Frankreich erhielt Belgien und die Rhein¬
grenze, Oestreich einen Theil des venetianischen Gebietes, Istrien und Dal-
matien.
In diesen letzten Zeiten der Noth warfen die schwäbischen und rheinischen
Reichsstände dem russischen Zaren sich zu Füßen. Bereits seit dem
Teschener Frieden hatte die russische Politik ihre Freundschaft für Deutschland
mit verdächtiger Zudringlichkeit geltend gemacht und sich im Süden und Westen
eine Clientel groß zu ziehen gesucht. An diese russische Intervention appel-
lirten jetzt der rheinische und schwäbische Kreis; ihre Wohlfahrt bestrebten sie
sich derselben „devotest anzuempfehlen." Das Reich und die Nation konnten
zu Grunde gehen, wenn nur die kleinen Fürsten, sei es auch durch Protection
des Auslandes, ihre Existenz erhielten. Die norddeutschen Fürsten dagegen
empfanden ein gewisses schadenfrohes Behagen, durch den Abfall von der ge¬
meinsamen Sache von den Plünderungen, die Süddeutschland heimsuchten,
befreit zu sein, der gemeinschaftlichen Gefahr auf jedem Wege zu entrinnen;
wenn Theilnahme nicht mehr abgelehnt werden konnte, sich auf die dürftigste
und unwirksamste beschränken und sobald nur ein Ausgang sich zeigte!, auf
jede Bedingung den Schauplatz verlassen: das war die Summe aller Staats¬
klugheit. Die Politik von Basel, die Demarcationslinie, die Sonderbündnisse
von 1796, das Streben nach französischer oder russischer Protection, alles dieses
Zeugte von dem Verfall und der Auflösung des deutschen Reichs. Oestreich und
Preußen, die mittleren und kleineren Reichsstcmde, alle theilten sich gleichmäßig
in die Schuld, keiner hatte Grund, dem andern Vorwürfe zu machen. Oestreich
freilich wollte der Welt glauben macheu, sein Kaiser sei bis zuletzt der Pflicht
gegen Deutschland unverbrüchlich nachgekommen, es ließ in den Vertrag von
Leoben die nichtssagende Frage von der „Integrität des Reichs" aufnehmen,
während es doch den Franzosen die Nheingrenze zugesagt hatte. Bonaparte
würdigte vollkommen die Misere der deutschen Reichszustände, indem er schrieb:
„Wenn der deutsche Reichskörper nicht eristirte, so müßte man ihn ausdrück¬
lich zu unserm Nutzen erschaffen."
Nach den Präliminarien von Leoben begannen zwischen Oestreich und
Frankreich die Friedensconferenzen auf dem lombardischen Schlosse Montebello.
Bonaparte verlangte die Rheingrenze für Frankreich; er bot Oestreich Venedig,
Salzburg und Passau. Preußen sollte eine Entschädigung, aber keine Ver¬
größerung erhalten. Die preußische Politik war damals so zerfahren, daß
selbst ein Mann wie Hardenberg Preußen glücklich pries, „gegenüber den
Schwankungen der Zeit in der festen Position des baseler Friedens dazustehen."
Preußen sollte seine militärische Macht uno seine finanzielle Ordnung erhalten,
um gleichsanr zuwartend und in eingebildeter Selbstständigkeit zwischen den strei¬
tenden Parteien zu stehen. Für einen Staat, dessen ganze Geschichte und
Ueberlieferung auf rascher, kühner Action beruhte, war dies die furchtsamste
und zugleich die gefahrvollste Taktik. Am wenigsten konnte eine solche Taktik
einem Mann gegenüber, wie Bonaparte war, verfangen. Er wußte es Preu¬
ßen wenig Dank, daß es auf sein Begehren dienstwillig den Grundsatz der
Säcularisationen anerkannte. Preußen erschien ihm mehr und mehr nur als
brauchbar, nicht als furchtbar und Talleyrand, der im Sommer -1797 die Lei¬
tung der auswärtigen Politik Frankreichs übernahm, sah in Preußen ein
gutes Mittel, um Oestreichs Macht und Einfluß im Schach zu halten.
Am 17. October -1797 wurde endlich der Friede von Campo Formio
geschlossen. Oestreich erlangte für Belgien das Herzogthum Mailand, ent¬
legene und schwer zu behauptende Provinzen, eine vortreffliche Arrondirung
durch den Besitz Venedigs und die Zusage von Salzburg und einem Theil
von Baiern. Für seine italienischen Abtretungen , die man auf 580 Quadrat-
meilen und -1,200,000 Einwohner anschlug, erhielt es über 700 Quadratmeilen
mit mehr als 2 Millionen Einwohner. Dieser Erfolg sür die Haus macht
wurde von dem deutschen Reiche bezahlt; greller noch als zuvor Preußen und
die Neutralen sagte Oestreich sich jetzt vom Reiche los. Es ließ die Abtretung
des linken Rheinufers zu; nur Eleve, Geldern und Meurs verblieben Preu¬
ßen, damit dieser Staat nicht als zur Entschädigung berechtigt auftreten könne.
Es ließ zu, daß Deutschland als die große Entschädigungsmasse sür Europa
angesehen und fremde Dynastien, wie die oranische, auf Deutschland angewiesen
wurden. Es gab den Grundsatz der Säcularisationen zu. In den Verträgen
von Basel und Berlin hatte Preußen den Einfluß Oestreichs im Reiche zu
beeinträchtigen gesucht; jetzt vergalt ihm Oestreich mit reichen Zinsen, es ließ
sich von dem Erbfeinde Deutschlands versprechen, Preußen solle keine Gebiets¬
erweiterung erhalten. Der Erbfeind seinerseits verfolgte die Taktik, Preußen
auf Oestreich, Oestreich auf Preußen zu Hetzen und durch die Rivalität beider
nacheinander beide zu erniedrigen. Er sah in dem Frieden eins der Funda¬
mente seiner Weltherrschaft. Oestreich schien ihm nun nicht mehr gefährlich,
nur noch England. „ Vereinigen wir unsre ganze Thätigkeit auf die Meere",
rief er aus, ,,zerstören wir England, dann liegt Europa zu unsern Füßen!"
Deutschland begrüßte den Frieden mit stupiden Jubel; es fragte nicht nach dem
Preis, um den er erkauft war.
Wenden wir uns von der äußern zu der innern Politik dieser Zeiten.
Obgleich Oestreich im Frieden von Campo Formio gewonnen hatte, herrschte
dort Rückschritt und Verfall. Kaiser Franz II. war ein Mann von gewöhn¬
lichem Geist und engem, selbstsüchtigen Herzen. Unter ihm setzte sich die
ertödtende Mandarinenwirthschaft, wie sie vor 4740 gewaltet, von neuem
fest. Italienische Polizeikünste, ein Netz von Spionen, dem selbst die
Brüder des Kaisers nicht entgingen, eine erbarmungslose Härte gegen alles,
was als politisch gefährlich oder feindselig galt, kennzeichneten die Re¬
gierung. In der Armee wurden selbstständige Talente unterdrückt; es herrschte
eine unfähige militärische Camarilla. In der Civilverwaltung blieb Josephs II.
bureaukratisches und mechanisches Administrationswesen; aber die Anregung,
die er der Schule, der Erziehung, dem geistigen Leben der Nation gegeben,
wurde unterdrückt. Nur das Mittelmäßige schien ungefährlich, Talent und
Charakter störten die Monotonie und Selbstgenügsamkeit des Regiments. Der
leitende Minister Thugut hegte für die Menschen ebensowenig Liebe und Ach¬
tung , als sein kaiserlicher Herr; er haßte jeden geistigen und sittlichen Auf¬
schwung und regierte durch geheime Polizei und Spionage. Die Nation durch
trägen Sinnengenuß niederzuhalten, war ihm Summe der Staatsweisheit und
Gegengift gegen die Revolution.
In Preußen waren die Traditionen des großen Friedrich zwar nicht mit
Plan und Bewußtsein verlassen, aber abgeschwächt und verwischt. In der
auswärtigen Politik war der kühne und sichere Gang verloren, in der innern
Verwaltung war der strengsten Disciplin und Anspannung aller Kräfte Träg¬
heit gefolgt; das sonst so nüchterne und sparsame Beamtenthum war corrumpirt,
es ließ sich Unterschleife und Feilheit zu Schulden kommen, in einem Lande,
wo man an die persönliche Negierung des Königs gewöhnt war, machten sich
untergeordnete, zum Theil unwürdige Persönlichkeiten geltend. Die Armee,
eine starke Stütze der Macht, aber eine große Last für das Volk, war durch
die schlechte Kriegführung der letzten Jahre demoralisirt und nahm die Unarten
einer Friedensarmee an. Auch das Volk wurde vom Rost angefressen, Frivo¬
lität und Genußsucht waren namentlich in die Städte eingekehrt. Wahre
Religiosität hätte diesem Uebel steuern können. Aber die frommen salbadernden
Schwätzer, die schalen und geistlosen Handwerker der Orthodoxie, welche die
Regierung auf polizeilichem und bureaukratischen Wege heranzog, konnten das
Uebel nur mehren. Mißliebige Geistliche und Lehrer wurden mit Processen
verfolgt; die Gerichte wurden getadelt, wenn sie nicht eifrig genug gegen die
Tendenzen der Aufklärung vorschritten, es herrschte ein kleinliches polizeilich-
theologisches Regiment. In einem Augenblick, wo Preußen und Europa einer
Krisis entgegenging, stritten in Preußen die voltairisirende Frivolität und die
künstlich aufgezogene Gläubigkeit einer Coterie von Hoftheologen um die Herr¬
schaft, erwuchs das Unkraut einer ofstciellen und gemachten Frömmigkeit, welche
die Demoralisation stets mehr fördert, als bekämpft. Gegen die Veröffent¬
lichung des „Allgemeinen Landrechts", das Preußen als Rechtsstaat con-
stituirte und selbst die Gewalt des Königs dem Gesetz unterwarf, erhob sich
eine heftige Opposition der Hospartei. Dennoch wurde es 1794 in Vollzug
gesetzt; aber es ist bis auf den heutigen Tag der Nückschrittspartei ein Dorn
im Auge. So waren die preußischen Zustände, als Friedrich Wilhelm II. am
16. November 1797 erst 83 Jahre alt an der Brustwassersucht starb. Es folgte
ihm Friedrich Wilhelm III., ein junger Mann von 27 Jahren.
In Europa sind die Zeiten vorbei, wo die Bezwinger gefährlicher wilder
Thiere unter die Heroen und Heiligen versetzt wurden, und die Verehrung
ganzer dankbarer Völkerschaften genossen. In andern Welttheilen finden solche
gewaltige Nimrods, welche die Jagdfreude nach Art der mittelalterlichen und
vormittelalterlichen Waidmänner mit dem Reiz beständiger Todesgefahr zu ver¬
einigen lieben, eher einen Schauplatz für ihre Thätigkeit. So erinnern wir uns
vor mehren Jahren die Erlebnisse und Abenteuer eines Engländers gelesen zu
haben, der sich in Ostindien der Tigerjagd widmete und dadurch ein wahrer
Wohlthäter der Eingebornen wurde. Ganz das gleiche Verdienst wird dem
Lieutenant Gerard in den französischen Spahis in Algerien nachgerühmt,
dessen Heldenthaten gegen den herdenverwüstenden König der Thiere ein
stehendes Thema in den französischen Zeitungen bilden, und der jetzt eine
Auswahl seiner Jagdabenteuer und seiner Erfahrungen über den Löwen und
dessen Lebensweise in schlichterzählender Form in einem Werkchen zusammen¬
gestellt hat, dessen sehr gelungene deutsche Uebersetzung als eins der Lorckschen
Eisenbahnbücher unter dem Titel: „Jules Gerard, der Löwenjäger, deutsch
von I>r. A. Dietzmann" vor uns liegt. Wir können uns das Vergnügen nicht
versagen, das in dem Büchelchen, dessen Lectüre wir nicht nur dem Jagdlieb¬
haber, sondern jedem, der gern von Gefahr und Abenteuern liest, angelegentlichst
empfehlen, dargebotene reiche Material zu einer Darstellung des Löwen und
der Löwenjagd im nördlichen Afrika zu benutzen.
Der Löwe ist seinem heldenmäßigen Charakter entsprechend ritterlich
galant und die Löwin, wie sich bei ihrer Verwandtschaft mit dem Katzengeschlecht
erwarten läßt, eine Kokette ersten Ranges, die nicht blos Herzen, sondern auch
Knochen bricht. Da bei dem Zahnen die Sterblichkeit unter den Löwinnen
sehr groß ist, so ist die Zahl der Löwen bei weitem größer und eine Schöne
ist deshalb ein sehr gesuchter Artikel. Häufig wird die Löwin während der
Brunstzeit von drei ober vier Löwen begleitet, die alle um ihre Gunst werben
und sich beständig untereinander raufen. Sind sie zu gleich an Kräften, so
behält keiner die Oberhand und die Löwin, ungeduldig, daß es solange unent¬
schieden bleibt, wer zuletzt ihr Liebhaber bleiben soll, lockt alsdann einen
ältern kräftigen Löwen herbei, der unter den jüngern rasch aufräumt, den einen
mit einem Bisse erwürgt, dem zweiten ein Bein zermalmt und den dritten dann
vielleicht mit Verlust eines Auges in die Flucht jagt. Alsdann streckt sich der
Sieger demüthig bei der Löwin aus, die ihm als erstes Pfand ihrer Zuneigung
mit schmeichelnden Blicken die Wunden leckt, die er im Kampf um sie erhalten
hat. Manchmal freilich fällt der Wettkampf weit tragischer aus, ohne daß sich
die Löwin besonders darum zu grämen scheint. Ein Araber war einmal in
einer hellen Mondnacht auf dem Anstand auf Hirsche und war zu diesem
Zwecke auf einen hohen Baum dicht an einer Lichtung im Walde gestiegen.
Gegen Mitternacht kam eine Löwin mit einem alten Löwen gegangen; erstere
legte sich unter dem Baum nieder; letzterer aber blieb stehen und horchte. Bald
ließ sich in der Ferne ein Brüllen vernehmen, welches der Löwe so laut beant¬
wortete, daß der Jäger auf dem Baume vor Schrecken sein Gewehr fallen
ließ. Bald entstand ein Wechselgebrüll zwischen dem Löwen, welcher sich zu¬
erst aus der Ferne hatte hören lassen und der immer näher kam, und der Löwin,
während der Begleiter der letztern wüthend hin und her lief und mit dem
Schweif den Erdboden peitschte, als wollte er sagen: schon gut; er mag nur
kommen, er wird sehen, wie ich ihn empfange. Wol eine Stunde hatte dies
fortgedauert, als ein großer schwarzer Löwe am Eingang der Lichtung er¬
schien. Die Löwin wollte ihm entgegenbringen, ihr Begleiter aber kam ihr zu¬
vor, stürzte auf den Nebenbuhler los und beide brachten sich nun in wüthen¬
dem, aber unentschiedenen Kampfe fürchterliche Wunden mit Zähnen und
Tatzen bei. Die Löwin hatte sich unterdessen auf den Bauch gelegt, um zu¬
zusehen und solange der Kampf dauerte gab sie durch Wedeln mit dem
Schweife zu erkennen, wie sehr es ihrer Eitelkeit schmeichelte, daß zwei solche
Löwen sich um ihretwillen zerfleischten. Endlich sanken beide Kämpfer todt
nieder und nun ging sie langsam und vorsichtig zu den beiden Leichen hin, um
ste zu ben'enden, dann wanderte sie stolz hinweg, ohne die Gefallenen eines
Blickes zu würdigen. Gegenüber dieser Herzlosigkeit der Löwin zeigt der Löwe
Hegen seine erwählte Gefährtin eine Liebe und Aufmerksamkeit, die eines
bessern Looses würdig wäre. Beim Aufbruch aus dem Lager geht die Löwin
stets voraus; kommt das Paar aber in die Nähe einer Herde, wo es gilt
Beute zu machen, so streckt sich die Löwin in aller Ruhe hin, während der
Löwe vorschleicht, um den Angriff zu machen und dann seine Beute zu ihr zu
bringen. Er steht nun mit schmunzelndem Behagen zu, wie sie es sich schmecken
läßt, während er wachsam besorgt ist, daß dabei nichts sie störe oder beunruhige.
Erst wenn sie sich gesättigt hat, denkt auch er daran, seinen Hunger zu stillen.
Die Paarung des Königs der Thiere findet in der Regel gegen Ende Januar
statt und im folgenden December wirft eine Löwin meistens zwei, sehr selten drei
Junge, die sie nach Ablauf der ersten drei Monate mit klein zerrissenem
Schaffleisch füttert. Sind die Jungen vier bis fünf Monate alt, so begleitet
sie die Mutter bis an den Saum des Waldes, wohin der Alte ihnen die Beute
bringt; vom sechsten Monate an gehen sie schon mit auf die Jagd und von
da an fängt eine böse Zeit für die benachbarten Herden an, denn die Löwen-
familie tödtet nicht blos, um sich von der Beute zu sättigen, sondern tödtet,
um zu lernen. Nach Vollendung des dritten Jahres verlassen die jungen Löwen
ihre Alten und wirthschaften ans eigne Faust. Die Araber in Algier unter¬
scheiden drei Arten Löwen, den schwarzen, den gelbröthlichen und den grauen.
Ersterer, von der Farbe der dunkelbraunen Pferde, mit schwärzlicher Mähne,
ist kleiner als die andern, aber stärker und wilder. Sein Körper ist von der
Nasenspitze bis zur Schweifwurzel 5 Ellen lang und wiegt 550 bis 600 Pfund.
Während die beiden andern Arten umherschweifen, zieht der schwarze einen
festen Aufenthalt vor, in dem er manchmal dreißig Jahre lang bleibt d.h. sein
ganzes Leben lang, welches man zwischen dreißig und vierzig Jahre schätzt.
Im Durchschnitt tödtet ein Löwe im Jahre für 1300 Thaler Pferde, Maul¬
thiere, Rinder, Kameele und Schafe, so daß bei der durchschnittlichen Lebens¬
dauer von 33 Jahren ein Löwe unter dem Viehstand seiner Nachbarschaft eine
Verwüstung von 30,000 Thalern anrichtet. Es-ist daher kein Wunder, daß
die Araber sich der gefährlichen Nachbarn auf alle Weise zu entledigen suchen.
Da sie einen ungeheuern Respect vor dem Löwen haben — sie nennen ihn stets
„den Herrn", und wenn sie Abends in ihren Duars noch so sehr über ihn
schimpfen, schweigt doch alles voll Ehrfurcht, wenn von ferne wie Donnerrollen
sein Gebrüll erschallt — so geschieht dies meistens auf die wenig waidmännische
Art, daß unmittelbar hinter der Umzäunung des Duars auf der dem Walde
nahen Seite, wo der Löwe in der Regel herkommt, eine fünfzehn Ellen tiefe
Grube gegraben wird, oben enger als unten. Ist dann während der Nacht der
Löwe herangeschlichen und hört er das Vieh hinter der Umzäunung brüllen,
so springt er über die Hecke und stürzt in die Grube hinein. Nun geräth der
ganze Duar in Bewegung; die Weiber und Kinder stoßen ein lautes Jubel¬
geschrei aus, die Männer schießen die Gewehre ab, um die Nachbarn herbeizurufen
und alles bereitet sich zu einem großen Freudenfeste vor. Feuer werden an¬
gezündet, die Frauen bereiten Kuskussu und die ganze Nacht vergeht in Gelag,
denn die benachbarten Duars senden, durch die Flintenschüsse eingeladen,
stündlich neue Gäste zum Mahle. Endlich bricht der Morgen an und alles
drängt sich um die Grube, um den gefangenen Feind zu sehen. Ist es ein
junger Löwe oder eine Löwin, so ist die Freude nicht allzugrosi; ist es dagegen
ein ausgewachsener Löwe mit voller Mähne, so wird der Fang mit fast wahn¬
sinnigem Geschrei und Gebahren begrüßt. Weiber und Kinder höhnen und
schmähen den Löwen und werfen ihn mit Steinen und wenn sie müde sind
kommen die Männer mit ihren Flinten und schießen das edle Thier, das mit
würdevoller Verachtung das tödtende Blei in sein Herz empfängt, mit vielen
Kugeln nieder. Sind seine Peiniger ganz sicher, daß er todt ist, so zieht man
den Löwen aus der Grube heraus, zieht ihm die Haut ab und vertheilt das
Fleisch. Alle Mütter bekommen ein kleines Stück von dem Herzen, das sie
ihren Söhnen zu essen geben, damit diese stark und muthig werden. Ebenso
werden die Locken der Mähne als Amulets vertheilt. Auch auf dem Anstand aus
einem sichern, drei Fuß tiefen, mit Baumstämmen und großen Steinen be¬
deckten und mit vier bis fünf Schießlöchern versehenem Loch schießen die Araber
die Löwen, wobei ein frisch getödtetes Wildschwein als Lockung dient. Offen
dem Löwen entgegenzutreten wagen die Araber nur selten und am ehesten thun
dies noch die Stämme Alet-Meint und Alet-Cessi in der Provinz Konstantine,
die dann gewöhnlich eine Art Kesseltreiben anstellen. In ihrem Gebiete be¬
findet sich der Berg Zerazer, der wenig bewaldet, aber an den Seiten und
auf den Gipfeln mit ungeheuern Felsblöcken bedeckt ist, die Schutz vor allen
Winden gewähren. Deshalb dient er meistens einem Löwen oder einer ganzen
Familie als Winterquartier. Hat sich der unbequeme Gast durch einige glück¬
liche Raubanfälle den Herden bemerklich gemacht, so tritt der ganze Stamm
zu einer Berathung zusammen, um eine Jagd zu verabreden, zu der alle
Waffenfähigen aufgeboten werden. Nachdem das Lager des Löwen ausgekund¬
schaftet ist, macht sich die Schar aus den Weg und nähert sich dem Dickicht,
das dem Thiere zum Versteck dient, in eine Tirailleurlinie aufgelöst, mit ge¬
waltigem Geschrei und vielen Schimpfworten, die ihrer Meinung nach das
stolze Naubthier zum Hervorbrechen reizen. Der Löwe schlief vielleicht vor der
Ankunft der Jäger unter einem dunkeln, dichten Dach von wilden Oliven und
hundertjährigen engverwachsenen Mastirbäumen. „Bei dem ersten Geräusch, das
zu ihm dringt, schlägt er die Augen auf, ohne den Kopf emporzurichten; wenn
das Geräusch vernehmlicher wird, legt er sich auf den Bauch, um zu horchen.
Bei dem ersten Hurrah der Jäger springt er auf, schüttelt die Mähne und ant¬
wortet mit furchtbarem Gebrüll auf das' Geschrei der Unvorsichtigen, die seinen
Schlaf zu stören wagen. Nach dem ersten Schusse, der in dem Walde knallt
nach dem Pfeifen der ersten Kugeln in den Zweigen springt er wüthend aus
seinem Lager heraus, um die Umgegend zu mustern.
Das Schreien, das Schimpfen, das Drohen der Araber dringt bis zu
ihm, er bleibt stehen, um zu horchen und zittert vor Zorn und Ungeduld. Aber
er kriecht nicht hervor, denn er ist ein alter erfahrener Löwe: er weiß sich zu
erinnern, von welchem Kugelregen er früher einmal, als er seinen Zorn nicht
länger bemeistern konnte, empfangen worden. Er geht unruhig um sein Lager
herum und bleibt bald stehen, um zu horchen, bald richtet er sich auf den
Hinterfüßen an einem Baumstamme auf, den er mit den gewaltigen Vorder¬
tatzen umfaßt und mit den Zähnen und Klauen zerreißt als habe er einen
lebendigen Feind vor sich."
Da der Löwe nicht hervorkommt, treten die Jäger zur neuen Berathung
Zusammen, was nun zu thun sei; die muthigeren wollen in das Dickicht dringen,
die vorsichtigeren rathen, eine günstigere Gelegenheit abzuwarten. Man ent¬
scheidet sich zuletzt für das erstere und theilt sich, da die Fährten nach zwei
Richtungen gehen, in zwei Haufen. Jeder wirft den Burnus ab, den er an
einen Baum hangt und zieht die Schuhe aus, wenn er nicht schon barfuß ist,
alle aber halten sich dicht beisammen, denn wehe dem, der dem Löwen allein
entgegentritt, denn äußerst selten gelingt es selbst aus größter Nähe den
Löwen durch eine einzige Kugel auf der Stelle zu tödten, und tödtlich ver¬
wundet ist er am gefährlichsten. Ist der Löwe noch unverwundet und er stößt
auf einen einzelnen Jäger, so geschieht es wol, daß er ihn als ein Hinder¬
niß seiner Flucht blos niederwirft, und der niedergeworfene mit ein paar
Klauenritzen davon kommt. Fühlt aber das Thier die tödtliche Kugel im Leibe,
so packt er den ersten besten, den er noch fassen kann, mit aller Macht, zieht
ihn unter sich, nimmt das Gesicht des Unglücklichen vor sich, und scheint wie
die Katze mit der Maus sich an seiner Todesangst zu weiden. Während seine
Klauen mit Wonne durch das weiche Fleisch des Opfers sich ziehen, ruhen
seine Augen blitzend auf den Augen des Menschen, der durch diesen Blick ge¬
bannt weder zu schreien noch zu jammern wagt. Von Zeit zu Zeit streicht
der Löwe seine große rauhe Zunge über das Gesicht des Sterbenden, dann
zieht er die Lippen zurück wie die Katze und zeigt alle Zähne. Die muthig¬
sten von den Verwandten des unglücklichen Jägers haben sich unterdessen ge¬
sammelt und rücken in geschlossener Reihe, den Finger am Drücker, gegen den
Löwen vor, denn sie schießen nur aus unmittelbarster Nähe, da es sich kein
Araber verzeihen würde, wenn seine Kugel zugleich den sterbenden Verwandten
träfe.
Fühlt der Löwe allmälig seine letzte Kraft schwinden, so zermalmt er
noch mit seinen Zähnen den Kopf des Mannes, den er unter sich hat, in dem
Augenblick, wo er das Rohr des Gewehres zu seinem Ohre sich senken sieht
und erwartet dann mit geschlossenen Augen den Tod. Hat er aber noch einige
Kraft übrig, so versucht er wol noch einen Sprung und verwundet dabei noch
einen Jäger schwer oder gar tödtlich. Daraus läßt sich ersehen, wie noth¬
wendig es für die Jäger, ist in geschlossener Ordnung zu bleiben; denn wenn
der Löwe sie so herankommen sieht, tritt er in majestätischer Haltung ihnen
entgegen, als hoffe er durch sUn bloßes Erscheinen sie in Schrecken zu setzen
und zur Flucht zu bewegen.
Gelingt ihm dies aber nicht, so geht er unter dumpfgrollenden Drohungen
20 bis 30 Schritt vor den auf ihn gerichteten Gewehren hin und in diesem
Augenblick läßt der älteste der Jäger alle gleichzeitig feuern, worauf alle das
Gewehr wegwerfen und sich mit Pistolen und Aatagan bewaffnen, mit denen
sie, wenn der Löwe zusammenstürzt, ehe er sich wieder aufrichten kann, über
ihn herfallen und auf ihn um die Wette schießen und stechen, bis er todt ist,
wobei sie aber immer noch einige Stücke Fleisch in den Klauen des vererdenden
Thieres lassen müssen. Nun sammelt man die Todten und Verwundeten und
schickt zwei Mann in den nächsten Duar, um Maulthiere zum Fortschaffen der
Gefallenen zu holen. Dann zieht man unter lautem Geschrei dem Löwen
das Fell ab und kehrt, nachdem die Maulthiere angekommen sind, nach Hause
zurück. Voran geht derjenige, welcher aus den Löwen den entscheidenden
Schuß abgefeuert hat, mit der blutigen Löwenhaut. Dann folgen die Maul¬
thiere nebeneinander mit den Verwundeten, von denen die leicht Verletzten die
Todten vor sich auf dem Sattel halten, und der zertheilte Löwe wird an
Stangen in der Mitte des Zugs getragen, der im heimathlichen Duar mit
lautem Jubel, aber auch mit Weinen und Jammern von denen empfangen
wird, die aus der Jagd ihre Väter oder Brüder verloren haben.
So ist die Löwenjagd, die Lieutenant Gerard vom dritten Spahiregiment
zu seinem Beruf erwählt hat, nicht weil er Feind des Königs der Thiere ist,
im Gegentheil liebt und bewundert er ihn. „Todten kann man ihn, besiegen
niemals," sagt er selbst. „Jedes Mal wenn ich einen Löwen erlegt habe, zu
dem Todten trete und die Elfenbeinzühne, die ebenhvlzschwarzen Klauen und
die so wohlgebauten Glieder besehe, die es ihm möglich machen in einem
Sprunge einen Raum von 45 Fuß zurückzulegen, schlage ich die Hände über¬
einander, fühle fast Reue und Gewissenspein und frage mich: Hattest du
Zwerg denn auch das Recht dem Riesen das Leben zu nehmen?" Wenn
Gerard die Nqchricht bekam, daß ein Löwe zu schießen sei, so befiel ihn stets
eine Art Fieber und sein sonst so ruhiger Puls fing dann mit doppelter
Schnelligkeit zu schlagen an. Sich zu setzen war ihm unmöglich und alle
Augenblicke fuhr er aus dem Schlafe empor und diese Aufregung dauerte fort,
bis er dem Löwen selbst gegenüberstand, wo die Nothwendigkeit gefaßt zu sein,
das Gefühl der Selbsterhaltung und die Größe der Gefahr seinem Herzen
Ruhe gebot.
„Ich habe dann einen Augenblick des höchsten Genusses," erzählt er.
„Dieser Genuß, so kurze Zeit er auch währt, ist ein goldener Nahmen, der das
Bild meines ganzen Lebens umschließt. Diesen Genuß habe ich, während ich
auf den Löwen ziele, und ich ziele auf ihn, sobald ich ihn sehe. Kommt er
bis auf 15 Schritt heran, so ist er verloren. Seit ich vertrauter mit ihm
geworden bin, lasse ich wol auch ein paar Mal eine gute Gelegenheit zum
Schießen vorübergehen, um den Genuß zu verlängern. Endlich drücke ich
ab und ich bin gerettet, sobald ich mein Fleisch von den Klauen nicht zer¬
rissen, meine Knochen unter den gewaltigen Zähnen nicht knacken fühle."
Das ist die Alternative bei der Löwenjagd: tödtlich treffen oder zerrissen werden
und wen der Reiz solcher Gesahr lockt, wer es müde ist, in langweiliger
Sicherheit auf Hasen, Rehe und Hirsche und höchstens auf ein Wildschwein
zu schießen, der kann nach Algerien gehen und Gerard als Löwenjäger ab¬
lösen, denn er sucht einen Nachfolger. Er klagt, daß seine Beine nicht viel
mehr taugen, die Büchse der Hand schwer werde und das Bergsteigen seiner
Brust beschwerlich falle; nur die Augen sind noch vollkommen gut. Das
Jagen im Winter hat ihn in seinem dreißigsten Jahre alt gemacht, so daß der
kühne Jager fürchtet, nicht lange mehr das Feld halten zu können. Daher
bittet er seinen etwaigen Nachfolger zu eilen und sendet ihm schon von Algier
aus die nöthigen Verhaltungsregeln entgegen. Von körperlichen und geistigen
Eigenschaften verlangt er von dem Löwenjäger Jugend und Kraft, eine gute
Brust, um gut laufen zu können, ein scharfes Auge und einen eisernen Willen.
Als Gewehr empfiehlt er eine Doppelflinte, die genau und scharf schießt und
auf die der Schütze so eingeübt sein muß, daß er in einer Entfernung von
30 Schritten mit den Kugeln aus beiden Läufen auf einen Punkt trifft. Zur
weitern Bewaffnung dient ein gutes Pistol und beide Schutzwaffen werden
mit konischen Kugeln mit Stahlspitzen geladen. Um einen Führer zu finden
empfiehlt Gerard in dem Duar, in dessen Nähe sich ein Löwe aufhält, nach
einem Manne zu fragen, der an Nachtwanderungen gewöhnt ist oder vor der
Nacht sich nicht fürchtet d. h. nach einem Diebe, denn nur diese pflegen in
der Nacht spazieren zu gehen^, ehrliche Araber bleiben von Sonnenunter¬
gang an, wo der Löwe regelmäßig sein Lager verläßt und auf Raub ausgeht,
zu Hause.
Vor allen Dingen gilt es, den Versteck des Löwen auszuspüren. Ist der
Boden hart und dürr, so muß man eine seuchte Stelle aufsuchen und sich dort
nach einer Löwenfährte umsehen. Man mißt sie mit der Hand; bedecken die
ausgebreiteten Finger die Krallen des Thieres nicht, so rührt die Fährte von
einem ausgewachsenen Löwen her. Bedeckt die Hand die Fährte, so ist sie die
einer Löwin oder eines jungen Löwen. Anstatt einer Fährte, die nicht zu
finden ist, muß man sich auch oft mit der Losung begnügen. Sie ist voll an¬
sehnlicher Knochenstücke und im frischen Zustande weiß, wird aber schon nach
24 Stunden fast schwarz. Nur wenn sie die Größe einer Hand erreicht, rührt
sie von einem ausgewachsenen Löwen her. Gelingt es nicht, auf diese Weise
den Ausenthalt des Löwen zu ermitteln und setzt er seine Raubzüge fort ohne
zu brüllen, so muß man mit dem Führer in einer Mondscheinnacht auf¬
brechen und langsam die Wege begehen, welche die verschiedenen von dem
Raubthiere heimgesuchten Duars miteinander verbinden. Ein heiserer Schrei
verräth die Nähe eines Schakals, der aber nicht blos dem Löwen, sondern auch
der Hyäne und dem Räuber folgt, denn er weiß, daß auch von dem Raube
dieser etwas sür ihn übrig bleibt. Folgt er einem Löwen in der Ebene, so
braucht man sich nicht weiter um das Aufsuchen des letzteren zu bekümmern,
denn er kommt stets auf den Menschen zu, sowie er ihn von weitem erblickt.
Ist dagegen die Gegend bewaldet, so läßt man sich von dem Führer nach
einer Stelle bringen, wo der Löwe vorbeikommen muß, und versteckt sich
hinter einem Busch so, daß das Thier den Jäger erst sieht, wenn er es schuß-
gerecht vor sich hat. So erwartet man ihn, das Gewehr am Backen und den
Finger am Drücker. Sowie der Löwe seine Gegner sieht, bleibt er auf dem
Wege stehen. Jetzt gilt es sicher und rasch zu zielen. Die Stelle vor dem
Schulterblatt ist ein guter Zielpunkt, eine dort eindringende Kugel tödtet aber
nicht immer auf der Stelle. Ein Löwe, den Gerard an diesem Flecke mit zwei
Eisenposten durch und durch schoß, zerriß noch zwei Araber und verstümmelte
seinen Spahi Nossain. Sicherer ist es, zwischen Auge und Ohr zu zielen,
wenn das Thier den Jäger von der Seite ansteht oder zwischen die Augen,
wenn er es gerade vor sich hat. Trifft man hier, so stürzt der Löwe gewiß
zusammen. Stürzt er aber nicht, so kann es wol kommen, daß er auf den
Jäger springt und diesen über den Haufen rennt. Gerard empfiehlt dann,
ihm das Gewehr bis an den Kolben in den Rachey zu stoßen. „Haben mich
seine gewaltigen Klauen nicht gepackt und zerfleischt," meint Gerard, so stoße ich
ihm den Dolch in ein Auge oder in die Herzgegend, je nachdem ich den Arm
brauchen kann; falle ich dagegen bei dem Ursprunge des Löwen, was das
Wahrscheinlichste ist, so habe ich sicherlich beide Hände frei, und dann sucht
die Linke das Herz und die rechte führt den Dolchstoß dahin. Wenn man am
nächsten Tage nicht zwei engumschlungene todte Körper findet, so liegen sie
wenigstens nicht weit voneinander, und der Dolch wird das Uebrige sagen." So
ist der Jäger wenigstens gerächt — freilich nur ein deutscher Trost, aber doch
ein Trost. Sinkt der Löwe jedoch auf der Stelle zusammen, so muß man
immer noch eine Minute vorsichtig warten, und sich dem Gefallenen erst nähern,
wenn er gar kein Lebenszeichen mehr von sich gibt, denn wie schon früher
bemerkt worden, der verendende Löwe ist ein gefährlicher Gegner. Findet man
eine Fährte, so stellt man sich an dem Wechsel aus, der meistens da ist, wo der
Weg aus dem Walde nach einer Furt führt. Sieht man mehre Fährten zu¬
gleich, so braucht man deshalb nicht ängstlich zu sein: es ist die Löwin mit
ihren Jungen, hinter denen sie, wenn sie noch nicht zwei Jahre alt sind, stets
hergeht. Man braucht dann nur die Mutter zu schießen. Sind die Jungen
aber noch sehr schwach, so muß man vorsichtig sein, denn alsdann greift die
Löwin oft selbst an. Sie verfährt dabei mit großer Schlauheit und der Jäger
muß sehr vorsichtig und wachsam sein.
Die Löwin greift nie offen an; sie bleibt stehen, sobald sie den Jäger
sieht und duckt sich, sowie er das Gewehr anlegt, so zusammen, daß sie in dem
Gestrüpp kaum mehr zu erblicken ist. Nach einiger Zeit hebt sie wieder den
Kopf ein wenig und wenn sie bemerkt, daß man das Gewehr nicht mehr am
Backen hat, so steht sie auf und thut als wolle sie fortgehen, was aber nur
wirklich geschieht, wenn die Jungen schon weit weg sind. Sind sie noch nicht
ganz in Sicherheit, so schleicht sich wol die Löwin, die dem Auge des Jägers
entschwunden ist, leise auf dem Bauche heran und fällt den auf dem Anstand
Stehenden unerwartet an. Einmal ging es fast Gerard so. Eine Löwin hatte
ihn bemerkt, als ihr Junges grade über ein als Köder hingeworfenes todtes
Pferd herfallen wollte, und war mit ihm scheinbar verschwunden. Aber
unser Löwenjäger ließ sich dadurch nicht irre machen, denn er wußte, welche
Gefahr ihm noch drohte. Er lauschte gespannt und sah sich mit der größten
Aufmerksamkeit nach allen Seiten um. Plötzlich hört er zu seiner Linken und
fast hinter sich ein leises Rascheln, etwa als ob eine Maus durch den Busch
liefe. Als er nach dieser Richtung hin sah, erblickte er zuerst ein Paar dicke
Tatzen, dann einen langen Schnurrbart und endlich eine ungeheure Nase.
Gerard hatte das Gewehr am Backen und den Finger am Drücker und in dem
Augenblicke, wo sich auch das stiere Auge zeigte, schoß er und streckte die Löwin
todt nieder.
Oft steht übrigens der Jäger vergebens auf dem Anstand, denn ein arabisches
Sprichwort sagt: sür einen Löwen gibt es 100 Duars, 100 Wege und
100 Furten; und Gerard selbst hat 600 Nächte unter freiem Himmel in den
besuchtesten Schluchten, an den besten Furten gelauert und doch nur 23 Löwen
erlegt. Begleiten wir ihn wenigstens auf einer dieser Jagden.
Einige Tage nach der Rückkunft der Erpedirionscolonne aus Kabylien,
im Juli 1833, verließ Gerard Konstantine um nach den Auresbergen zu
gehen, wo sicheren Nachrichten zufolge ein alter Löwe hauste. Die benachbarten
Araber hatten 2 bis 300 Mann stark bereits einen Streifzug gegen das
Raubthier unternommen. Er begann mit Sonnenaufgang; Mittags hatten
die Araber bereits 300 Kugeln verschossen und mit Einbruch der Nacht zogen
sie sich mit einem Verlust von einem Todten und sechs Verwundeten zurück,
ohne gegen den Löwen das Mindeste ausgerichtet zu haben. Auf die Nach¬
richt von Gerards Ankunft erschien bei ihm eine Deputation, die ihn um Hilfe
bat, zu welcher er sich sofort bereit erklärte. Er schickte seine Kundschafter aus,
und erfuhr alsbald, daß der Löwe einen großen Ausflug gemacht, die Löwin
sich aber noch in einem benachbarten Walde aufhielt. Er lauerte ihr Abends
auf, und erschoß sie mit der dritten Kugel. Der Löwe streifte nun, seine Ge¬
fährtin suchend weit umher und tödtete dabei in einem Duar ein Maulthier
und zwei Rinder, worauf er sich nach Süden zu auf die höchsten Spitzen des
Gebirgs begab. Die letzte Spur fand man drei Stunden von dem Orte, wo
Gerard sein Lager aufgeschlagen hatte. Mehre Tage lang hörte man nichts
von dem Löwen, am vierten aber brachten Araber aus einem drei bis vier
Stunden weiter südlich gelegenen Duar die Kunde, daß der Löwe sein Lager
in einem Walde in dortiger Gegend, Tafrent mit Namen, aufgeschlagen, und
ihnen bereits acht Rinder geraubt habe. Dorthin begab sich nun Gerard am
23. Juli Abends in Begleitung eines Herrn von Rotenburg, eines holländi¬
schen Offiziers. Gegen zehn Uhr Abends gab der Löwe das erste Lebenszeichen
von sich. Er brüllte eine halbe Stunde vor dem Duar und raubte um Mitter¬
nacht ein Schaf, wenige Schritte von Gepards Zelt. Am nächsten Morgen
kam Gerards arabischer Kundschafter Amar Ben Sipha freudestrahlend mit
der Nachricht, daß er das Lager des Löwen entdeckt habe. Es war im Walde,
mitten im dichten Gebüsch und deshalb ein directer Angriff nicht ausführbar,
weshalb sich Gerard entschloß, eine lebendige Lockspeise anzuwenden. Lassen
wir ihn nun selbst erzählen. „Am 26. Abends um 7 Uhr brach ich mit
meinem Spahi Hamida und zwei Kundschaftern auf, welche meine Waffen
trugen und eine Ziege führten. Das Lager des Löwen befand sich am süd¬
lichen AbHange, wenigstens hundert Schritte von der Schlucht, in welcher ein
Bach floß. Am entgegengesetzten Hange in dieser Schlucht sah ich eine etwa
fünfzehn Ellen breite Lichtung, um welche große Bäume standen und die
wenigstens 160 Schritte von dem Löwenlager entfernt war.
Wahrend einer meiner Leute die Ziege an eine Wurzel in die Mitte der
Lichtung band und die andern mir meine Waffen reichten, zeigte sich uns der
Löwe am Fuße des sogenannten Löwenfelsen und sah uns zu.- Ich begab mich
rasch an den Waldsaum, dem Löwen gegenüber, fünf bis sechs Schritte von
der Ziege, die laut meckerte, als die Leute sich entfernten und alle ihre Kraft
aufbot, sich loszureißen und zu mir zu kommen.
Der Löwe war verschwunden. Er kam ohne Zweifel im Schatten der
hohen Bäume her, so daß ich ihn nicht sehen konnte. Ich hatte mit dem Dolche
^uige Zweige abgeschnitten, die mir bei dem Schießen hinderlich sein konnten
und wollte mich eben setzen, als die Ziege auf einmal ganz still wurde, an allen
Gliedern zitterte und bald nach mir, bald nach der Schlucht hinsah, als wollte
ste sagen: „Der Löwe ist da, ich ahne es; er wird kommen, ich höre ihn; er
kommt, ich sehe ihn." Ich sah ihn auch. Er kam langsam die Schlucht her¬
auf und blieb am Rande der Lichtung, zwölf Schritte von mir stehen. Seine
breite Stirn war ein schöner Zielpunkt. Zweimal senkte ich die Büchse, zwei¬
mal zielte ich zwischen die beiden Augen, zweimal berührte mein Finger bereits
leise den Drücker, aber ich drückte noch nicht ab. Seit zwei Jahren hatte ich
keinen so großen, keinen so schönen, keinen so majestätischen Löwen gesehen
und ich konnte nicht schießen, ohne ihn vorher genau betrachtet zu haben. Was
>se ein todter Löwe? Was ist eine schöne Frau im Sarge? Schönheit ohne
Leben, also — Häßlichkeit. Das edle Thier hatte sich niedergelegt, als wisse
es, daß ich Bewunderung empfand, schlug die beiden ungeheuern Tatzen über¬
einander und legte leicht den Kopf darauf, wie auf ein Kissen. Ohne im
mindesten die Ziege zu beachten, welche durch die Furcht gelähmt war, be¬
trachtete der Löwe mit besonderem Interesse mich, indem er bald mit den
Augen blinzelte, was ihm ein höchst gutmüthiges Aussehen gab, bald die
Augen ganz aufschlug, so daß ich unwillkürlich mein Gewehr fester faßte. Er
schien bei sich zu denken: „ich habe eben in dieser Lichtung mehre Menschen
und eine Ziege gesehen, die Menschen sind sort und die Ziege ist allein zurück¬
geblieben; ich komme an und finde neben ihr einen Mann, der blau und roth
gekleidet ist, wie ich noch keinen gesehen habe, der bei meiner Annäherung
auch nicht flieht und mich fest ansieht." Bisweilen, während das Abenddunkel
dichter und dichter wurde, schien er weiter zu denken: „was hol ich mir zum
Abendessen, die Ziege oder den Rothen? Das Schaf von gestern war besser
als diese Ziege da, aber es ist weit zu den Schafen. Die rothen Menschen
sind im Allgemeinen vielleicht auch gut, der da aber sieht recht dürr aus."
Diese letzte Rücksicht schien seine Wahl bestimmt zu haben, denn er stand ent¬
schlossen auf und ging drei Schritte nach der Ziege hin. Mit dem Gewehr
am Backen und dem Finger am Drücker folgte ich allen seinen Bewegungen,
um im rechten Augenblicke Feuer geben zu können. Zweimal schickte er sich
an, auf die Ziege sich zu stürzen, indem er sich katzenartig duckte. Ich ver¬
muthete, daß der Strick, mit welchem die Ziege angebunden, ihn beunruhige
und ich zweifelte, daß er einen Hinterhalt fürchte, als ich ihn unruhig am
Rande der Lichtung hin- und hergehen und beim Stehenbleiben mir die Zähne
zeigen sah.
Die Sache wurde zu ernsthaft; es war Zeit ein Ende zu machen. Ich
benutzte also den Augenblick, als er mir am Rande der Schlucht, in einer
Entfernung von 12 Schritten, die Seite zukehrte und schickte eine erste Kugel
mitten auf die Schulter, gleich darauf und während er sich brüllend krümmte
eine zweite von der Schulter in den Leib. Er war von den beiden Kugeln
mit Eisenspitzen durchbohrt und rollte wie eine Lawine in die Schlucht
hinunter.
Während ich meine Büchse wieder lud, waren meine Leute herbeigekom¬
men. Mit ihnen ging ich an die Stelle, wo ich den Löwen getroffen hatte.
Die Leute zweifelten nicht, daß er todt sei und liefen auf die Höhen, um andere
herbeizurufen, damit sie den Erlegten mit forttrugen. Ich meinestheils folgte
den Blutspuren in der Schlucht, wo der Löwe mehre Male gefallen war und
sah, daß er in ein dunkles, dichtes, fast undurchdringliches Gebüsch gegangen.
Um sogleich zu wissen, was ich zu thun habe, warf ich einen Stein in das
Dickicht hinein und von etwa 20 Schritten her antwortete ein tiefes, bald
klagendes, bald drohendes Gebrüll. Bei diesem Brüllen erstarrte mir das Blut,
denn ich dachte an daS Brüllen des Löwen von Meschez-Amar, der in ganz
ähnlicher Lage vor sechs Jahren vor meinen Augen und trotz meiner Kugeln
meinen Spahi Nossain und zwei Araber verstümmelte. Ich kniete am Saume
des Dickichts und bemühte mich vergebens hineinzusehen. Schon wollte ich
mich entfernen, als mein Spahi, meine beiden Kundschafter und vier be¬
waffnete Araber zu mir kamen. Mit Mühe hielt ich sie ab, in das Dickicht
hineinzugehen, in dem, wie sie meinten, der Löwe todt liege. Vergebens
stellte ich ihnen vor, er lebe noch, wir würden ihn nicht sehen können, ehe er
einen von uns packe, und einer von uns sei gewiß verloren, wenn wir schon
jetzt hineingingen, während ich dafür bürge, daß wir ihn am nächsten Tage todt
finden würden. Die Leute legten ohne weiteres ihre Burnusse ab und forder¬
ten mich auf, mich darauf zu setzen und zu warten.
Zwei Minuten später hatte ich die Kleidungsstücke abgelegt, die mir
hätten hinderlich sein können, Amar meine Büchse, einem andern zwei Pisto¬
len und meinem Spahi ein Gewehr gegeben, das er mir geladen nachtragen sollte.
Dann empfahl ich den Leuten, sich dicht neben mir zu halten und trat mit
ihnen und Rotenburg, der durchaus nicht zurückbleiben wollte, in das Dickicht
hinein. Nach -13 Schritten trafen wir eine kleine Lichtung, wo jede Blut¬
spur verschwunden war. Die Nacht brach ein; es war bereits schwer, die
Fährte des Thieres zu sehen und unser Suchen wurde immer gefährlicher, da
wir nach einigen Minuten gewiß gar nichts mehr sahen. Um keine Zeit zu
verlieren, suchte jeder nach den Blutspuren, die wir verloren hatten, ohne in¬
deß die Lichtung zu verlassen. Mit einem Male ging das Gewehr eines Arabers
mitten unter uns aus Unvorsichtigkeit los; es geschah uns zwar kein Schaden,
aber der Löwe brüllte nur einige Schritte vor uns und alle meine Leute
drängten sich um mich, Amar ausgenommen, der aus Unerfahrenheit oder
Selbstvertrauen sechs Schritte von uns an einen Baum sich gelehnt hatte.
Kaum hatte der Löwe mit starrender Mähne und weitaufgerissenem Rachen
am Rande der Lichtung sich gezeigt, so knallten acht Schüsse auss Gerathewohl
ihm entgegen, ohne ihn zu treffen. Ehe der Rauch von dem nutzlos verbrann¬
ten Pulver sich verzogen hatte, war Amar, der auch nach dem Löwen ge¬
schossen, niedergeworfen, sein Gewehr zerbrochen, sein rechter Schenkel zer¬
malmt und als ich ihm zu Hilfe eilte, sah ich seinen Kopf bereits in dem
Nachen des Löwen, auf den ich meine Büchse ganz in der Nähe richtete, ohne
daß er sein Opfer losließ. Da ich für den Kopf des Arabers fürchtete, wenn
ich nach dem Löwen schösse, wählte ich das Herz zum Zielpunkte und gab
Feuer.
Amar wurde frei und rollte zu meinen Füßen, die er so ungestüm um¬
klammerte, daß er mich fast umriß, der Löwe aber lehnte an den Zweigen, die
unter seiner Last brachen und fiel noch nicht.
Ich zielte ihm nach den Schläfen und drückte los; der Schuß versagte.
Zum ersten Male seit zehn Jahren ging mein Gewehr nicht los und der Löwe
stand noch immer da, zerbiß und zerriß die Aeste, die er erreichen konnte,
brüllte und wand sich in Todeskrämpfen einen Schritt von mir und fast auf
Amar, der wie ein Besessener schrie. Alle meine Leute waren herbeigekommen
und schwangen die Säbel oder hatten die Gewehre vorn an dem Laufe gefaßt,
um sie als Keule brauchen zu können. Nutzlose Waffen einem Feind gegen¬
über, den drei Kugeln nicht todten! Ich rief zunächst nach meinem Spcchi
Hamiba, um mir das Gewehr geben zu lassen, das er geladen mir nachtragen
sollte. Er zitterte an allen Gliedern und brachte kaum heraus: „Abgeschossen!"
Mein zweites Gewehr war also nicht mehr geladen; der Unvorsichtige hatte
gleichzeitig mit den andern geschossen und wir waren somit in der Gewalt des
Löwen. Zum Glück für uns und alle fiel er in diesem Augenblicke zwischen
Amar und Rotenburg todt nieder."
Wir könnten noch mancherlei von dem Löwen berichten, Denn wir haben
nur eine flüchtige Blumenlese in dem Werkchen gehalten, müssen aber den
Leser auf dieses selbst verweisen, das auch noch manches Hübsche über Panther
und Hyänen, Wildschweine und Stachelschweine, Antilopen und Hirsche und
deren Jagd in dem französischen Nordafrika erzählt, und das wir als angenehme
Lectüre nochmals männiglich empfehlen.
Der große Krieg im Orient, der zu Anfang bis in seine kleinsten Wen¬
dungen mit der gespanntesten Aufmerksamkeit verfolgt wurde, hat im jetzigen
Augenblick etwas von seinem Interesse verloren; man hat sich allmälig daran
gewöhnt, man ist ziemlich sicher, daß im Lauf des gegenwärtigen Jahres an
eine unmittelbare Berheiligung Deutschlands nicht zu denken ist, es steht auch
für die nächste Zukunft keine Entscheidung in Aussicht, und so gehen die Ge¬
schäfte wieder ihren ruhigen Gang, und wenn man auch noch jeden Abend
eifrig nach den telegraphischen Depeschen sucht, um zu erfahren, wie da hinten
in der Türkei die Völker aufeinanberschlagen, so ist es doch nicht mehr die
fieberhafte Spannung, die eine unmittelbare Betheiligung voraussetzt. In der
Krim ist eine furchtbare, blutige Schlacht geschlagen, in der Ostsee haben die
verbündeten Flotten wenigstens gezeigt, daß sie den Russen noch andre Unbe¬
quemlichkeiten zufügen können, als die Wegnahme von kleinen Lastschiffen,
allein man ist von diesen Erfolgen wenigstens nicht soweit bewegt worden,
wie eS in den Tagen der Schlacht an der Alma geschah. Selbst die offizielle
Versicherung des Kaisers der Franzosen, daß Sebastopol vor Ablauf des
Winters fallen müsse, hat mehr Erstaunen als Aufregung hervorgebracht.
Noch vor einem Vierteljahr, als in London die Rocbucksche UntersuchungS-
commisston in voller Thätigkeit war, dachte man an nichts als an die Noth
der armen Soldaten, und das Murren der Unzufriedenheit, das sich in Eng¬
land gegen die Sorglosigkeit der herrschenden Classen erhob, verbreitete sich
über den ganzen Continent. Die Untersuchung ist ohne Resultat zu Ende ge¬
suhlt, die radicale Opposition hat eine Pause gemacht, und alle Blicke wenden
sich nach Paris, wo in den glänzendsten Festen, die seit dem wiener Congreß
das Jahrhundert gesehen, die beiden verbündeten Völker ihre Noth und Sorge
ZU vergessen scheinen.
Der Besuch der Königin von England in der Hauptstadt eines Landes,
das seit vielen Jahrhunderten der bedeutendste Rival der britischen Macht war,
ist unzweifelhaft ein wichtiges Ereigniß, aber nicht wegen seiner unmittelbaren
Folgen, sondern als Symptom. Es wirken soviele Umstände mit, um das
Ungewöhnliche desselben ans Licht zu stellen: die Ungewöhnlichkeit der That¬
sache an sich, die bedenkliche Stellung einer legitimen Fürstin einem Herrscher
gegenüber, der sich selbst noch vor kurzer Zeit einen Parvenu nannte und mit
einer gewissen herausfordernden Sprache seine Heirath mit einer Unebenbür¬
tigen verkündete, vor allem aber die intimen Beziehungen der Königin Victoria
M der orleanschen Dynastie, die sich über den neuen Kaiser der Franzosen
nicht blos in staatsrechtlicher, sondern auch in civilrechtlicher Beziehung zu
beklagen hat. Daß alle diese Bedenken überwunden sind, Bedenken, die noch
iur Zeit des Staatsstreichs so mächtig waren, daß sie den Sturz Palmerstons
herbeiführten, zeigt uns deutlich, wiesehr die Bedeutung persönlicher Bezie-,
hunger innerhalb der großen Politik geschwunden ist. Zwar haben die Per¬
sönlichkeiten zu dem Ereigniß viel beigetragen, denn die Königin Victoria ist
ein ganz seltenes Beispiel von dem völligen Aufgehen eines Regenten in die
Sympathien seines Volks, und Napoleon III. hat es verstanden, den Schritt
wesentlich zu erleichtern; aber die Hauptsache bleibt doch die Beziehung der
Völker zueinander. Die Verbrüderung der Engländer und Franzosen, die in
der Krim aus eine so heroische Weise durchgeführt wird, mußte auch in den
unbeschäftigten, genießenden Classen Anklang finden, und namentlich sür die
Franzosen nimmt jedes wichtige Ereigniß die Form eines- Schauspiels an.
Ein Schauspiel ist es, was wir in Paris vor uns sehen, aber ein Schauspiel
voller Bedeutung, denn die verbündeten Mächte zeigen dadurch der Welt, daß es
ihr ernster Wille ist, ihr Bündniß, d. h. den Krieg gegen Rußland, fortzusetzen.
Für uns kann diese Thatsache nur erwünscht sein. Durch das Bündniß
dieser beiden Staaten wird der natürliche Egoismus ihrer Politik auf eine
ideelle Bahn gelenkt und vor gefährlichen Wendungen behütet- Solange die
beiden Staaten in ihren auswärtigen Beziehungen gesondert zu Werke gehen,
müssen vie Nachbarn das Schlimmste von ihnen fürchten; in ihrer Verbindung
aber beschränken sie sich gegenseitig, und Handstreiche aus Belgien, die Rhein-
Provinz und dergleichen sind ganz außer Frage.
Der feste Entschluß, den Krieg fortzuführen, wird durch die innere Noth¬
wendigkeit der Dinge zu Folgerungen führen, die für Europa nur heilsam sein
können. Einmal haben beide Staaten die Erkenntniß gewonnen, daß aus dem
bisherigen Wege das Ziel nicht zu erreichen ist; es hat sich gezeigt, daß in
der englischen Verfassung, ja in dem ganzen System, worauf das englische
Leben beruht, eine Modification nothwendig geworden ist. Die öffentliche
Meinung, von dieser Ueberzeugung durchdrungen und doch rathlos über den
Weg, der zunächst einzuschlagen sei, ist in einer dumpfen Gährung, welcher
die Führer der bisher herrschenden Parteien nur einen scheuen Widerstand ent¬
gegensetzen. Wie auch der Ausgang des Krieges sei, mit der erclustven Herr¬
schaft der aristokratischen Fractionen hat es ein Ende; sie werden sich entweder
dazu verstehen müssen, sich durch populäre Elemente zu verjüngen, oder sie
werden gestürzt werden. Mit großer Besonnenheit ist in der bisherigen Ent¬
wicklung der britischen Geschichte die mittelalterlich aristokratische Form fest¬
gehalten worden, während der Kern des Lebens einen durchaus modernen
Charakter annahm; jetzt ist aber die Entwicklung soweit gediehen, daß man
diesen Gegensatz als Lüge empfindet, und die Lüge erträgt der Engländer auf
die Länge nicht. — Auf der andern Seite wird der Kaiser der Franzosen, der
bisher in den gemeinbürgerlichen Dingen mit einer gewissen vornehmen
Gleichgültigkeit zu Werke gegangen ist, allmälig einsehen, daß auf die Dauer
der Heroismus der materiellen Mittel nicht entbehren kann, und daß diese
nur durch Achtung vor den bürgerlichen Beziehungen beschafft werden. Die
entschiedensten Gegner des Kaisers Napoleon werden nicht leugnen, daß er ein
Moment zur Geltung gebracht hat, welches die Franzosen nicht entbehren
können und welches sowol die Restauration als die Julidynastie versäumte:
er hat das militärische Selbstbewußtsein der „großen Nation" wieder angefeuert
und er hat ihr glänzende Schauspiele gegeben; aber wenn sich auch beides eine
Zeitlang improvisiren läßt, so ist doch, wenn man es länger fortsetzen will,
Geld und Credit dazu nöthig und beides erlangt man nur aus die gemein¬
bürgerliche Weise.
Wenn also im Laufe des Krieges die Nothwendigkeit beide Staaten zu
innern Reformen treiben wird, so ist ebenso eine, wenn auch nur allmälige
Aenderung ihrer Ansichten über die auswärtige Politik davon zu erwarten. Daß
Nußland unter den gegenwärtigen Umständen sich nachgiebiger zeigen wird,
als zur Zeit der wiener Conferenzen, ist durchaus nicht zu erwarten, .und die
beiden Staaten, England und Frankreich, so mächtig sie sind, haben doch keine
Mittel in Händen, Nußland zum Frieden zu zwingen; sie mögen die russischen
Häfen noch Jahre hindurch blokiren, sie mögen Sebastopol und die Flotte
zerstören, damit wird Rußland noch nicht ausgehungert. Es ist für einen
großen Staat, wie Rußland, zwar ein sehr demüthigendes Gefühl, sich blos
zu vertheidigen und dem Gegner gar nicht beikommen zu können, aber es wird
grade durch die Fortdauer des Kriegs in die träge slawische Masse ein fanati-
sirtes Nationalgefühl gebracht werden, welches die Regierung wieder als einen
Positiven Gewinn betrachten kann, und nebenbei ist jeder Schaden, den die
Verbündeten den Russen zufügen, mit einem entsprechenden von ihrer Seite
verknüpft. Die Bomben, welche das Innere der Festung Sweaborg zerstört
haben, kosten auch Geld, und die Rechnung der Belagerung von Sebastopol
wird sehr bedenkliche Zahlen enthalten.
Rußland kann zum Frieden nur durch einen ungeheuern Landkrieg oder
durch die sichere Androhung eines solchen gezwungen werden. Dazu reichen
die Kräfte der Verbündeten auch dann nicht aus, wenn sie ihre Fremdenlegionen
verdoppeln und wenn außer Piemont noch Spanien, allenfalls auch Schweden
auf ihre Seite tritt, obgleich das Letztere gewiß nicht geschehen wird, solange
Deutschland neutral bleibt. Einen entscheidenden Schlag gegen Nußland
können die Westmächte nur dann führen, wenn sich Deutschland an sie an¬
schließt. Nun haben sie zwar manche Mittel, auf den Willen der beiden
deutschen Großmächte einzuwirken, sie können Oestreich in Italien, Preußen
in der Ostsee Schwierigkeiten bereiten, aber damit ist immer die Gefahr ver¬
knüpft, beide Staaten um so schneller zum russischen Bündnisse zu treiben und
wenn Frankreich eine solche Wendung vielleicht wünschenswerth wäre, so kann
sie England nicht zugeben. Es wird den Westmächten daher nichts übrig
bleiben, als Deutschland durch positive Versprechungen zu gewinnen und zwar
durch Versprechungen, die sich auf Territorialveränderungen beziehen. Bisher
hat Frankreich Deutschland gegenüber noch immer die Politik Richelieus verfolgt
d. h. es hat auf jede Weise verhindert, daß in diesem Territorium ein unab¬
hängiger und mächtiger Staat entstand. Von Richelieu war ein solches Ver¬
fahren wol zu begreifen, denn ihm stand das Gespenst der östreichischen Uni¬
versalmonarchie gegenüber und von einem mächtigen und furchtbaren Reich
jenseits der Weichsel war noch keine Rede. Seitdem aber die slawische Masse
sich zu einem erobernden Reich krystallistrt hat, kommt es darauf an, in
Deutschland ihm eine mächtige Brustwehr entgegenzusetzen und nur der Aber¬
glaube an die alten, seit Richelieu eingewurzelten Vorurtheile hindert die Fran¬
zosen, diesen Schritt in der Erkenntniß zu thun. Die Eifersucht der Engländer
ist noch kleinlicher. Wenn sie sich die Möglichkeit eines deutschen Staats den¬
ken, der mehr Kriegsschiffe ausrüsten kann, als die Amazone, so träumen sie
bereits von einem Krieg auf Leben und Tod.
Wenn nun die beiden Nationen in dieser systematischen Feindschaft gegen
Deutschland beharren, so werden sie im Laufe der Zeit genöthigt sein, einen
Frieden mit Rußland zu schließen, der bei dem jetzigen Stand der Sympathien
in England und Frankreich zu innern Erschütterungen von ungeheurer Trag¬
weite führen würde; und da man den Trieb der Selbsterhaltung als das
mächtigste Motiv der politischen Erkenntniß betrachten darf, so ist es wol zu
hoffen, daß auch in dieser Beziehung die Vorurtheile der Einsicht allmälig
weichen werden.
Ich nehme heute Gelegenheit, Ihnen nach den von mir eingezogenen Nach¬
richten und auf Grundlage einiger Correspondenzartikel, die sich in den hier el>
scheinenden Tagesblättern finden, eine Schilderung der Schlacht vom 16. August
zu entwerfen. Man wird dieselbe Bataille de la Tschernaja nennen; eigentliche
Brennpunkte des Kampfes waren das Wirthshaus (im Russischen Traktir, was sich
von Traiteur herzuleiten scheint), wo sich eine steinerne Brücke über den Fluß
hin befindet, die man, wie es scheint, leichtsinnigerweise nur durch eine
leichte, von schwacher Mannschaft besetzte Flesche gedeckt hatte, und das Dorf
oder der Flecken Tschorguna, weiter oberhalb, eine Ortschaft, die sich auf beide
Ufer der Tschernaja erstreckt, und keine weitern bedeutenden Baulichkeiten als
zwei oder drei große Hans (tartarische Herbergen) einschließt.
Ueber diese beiden Punkte, welche etwa Dreiviertelstunden auseinander gele¬
gen sind, erweiterte sich das Schlachtfeld nach ober- und unterhalb dergestalt, daß
die Entwicklung beider Fronten, der russischen und der der alliirten Truppen,
bei dieser Action auf etwa eine Meile angenommen werden kann.
Wie sich nachträglich mehr und mehr herausgestellt hat, bereiteten die
Russen den Schlag seit längerer Zeit vor, und zwar lag demselben nach hie¬
sigen Vermuthungen der Zweck unter: hinter Kadikoj, zwischen dem Dorfe
Karcmy und der Meierei Karagatsch, das Plateau des Chersones oder die
Hauptposition der Verbündeten zu ersteigen und ihnen in dieser Weise eine
Katastrophe zu bereiten, die, wenn sie eingetreten wäre, über den Feldzug in
der Krim hätte entscheiden müssen. Um beurtheilen zu können, ob die Russen
ihren Plan möglicherweise hätten ins Werk setzen können, müßte ich anwesend
gewesen sein oder mindestens das in Frage kommende Terrain aus eigner
Anschauung kennen, was nicht der Fall ist.
Man sieht bis zur Stunde noch nicht klar in Betreff der Arrangements,
welche man feindlicherseits behufs der Ausführung der Unternehmung getroffen
hatte; zumal laufen die Angaben in Hinsicht der Stärke der von den Russen
verwendeten Truppenmassen einander diametral entgegen und schwanken
zwischen 30—100,000 Mann. Die ersten Angaben, welche hier einliefen,
und denen zufolge die Streitmacht des Feindes nicht 35,000 Mann erreicht
hatte, unterschätzten dieselbe ohne Zweifel. Jetzt, nachdem man die Todten zu
Tausenden aufgenommen, ist man in das entgegengesetzte Extrem verfallen
und redet von 100,000 Mann. Das ist offenbare Uebertreibung! Am meisten
der Wahrheit nahe kommend erscheint mir die Taxirung des französischen
Generalissimus selbst, der in seiner Proclamation an die französische Armee
Von 60,000 Russen redet.
Eine solche Masse konnte von dem Plateau der Makenziefarm hernieder,
wo sie gesammelt worden war, nicht in entwickelter Frontlinie nach derTscher-
naja geführt werden. Man mußte sie im Gegentheil zu diesem Zweck in
Mehre Colonnen zerlegen, und zwar scheint es wahrscheinlich, daß man auf
diese Weise zwei gesonderte Corps formirt hatte, von denen das eine die
siebente und fünfzehnte Division umfaßte und auf die steinerne Brücke von
Traktir dirigirt wurde, das andere aus den Divisionen No. 8 und 9 bestand
und sich gegen Tschorguna wendete. Eine Garde- oder Grenadierdivision
scheint die Reserve gebildet zu haben.
Die diesseitige Ausstellung war der Art, daß sich auf den besagten Linien
nur Franzosen und Sardinier, erstere in einem Lager auf dem linken Tscher-
Najaufer bei Traktir und letztere in einer verschanzten Stellung aus dem rechten,
unmittelbar bei Tschorguna befanden. Letzterer Stellung hatte man den
Namen Candora gegeben, zu Ehren des sardinischen Jngenieurofftziers, welcher
die das Lager schützenden Werke angelegt hatte.
Die Russen scheinen mit ihren Colonneutöten ziemlich gleiche Höhe ge¬
halten zu haben und wenn sie mit den Sardinlern früher handgemein wurden,
wie mit den Franzosen, so geschah es wol nur, weil jene sich weiter vorwärts
"uf der erponirten Flußseite befanden. Ein bemerkenswerther Umstand bei
diesem ersten Zusammenstoßen, welches noch im Nebel stattfand und roährend
dessen eine Orientirung diesseits durchaus unmöglich war, ist die Schnelligkeit,
mit welcher die piemontesischen Truppen aus ihren Schanzen delogirt wurden.
Die Wegnahme der Brückenflesche bei Traktir geschal) ebenso schnell, war aber ein
bloßer Handstreich, da ein paar hundert Mann (wenn es soviel waren!) nicht an
einen hartnäckigen und ausdauernden Widerstand gegen tausend denken können.
Der Zeit nach fand diese Einleitung des Gefechts um drei Uhr Morgens statt.
zehn Uhr war alles entschieden und die Russen auf das rechte Ufer zurück¬
geworfen. Die Affaire hat mithin sieben volle Stunden gedauert, was immer¬
hin lange ist und schon ausreichen wird, um die Angaben der hiesigen Blätter,
wonach die Verbündeten nur -1200 Mann an Tobten, Verwundeten und Ver¬
mißten verloren, Lügen zu strafen. Andrerseits wird die lauge Dauer es erklärlich
Machen, wenn der russische Verlust enorm groß war und nach übereinstimmen¬
den Mittheilungen von verschiedener Seite her 6000 Mann beinahe erreichte.
Die drei Schlachten, an der Alma, bei Balaklava und Jnkerman zeich¬
nete das aus, daß in einer jeden von ihnen eine Waffe im Besondern ercellirt
hat. In der ersteren hat ohne Zweifel das Bajonett der Zuaven und Hoch¬
länder entschieden, bei Balaklava ercellirte, wenn auch in übel dirigirter Attake,
die britische Reiterei; endlich hat bei Jnkerman die Minivbüchse den Ausschlag
gegeben. Es blieb nun noch übrig, daß die Artillerie sich verherrlichte. Diese
Rolle war den wackern französischen Batterien beschieden, die der Oberst Forgeot
commandirte.
Neben der französischen Artillerie hat sich auch die sardinische an dem
denkwürdigen Tage große Verdienste erworben. Erstere war^, die etwas rück¬
wärts gestellte Reserveartillerie (12 Geschütze d. h. zwei Batterien der Garde)
eingerechnet, mit 42 Geschützen vertreten. Die Sardinier hatten, wenn ich
recht unterrichtet bin, nur 24 Stück. Hierzu kam noch die Mitwirkung einer
türkischen und einer englischen Batterie. Man wird daher nicht weit abirren,
wenn man die ganze Artilleriemacht der Verbündeten, die am Kampfe theil¬
nahm, aus 80 Geschütze veranschlagt. Diese verhälnißmäßig geringe Zahl
von Feuerschlünden, welcher die Russen mehr als das Doppelte entgegenstell¬
ten, hat die Aufgabe des Tages auf sich genommen und glänzend gelöst. Das
Handgemenge hat sozusagen nur die Consequenzen des Sieges festgestellt,
den die Batterien entschieden. Nach dieser Abschweifung, um den Charakter
der Schlacht festzustellen, komme ich auf deren Verlauf zurück. Man kann
den letzteren als einen Versuch bezeichnen, im Wege des Ueberfalls mit einer
ganzen Armee ein Hinderniß (die Tschernaja) zu überschreiten, wobei man über¬
rascht und von dem angegriffenen Theil schließlich in die ursprüngliche Position
zurückgeworfen wird. Die eigentliche Krisis deS Tages drängte sich in den
Raum der Augenblicke zusammen, wo die Russen die Brücke von Traktir im
Sturmschritt und mit lautem Hurrah überschritten, um sich der rückgclegenen
Hügel und damit einer Position zu bemächtigen, welche später den Zugang
zu dem Plateau möglicherweise erleichtert hätte. Aus den inzwischen zu Ihrer
Kenntniß gekommenen anderweitigen Berichten werden Sie ersehen haben, daß
der Moment gefahrdrohend genug war, und daS Lager der Franzosen im
eigentlichen Sinne des Wortes überfallen wurde. Den beiden französischen
Regimentern No. 30 und No. 97 gebührt das Verdienst, den Feind auf der
entscheidungsvollen Stelle zuerst ausgehalten zu haben. Nach ihnen scheinen
sich die Zuaven am ehesten gesammelt zu haben, und gleich darauf die In¬
fanterieregimente! No. 6 und No. 73. Da der Feind bis dahin nicht mehr
wie etwa 10,000 Mann über den Fluß zu werfen im Stande gewesen war,
so entschied sich die Frage über das Gelingen oder Mißlingen seines Versuchs
in dem Augenblick, >vo jene vier Regimenter und die Zuaven in die Action
eingriffen. Von da ab war dem Gegner Hall geboten, und die Kräfte, welche
später eintreten, wirkten eher als rückdrückendes Gegengewicht, als daß sie noch
nöthig gewesen wären, die eigentliche Vertheidigung zu stützen.
Man wird nicht verfehlen, das Treffen mit der Schlacht von Friedland
(">i. Juni 1807) zu vergleichen, an welche es durch einige Züge erinnert. Aber
an und für sich war die Alle mit ihren Weichufern damals nicht nur ein ganz
anderes Hinderniß wie die Tschernaja, sondern die russische Heeresmacht war
auch starker und die Verhältnisse, welche zu der letztlichen Katastrophe führten,
dem Sieger entschieden günstiger. In der Schlacht an der Tschernaja ist
von einer ganzen Waffengattung, der Cavalerie, kein Gebrauch gemacht
worden.
Wäre die Tschernaja ein Fluß mit Sumpsrändern, der nirgends durch¬
watet werden könnte, so würde General Pelissier, falls er anders seiner
Sache gewiß war, gleich dem großen Napoleon bei Friedland (und ähnlich wie
Blücher an der Katzbach) allerdings nichts Besseres haben thun können, als
eine mindestens doppelt so große Zahl des Feindes hinüberzulassen. Ein
Gegenangriff, der keilförmig von den Höhen zur Brücke vorgetrieben worden
wäre, hätte dann den 20,000 Russen den Rückzug genommen und sür diesen
Theil wäre eine Katastrophe unvermeidlich gewesen. Wie die Verhältnisse in¬
deß lagen, sind sie allein Anschein nach richtig erfaßt worden.
Vorgestern, gestern und heule sind an jedem Tage mehre hundert russische
Verwundete und Gefangene hier eingebracht worden. Im Ganzen fielen
2200 Mann in die Hände der Verbündeten; unter diesen ein General und
ein Oberstlieutenant. Man will hier wissen, daß unter den Todten auf dem
Schlachtfelde die Leiche des russischen Generals Read aufgefunden worden sei.
Man fand in der Brusttasche seiner Uniform Briefe, die keinen Zweifel über
die Persönlichkeit übrig lassen.
Den Verlust der Alliirten kann man auf über zweitausend Mann an¬
nehmen.
->Jei I'am äansc-I" Dieses am 13. Juli 1789 von verwegener Hand an
die Mauern der zerstörten Bastille geschriebene Wort summte mir den ganzen
Abend hindurch im Gehirn und alle seidenen Schleppkleider und goldgestickten
Uniformen, welche, so geeignet auf andre Gedanken.zu bringen — mich um-
wirbelten, konnten mir nicht diesen melodischen Refrain aus den Ohren ver¬
scheuchen, lei 1'on darfs l welche große poetische Weissagung! Man tanzt über
dem Grabe der Tyrannei und wenn der Freiheitsbaum abgesägt, tanzt man
wieder bei Hof und dann tanzt man wieder zu Ehren der Revolution und hier¬
auf abermals in seidenen Strümpfen und stets von neuem. Ein wenig Erde
auf das frische Grab, eine Thräne und ein Seufzer für die Todten und —
neuer Tanz. Doch wie und wann die lustigen, anmuthigen Wirbel dieses gott¬
losen Weltkindes sich auch drehen, es ist nicht bloßer Leichtsinn, bloße Ge¬
nußsucht — es steckt etwas in diesen frivolen Sprüngen, was sie erzeugt, er¬
klärt und entschuldigt: das stets gegenwärtige Bewußtsein der unglaublichen
Beweglichkeit und Elasticität der Nation und ihrer Schicksale. Sieger dreht
sich und Besiegter, heute mir, morgen dir, denkt jeder bei sich und daß er mit
einem Schlag vom liederlichen Tanz zum frischen Kampf überzugehen im
Stande wäre, darin liegt, was uns mit ihnen versöhnen darf. Ich bleibe
dabei lei I'on clausa-, — seit jenem 15. Juli mischt sich hier Groß und Klein
in ewigem Wirbel, alles berührt, alles begegnet sich und wo immer man
tanze, tanzt man doch stets allen Traditionen und Vorurtheilen auf dem
Kopfe herum. Wenn ich bei einem solchen Balle an den großen Platz vor
dem Hotel de Ville komme, so wundere ich mich stets über die zahllose Masse,
welche vor den Thoren wogt, um der Einfahrt der Geladenen gaffend beizu¬
wohnen—ich wundere mich, daß nicht alle diese Grisetten , Lehrlinge, Meister
und Meisterinnen jeglicher seine Karte zum Balle hat und ich mochte sie fragen,
warum habt ihr euch denn nicht einladen lassen? denn in dieser, seit 7V Jahren
beständig umgerüttelten Gesellschaft sind nie mehr als zwei Schritt von dem
Mächtigen bis zum Kleinsten und wer hier nicht zu Hof, zum Präfecten und
zu allen großen Staatsceremonien kommt, der will eben nicht. O großmäch¬
tige Königin Victoria, du hast schwerlich je in so legitimer Gesellschaft
getanzt als heute, beinahe lauter ehrliche Bürgerssöhne und Töchter und un¬
endlich wenig hoffähige Abkömmlinge von den Bastarden Heinrichs VI. und
Ludwigs XIV.!
Ich beschreibe die Einzelnheiten des Balls nicht, denn die genaueste Vor¬
stellung der Einzelnheiten gibt umsoweniger eine Idee von der Gesammtwirkung
dieses Eindrucks, als es grade das Charakteristische dieses Sinnentaumelappa¬
rats ist, weder Auge, noch Ohr, noch Verstand zum genauen Unterscheiden
der auf sie einströmenden Erscheinungen kommen zu lassen. — Man tritt ein und
— Leser, bist du je in Dover oder sonst einem großen Hafen ans Land ge¬
stiegen, wo hundert zudringliche Flegel zugleich dich anfallen, der deinen Reise¬
sack, jener deine Schachtel, ein andrer deinen Koffer an sich reißen will, Lohn-
bediente dich in deutscher, französischer und englischer Sprache anfallen, wo
du gleichzeitig merkst, daß du deinen Regenschirm zurückgelassen hast und im
selben Augenblick, wo du deinen Paß abgeben sollst, keine Münze findest, um
deinen Kutscher zu bezahlen — warst du je in dieser verzweifelten Lage, so
übersetze dir diese tausend gleichzeitigen Aufforderungen und Anreden ins An¬
genehme, Herrliche, Blendende und du weißt etwa, wie es dem zu Muthe ist,
der in die Vorhalle dieses Ballsaals eintritt. Diese Gesammtwirkung einer
unglaublichen Licht-, Blumen- und Stoffverschwendung, durchdrungen von Musik,
Wohlgeruch, dazu das Plätschern illuminirter Wasserfälle, der Glanz der
Anzüge bringt eine Totalwirkung hervor, welche sich ebensowenig durch Be¬
schreibung wiedergeben läßt, als die Musik des Don Juan. Als ich um 10V-- Uhr
ankam, waren Kaiser und Königin bereits im großen Tanzsaal mit einer
Fran^aise beschäftigt. Ich ging hinab in meinen Lieblingsaufenthalt, den zum
großen Saal umgeschaffenen Hof Ludwigs XIV. Man denke sich die voll¬
kommenste Verwebung eines Prachtsaales und eines Lustgartens. Der Plafond
himmelhoch oben, von Glas, unter welchem eine zeltartige Decke gespannt
ist, durch deren Mitte eine große vergoldete Rosette die freie Luft zuläßt; zwei
Stockwerke byzantinischer Fenster mit gewaltigen Säulen, welche mit den doppel¬
ten Galerien ebensoviele rundumlaufende Bogen bilden; im Hintergrund eine
Doppeltreppe, welche aus dem ersten Stock herabführt; der ganze Boden
un't Blumen bedeckt, ringsherum und in der Mitte plätschernde Fontainen, alle
Wände und Säulen mit vergoldeten Gittern und Schlingpflanzen überzogen,
alle Galerien und Logen mit rothem Sammet und Gold drapirt, jeder Fuß
breit Erde oder Treppe mit karmoisinsarbenen Teppichen bedeckt; denke man
sich die dazu die Frische der Atmosphäre, welche von oben Zutritt hat, den
Duft der Blumen, sanfte Musik und den Glanz des Publicums — und man
wird trotzdem sich diesen Sinnenrausch nicht vergegenwärtigen können. In
diesem Saal eroberte ich mir einen Stuhl, um die gekrönten Häupter zu ihrer
Zeit defiliren zu lassen. „Man kommt zu schaun und will nun einmal sehen."
Im Bewußtsein der Dummheit dieser Gafferei wählte ich mir einen guten
Platz. Vor mir war eine Schar deutscher Diplomaten und Offiziere ver¬
sammelt; denn trotz der Uneinigkeit über den dritten und vierten Punkt ent¬
ziehen sich diese Herren keiner Belustigung, welche zur Feier der westlichen
Allianz veranstaltet wird. Wenn das Fremdenpublicum schon von jeher bei
diesen Bällen in der Majorität war, so mußte dies jetzt umsomehr der Fall sein,
da die Franzosen in Paris eben nur noch geduldet sind. Wie man bei der Zu¬
lassung zu diesen Bällen freigebig ist, so ist man umsomehr noch gastfreundlich
und mancher deutsche Gesandte stellt mehr Gäste zu diesem Ball, als sein Fürst
Soldaten zum Bundescontingent. Beinahe alle Uniformen der neun Armee¬
corps waren gegenwärtig und ein schlanker braunschweigischer Husar schien
sehr unglücklich darüber, daß sein tapfrer Herzog proclamirenden Andenkens
die gottlose Stadt unvertilgt gelassen.
Von allen Diplomaten war der schwarze Gesandte deö Kaisers Soulouque
der interessanteste. Er bewegte sich mit der — wie man sagt — seinem Beruf
eignen Grazie in der goldgestickten Uniform, war aber zu meinem großen
Herzeleid nicht von seiner Ehehälfte begleitet. Um so zahlreicher war das
schöne Geschlecht durch häßliche Engländerinnen vertreten , wie denn überhaupt
die Gesichter am wenigsten zur Verherrlichung des Festes beigetragen hatten.
Freilich thut die Enormität der Decoration dem Erscheinen des Individuums
Eintrag und manches Augenpaar wie mancher Brillantschmuck, die anderwärts
schimmern würden, verschwinden hier wie Sterne bei Sonnenaufgang. Die
rothen Fez, welche zu jeder Zeit gegenwärtig sind, wo es in Paris lustig zu¬
geht, waren bei der islamitischen Richtung der Tagescultur natürlich auf Schritt
und Tritt zu finden und stellten nebst den englischen Midshipmen das Haupt-
contingent zu den Tänzen. Ihre Brüder aus der Wüste — stattliche Beduinen
— gingen gravitätisch in ihre Burnusse gehüllt einher, auf den dunklen, glühen¬
den Gesichtern (der Burnuß war nicht geeignet^ die Glut zu verringern) Ver-
wundrung und Ironie zugleich ausdrückend. Canrobert in Uniform mit großen
Reitstiefeln promenirte einsam und wechselte nur hie und da einen flüchtigen
Händedruck mit einem Begegnenden. Welch eine Masse von Ausrufungszeichen
und Gedankenstrichen zogen hinter jeder dieser bedeutsamen Figuren hin! Der
grausame Krieg in der Krim, der ferne barbarische Osten, das schwarze Kaiser-
thum Haiti, alles durcheinanderwirbelnd in dieser bunten üppigen Umgebung,
dem Meisterwerke der modernsten Verfeinerung und auch wieder diesem Hotel
de Ville, dem Schauplatz so großer Ereignisse. Als ich heraustrat, waren die
bunten Lichtpyramiden auf dem Platze halb erloschen und von dem alten Thurm
Se. Jaques rief es mit Ironie herab: Ici 1'vn clanse!
— Ich habe in meinen seitherigen Berichten
an Ihre geehrten Blätter nur ungern die politischen Verhältnisse unter den vier,
den Krieg gegen Rußland gemeinsam führenden verbündeten Mächten berührt, weil
dies ein Feld ist, welches man gemeiniglich nur von bevorzugtem Standpunkte aus
klar zu überschauen vermag, und dagegen die im Publicum rücksichtlich der Verhältnisse
innerhalb desselben verbreiteten Nachrichten nicht selten alles Grundes entbehren,
oder mindestens doch nur mit übcrlegsamer Kritik aufgenommen werden dürfen.
Die Sage, daß England und Frankreich in Hinsicht auf das, um deswillen
man den Krieg gegen Nußland zu führen habe, untereinander durchaus nicht ein¬
verstanden seien, ist so alt wie das Bündniß selbst, welches sie zur gemeinsamen
Action vereinte. In diesem Augenblick hat sie viel an ihrem Credit verloren, nach¬
dem man aus dem Verhalten beider Mächte gegenüber von Oestreich denn doch
ersehen hat, daß eine Auslösung der französisch-englischen Allianz doch wol nicht
als nächst drohende Gefahr dastehe. Wie es aber auch in anderen Fällen wol ge¬
schieht, fiel man aus dem einen Extrem in das andere, und heute findet im große»
hiesigen Publicum keine Behauptung mehr Anklang wie die, daß zwischen den Ca-
bineten von London und Paris bereits eine Verständigung über die Besitzergreifung,
nicht der Krim — o nein! — sondern der Dardanellen, des Bosporus und Kon-
stantinopels zu Stande gebracht worden sei, und daß die Ausführung dieser großen
und bedeutungsvollen Schritte nicht lange auf sich warten lassen würde. Andere,
denen damit noch nicht genug vorausgesetzt zu sein scheint, gehen noch weiter und
reden gradezu von einem Theilungsproject rücksichtlich des osmanischen Reiches,
und daß, man als einzige der Ausführung desselben entgegenstehende Schwierigkeit
das Vorhandensein einer immerhin noch bedeutenden türkischen Kriegsmacht erachte,
die es darum gelte so schnell wie möglich aufzulösen. Nur zu diesem Zweck, sa¬
gen sie weiter, wurde neulich aus dem Kern der im Lande verbliebenen osma¬
nischen Armee ein starkes Corps unter dem britischen General Williams, nur
darum eine Reiterdivisivn aus Eingeborenen nnter dem Obersten Beatson formirt.
Daß diese Truppen sich unter einer Führung wie die Omer Paschas besser schlagen
würden als unter englischen Offizieren, liege auf der Hand. Allein man bezwecke
auch durchaus nicht, mit dieser Streitmacht etwas Directes auszuführen, sondern die¬
selbe solle nur der osmanischen Armee in ihrer augenblicklichen Stärke und in ihrer
Ergänzung Abbruch thun.
Ueber die Art, in welcher eine etwaige Theilung des Pfortenreichs dereinst zwi¬
schen England und Frankreich vor sich gehen könnte, herrscht unter der argwöhni¬
schen Menge eine erstaunliche Ideenverwirrung. Nach den Einen zu urtheilen, wird
die Sache sich leicht machen, indem der osmanische Staat in seine zwei Haupt¬
bestandtheile, den türkischen lRumelien und Anadoli) und den arabischen, (Irak, Cham,
^Syrien^ und Aegypten) auseinanderfallen und England die erstere Hälfte, Frankreich die
letztere zufallen werde. Man erklärt dies als durchaus der außereuropäischen Politik
beider Mächte für conform, denn Frankreich sei auf das Araberthum hingewiesen, weil
es die nationale Grundlage der Bevölkerung seiner algierischen Besitzungen auf¬
wacht und umgekehrt England auf das Türkcnthum, weil .... nun ich glaube,
der Grund war, weil eine dereinstige Landverbinduug mit Indien Konstantinopel
Zu ihrem Ausgangspunkt nehmen müßte. Nach einer anderen Lesart steht es gradezu
umgekehrt, indem England um einer dereinstigen, durch einen Kanal zu vermitteln¬
den directen Seeverbindung wegen Aegypten verlangt und Frankreich dafür Dar.
danellen und Bosporus überlassen würde. — Was endlich Oestreich angeht, so macht
man sich im großen Haufen keine Illusionen mehr darüber, als könne man für die
Zukunft eine Herausgabe der Donaufürstenthümer erwarten, und es ist ein be-
merkenswerther Zug. daß Per« im Durchschnitt geneigt erscheint, dieses Nückbe-
halten zu entschuldigen. In dieser Hinsicht pflegt man zu sagen: Walachei und
Moldau seien das nothwendige Komplement der östreichischen Monarchie.
— Es ist während eines großen und über einen weiten Raum
hin sich ausdehnenden Krieges angemessen, dann und wann einen Blick auf die
Dislocation der verschiedenen Streitmafscn zu werfen, wie sie sich über die einzelnen
Kriegstheater ausbreiten, hauptsächlich um eine Unterlage für sein Urtheil rücksichtlich
dessen zu gewinnen, was geschehen ist, und eine Stütze für etwaige Muthmaßungen
über die in nächster Zukunft zu gewärtigenden Vorgänge. Was die Stärkenzahlen
in der Krim angeht, so ist neulich von der französischen und englischen Presse,
vielleicht nicht ohne Mitwirkung der Regierungen, die Ansicht in Umlauf gesetzt
worden, daß sich im Lager der Verbündeten vor Sewastopol nahezu 200,000 Mann
versammelt befänden. In einer meiner früheren Zuschriften an Ihre geehrten
Blätter bin ich bereits bemüht gewesen, diese Illusion zu zerstören, und zwar mit
Vorbedacht, denn es muß selbstredend einer Kriegführung, die bis dahin er¬
folglos geblieben ist, in den Augen des Veurtheilers schaden und eine härtere Kritik
über sie heraufbeschwören, wenn derselbe sich in dem Fall befindet, die Stärke
der verwendbaren Kriegsmittel höher abschätzen zu müssen, als die Thatsachen es
rechtfertigen. Wenn ich mich recht erinnere bezeichnete ich Ihnen in dem erwähnten
Briefe 140,000—130,000 Mann als den damaligen muthmaßlichen Stärkcnetal
der Alliirten. Diese Ziffer hat seitdem einen Zuwachs gehabt, aber die Ausfälle,
welche bald darnach Krankheiten und Gefechte herbeiführten, im Besonderen die
Affaire vom 15. August, bedingen die Annahm«!, daß auch heute noch das Maximum
sich auf etwa anderthalbhunderttausend Mann stellen wird. Wenn hier eines Zu¬
wachses erwähnt worden, der in den letzten Monaten stattgefunden hat,und nun¬
mehr wiederum ausgeglichen worden ist, so betraf derselbe wesentlich die englische
und französische Armee, namentlich die letztere. Die piemontesischen Truppe» dürsten
erst in den nächsten Wochen eine Verstärkung im Belaufe von 4000 Mann zuge¬
führt erhalten, und was' die türkischen Truppen angeht, so sind sie seit der An¬
kunft der ägyptischen Division unter Achmed Menekli Pascha (im April d. I.)
weder verstärkt worden, noch befand sich die Pforte in der Lage, ihnen einen Zu-
schub zugehen zu lassen. Eine richtige Abschätzung ihres wahren Bestandes ist da¬
rum das schwierigste Problem, welches sich bei der Frage der Ermittlung der
Größe des alliirten Heeres stellt. Wie Sie sich erinnern werden führte Omer
Pascha etwa 70 Bataillone nach der Krim hinüber, von denen derzeit ein jedes einen
Etat von etwa 300 Mann repräsentirte. Die ganze mit ihm gekommene Streitmacht ist
demnach an Infanterie aus 33,000 Mann zu berechnen. Cav-alerie und Artillerie mögen
auf weitere 3000 Mann abgeschätzt werden können, so daß dem Ganzen eine Stärke von
etwa 40,000 Mann beizumessen war. Hierzu traten noch die Truppen (zehn Bataillone)
welche gleich anfangs (im September 1834) sich mit den Verbündeten, unter Osman
Pascha, eingeschifft hatten, und denen später acht oder neun Bataillone nachgesendet
worden waren. Mit anderen Worten heißt das: Omer Pascha hatte vor Ankunft
des Achmed Menekli mit den Aegyptern ein Heer von etwa 88 Bataillonen, von
3000 Mann Cavälerie und Artillerie, alles in allem also zwischen vierzig- und
funfzigtausend Mann beisammen. Es dürste diese Schätzung für die Tage gelten,
in denen der Sturm auf Eupatoria abgewiesen worden war (17ten Februar 1833),
die späteren Krankheiten rafften viel Leute weg; lichteten die schwachen Bataillone
noch mehr, und wenn man auch mehre tartarische Reiterregimenter errichtete,
vermochte dieser Zuschub dennoch nicht die Lücken auszufüllen, die täglich von der
Cholera, dem Typhus und Scorbut gerissen wurden. Es war im Monat Mai,
wie ich aus meinem Notizenbuch ersehe, als ich von sonst gut unterrichteter Seite die
Bemerkung fallen hörte, die türkische Armee zähle mit Einschluß der Aegypter
nahe an hundert Bataillone, aber man kann sie nichtsdestoweniger auf nicht
höher wie 33,000 Mann anschlagen. Um den Stärkenbestand sür heute bemessen
zu können, muß man vor allen Dingen eingedenk sein, daß diese osmanisch-tanrische
Armee mehr wie irgendein andrer Heerkörper während der letzten Monate, zumeist
Zwischen Eupatoria und Kamiesch, sodann zwischen Kamiesch und Balaklava, und
Zwischen diesem Ort und dem Baidarthale hin- und hergeworfen worden ist. daß
ihre Verpflegung von jeher in der Krim viel zu wünschen übrig ließ, und daß,
wenn auch im geringerem Maße, wie unter den Sardiniern, dennoch Krankheiten
auch in ihren Reihen enorme Verwüstungen anrichteten. Vielleicht heißt es noch
zu hoch greifen, wenn man voraussetzt, die türkische Armee in der Krim erreiche der¬
zeit einen Stand von 23,000 Mann. Dieses setzte für das Bataillon eine durch¬
schnittliche Stärke von über zweihundert Mann voraus, wogegen es Thatsache ist,
daß viele auf unter hundert Mann zusammengeschmolzen sind. Diese fünfund-
zwanzigtausend Krieger müssen nichtsdestoweniger heute Als der Kern der gesamm-
ten osmanischen Kriegsmacht angesehen werden, die der Krieg wol mehr als man
zumeist anzunehmen geneigt sein mag, gelichtet hat. Sie sind ein geschlossenes
Ganzes vom engsten Gefüge, und wenn die vierzig oder fünfzig Bataillone, die
Ismael Pascha zwischen dem Balkan und der Donau zur Verfügung hat,
auch eine gleich große, ja vielleicht eine stärkere Masse (man redet hier von
30,000 Mann) ausmachen, so kommen sie dennoch an innerer.Güte den Truppen,
die Omer Pascha in Taurien zurückgelassen hat, nicht gleich.
Wie Ihre Leser sich erinnern werden, traten die sardinischen Truppen in einer
Stärke von 13,000 Mann in der Krim auf und sie haben seitdem gleich den
Türken keine Verstärkung zugeführt erhalten. Vor einem Monat wurde dieses
Armeecorps nur noch auf 10,000 Kombattanten berechnet, und seitdem hat es fort¬
gefahren einzuschmelzen, dermaßen zwar, daß man jedenfalls hoch greifen wird, wenn
wan es mit 9000 Mann in Rechnung zieht.
Die englische Armee in der Krim hat in der Mitte des vorigen Monats schwer¬
lich mehr wie 17,000 Mann ausgemacht. Hierzu sind neuerdings allerdings ganz
bedeutende Verstärkungen hinzugestoßen und im Besondern hat die Cavalerie, die
schwere wie die leichte, eine äußerst bedeutende Vermehrung erfahren; aber nichts¬
destoweniger kann man zur Zeit das ganze Stärkenmaß auf nicht mehr als
20,000 Mann berechnen, ja wie ich fürchte wird diese Ziffer von den britischen
Truppe» nicht erreicht.
Ich komme endlich zur Abschätzung der französischen Krimarmee. Seitdem
dieselbe sich in den Händen des Generals Pelissier befindet, ist es schwer, dabei
Zu einer festen Zahl zu kommen. Die letzten Verluste, welche noch nicht feststehen,
stören außerdem bedeutend das Ncchneuexempel. Wenn man annimmt, daß seit dem
Sturm auf den Malakow vom 18. Juni gegen 12.000 Mann Verstärkungen ein¬
trafen und daß seitdem etwa ebensoviel durch Krankheiten und Gefechte hinweg¬
gerafft wurden, gelangt man zu der Zahl von 80,000 Mann (nämlich etwas über
7000 Mann für jede der elf Divisionen). Mittelst der Truppen, welche in Kon¬
stantinopel stehen ist man indeß jederzeit im Stande, diese Masse auf nahezu neun¬
zigtausend Mann zu steigern.
Es ist ein großes Zugeständniß, welches ich den englischen und französischen
Blättern mache, wenn ich annehme, die französische Armee unter General Pelissier
belaufe sich bereits jetzt an Ort-und Stelle auf 90,000 Mann. Nichtsdestoweniger
wird dadurch meine im Eingang dieser Zeilen ausgesprochene Maximalschätzung
des verbündeten Heeres in der Krim nicht überschritten. Hier folgt die Uebersicht
der verschiedenen Ziffern:
Im Obigen wurde schon erwähnt, daß man die Armee des Ismael Pascha an
der untern Donau, respective in Schnmla und der Dobrudscha, aus höchstens
30,000 Mann annehmen könne; desgleichen weiß man, daß die Armee von Kars
nicht mehr wie 17,000 Mann ausmacht (dieselben, die unter Wassif Pascha in
dieser Festung eingeschlossen sind) und endlich, daß man das Corps von Batna
mit 10,000 Mann sicherlich nicht zu niedrig abschätzt. Es sind das weitere
37,000 Mann türkische Truppen und zwar erhebt sich mit ihnen die ganze jetzt in
den Pontusländern gegen Rußland agirende Truppenmacht auf 201,000 Mann.
Nur wenn man dieser Zahlen eingedenk ist, wird man ein Verständniß darüber
erhalten, wie es möglich gewesen, daß der Krieg seither so geringe Resultate er¬
geben hat. Man hat ihn mit viel zu geringen Kräften eröffnet und mit durchaus
unzureichenden seine Weiterführung betrieben. Wenn man an entscheidender Stelle zu
dieser Einsicht gelangen wird, steht dahin. Die 70,000 Mann Franzosen (hier hat die
Angabe des Moniteur, daß nur 1i,000 Mann verloren gegangen, ein schmerzliches
Lächeln erregt) würden vielleicht nicht in Bulgarien, in der Krim und am Bos¬
porus neben 30,000 Engländern eingescharrt liegen, wenn man sich gleich anfangs
entschlossen hätte, anstatt 40.000 Mann deren 140,000 nach dem Orient zu senden.
Solcher wichtigen Einsicht den Weg an entscheidender Stelle zu bahnen, wäre wol
eine des Generals Canrobcrt würdige Misston bei seiner Reise nach Paris. Ob
er ihrer eingedenk gewesen ist?!--—
— Es sind Nachrichten von hoher Bedeutung, die ich
Ihnen heute zu schreibe« habe. Sie kennen wol bereits die Vorgänge vom 16.
und 17. Man erachtet die Verluste der Russen an beiden Tagen (das Feuer war
nach 4 Uhr Morgens am 17. nur noch schwach) auf 3—6000 Mann. Daß man
auf französischer Seite mehr wie 1200 Mann verloren, dürfen Sie annehmen.
Alles ist in Erwartung einer großen Schlacht, die vielleicht jetzt bereits vor sich
gegangen. Man meint hier: die Russen hätten für den 13. August auf einen An¬
griff der Verbündeten gegen den Malakow gerechnet und beabsichtigt, in diesem
Augenblick von der Tschernaja her ihre rechte Flanke anzufallen.
Der Serda Ekräm Omer Pascha wird, wie vorgestern entschieden worden, nach
Batna gehen und von dort ans eine Offensive gegen Tiflis einleiten, um einen
Entsatz von Kars in dieser indirecten Weise zu versuchen.
Zu diesem Zweck sollen ehestens 25 Bataillone der osmanischen Donau- und
Krimarmee nach Batna gesendet werden und zwar wird Ismael Pascha 16—17 Ba¬
taillone stellen und Achmed Manetti Pascha die andern 8—9 zuführen. Darnach
zu schließen ist es ans eine Räumung Eupatorias abgesehen, des einzigen Punktes,
von dem aus eine glückliche Operation möglich wäre.
Volks wirthschaftslehr e. Eine populäre Dar¬
stellung dieser Wissenschaft. Herausgegeben von dem schnlwissenschastlichen Bildungs¬
vereine zu Hamburg. Hamburg. Hoffmann und Campe. — Durch die Arbeiten
der neuen Schule, namentlich durch Röscher, ist eine objective, von den Partei¬
kämpfe,, der Gegenwart unabhängige Darstellung der Nationalökonomie möglich ge¬
worden. Es liegt daher nahe, diesen Gewinn so schnell als möglich für pädagogische
Zwecke zu benutzen. Das gegenwärtige Buch hat eine bestimmte Veranlassung.
Der Hamburger Lehrcrverein hat seit längerer Zeit sich mit der Idee getragen,
auch diesem Unterrichtszweig in Bildungsanstalten, die mehr für das praktische
Leben berechnet sind, Bahn zu brechen. Zu diesem Zweck mußte zunächst der Ver¬
such gemacht werden, die Lehrer in dem Felde zu orientiren; und das ist die Nächst¬
liegende Aufgabe der gegenwärtigen Schrift. Die Sache hat ihre sehr großen
Schwierigkeiten, denn so einfach sich auch die Verhältnisse der Volkswirthschaft für
denjenigen darstellen lassen, der in das praktische Leben überhaupt einen Blick ge¬
than, so schwierig wird es sein, einem Knaben Beziehungen klar zu machen, die
ihm ganz fern liegen; allein des Versuchs ist ein solches Unternehmen immer werth,
und der vorliegende Versuch ist ein sehr achtungswerther. —
Die Erziehung der Knaben in Haus und Schule. Ein Handbuch für
Meru und Erzieher von Friedrich Körner, Oberlehrer an der. Realschule in
Halle. Leipzig, Costenoble. — Das Buch schließt sich dem ähnlichen von Julie
Burow an, welches für Mädchen bestimmt war. Es enthält nicht grade sehr neue,
aber wohlmeinende, von einem tüchtigen Lehrer ausgehende Betrachtungen, die von
verständigen Eltern wol zu beherzigen sein dürsten. —
Deutschlands Sieger aus Englands Rennbahlren. Für alle guten
Patrioten von Pegasus. Berlin, Allgemeine deutsche Verlagsanstalt. — Das
Pferd, welches sich als Verfasser unterzeichnet hat, ist zwar als Liebling der Musen
bekannt, allein dies Mal bezieht sich seine patriotische Gesinnung doch mehr auf
seine eigne Nationalität d. h. auf das Volk der Pferde Die erste Geschichte von
dem wunderbaren Hengst, der 1731 als Beschäler nach Paris kam, haben wir
schon in einem Roman von E. Sue gelesen. Für Edelleute, die an dem echten
noblen Sport ihr Gefallen finden, wird dies instructive Verzeichniß von Vollblut¬
geschöpfen ein großes Interesse haben. —
Fliegende Blätter für Musik. Wahrheit über Tonkunst und Ton¬
künstler. Von dem Verfasser der „Musikalischen Briefe". Zweiter Band. Zweites
Heft. Leipzig, Baumgärtner. — Der Wohlbekannte muß bei diesem Heft sehr
übler Laune gewesen sein; er hat doch sonst die liebenswürdige Eigenthümlichkeit,
jede Erscheinung, auch von den verschiedensten Richtungen, möglichst lobend zu be¬
spreche», dies Mal aber hat er bei der Besprechung der Hanslickschen Schrift, die
auch wir angezeigt haben, eine ganz ungewöhnliche Strenge angewandt. Daß
Herr Hanslick in seinem Grundprincip sich durch die natürliche Reaction gegen eine
anderweitige Verirrung, nämlich gegen die Theorie, daß bei der Musik der Ausdruck
die Hauptsache sei, zu gewagten Behauptungen hat verleiten lassen, ist auch von
uns angeführt worden, allein das Buch enthält auf seinen Seitenwegen soviel
geistvolle und bedeutende Bemerkungen über das Wesen der Musik, daß man sich
über den Ton, welchen der Wohlbekannte anschlägt, nur wundern kann. Uebrigens
müssen die guten Freunde, die Wagnerianer, dies Mal die üble Laune auch aus¬
baden, und die beifällige Ausnahme des Maurer und Schlosser in Weimar wird als
Beleg zu der alten Wahrheit aufgefaßt: „Daß einseitigste Kunstanschauung und ver¬
zwickteste Systemsucht zwar in einzelnen Köpfen entstehen und sich festsetzen
kann, niemals aber aller Gebildeten sich bemächtigen wird, daß vielmehr das Ver¬
langen nach Mannigfaltigkeit und Abwechslung in dem gesunden Menschengeiste
als ein Urgesetz liegt, welches die Natur anerkennend befriedigt, was auch die Kunst
thun soll, und kurz, daß das Drama der Zukunft als ausschließlich berechtigte
Kunstoffenbarung eine lächerliche Ausgeburt eines krankhaften Gehirns ist und
bleibt." —
— Indem wir uns bei Eröffnung der
neuen Saison vorbehalten, in Betreff der musikalischen Leistungen unsere Wünsche
auszusprechen, müssen wir zunächst über die äußere Einrichtung, welche uns das
Programm anzeigt, unsere unbedingte Befriedigung aussprechen. Was die Grenz¬
boten seit mehren Jahren als die unabweisbare Forderung der Gerechtigkeit und
Billigkeit dargestellt haben, ist von der Gewandhausdirection endlich zugestanden
worden: die Gemüthttchkeitsverhältnisse der Familiencoterien, des Stoßens und
Schlagens auf der Treppe und was sonst zu den Annehmlichkeiten der Concerte
gehörte, hört auf, und ^der im gemeinen bürgerlichen Leben herrschende Rechts¬
grundsatz, daß der Verkäufer, der einen Preis annimmt, auch die Waare liefern
muß, macht sich auch am Neumarkt geltend. Wer jetzt noch die Gemüthlichkeit,
das Stoßen und Schlagen auf der Treppe und dergleichen liebt, kann es aus eigene
Hand thun. — Die bisherige Einrichtung des Concerts war aus Zeiten berechnet,
die längst vergangen sind. Damals hielten eine gewisse Anzahl reicher Familien
das Concert; die Damen saßen in dem großen Saal, wo überflüssig Platz war,
familienweise und in vollem Ballputz beisammen, in den Pausen wurde Thee
herumgereicht und die Herren fanden sich zur Cour ein. Diese Gemüthlichkeit war
unter den gegenwärtigen Verhältnissen nicht mehr möglich, die Damen mußten sich
ihre privilegirten Sitze in hartem Kampfe erobern, und wenn wir auch der modernen
Gymnastik, die aus altspartanische Weise das schöne Geschlecht heranzieht, unsere
volle Achtung nicht versagen können, so glauben wir doch, daß es schicklichere
Schauplätze sür diese edle Kunst gibt, als die Treppe des Gewandhauses. Daß
nebenbei der Unfug mit den persönlichen und Familienbillets aufhört, der doch nur
zu systematischen Betrügereien veranlaßte, können wir ebenso als einen Fortschritt
begrüßen. Auch die Steigerung des Preises können wir nur billigen, sie entspricht
dem Verhältniß anderer großer Städte, und die minder bemittelten Classen haben
in Leipzig hinreichende Gelegenheit, ihre musikalischen Bedürfnisse anderweit zu
befriedigen; und so sehen wir denn dem lang entbehrten Genuß dieser schönen
Anstalt mit ruhigerem Behagen entgegen, als in den frühern Jahren.
Von G. G. Gervinus. Erster Band. Leipzig, Engelmann. —
Es ist wol seit längerer Zeit in Deutschland kein Werk erschienen, dem
das gesammte Publicum mit so gespannter Erwartung entgegengesehen hatte,
als diese neue Schrift von Gervinus. Eine Darstellung von der Gesammtent-
wicklung unsres heutigen Lebens, welche von der Zeit anhebt, wo eine furchtbare,
die ganze Gestalt der Welt verändernde Katastrophe vorüber war, darf nicht
als eine Befriedigung müßiger Neugier betrachtet werden; wir verlangen von
ihr eine große Auffassung des Ziels, nach dem wir zu streben haben, scharfe
Einsicht in die Mittel, die dahin führen können, strenge Consequenz in Be¬
ziehung auf die Gegenstände, Gerechtigkeit und billige Rücksicht gegen die Per¬
sonen, deren leitendes Streben wir gut heiße», auch wo wir uns im Einzelnen
nicht ganz mit ihnen befreunden können. Man hat dem Liberalismus der frühern
Zeit und zwar mit Recht vorgeworfen, beschränkt und einseitig in seinen Ge¬
sichtspunkten gewesen zu sein; der neue Liberalismus ist durch die historische
Schule gegangen und hat nicht mehr nöthig, seinen Gegnern einen ein¬
seitigen Haß entgegenzubringen, da er gebildet genug ist, sie zu über¬
sehen.
Das Interesse, mit welchem das Publicum an das neue Werk geht, ist
Zunächst ein politisches. Gervinus hat bereits seit seiner Literaturgeschichte,
wenn auch die Bestimmung derselben anscheinend der Politik fern lag, sich
unter den literarischen Führern einer Partei hervorgethan, die man zwar vielfach
gelästert hat, auf die aber doch im Grunde alle Gebildeten deö Volks ausschließlich
ihre Aufmerksamkeit richten. Wenn man auch zuweilen in einzelnen Punkten
von ihm abweichen mußte, niemals konnte man den ehrlichen, consequenten
und geistvollen Mann verkennen. Man durste mit Recht vermuthen, daß in
seiner Geschichte die Parteirichtung, der er selbst angehört, mit innerer Noth¬
wendigkeit sich als das Ergebniß der bisherigen historischen Dialektik darstellen
würde, und schon in diesem ersten Theil obgleich er sich im Grunde nur mit
den Vorbereitungen beschäftigt, finden wir vieles, was diese Voraussetzung
auf eine glänzende Weise rechtfertigt: Entschlossenheit und Festigkeit des Urtheils,
Folgerichtigkeit des Princips und ein entschiedener Lebensmuth, der in dem
Glauben an die Idee sich durch Zufälligkeiten nicht irren läßt. Wie eS auch
im Uebrigen mit der Ausführung seines Plans beschaffen sein mag, das Buch
ist wiederum eine That, die zur Ausklärung der politischen Begriffe, und was
damit zusammenhängt, zur Bildung und Befestigung einer unsichtbaren Partei
in seiner Art ebenso beitragen wird, als die Literaturgeschichte.
Freilich wird die politische Tendenz bei einem in so großartigem Maßstab
angelegten Werk nicht ausreichen. So sehr wir mit dem Zweck des Verfassers
übereinstimmen, wir werden sein Werk nur dann mit unbedingter Freude be¬
grüßen können, wenn es auch den Gesetzen der historischen Kunst vollkommen
gerecht geworben ist. Um hier nicht unbillig zu sein, muß man die Schwierig¬
keit der Aufgabe in Anschlag bringen. Zwar scheint das Werk dazu bestimmt
zu sein, sich über alle modernen Völker auszudehnen, allein der Schriftsteller
denkt doch zunächst immer an die Nation, der er selbst angehört und macht
sie unwillkürlich zum Mittelpunkt seiner Darstellung. Hier steht der Deutsche
gegen den Engländer und Franzosen in einem unermeßlichen Nachtheil. Die
Geschichte der letzten vierzig Jahre nimmt bei allen übrigen Völkern' einen
dramatischen Verlauf, sie sind stets in Bewegung, in Leidenschaft, in Action,
in einer verhältnißmäßig folge-richtigen Entwicklung. Deutschland dagegen spielt
eine ganz passive Rolle. Seine Geschichte wird außerhalb seiner Grenzen ge¬
macht und seine innere Entwicklung hat keinen eigentlichen Mittelpunkt. In
der Gesetzgebung, der Verwaltung, im kirchlichen Leben, in der Literatur und
Kunst ist vielerlei geschehen, die Industrie hat glänzende Fortschritte gemacht,
aber alle diese Einzelnheiten zu einem kunstgerechten Bilde zu verarbeiten,
würde eine Aufgabe sein, die auch der größte Schriftsteller nur annäherungs¬
weise zu löse» vermöchte. In dieser Beziehung war Hüusser, dessen Geschichts¬
werk grade bis zu dem Zeitpunkt reichen soll, wo Gervinus anfängt, viel
günstiger gestellt, und wir dürfen uns nicht darüber wundern, daß sein Werk
auf den ersten Anblick einen erfreulicheren Eindruck erregt. Die Aufgabe von
Gervinus ist unendlich schwieriger, und diese Schwierigkeit müssen wir mit
in Rechnung bringen, um uns ein unbefangenes Urtheil zu bilden.
Aber grade weil wir das Werk als ein Nationalwcrk betrachten, von dessen
Erfolg weit mehr abhängt, als bei einem andern literarischen Erzeugniß, und
weil bis zur Vollendung desselben der Verfasser noch hinreichend Zeit h^,
seine bisher befolgte Methode einer genauern Prüfung zu unterwerfen, halten
wir es für nothwendig, offen und bestimmt mit den Bedenken hervorzutreten,
die uns der erste Band einflößt. Nachdem ein so bedeutender Schriftsteller wie
Gervinus das Werk unternommen, wird sich in den nächsten zehn Jahre»
kein zweiter daran versuchen wollen, und es ist also ein bleibender Verlust für
die gesammte Nation, wenn das Unternehmen nicht so ausfällt, wie seine
Freunde es wünschen müssen.
Gervinus bisherige Schriften hatten einen vorwiegend kritischen Zweck,
auch seine Literaturgeschichte. Die Feststellung des Urtheils war ihm überall
wichtiger, als die Vollständigkeit der Erzählung. Daß wir die Spuren dieser
Richtung auch in dem neuen Werke finden würden, haben wir erwartet, aber
sie finden sich in größerem Maße, als es wünschenswert) ist. Mit der
Politischen Geschichte verhält es sich anders, wie mit der literarischen. Die
erste Aufgabe des Geschichtschreibers bleibt immer, genau und deutlich zu er¬
zählen. Zwar müssen wir den ersten Band noch-als Einleitung betrachtn,,
wo also eine gedrängtere Erzählung und ein größeres Hervortreten der Reflexion
erlaubt ist, allein auch innerhalb dieser Schranken hätte sich eine größere Kunst
entfalten können. Die Geschichte ist undeutlich erzählt, für die Auswahl der
einzelnen Thatsachen findet man kein durchgreifendes Princip, über die Zeit¬
folge wird zuweilen ohne Grund weggegangen und Umstände, die zum Ver¬
ständniß nothwendig sind, werden ausgelassen. Wenn Gervinus einen kurzen
Abriß schreiben wollte, so durste er bei seinem Publicum eine vollständige Kennt¬
niß der Thatsachen voraussetze»; bei dem großen Umfang seines Werks mußte
er es aber so einrichten, als ob die Zeit noch niemals historisch behandelt wäre.
— Gervinus kann sein persönliches Urtheil niemals zurückhalten. Kaum führt er
uns in die Mitte der Ereignisse, so legt er bereits seine Kritik darüber an den Tag.
Schon auf der zweiten Seite, wo er von Napoleon spricht, setzt er weit¬
läufig auseinander, was alles hätte geschehen können, wenn Napoleon dies
oder jenes gethan, dies oder jenes Lelassen hätte, das heißt, wenn Napoleon
nicht Napoleon gewesen wäre; und das geht durch das ganze Buch so fort.
Nun wird zwar jedem Leser daran gelegen sein, zu erfahren, was ein so geist¬
voller Mann wie Gervinus über die Handlungsweise Napoleons und der
übrigen für ein Urtheil fällt; aber eS würde ihm viel lieber sein, wenn dieses
Urtheil sich als Endergebniß der ganzen Betrachtung zum Schluß herausstellte.
Zunächst muß es ihm daraus ankommen, zu erfahren, was Napoleon und die
andern wirklich gethan haben, nicht was sie hätten thun können. — Diese
voreilige Neigung zur Kritik beeinträchtigt auch die Wahrheit der Charakteristik.
Zwar sind wir weit davon entfernt, von dem Geschichtschreiber zu verlangen,
er solle jede Person, die er einführt, ausführlich schildern, aber bei den eigent¬
lichen Helden des Jahrhunderts kann man verlangen, daß er wenigstens nicht
dazu beiträgt, ihrem Bilde durch kunstwidrige Hervorhebung zufälliger Seiten
eine falsche Färbung zu geben. Am auffallendsten ist dies hier mit dem Frei¬
herrn von Stein geschehen. Steins Kulminationspunkt fällt grade in die Zeit,
wo Gervinus beginnt, und es wäre wol zweckmäßig gewesen, zur Freude und
Erbauung des deutschen Volks von diesem großen Manne ein angemessenes
Bild zu geben; aber kaum hat er ihn eingeführt, so fängt er wegen einzelner
Ideen mit ihm zu hadern an, was übrigens gar nicht schwierig ist, da Stein
in seinem Leben wenig Meinungen ausgesprochen hat, über die nicht der kalt¬
blütige Beobachter, der blos das Einzelne auffaßt, den Kopf schütteln möchte.
Man hat nichts nöthig, als sein Leben in die einzelnen Tage zu zerlegen und
den verbindenden Faden fallen zu lassen, um ihn zu einer lächerlichen Figur
zu verzerren; aber der echte Historiker soll grade zeigen, daß er nicht analysirt
wie der gemeine Mann, daß seine Analyse das Nervengeflecht bloßlegt, wäh¬
rend der gemeine Mann seine Pflicht gethan zu haben glaubt, wenn er die
Oberfläche durch das Mikrdskop besieht. Die Charakteristik der hervorragenden
deutschen Männer zur Zeit des wiener Kongresses war nicht nur eine äußere
Zierrath, die der Geschichtschreiber des 19. Jahrhunderts nach Belieben an¬
bringen oder weglassen konnte, sondern sie gehörte nothwendig zum Organis¬
mus des Baues und Gervinus hat damit eine seiner schönsten Aufgaben ver¬
nachlässigt. Wir wollen hoffen, daß er sie nachträglich ergänzen wird, ob¬
gleich sich ihm kaum eine so günstige Gelegenheit, wie im ersten Bande, wieder
darbieten dürfte.
In der Darstellung finden wir das sorgfältige Bemühen, die bisherige
Weise seines Stils, den beständigen Parallelismus, der sich für die ruhige
Erzählung nicht eignet, aufzugeben und wir finden sogar ziemlich starke Ein¬
wirkungen von dem Stil Macaulays; allein Spuren seiner alten Weise sind
noch immer geblieben*) und die neue Weise hat sich umsoweniger damit ver¬
schmelzen wollen, da das glänzende rhetorische Talent Macaulays unserm deut¬
schen Historiker fehlt. Zweckmäßiger wäre- es vielleicht gewesen, wenn Ger¬
vinus nach möglichster Einfachheit und Klarheit des Stils gestrebt hätte. —
Man hat ihm öfters vorgeworfen, daß er mit seiner persönlichen Meinung zu
sehr hervortritt; um dies zu vermeiden, wendete er das Mittel der Anonymität
an. Wo es ihn drängt, seine Meinung auszusprechen, tritt er nicht in eigner
Person auf, sondern erzählt: „Scharfe Kritiker sagen", „dieser und jener sagt",
„man war der Ansicht" u. s. w. Aber es kommt gar nicht darauf an, was ein
scharfer Kritiker, was dieser oder jener, was Hans oder Kunz sagt, sondern
was das Nichtige ist; und wenn sich der Geschichtschreiber in der Lage findet,
aus der Erzählung zur Reflexion überzugehen, so möge er die persönliche Ver¬
antwortung dafür übernehmen. Freilich wird es für seinen Zweck am besten
sein, wenn er diese Lage soviel als lmöglich vermeidet, und wo es irgend
gehen will, die Thatsachen sprechen läßt. — Wir werden bei der Analyse
des Einzelnen mehrfach Gelegenheit haben, auf diese allgemein hingestellten
Einwürfe zurückzukommen.
Der erste Band zerfällt in vier Abschnitte: die Restauration der Bour-
bonen, den wiener Kongreß, die Uebersicht der literarischen Bewegungen und
die östreichischen Zustände bis 1820.
Der erste Theil ist schon vielfältig behandelt worden, vorzugsweise freilich
von französischen Geschichtschreibern, aber auch von deutschen, und im Grunde
ist die richtige Ansicht über diese Begebenheiten soweit festgestellt, daß nicht viel
Neues hinzugefügt werden kann, umsoweniger, wenn man über keine neuen
Quellen disponirt. Trotzdem war dieser Eingang nicht zu ^vermeiden und
Gervinus bringt durch einzelne seiner Reflexionen eine große Befriedigung
hervor. So ist es sehr gut, daß er die Restauration nicht aus zufälligen
kleinen Intriguen ableitet, sondern aus der innern Nothwendigkeit. Es ist
höchst erfreulich, daß er gesinnungslose Intriguanten, wie Talleyrand und Fouchs,
deren unzweifelhafte Talente so manchen weichmüthigen Schriftsteller verführt
haben, mit souveräner Verachtung abfertigt. Freilich ist es nicht geschickt,
daß er einen Tadel gegen die restaurirte Dynastie damit verbindet, weil sie sich
solcher Werkzeuge bedient habe. Wenn Männer, wie Chateaubriand und La¬
martine einen ähnlichen Vorwurf erheben, so verbinden sie damit einen be¬
stimmten Hintergedanken; sie wollen das Ruder des Staats reinen d. h. roya-
ü'heischen Händen anvertrauen. Gervinus ist aber dieser Ansicht keineswegs,
und sein Wunsch, die Regierung ehrlichen und einsichtsvollen Männern an¬
vertraut zu sehen, ist zu allgemein gehalten, um schwer in die Wagschale zu
fallen. Wenn ein neues Herrscherhaus in fertige Zustände eingeführt wird,
so muß es nothgedrungen zunächst versuchen, sich mit den bisherigen Macht¬
habern abzufinden, bis es soweit orientirt und der Situation Herr geworden
ist, um diese beseitigen zu können. Die Machthaber der damaligen Zeit waren
aber unzweifelhaft die Marschälle, Senatoren und Diplomaten des Kaiserreichs.
Sie waren für die erste Periode der Restauration unvermeidlich; übrigens hat
man sie früh genug bei Seite geschafft.— Noch in einem andern Punkt müssen
wir die Restauration in Schutz nehmen. In neuerer Zeit ist das Stichwort
der Legitimität so vielfach ausgebeutet worden, daß man eine gerechte Ab¬
neigung dagegen hat; aber um unbefangen zu urtheilen, muß man sich doch in
die Lage der Betheiligten versetzen. Wenn Ludwig XVIII. darauf bestand, die.
Krone nicht als ein Geschenk des Volkes oder gar des Senats, sondern kraft
des Grundsatzes zu nehmen, daß die Krone nicht stirbt; wenn er erklärte, daß
sein Erbrecht sein einziger Anspruch sei und daß er keinen andern habe, so
muß man ihm darin vollkommen Recht geben, wenn man sich in seine Lage
versetzt, und aus demselben Rechtsgefühl erklären, daß er die vom Senat ihm
angebotene Verfassung verwarf und eine Charte octroyirte. Man mag von
der Volkssouveränetät denken, was man will, jedenfalls war der napoleonische
Senat, zum großen Theil aus ergrauten Speichelleckern der Gewalt zusammen¬
gesetzt, nicht berechtigt, im Namen des Volks dem legitimen König eine Ver¬
fassung vorzulegen. Der Vergleich mit Wilhelm III. ist ganz unpassend.
Wilhelm lit. nahm den Thron nicht kraft des Erbrechts, sondern durch Waffen¬
gewalt ein. Ueber die Art und Weise, wie dies geschah, vereinbarte er sich
mit dem Parlament, so gut oder schlecht es gehen konnte. Die Anmuthung,
kraft der quäht-legitimen Erbfolge King Comfort zu werden, wies er mit Ent¬
schiedenheit zurück; er blieb König auch nach dem Tode seiner Gemahlin, ohne
alle Spur eines Rechts.
Wenn also Gervinus S. 66 behauptet: „Nahm Ludwig die Verfassung
als einen bindenden Bertrag an, so verscheuchte er jeden Verdacht absolutistischer
Hintergedanken; ließ er sich wie jener die Volksernennung gefallen und setzte
seinen Rechtsanspruch auf den Thron nicht in die Erblichkeit, sondern in diese
Berufung, so lag darin das große Geständniß, daß er die Zeit, die des Volkes
Stolz war, in Ehren halten werde" —: so verlangt er damit nichts weniger,
als daß ein Mensch sein inneres Lebenöprincip d. h. den Kern seines Daseins
ausgeben soll. Die Legitimität war für Ludwig XVlII. nicht blos ein Mittel
zum Zweck, sondern eine Idee, die innerhalb der Erscheinungswelt in ernstem
Kampf ihre Berechtigung zu erweisen hatte. Die Ereignisse haben sie wider¬
legt, aber daß sie vor dieser Probe sich selbst aufgeben sollte, ist zu viel verlangt.
Es ist mit diesem „hätte" und „wäre" grade wie mit den Cvnditionalsätzen
bei der Schilderung Napoleons; man muß die großen Erscheinungen der Ge¬
schichte nehmen, wie sie sind, und nicht wie sie nach einem beliebigen Schema¬
tismus hätten sein können. Was übrigens Gervinus über die Erbärm¬
lichkeit der Restauration sagt, hat unsre unbedingte Billigung; und er hat
seine Ueberzeugung so glänzend gerechtfertigt, wie es von ihm zu erwarten
war. — Die Form hätte unendlich gewonnen, wenn Gervinus die ausführliche
Erzählung ganz aufgegeben und sich mit einer Skizze begnügt hätte. Statt
dessen bringt er eine Masse Details an, welche in die Oekonomie einer Skizze
nicht passen, aber nicht genug, um ein vollständiges Bild zu geben. Auf
diese Weise wird die Aufmerksamkeit fortwährend von den Hauptsachen abge¬
lenkt. — Das Capitel hat aber noch einen andern, sehr wichtigen Zweck.
Der glückliche Erfolg eines kühnen Handstreichs hat neuerdings bei einem
großen Theil des Publicums den Bonapartismus d. h. den Grundsatz, daß
erlaubt ist, was gefällt, wenn man es nur durchsetzt, wieder zu Ehren ge-^
bracht; es ist eine Freude, wenn man mit hohem und reinem sittlichen Ernst
diesem Cynismus der Gesinnung entgegentritt.
Der zweite Abschnitt beschäftigt sich mit dem wiener Kongreß. Im Anfang
erwarten wir eine fortlaufende chronologisch geordnete Erzählung, allein wir
entdecken bald, daß auch hier vorzugsweise nur eine Kritik beabsichtigt ist. Die
Verkehrtheit in der ganzen Anlage der territorialen und Verfassungsbestim-
mungen, die aus diesem Congreß hervorgingen, wird mit großer Beredsamkeit
und unwiderleglich dargethan; es wäre aber zu wünschen gewesen, daß auch
hier Gervinus mehr die innere Nothwendigkeit der Dinge, als die zufälligen
Schwächen und Irrthümer der Menschen ins Auge gefaßt hätte. Wollte er
das letztere, so mußte er ausführlich erzählen, denn es ist ein mißliches Unter¬
nehmen, das Geschick oder Ungeschick eines Diplomaten aus einem summari¬
schen Bericht zu entnehmen. Gervinus gehört, wie wir, zu derjenigen Partei,
die alle Hoffnung einer Wiedergeburt Deutschlands auf die innere Kräftigung
Preußens setzt. Je entschiedener wir nun die Ueberzeugung hegen, daß in
den großen Stacnskrästen Pveußenö alles Material vorhanden sei, um die
Grundlage eines deutschen Staats zu bilden, und daß es nur am guten
Willen und an der Entschlossenheit fehlt, diese Mittel zu benutzen, desto leichter
sind wir geneigt, die preußischen Staatsmänner, auf deren Willen und Ent¬
schlossenheit es im kritischen Augenblick ankam, hart zu beurtheilen, und wir
müssen gegen unser eignes Gefühl sehr auf der Hut sein, um nicht mit unsern
Wünschen alle Gesetze der Möglichkeit zu überfliegen. Gervinus hat dieses
Maß nicht beobachtet. So vieles man auch an dem Benehmen der preußi¬
schen Gesandten tadeln kann, der Hauptgrund, daß Preußen eine so eigen¬
thümlich verwickelte Lage erhielt, lag nicht an ihrer Ungeschicklichkeit, sondern
an dem bösen Willen aller übrigen Mächte. Es ist das Schicksal eines neuen
Staats, der noch keinen festen Boden unter den Füßen hat, den Neid aller
übrigen zu erregen, die sein Wachsthum fürchten und zugleich seine Unfertig-
keit gering schätzen. Auf dem wiener Congreß wechselten die Intriguen zwar
sehr häufig, aber im Grunde waren alle europäischen Mächte von vornherein
darüber einig, Preußen nicht zu mächtig werden zu lassen. Die Vergrößerung
Preußens im wiener Congreß war ungefähr diejenige, welche es erwarten
konnte. Der einzige Punkt, den man bedauern könnte, ist der, daß Preußen
nicht anstatt eines Theils der Rheinprovinz Ostfriesland behauptet hat. —
Aber Gervinus ist in diesem Capitel sehr sanguinisch. Wenn er die preußischen
Abgeordneten von Anfang bis zu Ende tadelt, so bleibt er selbst doch keines¬
wegs auf dem nämlichen Standpunkt. Seine Rathschläge wechseln fortwährend
auf die seltsamste Art, und wir fürchten, er selbst hätte auf dem wiener Congreß
nur Aerger und Verdruß davongetragen. So sagt er S. -184: „Preußen wäre
naturgemäß Deutschland zugefallen, wenn eS verstanden Hütte, an seiner Stelle
als wirkliche Großmacht und nach politischen Beweggründen zu handeln."
Hier kann man ihm in der That antworten: Du sprichst ein großes Wort
gelassen aus. Wie in aller Welt hätte es Preußen anfangen sollen, die
Herrschaft oder die Hegemonie über Deutschland gegen lauter widerstrebende
Fürsten zu erobern? — S. 246 sagt er: „Hardenberg trug mit Humboldt
das stille Bewußtsein, daß Preußen, ohne Neid und Besorgniß zu erregen,
nicht weiter vergrößert werden könne; diese Ueberzeugung hätte er zu uneigen¬
nütziger Verwendung für Deutschland nützen sollen, dazu fehlte es ihm weit
an dem großen vaterländischen Sinne!" — Auf welche Weise hätte wol Preu¬
ßen uneigennützig sür Deutschland wirken sollen? S. 2ii wird es sehr lebhaft
getadelt, daß die preußischen Abgeordneten Frankreich Provinzen rauben und
sie für Deutschland gewinnen wollten. Alle diese Vorwürfe sind zu allgemein
und unbestimmt, um eine Handhabe zu gewähren. Die einzige Frage, die
ernsthaft zur Erörterung kam, war die Theilung Sachsens. Auch hier tadelt
Gervinus die preußischen Abgeordneten, aber er verfolgt kein festes Princip; er
führt mehre Gründe sür und wider an, aber er entscheidet sich nicht. Manche
dieser Gründe setzen uns in Erstaunen, z. B. S. 217: „Erwägt man die
politische Zuträglichkeit, so verdiente, wenn Deutschland ein Bundesstaat bleiben
sollte, nichts eine größere Rücksicht, als die Erhaltung der Stämme, die in
Deutschlands Geschichte und Bildung von selbstständiger und vorragender Be¬
deutung waren. Darunter stand der sächsische Stamm obenan. Aus Sachsen
und Baiern sind die Marken Brandenburg und Oestreich erst hervorgegangen,
die beide später einen Gegenstand ihres Ehrgeizes daraus gemacht haben, diese
Nachbarstaaten zu verschlingen. Gegen diese Absichten hat sich das deutsche
Bundesgefühl noch jedes Mal empört." — Wenn das in den sächsischen
Vaterlandsblättern gestanden hätte, so würden wir es natürlich finden: daß
aber ein Historiker den historischen Stamm der Sachsen im Königreich Sachsen
sucht, muß uns doch befremden. Wenn er den Vorschlag macht, das sächsische
Volk Hütte befragt werden sollen, so vergißt er dabei, daß der wiener Congreß
nicht im Jahre 1848 in her Paulskirche saß, wo man übrigens beiläufig
die Provinz Posen auch nicht befragt hat, ob sie dem deutschen Bundesstaat
einverleibt werden solle oder nicht. — Aus allen diesen Gründen sür und
wider abstrahirt man zuerst die Meinung, Gervinus halte sich in dieser Frage
neutral, bis man S. 2S3 durch folgende Erklärung überrascht und bestürzt
wird: „Aus dem unreinstem Munde (Talleyrands) mußte der Congreß die
reinste Wahrheit hören: daß man bei dem Verfahren gegen Sachsen sich offen¬
bar zu dem Grundsatz bekenne, es sei für den Stärkeren alles rechtmäßig;
es könne ein König gerichtet werden, und zwar durch den, der ihn berauben
wolle; es sei die Vermögenseinziehung ein geheiligtes Recht u. s. w." — Also
das war in der That die reinste Wahrheit? Sollte nicht zu diesem Ausdruck
die Beziehung zum unreinstem Munde etwas beigetragen haben? Man be¬
züchtige uns nicht der Frivolität. Gervinus gibt in der That den einzelnen
Stimmungen des Augenblicks mehr nach, als dem Geschichtschreiber erlaubt ist.
Bis dahin hat er Talleyrand ganz mit Recht als einen geschickten Mantel¬
träger bezeichnet; jetzt erscheint er ihm plötzlich als „einer der Wenigen, die
aus den großen erlebten Wechselfällen der Geschichte eine Einsicht in die Zeit
und den neuen Geist, der sie bewegte, davongetragen hatten." Der Grund
dieser Meinungsänderung ist, daß Talleyrand für die Wiederherstellung Polens
eintritt; und das ist eine der politischen Lieblingsneigungen von Gervinus.
Schwerlich hätten die drei siegreichen Mächte, Rußland, Oestreich und Preußen
eingewilligt, Stücke ihrer Länder herauszugeben, und am wenigsten konnte es
Preußen unbedenklich erscheinen, einen alten Feind neben sich zu lassen, der,
sobald er nur zu einigem Leben erstarkt war, nothwendigerweise auf die
Weichselmündung Anspruch gemacht hätte. Die Einheit der Nationalität
kommt bei der Feststellung der Staatengebiete allerdings sehr in Betracht, aber
sie ist nicht die einzige, nicht einmal die höchste Rücksicht. Der Zusammenhang
des Bodens, der eine gemeinsame Regierung und gemeinsame Interessen mög¬
lich macht, ist, wo nicht wichtiger, doch wenigstens ebenso wichtig. Das hat
schon damals der alte Arndt, den man gewöhnlich einer übertriebenen Deutsch-
thümelei beschuldigt, sehr scharfsinnig auseinandergesetzt. — Das Unrecht gegen
Polen erscheint Gervinus als die erste Quelle aller übrigen Verirrungen.
„Sobald es bei jener größten und widernatürlichsten Völkereinziehung sein Be¬
wenden hatte, so konnte man auch vor der buntesten Zusammenwürfelung von
andern Stämmen und Völkern nicht weiter zurückschrecken, so mußte Finnland
bei Rußland bleiben, ein Pflanzland germanischer Bildung, und Norwegen
bei Schweden. Dadurch ward Dänemark getrieben, nach jenem Verlust sich
Zum Gesammtstaat umzubilden u. f. w." — Also Rußland sollte nicht nur
Polen, sondern auch Finnland aufgeben? An wen denn? An Schweden?
Wäre es dann noch das Pflanzland germanischer Gesinnung geblieben? Oder
an Deutschland? Das wäre für Deutschland selbst eine sehr bedenkliche Acqui-
sition gewesen!
Wir haben alles dieses nur hervorgehoben, um zu zeigen, daß Gervinus
viel zweckmäßiger gehandelt hätte, wenn er zuerst einfach die Verhandlungen
des Congresses erzählt und dann ein Gesammturtheil abgegeben hätte; statt
dessen eilt er mit seinem Urtheil überall vor und bewirkt dadurch, daß sein Be¬
richt unzusammenhängend, sein Urtheil unklar und widersprechend ist; das
empfindet der Leser und kann es daher nicht für gerechtfertigt erachten, wenn
auf vie Widersprüche des Freiherrn von Stein ein so großes Gewicht gelegt
wird. Stein war in der üblen Lage, dem Wechsel der Umstände folgen und
sich nach dem Augenblick entscheiden zu müssen; und da die Lage der Dinge
öfters einen andern Anschein nahm, so hätte Gervinus nicht nöthig gehabt,
aus die Möglichkeit roh egoistischer Einflüsse hinzuweisen. Wir haben diese
Bemerkung mit ebenso großem Bedauern gelesen, als die ähnliche über Gneisenau;
die einzige größere Stelle, wo von diesem edlen Mann gesprochen wird, und
zwar auf eine Weise, die des Gegenstandes nicht würdig ist. Wenn man aus
einzelnen hingeworfenen Aeußerungen sich den Charakter eines großen Mannes
zusammensetzen wollte, so würde die Wahrheit der Geschichte wol nicht da¬
bei gewinnen. — Desto erfreulicher ist das Urtheil über die Politik der
Mittelstaaten im Gegensatz zu den Kleinstaaten, dem wir in allen Punkten
beipflichten.
Im dritten Abschnitt erhalten wir eine kurze Uebersicht der europäischen
Literatur, ungefähr in der Art, wie sie Schlosser in seiner Geschichte des 18. Jahr¬
hunderts eingeführt hat. Es ist mit der Einmischung literarhistorischer Abschnitte
in eine politische Geschichte grade wie mit den Recensionen im Feuilleton von
Zeitungen. Sie haben zwei Bedenken gegen sich: einmal gehören sie nicht
recht zur Sache, sodann schließen sie die ausführliche ästhetische Motivirung
aus, die doch allein der Kritik Werth verleihen kann. Nur unter der Be¬
dingung finden wir eine solche Einmischung gerechtfertigt, daß lediglich der
culturhistorische Standpunkt festgehalten und das ästhetische Urtheil soviel als
möglich vermieden wird. Die Zeit, welche Gervinus behandelt, bot hinreichen¬
den Stoff für eine historische Darstellung der Literatur, vorzugsweise durch die
politische Romantik und die historische Schule; allein diese behandelt Gervinus
ziemlich flüchtig und gibt dafür eine Reihe von Recensionen über Fichte, Schel-
ling, Schlegel u. s. w., die schon darum nicht hierher gehören, weil sie in eine
frühere Periode fallen. Vor allem aber begeht Gervinus den Fehler, sich zu
sehr in Einzelnheiten einzulassen, die doch nicht genau genug sind, um ein cor-
rectes Bild zu geben. Wenn er Fichtes Philosophie nihilistisch nennt, und
den Idealismus des Descartes katholistrend, so ist beides gleich einseitig;
wenn er es bei Fichte eine Ruhmredigkeit nennt, daß er seine Wissenschafts¬
lehre als über das Zeitalter vorgeschritten erklärte, so vergißt er dabei, daß
Fichte das nicht blos von seiner Wissenschaftslehre, sondern von der Wissen¬
schaft überhaupt behauptet, und zwar mit vollem Recht; wenn er von Schel-
lings intellektueller Anschauung behauptet, sie sei eine wesentlich ästhetische
Kraft, so hat er wol die betreffenden Stellen nicht genau angesehen; wen» er
von der Schicksalstragödie behauptet, Schlegel habe sie angegeben, so ist daS
ein Irrthum, da Schlegel von Anfang an aufs lebhafteste gegen die Schick¬
salstragödie polemisirt hat. Das alles sind Kleinigkeiten, aber auf alle Fälle
waren sie überflüssig und in einem Nationalwerk wirken sie gradezu störend.
Ernster ist der Tadel, den wir über die Darstellung W. Scotts aussprechen
müssen. Man wird bei einem politischen Geschichtschreiber auf Abweisungen
in ästhetischen Dingen kein großes Gewicht legen, aber wenn er einen Menschen
darstellt, so wird man von ihm verlangen, daß er ihn der Wahrheit gemäß
darstellt, gleichviel ob es ein Literat oder ein Staatsmann ist. Wenn er
W. Scott S. 831 einen fast fanatischen Tory nennt, so würde diese Bezeichnung
etwa nur dann gerechtfertigt sein können, wenn man alle Tories Fanatiker
nennen will, aber die Darstellung S. 404 widerspricht in jedem Wort den
Zeugnissen aller Mitleidenden. Gervinus schildert ihn als einen eiteln Menschen,
der zuerst mit Ariost, dann mit Cervantes wetteifern wollte, während die lie¬
benswürdige Bescheidenheit W. Scotts von allen seinen Landsleuten anerkannt
wird, auch von seinen Gegnern. Man darf doch nicht jedem Romanschreiber
nachsagen, er wolle mit Cervantes, jedem epischen Dichter, er wolle mit Ariost
wetteifern, und zwischen dem Fräulein vom See und dem rasenden Roland
wird auch das schärfste Mikroskop keine Spur der Verwandtschaft entdecken.
Er schildert ihn ferner als einen gemeinen Speculanten und gibt ihm gegen
alle beglaubigten Zeugnisse den Bankrott seines Buchhändlers schuld. Er ver¬
gleicht seine Form mit der deutschen Romantik, obgleich zwischen beiden der
schärfste Gegensatz besteht, ein Gegensatz, den die deutschen Romantiker sehr
richtig herausgefühlt haben. Er stellt die mechanische Fabrttschreiberei im Dienst
des gewinnsüchtigen Handels als seine Hauptwirkung dar; er macht ihm seine
Fruchtbarkeit zum Vorwurf, die er freilich mit Sophokles, Shakespeare, Cal-
deron, Goethe, Schiller u. s. w. theilt. „Er arbeitete," sagt er, „ohne Fest¬
stellung oder ohne Festhaltung eines Plans, der ihm überhaupt nur diente
als ein Faden, um daran hübsche Dinge anzureihen." W. Scott hat einmal
im Spaß selbst so etwas gesagt, wer aber die bessern seiner Romane aufmerk¬
sam betrachtet, wird finden, daß sie eine viel strengere und künstlerische Kom¬
position enthalten, als die Romane aller übrigen Völker. Scott hatte bemerkt
(S. 406), daß Macpherson und Burns die allgemeine Aufmerksamkeit auf alles
Schottische gezogen hatten, und er „wollte diese Flamme lebendig halten." „Er
hatte an sich wie an andern beobachtet, wie vielen Reiz die landschaftlichen
Besonderheiten für die gewöhnlichen Leser haben u. s. w." Auf diese Weise
könnte man das Tagewerk deS größten Dichters analysiren. — Zum Schluß
berichtet Gervinus von Byron, er habe gegen diese Art Poesie eine große
Verachtung empfunden; er meint damit die bekannte Satire gegen die schotti¬
schen Kritiker, welche Byrons Jugendgedichten so übel mitgespielt hatten, allein
er vergißt, daß Byron in späterer Zeit von der tiefsten Verehrung vor W.
Scott durchdrungen war, daß er seine Werke, obgleich er sie durch häufiges
Lesen fast auswendig konnte, stets mit sich führte und ihn zu den größten
Dichtern aller Zeiten rechnete. — Auffallend ist auch Gervinus Urtheil über
den historischen Nomark Er nennt ihn das schädlichste von allen halbpoetischen
Zwitterwerken, die den Kunstsinn nicht nähren und den Geschichtsstnn zerstören.
Die Frage, ob man die Geschichte überhaupt poetisch verwerthen darf, wollen
wir hier als eine offene betrachten, da sie eine weitläufige Auseinandersetzung
erfordern würde, aber wenn Gervinus in seinem Werke über Shakespeare dem
Theaterdichter das Recht zuschreibt, die Geschichte zu verarbeiten, so ist nicht
einzusehen, warum er es dem Romanschreil'er abspricht, umsoweniger, da
dem letztern unendlich reichere Mittel zu Gebote stehen, der historischen Wahr¬
heit nahe zu kommen.
Gewiß wird es bei der Würdigung der politischen Geschichte des 19. Jahr¬
hunderts wenig darauf ankommen, ob man über die Novellisten der Zeit ein
richtiges oder ein falsches Urtheil hat; aber wozu diese ganze Episode? Wollte
Gervinus seiner Abneigung gegen W. Scott Luft machen, so gab es dazu
hundert andere Mittel. In dieses Buch gehört es ebensowenig, als die
DiScusston über Schellings Naturphilosophie.
Entschädigt werden wir durch das folgende Capitel über Oestreich, von
dem wir bereits in diesen Blättern einen Auszug gegeben haben. Was uns
in demselben hauptsächlich einnimmt, ist der männliche, edle Freimuth, die
kühne Rücksichtslosigkeit, die jedes Ding beim rechten Namen nennt. Hier
hätten wir nun gern eine ausführlichere Darstellung, denn über manche Punkte
geht der Historiker zu leicht hinweg, aber das Ganze macht einen überzeugen¬
den, mächtigen Eindruck, der selbst durch Nachlässigkeiten wie die folgende nicht
verwischt wird: „Seit ihn (Metternich) Napoleon ins Angesicht von England
bestochen nannte (in dem Augenblick, wo andere gesehen haben wollten, wie
er von Rußland durch die Herzogin von Sagan bestochen ward), wie oft sind
nicht die Summen genannt worden!, die er als einen Sold für Privatberichte
von den russischen Kaisern mit Vorwissen des seinen empfangen haben sollte
u. s. w." — Es war grade die Ausgabe des Historikers, zu untersuchen, ob
diese Gerüchte gegründet oder ungegründet waren, denn die Aufzählung von
leeren Gerüchten gehört nicht in die Geschichte.
Zum- Schluß noch folgende Bemerkung. Wir haben lange Anstand ge¬
nommen das Buch zu besprechen, und wir sühlen auch jetzt ein gewisses Mi߬
behagen. Voraussichtlich werden die Blätter der Reaction darüber herfallen
und die liberalen Blätter könnten ihnen die Mühe überlassen. Allein wir
haben dies Bedenken überwunden, denn es handelt sich nicht um ein fertiges,
sondern um ein beginnendes Buch. Der Verleger kündigt auf dem Umschlage
das jährliche Erscheinen von zwei neuen Bänden an. Möge ein günstiger
Stern den Schriftsteller, der sich ein so außerordentliches Verdienst um die
deutsche Literatur erworben hat, dem wir für die Aufklärung unserer Begriffe
nie genug Dank sagen können, vor dieser Schnellfertigkeit bewahren. Gervi¬
nus besitzt eine ungewöhnliche Productivität und eine Arbeitskraft ohne Gleichen;
aber niemand kann über das Maß hinausgehen, das dem Menschen gesetzt
ist. Hätte Gervinus neue Actenstücke aufgefunden, deren Mittheilung die Haupt¬
sache wäre, oder käme es darauf an, in aller Schnelligkeit dem politischen Ur¬
theil des Publicums eine Richtung zu geben, so wäre eine Improvisation am
Ort; ab'er keins von beiden ist der Fall. Ueber die Hauptsachen der Restau-
rationszeit steht bei allen Denkenden das Urtheil fest, und für die Geschichte
der Engländer und Franzosen in diesem Zeitraume haben wir sogar glänzende
Darstellungen. Wir wollen in Betreff des ersten Capitels nur auf Lamartine
verweisen, dessen höchst nachlässige Darstellung doch in künstlerischer Beziehung
vor Gervinus den Vorzug verdient. Die Aufgabe, die sich Gervinus gestellt
hat, ist eine ungeheure; fie ist nicht ganz zu lösen, aber es kann mehr darin
geleistet werden, als Gervinus in diesem Bande gethan hat. Wenn das Buch
wirklich ein Nationalwerk, ein bleibendes Denkmal unserer Zeit werden soll,
so muß Gervinus bei den nächsten Bänden sorgfältiger arbeiten; dann wird
das gesammte deutsche Volk ihn auch bei dieser neuen That mit Jubel be¬
grüßen und unsere Literatur wird um einen bedeutenden Schatz reicher sein.
Zwei sehr bedeutende und gehaltreiche Monographien über eine Zeit, deren
Wichtigkeit für die deutsche Geschichte gar nicht zu berechnen ist. In seinen
allgemeinen Zügen ist das Zeitalter der Reformation von Ranke musterhaft
behandelt, aber für die Individualisirung der großen Principien, die damals
Deutschland bewegten, ist noch sehr viel zu thun, und die beiden vorliegenden
Werke können als eine höchst erfreuliche Vorarbeit zu andern Monographien
ähnlichen Charakters angesehen werden. Dadurch rechtfertigt sich auch der
große Umfang, der einer anscheinenden Specialgeschichte gegeben ist. Jedes
der beiden Werke ist auf drei Bände berechnet, das erste sogar auf drei un¬
gewöhnlich starke Bände. Nun wäre es freilich unstatthaft, eine jede historische
Periode mit gleicher Ausführlichkeit zu behandeln, weil sonst die historischen
Studien in der Masse des Details verkümmern würden; aber eS gibt gewisse
Knotenpunkte in der Geschichte, in denen sich alle Fäden des geistigen und
materiellen Lebens auf eine so wunderbare Art verzweigen, daß ein genaues
und ausführliches Gemälde derselben für uns in gewissem Sinne die Dar¬
stellung der gesammten Culturentwicklung vertritt.
Die Geschichte WullenweverS gehört unstreitig zu den interessantesten Be¬
gebenheiten dieser Art. Die Entwicklung des deutschen Bürgerthums, die Re¬
formation, die Machtstellung gegen das Ausland, das alles krystallistrt sich in
diesem merkwürdigen Ereigniß zu einer Erscheinung, deren gründliche Analyse
uns über den Organismus des Lebens die bedeutendsten Aufschlüsse gibt. In
früherer Zeit, wo die nationalen Bestrebungen des Kaiserthums und der
Ritterschaft vorzugsweise das Interesse der Geschichtschreiber erregten, vernach¬
lässigte man diese Bewegungen innerhalb einer Volköclasse, die uns zu Nahe
stand, um uns in romantischem Lichte zu erscheinen; im gegenwärtigen Augen¬
blick, wo man zu der Erkenntniß gekommen ist, daß die reale Entwicklung
Deutschlands wesentlich mit der Entwicklung des Bürgerthums zusammenfällt,
ist man im Gegentheil geneigt, diesen Begebenheiten eine künstliche romantische
Färbung zu geben. Eine solche Aufgabe konnte sich der berühmte Historiker,
dem wir diese neue Bereicherung unsrer Literatur verdanken, nicht stellen, im
Gegentheil verliert bei seiner gründlichen Detailforschung sein Held sehr viel
von dem poetischen Nimbus, mit dem die Sympathie neuerer Schriftsteller
ihn umgeben hat. Wir befinden uns in dem Werk in der reinsten Prosa,
aber in einer Prosa, die so klar und durchsichtig und dabei von einer so con-
creten Fülle ist, daß uns die Zeit wie unmittelbare Gegenwart erscheint.
Die nächste Veranlassung des Werks war eine äußerliche. Bei seinen
Vorstudien zur Geschichte Schleswig-Holsteins stieß Herr Waitz auf eine
Menge von Ackerstücken, die auf die Geschichte Lübecks während der Reforma¬
tion ein neues Licht warfen; er suchte nach derselben Richtung weiter und
bald drängte sich ihm das Material so massenhaft und vollständig zu, daß er
gewissermaßen die Verpflichtung fühlte, es zur wissenschaftlichen Aufklärung
jener Zeit zu verwerthen. An eine vollständige Herausgabe der Urkunden war
nicht zu denken; eine bloße Benutzung derselben, zu einer historischen Skizze
wäre aber auch ein ungenügender Gewinn gewesen. Zudem bietet der Gegen¬
stand von selbst eine so natürliche Abrundung, daß er sich wie ein dramatisches
Ganze behandeln läßt. So wählte nun der Verfasser den Mittelweg, zuerst
eine vollständige, zusammenhängende Erzählung zugeben und ein Urkundenbuch
hinzuzufügen, welches zugleich die kritischen Untersuchungen enthielt. Die
Gediegenheit seiner kritischen Methode ist aus seinen frühern Werken bereits
so allgemein anerkannt, daß sie unsres Lobes nicht bedarf. Von der Dar¬
stellung darf man nichts Pikantes erwarten, sie ist ruhig, ernst und geht in
natürlichem Flusse weiter. Wir behalten uns vor, nach Vollendung deS
Werks von dem Gegenstand, der sich durch seine zahlreichen Beziehungen zur
Gegenwart auch zu einer Skizze in unsern Blättern eignet, einen Auszug
zu geben.
Nicht minder lobenswerth ist das Unternehmen von Cornelius, und eS
ist im Wesentlichen in demselben Charakter durchgeführt. Auch die Anordnung
des Werks, die Sonderling des Urkundenbuchs von der Erzählung ist die
nämliche. Der erste Band beschäftigt sich nur mit der Vorgeschichte jener
wilden Zeit der Durchführung der Reformation in Münster, aber schon treten
jene demokratischen Elemente hervor, die endlich zu einem Reich des Wahn-
sinns führten. Wir sehen der Fortsetzung des Werks mit Spannung ent¬
gegen. —
Auch dieses Werk schließt sich in gewissem Sinn' den beiden vorhergehen¬
den an. Während im ersten Bande Herr Havemann versuchte, die Geschichte
der Welsen in großen allgemeinen Zügen nachzubilden, nimmt der zweite
Band, der die Periode vom Beginn der Reformation bis zum westphälischen
Frieden umfaßt, einen monographischen Charakter an. Hier war nnn die Auf¬
gabe des Verfassers bei der mangelhaften Abrundung seines Gegenstandes eine
sehr schwierige. Das Werk verdient nicht blos deshalb Lob, weil es überhaupt
geschrieben ist, weil es einen Zweig der deutschen Geschichte, der eine ausführ¬
liche Darstellung nothwendig machte, mit aller ernsten Gewissenhaftigkeit eines
deutschen Gelehrten behandelt, sondern auch wegen seiner Form. Mit großer
Geschicklichkeit hat der Verfasser aus seinen Quellen solche Züge aufgenommen,
die uns plastisch, oft mit einem gewissen Anstrich von Humor, das Leben
und die Sitten der Zeit versinnlichen; und wenn er auch durch die Natur
seines Gegenstandes gezwungen wird, den ruhigen Fortschritt seiner Hand¬
lung mehrfach zu unterbrechen, so weiß er doch das Interesse des Lesers wach
Zu erhalten, und so haben wir in diesem Buch nicht blos einen wissenschaft¬
lichen Abschluß, sondern auch eine wesentliche Bereicherung unsrer National¬
literatur. Mit dem dritten Band soll das Werk beendet sein. —
Die deutsche Literaturgeschichte beschäftigt sich in der Regel nur mit den
hervorragenden dichterischen, allenfalls philosophischen Kräften; sie hat daher
sür eine Periode, in welcher die eigentliche Fruchtbarkeit nicht groß war, etwas
Unzusammenhängendes und sporadisches. Mit dem Auftreten von Klopstock
und Lessing gewinnt sie Farbe und Leben. Das Jahrhundert dagegen, welches
Zwischen dem westphälischen Frieden und der Thronbesteigung Friedrich des
Großen liegt, sieht wie eine dürre Steppe aus, in der aller Zusammenhang
der Cultur unterbrochen wird. Wenn man sich also aus der Literaturgeschichte
ein Bild von dem Fortgang der geistigen Cultur im Allgemeinen entwerfen
will, so wird diese Methode der Darstellung einer Ergänzung bedürfen und
dazu dient am bequemsten die Geschichte der Universitäten, der einzigen
Träger der Wissenschaft, bei denen keine dauernde Unterbrechung stattfindet.
Die Universität Göttingen ging nicht, wie die ältern unsres Vaterlandes,
aus einer Mischung von kirchlichen und andern nationalen Einrichtungen natur¬
wüchsig hervor, sie war von vornherein eine Lehranstalt des Staats, nach einem
bestimmten Plan entworfen und mit Ausdauer und Consequenz geleitet. Für
das methodische wissenschaftliche Leben des 18. Jahrhunderts ist sie unter allen
Universitäten Deutschlands die fruchtbarste und einflußreichste. In der
Zeit des Genialitätsschwindels sah man auf die „Zöpfe" Mit Geringschätzung
herab und es ist nicht zu leugnen, daß grade die Universität Göttingen gegen
alle Neuerungen in der Welt des Denkens und des Dichtens ein ängstliches
Absperrungssystem eingeführt hat; allein in neuerer Zeit ist man dahinter ge¬
kommen, daß jene leidenschaftlichen Sprünge der Genialität allein noch nicht
ausreichen, das nationale Leben zu einer gedeihlichen Entwicklung zu bringen,
daß jener conservative Geist der Ordnung und Methode auch da in der
Wissenschaft seine Berechtigung hat, wo er den Anschein der Pedanterie nicht
verleugnet.
Wenn es also schon wegen der Bedeutung der Universität höchst instructiv
ist, den Plan und die Ordnung, die man bei Begründung derselben im Auge
hielt, genau zu entwickeln, so hat der Verfasser bei der Auswahl von wichtigen
Documenten, die er uns mittheilt, noch einen andern Zweck. Da nämlich die
bedeutendsten literarischen Persönlichkeiten jener Zeit bei diesem Plan betheiligt
wurden, so erhalten wir dadurch zugleich ein lebendiges Gemälde von dem
literarischen Gesammtleben der Zeit. Die Methode, nach welcher der Verfasser
verfahren ist, verdient unbedingte Billigung. Ein abgeschlossenes historisches
Gemälde ließ sich aus seinem Stoff nicht machen; er begnügte sich also damit,
das Thatsächliche in einer gedrängten Einleitung abzumachen, und ließ dann
die Papiere für sich selbst reden. Bei der Auswahl walteten verschiedene Rück¬
sichten ob. Zunächst kam es darauf an, die Umstände, welche auf die innere
Einrichtung der Universität Bezug hatten, so vollständig als möglich darzu¬
stellen; dann aber durften auch diejenigen Züge nicht verschmäht werden, die
zur Charakteristik der betheiligten Persönlichkeiten dienten. Der Eindruck des
Gesammtgemäldes, wenn wir uns über die Sprache jener Zeit hinwegsetzen,
ist im Ganzen ein erfreulicher. Es gruppirt sich alles um eine höchst bedeu¬
tende Persönlichkeit, den Freiherrn von Münchhausen, und man steht mit Be¬
friedigung, wie durch sein unermüdliches, folgerichtiges und rühriges Wirken
auch alle übrigen gebunden und nach einer bestimmten Richtung getrieben
werden. Wer sich für den stillen, allmäligen Fortschritt der Cultur überhaupt
interessirt, wird das Buch, obgleich es durchaus nichts Glänzendes bietet, nicht
ohne Befriedigung aus der Hand legen. —
Das Werk erschien zuerst 1847 in Amerika und erregte bei den deutschen Be¬
wohnern der vereinigten Staaten ein großes Aufsehn. Der gegenwärtige Verleger
hat vollkommen recht daran gethan, es auch dem eigentlich deutschen Publi-
cum zu vermitteln, denn es geht nicht nur von einem höchst ehrenwerthen na¬
tionalen Streben aus, sondern es verbindet mit seiner Wärme auch eine große
Besonnenheit. Es war hier so leicht, den Wunsch mit der Anschauung zu
verwechseln und dem deutschen Element in den vereinigten Staaten einen
größern Einfluß zuzuschreiben, als ihm zukommt. Der Verfasser hat sich
aber niemals verleiten lassen, über die natürlichen Grenzen hinauszugehen.
Da das Buch den Zweck hat, seinen Landsleuten Lebensmuth und Widerstands¬
kraft gegen das überwiegende Aankeethum einzuflößen, so hebt es natürlich
die positiven Seiten des deutschen Lebens schärfer hervor, aber es erniedrigt
sich nie zu Schmeicheleien. Der Gegenstand verdient die ernsthafteste Aufmerk¬
samkeit aller Patrioten. Man mag die riesenmäßige Auswanderung sowol
'in Interesse des Vaterlandes, als im Interesse der Auswanderer beklagen, sie
bleibt eine Thatsache, mit der man rechnen muß. Die Gefahr, daß das deutsche
Element im amerikanischen ganz aufgeht, ist trotz der großen Masse der deutschen
Bevölkerung vorhanden, nicht wegen der Schmiegsamkeit des deutschen Cha¬
rakters gegen das Ausländische, wie man gewöhnlich annimmt, sondern weil
die deutsche Auswanderung durch ihre Ordnungslosigkeit gegen die englischen
Einwanderer im größten Nachtheil stand. Die englische Auswanderung grup-
pirte sich theils um eine nicht unbedeutende, lebenserfahrene, in sich stark zu¬
sammenhängende Aristokratie, theils um mächtige kriegslustige Parteien mit
stark religiöser Färbung. Die Masse der deutschen Auswanderer dagegen, ab¬
gesehen por einzelnen stillen Sekten, die es zu keiner großen Bedeutung bringen
konnten, bestand aus armen Leuten, die ihr Vaterland flohen, ohne eine be¬
stimmte sittliche Ordnung mitzubringen. Einen innern Halt in der eignen
Organisation zu finden , war diesen Auswanderern sehr schwer; und wenn sie
sich nicht ganz in Amerikaner verwandelten, so standen sie dem stolzen Nankee
als eine minder berechtigte Classe gegenüber, als eine Classe, mit der man
seinen Spott trieb. In der Heimath eine Stütze zu suchen, war bei der Un¬
klarheit der deutschen Verhältnisse noch weniger statthaft. Hier ist nun in
neuerer Zeit eine sehr wesentliche Aenderung eingetreten: das deutsche Selbst-
gefühl ist diesseit und jenseit des Oceans lebhaft erwacht und die Verbindung
ununterbrochen. Eine materielle Beziehung ist weder möglich noch wünschens¬
wert!), denn ein Besitz ausgedehnter Colonien hat einen Staat auf die Dauer
noch nie gefördert, dagegen wird die geistige Beziehung immer lebendiger wer¬
den, und gekräftigt durch dieselbe wird auch das deutsche Volksthum in Ame¬
rika immer mehr Selbstgefühl gegen den herrschenden Stamm entwickeln. Ob
daraus im Laus der Zeit wirkliche deutsche Staaten hervorgehen, läßt sich für
jetzt nicht ausmachen, aber die Erhaltung des Volksthums ist davon auch
keineswegs abhangig, und diese zu fördern ist vorzugsweise Sache der deutschen
Presse. Der Verfasser verdient umsomehr Dank, da seine Anweisungen
durchaus praktischer Natur sind. Wenn sonst bei der Wahl der Gegenden die
Auswanderer vorzugsweise das materielle Interesse vorwiegen lassen, so hebt
er vorzugsweise das nationale hervor. Das eine darf das andere nicht aus¬
schließen, da beide erst in lebendiger Wechselwirkung den richtigen Maßstab
geben. —
Wie wir bereits angeführt haben, gehört diese Schrift zu der Sammlung:
„Das deutsche Volk dargestellt in Vergangenheit und Gegenwart zur Begrün¬
dung der Zukunft." Es war ursprünglich aus einen größern Umfang berechnet;
der Verfasser hat das letzte Capitel, die Periode von dem westphälischen Frieden
bis zu den Freiheitskriegen, sehr summarisch behandelt. Wenn der Nächstlie¬
gende Zweck des Buchs ein historischer war, nämlich in einer gedrängten Skizze
die Wandlungen des deutschen Heerwesens nachzuweisen, so fehlt doch die prak¬
tische Tendenz keineswegs. Es wird gezeigt» daß die allgemeine Volksbewaff¬
nung, zu der wir seit den Freiheitskriegen zurückgekehrt sind, auch die ursprüng¬
liche und nationale war, und daß sie auch in dem Wesen unsers Volks am
meisten begründet ist. Bei einer Geschichte der Kriegsverfassung kann man die
allgemeine politische Geschichte nicht umgehen, denn die Kriegsverfassung hängt
von den Kriegen ab. Vielleicht hätte aber der Verfasser hier aus der allge¬
meinen Geschichte mehr als bekannt voraussetzen und dasür aus die technische
Seite seines Gegenstandes mehr Aufmerksamkeit verwenden sollen. Da indeß
das Buch vorzugsweise sür den Laien im Kriegswesen bestimmt ist und mehr
ein anschauliches Bild, als eine wissenschaftlich abgeschlossene Untersuchung
bezweckt, so treten diese Mängel nicht sehr hervor. Die Anordnung ist über¬
sichtlich und sachgemäß, und so schließt sich das Buch den übrigen Werken
derselben Sammlung auf eine zweckmäßige Weise an. —
Wir haben die beiden Unternehmungen schon bei Gelegenheit einer frühern
Lieferung besprochen. Beide sind in dem politischen Sinn geschrieben, den auch
die Grenzboten vertreten, beide sind mit Geschick und Gewissenhaftigkeit redigirt.
Der Unterschied wird natürlich durch den Umfang bedingt. Die Chronik,
welche von Vierteljahr zu Vierteljahr den Zeitungen folgt, geht ausführlich zu
Werke, sie gibt die Actenstücke vollständig und sucht den wesentlichen Inhalt
sämmtlicher Zeitungen soweit zu verarbeiten, daß man nicht blos von den Ereig¬
nissen, sondern auch von dem Reflex derselben in der öffentlichen Meinung
unterrichtet wird. Das Jahrbuch sieht den Zeitraum, den es beschreibt, aus
einer gewissen Entfernung an; es bemüht sich nur, die Hauptzüge gedrängt
und übersichtlich zusammenzustellen. Wenn die Lectüre beider Schriften nicht
sehr erfreulich ist, so sind jedenfalls nicht die Herausgeber schuld, denn ihr
Gegenstand ist eine trübe Zeit, eine Zeit der Erschlaffung, die für den spätern
Geschichtschreiber als Uebergang sehr interessant sein wird, die aber auf die
Seele der Mitlebenden einen drückenden Einfluß ausübt. Um so rühmlicher
ist es, daß die Verfasser den Muth nicht sinken lassen, daß sie die große Auf¬
gabe der deutschen Politik immer fest im Auge behalten und die künftige
Bildung einer Partei, an die unter den gegenwärtigen Umständen freilich
nicht zu denken ist, durch entschiedenes Festhalten an den leitenden Grund¬
sätzen möglich machen. —
Zu dem beliebten volksthümlichen Tert erscheint in dieser glänzend aus¬
gestatteten und doch billigen Ausgabe eine Reihe von Illustrationen, deren
Wahl wir ebenso loben können, als die Ausführung. In frühern Zeiten war
es nicht nöthig, das Leben des großen Preußenkönigs von der gemüthlichen
Seite darzustellen, da es in den Herzen des Volks lebte; jetzt, wo die lebendige
Tradition nicht mehr ausreicht, ist es dringend nothwendig, denn der Reich¬
thum der deutschen Geschichte an großen Männern, die auch dem Volk be¬
greiflich gemacht werden können, ist nicht so bedeutend, daß man nicht alles
daran setzen sollte, die wenigen Schätze, die wir besitzen, festzuhalten. —
seine lieben Kinder und Nachkommen zur gottseliger Nachfolge aufgestellt.
Stendal, Franzen und Große. —
Wie der Titel besagt, ist das Buch zunächst ein Familienerbe, doch können
wir es zugleich als ein historisches Denkmal von den theologischen Ansichten
eines Mannes betrachten, den man seiner Zeit als miiaeuwm 8axoma« be¬
zeichnete. —
Das Gedicht, welches hier zum ersten Mal im Druck erscheint, ist eine
metrische Bearbeitung der Turpinsage, zum Theil in gereimten Herame¬
tern, z. B.
Vorsilnis LXüMSl.ris insigni» Fossil vivoium
8eriIzLrs pi'o>lo»riz vulikliiisims vor^ur» l>ne>i'an
Oislusz in II>5!ni>n!8 oocumlierti sivilii>>I> nri«
<)nos illuslr-toit «liuini lsruor smoris.
Durch die correcte Ausgabe des Textes hat sich der Verfasser ein bleiben¬
des Verdienst um die Literaturgeschichte erworben. —
Der Herausgeber dieser sehr interessanten Actenstücke, Archivarius Gers¬
dorf, weist nach, daß die modernen Versuche, den berüchtigten Kunz von
Kaufungen zu rechtfertigen, jeder Begründung entbehren. Dieser Versuch ist
namentlich von Dr. Schäfer in einem vor kurzem erschienenen Werk gemacht
worden, und es ist daher zweckmäßig, daß der Verfasser der vorliegenden Schrift
schnell eine urkundliche Widerlegung^hat eintreten lassen. —
Diese Biographie schließt sich unmittelbar an das vorhergehende Werk
desselben Verfassers an: „Die Gracchen und ihre Zeit." Sie ist sehr fleißig
gearbeitet und es ist zu loben, daß der Verfasser sich nicht durch ein einseitiges
politisches Princip hat verführen lassen, seinem Helden eine andere Farbe zu
verleihen, als ihm zukommt. Die Form der Geschichtschreibung ist aber keines¬
wegs billigenswerth, und eS ist um so nöthiger, darauf aufmerksam zu machen,
da der Verfasser noch am Beginn seiner wissenschaftlichen Laufbahn steht. Er
hat die Neigung, seine Personen auf eine unbequeme Weise hervortreten zu
lassen, und das soll der Geschichtschreiber soviel als möglich vermeiden. Daß
er in der Vorrede über sein Verhältniß zu seinen Quellen, wie zu den frühern
Bearbeitungen desselben Gegenstandes, dem Publicum Auskunft gibt, ist in
der Ordnung; aber der hohe Ton, den er gegen die letztern annimmt, ist
theils überflüssig, da schon der Umstand, daß er an eine neue Bearbeitung
geht, hinreichend zeigt, daß er die frühern für ungenügend hält; theils gibt er
dem Buch einen gehässigen Beigeschmack, der für eine einfache Monographie
nicht paßt. Er breitet sich sehr ausführlich über die Anforderungen aus^ die
man an einen Biographen Sullas stellen muß. Nun war es zwar sehr zweck¬
mäßig, wenn er sie sich selbst klar machte, aber sie dem Publicum zu erzählen,
war kein Grund, denn derjenige Theil des Publicums, auf dessen Urtheil es
hier allein ankommt, weiß schon, was er für Anforderungen zu stellen hat.
Wenn Herr Lau in dieser Biographie wirklich ein vollständiges Bild des Zeit¬
alters darstellen wollte, wie er es zu beabsichtigen scheint, so genügte es nicht,
die merkwürdigen Personen jener Periode einfach aufzuzählen und zu berichten,
was er von ihnen weiß, sondern sie mußten in die Gesammthandlung ver¬
webt werden. Für die eigentliche Biographie waren sie übrigens ganz über¬
flüssig, und eine Gesammtschilderung der sittlichen Zustände findet besser in
einer römischen Geschichte, als in einer monographischen Arbeit Raum. —
Eine interessante und nützliche Sammlung, die dem jetzt so hoch cultivirten
Gebiet der deutschen Sagen ein neues Terrain erobert.
Der gegenwärtige Band reicht bis 1823. Bei dem bald zu erwartenden
Schluß werden wir ausführlicher auf das Ganze eingehen.
Der Ausbruch des Krieges zwischen den Westmächten und Rußland, der
uns die Kenntniß der innern Zustände des letztern so interessant macht, ver¬
mehrt auch die Mittel, uns diese Kenntniß zu verschaffen, denn die zahlrei¬
chen Engländer, die in vielerlei Beschäftigungen während des langen Friedens
in Rußland eine Anstellung gefunden hatten, haben jetzt das Land räumen
müssen und bereits mehre haben, in ihr Vaterland zurückgekehrt, Sorge getra¬
gen, ihre in Rußland gemachten Erfahrungen ihren Landsleuten mitzutheilen.
Wie wir schon neulich eine englische Quelle benutzten, um unsern Lesern einen
Begriff von den Kriegsleiden in Rußland zu geben, so soll uns auch heute
wieder ein soeben in London erschienenes Buch: linke-s ok a Mus Vsars Kesi-
äsnLS in Kussig,, from 18ij. w 33, Ködert Ilarrison, den Stoff zu einer
Skizze über die Zustände des russischen Grundbesitzes liefern.
Harrison begleitete eine vornehme russische Familie, die er in Paris ken¬
nen gelernt hatte, nach ihrer Herrschaft, die im Gouvernement Simbirsk am
Ufer der Wolga, auf der merkwürdigen Halbinsel liegt, welche dieser Strom
durch seinen in weiten Bogen gekrümmten Lauf zwischen Stavropol und
Sysran bildet. Die Stelle ist sowol wegen ihrer landschaftlichen Eigenthüm¬
lichkeit, wie durch die sich daran knüpfenden historischen Erinnerungen merk¬
würdig. Das rechte User des Flusses überhöht das linke bedeutend, welches
aus einer einförmigen unbegrenzten Ebene besteht, die sich weit ostwärts
in die Wüste hinein erstreckt, deren Anfang sie bildet. Blickt man nach dieser
Richtung über eine Fläche, deren Grün nur von dem Thau des Himmels er¬
quickt wird, die aber keine Quelle zur Erfrischung des Menschen unter ihrer
Oberfläche birgt, so sucht das Auge vergebens nach einem andern Gegenstand,
als dem Lagerfeuer eines Trupps Kosacken oder Hirten, die Wasser mitneh¬
men oder sich durch die Wassermelone erquicken müssen, welche die gütige Vor¬
sehung in großem Ueberfluß in dieser Region wachsen läßt. Aber auf dem
westlichen Ufer des Stromes überblickt der Wanderer eine ungewöhnlich male¬
rische und fruchtbare Gegend. Wald und Fels, Fluß und Ebene, Getreide¬
land und Wiesen breiten sich überall vor ihm aus, wenn er von der Spitze
eines der zahlreichen Hügel in dieser Gegend um sich schaut. Auf einem der¬
selben steht ein malerisches, von dem gegenwärtigen Besitzer gebautes Thürm-
chen zur Bezeichnung der Stelle, wo die tartarischen Eroberer Rußlands zuerst
das Land, das ihnen wie ein Paradies erschien, erblickten. Hier kam der
Verfasser im Monat Juli an. und blieb bis zum folgenden März und von
diesem mehrmonatlichen Aufenthalt nimmt er Gelegenheit, das Landleben eines
russischen Magnaten unter seinen Leibeignen zu schildern. Boris Petrowitsch,
wie er ihn nennt, besitzt mehre Dörfer und viele tausend Leibeigne und ist
beständig bemüht, die Lage der letztem zu verbessern,, sowie bessere landwirth-
schaftliche Verfahrungsarten und eine cultivirtere Lebensweise einzuführen, wie
denn, auch Tengoborsky daS Gouvernement Simbirsk als eines von denjenigen
hervorhebt, wo sich die großen Grundbesitzer in dieser Hinsicht die meiste Mühe
geben. Die Gemahlin des Magnaten betheiligte sich mit großem Eifer an dem
Werke. Während der Mann Wohnungen von Stein baute und eine Muster¬
wirthschaft mit allem Zubehör einrichtete, begründete sie Schulen für die Kinder
der Leibeignen, wurde selbst die erste Lehrerin.und errichtete eine Normalclasse.
Aber sie fand den hartnäckigsten passiven Widerstand. , Da sich natürlich die
Schüler nicht in das Herrenhaus wagten, so wählte man zu dem ersten Ver¬
such eine Hütte und brachte glücklich einige Mädchen zusammen. Als man
soweit war, fand es sich, daß für die Barinnä (Herrin) kein Sitz vorhanden
war, und nach Hinwegräumung dieses Hindernisses blieb zufällig die Thür offen
stehen, so daß die Schweine und Gänse hereinkamen und der Unterrichtsstunde ein
Ende machten — zur großen Freude der Schülerinnen, die ihre Abneigung
gegen das Lernen auf jede Weise, außer durch offenen Widerstand zu erkennen
gäben. Die Eltern fanden ebensowenig Geschmack an den steinernen Häusern
und vielleicht mit mehr Grund, denn in einem Lande, wo im Winter eine
Durchschnittstemperatur von nur fünf Grad Fahrenheit herrscht, sind die alten
hölzernen Hütten mit ihrem einzigen kleinen Fenster, wo der große Ofen be¬
ständig eine Temperatur von 70 bis 80 Grad erhält, jedenfalls den luftigern,
steinernen Häusern mit ihrer reinern, aber kältern Atmosphäre vorzuziehen.
In Nischnei Nowgorod war der Verfasser zum ersten Mal Zeuge der feier¬
lichen Empfangnahme eines großen Grundbesitzers von einer Deputation seiner
Leibeignen, die ihm entgegenkam. Drei kräftige Bauern in Schafpelzen kamen
>'n den Garten, überreichten ein großes schwarzes Laib Brot und etwas Salz
und gaben der Freude des Dorfes über die Ankunft ihrer Herrschaft Ausdruck.
Sie redeten nicht nur den Herrn und die Herrin, sondern auch die jüngsten
Mitglieder der Familie mit den vertraulichen Benennungen Batuschka und
Matuschka (alter Vater und alte Mutter) an, wie denn überhaupt der russische
Leibeigne mit den größten und häufigsten Demuthsbezeigungen eine große Zu-
tnmlichkeit im Gespräche vereinigt und in der Regel sowenig Lust >zeigt, es
abzubrechen, daß dies meistens der Herr thun muß, indem er ihn mit den
Worten Bog stoboi (Gott sei mit dir) die Hand zum Kuß reicht. Zwischen
Nischnei Nowgorod und Simbirsk kamen die Reisenden durch mehre Dörfer
hintereinander, wo sich überall die Darreichung von Brot und Salz wieder¬
holte. In einem Dorfe fiel die ganze Bevölkerung auf die Knie, bis der Herr
ihnen befahl aufzustehen. Wo das Wasser gut war, brachte man ebenfalls
eine Probe, zuweilen ans 130 Fuß tiefen Brunnen. In einigen dieser Dörfer
waren die Leibeignen Gewerbsleute, waren reich geworden und wohnten in
hübschen Häusern. Es ist überhaupt einer der auffälligsten Züge des russi¬
schen gesellschaftlichen Systems, daß, obgleich ein Leibeigner sich große Reich¬
thümer erwerben kann, er doch nicht, außer durch Militärdienst, zum freien
Manne werden kann, ohne sich von seinem Leibherrn für einen von diesem
willkürlich festzusetzenden Preis loszukaufen; und dieser steigt natürlich in zu
vielen Fällen in demselben Maße, wie bei dem Leibeignen das Verlangen nach
Freiheit. Ein Leibeigner des Gutes hatte seine Freiheit für dreiunddreißig-
wusend Rubel Banknoten erkauft, eine Summe, die er selbst genannt hatte.
Einige der reichsten Kaufleute Se. Petersburgs sind Leibeigne des Grafen
Scheremetjeff, der sich mit einem Obrok (Entschädigung für den Frohndienst)
von wenigen Rubeln begnügt, aber um keinen Preis einem derselben seine
Freiheit geben will. Er ist stolz, so reiche Leibeigne zu besitzen, über die er
eine Macht ausübt, deren Ausübung, wenn jemals die Ideen des Westens
in Rußland über die Oberfläche eindringen sollten, das ganze sociale Gebäude
über den Haufen werfen muß. Die Se. Petersburger Millionäre sind ihrer
Geburt nach bloße Bauern und immer noch verpflichtet, auf den Gütern ihres
Herrn die Troika oder drei Tage Frohnarbeit in jeder Woche zu leisten. Zeigt
ein Bauernknabe besondere Anlagen zu einem Gewerbe, das sich mit Gewinn
in einer Stadt betreiben läßt, so wird er zu einem Meister in die Lehre ge¬
schickt und muß dann sehen, wie er auf eigne Faust durch die Welt kommt.
Wenn es ihm nicht gelingt, so fällt natürlich der Verlust auf den Herrn, der
einen ganz nutzlosen Leibeignen in seinem heimathlichen Dorfe erhalten muß;
kommt er aber fort, so erhält der Grundherr eine gute Entschädigung für seine
erste Kapitalanlage in dem Obrok, dessen Betrag habgierige oder geldbedürs-
tige Herrn mit dem zunehmenden Wohlstand des Leibeignen zu erhöhen pflegen.
Die Maschinerie, durch welche dieses Recht ausgeübt wird, ist interessant, weil
sie eine Einsicht in das ganze politische System Rußlands gewährt. Der Leib¬
eigne muß überall, wo er sich niederläßt, einen Paß von seinem Herrn vor¬
zeigen und dieser Paß muß alljährlich und manchmal alle sechs Monate er¬
neuert werden. Durch Nichtgewährung des Passes kann daher der Grundherr
jederzeit den Leibeignen zwingen, in sein heimathliches Dorf zurückzukehren, und
so sorglich sieht man aus die Aufrechthaltung dieser Macht, daß nicht nur die
Polizeibehörde jeder Stadt verpflichtet ist, darauf zu achten, daß jeder Ein¬
wohner im Besitz der nöthigen Aufenthaltserlaubnis) ist, sondern daß auch jeder
Arbeitsgeber für seine Arbeiter und seine Dienerschaft stehen muß und Sorge
zu tragen hat, daß ihre Püffe in bester Ordnung sind. Sollte ein zukünftiger
Erbe des Grafen Scheremetjeff, entweder um seine Einnahme zu erhöhen oder
aus einem persönlichen Beweggrund oder auch aus bloßer Laune, für gut
finden, von seinem grundherrlichen Rechte Gebrauch zu machen und seinen
reichen Leibeignen in der Hauptstadt die Püffe zu verweigern, so wären sie ge¬
zwungen, ihre schönen Häuser in der Stadt zu verlassen, ihre luxuriöse
Lebensweise aufzugeben und sie mit den elenden Hütten, der mühsamen Feld¬
arbeit auf dem Lande zu vertauschen. Natürlich wird schon Rücksicht auf das
eigne Interesse den Grundherrn von einem solchen äußersten Schritte abhalten;
aber das Pfund Fleisch kann genommen werden, wenn ein Shylock vorhanden
ist, der darauf besteht und es ist klar, daß unter solchen Verhältnissen Geiz
und Tyrannei freies Spiel haben.
Andern Gefahren sind die Leibeignen auf dem Lande ausgesetzt. Die
Hütte, welche sich der Bauer mit Holz aus seines Grundherrn Waldungen
baut und das kleine Ackerstück, welches er für sich bewirthschaftet, sind gesetz¬
lich nicht sein Eigenthum, obgleich er und seine Väter schon seit mehren Gene¬
rationen darauf gesessen haben mögen. Allerdings kommt der Grundherr unter
gewöhnlichen Umständen nicht in Versuchung, ihn zu vertreiben und solange
dies der Fall ist, geht alles zur Zufriedenheit beider Theile seinen Gang.
Aber es kann kommen, daß der Boden auf den Gütern des Herrn erschöpft ist
und daß daher der Ertrag von der Arbeit des Bauern sich mit jedem Jahre
merklich vermindert. Was soll in diesem Falle der Grundbesitzer thun? Er
besitzt nicht Capital genug, um dem ausgesogenen Boden seine Kräfte zurück¬
zugeben, und auf der andern Seite besitzt er noch ungezählte Acker.unum-
gebrvchenes Land, das blos der Arbeit wartet, um den reichlichsten Ertrag zu
liefern. Unter diesen Umständen kann man sich kaum wundern, daß der Grund¬
besitzer von seinem gesetzlichen Rechte Gebrauch macht und die Bauern nach der
neuen und mehr versprechenden Gegend versetzt. Natürlich wird bei einem
solchen Verfahren der Leibeigne selbst bei dem menschlichsten Herrn physisch
und moralisch manches zu leiden haben, und wo der Grundbesitzer rücksichtslos
verfährt oder die Versetzung der unbarmherzigen Hand eines Gutöverwalters
überläßt, entstehen Jammerscenen, die nur bei einem so geduldigen Schlag,
wie die Russen sind, nicht zum offnen Widerstand führen.
Der Werth eines Grundstücks hängt jedoch hauptsächlich von der Zahl
und dem Charakter der dazu gehörigen Leibeignen ab, dann von den Verkehrs¬
wegen und am allerwenigsten von der Güte des Bodens; denn die Bevölkerung
steht bis jetzt noch so außer allem Verhältniß mit der eine gewinnbringende
Bewirthschaftung zulassenden Bodenfläche, daß es gar nicht schwer fällt zum
Urboden seine Zuflucht zu nehmen, weyn der Ertrag des bereits bebauten sich
vermindert. Ein von Tengoborski angeführter Bericht des landwirthschaftlichen
Departements an das Domänenministerium gibt den Umfang der Region des
berühmten Tschernozisme oder schwarzen Bodens auf 87 Millionen Desfätinen
an. Diese Region umfaßt den größern Theil des Gouvernements Orenburg,
einen beträchtlichen Theil des Gouvernements Kasan, die Gouvernements
SimbirSk und Persa, einen Theil des Gouvernements Saratow, auf dem
rechten Wolgaufer, das Gouvernement Tambow, das Land der dorischen Ko-
sacken, einen, großen Theil des Gouvernements Jekaterinoslaw, die Gouverne¬
ments Pvltawa, Charkow und Woronesch; einen Theil der Gouvernements
Tula und Riäsär, einen großen Theil des Gouvernements Orel, einen Theil
der Gouvernements Tschernigow und Kiew, die nördlichen Theile des Gouverne¬
ments Cherson, Bessarabien, Podolien und einen Theil von Volhynien, im
Ganzen ungefähr 18"/<> der Gesammtoberfläche des europäischen Rußlands.
Nach den'gegenwärtigen Fortschritten der Landwirthschaft bewirthschaftet könnte
diese Bodenfläche die Bevölkerung von ganz Europa ernähren. Aber ein
solches Resultat läßt sich in Nußland in Jahrhunderten noch nicht erwarten.
Die primitive Dreifelderwirthschaft herrscht fast allgemein vor, außer wo deutsche
Colonisten bessere Bewirthschastungsmethoden eingeführt haben oder wo,,'wie
in dem Gouvernement Simbirsk, ein seltenes Zusammentreffen günstiger Um-^
stände einigen großen Grundbesitzern gestattet hat, ein Beispiel mit der An¬
wendung von Maschinen zu geben. Nach dem gewöhnlichen Verfahren
wechseln Wintergetreide, Sommergetreide und Bräche regelmäßig miteinander
ab; so, daß ein Drittel des Bodens stets unbebaut ist und das gänzliche
Wegfallen deS Anbaues von Futterkräutern das Halten eines großen Vieh¬
standes— die erste Bedingung einer guten Bewirthschaftung — verwehrt. Trotz
der vortrefflichen Bodenbeschaffenheit muß nach TengoborSki ein Viertel des
ganzen Ertrags zur Aussaat zurückbehalten werden, und noch im Jahre 1810
wurde im Gouvernement Cherson die Dessätine gutes Land mit einem Papier¬
rubel, der damals ungefähr 10 Silbergroschen galt, bezahlt. In Neurußland war
dagegen bei Beginn des gegenwärtigen Krieges der Preis wegen der Nähe des
Hauptgetreidehafens Rußlands, Odessas, und der infolge der vermehrten Nach¬
frage hohen Fruchtpreise der letzten Jahre auf zehn Silberrubel gestiegen. Natür¬
lich ist diese gute Zeit vorüber, bis der Friede wiederkehrt, und nach der
Raschheit, mit der die Preise der Grundstücke in den letzten Jahren gestiegen
sind, kann man abmessen, wie hartbedrängt jetzt bei dem ganz wegfallenden Ab¬
sätze nach dem Auslande die Grundbesitzer sein müssen.
Die große Schwierigkeit des Verkehrs in Rußand, sowie man einmal die
unmittelbare Nachbarschaft der schiffbaren Flüsse verläßt, zeigt sich am deutlichsten
in den ganz übermäßigen Preisunterschieden des Getreides in den verschiedenen
Gouvernements.
Da der eigentliche Reichthum des Grundbesitzers in seinem Rechte besteht,
die dreitägige Frohnarbeit von jedem Leibeignen für jede Woche zu fordern
und da er diese meistens nur im Ackerbau verwerthen kann, so sind die ge¬
wöhnlichen Beziehungen zwischen Angebot und Nachfrage, wie sie im westlichen
Europa bestehen, hier gar nicht vorhanden. Wenn die Leibeignen nicht mit
dem Getreidebau sich beschäftigen, so müssen sie faullenzen, mag nun der Markt
mit Getreide überfüllt sein oder nicht. Ist ersteres der Fall und es sind
Mittel vorhanden, den Ueberschuß nach einem Markte zu schicken, wo Mangel
ist, so ist natürlich eine reichliche Ernte eine Quelle des Reichthums für den
Grundbesitzer. Aber dies ist nur ausnahmsweise der Fall. Im Allgemeinen
ist das einzige Resultat einer ungewöhnlich guten Ernte ein übermäßiger
Ueberfluß sür dieses Jahr, in dieser besonderen Oertlichkeit, an dessen Stelle
vielleicht nächstes Jahr der äußerste Mangel tritt. Tengoborski gibt den
Durchschnittsatz der Landtransportkosten in Rußland für eine Entfernung von
zehn Wersten auf eine Kopeke das Pud (40 Pfund) an. Das macht
fast 4 Pence auf die englische Meile für eine Tonne Last, ein Satz, der
mehr als viermal so hoch ist, als derjenige, den jede englische Eisenbahn¬
compagnie mit Freude gewähren wird. Man darf sich daher nicht wundern,
wenn wir wahrend der vier Jahre 1846 bis 49 den Tschetwert Roggen im
Gouvernement Kurland von 117 bis 1107 Kopeken, in Jekatennoslaw von
130 bis 320, in Kowno von 325 bis 833 Kopeken, in Saratow von 98
bis 336, in Wilna von 223 bis 1000, in Woronesch von 137 bis 421
Kopeken im Preise wechseln sehen. Da der Roggen das gewöhnliche Nah¬
rungsmittel des Landvolks bildet, so ist eine Schwankung im Preise desselben
stets von großem Nothstand in der Masse der Bevölkerung begleitet, aber
Weizen, der hauptsächlich zur Ausfuhr oder zur Destillation verwendet wird,
schwankte in denselben Jahren im Preise, in Kurland von 333 bis 1400, in
JekaterinoSlaw von 300 bis 700, in Kasan von 289 bis 636, in Saratow
von 218 bis 309, in Tambow von 243 bis 712 und in Woronesch von 273
bis 640 Kopeken. Es ist ein sehr merkwürdiger Umstand und ein neuer Be¬
weis für die Vorzüge der Handelsfreiheit, daß in denjenigen russischen Gou¬
vernements, die für gewöhnlich hinsichtlich der Lebensmittelzufuhr von andern
abhängen, infolge der bessern Organisation der Verkehrsmittel die Preis¬
schwankungen nicht nur geringer sind, sondern sogar das Getreide nach schlech¬
ten Ernten oft auf dem Markte, wo es verkauft wird, billiger ist, als auf der
Stelle, wo es erzeugt worden. Das kommt natürlich daher, daß aus der regel¬
mäßigen Nachfrage auf ersteren eine entsprechende Regelmäßigkeit der Zufuhr
entsteht und um diese zu ermöglichen die Kaufleute Getreide aufspeichern. So
überstiegen in den obenerwähnten Jahren die Preisschwankungen in Peters¬
burg, Archangel, Jaroslaw, Kaluga, Mohileff und Moskau, die alle ihr Ge¬
treide von ihren Nachbarn beziehen müssen, niemals 30 Procent; und in Mos¬
kau, welches sein Getreide aus Tula erhält, war der Preis manchmal niedri¬
ger als in Tula selbst. Ueberhaupt scheint in Tula, nach einem andern russischen
Statistiker Zablotski, die Preisschwankung größer zu sein, als in allen übrigen
Theilen Rußlands, indem der niedrigste und der höchste Satz in einem kurzen
Zeitraum in einem Verhältniß wie 1:10 steht.
ES ist schwer, sich ganz die Nachtheile zu vergegenwärtigen, unter welchen
ein Land mit so mangelhaften Verkehrsmitteln wie Rußland leidet, wenn es
noch außerdem von der Last eines Krieges, wie der gegenwärtige ist, bedrückt
wird. Um der Noth in Mangeljahren vorzubeugen — die in Rußland wegen
der häufigen Dürren nichts Seltenes sind — hat die Regierung dem Nichtvor-
handensein guter Transportmittel dadurch abzuhelfen versucht, daß jede Ge¬
meinde gezwungen ist, Nothmagazine anzulegen — eine Maßregel, die vielleicht
wegen der gänzlichen Abwesenheit des Privatunternehmungsgeistes, der unter
günstigen Verhältnissen genügende Sicherheit gegen den Eintritt einer Hungers-
noth geben würde, solange es anderwärts überfüllte Märkte gibt, nothwendig
ist. Aber was wird aus diesen Nothmagazinen, wenn, wie jetzt, jeder Nerv
angestrengt wird, um den drängenden Bedürfnissen einer Armee im Felde ab¬
zuhelfen — wenn der Ackersmann mit seinem Wagen und Ochsen der Acker-
arbeit entrissen wird, um auf den schlechtesten Wegen und in der schlechtesten
Jahreszeit Proviant und KriegSvorräthe Hunderte von Meilen zu transportiren?
Wieviel mag es kosten, um Sebastopol über die dazwischenliegenden Steppen durch
Hilfe von schwerfälligen Ochsenkarren, die nicht zwei deutsche Meilen täglich
zurücklegen, zu versorgen, wenn der durchschnittliche Preis von einer Tonnen¬
last Frachtgut in gewöhnlichen Zeiten nach Tengoborski mehr beträgt, als das
Fahrgeld für zwei Passagiere zweiter Classe auf einer englischen Eisenbahn, die
zwanzigmal so schnell befördert?
Die Vertheilung der Leibeignen unter die verschiedenen Classen Eigen¬
thümer ist eine interessante Frage, von der man im Auslande im Grunde
äußerst wenig weiß. Wir denken uns meistens den russischen Grundbesitzer
als eine Person von ungeheuern Hilfsquellen, wenn er sie nur flüssig machen
könnte. Dies paßt jedoch allenfalls nur auf die Magnaten, denen man in
den Salons Westeuropas begegnet. Sie bilden aber nur die glänzende Aus¬
nahme von einer im Ganzen nur mittelmäßig begüterten Aristokratie. Tengo¬
borski gibt uns darüber einige merkwürdige Aufschlüsse in einer nach officiellen
Angaben entworfenen Tabelle, welche die Grundbesitzer von 46 Gouvernements
nach der Zahl ihrer Leibeignen classificirt. Allerdings rührt die Tabelle von
1834 her, aber das Verhältniß kann sich seit jener Zeit nur höchst unbedeu¬
tend geändert haben. Nach dieser Tabelle gehörten von einer männlichen leib¬
eignen Bevölkerung von 10,704,378 Köpfen 3,536,939 1454 Grundbesitzern,
so daß im Durchschnitt 2448 Leibigne auf jeden kamen; 1,562,831 Köpfe
auf 2273, im Durchschnitt ungefähr 688; 3,634,134 gehörten 16,740 Grund¬
besitzern oder durchschnittlich 217; 2,300,337 Köpfe 30,417 Grundbesitzern oder
im Durchschnitt 49; und 430,037 waren auf 58,437 Grundherren vertheilt,
so daß von diesen jeder durchschnittlich nur 8 Leibeigne besaß.
Die erste dieser Classen, unter der sich die reichste Aristokratie Rußlands
befindet, besteht aus den Grundbesitzern, die nicht weniger als 1000 Bauern
besitzen; die zweite darf nicht weniger als 500, die dritte nicht weniger als
100, die vierte nicht weniger als 20 Bauern ihr Eigenthum nennen und ti^
fünfte und letzte Classe umschließt den Nest der ganz kleinen Besitzer. Daraus
geht also hervor, daß von sämmtlichen Grundbesitzern der in der Tabelle aus¬
geführten 46 Gouvernements nur 3727, oder weniger als 4 "><,, mehr als 500
Leibeigne haben. Den Nettoertrag von der Frohnarbeit eines Leibeignen
kann man aber selbst in Friedenszeiten auf nicht höher als 11 Thaler jährlich
anschlagen. Pallas führt einen Ertrag von 12 Silberrubeln als etwas ganz
Ungewöhnliches an und sieben Rubel Silber jährlich ist die gewöhnliche
Loskaufungssumme vom Frohndienst. Daraus sind wir also berechtigt zu
schließen, daß von der ganzen Grundaristokratie Rußlands weniger als 1 "/<,
em Jahreseinkommen von mehr als 3000 Rubel Silber haben und daß
demnach der Nest selbst dieser besonders begünstigten Classe von den ihnen
vom Krieg auferlegten Opfern fast zu Boden gedrückt sein muß, wie es der
weniger bemittelte Bürgerstand in England sein würde, wenn hier dieselben
Verhältnisse bestünden. Die armen Leibeignen selbst aber müssen einer Noth
und einer Entbehrung verfallen, die fast zu schrecklich zu denken ist. Und diese
Leiden müssen in einer gleichen oder fast gleichen Ausdehnung von den kleinen
freien Bauern getragen werden, die nicht weniger zahlreich sind, als die Leib¬
eignen und denen wir jetzt noch einige Worte widmen wollen, da sonst unsere
Einsicht in die materielle Lage der grundbesitzenden Classen Rußlands sehr
unvollständig sein würde.
Nach einem Bericht des russischen Domänenministeriums von 1819 um¬
faßten damals die Kronländereicn die ungeheure Bodenfläche von nicht weniger
als 79,169,100 Dessätinen. Davon bestanden 34,000,000 Dessätinen aus mehr
oder weniger productiven Boden — Acker-, Wiese- und Weideland — und
waren unter eine männliche Bevölkerung von 9,333,516 Köpfen vertheilt. Die
Regierung hat immer die Politik verfolgt, die Ablösung der Troika mit Geld
oder Bodenproducten zu begünstigen; dies ist bereits mit fast 8,000,000 Kron¬
bauern geschehen, obgleich im Jahre 1819 in den Gouvernements Minsk,
Kowno, Liefland, Esthland, Kurland, Grodno, Wilna, Mohilew, Kiew, Witebsk,
Volhynien und Podolien immer noch 927,268 übrig waren, die Frohndienst
leisteten. Diese letzteren vermindern sich jedoch fortwährend und die Zahl der
freien Bauern nimmt entsprechend zu, ein Proceß, der durch eine andere, für
Rußland charakteristische Einrichtung beschleunigt wird, nämlich durch die Er¬
richtung von Hypothekenbanken seitens der Regierung, die Geld zu 5 ^ aus-
leihen. Der ursprüngliche Zweck dieser Anstalten ist, dem geldbedürftigen
Grundbesitzer die zur Bodenverbesserung nöthigen Capitalien vorzuschießen;
aber die Neigung der russischen Großen zu einem verschwenderischen Leben
verleitet sie sehr oft, in Se. Petersburg das Geld zu vergeuden, das sie auf
ihre Güter in Taurien oder Saratow geborgt haben. Die Folge davon ist,
daß die Hypothek verfällt, die Krone Besitz von den Gütern des Verschwenders
ergreift, die Leibeignen frei gibt und sie als freie Bauern auf Kronländereien
ansiedelt. Die Capitalien der Bank rühren von Depositen von Privatpersonen
her, die unter Garantie des Staates und gegen 1 "/<> Zinsen schon bei sehr
kleinen Summen ihre Ersparnisse in die Leihkasse niederlegen. So beutet der
Zar die Sparsamkeit der einen Classe seiner Unterthanen und den Leichtsinn
der andern für sich aus, vereinigt allmälig allen Grundbesitz des Landes in
seiner Hand und untergräbt die Macht deS hohen Adels, dessen Vorfahren
den seinigen fast gleichstanden. „Die alten russischen Familien", sagt Harrison,
„sind fast alle aus der Gesellschaft verschwunden und die reichen Leute von
heute entstammen der Classe der Regierungsbeamten."
Die innern Zustände eines Landes wie Nußlanv müssen seinen Nachbarn
immer ein Gegenstand des Interesses sein, das manchmal sogar den Charakter
der Besorgniß angenommen hat. Seit Peter dem Großen hat die Regierung
eine stetige Neigung gezeigt, ihre Macht zu erweitern und ihre Functionen zu
vervielfältigen. Die Keime des Fortschritts, die selbst in den niedrigsten Formen
der Gesellschaft vorhanden sind und die unter dem Einfluß eines unbehinderten
Handelsverkehrs mit dem civilisirten Europa in Rußland wie anderwärts eine
freie Municipalverfassung und durch sie einen vernünftigen Geist der Freiheit
ins Dasein gerufen haben würden, wurden anfangs unnatürlich gezeitigt und
sind jetzt auf dem besten Wege ganz erstickt zu werden. Nikolaus führte keinen
erbittertem Krieg gegen Zeitungen, als Peter gegen die altrussischen Bärte;
und der russische Edelmann von heute gibt ebenso ungern die Aussicht auf
den Genuß der Verfeinerungen von Paris aus, wie sein Urgroßvater die rohen
Sitten, das Branntweintrinken und das Barbarenthum, in welchem er seine
Jugend verlebte. Aber es ist gefährlich, ein ganzes Volk an das Gängelbanv
zu nehmen, um es zu civilisiren; gefährlich für den Staat, wenn der eiserne
Griff des Herrn nachläßt, gefährlich für andere Staaten, wenn es nicht ge¬
schieht. Wie sich die Beziehungen zu den Nachbarstaaten vervielfältigen, der
Reichthum zunimmt und neue Gedanken und Begriffe in die vorher bewegungs¬
lose Masse verpflanzt werden, nimmt die Gefahr zu und der Regent muß end¬
lich wählen, ob er seinen Unterthanen aufrichtiges oder gar kein Vertrauen
schenken will; ob er die moralische Bürgschaft treuer Herzen und aufgeklärter
Köpfe oder die materielle Bürgschaft unverantwortlicher Beamten und einer
geheimen Polizei haben will. Der vorige Zar erkannte das Dilemma klar
und traf die Wahl, welche seinem feurigen Charakter am meisten entsprach-
Er fürchtete sich davor, sein Volk wohlhabend und glücklich werden zu lassen,
scheute aber nicht zurück, mit eigner Hand alles im Inlands und im Aus¬
lande zu erdrücken, was dazu hätte führen können. In einem solchen Falle
ist eine Agressivpolitik gegen das Ausland eine fast nothwendige Ergänzung
einer Politik des Mißtrauens im Innern; und selbst wenn Fürst Menschikoff
nie in Konstantinopel aufgetreten wäre, so hätte doch der Kampf zwischen dem
Zaren und dem civilistrten Europa nicht viel länger Aufschub gelitten. An
dem Ausgange dieses Kampfes zu zweifeln, hieße an der Sache des Fortschritts
der Menschheit zweifeln. Vor den Opfern und Entbehrungen zurückzuschrecken,
welche dieser Kampf verlangt, hieße mit der Bezahlung der Versicherung gegen
eine Feuersbrunst geizen, welche alles, waS einem sittlich gebildeten Menschen
das Leben wünschenswerth und nur erträglich macht, gänzlich und unwider-
bringlich zu verzehren droht.
Wenn dieser Brief Sie erreicht haben wird, werden die zwölf Monate seit
der Einschiffung der englisch-französischen Truppen zu der seither so resultatlos
gebliebenen Krimerpedition nahezu voll sein. Die Wiederkehr dieses Datums
regt zu Betrachtungen an, die für denjenigen, welcher in diesem Kriege
mit den Verbündeten Partei ergriffen hat, nicht eben sehr erhebend sind. Man
fühlt sich gedrungen, noch einmal die ganze Summe der begangenen Fehler
Revue passiren zu lassen und dem Gedanken Raum zu geben, wie alles so
ganz anders gekommen sein würde, wenn von Anfang an eine feste und er¬
fahrene Hand die Leitung des Ganzen ergriffen hätte. Wenn man das Ziel
seither verfehlte, so lag das wahrlich nicht in den Verhältnissen, sondern einzig
und allein in den Führern der Unternehmung. Im Gegentheil, die Verhält¬
nisse waren einem raschen und entscheidenden Gelingen wunderbar günstig und
Zwar nicht allein in Bezug auf den Krieg in Taurien, sondern im ganzen
Südosten.
Den russischen Feldherrn muß man das Zugeständniß machen, daß sie
entschieden unter schwierigen, die alliirten dagegen unter ihren Zwecken hilf¬
reichen Umständen zu agiren hatten. Man wolle zunächst bedenken, was es
für Vortheile für die verbündeten Waffen sicherte, daß der Pontus, den die
westmächtlichen Flotten von Anfang an beherrscht haben, ihnen zu einem
Raume der beschleunigten Bewegung und zwar vom äußersten Kriegstheater bei
Batna an bis zur Mündung der Donau und zu dem Hauptbasispunkte Stam-
bul hin wurde, der sie in den Stand setzte, Dislokationen von dem einen
Schauplätze zu dem andern in ebensoviel Tagen zu vollziehen, als der Gegner
dazu Wochen gebraucht haben würde. Wenn es irgendein großes Verhältniß
gab, aus welches der ganze Kriegsplan gestützt werden konnte, so war es
dieses. Aber man hat, was bei zwei Mächten, wie Frankreich und England,
mehr als bei andern überraschen darf, durchaus verabsäumt, den maritimen
Bewegungsmitteln eine Organisation zu geben, die es möglich gemacht hätte, aus
der eben berichteten Sachlage Nutzen zu ziehen. Unsrer Ansicht nach mußte
in dieser Hinsicht unter zu Grundelegung einer großartigen Methode verfahren
werden. Die Dampfschiffe, davon man mehre hundert von Privatgesellschaften
zum Transportdienst gemiethet, mußten in Gemeinschaft mit den zu demselben
Zweck bestimmten Staatssteamern in zwei große Hauptmassen eingetheilt wer¬
den, von denen der einen die Unterstützung der Operationen im Pontus selbst,
der andern der Truppentransport zwischen Frankreich und England beschieden
gewesen sein würde. Wenn man aus die geringfügigen Resultate schaut, welche
die Blockade an der Ostsee zuwege gebracht hat, so kann man auch keinen
Zweifel mehr darüber hegen, daß es angemessener gewesen sein dürfte, minde¬
stens einen Theil jener „hundert Wimpel" zum Transportdienst im Orient zu
verwenden, anstatt im baltischen Meere.
Ich zweifle nicht, daß es bei einiger Energie möglich gewesen sein würde,
hundert Dampfer im schwarzen Meer zu einer großen Transportflotte für die
operirende Armee zu vereinigen, daß man, anstatt mit gegen zwanzig armirten
Linienschiffen vor Sebastopol Wacht zu halten, in dessen Hafen nur vier Zwei¬
decker liegen, besser gethan haben würde, fünfzehn davon den <zu linke aus«
gerüsteten zuzutheilen, um so aus britischen und französischen Zwei- und Drei-
deckern eine große Flotte für die Nachschübe formiren zu können, welche, fünf
bis sechs Divisionen von je sechs Schiffen stark, im Stande gewesen sein würde,
ebensoviele Armeedivisionen auf den Kriegsschauplatz zu führen. Die für die
großen Operationen bestimmte Tranöportflotte würde es möglich gemacht haben,
eine große Armee je nach Belieben nach den Donaumündungen, nach Batna,
nach der Krim oder nach Trapezunt zu werfen. Keine Conception des Feindes
wäre möglich gewesen, ohne auf diese Weise durchkreuzt zu werden. Man
würde stets da aus ihn gefallen sein, wo er momentan sich schwach erwiesen
und in diese Kategorie würden alle Punkte hineingehört haben von Batna bis
Ismail, denn man ist nirgends stark, wenn man mehre hundert Meilen See¬
grenze zugleich zu vertheidigen hat.
Diese Kriegführung, welche eine tüchtige Organisation der für die Opera¬
tionen bestimmten Transportflotte als Erstes forderte, hätte einen organisirten
Munitivns-, Lazarett)-, Verpflegungs- und Bagagetrain als Zweites verlangt.
Zu "dem Ende bedürfte es kaum eines weiteren als 20—25,000 Stück Pack¬
pferde. Wenn man erwägt, daß von einzelnen der größten Steamer und
Klipper bis zu tausend Stück Pferde an Bord genommen worden sind, wird
man nicht eben den Einwand erheben, ein solcher Transport liege außerhalb
der Grenzen des Möglichen. Mit Hilfe dieser Trains war man dann beweg¬
lich und man konnte, unabhängig von der Küste, die Entscheidung mehre
Märsche weit im Innern suchen, wenn die strategischen Verhältnisse es er¬
heischten. Daß man dies in den Septembertagen des vergangenen Jahres i«
der Krim nicht vermochte, ist entscheidend für die dortige Unternehmung gewor¬
den. Sie war eine auf die Ueberraschung angelegte und bedürfte als solche
mehr als alles andere einer schnellen Durchführung. Könnte man Menschikoff
umgehen und nach Sebastopol werfen, konnte man ihn bis Perekop oder ins
Meer drängen, so kam zuverlässig alles anders.
In den letzten Tagen würde man im Stande gewesen sein, eine, wenn
auch nur demonstrative Unternehmung über Batna oder Trapezunt zur
Ausführung zu bringen und wenn auch nicht Kars, so mindestens doch Erzerum
Luft zu verschaffen, wenn man Transportflotte und Trains in der eben gefor¬
derten Form besäße. Je fester ich überzeugt bin, daß die jetzigen Mißgeschicke,
oder besser zu sagen Mißerfolge, nur eine Konsequenz des gerügten Mangels
sind, umsomehr erwarte ich von dem nächsten Jahre, falls man dem letztern
abhilft.
— Der Bairamszug des Sultans.
In der fränkischen Bevölkerung dieser großen Metropole überwiegt in diesem Augen¬
blick das Interesse an den großen Vorgängen in der Krim dermaßen jedes andere,
daß daneben kaum hiesige Ereignisse Berücksichtigung finden würden. Anders unter
den Türken, die seit gestern Abend durch ihr Kurven-Bairamfest durchaus in Anspruch
genommen worden sind. In diesen Festtagen, die vor vierundzwanzig Stunden
.begonnen und bis Sonnabend währen werden, soll jeder Muselmann, der die
Kosten dazu erschwingen kann, einen Hammel schlachten, daher die tausende von
wohlgemästeten Schafen, die man während der letzten Woche auf allen Haupt¬
straßen Konstantinopels einherziehen sah. Am ersten Vairamtage hält der Sultan
einen feierlichen Aufzug vom alten Serail zur Moschee, über den heutigen At-Mei-
dan oder Pferdemarkt hinweg, den einzigen großen Platz Stambuls und denselben,
welchen man ehedem, unter den Konstantinen, den Hippodrom nannte. Dieser
Galaritt fand heute in der frühesten Morgenstunde zwischen fünf und sechs Uhr
statt. Ihr Berichterstatter war schon um vier Uhr von seiner Wohnung aufge¬
brochen, um das Schauspiel mit anzusehen. Während in Deutschland um diese
Stunde die Dämmerung bereits zu leuchten beginnt, lagen hier die Straßen noch
fenster da und boten bei dem Mangel einer jeden Beleuchtung eine ziemlich schwie¬
rige Passage. Als ich deu Eingang des Thores von Galata erreicht hatte, machte
sich der Menschenstrom schon bemerkbar, welcher sich dem eigentlichen Stambul aus
Anlaß der zu erwartenden Schaustellung heute so früh schon zuwälzte. An der
neuen Brücke endlich, die zunächst seewärts über den Hasen läuft, wurde der Himmel
lichter, und drüben in den Straßen der Dreiccksstadt ließen sich schon die näheren
und ferneren Gegenstände unterscheiden. Das Mcnschengetümmel um mich her
wuchs. Endlich hatte ich den Serail, öder vielmehr seine alte von Epheu um¬
rankte Mauer und endlich den At-Meidan erreicht. Ihre Leser kennen muthmaßlich
den Platz bereits aus irgend einer Beschreibung. Er bildet ein längliches Viereck
Und dehnt sich in der Verlängerung der Linie vom Serail zur Sophienmoschee aus,
nach meiner Schätzung in einer Länge von etwa sechshundert Schritt. Beide Lang-
seiten des Platzes waren von Gardetruppen eingefaßt, so daß in ihrer Mitte ein
Raum frei blieb, der einem Bataillon gestattet haben würde, in Front darüber
hin zu marschiren. Es war noch kein höherer Pascha zur Stelle. Endlich kam
eine Gruppe zu Fuß, vom anderen Ende des At-Meidan, meinem Aufstellungspunkt
näher. Es war Omer Pascha, der Serdar Ekräm mit seineu Adjutanten. Mir
fiel auf, daß er im Volke nicht gekannt wurde, und links, rechts und hinter mir
Türken und Araber, Armenier und Griechen sich in Vermuthungen darüber er¬
gingen, wer er sein möge. Er trug einen, da wo er nicht mit Goldstickerei bedeckt
war, ius Grüne schimmernden Rock. Sein Bart war noch viel weißer geworden,
als er mir im vergangenen Jahre an der Donau erschienen; außerdem schien es
mir, als sei der Generalissimus bedeutend abgemagert. Aus seinen Ruf wurde ihm
ein prächtig angeschirrtes Pferd gebracht, welches er bestieg, um in der Richtung
nach der Sophienmoschee unter der Menge der Arabas (Wagen) zu verschwinden.
Hiernach verging eine sehr einförmige Viertelstunde. Plötzlich ertönte ein türkisches
Commando; die Truppen nahmen das Gewehr aus — kein Aufrichten fand statt'—
die Trommel schlug und es wurde das Gewehr präsentirt, während vom Serail
her einige Reiter erschienen. Es waren Herolde. Auf dem Kopfe trugen sie hohe
rothsammetne Fez, mit einer lang und stattlich hernicderhängenden goldenen Quaste.
Der übrige Anzug war ebenfalls roth. Dicht hinter den Herolden erschienen die
vornehmsten Paschen, einzeln zu Pferde und umgeben vou ihren Dienern. Sie
ähnelten in diesem Aufzuge den großen Vasallen, die, von Knappen und Knechten
umgeben, gekommen sind, einem Höheren die Huldigung darzubringen, wie denn
in dem Ganzen ein starker feudaler Zug ausgesprochen lag. Die Minister wurden,
außer von ihren Dienern, ein jeder auch von einer kleinen Schützenwachc, bestehend
aus zwei bis vier Manu, geleitet. Unter diesen Großen des Reiches trat Omer
Pascha immerhin ziemlich unscheinbar auf. Viel Glanz umgab die Paschen der alt-
türkischen-Partei, zumal Mehemmed Ali, den kaiserlichen Schwager. Dagegen erschien
der Großvczier Aali Pascha ziemlich einfach. Reschid Pascha ist mir durch nichts
Besonderes aufgefallen. Endlich rauschte es in der Menge und die Köpfe reckten
sich hörbar und sichtbar empor; fünfzehn bis zwanzig stattliche Pferde erschienen,
von Dienern geführt, sodann Musik, und gleich darauf der Kaiser, Sultan Abdul
Medschid selbst, umgeben von seinem ganzen männlichen Hofstaat, er, unter so-
vielen von Gold und Perlen strotzenden Würdenträgern der einzige Einfache, im
neuen Paletot, aber aus dem Haupt den Fez mit der Reiherfeder und mit su»-
kelnder Diamantagraffe. Brillanten funkelten auch in Ueberfülle auf dem Geschirr
und der Schabracke seines Rosses. Er sah, ich es kann nicht leugnen, ungeachtet sei¬
ner etwas gedrückten Haltung dennoch wie der vornehmste aus unter allen, und
die Leichenblässe seiner Züge schien dies Mal deren feinen Ausdruck noch zu
heben. Unmittelbar hinter dem Gefolge des Sultans schritt eine Trabantengarde
daher, im besonders auffallenden Costüm, deren Kopfputz ich möchte sagen an den
der Indianer in Amerika erinnerte. Bei aller Pracht, welche der Zug zur Schau
stellte, machte er dennoch nicht im mindesten den Eindruck von Eleganz. Mir
scheint, daß er in dieser Hinsicht von jeder berliner oder Potsdamer Parade über-
troffen wird. — Ich konnte es nicht über mich gewinnen, die Rückkehr des Suk-
tans aus der Moschee (im Türkischen Dschami) zu erwarten, sondern trat sofort den
Rückweg an.
nachträgliches zur Geschichte der Schlacht vom
16. August an der Tscheruaja. Durch die übereinstimmenden Erzählungen
von Augenzeugen, die dem Treffen vom -16. März beiwohnten oder mindestens aus
nicht allzu weiter Entfernung seinen Verlauf und einzelne Züge desselben im Be¬
sondern beobachten konnten, ist man nunmehr hier in den Stand gesetzt, über den
wichtigen Tag mit einer gewissen Bestimmtheit urtheilen und die gegenseitigen
Leistungen richtiger abschätzen zu können, wie dies bis dahin der Fall gewesen war.
Der Besitz solcher zuverlässiger Angaben war um so wünsch-nswerther, als officielle
Berichte, und zwar die russischen wie die französischen, ihrer Natur, Bestimmung
und den Verhältnissen nach von einer mehr oder weniger den wahren Zusammen¬
hang der Thatsachen verdunkelnden Parteilichkeit selten frei sind, ja nicht frei
sein können und auch die Darstellungen der hier erscheinenden halbofficiellen
Blätter aus auf der Hand liegenden Gründen durchaus in diese Kategorie hinein¬
fallen.
Lassen Sie mich hier zunächst ein Factum feststellen, welches auf Grund der
besagten Berichte und Darstellungen möglicherweise bezweifelt werden könnte: die
russische Infanterie und Artillerie hat in dieser Affaire durchaus ihre Schuldigkeit
gethan. „Man kann," äußerte neulich ein höherer, aus der Krim vor vier
Tage» zurückgekommener Offizier, „möglicherweise hier und da ein Fußvolk finden,
welches ebenso tapfer wie das russische sein wird, jedenfalls können Sardinier und
Franzosen dieses Verdienst für sich ansprechen ..... aber tapferer kann man
»icht sein. Außerdem find die Russen in der Kunst, ihre taktische Formation im
Gefecht, mitten unter den Schlägen der Artillerie und unter dem Spitzkugclhagel
ihrer Gegner zu bewahren/ unter allen Umständen den letztgenannten Truppe»
überlegen, wenn nicht überhaupt unerreicht von jedwedem Heere. Man denke sich
ihre Bataillone im Anrücken — schon der Anblick ist imponirend! es ist dies eine
ruhige, gleichmäßige, in keinem Augenblick stockende, scheinbar von nichts aufzuhal¬
tende Bewegung, die nicht minder den Ausdruck überwältigender Kraft in sich trägt,
wenn auch der französische <:>-in, das romanische Ungestüm und das ritterliche Feuer
ihr fehlen. Was man vor sich sieht, ist nur Masse — ein Collectivwescn — aus dessen
zauberischer Einheit heraus keine That des Individuums vorbricht, weil das untrenn¬
bare Band, welches alle einigt, solche Loslösung nicht gestattet. Unter Trommelschlag
rückt die russische Colonne heran; die breiten Gassen, welche der Kartätschcnhagel
reißt und die engern, aber bis in die letzten Glieder spaltend eingreifenden der
Paßkugeln füllen sich sogleich wieder; kein Stutzen wird sichtbar! In diesem dicht¬
gedrängten Haufen regt sich das unverwüstliche Leben der Hyder mit hundert und
aberhundert Häuptern. Alle Offiziere, vom Hauptmann aufwärts, bemerkt man
anfangs zu Pferde. Sie find allerdings ein jeder in die weiten Soldatenmäntel
eingehüllt und ähneln durchaus ihren Truppen . . . aber das Berittensein macht
sie kenntlich genug für die Schützen; diese zielen zuerst nur auf ste, mau sieht
Roß und Mann stürzen — die vordersten Führer find gefallen und über sie hin
schreitet der Marsch vor, weil kein Interregnum im Commando existirt, es keinen
Unterschied ausmacht, wer führt, und auch unter den Offizieren das einzelne Indivi¬
duum weit zurücktritt, die Masse selbst aber sich nur vom abstracten Befehl be¬
wegen laßt, dagegen kein Befehlshaber vorzugsweise Gewalt über sie ausübt." Das
etwa war der Eindruck, den das Vorbrechen der russischen Truppen über die Brücke
von Traktir, beim mehrmaligen Hin- und Herwogen auf den erwähnten diesseitigen
Zuschauer machte.' In zweiter Linie war eine Wasserleitung zu überschreiten. Die
geschlossene Masse warf sich, ohne einen Moment zu wanken, in die Flut, die bis
unter die Arme reichte; darnach ging es den ziemlich steilen Hang des nächsten
Hügels hinan und hier wäre eine wichtige Position für die Franzosen vielleicht
dauernd verloren gewesen, wenn nicht in diesem Augenblick die Zuaven, wie sie
aus ihren Zelten hervortraten, zum Theil nicht vollständig bekleidet, sich der stür¬
menden Masse entgegengeworfen hätten. Der undichten Formation ungeachtet war
der Stoß dieses Gegenangriffs dermaßen heftig, daß die Russen zuerst zum Stehen
und sodann zum Weichen gebracht wurden. Die Flut, welche sich zunächst gestaut
hatte, wogte nach rückwärts. Vergebens suchten Offiziere und Unteroffiziere aw
Fuße des Abhangs einen Halt zu gewinnen; das Gefüge, die krystallinische For¬
mation war gebrochen und ein für alle Mal jedes Widerstehen unmöglich; denn der
russische Soldat vermag nichts, wenn er nicht Schulter an Schulter und Mann
hinter Mann steht. Aber schon sind neue, frische Bataillone aus der Reserve vom
andern Ufer her in Anmarsch. Ihr Trommelwirbel erschallt; sie schreiten über die
Brücke; an der Töte derselben erfolgt der Zusammenstoß mit dem Rückstau der
Flüchtigen des ersten Treffens. Man glaubt diesseits einen Augenblick, hoffen zu
dürfen, daß die frischen und die geschlagenen Truppen sich untereinander vermischen
werden; aber nur eben diesen Augenblick lang erscheint die Fronte der Re¬
serve bedeckt und wie in Verwirrung; gleich darnach aber schreitet sie frei und
scharf gerichtet aus der formlosen, wogenden Masse heraus, als wenn sie sich zu
Se. Petersburg vor dem Winterpalais zu bewegen gehabt hätte. Sie drängt
langsam, aber unwiderstehlich vorwärts; die Zuaven in ihrer gelichteten, aUfgelocker«
ten Formation haben nicht die Kraft, diesem massiven Keil zu widerstehen, der
letztlich denselben Weg verfolgt, welchen die ersten Bataillone genommen und ziem¬
lich bis zu derselben Stelle gelangt, wo diese Umkehr gemacht. Da wird das
französische Feuer überwältigend. Es ist keine Metapher mehr in heutiger Zeit,
bei Schilderung derartiger Schlachtmomente von Kugelhagel zu reden; die Geschosse
regnen thatsächlich und brechen jede, auch mit russischem Stumpfsinn und russische
Opfcrfähigkeit aufrecht erhaltene Formation! Neues Stocken nun und sodalin der
feurige Anprall des funfzigsten und siebenundnennzigsten französischen Linienregi'
neues auf die wankende Schar. Das Gewehr wird von da ab nur noch gebraucht,
insofern es ein Bajonett hat. Es gab eine Zeit, wo man ein derartiges Ringen,
Mann gegen Mann für einen ausnahmsweisen Fall in den neuern Kriegen erachtete;
hier kehrt es bei jedem Zusammenstoß wieder und die Actionett werden nicht ohne
diesen Einfluß erstaunlich blutig.
Ihren Lesern wird nicht entgangen sein, daß die eben hiermit gegebene
Schilderung der Fechtart, Haltung und Leistungsfähigkeit der russische» Infanterie
nicht in jeder Hinsicht mit dem Bilde übereinstimmt, welches ich Ihnen bei einer
früheren Gelegenheit (man wird sich vielleicht des Aufsatzes „die vier Armeen in
der Krim" erinnern) von derselben gegeben habe. Es ist nicht meine Sache ein¬
zelne Widersprüche zu vereinigen, weil ich in beiden Fällen, heute wie damals, nicht
als Selbstzeuge, sondern nach mir von andern gemachten Mittheilungen berichte;
indeß kann ich nicht umhin, darauf aufmerksam zu Machen, daß ein und dieselbe
Truppe sich nicht selten von sehr verschiedenem Leistungsvermögen erwies, je nachdem
die Umstände mehr oder weniger ihr günstig waren, und vorausgegangene Ereignisse
aufrichtend oder niederschlagend auf ihre StimmNng eingewirkt hatten. Die Russen
an der Donau waren, wie es scheint, in ihrer Gefechtshaltung wesentlich von denen
in der Krim verschieden, wiewol dort zum Theil dieselben Leute gekämpst haben,
wie hier.
In der Schlacht am 16. (an der TscherNaja) war im Allgemeinen die russische
Artillerie, die bei JNkerman so Großes geleistet, nicht ausgezeichnet; indeß Machte
eine reitende Batterie eine Ausnahme davon; sie erwarb sich die Bewunderung von
Freund und Feind, und zwar iniponirteN ihre blitzesschneller und verwegenen Be¬
wegungen diesseits dermaßen, daß Unter den französischen Kanonieren der im Fetter
stehenden Artillerie, jedenfalls einem competenten Zuschauerhaufen, das bezeichnende
Wort umlief: sie habe der Teufel geführt. Matt sah die Geschütze die
Tschernaja auf einer Schanzkorbbrücke vasstreN, ehe dieselbe Noch ganz vollendet war,
Mit derselben Behendigkeit überschritt sie die Wasserleitung und nahm Aufstellung
diesseits derselben, und zwar dermaßen vom Terrain gedeckt, daß der französische
General Morris, dem der Generalissimus (Pelissier) den Befehl zugehen ließ, sie
mit seiner Cavalerie zu attakiren, sich weigerte denselben auszuführen, weil er nicht
sicher sei, eine einzige Schwadron heranzubringen. Er wurde dafür seines Kom¬
mandos über das bis zur Tschernaja vorgeschobene Corps entsetzt, aber verschiedene
Cavalericoffiziere, welche die Bodenbeschaffenheit des fraglichen Punktes kennen, sind
entschieden der Ansicht, daß et sich im Recht befunden, und daß das, was General
Pelissier von ihm gefordert, Unausführbar gewesen sei.
Ich habe hier die Leistungen der russischen Truppen in der Tschernajaschlacht
absichtlich zUM Hauptgegenstand der Besprechung gemacht, weil es in Deutschland
immer wieder aufs neue «oth thut, ans die furchtbaren Äittel hinzuweisen, die uns¬
rem kolossalen Nachbarreiche für stille später zu realisireuden EroberungSgedanken
im Herzen des Welttheils zur Verfügung stehen. Gegenüber den eben angeführten
Thatsachen zerfällt die Behauptung in Staub, daß Rußland eine Nicht zu fürchtende
Macht sei, weit sie wol türkische. Nicht aber europäische Heere erfolgreich bekämpfen
könne.
Von den Franzosen ist in Rücksicht auf die Schlacht wenig zu sagen. Ihre
Infanterie hat sich zu allen Zeiten als eine der ersten der Welt erwiesen, die
in vielen Eigenschaften unerreicht ist, und voraussichtlich bleiben wird. Ein be¬
sonderes Verdienst erwarb sich die Artillerie; indeß muß zugestanden werden, daß die
sardinische besser schoß. Was ich über diese letztere und ihre Leistungen hier höre,
streift fast ans Fabelhafte. Polnische Offiziere, welche als Beobachter aus der
Nähe erzählen, wollen versichern köNNett, daß sie nicht einen Fehlschuß bemerkten.
Die VerschanzupgeN, weiche die beiden Brücken beim Trüktir (Wirthshaus)
und bei Tschorguna deckten, scheinen sehr leichtsinnig und unzweckmäßig, mit unzu¬
reichender ProfilMrke und ohne Zuhilfenahme tüchtiger Hindernißmittel angelegt
worden zu sein, ein Vorwurf, der sich leider bereits vielfach wiederholt hat, wie
leicht er auch zu vermeiden gewesen sein würde.
—Brand des englischen Hospitals zu Skutari. In
der letzten Hälfte der letztvergangenen Nacht war von meinen, dem Bosporus und der
Marmorasee zugewendeten Fenstern ein Schauspiel zu beobachten, wie es großartiger
und furchtbarer Saum der Brand der großen Militärschule im März d. I. dargeboten.
Infolge irgendwelcher Unvorsichtigkeit, oder möglicherweise durch Böswilligkeit, war
die große Kaserne , welche auf der Höhe von Halber-Pascha, auf der asiatischen
Seite der Meerenge, nicht weit von den britischen Baracken, gelegen ist und von
den Engländern als großes Hospital benutzt wird, in Brand gerathen. Ein frischer
Nordwind hatte sichtlich die Ausbreitung des Feuers gleich anfangs begünstigt, und
so geschah es, daß dasselbe sich über das weite Gebäude ausgedehnt hatte, bevor
an seine Bekämpfung gedacht werden konnte. Ich bin bis zur Stunde noch un-
untcrrichtet darüber, ob das Lazareth stark mit Verwundeten und Kranken belegt
war; desgleichen weiß ich nicht, ob dieselben sämmtlich gerettet worden sind. Meine
Wohnung ist zu weit von der Stätte des Unglücks entlegen, als daß es mir auch
mit einem leidlich guten Fernrohr möglich gewesen wäre, etwas Bestimmtes in
dieser Hinsicht zu unterscheiden. Das Schauspiel aber war von meinem Stand¬
orte aus in seiner ganzen Größe zu überschauen. Denken Sie sich einen Raum,
der vom Meere aus sich über tausend Schritt ausdehnte, erfüllt mit Flammen und
Dampf; bald standen die Flammen in leuchtender, ungetheilter Fronte aufrecht wie
eine Wand, bald jagte ein Windstoß sie auseinander und ließ gleich darauf hohe,
flackernde Säulen aufsteigen. Die Nauchmassen darüber waren bis in ihr Inneres
durchleuchtet von der Glut, und ohne Unterlaß stäubten, wie Wolken strahlender
Leuchtkugeln und Raketen, sprühende Funkengarben von dem lohenden Herde auf,
um erst weit von demselben entfernt als Feuerregen niederzufallen.
Wie Sie voraussetzen können, hatte der Vorfall zahlreiche Kräfte in Bewegung
gesetzt. Außer einer londoner Löschcompagnie, welche, wenn ich nicht irre, bei dem
Gebäude selbst im Quartier lag, waren schnell zahlreiche Löschdetaschements von
den im Bosporus gelegenen englischen Kriegsschiffen, wie auch von den französischen
zur Stelle; türkische Spritzenleute und die Wachmannschaften der nahe gelegenen
Baracken leisteten anderweitige Hilfe. Wenn sämmtliche Kranke und Verwundete
gerettet sein sollten, wird man es der allgemeinen Rührigkeit und Aufopferung,
welche sich kund gegeben, zu danken haben.
Zunächst ist dies alles, was ich in diesem Briefe über den Brand zu berichten
im Stande bin; in meinem nächsten Schreiben hoffe ich Ihnen Details geben zu
können. Voraussichtlich wird das Ereigniß nicht ermangeln, viel von sich reden zu
machen.
-— Man zerbricht sich hier vergebens darüber den Kopf,
was aus den Truppenmassen geworden sein mag, von denen man zu Anfang dieses
Monats d. h. vor etwa vier Wochen in den allerbestinnntesten Ausdrücken hörte,
daß sie in Toulon und Marseille zur Einschiffung bereit ständen und nach vierzehn
Tagen auf dem Kriegsschauplatze der Krim erwartet werden könnten. Allerdings
sind in der Zwischenzeit mancherlei englische und Transportschiffe durch den Bos¬
porus passirt, aber sie hatten nur ausnahmsweise Mannschaften für die verbündete
Armee und in solchen Fällen auch stets nur auffallend wenig an Bord, dergestalt,
daß man durchaus nicht vermuthen kann, die eben erwähnten Massen seien un¬
bemerkt und ohne in Konstantinopel Rast zu machen, befördert wordeu.
Der Eindruck, den diese Langsamkeit, oder je nachdem die Sache sich verhält,
dieses Schwanken in den getroffenen Maßregeln hervorruft, ist peinlich genug. Wenn
in irgendeinem Staate und namentlich zur heutigen Stunde, die doppelte Möglich¬
keit: eine große Truppenmassc zu concentriren und sie über See transportiren zu
lassen, in weiteren Umfange vorhanden ist, so dürste dies Frankreich sein. Was
es indeß bis jetzt in dieser Hinsicht geleistet, erscheint beinahe wie eine Ironie auf
das, was es leisten könnte. Vor allem ist nicht abzusehen, warum, nachdem
man zu einer längeren Wetterführung des Kriegs entschlossen ist, noch immer keine
dem bestehenden Bedürfniß entsprechende Transportflotte organisirt wird. Das
Material dazu hat Frankreich in Fülle und wenn dem auch nicht so wäre, würde
England im Stande und jedenfalls auch bereit sein, das etwaige Minus sofort zu
decken.
Die Tagesneuigkeiten, über welche ich Ihnen heute zu berichten habe, sind
eben nicht von großer Bedeutung. Was am meisten besprochen wird, ist der große
Brand in Kadikoj, während der zweiten Hälfte der Nacht vom 26. zum 27. August,
der aber zum Glück das englische Hospital verschonte. Das Feuer kam bei einem
griechischen Banquier, Namens Janko, aus, und zerstörte in weniger als fünf Stun¬
den 22V zum Theil massive und große Wohnhäuser, außerdem viele Ställe,
Boutiken und Buden, eine Moschee, eine Kirche und eine Schule. Ich besuchte
am nachfolgenden Tage (Montag) die Brandstätte; sie lag noch dampfend da, und
zwischen den Trümmerhaufen zuckten ans dem zerborstenen und rauchgeschwärzten
Gebälk noch unablässig die Flammen. Engliche Soldaten, die sich beim Löschen
in der vorausgegangenen Nacht sehr ausgezeichnet hatten, promenirten auf dem
Schauplatz ihrer Thaten. Einen kläglichen Anblick bot ein reizender, einem reichen
armenischen Kaufmann gehöriger Garten dar. Die Blumen und Sträucher waren
fast alle versengt. An den Orangenbäumen hingen die Früchte halb gebraten. —
Wenn man dem Journal de Constantinople Glauben beimessen darf, sind sehr
zufriedenstellende Nachrichten aus Teheran (Persien) hier eingegangen. Indeß
scheinen dieselben wesentlich nur die Gewähr zu bieten, daß der Schah in der Neu¬
tralität zwischen Nußland und den verbündeten Mächten verharren wird. Ich er¬
wähne dabei, daß der hiesige persische Gesandte, Mirsa Achmed Khan neulich eine
längere Konferenz mit dem Pfortenminister der auswärtigen Angelegenheiten Fuad
Pascha hatte.
Deutsche Classiker. Einleitungsband. Enthaltend: Die Lehre von.
den Formen und Gattungen der deutschen Dichtkunst. Von or. E. Kleinpaul ze.
Sorgsam verbesserte und erweiterte dritte Auflage. Erste und zweite Lieferung.
Barmer, W. Langewiesche. — Die Ausgabe des Buchs ist, möglichst populär, kurz
und gedrängt die in der Poetik vorkommenden Begriffe zu erläutern. —
Deutscher Mentor. Humoristischer Versuch einer Philosophie über den
Umgang mit der Welt. Von C. I. Diepenbrock. Stuttgart, Karl Göpel.—
Eine Sammlung von Aphorismen, die, wenn sie noch nicht in den Unterhaltungen
am häuslichen Herde gestanden haben, wol einen Platz darin verdienten. Nur
möchte man hin und wieder über die zu große Vorliebe für unbußfertige Magda-
lenen den Kops schütteln und die Behauptung, die sixtinische Madonna sei das
Bild einer Dirne, doch ein wenig gewagt finden.
Herr Hermann Marggraf beklagt sich in der letzten Nummer der
Blätter für literarische Unterhaltung wieder einmal über unsre unausgesetzten Ver¬
folgungen. Es ist merkwürdig: die Grenzboten haben sich nur einmal, im dritten
Quartal 1863, S. 440, über ihn ausgelassen, und zwar folgendermaßen: „In
der augsburger allgemeinen Zeitung beklagt sich Herr H. M. (Hermann Marggras?)
darüber, daß in Deutschland den Dichtern nicht jene Huldigung und Verehrung zu
Theil wird, deren sich die Dichter im Auslande erfreuen. Er findet den Haupt¬
grund dafür in dem frechen und unehrerbietigem Tadel der Grenzboten, die keine
Größe auskommen lassen. Sollte Herr Hermann Marggraf auch zu denen gehören,
die wir mit rauher Hand von dem Pfade des Ruhms zurückgehalten haben? Es
sollte uns das sehr leid thun, und es könnte nur unversehens geschehen sein, da
wir versichern können, daß wir ihn gar nicht bemerkt haben." — Seitdem hat
Herr Marggraf, um unsre Kenntniß zu suppliren, mehrmals eine ausführliche Be¬
schreibung von dem gegeben, was er für die deutsche Literatur gethan; er hat
außerdem keine Gelegenheit versäumt, seine herzliche Mißbilligung der beiden Re¬
dacteure an den Tag zu legen, mitunter aus eine höchst burleske Weise, indem er
aus dicken gelehrten Büchern, die er zu besprechen hatte, nur eine gelegentliche
Aeußerung hervorhob, die mit seinem Steckenpferd irgendwie im Zusammenhang
stand, oder indem er Privatbriese verstorbener Personen, die zufällig in seinen Be¬
sitz gekommen waren, abdrucken ließ. Wir haben indeß keine Notiz davon genom¬
men, da seine Persönlichkeit an sich schon nicht sehr anziehend ist und durch die
beständige Wuth durchaus nicht interessanter wurde. Wenn er eine gelegentliche
Bemerkung über die literarischen Markthelfer aus sich bezogen hat, so ist sie aller¬
dings an die richtige Adresse gelangt; wenn er aber daraus schließt, daß wir auch
Goethe und Humboldt unter die Markthelfer rechnen, weil sie als „Literaten"
College» von Hermann Marggraf sind, so können wir ihm nur entgegnen, was
der Schwurgerichtspräsident zu Rouen Herrn Alexander Dumas antwortete, als
dieser sich für einen Kollegen Corneilles ausgab: „Uonsieui', it ^ » lies clvArvs et»"«
toutes les ekosvs."
Als die erste Tartarenbotschast vom Fall Sebastopols anlangte, geriet!)
ganz Europa in eine Aufregung, die an die Zeit von 1848 erinnerte. Nicht
blos das gewöhnliche Publicum, sondern selbst die Cabinete wurden fortgerissen
und Glückwünsche an die siegreiche Armee der Verbündeten erfolgten selbst von
solchen Höfen, die der Form nach mit Rußland noch im Frieden waren. Jetzt
ist das große, seit einem Jahre erwartete Ereigniß endlich in der That ein¬
getreten , wenigstens in der Hauptsache ist der Zweck der Alliirten erreicht.
Das wichtigste Bollwerk der Festung ist genommen, die Flotte zerstört, der
Hafen dem Belieben der Engländer und Franzosen unterworfen und der
Nest der Festung soweit eingeschlossen, daß an einen dauernden Widerstand
kaum mehr gedacht werden kann. Dem großen russischen Reiche ist die erste
lebensgefährliche Wunde beigebracht, eine Wunde, die sobald nicht vernarben
wird; aber der große Moment findet die Gemüther nicht mehr so gespannt,
als jene verfrühte Botschaft; man hat sich daran gewöhnt, den Krieg in seinen
Details zu verfolgen und der Eindruck ist daher kein massenhafter, erschüttern¬
der mehr. Wahrend vor einem Jahre die Freude über das Resultat jede
nähere Erörterung über die Mittel ausgeschlossen hätte, kann man jetzt im
Augenblick daran denken, über das Verfahren der Verbündeten Kritik auszu¬
üben, die Größe der Mittel mit dem, waS erreicht worden ist, in Vergleich
zu stellen, Wünsche und Ideen sür die nächste Zukunft auszusprechen. Eine
vortreffliche Handhabe dazu bietet das Buch vonRüstow, dessen erste Lieferung
wir bereits mit großer Anerkennung besprochen haben.
Das dritte Heft schließt mit dem verunglückten Sturm vom 18. Juni.
Es war sür die öffentliche Meinung, die sich leicht durch äußere Eindrücke be¬
stimmen läßt, ein kritischer Moment. Wie es bei allen neuen Machthabern
zu. geschehen Pflegt, bei Staatsmännern und Feldherrn ebenso, wie bei Königen,
hatte man die Ernennung des General Pelissier mit großen Hoffnungen be¬
grüßt. Selbst die Geschichte aus seinem frühern Leben, die ein so großes
Entsetzen über seine Barbarei hervorgerufen hatte, wandte man dazu an, seine
Thatkraft zu rühmen. Man war überzeugt, daß jetzt endlich etwas geschehen
werde, nachdem die Kriegführung so lange Zeit die gerechten Erwartungen des
Publicums getäuscht hatte. Allein nach der Niederlage vom 18. Juni wandelte
sich wieder die Stimmung und man sing an zu fürchten, der französische Ge¬
neral werde nur unendliche Menschenopfer bringen, ohne etwas Dauerndes zu
erreichen. Es ist sehr rühmend anzuerkennen, daß Herr Rüstow sich durch
diese Stimmung nicht befangen ließ. Obgleich er den Feldzugsplan im All¬
gemeinen entschieden verurtheilt und auch die naturalistische Art und Weise,
wie Pelissier seine Angriffe einrichtet, keineswegs billigt, so läßr er sich doch
vom Erfolg nicht bestimmen. Er weist nach, daß das Unternehmen vom 18. Juni,
obgleich starke Fehler begangen wurden, an sich keineswegs ein thörichtes war,
daß die Möglichkeit einer Ueberrumplung in der That vorlag und daß der
Plan des Generals von seinem Standpunkt aus wol gerechtfertigt werden
konnte. Er setzt dann hinzu: „Für den Charakter des General Pelissier muß
der 18. Juni zu einem Prüfstein werden; läßt er sich durch das Mißgeschick
des Tages in eine Unthätigkeit ohne weitere Motive oder in ein System hin-
cinschrecken, welches von dem bisher befolgten wesentlich verschieden ist, so
wird man ohne weiteres annehmen dürfen, daß. seine Energie die rein äußer¬
liche des Bramarbas ist, welche mit Uebermuth nur aus den syrupsdicken
stillen Wogen des Glücks schwimmt, nicht die selbstständige einer mit sich ferti¬
gen hartgesottenen Seele." —
Der General hat diese Prüfung bestanden; er hat sich durch das erste
Mißlingen nicht abschrecken lassen und hat sein Ziel, wenn auch mit blutigen
Opfern, glücklich erreicht. Wir freuen uns, aus der geschickten Feder, der wir
die Analyse dieser Vorbereitungen verdanken, in kurzer Zeit auch die Dar¬
stellung des Erfolgs zu erhalten. —
Eine willkommene Zugabe zu dieser Kriegsgeschichte ist das zweite Werk.
Der Hauptinhalt desselben ist die Belagerung von Silistria; außerdem werden
sämmtliche Vorgänge in der europäischen Türkei ausführlich und anschaulich
erzählt. Der Verfasser hat Gelegenheit gehabt, sehr viel zu sehen und erzählt
vortrefflich. Wir kommen bei der Vollendung des Werks noch einmal darauf
zurück.
Rußland hat einen sehr ernsten Schlag erhalten und die Negierung könnte
dadurch wol zu ernsthaftern Nachdenken über ihre Lage geleitet werden. Der
dritte Punkt, an welchem angeblich die wiener Friedensunterhandlungen schei¬
terten, würde jetzt keine so großen Schwierigkeiten mehr machen! Allein noch
hat Rußland immer Kraft genug, seine Leiden zu ertragen und solange es
nur mit den beiden Seemächten zu thun hat, zweifeln wir doch noch immer
an seiner Versöhnlichkeit. Der günstigste Erfolg der Erstürmung des Malakow-
thurmes wäre also, wenn dadurch die deutschen Staaten veranlaßt würden,
sich den Westmächten wieder zu nähern. Freilich werden die letztern bei den be¬
kannten vier Punkten kaum mehr stehen bleiben und die Entschädigungsfrage,
die bei den wiener Conferenzen gar nicht erwähnt wurde, dürfte sich bei
neuen Unterhandlungen in den Vordergrund drängen.--
Wir haben die Schrift des ungarischen Generals mit der ganzen Auf¬
merksamkeit gelesen, die ein bedeutenderer Gegner verdient. Wir nennen Klapka
nicht blos deshalb unsern Gegner, weil seine Wünsche auf eine allgemeine
Revolutionirung Europas ausgehen d. h. auf ein kolossales Hazardspiel, bei
dem jede Berechnung aufhört, sondern auch weil wir mit dem Zustande, den
er als Ziel der Revolution herstellen will, nicht im mindesten einverstanden
sind. Er wünscht unter andern die Herstellung eines großen Polenreichs und
eines ebenso großen Föderativstaats, der aus den außerdeutschen Provinzen
Oestreichs, aus Bessarabien, der Moldau und Walachei und einigen türkischen
Grenzprovinzen bestehen soll. Wir trauen namentlich dem letztern Staat nicht
die geringste Lebensfähigkeit zu, denn da in diesen Gegenden die Nationalitäten
bunt durcheinandergewürfelt sind, so würde doch sehr bald eine derselben die
Oberherrschaft in Anspruch nehmen, es würde sich die eine Hand wider die
andre erheben und man würde die Wiederholung jener Schlächtereien mit an¬
sehen, von denen wir noch aus dem Jahre 18i>9 eine so schauderhafte Er¬
innerung haben. Es gibt in jenen Gegenden keine Macht, welche die bunten
Völkerschaften beherrschen könnte, als Oestreich, und wie im Jahre 1848, so
halten wir auch jetzt das Fortbestehen Oestreichs für eine europäische Noth¬
wendigkeit. Oestreich ist bis jetzt der hohen Aufgabe, jene Länder der europäi¬
schen Cultur zuzuführen, nicht so nachgekommen, wie man es hätte wünschen
sollen, aber es bleibt doch immer der einzige Staat, auf den man dabei rech¬
nen kann, und selbst in den Uebertreibungen der gegenwärtigen Centralisation lebt
im Ganzen doch ein richtiger Jnstinct. — Klapkas Gedankengang ist folgender.
Durch den Feldzug in der Krim kann der Krieg gegen Rußland nie zu
einem glücklichen Ende geführt werden, selbst wenn man dort günstigere Erfolge
erzielen sollte, als es bisher den Anschein hat.
Der Krieg kann nur dann mit Aussicht auf Erfolg fortgesetzt werden,
wenn man gleichzeitig von drei Punkten mit ungeheuern Heeresmassen in
Nußland eindringt, im Kaukasus, in Bessarabien und in den Ostseeprovinzen,
nicht, wie es Napoleon that, um voreilig bis in das Herz des ungeheuern
Reichs sich zu wagen, sondern um eine Grenzprovinz nach der audern stückweis
abzulösen.
Die Franzosen und Engländer sind aber auch in der Verbindung mit den
Türken und Sardiniern nicht im Stande, den Krieg in so großartigem Ma߬
stabe fortzuführen; sie bedürfen im Osten der Mitwirkung der Tscherkessen, denen
sie also die Freiheit verheißen müssen.
Der Feldzug in Bessarabien wäre mit den höchsten Gefahren verknüpft,
wenn man im östreichischen Staat einen zweideutigen Verbündeten hinter sich
läßt. Oestreich ,muß also kategorisch aufgefordert werden, sich an dem Kriege
zu betheiligen. Es ist immer anerkennenswert!), daß Klapka diese Eventualität
wenigstens in Rechnung stellt, obgleich er, wie wir nachher sehen werden, seinen
Wünschen gemäß sie sofort wieder aufhebt.
In den Ostseeprovinzen muß zunächst durch Znsurrectionirung Polens
vorgeschritten werden. Die Wiederherstellung des polnischen Reichs in seinem
ganzen alten Umfange ist die erste Pflicht der Verbündeten. Ferner ist die
Mitwirkung Schwedens nöthig. Diese wird aber nicht erlangt werden, wenn
man ihm nicht den Erwerb von Liefland in Aussicht stellt. Von Preußen ist
Klapka überzeugt, daß es bei dem Liberalismus seiner Bewohner, selbst seiner
Offiziere, sich dem Anschluß an die Alliirten auf keine Weise würde ent¬
ziehen können. Wie nun aber die Wiederherstellung des polnischen Reichs
damit in Zusammenhang gebracht werden soll, diese Frage legt er sich nickt
vor. Wir fürchten, daß eine solche Aussicht hinreichen würde, Preußen zum
engsten Anschluß an Rußland zu treiben, denn bei der Wiederherstellung ihrer
alten Grenzen würden die Polen gewiß auch die Weichselmündung im
Auge haben, ja diese würde ihnen ungleich wichtiger sein, als Volhynien und
Podolien.
Schon aus dem Bisherigen ergibt sich, daß die Alliirten ihrem Krieg ein
ganz andres Ziel setzen müssen, als die Integrität der Türkei mit den bekann¬
ten vier Garantiepunkten. Sie müssen offen aussprechen, daß ihr Zweck die
Territorialverkleinerung Rußlands ist, denn nur unter dieser Bedingung können
sie auf Bundesgenossen rechnen.
Es folgt nun weiter die Untersuchung, was zu thun sei, wenn Oestreich
seine Mitwirkung versagte. Klapka hält diese Mitwirkung nicht nur für un¬
wahrscheinlich, sondern für unmöglich. Nach seiner Ueberzeugung ist Oestreich
ein verfallender Staat, der sein Leben nur künstlich, nur durch die Hilfe Ru߬
lands fristen kann. Es wird Oestreich freilich sehr erwünscht sein, wenn Nuß-
land einige kleine Schlappen erleidet, damit es ihm nicht gar zu übermächtig
auf dem Nacken sitzt, allein eine ernste Schwächung Rußlands kann Oestreich
nicht zugeben, weil es mit ihm seinen letzten Schutz verlicrr. — Außerdem
kann Oestreich nicht wagen, sich in einen ernsthaften Krieg einzulassen, denn
es kann auf die Treue seiner Armeen nicht zählen. Seine Heere sind aus
Nationalitäten genommen, die nur mit dem größten Widerstreben sein Joch
tragen. Es hat durch seine Centralisation die Herzen aller Völker sich entfremdet
und die Ungarn, Slawen in. sind seine Feinde.
In allen diesen Punkten sind wir entschieven entgegengesetzter Ansicht.
Oestreich kann auf seine Heere zählen, so gut wie ein anderer Staat; es be¬
darf den Schutz Rußlands nicht nur nicht, sondern es muß alles daransetzen,
um demselben zu entgehen. Es gibt keinenStaat, dem an der Schwächung
Rußlands soviel gelegen sein müßte, als Oestreich, und wenn eS sich den West¬
mächten nicht anschließt, so ist der Grund in ganz andern Dingen zu suchen.
Offenbar führt den ungarischen General die bei ihm freilich sehr begreifliche
Antipathie irre.
Was soll nun geschehen, wenn Oestreich sich in der That weigert, an dem
Feldzug theilzunehmen und dadurch den Einmarsch der Verbündeten in Bess-
arabien factisch vereitelt? — Nach Klcipkas Ansicht sollen die Verbündeten als¬
dann die Wiederaufrichtung der Nationalitäten zu ihrem Hauptzweck machen.
Sowie sie Polen insurgirt haben, sollen sie Ungarn und vor allen Italien in-
surgiren. Wenn sie das thun, verheißt ihnen Klapka die Unterstützung einer
Million streitbarer Männer. — Die Sache ist von der revolutionären Partei
schon häufig angeregt worden; sehen wir zu, inwieweit die Drohung die deut¬
schen Mächte wirklich erschrecken kann.
Zunächst unterscheidet sich Klapka von den eigentlichen Revolutionärs
dadurch, daß er es für gleichgiltig erklärt, ob in Frankreich die Republik oder
das Kaiserthum besteht. Solange nur Frankreich die Sache der Civilisation
vertritt, möge man ihm die Hegemonie in diesem großen Kampfe anvertrauen.
Er geht auch nicht auf Herstellung einer großen italienischen Republik aus,
sondern er will die Einheit Italiens durch Vermittlung der sardinischen Mon¬
archie anbahnen. Bei dem neuen ungarisch-slawisch-rumänischen Föderativstaat
stellt er es als gleichgiltig dar, ob ein König darüber gesetzt oder ob eine
republikanisch-aristokratische Regierungsform festgehalten wird. Ueber Polen
spricht er sich in dieser Beziehung gar nicht aus.
Nun hat er aber bei dieser Darstellung, die freilich nicht so blutroth aus¬
sieht, als eine mazzinistische, einen wichtigen Umstand übersehen. Die revo¬
lutionäre Partei in Italien, die nothwendigerweise zu diesem Zweck aufgeboten
werden müßte, hegt gegen das französische Kaiserreich eine tödtliche Feindschaft,
ja sie haßt Napoleon mehr, als den Kaiser von Nußland. Nur die äußerste
Noth wird also den Kaiser der Franzosen dazu bestimmen können, Leidenschaf¬
ten zu entfesseln, deren Wuth sich ebensowol gegen ihn wenden kann, als ge¬
gen seine Feinde. — In einer ähnlichen Lage befindet sich der König von
Sardinien. Der größere Theil der revolutionären Partei Italiens ist republi¬
kanisch gesinnt. Sie würde für seine Zwecke nur ein sehr zweifelhafter Bundes¬
genosse sein.
Auch in Beziehung auf die Streitkräfte, welche die insurgirten Länder
den Verbündeten bieten können, ist Klapka viel zu sanguinisch. Bei der Berech¬
nung der italienischen Hilfstruppen bringt er zu unserm Erstaunen nicht blos
die piemontestsche Mannschaft, sondern die päpstlichen und die neapolitanischen
Truppen in Anschlag. Diese Truppen müssen im Gegegentheil erst besiegt
werden, bevor sein Unternehmen beginnen kann. Den Werth einer Volks¬
erhebung schlägt er viel zu hoch an. Die Italiener sind sehr tüchtige und
tapfere Truppen innerhalb eines disciplinirten Heeres, als Insurgenten aber sind
sie leicht auseinanderzutreiben, wie das alle bisherigen Aufstände gezeigt haben;
und ehe die Engländer und Franzosen soweit kommen, eine aus Italienern zu¬
sammengesetzte Armee in reguläre Truppen zu verwandeln, würden muthmaßlich
Ereignisse eintreten, welche der ganzen Frage eine andere Wendung geben.
Was Polen und Ungarn betrifft, so rechnet man immer falsch, wenn man die
Jnsurrection von 1831 und von 1848 im Auge behält. 1831 hatten die
Polen eine fertige und ausgerüstete Armee, 1848 hatten die Ungarn wenigstens
einen Stamm dafür. Von alle dem ist jetzt keine Rede, und jeder Versuch, in
Ungarn oder Polen eine insurrectionelle Armee zu bilden, würde gleich zu An¬
fang mit leichter Mühe niedergeschlagen werden. Daß die Führer der Revolu¬
tion nebenbei noch immer auf Deutschland rechnen, zeigt deutlich, in welchem
Traumleben sie befangen sind.
Wir haben bis jetzt nur auf die materiellen Schwierigkeiten unser Auge
geworfen; betrachten wir einmal die moralische Seite. Wenn die verbündeten
Mächte eine Jnsurrection hervorrufen ohne die ganz sichere Aussicht deS Ge¬
lingens, wenn sie also wiederum eine Masse edler Häupter dem Henkerschwert
preisgeben, so begehen sie ein Verbrechen, sür das wir gar lernen Ausdruck
finden; und wenn auch in der auswärtigen Politik thatsächlich noch immer
die macchiavellistischen Grundsätze gelten, so wendet man sie doch nur in den
äußersten Fällen an.
Durch alle diese Bemerkungen wollen wir keineswegs die Unmöglichkeit
einer derartigen Kriegführung darthun. Wenn Rußland im nächstfolgenden
Jahre nicht Frieden schließt, wenn der kriegerische Enthusiasmus der Englän¬
der und Franzosen fortdauert, und wenn die deutschen Mächte in ihrem pas¬
siven Widerstand beharren, so werden in der Hitze des Zorns vielleicht alle
bisherigen Bedenken schwinden und man wird dem Kriege eine andere Wen-
dung zu geben suchen. Anknüpfungspunkte sind schon in hinreichender Zahl
vorhanden. Die Allianz mit Sardinien, die Bildung einer italienischen Legion,
das Zerwürfniß mit Neapel, die immer mehr um sich greifenden kirchlichen
Streitigkeiten u. s. w., das alles sind Elemente, die, wenn man den großen
Vorsatz einmal gefaßt hat, wol benutzt werden können. So groß wie Klapka
sie darzustellen sucht, ist die Gefahr keineswegs, aber sie ist vorhanden, und
unsere Regierungen haben alle Ursache, auf ihrer Hut zu sein. Wenn es
ihnen nicht gelingt, im Lauf des Winters Rußland zu einem Frieden zu be¬
stimmen, wie ihn die Westmächte annehmen können, so werden sie im näch¬
sten Jahr voraussichtlich doch in den Krieg verwickelt werden, und es wird
Zweckmäßiger für sie sein, wenn sie ihn so führen, um etwas daraus zu ge¬
winnen, als blos um größern Uebelständen zu entgehen. Sollte z. B. Dä¬
nemark früher sich entschließen, in die Allianz der Westmächte einzutreten, als
Preußen, so wären wir um allen möglichen Gewinn des Krieges, und der
Verlust einer der wichtigsten deutschen Provinzen, den wir noch immer als
einen blos provisorischen betrachten, könnte ein definitiver werden.
Der Termin für die Wahlen ist jetzt festgestellt und je näher er bevor¬
steht, desto größer ist die Besorgniß, mit der wir ihm entgegensehen. Die
Demokraten sind bis jetzt zu keinem Entschluß gekommen, sie haben bis jetzt
ein ganz wunderbares Stillschweigen beobachtet, und wenn in diesen Tagen
von dem einen oder dem andern ihrer Blätter wirklich ein Manifest erfolgen
sollte, so zweifeln wir doch sehr daran, ob die Masse, die bisher zu ihrer Farbe
hielt, so leicht ohne weiteres wird in Bewegung zu setzen sein. In einer Be¬
ziehung kann das als ein Bortheil erscheinen, denn es wird dadurch vermieden,
daß die Liberalen in zwei getrennten und gerüsteten Parteien auf den Schau¬
platz treten. Die Opposition wird alö ein Ganzes erscheinen, umsomehr, wenn
unsre Freunde sich hüten, in ihrem Programm diejenigen Forderungen, an
denen wir bisher vorzugsweise hingen, und die uns bisher zum Theil von
den Demokraten trennten, zu einer ungünstigen Zeit hervorzukehren. Es gilt
jetzt nicht, in Beziehung auf die große Politik die preußische Regierung in
unsre Richtung zu drängen, da dies Vorhaben uns doch nicht gelingen würde,
es gilt, wie wir bereits auseinandergesetzt haben, dem weitern Vordringen der
ritterschaftlichen Partei Widerstand zu leisten. Die Kreuzzeitung brachte darüber
in der letzten Woche einige Bemerkungen, die nur zu gegründet waren. Sie
sagte, daß ihre Partei sich nie damit begnüge, über einen errungenen Erfolg
Freudenfeste anzustellen, Extrablätter der Freude zu schreiben :c., sondern daß
sie sich sofort überlege, was ist nun weiter zu thun? Diesen Ruhm müssen
der Kreuzzeitungspartei auch ihre Feinde nachsagen. Worin ihre letzten
Absichten bestehen, darüber läßt sie uns auch nicht im Zweifel, obgleich sie
das nächste, was sie ins Werk zu richten gedenkt, noch geheim hält. Ihr laut
ausgesprochener Zweck ist nämlich, den Bürgerstand, der nach ihrer Ansicht
über das ihm zukommende Maß hinausgeschritten ist, wieder in seine alten
Grenzen oder noch etwas weiter zurückzudrängen. Wir finden das Bestreben
begreiflich, denn der Adelstand hat in den unruhigen Jahren manche unbillige
Angrisse erfahren, aber um so wachsamer muß der Bürgerstand sein, um dessen
Ehre und Interesse es sich jetzt handelt. Es wird keineswegs bei ideellen
Vorzügen und bei Doctrinen stehen bleiben. Der Adel hat sich die übereilten
Worte Hansemanns, man müsse der Reaction ins Fleisch schneiden, sehr wohl
gemerkt und wird sich, sobald er nur irgend die Mittel dazu in Händen hat,
beeilen, seinerseits der Revolution ins Fleisch zu schneiden. Der Adel weiß
sehr gut, daß man, um sich auf der Höhe der Zeit zu erhalten, bürgerliche
Mittel anwenden muß. Er rechnet grade so gut, wie der Bürgersmann, er
rechnet mitunter besser. Derjenige Theil des Bürgerstandes also, der so ganz
in Materialismus versunken ist, daß kein ideelles Motiv ihn in Bewegung ZU
setzen vermag, möge sich sobald als möglich klar machen, ehe es zu spät wird,
daß auf den ideellen Kampf der materielle folgen wird, daß, sobald erst die
Verfassung nach Standesrücksichten eingerichtet sein wird, die StandesrückstchteN
auch auf den Staatshaushalt übergehen werden.
Die am Eingang erwähnte Broschüre sucht die Opposition auf die höhern
Motive aufmerksam zu machen, um die es sich in dem gegenwärtigen Streit
handelt. Wir wünschen ihr eine recht allgemeine Verbreitung.
Nachdem wir das Obenstehende geschrieben, finden wir in der neuesten
Nummer der Nationalzeitung eine Erklärung, die als befriedigend angesehen
werden kann. Zwar hat sie es nicht vermeiden können, auf die frühere Hal¬
tung der Partei den Wahlen gegenüber einen rechtfertigenden Rückblick z«
werfen, allein da diese Bemerkungen in einem durchaus schicklichen Tone ge¬
halten sind, so läßt sich von unsrer Seite nichts dagegen einwenden. Die
Hauptsache ist, sie fordert ihre bisherigen politischen Freunde entschieden zur
Betheiligung an den diesmaligen Wahlen auf. Wir wollen hoffen, daß sie
in den nächsten Wochen noch häufiger und lebhafter darauf zurückkommen wird,
denn die Masse, welche bisher in dem Wahn schwebte, durch Nichttheilnahme
an den Wahlen eine wichtige politische That zu thun, wird sich aus dem
süßen Behagen dieses bequemen Martyriums schwerlich durch eine einfache Er¬
klärung heraustreiben lassen; sie wird nicht blos einer Erlaubniß bedürfen,
sondern einer recht lebhaften Anregung.
Sehr richtig bemerkt die Nationalzeitung, daß man sich davor hüten
müsse, den wahrscheinlichen Erfolg dieser Theilnahme zu überschätzen; damit
der Erfolg aber nicht noch kleiner werde, als in der Natur der Sache liegt,
scheint uns Folgendes Beherzigung zu verdienen.
Die Aufgabe der gegenwärtigen Kammer ist, wie wir gezeigt haben, eine
durchaus conservative. Es handelt sich nicht darum, für die nationale Sache
und für die Sache der Freiheit ein neues Terrain zu gewinnen,'sondern nur
den bisherigen Besitz zu behaupten. Unter diesen Umständen kommt es auf
die sonstigen Doctrinen der Deputirten, auf ihre Vergangenheit und Zukunft
nicht an; es kommt nur darauf an, unabhängige und charakterfeste Männer
zu finden, die entschlossen sind, keinen Schritt weiter zurückzuweichen, gleichviel
welcher Parteirichtung sie sich früher angeschlossen haben. Die beiden Haupt¬
unterschiede zwischen der demokratischen Partei und der constitutionellen, wie
sie sich historisch entwickelt hatten, waren einmal, daß die Demokraten die ge¬
gebene Verfassung nicht anerkennen wollten, sondern auf die Vereinbarungs¬
theorie der sogenannten constituirenden Versammlung recurrirten. Dieser Un¬
terschied hat aufgehört, sobald sie sich, wie es die Nationalzeitung ausdrücklich
erklärt, ehrlich und offen an der gegebenen Verfassung betheiligen. Der zweite
Unterschied wird vielleicht in der Zukunft wieder Gelegenheit zu Zwistigkeiten
geben, vorläufig hat er aber gar keine praktische Bedeutung. Wir vermuthen
nämlich, daß die Demokraten noch an der Theorie des unbeschränkten Wahl¬
rechts festhalten; allein in den nächsten drei Jahren wird es niemand ein¬
fallen, nach dieser Seite hin etwas durchsetzen zu wollen. In allen übrigen
Punkten möchten dagegen die Gemäßigten der beiden Parteien einig sein, und
die gegenseitige Unterstützung bei den Wahlen, die dringend erforderlich ist,
wenn ein erwünschtes Resultat erzielt werden soll, begegnet also von dieser
Seite keinen Schwierigkeiten.
Beim Schluß unsres Hefts geht uns eine Broschüre zu, die wir glauben-
als eine Art Wahlprogramm der liberalen Partei betrachten zu dürfen:
Sie, enthält eine klare und bündige Zusammenstellung der Tendenzen und
Anträge, welche von den beiden Seiten der bisherigen Kammer ausgegangen
sind. Sie weist nach, daß die sogenannte Nechre eine revolutionäre Partei ist,
die nicht blos bezweckt, die Resultate der Staatsgesetzgebung seit 1830 wieder
aufzuheben, sondern auch die ganze bürgerliche Gesetzgebung seit den Zeiten
des großen Friedrich, also den eigentlichen Inhalt des altpreußischen Lebens,
zu verkümmern. Sie zeigt, daß sie ihre royalistische Gesinnung nur als eine
Fahne aufsteckt, um die unwissende Menge irre zu leiten, daß sie eigentlich
darauf ausgeht, die höchsten Attribute der Krone zu schmälern und sie einseitig
einem Stande zu übertragen. Sie zeigt, daß ihre Gesetzvorschläge in Bezug
auf Finanzen, Justiz, Administration u. s. w., wenn sie wirklich durchgeführt
werden könnten, eine tiefe Kluft zwischen den verschiedenen Classen der Staats¬
bürger und eine allgemeine Unzufriedenheit zur Folge haben würden. Sie
zeigt serner, daß die sogenannte Opposition die wahrhaft konservative Partei
ist, daß sie,' wenn auch unter unerhörten Schwierigkeiten, alles darangesetzt
hat, um die bisherige historische Entwicklung des preußischen Staats aufrecht-
zuhalt.en und zu fördern, daß alle realen Verbesserungen in der Gesetzgebung,
daß alle ernsthafte und gerechte Kritik der Verwaltung lediglich von der linken
Seite ausgeht. Sie stellt das nicht als eine Behauptung auf, welcher die
feindliche Partei mit einer entgegengesetzten Versicherung begegnen könnte, sondern
sie belegt es urkundlich mit Thatsachen und Documenten. An den einzelnen
Gesetzvorschlägen, sie mögen nun durchgegangen sein oder nicht, können die
Wähler abmessen, welcher Seite sie ihr Vertrauen zu schenken haben.
Daß sie die auswärtige Angelegenheit nicht in den Kreis ihrer Betrach¬
tungen zieht, stimmt, wie wir im Frühern auseinandergesetzt haben, ganz mit
unsrer Ueberzeugung überein. Ebenso müssen wir es billigen, daß die con-
fessionelle Frage in den Hintergrund gedrängt ist. ES kann wol eine Zeit
kommen, in welcher wir dem Ultramontanismus ernsthaft werden entgegentreten
müssen; diese Zeit ist aber noch nicht gekommen. Wir beklagen eS im Inter¬
esse der allgemeinen Entwicklung aufs höchste, daß innerhalb der preußischen
Kammern sich eine Fraction gebildet hat, die eine rein confessionelle Färbung
zur Schau trägt, die uns also mit einer Wiederaufnahme der alten religiösen
Leidenschaft bedroht, welche wir seit fast zwei Jahrhunderten überwunden zu
haben glaubten; aber diese Fraction, deren allgemeine Tendenz uns fremd oder
gar feindlich ist, enthält doch in ihrer Zusammensetzung Elemente, die uns ver¬
wandter sind, als alles, was auf der rechten Seite sich vorfindet. Und vor
allen Dingen: die nächsten Interessen jener Fraction, soweit wir sie für die
nächsten Jahre übersehen können, gehen mit den unsrigen noch Hand in
Hand. — Wenn es daher in den westlichen Provinzen gilt, sich bei der Wahl
entweder für einen Candidaten der katholischen Fraction oder für einen
Candidaten der rechten Seite zu entscheiden, so geben wir dem erster» unsre
Stimme.
Und so können wir zum Schluß denn nur wünschen, daß diese Flugschrift
die gehörige Beachtung finden und allen Wahlberechtigten den schweren Ernst
der Zeit und die Nothwendigkeit einer regen und eifrigen Theilnahme ein¬
schärfen möchte.
Wenn ich zu Anfang meines Berichtes über das berliner Musikleben des
verflossenen Jahres erwähne, daß im Laufe desselben in den Hauptzeitungen
etwa dreihundert Concert- und Opernaufführungen ausführlich besprochen wor¬
den sind, so können Sie daraus ersehen, daß der Stoff, über den ich berichten
will, kein geringer ist. Anders sah es vor hundert Jahren in Berlin aus.
Aus jener Zeit hört man von nichts als von italienischen Opern zur Zeit
des Carnevals, von Passionsaufführungen in verschiedenen Kirchen der Stadt
und von wöchentlichen sogenannten Concerten d. l). Musikunterhaltungen
eines Dilettantenvereins, die in einer bescheidenen Privatwohnung stattfanden
und nur einer geringen Zahl von Gästen den Zutritt gestatteten. Die Musik¬
geschichte Berlins ist im Vergleich mit den meisten andern großen Städten
Europas sehr jungen Datums; und heute sehen wir diese Stadt so ziemlich auf
der Höhe des musikalischen Lebens der Zeit.
Freilich fällt es auf, wie spärlich unsre Quartettsoirien besucht sind, wie
selten es vorkommt, daß vorzügliche Concertleistungen in ähnlicher Weise wie
die Opern eine Wiederholung erleben, wie ungenügend die männlichen Stim¬
men sowol im Solo- als Chorgesang in unsern Singvereinen vertreten sind.
Indeß für jemanden, der alles hören will oder muß, für die Recensenten, für
die Musiker, die mit Freibillets gefüttert werden, für diejenigen, die keine
ruhige Nacht haben, wenn sie nicht über alles mitsprechen können, bleibt eine
Ueberfülle von öffentlicher Musik und es freut uns, hinzufügen zu können,
daß der größere Theil davon wirklich hörenswerth war und daß namentlich
der letzte Winter außer dem guten Alten auch eine hervortretende Fülle neuer
Anregungen bot. Beginnen wir unsre Ueberschau mit denjenigen Aufführungen,
die das Fundament alles gesunden Musiklebens bilden, mit den von unsern
größern Gesangvereinen ausgehenden Oratorienaufführungen. Für uns
sind große Oratorienconcerte, namentlich diejenigen, die Händel und Haydn
geschaffen haben, in ethischer Hinsicht etwas Aehnliches, als bei den Alten die
Stücke, die in dorischer Tonart geschrieben waren; sie sind das wahre Bil¬
dungselement der Jugend, weil in ihnen die Anmuth und Lieblichkeit des Me¬
lodischen der Kraft nicht entbehrt, und wiederum, weil die Kraft nicht in rohen
Formen, wie etwa in Schlachtgesängen, Märschen und dergl., sondern
in kunstvoller, polyphoner Entwicklung auftritt. Das Erste und Wichtigste
daher, was wir jedem rathen möchten, der sich an der Musik als einem all¬
gemeinen Bildungsstoffe betheiligen will, würde sein, seine Stimme soweit aus¬
zubilden, daß er diese Chöre mitsingen kann; das spätere Leben mag ihn weiter
führen.
Die Singakademie ist immer noch die wichtigste Anstalt sür das
berliner Musikleben, weil sie ihre Bestimmung wesentlich in dem unablässigen
Festhalten an den Hauptwerken deutscher Musik gefunden hat. Leider müssen
wir darüber klagen, daß die Anzahl der jüngern männlichen Mitglieder keines¬
wegs im Verhältniß zu der Größe Berlins steht und daß die Theilnahme des
Concertpublicums nicht immer in Wünschenswerther Weiselsich bekundet; doch zeigt
sich das mehr bei Aufführung neuer Oratorien, die classischen Hauptwerke
werden fast alljährlich einmal, bisweilen mehrmals aufgeführt. Die innere
Disciplin der Singakademie, die im Lauf der Zeit etwas schlaff geworden war,
hat sich, seitdem Grell an der Spitze steht, bedeutend befestigt. Grell hat
sich von Jugend auf in diese Gattung der Musik innig hineingelebt und weiß
den Geist derselben, die goldene Mitte zwischen roher Kraft und weichlicher Sen¬
timentalität, richtig zu erfassen; den Mangel an jugendlichem Feuer versteht er
durch ausharrende Zähigkeit zu ersetzen; auch kommt ihm seine genaue Kennt¬
niß der menschlichen Stimme wohl zu statten. Darum vermißt man an den
Aufführungen der Akademie wol hin und wieder die Frische der Stimmen,
namentlich der männlichen; aber an Correctheit und edler Haltung läßt sie wenig
oder nichts zu wünschen übrig, ja manche Leistungen, z. B. die Ausführung des
Chorals im Tod Jesu „Wie herrlich ist die neue Welt"^a eapello, lassen sich
als ersten Ranges bezeichnen. Der Sternsche Verein gebietet über die
meisten Kräfte; das vorzügliche Talent und die Gewandtheit seines Dirigenten,
die freiere Richtung in der Auswahl der Musikstücke sagen dem Zeitgeschmacke
besser zu. Daß er eine wichtige Stelle in unserm Musikleben einnimmt, geht
schon aus den vielen vorzüglichen Ausführungen hervor, die wir ihm verdanken;
ferner daraus, daß er durch öffentliche Vorführung manches hier noch unbe¬
kannten Werkes sich verdient gemacht hat; aber er vertritt kein Princip, man
müßte denn das Princip darin finden wollen, daß er eben wegen seiner noch
etwas unbestimmten Stellung geneigter ist, sich auf^Modernes einzulassen. Der
Schneidersche Gesangverein macht sich vielfach durch Kirchenaufführungen
bekannt, die mehr dem Bedürfniß des großen Publicums entsprechen und nur
mit mäßiger Sorgfalt einstudirt werden; unter den übrigen öffentlich hervor¬
tretenden Vereinen dürfte noch der Wendet sehe genannt werden; schließlich
können wir auch hier schon die Concerte erwähnen, die alljährlich zum Besten
des Gustav-Adolph-Vereins stattfinden und die außer vielem andern auch die
Kirchenmusik, in ihr Repertoir aufgenommen haben.
Von Händel kamen im vorigen Jahre der Messias und der Samson
durch die Singakademie (letzterer außerdem noch in einer Privataufführung,
die der Gesanglehrer Kotzolt mit einem aus seinen Schülern und Schülerinnen
bestehenden Gesangverein veranstaltete und theilweise in einem Concert des
Gustav-Adolph-Vereins, in dem Joh. Wagner die Altsoli sang), Israel in
Aegypten durch den Sternsehen und Judas Maccabäus durch den Wendelschen
Verein zur Aufführung; die Schöpfung von Haydn wurde mehrmals durch
den Schneiderschen Verein und die Singakademie, die Jahreszeiten einmal
durch den Sternsehen Verein aufgeführt. Die Singakademie brachte außerdem
den in Berlin sehr beliebten Nadziwillschen Faust, das Requiem von Cherubini,
den Tod Jesu von Graun, die Matthäus-Passion von Bach, den David von
Reissiger, einen Psalm von Blumner, (zweitem Dirigenten der Akademie) und
den Tod Adels von Rungenhagen zur Aufführung. Vom Sternsehen Verein
hörten wir den 114. Psalm von Mendelssohn, die Fragmente aus dessen
Christus und die beiden ersten Sätze der großen Beethovenschen Messe (Kyrie und
Gloria); der Schneidersche Verein führte ein neues Oratorium seines Dirigen¬
ten, Luther, auf; der Hennigsche Gesangverein übernahm die undankbare Auf¬
gabe, Beethovens Christus am Oelberge vorzusühren; die Singakademie ver¬
einigte sich mit dem Sternsehen und Jähnsschen Verein zur Walpurgisnacht
von Mendelssohn unter der Leitung Dorns; in einem Concert des Gustav-
Adolph-Vereins hörten wir eine etwas oratorienhaste Oper von Bernhard
Klein, Dido; fügen wir noch hinzu, daß in Privataufführungen ein Vater¬
unser von Taubert und ein sehr kunstvoll für zwölf Frauenstimmen gesetztes
Magnificat von Grell zu Gehör gebracht wurden, so möchte die Uebersicht
dieses Theils der Concerte wol geschlossen sein.
Auffallend erscheint, daß der Elias und der Paulus fehlen, ein Beweis,
daß in Bezug auf Mendelssohn eine Uebersättigung einzutreten beginnt. Wir
glauben nicht, daß dieselbe dauern wird, denn Mendelssohn vertritt eine zu
wichtige Seite des gebildeten Bewußtseins; wenn auch das Fließende und
Weiche seiner Chöre und Arien oft dem Großen, Ernster, Gewaltigen Eintrag
thut, so bleiben sie doch immer auf der Höhe des Edeln und Maßvollen.
Auch wüßten wir nicht, wie unsere Gesangvereine ihn ersetzen sollten; der
Sänger wird warm dabei, die weichen, runden Formen thun ihm wohl, und der
Schwung, den Mendelssohn oft in seinen Chören nimmt oder wenigstens zu nehmen
beginnt — denn oft erlahmt er auch auf dem Wege — reißt die Sänger fort.
Aber er eignet sich nicht, die bleibende Grundlage eines Vereins abzugeben,
wie manche eine Zeitlang glaubten; dazu bedarf es festerer, nahrhafterer Kost;
wenn die Reize seines Stils frisch bleiben sollen, so muß man sparsam davon
genießen. — Ueber die Aufführung Händelscher Oratorien ist nur zu bemerken,
daß der Israel in Aegypten mit seinen gewaltigen achtstimmigen Chören, den
Mendelssohn vor etwa zwölf Jahren zuerst wieder in Berlin aufführte, durch
Sterns Bemühungen neuerdings in den Vordergrund getreten ist. Namentlich
mit Begleitung der Orgel macht das Werk einen majestätischen Eindruck, in
formeller Vollendung steht es indeß anderen, vorzugsweise dem Messias, nach.
In der Ausführung Händelscher Solopartien steht Krause oben an, dessen
markiges und doch weiches Organ und männlich-würdige Vortragsweise dafür
wie geschaffen sind. — Bachs Matthäus-Passion hatte ein viel größeres Pu-
blicum versammelt, als jemals früher. Wir glauben deshalb aber durchaus
nicht, daß überhaupt die Empfänglichkeit für das Werk im Zunehmen begriffen
sei; die Empfindungsweise Bachs, die in der inneren Verarbeitung der man¬
nigfaltigsten Tonelcmente zu jeder Form des Ausdrucks ihre Befriedigung fand,
setzt Zuhörer voraus, die eine ungewöhnliche Geisteskraft besitzen. Für das
allgemeine Verständniß sind Bachs Werke viel zu sehr individualisirt, sie er¬
zeugen durch Hindernisse aller Art den Genuß; sie drängen in einen Augen¬
blick, wenn man ihnen folgen will, eine ungleich größere Zahl von Vor¬
stellungen zusammen, als unsere Phantasie in andern Tonwerken in sich aus¬
nimmt ; sie werden daher immer der musikalischen Aristokratie angehörig bleiben,
die sich zufrieden geben kann, wenn die Zahl ihrer Anhänger so wächst, daß
öffentliche Aufführungen sich möglich machen lassen. Daß übrigens in Berlin
seit längerer Zeit fast alljährlich die Matthäus-Passion ihr Publicum findet,
auch kleinere seiner Werke, Motetten, Sonaten, Fugen ab und zu öffentlich
aufgeführt werden, ist wenigstens ein Zeichen, daß ernste und eindringende
Musikbildung in Berlin ebenfalls zu Hause ist. Freilich genügt dies noch nicht;
eine große Anzahl vorzüglicher Bachscher Kompositionen liegt noch vergraben,
nur dem innern Ohr des Partiturleserö zugänglich; der Singakademie, dem
Sternsehen Verein und namentlich dem Domchor, unsern Clavier- und Violin¬
virtuosen bleibt hier noch eine reiche Nachlese; anzuerkennen sind auch die
Bemühungen des Wendelschen Vereins, der zwei von den neu herausgegebenen
Bachschen Cantaten aufführte. Was die Ausführung der Matthäus-Passion
betrifft, so hat die Singakademie namentlich in den letzten beiden Jahren in
den Chören noch viele Fortschritte gemacht; außer der Correctheit derselben
war namentlich der frische, lebendige Vortrag sehr erfreulich. Den Evangelisten
singt Martius noch immer ausgezeichnet durch Adel der Bildung und eine
stets klar verständige, nur an geeigneten Stellen sich zum Pathos erhebende
Darstellung, wie es der Charakter der evangelistischen Erzählung mit sich bringt-
Nicht ganz so zufrieden sind wir mit der Auffassung des Christus von Krause,
sein Vortrag ist uns hier zu bieder und natürlich, um nicht zu sagen spie߬
bürgerlich; könnte er dem Klang deö Organs eine etwas übersinnliche, trans¬
scendente Färbung geben, in den Vortrag einen Anflug von Mystik hinein¬
bringen, so würde er den Sinn Bachs verständlicher machen. Im Uebrigen
wechselt die Besetzung der Solopartien und befriedigt bald mehr bald weniger.
Bachs Gesangmusik fordert, zumal bei der heutigen Orchesterstünmung, eigens
eingerichtete Stimmorgane; wer nicht ganz darin lebt, kann sich nicht heimisch
fühlen. — Die Aufführung des Tod Jesu von Graun war die hundertjährige
Jubilarfeier des Werkes. Es wird viel gegen die Cantate und gegen das
zähe Festhalten vieler norddeutschen Städte an derselben geeifert; man wirft
mit Recht den Arien einen opernartigen Stil, dem Ganzen Weichlichkeit und
Sentimentalität vor; dennoch können wir mit dem Puritanismuö, der das
Werk womöglich ganz verdrängen möchte, nicht gemeinsame Sache machen, schon
darum nicht, weil wir Ehrfurcht vor dem haben, was sich geschichtlich als
volksthümlich und national erwiesen hat, weil die ein Jahrhundert hin¬
durch sich bewahrende öffentliche Meinung den subjectiven Geschmacksrichtungen
gegenüber ihr volles Recht hat. Für Norddeutschland, namentlich für den
östlichen Theil, ist der Tod Jesu ein wahres Volkswerk geworden. Er verwächst
mit den Gemüthern fast in ähnlicher Weise, wie unsere protestantischen Choräle,
und es ist nicht blos das jährliche Hören, was das Werk denen, die sich nur
ausnahmsweise mit Musik beschäftigen, so lieb macht; es liegt auch in dem
Stil etwas der allgemeinen, volkstümlichen Bildung Entsprechendes. Die
berliner Zeitungen, namentlich die Spenersche, brachten bei Gelegenheit der
Säcularfeier ausführliche Berichte über die erste Verbreitung des Tod Jesu.
Man steht daraus, daß sofort nach Beendigung des siebenjährigen Krieges
die jährlichen Aufführungen desselben begannen und daß Magdeburg und an¬
dere norddeutsche Städte dem von Berlin gegebenen Beispiel in kurzem folgten.
Graun bildete zu seiner Zeit eine Art Mittelglied zwischen dem ernsten deut¬
schen polyphonen Stil und dem italienischen Geschmack für fließenden Gesang;
er befriedigte die Musiker durch seine reine und mannigfaltige Harmonie, die
große Menge durch seine milde Frömmigkeit, die erwähnte Aristokratie durch
seine gesangvolle Schreibart, deren er unter den Deutschen nächst Hasse wol
vorzugsweise Meister war. Es ist Unrecht, in der Musik immer nur das
Neueste zu begünstigen. Die Gegenwart beginnt dies gut zu machen,
Sie sucht die älteste Kirchenmusik aus der Vergessenheit heraus; Italienisches
und Deutsches, Katholisches und Protestantisches wird aufs neue lebendig.
Man wird, wie wir hoffen, darin fortfahren und das Beste aus der Geschichte
der Oper vor Gluck ebenfalls hervorsuchen; man wird, wie es scheint, auch
den Instrumentalwerken des vorigen Jahrhunderts erneute Aufmerksamkeit zu¬
wenden, schon um die Entwicklung der Formen, namentlich der Sonatenform,
genauer kennen zu lernen und ein noch tieferes, innigeres Verständniß der¬
selben zu gewinnen.
Neu für Berlin war daS große Requiem von Cherubini. Das Publicum
blieb ziemlich theilnahmlos diesem phantasiereichen Werke gegenüber, die Kritik
war aber um so enthusiastischer gestimmt, als es ihr selten begegnet, in so
bedeutender Weise neue Anregungen zu empfangen. Ueberblicke man Cherubinis
Werke im Ganzen, so scheint es nicht, als ob seine für alle Stilarten empfäng¬
liche Natur zur Einheit durchgedrungen wäre; im Einzelnen finden wir aber
Meisterwerke, die den größten würdig zur Seite stehen. Dahin gehört z. B.
die große DinoU-Messe, dahin auch das Requiem, die dramatisch lebendigste
Composttion des alten Kirchentertes. Die einzelnen Vorstellungen, die in
demselben auftreten, die düstere Ruhe des Todes, die Schrecken des jüngsten
Gerichts, das angstvolle Flehen um Gnade, die trotzig drohende Berufung auf
das Abraham gegebene Versprechen, das lichte Gewand des heiligen Michael
u. s. w., alle diese Einzelnheiten treten, keineswegs in schroffer, abgerissener
Weise, sondern wohlthuend miteinander vermittelt, aber doch als das Haupt¬
object des musikalischen Ausdruckes hervor; man muß das-Requiem daher mit
Orchester hören, wenn man einen einigermaßen richtigen Eindruck desselben
haben will.
Bemerkenswerth ist noch, daß Cherubinis Requiem keine Solopartien, auch
nicht einen einzigen Takt Soloquartett, enthält, mit gutem Grund gewiß, weil
der Sologesang sofort subjective Vorstellungen erweckt, es ihm aber, abweichend
von Mozart, darauf ankam, die objective Seite des Requiem ausschließlich
festzuhalten.
Der Sternsche Verein erwarb sich daS Verdienst, einen Anfang mit der
großen Beethovenschen Messe zu machen. Schwer zu verantworten ist es
allerdings, daß Berlin bis jetzt diesem mächtigen Werke scheu aus dem Wege
gegangen ist. Um die Sänger nicht allzusehr zu ermüden, hatte der Dirigent
sich für jetzt auf die beiden ersten Sätze, das Kyrie und Gloria, beschränkt.
Zuversichtlich hoffen wir, das ganze Werk in kurzem zu hören, umsomehr,
als alle Sänger sich mit Begeisterung der Aufgabe unterzogen und Vorzüg¬
liches leisteten. Ob das, was in diesem Winter davon zu Gehör kam, das
Publicum grade angesprochen hat, möchten wir bezweifeln; und wer in der
Kunst nur das Ansprechende verlangt, ^wird wol darauf verzichten müssen;
imponirt hat es aber gewiß allgemein durch den wunderbaren Reichthum der
musikalischen Erfindung und die Gewalt des Ausdruckes. Ist die Messe kirch¬
lich oder weltlich-dramatisch? Ich glaube, keines von beiden. Sie legt zu
starke Accente auf die Einzelnheiten der Worte, auf die verständige, endliche
Seite des Textes, um kirchlich zu sein; sie beruht zu sehr auf polyphonen
Wirkungen, um als weltlich-dramatisch gelten zu können. Etwas schroff schienen
uns die einzelnen Glieder des Werkes herauszutreten. Ueberall auch sonst
erscheint Beethoven als einer der manu liebsten Komponisten, hart und eckig,
wie die Formen des Mannes, aber bestimmt und gewaltig. Die Werke der
weicheren Jugend mußten frühzeitig den ernsten Schöpfungen deö Mannes
weichen, und diese den titanenhaften deö Alters. Nicht als ob auch im Spa-
echten Alter nie Nachklänge der weichsten Gefühle auftauchten; welch ein
Schmelz herrscht nicht in dem Adagio der neunten Synfonie! Aber im
Ganzen läßt sich doch dieser Stufengang bei Beethoven verfolgen, und in
keinem seiner Werke vielleicht tritt die Richtung zum Vereinzeln, zu äußerster
Bestimmtheit und Schärfe des Ausdrucks mit allen ihren schroffen und jähen
Uebergängen so offenbar hervor, als grade in der Messe.
Mehre Oratorien oder wenigstens der Gattung verwandte Werke kamen
als vollständige Neuigkeiten in diesem Winter zur Aufführung. Zuerst ein
Oratorium „Luther" von Julius Schneider in Berlin, mit einem Text, der
heutzutage nicht mehr hätte gedruckt werden sollen. Auch die Composition
konnte sich keine besondere Theilnahme verschaffen. Ein Eklekticismus, der
gar zu oft ins Profane überging; weichliche Sentimentalität, namentlich in
der Behandlung der Person Luthers; eine gewisse musikalische Routine, äußerer
Fluß, das sind fast die einzigen Vorzüge, die man dem Werke nachrühmen
kann. Schneider hat manche beliebte Compositionen kleineren Genres geschrie¬
ben, namentlich solche, die gesellige Unterhaltung zum Zweck haben; aber an
einen Stoff von dieser Größe, gegen dessen musikalische Behandlungöfähigkeit
sich außerdem manche Bedenken vorbringen lassen, hätte er sich nicht wagen
sollen. Eine höhere Stufe nimmt der David von Reisstger ein, indem wir
eine gewisse Einheit des Stils, Klarheit und Natürlichkeit des Ausdrucks und
der Form, ein sicheres Bewußtsein des eignen Willens wohl anerkennen.
Unsere musikalischen Aristokraten haben das Werk allzu übel behandelt, mit
dem etwas leidenschaftlichen Hasse, der seit einiger Zeit gegen alle sogenannte
Kapellmeistermusik Mode wird. Aber verschweigen können wir es ebensowenig,
daß der musikalische Inhalt des Oratoriums klein und unbedeutend war; ja
selbst die Würde des Kirchenstils, die man ohne originelle Schöpferkraft theil¬
weise nachahmen kann, zeigte sich nicht festgeholten. Es ging alles zu sehr
ins Ebene, Gefällige, leicht Faßliche; der Ausdruck erhob sich selten über eine
gewisse verständige Nichtigkeit; ein beschränkter Umfang der Phantasie, für den
wir durch die gute Ordnung, die darin herrscht, nur einigermaßen schadlos
gehalten werden. — Der oben erwähnte Psalm von Blumner war nachklingend,
aber etwas zu weich. Das Oratorium von Rungcnhagen „der Tod Abels"
zu einem Text von Metastasto, das der bescheidene Componist schon vor dreißig
Jahren vollendet hatte und, obschon es sein Lieblingswerk war, doch niemals
zur Aufführung brachte, zeichnet sich vor allem durch eine gewisse Reinheit des
Stils, und eine durchweg edle Haltung aus. Aber mit dem Stoffe selbst und
mit der Bearbeitung desselben durch Metastasto entstehen, der heutigen Gewohn¬
heit gegenüber, unüberwindbare Schwierigkeiten. Theils ermüdet uns die
Übergroße Ausdehnung der Recitative; theils läßt uns der Inhalt selbst etwas
kalt, dem es nicht nur an lebendiger äußerer Handlung, sondern auch in den
lyrischen Partien an moderner Kraft und Wärme des Gefühls fehlt; am
meisten Interesse hat noch Kam für uns, in dessen Brust die Leidenschaften
sich zu höheren Wogen aufthürmen. Im Ganzen überwiegt eine didaktisch
moralische Stimmung, mit der keine Art von Kunst sonderliches ausrichten
kann. So waren dem Componisten überall die Flügel beschnitten; nur hier
und da, namentlich im zweiten Theil des lang ausgedehnten Werkes, ragen
mächtigere Gipfel hervor, die ihren Eindruck auf die Zuhörer nicht verfehlten. —
In ähnlicher Weise verhielt es sich mit der Dido von Bernhard Klein, einer
Oper freilich, die vor vielen Jahren auf der Bühne ohne Erfolg gegeben,
dies Mal in einem Concert zur Aufführung kam. Auch hier herrschte edle
Haltung, ernster und würdiger Ausdruck. Aber der damals noch jugendliche
Componist schloß sich zu eng an das Vorbild Glucks an. Die Dido war eine
ihm gewiß sehr lehrreiche Studie, doch können wir keinen Grund entdecken,
der ihre jüngste Wiederaufführung rechtfertigte. Schließlich sei noch einer
Aufführung der Walpurgisnacht von Mendelssohn im Opernhause erwähnt,
zu der sich die Singakademie, der Sternsche und Jähnssche Verein und die
k. Kapelle vereinigt hatten. Das Werk selbst ist in Berlin noch nicht so
bekannt und beliebt, als es sein sollte; es enthält fast alle Richtungen, in
denen Mendelssohn sich auszeichnete, zu schöner Harmonie in sich vereinigt: das
gemüthvoll Lyrische, das feierlich Erhabne, das Romantische und Feenhafte;
darum ist es aber durchaus nicht eine Wiederholung oder Abschwächung des
bereits sonst Bekannten, es ist frisch in der Erfindung, anmuthig und reizvoll
in der Ausführung. Es waren wol nahe an 600 Sänger, die dies Mal dabei
mitwirkten, eine für den Charakter der Composition eigentlich viel zu große
Auzahl; dazu kam eine ungünstige Aufstellung, ungleichmäßige Einübung, und
so war denn der Eindruck kein vollständig befriedigender. Man hörte namentlich
von den Männerstimmen wenig; Unsicherheit und Verwirrung blieb ebenfalls
nicht aus, und man erhielt von neuem den Beweis, daß Verstärkung der
Massen nicht immer eine Verstärkung der Wirkung ist.
Ich knüpfe an den Bericht über die Thätigkeit der größeren Singvereine
eine kurze Mittheilung über verschiedene Männer- und Frau c n gesang-
ve reine an. Der Männergesang hat in Berlin niemals sich zu großer Be¬
deutung erhoben. Zwar ist die erste Liedertafel, die Zeltersche, hier entstanden;
andere sind nachgefolgt, und noch vor wenigen Jahren ist eine neue gegründet
worden, die, bis vor kurzem unter der Leitung Truhns, jetzt unter Dorn, wol
die meisten Mitglieder zählt; im Vergleich zu der Größe Berlins hat sich aber
nie ein besonderes Interesse dafür gezeigt. Wir sind damit vollständig einver¬
standen; denn die übermäßige Cultur dieses in bescheidenen Grenzen ganz
achtbaren Zweiges der Musik bringt den Stimmen und dem musikalischen Ge¬
schmack nur Verderben; ^die weichlichen und die wüsten Elemente überwiegen
darin. Fast stets die meisten unsrer Männerquartette sind leider so beschaffen,
daß es entweder reine Kraftlieder oder sentimentale Liebesergüsse sind; das
Mittlere, einzig Gesunde, die Durchdringung von Ernst und Milde, Kampf
und Versöhnung, Kraft und Anmuth findet hier selten eine Stätte. Am ge¬
sundesten sind uns immer noch die ursprünglichen Volkslieder erschienen, die
sich wenigstens von rafftnirter Unnatur frei halten; es ist daher zu billigen, daß
sich unter der Leitung Erks, des gründlichen Kenners altdeutscher Musik, ein
meist aus Lehrern bestehender Verein gebildet hat, der sich die Cultur des
(mehrstimmig bearbeiteten) Volksliedes zur alleinigen Aufgabe setzt. Derselbe
hat seit seiner Gründung viele durch zahlreichen Besuch und lebendigen Bei¬
fall ausgezeichnete Aufführungen veranstaltet, und wir erkennen gern an, daß
auch er seine berechtigte Stellung in dem Musikleben Berlins einnimmt; ver¬
schweigen dürfen wir indeß die Mängel der Ausführung nicht, die von jeher
an seinen Leistungen unangenehm berührten. Durch häufigen Gebrauch der
Falsetstimme bekommt die ganze Klangmasse etwas zu Weichliches; gewisse rohe
Töne werden freilich dadurch vermieden, aber den Melodien, die in der Höhe
oft ihre Hauptaccente haben, wird gar zu sehr die Spitze abgebrochen. Die
Aussprache der Worte ist sehr deutlich, die Intonation meist sicher, der Takt
wird mit unfehlbarer Festigkeit gehalten, aber alle diese Vorzüge correcter Aus¬
führung machen sich auf Kosten deS natürlichen musikalischen Flusses geltend,
die Töne und Silben vereinzeln sich, der Ansatz ist etwas hart und eckig, jene
Verbindung und Verschmelzung, die das Gefühl so warm erregt, so wohlthuend
anspricht, wird nicht erreicht. Auch Frauengesangvereine bestehen hier, aber
freilich in anderer Weise. Mehre unsrer Gesanglehrer haben nämlich die Sitte,
ihre Schüler zu gemeinsamen Uebungen zu vereinigen. Da nun ungleich mehr
Damen als Männer Gesangunterricht nehmen — das Verhältniß wird etwa
10:1 sein — so entstehen meistens weibliche Vereine daraus, von denen einige
in sehr anerkennungswerther Weise in die Oeffentlichkeit getreten sind. Schon
oben nannte ich den Kotzoldtschen Verein, in dem freilich auch die männlichen
Stimmen stark vertreten sind; ansprechende Chor- und Sololeistungen haben
wir von den Damen gehört, die unter Leitung der Frau Zimmermann und
der Frau Justizräthin Burchardt ihre Studien machen. Den Preis verdienen
aber die Leistungen des Teschnerschcn Vereins, die sich durch geschmackvolle
Auswahl der Musikstücke, durch äußerst correcte Ausführung und durch eine
zwar etwas zu zarte und milde, aber sehr gebildete und dem Wesen der Weib¬
lichkeit entsprechende Klangfarbe auszeichnen. — Der Zusammenhang führt
uns noch auf ein paar musikalische Zusammenkünfte, die zwar nur den Charakter
geselliger Unterhaltung an sich trugen, aber weite Theilnahme fanden und nicht
nur in Privatkreisen, sondern auch in den öffentlichen Blättern vielfach und
weitläufig besprochen wurden. Es waren dies Liederfeste, Gesangsfeste im
Freien, von dem Sternsehen Verein und dem Domchor unternommen, denen
der helle, frische Klang der Soprane, die gesunde, auf den natürlichen vier
Stimmen beruhende Vollstimmigkeit und der reiche Schmuck schöner, gebildeter
Frauen einen viel größeren Reiz verlieh, als bloßen Männergesangsesten jemals
eigen sein kann. Das Fest des Sternsehen Vereins fand in Treptow, am Ufer der
Spree, das des Domchors in Schulzendorf, nahe bei Tegel, am Rande des dunkel
schattigen Waldes statt. Zahlreich hatten sich Zuhörer zu beiden eingefunden;
die sinnigen und heitern Lieder tönten in trefflicher Ausführung weithin ins Freie.
Ein Deutscher, oder, wenn man will Deutsch-Amerikaner, durch irgend welches
Schicksal nach Peru in das Thal des Harpaflusses verschlagen, fand daselbst im
Juli -1854 die dortige Gesellschaft voll Aufregung über das Erscheinen eines Zugs
von Fremden, die weder Spanisch noch die dort heimische Jndiancrsprache Quichua
redeten. Die hohen Biberhüte und die rothen und blauen wollenen Hemden, die
sie dem allgemeinen Gerücht nach trugen, charakteristrten sie dem in kalifornischen
Sitten heimischen Deutschen sofort als einen jener Züge von Diggers, welche
die abnehmenden Goldernten in dem Eldorado Nordamerikas bewogen, schwarm-
weise nach andern Strichen der westlichen Halbkugel aufzubrechen, um dort
neue Gruben des edeln Metalls aufzuthun. Die Hoffnung, unter den califor-
nischen Abenteurern auch einige Landsleute zu finden, trieb den Deutschen
an, trotz allen Abrathens seiner creolischen Wirthe einen Ritt nach Ayacucho
zu wagen, wo die Fremdlinge grade Rast halten sollten. Ein Wagstück war
der Ritt allerdings, denn Peru befand sich damals in voller Revolution.
Die Regierungstruppen hatten sich von Ayacucho auf Huanta zurückgezogen
und. die erstere Stadt angeblich in den Händen des in den umliegenden
Pampas wohnenden Jndicmerstamms, der wilden und grausamen Morochucos,
gelassen. Wie gewöhnlich bei südamerikanischen Revolutionen handelte es sich
auch dies Mal nicht um politische Principien, sondern die Erhebung war eine
Folge von persönlichen Rivalitäten um die Präsidentschaft, zu der sich dort
jeder für berechtigt hält, der es bis zum General gebracht hat — ein Grad,
der in ganz Südamerika mit unglaublicher Verschwendung ausgetheilt wird.
Das erste Signal zu der diesjährigen Revolution hatte zwar ausnahmsweise
kein Militär gegeben, sondern Don Domingo Elias, einer der reichsten Grund¬
besitzer des Landes, aber selbst die beträchtlichen Geldmittel, über die er ver¬
fügte, konnten ihm nicht die ihm fehlenden Sympathien des Heeres ersetzen
und sein Unternehmen war schon so gut als gescheitert, als er in dem General
Castilla einen unerwarteten Bundesgenossen fand. Dieser Castilla war der
Amtsvorgänger deS damaligen Präsidenten der Republik, Echenique, und
übte anfangs über seinen Nachfolger eine unbedingte Herrschaft aus.
Schließlich fiel es jedoch Echenique ein, selbst die Zügel der Herrschaft zu er¬
greifen; es kam zwischen ihm und Castilla zum offenen Bruch. Letzterer flüchtete
nach dem Süden und errichtete in den reichen Provinzen Cuzco, Puna und
Moquegua ein Heer von Insurgenten, welches Bolivia freundnachbarlich mit
Geld und Mannschaften unterstützte. Die bewaffnete Macht des neuen Prä-
sidentschaftscandidaten nahm den pomphaften Namen Ejercito Libertador (Be¬
freiungsheer) an und rückte den Negierungstruppen entgegen, die aber, Vor¬
sicht als den besten Theil der Tapferkeit anerkennend, Ayacucho räumten und
sich nach Huanta zurückzogen. Der schließliche Ausgang des Kampfes war,
daß Echenique, den seine Soldaten in Stich ließen, nach England entfloh und
Castilla den Präsidentensitz einnahm.
Es hatte sich jedoch der Sieg noch nach keiner Seite geneigt, als unser
deutscher Landsmann den Ritt nach Ayacucho unternahm und seine Freunde
mochten ihn wol mit einigem Bedenken aufbrechen sehen, denn amerikanische
Prätendentenheere haben zumal vor dem entscheidenden Siege stets eine mehr
oder minder nahe Verwandtschaft mit Räuberbanden und die Negierung weiß
in ruhigen Tagen selten die wilden Indianer in Zaum zu halten, geschweige
denn in Zeiten der regelmäßig wiederkehrenden Revolutionen. Aber im Ganzen
gilt der Haß der Indianer immer mehr den Regierungsbeamten und ein Frem¬
der, wenn er nicht grade ein Godo (ein Spanier) ist, wird von den revolu¬
tionären Parteien meistens als Neutraler behandelt. Diese Rücksicht und
noch mehr die Sehnsucht, in den Nordamerikanern halbe Landsleute zu begrü¬
ßen, bestimmten den Deutschen endlich zur Reise. Was er auf derselben er¬
lebte, erzählt er selbst sehr ausführlich in dem von Julius Fröbel trefflich re-
digirten deutschen „San Francisco Journal." Schritt für Schritt können wir
ihn nicht begleiten, aber wir wollen versuchen, die interessantesten der von ihm
erzählten Erlebnisse zu einer kleinen Skizze zusammenzudrängen, welche einigen
Begriff von dem Leben und den Zuständen in jenem von Europäern nicht
allzuoft betretenen Striche Südamerikas gibt.
Als der Reisende im heißen Mittagssonnenbrand auf müden Maulthier
die Stadt Ayacucho erreichte, waren die Straßen menschenleer und dichte Gar¬
dinen verhüllten die Balkone der mit bunten Gemälden geschmückten Häuser,
denn alles hielt die vorschriftsmäßige Siesta. Dennoch lockte der selten um
diese Tageszeit vernommene Hufschlag einige Neugierige an die Thüren, die
den Fremden, ehe er sich nur erkundigen konnte, denn schon sein Aeußeres
verrieth den Abkömmling des kälteren Nordens, nach dem Corral wiesen, wo
die Nordamerikaner Herberge genommen hatten. Er brauchte nur einen Blick
hineinzuwerfen, um zu sehen, daß sich seine Hoffnungen nicht getäuscht
hatten, denn die ringsherum liegenden Aerte, Sägen, Flinten, Zinnpsannen,
Kessel, Piken und sonstige Reise- und Bergwerksapparate ließen es außer allem
Zweifel, daß hier eine Gesellschaft go-ldsuchender Californier rastete. Sie selbst
umgaben bald den neuen Ankömmling und es zeigte sich nun, daß es der
Mehrzahl nach Nordamerikaner, jedoch mit einer starken Beimischung von
Deutschen und Jrländern waren. Sie kamen nicht direct aus Californien,
sondern hatten bereits ihr Glück in Australien versucht und sich von dort durch
das neuauftauchende Gerücht von in Peru entdeckten unerschöpflichen Gold¬
gruben verlocken lassen.
Sie waren nur eine einzelne Schar von mehr als 2000 Auswanderern,
welche im Februar von Melbourne und Sidnev nach Callao abgesegelt waren.
Als sie dort ankamen, erfuhren sie freilich, daß sie von den Schiffscapitänen
bitter getäuscht worden waren, deren Habgier das Märchen erfunden hatte,
um bei dem Mangel von Waarenfracht ihre Schiffe mit lebendiger Fracht zu
füllen. Die meisten der Auswandrer lungerten nun unbeschäftigt in Callao
und Lima herum und in der unfreiwilligen Muße erhitzte sich ihre Phantasie
trotz der eben erfahrenen Täuschung bereitwillig an den zahlreichen Sagen
von unerschöpflichen Gvlvlagern im Innern des Landes, die seit der Eroberung
den Haupt- und Grundstock der Volkspoesie in Peru bilden. Die Speculations-
sucht der Einwanderer bemächtigte sich dieser Sagen und alsbald hatten sich
3 bis i besondere Gesellschaften gebildet, deren jede eine als besonders viel¬
versprechend geschilderte Gegend auszubeuten gedachte. Die jetzt in Ayacucho
eingetroffene war von den hochfliegendsten Hoffnungen erfüllt, die einer soliden
Begründung leider nur zu sehr zu entbehren schienen, denn bei näherer Er¬
kundigung zeigte es sich, daß ihre einzigen Gewährsleute eingeborene Peruaner
waren, die nur Spanisch redeten, von welcher Sprache kein einziger der Gold¬
suchenden ein Wort verstand und daß der Uebermittler der so erlangten Aus¬
künfte ein Dolmetscher war, dessen Anstellung aufhörte, sowie die Gesellschaft
auseinanderging uno der daher an dem Zustandekommen einer neuen Erpedition
ein ganz besonderes Interesse hatte. Der einzige Trost war noch, daß, so un¬
bestimmt und phantastisch auch die Angaben über den Reichthum der aufzu¬
findenden Goldgruben lauteten, wenigstens über die Oertlichkeit, wo sie zu
finden sein sollten, kein Zweifel mehr bestand. Dr. E., ein in Peru wohlan¬
gesehener und als Geolog bekannter Mann, dem die Nordamerikaner die ein¬
zige, auf einige Glaubwürdigkeit Anspruch habende Auskunft verdankten, hatte
ihnen eine von ihm selbst entworfene Karte eines Landstrichs mitgegeben, den
er bei seinen vor zehn Jahren im Auftrag der Regierung vorgenommenen
Messungen besonders goldreich befunden hatte. Sie umfaßte das Bergland
(die Montaüa) von Paucartambo und namentlich den südöstlichen Theil desselben,
wo zwei den Fluß Marcapata entlang laufende Hügelketten, Baziri und Kamanti,
als besonders der Beachtung werth bezeichnet waren. Soviel stand wenigstens
fest, daß in früheren Zeiten die Indianer in jener Gegend ergiebige Goldwäschen
gehabt hatten und auch noch in neuster Zeit hatten mehrfach Reisende in diesem
Landstriche goldhaltige Geschiebe gefunden. Freilich war dies noch lange kein
Beleg für einen solchen Reichthum, wie ihn Dr. E. geschildert hatte, der oft¬
mals nach heftigen Regengüssen die Flüsse ganz gelb und glänzend von dem
mit dem losgespülten Sande darin schwimmenden Golde gesehen haben wollte
und behauptete, seine von der Oberfläche genommenen Prospekte (Waschproben)
hätten selten weniger als i bis 6 Loth die Pfanne gegeben, während die
Goldschmiede in Cuzco aus seinen mit verschiedenen Schichten des Bodens
gefüllten Satteltaschen nicht weniger als 12 Loth gewonnen hätten. Auch mit
Schilderungen von Quarzblöcken, in denen man deutlich die Goldadern schwim¬
men sah, wußte er die Phantasie zu reizen und doch war Or. E. im Uebrigen
ein glaubenswerther Mann; aber wenn ein Peruaner von den Goldschätzen
seines Landes zu reden anfängt, so geht sicher seine Phantasie mit seinem
Verstände durch. Wie oft hört man den Bewohner des ärmlichsten Ramado
mit flammenden Augen von den unermeßlichen Schätzen erzählen, deren Lager¬
stätte er selbst oder wenigstens sein Vater entdeckt hat; und wenn man dann
verwundert fragt, warum nicht er selbst, der doch gewiß nicht in der Lage ist,
solchen Reichthümern freiwillig zu entsagen, den Schatz längst gehoben habe,
so kommt die gewöhnliche Klage über los Kardaros, die Indianer, die mit
jedem Jahre furchtbarer werben und denen mit Erfolg entgegenzutreten der
energielose Creole Südamerikas längst die Hoffnung verloren hat. Den dazu
nöthigen Muth erwartet er nur von den Nordamerikanern, deren Einwande¬
rung er mit einem aus Beschämung über die eigne Unzulänglichkeit und freu¬
diger Hoffnung auf die nun zu erschließenden Reichthümer gemischten Gefühle
sieht.
Unser deutscher Landsmann fand die aus 21 Personen bestehende Gesell¬
schaft, der er sich sofort anschloß, mit allen zu ihrem Unternehmen nöthigen
Gegenständen wohlauögerüstet und auch ausreichend mit Waffen versehen, denn
alle besaßen fünf- bis sechsläufige Revolvers und Büchsen. Jeder war mit
einem Bowiemesser und viele außerdem noch mit Hirschfängern bewaffnet.
In Ayacucho waren sie grade zur rechten Zeit angekommen. Die Ne-
gierungstruppen hatten die Stadt seit mehren Tagen geräumt und man sah voller
Angst stündlich einer Heimsuchung von den für Castilla aufgestandenen Mo-
rochucos entgegen, die geschworen hatten die Stadt in'Brand zu stecken, wol
weniger der schlechten Gesinnung wegen, als der Beute, die ihnen dabei in
Aussicht stand. Unter solchen Umständen war den rath- und hilflosen Creolen
die Gegenwart von 20 wohlbewaffneten Nordamerikanern, die ihnen wie eine
Art Nordlandsrecken erscheinen mochten, ein nicht geringer Trost. Anfangs
hatte man sich von ihnen als Ketzern wol scheu zurückgezogen; die Angst vor
den Indianern heilte aber wunderbar rasch die Zweifel an der Rechtgläubigkeit
der Fremdlinge und die ganze Stadt schleppte ihre Habseligkeiten nach dem
Corral, den die Amerikaner zur Herberge erwählt hatten und freudestrahlend
flüsterten sich auf den Straßen die Spießbürger deö Orts zu, wie einzelne, als
Spione in die Stadt geschundene Indianer sich beim Anblick der bewaffneten
UankeeS erschrocken wieder zurückgezogen hätten. Eine Bitte der Stadtbewoh¬
ner, sie bei der Bildung einer Nationalgarde zu unterstützen, lehnten jedoch
die Amerikaner klüglich ab; sie wollten Gold im Lande suchen und keine Po¬
litik treiben und standen mit Recht an, für eine der kämpfenden Parteien auf¬
zutreten, da jede noch die Oberhand gewinnen konnte.
Die mehrfach erwähnten Morochucos sind neben den JscuchanoS fast die
einzigen Jnvianerstämme, welche ihre alte Volkseigenthümlichkeit bewahrt haben.
Aber während der Stamm der JscuchanoS unabhängig von der peruanischen
Regierung, welcher er nie einen Tribut bezahlt hat, auf den lieblichen Berg¬
halden um Huanta lebt und jetzt noch nur den Rey als seinen Herrn aner¬
kennt, thut sich der Morochuco, ein die herdenreichen Pampas der kalten
Puna bewohnendes Reitervolk, viel auf seine republikanische Gesinnung zu
Gute. Er schreibt sich einen großen Theil des Ruhms der günstigen Ent¬
scheidung der Freiheitsschlacht von Ayacucho, die der spanischen Herrschaft in
Südamerika den letzten Stoß versetzte, zu und hat sich seitdem stets mit Eifer
an allen Revolutionen betheiligt. Zwischen ihm und der seinem Sitz nahe¬
gelegenen Stadt Ayacucho, die in Vergleich mit ihrer Umgebung und nach
peruanischen Begriffen reich genannt werden kann, hat stets die größte Feind¬
schaft bestanden und es darf daher nicht Wunder nehmen, daß die Bewohner
derselben, trotz der Proclamationen Castillas, welcher jede Plünderung aufs
strengste zu ahnden drohte, einige Besorgniß für ihr Eigenthum fühlten.
Reisefertig waren die Uankees, aber aufbrechen konnten sie noch nicht.
Ohne Rücksicht auf die politischen Zustände des Landes zu nehmen, hatten sie
sich in Lima von der dortigen Negierung Pässe nach dem Amazonenstrom aus¬
stellen lassen, die, als sie in die Gegenden kamen, welche die Revolution an¬
erkannt hatten, von den Behörden nicht für giltig angesehen wurden. Da
ihnen zudem bei dem Abzug der Negierungötruppen General Deustua sämmt¬
liche Papiere abgenommen hatte, so blieb ihnen nichts übrig, als die Ankunft
Castillas abzuwarten, der in einigen Tagen eintreffen sollte und von dessen
Gunst sie allein hoffen durften, Erlaubniß zur Fortsetzung ihrer Reise zu be¬
kommen. Bereits am nächsten Sonntag langte die Nachricht an, daß der Re-
vvlutionsgeneral nur noch zwei Leguas von der Stadt entfernt sei und noch
im Laufe dieses Tages seinen Einzug halten werde. Im Nu gewann alles
einen festlichen Anstrich, die geschmückten Kirchen glänzten im Scheine un¬
zähliger Kerzen, lange Fahnen wallten überall von den Balkonen und in der
nach dem Markte führenden Straße erhoben sich grüne, mit Blumen, ge¬
schmückte Triumphbogen. Aber mitten in den freudigen Jubel der guten
Bürger, nächste Nacht wieder unter dem väterlichen Schutze der Bajonette
schlafen zu können, fielen plötzlich wie ein lähmender Donnerschlag die lang¬
gezogenen dumpfen Töne des Kuhhorns, das von fern herüberschallte. Bald
klangen die Straßen wieder vom Gestampf der Pferde und dem Klirren der
Waffen und unter dem zur Feier der Wiederkehr gesetzlicher Ordnung er¬
bauten Bogen erschien der Vortrab der Mvrochucos. In langem Zuge zu
zwei nebeneinander umritten sie, etwa 3 bis 4000 Mann stark, die Plaza und
stellten sich rings um dieselbe auf. Die Spitze bildeten sechs Kuhhornträger, denen
der Caudillo mit seinen Häuptlingen und dann die übrige Reiterei folgte, alle
auf den kleinen, aber unverwüstlichen Pferden der Puna, mit langen Lanzen
und zuweilen einem verrosteten Säbel oder einer Flinte ohne Schloß. Dann
kamen diejenigen, die ein Pferd weder besaßen, noch hatten auftreiben können,
zu Fuß, eine höchst buntscheckige Sammlung aller möglichen Waffengattungen
aufzeigend, die bei den letzten mit einem knorrigen Knüppel etwas drastisch
schloß.
Mit starrem Entsetzen schauten die Ayacuchaner auf die zerrissenen Pon¬
chos und die finsteren Jndianerphysiognomien, welche die Möglichkeit der ihnen
zugeschriebenen Greuelthaten grade nicht Lügen straften und mehre warfen sich
eiligst in die Sättel, um die Ankunft der nachrückenden regulären Truppen zu
beschleunigen. Dennoch wäre es wol zu keinen Gewaltthätigkeiten gekommen
ohne die Amerikaner, von denen sich zwei mit unvorsichtiger Neugier etwas zu
nahe an den Jndianerhaufen drängten. Ihre ansehnlichen, starken Pferde er¬
regten die Aufmerksamkeit des Häuptlings und seine Geberden ließen es den
Amerikanern rathsam finden, sich zu entfernen. Ehe sie jedoch noch ihre Woh¬
nung erreichten, kam ihnen eine Abtheilung Morochucos mit hochgeschwun¬
genem Lasso nachgesprengt und die Verfolgten hatten eben noch Zeit sich vom
Pferde zu werfen und zu ihrer Hofthür hineinzuschlüpfen, um den über ihren
Köpfen wirbelnden Schlingen zu entgehen. Die Pferde blieben jedoch draußen
und die Indianer wollten sie eben fortführen, als einer von den AankeeS
einen Revolver auf sie anlegte, worauf sie die Beute wieder losließen. Aber
mittlerweile waren andre Indianer nachgeeilt, die schreiend und tobend gegen
das Hofthor drängten, während drinnen die Amerikaner sich mit den in einem
nahen Speicher lagernden Ballen Alpaca- und Vicunawolle zu verbarrikadiren
anfingen. Allem Anschein nach wäre es hier zu einer kleinen Belagerung ge¬
kommen, wenn nicht jetzt der Ruf ertönt wäre: sie kommen, sie kommen! der
den Lärm verstummen machte und die Indianer bewog, sich zur feierlichen Ein¬
holung zu ordnen. Denn es kam wirklich das Hereito libertaSor ekel 8ur,
und Lu, Lxoklicinow, el den« merito ^snsral Ovn Ksmon (üastilla, Kran IVlaris-
eui, ?rösi6suis <Zs 1a Kspudlieg, Iib«zrta6ol- nel ?in'u wurde bei seinem Er¬
scheinen auf dem Markte von dem die Luft mit Vivat erschütterndem Volke
vom Pferde gehoben und auf den Schultern des süßett Pöbels in die Kathe¬
drale getragen, wo ihn der Bischof und die Geistlichkeit zur Begehung eines
feierlichen Hochamts erwarteten. Die Armee bestand aus etwa i bis 3000 Mann,
die erste Division, der noch drei andre folgten, leidlich gut gekleidet und be¬
waffnet, und schien allerdings einen Anflug von Enthusiasmus zu besitzen, ohne
den sie auch nicht so rasch hätte geschaffen werden können. Die Peruaner
betheuerten stets mit echt römischem Stolze, sie sei aus der Erde gestampft.
Es wurde den Amerikanern nicht leicht, eine Audienz bei Castilla zu er¬
langen, aber endlich erreichten sie ihren Zweck durch einen glücklichen Zufall.
Der Deutschamerikaner, den die Goldsucher zu ihrem Abgeordneten ernannt
hatten, war grade in Unterhandlungen mit dem Geheimsecretär des Generals,
einem jungen intelligenten Advocaten begriffen, als die Thür aufging und
Castilla eintrat, um durch das Zimmer nach seinem Bureau zu gehen. Er ist
ein Mann von etwa SO Jahren, klein von Wuchs, aber sein gebaut, mit ver¬
hältnißmäßig etwas zu langem Kopfe. Sein Gesicht besitzt einen Ausdruck
großer Entschlossenheit, der sich deutlich aus der scharfgebogenen Nase, aus
der hohen Stirn und aus den kühnen grauen Augen, die unruhig unter den
buschig weißen Augenbrauen umherrollen, ausspricht, obwol in den letzteren
dann und wann der Funke jener finsteren Tücke glüht, die auch bei lange
fortgesetzter Mischung nie ganz aus dem indianischen Blute zu vertreiben ist.
Sein Vater soll Maulthiertreiber gewesen und er anfangs diesem Berufe ge¬
folgt sein, bevor er schon in früher Jugend in Kriegsdienste trat, wo er sich
durch Unerschrockenheit und Geistesgegenwart rasch in die Höhe schwang.
Jedenfalls gereicht es ihm zum Verdienst, daß er seine Präsidentschaft ohne
Unruhen bis zum gesetzlichen Ende brachte— ein in Peru bis dahin unerhör¬
tes Beispiel — und an seiner Popularität (freilich mehr bei den niedern Classen)
läßt sich, trotz seiner oft zu brutaler Rohheit ausartenden Härte nicht zweifeln,
da der für ihn glückliche Verlauf der Revolution wesentlich durch dieselbe be¬
dingt wurde. Sie beruht aus Beweisen persönlicher Tapferkeit, die er wieder¬
holt gegeben, auf seiner Unerschrockenheit, wie er z.B. auf seinem Zuge gegen
Vivanco unbewaffnet mitten unter eine Schar Aufständischer trat und sie zur
Pflicht zurückführte und endlich auf seiner Bereitwilligkeit, im Felde stets die
Strapazen des gemeinen Soldaten zu theilen. Bei den höhern Classen ist er
allerdings nicht beliebt und sie neigen sich eher seinem Gegner zu. Dies
macht jedoch wenig in einem Lande aus, wo sich die weichlichen Creolen stets
vor den energischer« Halbblutrayen, aus denen sich das Heer recrutirt, beu¬
gen müssen.
Der Deutschamerikaner ließ sich dem Präsidenten vorstellen und trug ihm
seine Angelegenheit vor. Castilla warf ihm einen scheelen, mißtrauischen Blick
zu und frug, ob die Gesellschaft mit Pässen des nordamerikanischen Gesandten
in Lima versehen sei, was leider verneint werden mußte. Darauf befahl er
ohne weiteres Besinnen, daß der Polizeivräfect Sorge zu tragen habe, daß
die Fremdlinge die Stadt binnen 2i Stunden in der Richtung, in der sie ge¬
kommen, verließen.
Eigentlich, meinte er, sollte er sie gar nicht ruhig ziehen lassen, denn
Briefe von der Küste versicherten ihm, daß sich bewaffnete Nordamerikaner auf
der Straße befänden, um gegen ihn zu conspiriren. Als darauf der Abgeord¬
nete zum Beweis der politischen Harmlosigkeit der Erpedition einen Empfeh¬
lungsbrief hervorzog, den ihnen der früher erwähnte Dr, E. an einen Freund
in Cuzco, den Obersten B., mitgegeben, machte er die Sache nur schlimmer.
Ich lese keine Briefe, sagte Castilla, theilen Sie mir seinen Inhalt mündlich
mit; zufällig aber warf er einen Blick auf die Adresse und rief nun aus: „Wie!
Sie wagen mir einen Brief mit solcher Bestimmung zu geben? Das ist einer
der eifrigsten in der schlechten Sache!" und nachdem er die Unterschrift gelesen
hatte, übergab er das Schreiben mit den Worten „ich kenne den Intriguanten,
prüfen Sie den Brief auf das sorgfältigste," dem Secretär und verließ, dem
Abgeordneten noch einen andern vernichtenden Blick zuschleudernd, das Zimmer.
Der verhängnißvolle Brief enthielt nun allerdings weiter nichts als eine Mit¬
theilung der Pläne der Gesellschaft, mit der Bitte, ihr zur Erreichung dersel¬
ben behilflich zu sein; aber der Absender, Dr. E., hatte einen Sohn im Heere
Echeniques und Oberst B., an den er gerichtet war, galt für einen entschiede¬
nen Anhänger des lunarischer Präsidenten, obgleich er an der gegenwärtigen
Bewegung keinen thätigen Antheil genommen hatte. Dies und die Abwesen¬
heit von Pässen des nordamerikanischen Gesandten in Lima, der für einen
Begünstiger der Pläne Castillas galt, genügte dem mißtrauischen Charakter
deS Revolutionsgenerals und er verschärfte seinen frühern Befehl noch damit,
daß er jeden von den Amerikanern, der binnen 2i- Stunden noch in der
Stadr betroffen würde, in Eisen zu legen drohte. Trotz dieses schroffen Be¬
scheids gab der Abgeordnete seine Sache noch nicht auf, sondern trat dem
General, als dieser wieder im Zimmer erschien, .entgegen und betheuerte ihm,
daß seine Excellenz nirgends bessere Freunde finden könnte und daß es höchst
bedrückend wäre, sich grade von dem großen Manne verkannt zu sehen, von
dem seine Auftraggeber allein auf Unterstützung gehofft hätten. Vielleicht aus
Neugier, vielleicht durch eine der Bemerkungen frappirt, blieb der General
einen Augenblick stehen und diesen günstigen Moment ergriff nun rasch der
Abgeordnete, um so gut es ohne alle Vorbereitungen gehen wollte, eine mög¬
lichst wohlgesetzte Anrede zu halten, in welche er einfließen ließ, daß sie, die
Amerikaner, als die Söhne freier Länder und aufgewachsen unter geregelten
Institutionen nie mit einer schwachen und despotischen Regierung, wie die
jetzige Linas, sympathisiren könnten, daß sie genug vom Zustande Perus gese¬
hen hätten, um zu wissen, daß bei der allgemeinen Liebe des Volkes für ihn
der Sieg nicht zweifelhaft sein könne, daß aber auch nur, wenn eine kräftige
Hand, wie die seinige, die Zügel der Regierung führe und für das Land die
glücklichen Zeiten seiner ersten Präsidentschaft erneuere, eine Expedition gleich
der in Rede stehenden der Amerikaner, deren Folgen für Peru unermeßlich
sein könnten, zu gedeihen vermöchte. Diese und ähnliche Schmeicheleien
brachten allmälig ein Gespräch zu Stande, in welchem der Präsident zugab,
daß allerdings in der Erploration der Goldminen Paucartambos, sowie über¬
haupt in der Kolonisation der Montana die höchsten Interessen des Staates
berührt würden, daß das Zustandekommen derselben eine Lebensfrage für Peru
sei und daß er von jeher alle dahin zielenden Unternehmungen mit besonderer
Vorliebe betrachtet habe und auch serner stets soviel in seinen Kräften stehe
unterstützen werde. Nur die gegenwärtige Zeit fand er wenig angemessen für
ein solches Unternehmen. Er erkundigte sich auch, ob die Gesellschaft mit dem
nöthigen Capital versehen sei; doch wußte der Abgeordnete die Beantwortung
dieser verfänglichen Frage — denn das Befreiungsheer litt nicht an Ueber¬
fluß von Geldmitteln— geschickt zu umgehen und als der Präsident nochmals
auf das ihn zu Ohren gekommene Gerücht von fremden Spionen zurückkam,
bat er ihn eine Commission zu ernennen, welche sich durch den Augenschein
überzeugen sollte, daß die Ausrüstung der Erpedition nur zur Verfolgung fried¬
licher Zwecke geeignet sei. Darauf ging Castilla ein und am Abend erschien
der Polizeipräfect mit einigen Offizieren in dem Corral der Amerikaner und
gab nach Besichtigung der Werkzeuge bereitwillig die Erklärung, daß allerdings
hier nur von einer Bergwerks- und nicht von einer militärischen Expedition
die Rede sein könnte.
Die schöne Aussicht nun bald abreisen zu können, blieb jedoch nicht lange
ungetrübt, denn als am andern Morgen, in der Erwartung die Pässe aus¬
gehändigt zu bekommen, der Abgeordnete sich bei dem Secretär einfand, er¬
klärte ihm dieser, daß der Präsident immer noch bei seinem früheren Beschlusse
beharre. Allerdings sei gestern Abend noch Castilla geneigt gewesen, die
Amerikaner unangefochten ihre Straße ziehen zu lassen, aber seitdem hätten
sich die Verhältnisse geändert. Es waren diese Nacht ein eben aus Lima ein-
geiroffener Engländer und ein schon länger im Lande befindlicher Nordameri¬
kaner verhaftet und der Spionage überführt worden und von der Reisegesell¬
schaft hatte einer im Rausche Streit mit einer Schildwache bekommen, die
Pistole gegen sie gezogen und gegen die Offiziere aufrührerische Reden geführt.
Dies hatte den Präsidenten wieder mißtrauisch gemacht und gegen die Fremden
gereizt und der Secretär theilte mit lebhaften Ausdrücken des Bedauerns als
letzten Beschluß Sr. Excellenz mit, daß die Amerikaner außerhalb seiner Vor¬
posten bis Huancavetica (halbwegs zwischen Ayacucho und Lima) zurückgehen
und dort erst die von dem amerikanischen Gesandten in Lima auszustellenden
Papiere erwarten sollten. Ein abermaliger Versuch, den Präsidenten anzureden,
als er wieder durch das Zimmer ging, blieb ohne allen Erfolg und er gab
nur in barschem Tone zur Antwort: „ich habe meinen Willen schon mitgetheilt,
ich kann nicht bei weiterem Vorrücken bewaffnete Leute in meinem Rücken
lassen" — eine Bemerkung, deren strategische Richtigkeit gar nicht in Zweifel
gezogen werden kann, wenn man bedenkt, welches Unheil ein Armeecorps
von 20 bewaffneten Nordamerikanern im Rücken des Befreiungsheeres anrich¬
ten konnte! Alle Bemühungen, noch eine Unterredung zu erlangen, waren
von nun an umsonst, obgleich der Abgeordnete bis Abends neun Uhr nicht aus
dem Vorzimmer wich ; es gelang ihm nicht einmal die Offiziere und den Bischof,
um deren Fürsprache er sich bewarb, für sich zu gewinnen und es wurde ihm
sogar schwer, sich bei ihnen Gehör zu verschaffen, denn die ungnädige Stim¬
mung des Präsidenten wirkte alsbald auf seine Umgebung zurück. Todtmüde
mußte sich endlich der Abgeordnete entschließen, seinen Posten zu räumen, wen¬
dete sich aber erst noch einmal an den Secretär, der von Haus aus für die
Unternehmung der Amerikaner sehr viel Theilnahme an den Tag gelegt hatte,
mit der Bitte, ihm aufrichtig zu sagen, ob noch etwas zu hoffen sei. Ich
bezweifle es fast, gab der Secretär zur Antwort, aber lassen Sie den Muth
nur nicht ganz sinken, denn vielleicht ist doch noch etwas auszurichten; meiner
Unterstützung wenigstens' können Sie versichert sein. Mit diesem kärglichen
Troste kehrte der Deutschamerikaner zu den Seinigen zurück, die nun zu be¬
rathen anfingen, was zu thun sei. Die Debatte war sehr stürmisch und an¬
fangs schien die Mehrzahl sich Gewaltmaßregeln zuzuneigen. Einige schlugen
vor die Reise fortzusetzen, ohne sich weiter um Castilla zu kümmern, andere
wollten sich im Corral verschanzen, noch andere meinten, es sei am besten, einen
Guerillakrieg anzufangen, da man ihnen nun einmal diese Absicht zutraue.
Zuletzt behielten jedoch die Besonnenen die Oberhand und man beschloß, die
Abstimmung bis morgen aufzuschieben. Sie brauchte gar nicht vorgenommen
zu werden, denn unerwartet trat am andern Morgen eine günstige Wendung
der Dinge ein. Als nämlich der Deutschamerikaner sich wieder im Bureau
des Secretärs einfand, ließ ihn dort ein glücklicher Zufall einen alten Be¬
kannten finden, einen Dr. B. aus Huancayo, der während der Revolution in
seiner Provinz für Castilla die aufopferndste Thätigkeit an den Tag gelegt
hatte und deshalb großen Einfluß auf ihn besaß. Er versprach sogleich, diesen
zu Gunsten seines Freundes zu verwenden und seinen und des Secretärs Be¬
mühungen gelang es endlich, die Angelegenheit der Amerikaner einem glück¬
lichen Ende zuzuführen. Am Nachmittage konnte der Secretär dem Abgeord¬
neten mittheilen, daß der Präsident Ayacucho mit den Truppen verlassen und .
die Ordnung der Paßangelegenheit ganz der Discretion des Secretärs über¬
lassen habe. Die Versicherung, daß die Fremdlinge sich nicht mit einer in
leeren Worten ausgedrückten Dankbarkeit begnügen würden, blieb nicht ohne
Einfluß und am nächsten Morgen empfing die Gesellschaft die lange ersehnten
Pässe, wogegen der Secretär die Güte hatte, einen schweren Ring von kali¬
fornischen Golde als Andenken anzunehmen. Eben als der Deutschamerikaner
seinen zukünftigen Reisegefährten unter donnernden Cheers den Erfolg seiner
Sendung mittheilte, traf der vor zwei Tagen von Castilla decretirte Verban¬
nungsbefehl ein, der jetzt natürlich ohne weitere Folgen blieb. Man beschäf¬
tigte sich aufs eifrigste mit Packen und Reisevorbereitungen und schon am
nächsten Tage sahen sich die Amerikaner in Stand gesetzt, der Stadt Ayacucho,
der sie unfreiwillig mehre Tage hatten widmen müssen, den Rücken zu kehren.
Der Weg der Reisegesellschaft folgte dem Längsthale, daS sich durch die
ganze Cordillera zieht, vielfach von kleinen, von Westen nach Osten streichen¬
den Höhenketten oder den von den Flüssen gebildeten Querfurchen durchschnit¬
ten. Abgesehen von ven von den Indianern für leichtere Ladungen benutzten
Lamaherden, reist man auf Pferden oder Mauleseln und selbst die Ausdauer
dieser Thiere reicht manchmal kaum aus, um die steinigen Pfade der Legua
weit aufsteigenden Cuestas zu erklimmen, deren dünne Luft bei den noch nicht
an das Klima gewöhnten Reisenden stets die Symptome vollständiger See¬
krankheit hervorruft. Die ganze Erhebung zwischen der Piedra Parada, wo
man von Lima aus zuerst den Kamm überschreitet, bis Cuzco, mag zwischen
6000 und 15,000 Fuß liegen und der Charakter der Gegend wechselt mit
jedem 1000 Fuß höher oder niedriger ost verschiedene Male am Tage von
der kahlen öden Puna, wo nur hin und wieder die blitzschnelle Erscheinung
der schlanken Vicunnas oder der stolz dahinschwebende Condor die Grabesruhe
der Natur unterbricht, bis zu den im lichten Grün der Zuckerfelder erglänzen¬
den Thälern, wo Schlangen in dem Schatten dichter Büsche lauern und Züge
buntgefärbter Papageien die Luft mit ihrem schrillen Kreischen erfüllen.
Zwischen beiden Extremen liegt der mittlere Gürtel, die eigentliche Sierra,
welcher die Kactuspflanzen einen Ausdruck starrer Eintönigkeit ausprägen.
Die Gletscher der hohen schneebedeckten Kette, die man fast nie aus dem Ge¬
sichte verliert, vermeidet der sich an ihrem Fuße hinschlängelnde Weg und
die eigentliche Tropenvegetation erblickt man erst in ihrer ganzen Ueppigkeit,
wenn man sich in den westlichen Abhängen der Küste und noch mehr in den
östlichen der Montana der Meeresfläche nähert.
Die Reisegesellschaft führte nicht weniger als dreißig und einige Lastthiere
mit sich und da das häufige Umpacken ziemliche Zeit in Anspruch nahm, so
gelang es selten mehr als sieben bis acht Leguas an einem Tage zurückzulegen.
Der Aufbruch geschah meistens schon vor der ersten Morgendämmerung, die
Thiere wurden zusammengetrieben, gesattelt und beladen, zuweilen rasch eine
Tasse Chocolade gemacht und dann wurde der Ritt meistens bis Abend fort¬
gesetzt, — nur unterbrochen von einer kurzen Mittagsrast an einem Bergwasser,
um einen Imbiß aus Käse, Brot und Pisco (ein nach dem Orte seiner Fa-
brication genannter Traubenbranntwein) einzunehmen. Abends bei der An¬
kunft in einem Dorfe oder einer Poststation wurde ein grade leerstehendes
Gebäude bezogen, oder in Ermanglung eines solchen durch Hilfe der Orts¬
gemeinde ein bewohntes geräumt und so ein Quartier gewonnen, was den
Reisenden freilich weiter nichts darbot, als vier leere Lehmwände. Das La¬
ger wurde aus den mitgebrachten Sätteln und Decken bereitet, und als Speise
mußte man froh sein, wenn die Reisenden nicht selbst Vorräthe mit sich führ¬
ten, die heißgepfefferte Chupe (Kartoffelsuppe) mit einer winzigen Zuthat von
Fleisch oder Eiern, wenn es hoch kam, vorzufinden. Das oft schwer aufzu¬
treibende Pferdefutter besteht in Klee, grüner oder ausgedroschener Gerste,
Maiskorn oder getrockneten Maishalmen, aber in den kältern Theilen der
Puna, oder wenn sich vor Einbruch der Nacht kein Quartier erreichen läßt
und der Reisende mit einem Bivouac im Freien vorlieb nehmen muß, müssen
die an den Vorderfüßen zusammengekoppelten Thiere sich ihre spärliche Nah¬
rung selbst auf dem steinigen Boden suchen.
Am Rio Pampas kamen die Reisenden über die erste der detailler peru¬
anischen Hängebrücken, und erreichten noch dieselbe Nacht Chinchero, wo der
Ortspfarrer, als er den Zweck der Erpedition erfuhr, ihnen eine ganze Reihe
Geschichten von dem Goldreichthum der Montcula, dem Reiseziel der Erpe¬
dition, erzählte, deren Glanzpunkt folgende Sage bildete:
„Zur Zeit, als noch die Portugiesen unsere besten Minen im Besitz hat¬
ten und durch ihre unchristlichen Zaubermaschinen unermeßliche Quantitäten
des Metalls aus den innersten Eingeweiden der Erde heraufzogen, hatte
sich an dem unter dem Namen Goropukno (Goldfett) bekannten Felsen ein
Dom. N. niedergelassen, der die armen Indianer auf die schrecklichste Weise
Preßte, so daß ganze Familien, ganze Dörfer in seinen unterirdischen Gruben
dahinstarben. Aber ihn rührte nicht menschliches Elend, er kannte keine Thrä-^
nen, sein Herz hing am Golde. Seinen Reichthum, der sich von Jahr zu
Jahr mehrte, benutzte er nur, um seine Arbeiten auszudehnen, seine Gänge
weiter und weiter zu treiben, und in diesen schritt der Todesengel. Jedes
neue Thal, das sie berührten, verwandelte sich in eine Wüste, die unbearbei¬
teten Felder überwucherten mit Unkraut, die hirtenlosen Herden zerstreuten
sich in den Einöden und unbegraben lagen die Leichen der vorher in ihrer
friedlichen Abgeschlossenheit so glücklichen Bewohner. Da erschien das Gesetz
des Rey, wonach jeder Portugiese bei Todesstrafe innerhalb eines Monats
das Land zu verlassen hatte, und er, der den allgemeinen Haß gegen sich
kannte und die Unfähigkeit sah, die angesammelten Schätze in der kurzen Zeit
außer Landes zu schaffen, floh, ewige Rache schwörend allen Spaniern und
ihren Abkömmlingen, in die Wildnisse der Montaüa. Dort traf er die wilden
Chunchus und vereint mit diesen Barbaren, deren Verachtung des göttlichen
Gesetzes seinem lästerlichen Sinne zusagte, nahm er Theil an jenen mörderi¬
schen Einfällen, die manchem heiligen Priester die ersehnte Märtyrerkrone aus¬
drückten, und die einst blühenden Missionen von Paucartambo in ihren heu¬
tigen Zustand des Ruins brachten. Auch nach Carabayo trug er Feuer und
Schwert und hoffte sich der Veden von San Juan del Oro zu bemächtigen,
wo der 400 Pfund wiegende Goldklumpen gefunden worden war, dessen
Uebersendung Karl V. mit der Verleihung deS Adelspatentes an alle daselbst
Ansässigen belohnt hatte. Dort indeß wurde er mit seiner ordnungslosen Bande
zurückgetrieben, und um ihn zu trösten versprachen die Chunchus ihm größere
Reichthümer denn jene zu zeigen; Reichthümer, die sie seit dem Falle des
Inkareiches sorgfältig gegen alle Bearbeitung bewacht hätten. Sie führten
ihn zum Berge des Camanti, wo noch gegenwärtig die Spuren der Straße zu
sehen sind, auf welcher der Inka alljährlich seinen Zug von Cuzco dahin machte,
um die goldenen Thränen seines Vaters, der Sonne, zu sammeln, und
dem Portugiesen schwanden seine Sinne, als seine geübten Blicke auf diesen
seit Jahrhunderten unberührten Hort fielen, gegen den alles, was er bisher
gekannt hatte, in nichts zurücktrat. In wenigen Tagen war der ganze Berg
in eine ungeheuere Werkstatt verwandelt. Mit der Hilfe seiner Freunde höhlte
er das Centrum desselben in ein großes Bett aus, und dahin leitete er alle die
auf verschiedenen Punkten entspringenden Gebirgswasser. Es bildete sich ein
weiter, tiefer See, und ein See von Gold. Gold brachte jede Welle, jeder
Strom führte Gold; Gold wusch jeder Regentropfen aus der Erde, und alles
dieses Gold sank in den See, füllte seinen Boden, bedeckte seine Wände, und
hob sich langsam wachsend nach der Oberfläche empor. Gierig schauten die
Augen des Portugiesen vom Morgen bis zum Abend in die funkelnde Masse,
täglich sah er, wie sie mehr und mehr sich füllte, und berechnete ohne Unter¬
laß den Tag und die Stunde, wenn der letzte Tropfen Wassers erstarrt sein
würde. Die Chunchus kamen oft ihn zu besuchen, freuten sich über seine gu¬
ten Erfolge, aber riethen ihm, zufrieden zu sein mit dem, was er habe, es
sei genug. Mit höhnischem Lachen antwortete er ihnen: Wie kann es genug
sein, wenn ich nicht alles habe? Noch fehlt mir der beste Theil. Und neue
Kanäle wurden gegraben, mehr Wasser rauschte herbei von allen Seiten und
schwerer und schwerer fielen die- goldbelcidenen Tropfen in den See. Die
Chunchus kamen zurück, sie betrachteten mit Erstaunen, dann mit Schrecken
die vermehrten Arbeiten. Sie zeigten dem nie die Ufer des Sees Verlassen¬
den, wie der Berg auf allen Seiten durch seine Gänge ausgewaschen und
unterhöhlt worden sei, wie er nicht mehr die unendliche Last des Goldes zu
tragen vermöge, und wie die Regenzeit herannahe mit ihren Sturzgüssen.
Vergebens waren Worte und Rathschläge. Die Seele des Habsüchtigen war
durch das glänzende Metall in seine Augen gebannt, er sah, er hörte, er
fühlte, er dachte, er lebte nur Gold. Nur eine handbreitschmale Wasserschicht
stand über dem festen Absatz. Das wird sich diese Nacht versteinern, sagte er
zu sich, als er am Abend sein ruheloses Lager suchte, und morgen, dann bin
ich reich genug, um alle Königreiche der Erde zu kaufen. Dieselbe Nacht
zog ein furchtbares Unwetter über das Thal von Marcapata und um Mitter¬
nacht hörte man ein donnerndes Krachen, das weithin die Erde in ihren
Grundfesten erschütterte Am nächsten Morgen fanden die Chunchus meilen¬
weit die Ufer am Fuße des Camanti von den Trümmern eines ungeheuern
Bergsturzes bedeckt, und darunter liegen noch heute die Schätze Perus be-
grWn^"tu^!^) ?,'i'i6den >.'-? n',,>!>r,1ü?. .. ' -i/nu
Waren solche Erzählungen geeignet, die Hoffnungen der Abenteurer auf
das höchste zu spannen, so fehlte es dagegen andererseits nicht an solchen,
welche sehr darnach angethan waren, .eine abkühlende Wirkung auszuüben,
wie sie denn gleich am folgenden Tage im Abancaythale mit einem Spanier
zusammentrafen, der von seinen verunglückten Bergwerksoperationen in der
Montana viel zu berichten hatte. Sie trösteten sich darüber so gut sie konn¬
ten, und wurden dafür von dem Anblick der zweiten Abtheilung des Ejercito
del Sur, die ihnen begegnete, erfreut. Es war meistens Artillerie, die, Lauf
und Lafetten getrennt, auf Maulthieren über das Gebirge transportirt wurde.
Eine herrliche Aussicht bot auf dem Wege von Andachuailas nach Huanca-
rama, eine jener terrassenförmig sich austhürmenden Bauten, welche den Inkas
auf ihren Reisen als Rastplatze dienten und von dessen Höhe der Blick über
eine lachende Mannigfaltigkeit gewundener und sich durchkreuzender Thäler
schweifte, die an dem nahe gerückten Horizonte durch eine himmelhohe Wand
weißer Bergriesen begrenzt wurden.
Den Apurimac mußten die Reisenden wieder auf einer Schwebebrücke
überschreiten, die noch länger und wackliger war, als die erste. Das Thal-
des Apurimac besteht an dieser Stelle eben nur aus der schroffen Furche, die
der reißende Strom, zwischen den beiden senkrechten Felsenwänden gegraben
hat, und nachdem das Maulthier sich den steilen Zickzackweg von beträchlicher
Höhe fast senkrecht herabgewunden hat, ist man plötzlich genöthigt, dieses in
der Lust hängende Gebäude von durchaus nicht sehr Vertraue» erweckend aus-
sehenden Stricken zu betreten, um über den noch in bedeutender Tiefe dahin
brausenden Fluß nach der anderen Seite zu passiren, während das Ganze in
stets mit jedem neuen Fußtritte zunehmende Schwingungen geräth. Die Thiere,
die immer nur sehr schwer und oft nur durch Knebelung zum Uebergange zu
bringen sind, müssen abgepackt werden, eine schwierige Aufgabe, da der dem
Felsen abgewonnene Raum kaum hinlänglich für die Passage selbst ist. In
diesen engen Quebraden, wo durch die rings abprallenden Sonnenstrahlen
eine erstickende Hitze erzeugt wird, überfallen den Durchreisenden solche Wol¬
ken kleiner Fliegen, von denen jeder Stich einen braunen Fleck hinterläßt,
daß man auch bei dem raschesten Durcheilen mit einer anderen Hautfarbe
herauskommt, als man sie betrat.
An den Apurimac knüpfen sich viele historische Erinnerungen aus der
Vergangenheit Perus. Manco Capac, der zuerst die armseligen Indianer
der Sierra um sich sammelte, dehnte seine friedlichen Eroberungen bis zu die¬
sem Strome aus, den Mayta Capac später zum großen Erstaunen der ihm
seitdem göttliche Ehren erzeigenden Anwohner mit einer Brücke überspannte,
und an seinen Ufern sah Gonzalez Pizarro seine ehrgeizigen Pläne, deren
Durchführung der ganzen Geschichte Südamerikas eine andere Gestalt gegeben
haben würde, vernichtet und vor seinen schon durch den Glanz des Thro¬
nes geblendeten Augen das blutige Schaffst sich erheben, das er wenige Tage
später auf dem Markte Cuzcos bestieg. Trüben Blickes deutet der verschlossene
Indianer dorthin, wo sich flußabwärts auf beiden Seiten des Apurimac un-
ersteigliche Bergmassen aufeinander thürmen, in deren rauhen Felsenburgen
die aus ihren Palästen vertriebenen Trümmer der Jnkafamilie noch einige
Zeit ein kümmerliches, aber unabhängiges Dasein fristeten. Auch der letzte
Aufstand Tupac AmaruS ging von dort aus. Noch jetzt sollen die Ruinen
der damals gebauten Städte vorhanden und, wie die Sage des Volkes geht,
große Schätze darin vergraben sein, aber ein neuerer französischer Reisender,
der nach vielen Mühseligkeiten bis dahin vordrang, hat wenigstens von den
letzteren nichts gefunden.
Von Apurimac aus ging die Reise zuvörderst durch die warme Quebrada
Limatambos, und dann auf einen viele Stunden bergansteigenden Wege auf
die morastige Hochebene Sutiri, wo man noch die guterhaltenen Reste der
großen Heerstraße vorfindet, die vor der spanischen Eroberung Cuzco mit Quito
verband. Aus dieser Ebene war es, wo zur Zeit des furchtbaren Auf¬
stands der Canas der durch die wunderbare Erscheinung des Viracocha (dem
Schaum des Meeres, dem später die weißen Männer, noch heute von den
Indianern mit Viracocha angeredet, entstammten) inspirirter Sohn Jahuar-
kuakaps, der nachherige Viracocha-Jnka, die schon in wildem Schrecken zer¬
streuten Glieder seines Hauses um sich sammelte, und mit einem vom Mor-
gen bis zum Abend wüthenden Blutbade, das erst ein von den Priestern
heraufbeschworenes Unwetter durch seine den Völkern der regenlosen Küste
unbekannten Donnerschläge entschied, die bereits wankende Herrschaft des pa¬
triarchalischen Despotismus von neuem befestigte. Nur noch ein niedriger
Kamm trennte die Reisegesellschaft von ihrem vorläufigen Ziele, der Stadt
Cuzco, die sie nächsten Tags erreichten, und wohin wir sie binnen kurzem
zu begleiten hoffen.
Der Brand von Kadikoj war, wie
ich Ihnen bereits berichtete, einer der bedeutendsten, die ich hier erlebt habe, nicht
in Anbetracht der Zahl der dadurch zerstörten Häuser, denn alles in allem mag sich
dieselbe auf kaum mehr als zweihundertundzwanzig belaufen, nebst einer Kirche,
einer Moschee und einer Schule, wol aber in Hinsicht auf die Jntensivität der
Feuersbrunst, auf die Größe des Schauspiels, welches sie gewährte, und auf die
Werthe, welche dabei zu Grunde gegangen sind. Man kann behaupten, daß kaum
irgendein Stadtviertel der großen türkischen Capitale, Pera und Galata ausge¬
nommen, den niedergebrannten Theil des besagten Dorfes, welcher an der Stelle
sich erhebt, wo die alte Stadt Chalcedon gestanden, an Wohlhäbigkeit, ja an Reich¬
thum übertrifft. Hier hatten nicht nur mehre osmanische Große ihren Sommersttz
(auch Risa Pascha, der frühere Kriegsminister und einer der begütertsten Magnaten
des Reiches wohnt in Kadikoj) sondern die Elite der armenischen, griechischen und
fränkischen Kaufmannschaft aus dem eigentlichen Stambul, aus Galata, Pera und
Tophane, wählt diesen Punkt alljährlich aus, «um dort ihre Familien, die im
Winter und einen oder zwei Monate des Frühjahrs hindurch in den engen Stra¬
ßen der genannten Quartiere wohnen, frische Lust schöpfen und Sommer und Herbst
im Freien genießen zu lassen. Der Eindruck, den Kadikoj macht, ist auf den
ersten Anblick dieser Bestimmung nicht ganz entsprechend. In keiner Weltgegend,
in welche westliche Cultur sich Eingang verschafft hat, herrscht vielleicht weniger
Luxus in Betreff der Architektur der Wohnungen wie im Orient, und zumal hier
in Konstantinopel. Die allgemein angewendete Bauart aus Holz beschrieb ich
Ihnen bereits ausführlicher. In Kadikoj ist sie nnn freilich nicht durchgängig an¬
gewendet, indem mehre Häuser, zumal im Erdgeschoß, massiv ausgeführt sind, aber
sie ist für die größere Anzahl Norm geblieben. Am Aeußern dieser Bauten nimmt
man kaum irgend welchen Zierrath wahr; aber sie sind hier und da von recht zier¬
lichen und zum Theil mit Geschmack angelegten Gärten umgeben, in denen die
Bosquets ans Myrthen, Lorbeeren und Orangen sich formiren; und haben außer¬
dem in ihrem Innern größere und lustigere Gemächer und Säle, (Divan Hane)
als man in den Häusern der eigentlichen Stadt anzutreffen pflegt, was ein stärkeres
Gebälk, höhere Stockwerke und mithin eine im Allgemeinen festere Baumethode
bedingt. In den letzten zwölf Monaten hatten außer den Kaufleuten auch ver>
schieden« englische Offizier- und Armeebeamtenfamilien ihren Sitz in Kadikoj genom¬
men, wiewol die eigentliche Residenz dieser britischen Einwanderer von Anfang an
Skutari war und seitdem geblieben ist.
Es war am Tage nach dem Brande, zwischen drei und vier Uhr Nachmittags,
als ich auf der sogenannten neuen oder der äußeren (seewärtigen), Konstantinopel
mit dem Gegenufer des Hafens (goldenen Hornes), verbindenden Brücke anlangte,
um am Bord eines der hier in der Regel anlegenden Bosporusdampfer nach dem
so schwer heimgesuchten Dorfe überzufahren. Der Brückenbelag ruht aus einer
langen Reihe nach beiden Seiten hin fest auf dem Meeresgrunde geankerter Pon¬
tons, und war eben erst wieder geschlossen worden, nachdem kurz zuvor ein mächtiger
englischer Dampfer seinen Weg durch die Oeffnung hindurch nach dem türkischen
Arsenal genommen hatte. Noch bewegte sich die Flut von den Schlägen der
Schaufelräder und mehr vielleicht unter der Einwirkung einer frischen Briefe, die
aus der Richtung der Prinzeninseln blies und die Wellen mit weißen Schaumkap¬
pen auf dem Haupt, im unaufhörlichen Andrange gegen die Serailspitze anprallen
und dort tosend, und indem sie hohe, im Sonnenschein regenbogenfarbig schillernde
Gischtsäulen aufspritzten, zerschellen ließ. Der kleine Raddampfer lag schon sertig da,
und ich hatte kaum Zeit unter dem Brückengeländer hinwegkriechcnd und von
Planke zu Planke springend, mich auf einem nur hier zu Lande für das Publicum
ausreichend erachteten Pfade an Bord zu begeben, als er schon abstieß und damit
viele Wartende enttäuschte, welche auf der Brücke stehend dieselbe Fahrgelegenheit
hatten benutzen wollen. Das Schiff hatte vordem bessere Tage gesehen. Es war
ursprünglich einer jener „Luxuswapurs" (im Türkischen heißt Wapur das Dampf¬
schiff) gewesen, die vor einem Jahrzehnt und länger unter den türkischen Großen
ein Modeartikel waren. Von dieser seiner früheren Bestimmung konnte man nur
wenig aus dem Verdeck, mehr noch in der kleinen und ziemlich bequem eingerichteten
Kajüte, die indeß für die zahlreichen Passagiere einen nicht zum achten Theil aus¬
reichenden Raum darbot, wahrnehmen. Hier hing noch einer der Spiegel mit
reich vergoldetem Rahmen, die sie früher geschmückt hatten; durch den Cigarrendampf
war er indeß mit der Zeit von einer Art Nußfarbe überzogen worden. Die
Divanüberzüge befanden sich in einem dem Spiegel entsprechenden Zustande. Ich
zog es vor, auf dem Verdeck zu verbleiben, welches dicht mit Passagieren, Franken
und Türken besetzt war, die auf jenen niedrigen, mit Binsen beflochtenen, vier¬
beinigen Holzschemeln saßen, wie man sie hier vor jedem Kaffeehause stehen sieht,
und die den Uebergang aus der sitzenden Position aus europäischen Stühlen zu der
anderen sitzenden auf ü la ^urka untergeschlagenen Beinen vermitteln zu sollen
scheinen. Durch Zufall hatte ich meinen Platz mitten unter Landsleuten genom¬
men, die meistens dem Kaufmannsstande angehörig, beiläufig bemerkt, in den
letzten Jahren hier immer zahlreicher geworden sind und unter den sonstigen Kolo¬
nisten sich eines besonders guten Rufes und auch als Kapitalisten eines mehr und
mehr wachsenden Ansehens erfreuen. Hauptthema des Gespräches war natürlich
der Brand, und neben diesem wurde ein auf dem Bosporus vorgekommener Un¬
glücksfall (ein Dampfschiff war auf eine Klippe aufgeräumt und lag dort noch fest)
discutirt.
Der kleine Dampfer, welcher uns zum andern Ufer überführen sollte, war der-
maßen mit Passagieren überfüllt, daß er sich nach der einen Seite überlegte und den
dort befindlichen Nadkasten tief in die schäumende See eintauchen ließ. Indessen
ging die Fahrt ziemlich schnell und ohne allen Unfall von Statten. Die Serail¬
spitze war im Handumdrehen umschifft und bald darnach strichen wir am asiatischen
User hin, wo die Berghöhen von Hayder Pascha, der mächtige Cyprcssenhain des
Kirchhofs von Skutari und die rechts davon gelegene Trift einen erquickenden An-^
blick boten. Die britischen Truppen betrachten dieses Terrain jetzt sozusagen als ihr
Specialseld. Ueberall sieht man Baracken ausgerichtet und Zeltreihen gespannt,
hier und da wird man eine englische Schildwache gewahr. Truppen steht man
indeß mir wenige.
Endlich, etwa nach Verlauf einer Viertelstunde, war der Dampfer an der Stelle
von Kadiloj angelangt und wir hatten nunmehr das Feld der Zerstörung dicht vor
uns. Man übersah ein weites Labyrinth von Trümmerhaufen, welches sich von der
äußeren, dem Marmorameer zugekehrten Seite der Halbinsel, auf welcher das Dorf
gelegen ist, nach der inneren, der Meerenge zugewendeten ausdehnte und über dem hin
noch graue Dampfwolken schwebten. Die Ausschiffung war nicht ganz leicht, indem
die Stelle von einem dichten Menschenschwarm belagert war, welcher den Ansstei-
genden entgegendrängte, um sich ' aus dem nach einer halben Stunde wieder ab¬
gehenden Schiffe einen Platz zu verschaffen. Wie ich erfuhr, waren es meistens
abgebrannte Griechen und Armenier, die auf dem asiatischen Ufer in Skutari, wo
fast ausschließlich Türken wohnen, kein Unterkommen hatten finden können und nun
bemüht waren, auf der europäischen Seite in den Stadtvierteln ihrer Glaubens-
genossen ein solches zu suchen.
Ich wendete mich gleich mitten hinein in die niedergebrannten Straßen, um
von der andern Seite her eine ergänzende Uebersicht zu der auf dem Schiffe er¬
haltenen über das Zerstörungsfeld zu bekommen; aber zu mehren Malen mußte ich
von meinem Vorhaben abstehen, weil die Hitze noch zu groß war. Dieser sengenden
Glut ungeachtet sah man hier und dort Lastträger aus der Innung der Hcnnals
unter den Steinhause» arbeiten, um daraus im Auftrage der Besitzer der dort ge¬
standenen Häuser Sachen von Werth, von denen man annahm, daß sie nicht ver¬
brannt sein möchten, hervorzusuchen. In dieser Weise sah ich namentlich nach einer
größern Summe in Silber, welche unter einem zusammengestürzten Kellergewölbe
liegen sollte. Nachforschungen anstellen, die indeß nicht mit Erfolg gekrönt zu sein
schienen. Bei dieser Gelegenheit erfuhr ich zugleich, daß von den Abgebrannten leider
nur wenige im Stande gewesen waren, etwas zu retten, weil es an Auswegen
mangelte, da viele der heimgesuchten Straßen an das Meer anstoßen, oder es in
Fronte haben. In einigen Gärten sah man hohe Haufen von Divankissen und
von jenen mit Baumwolle gefüllten Matrazen liegen, die den Hauptbestandtheil der
hiesigen Betten ausmachen. Sie sind zugleich die wesentlichen Stücke einer türki¬
schen Einrichtung, deren Werth man auch bei den wohlhabenden Classen in Er¬
manglung von sonstigen Möbeln und weil das Weißzeug uur aus baumwollenem
Gewebe besteht, auf nicht höher wie 8000 Piaster (heute 400 Thaler) abschätzen
kann.
Die Civilisation hat in der türkische» Hauptstadt schon soweit Fortschritte ge¬
macht, daß außer den Löschcorps eine Brandpolizei existirt, oder besser zu sagen
die Bewachung der Brandstätten von den Saptivs oder türkischen Polizeisoldaren
mit übernommen worden ist. Man sah allenthalben Posten von Kawassen (Polizei¬
dienern) an den Straßenecken aufgestellt, ohne daß dadurch den Passircnden ein
Zwang auferlegt worden wäre. Wünschenswert!) wäre es, daß diese Wachtmann»
schaften während des Brandes selbst namentlich zur Bewachung des geretteten Eigen¬
thums eine größere Thätigkeit entfalteten und überhaupt mehr Theilnahme an den
Tag legten. Sowie ein Feuerausbruch durch die Signalschüsse vom Brandkiosk
(Gangin Köschk) her gemeldet worden ist, setzen sich mit den Spritzenleuten zugleich
eine Menge von Vagabonden nach dem fraglichen Punkte in Bewegung, deren
Gewerbe es ist, sich als Lastträger zu verdingen und von den geretteten Stücken
die werthvolleren für eigne Rechnung auf die Seite zu schaffen. Einem meiner Be¬
kannten war in dieser Hinsicht ein äußerst verdrießlicher Vorfall passirt. Aus Furcht,
bei einem großen Brande einen großen Theil seiner Wäsche verlieren zu können,
hatte er seinen gesammten Vorrath in seiner Landwohnung zu Kadikoj in Koffern
belassen, die gut verschlossen waren, ebenso seine Garderobe. Als der Brand näher
rückte, räumte er bei Zeiten das Hans und engagirte mehre Leute, wie er glaubte,
aus der Innung der Lastträger, um seine Koffer nach einem näher gelegenen grö¬
ßeren Garten zu schaffen, wo er sie für gut aufgehoben erachtete — er hat sie nicht
wieder gesehen und es ist wenig Aussicht vorhanden, daß er in ihren Besitz zurück¬
gelangen wird.
In Hinsicht auf den Gang, welchen der Brand genommen hatte/ fiel mir auf,
daß er sich nur dahin verbreitete, wo ein directer Zusammenhang von Haupt- und
Nebengebäuden stattfand; allenthalben hingegen, wo Gärten ihm entgegentraten,
oder auch nur Bäume mit breiten Kronen, war es den Löschmannschaften gelungen,
ihm eine Grenze zu setzen. Sie bedienten sich zu dem Zwecke, dem Feuer Einhalt
zu thun, nicht allein der Spritzen und Haken, mit welchen letzteren sie die brennen¬
den Gebälke niederreißen, sondern namentlich zum Absperren auch der großen, schweren
Teppiche, mit denen man hier allenthalben die Fußböden der Zimmer bedeckt. Die
Teppiche werden zu dem Ende ins Wasser getaucht und an den gefährdeten Haus¬
fronten, oft auch über die Dächer hin ausgehängt und, um sie naß zu erhalten,
unaufhörlich bespritzt. Wenn daher die französischen Pompiers bei dem neulichen
Brande am Taxim in Per« sich rühmten, den eingebornen Feuermanuschaften unend¬
lich überlegen zu sein, so trifft dies wol in Hinsicht aus die Mächtigkeit ihrer
Spritzen und aus allgemeine Routine zu, aber die Anwendung der Teppiche, welche
eines der erfolgreichsten Gegenmittel ist, werden sie von diesen erst zu erlernen
haben.
Die Armee der Alliirten hat endlich das Märchen ratificirt,
das, aus der orientalischen Phantasie eines improvisirten Journalisten hervor¬
gehend , vor Jahr und Tag die Welt in Erstaunen und Entzücken setzte. Die
miss on Sven« kostete große Opfer und viel edles Blut mußte fließen, ehe die
Russen und die Russenfreunde in Europa zum Geständnisse der westlichen Ueber-
macht gezwungen wurden.
Man kann da ohne Uebertreibung von Uebermacht sprechen, denn die Alliirten
haben sich das schlechteste Terrain für ihre Operationen ausgesucht, in der Hoffnung,
daß das dankbare Europa, dem man die Leiden des Krieges durch die eignen
Opfer erspart, den Bemühungen des Occidents sich anschließen werde.
Man kann von Uebermacht auch in einem andern Sinne heutzutage in nicht
weniger bedeutungsvoller Beziehung sprechen. Wir hatten die letzten Jahre hin¬
durch mit Hindernissen jeder Art zu kämpfen. Die Alimentativnskrise drohte die
Zustände auf bedenkliche Weise zu compliciren und doch sollte das Land in dem
industriellen Aufschwünge erhalten werden. Ihr Briefsteller hatte noch vor Aus¬
bruch des Krieges in diesen Blättern die Behauptung aufgestellt, daß Napoleon die
Ausgabe durchzuführen suchen werde, im Innern der Industrie und dem Handel
einen neuen Impuls zu geben, während die französischen Waffen achthundert Meilen
vom Vaterlande Frankreichs auswärtigen Einfluß wieder geltend zu machen übernehmen.
Daß dies so über alle Erwartung gelingen konnte, darin liegt die Uebermacht
des Westens, welche Rußland und dessen Anhänger zum Bewußtsein der Täuschun¬
gen bringen, in welche man sich über die Bedeutung dieser Macht gewiegt hatte.
Die Art und Weise, wie der Krieg geführt wurde, beweist, daß die Nüssen
trotz aller Tapferkeit ihrer Truppen, trotz aller Energie ihrer Führer, nichts gegen
den Westen vermögen. Der Fall von Sebastopol hat zu Tage gefördert, daß selbst
traditionelle Hoffnungen, vieljährige Uebergriffe, oft gelungene Handstreiche nicht
hinreichen, eine Sendung zu rechtfertigen, welche blos im Ehrgeize der Herrscher
ihre Kraft sucht. Nußland hat den Proceß übersehen, welcher in dem Bildungs-
zustände der europäischen Nationen vor sich gegangen war, den Umschwung, welchen
die öffentliche Meinung erlitten hatte. Es war dadurch nicht zur vollen Einsicht
des Widerspruchs gelangt, der zwischen den Anmaßungen der russischen Politik ent¬
stehen mußte und den Mitteln, über welche sie verfügen konnte.
Die russische Politik ließ sich durch die anscheinende Wiederherstellung der abso¬
luten Systeme in Europa täuschen und vergaß darüber, daß bei dem Zwiespalts
dieser Zustände mit den Bestrebungen der Epoche und mit der öffentlichen Mei¬
nung das System keine ausreichende Bürgschaft für die Ausführung von Plänen
bieten könne, welche dem Interesse wie der Anschauung der gebildeten Nationen
Europas gleich zuwider sind.
Der Fall Sebastopols, indem er die falsche Stellung Rußlands an den Tag
fördert, führt uns zugleich in eine neue Phase der europäischen Politik hinüber.
Nach allen Thatsachen und Berichten, welche hier vorliegen, werden sich die Russen
in der Krim nicht halten, muß diese über kurz oder lang von den Alliirten erobert
werden. Hiermit ist aber Rußlands Macht noch lange nicht gebrochen und wenn
dieses sowenig wie bisher zur Nachgiebigkeit geneigt ist, wird der Krieg fortgesetzt
werden. Es fragt sich nur, ob die Westmächte sich berufen fühlen bei ihrer bis¬
herigen Politik zu verharren?
Nach allem, was wir aus unzweifelhaften Quellen erfahren, ist dies nicht der'
Fall. Für den Journalisten ist es oft eine Gefahr, zu gut unterrichtet zu sein,
weil er dadurch in die Lage kommt, zuweilen von Unterhandlungen und Projecten
als von wahrscheinlichen Eventualitäten zu berichten, die durch Veränderung von
Umständen und Verhältnissen wieder wegfallen. Dies zugegeben müssen wir be¬
haupten, daß wir dem Punkte nahe stehen, wo das officiell eingestandene Programm
des Krieges vor dem wirklichen zurücktreten muß. Bald wird der Westen in
den Fall kommen einzugestehen, daß er nicht im Sinn hat, als Don Quixote
einer hinfälligen Race, die mit unserer Civilisation nichts gemein hat, die kostbaren
Kräfte zu vergeuden. Rußlands ^Uebermacht eine Schlappe versetzt zu haben ist
eine große Aufgabe und man kann sich unter Umständen damit begnügen. Es ist
dieses aber nur unter der Bedingung möglich, daß Rußland selbst dem Kriege diese
Grenze setzt, das heißt aufrichtig die Unmöglichkeit seines Unterfangens eingestellt.
Rußland müßte diesem Geständnisse durch einen Friedensvertrag einen völkerrecht¬
lichen Ausdruck zu geben bereit sein, der im Verhältnisse zu den Opfern wie zu
den Siegen des Westens steht.
Geschieht dies nicht, so wird der Krieg eine andere Gestalt, ein anderes
Terrain und auch ein anderes Object erhalten. Mit Recht wurde in diesen Blät¬
tern von anderer Seite daraus hingewiesen, daß die Westmächte Deutschland, das
sie für sich gewinnen wollen, Territorialvortheile gewähren müssen, soll dieses
anders sich mit ganzer Energie dem Kriege gegen Nußland anschließen. Von einer
Seite wird sogar behauptet, es wären derartige Anerbietungen gemacht worden
und nur die geringen Kricgsersolge, welche die Wcstmächte aufzuweisen gehabt,
hätten deren Annahme verhindert. Jetzt, nach einem so glänzenden Siege, werden
Frankreich und England wol ebensosehr ihre Ansprüche wie ihre Anerbietungen,
um Deutschland zur Mitwirkung zu bewegen, deutlicher formuliren.
Es wird nicht ohne Interesse sein bei dieser Gelegenheit von dem Eindrucke
zu sprechen, welchen die Einnahme von Sebastopvl hier hervorgebracht, da dieser
Eindruck möglicherweise auch eine Rolle bei den Entschlüssen der Regierungen hüben
und drüben spielen könnte. Wir haben von allem Anfange her zu verschiedenen
Zeiten die Stimmung Frankreichs zu erörtern versucht und haben gezeigt, wie das
Land anfänglich mit Widerstreben in den Krieg sich ziehen ließ und wie mit den
wachsenden Schwierigkeiten, welche die Armee zu bekämpfen hatte, die patriotischen
Gefühle, immer lauter werdend, die Parteirücksichten und auch die allgemeine Anti¬
pathie gegen das herrschende System zum Schweigen brachten. Bei der Kunde
vom Falle Sebastopols zeigte es sich, welche Fortschritte diese Entwicklung in den
Gefühlen seither gemacht. 'Seit dem 2. December 1831 war die erste nationale
Regung bemerkbar. Man sah allen Gesichtern die freudige Erregung an und alle
Classen der Gesellschaft, alles und jedermann fühlte sich bei dem gegen Nußland
geführten Schlage berheiligt. Es war zum ersten Male, daß wir dem Kaiser vom
Volke zurufen hörten und es war das erste Mal auch unter der gegenwärtigen
Regierung, daß Paris wie die Provinzen ihre übereinstimmende Freude freiwillig
an den Tag legten. Die Regierung hat durch diesen Sieg einen Schritt vorwärts
gethan und kann in der auswärtigen Frage entschiedener, rücksichtsloser austreten
als bisher. Die öffentliche Meinung wird ihr folgen und in dieser Beziehung
glauben wir, daß der Eindruck der frohen Botschaft auf Paris und die Provinzen
von der europäischen Diplomatie wohl beachtet werden dürste.
Mit Ätr. 4<V beginnt diese Zeitschrift ein neues Quartal,
welches durch alle Buchhandlungen und Postämter zu be¬
ziehen ist. , ^ -',..,'»,.'!
Leipzig, Ende Sept. 185ö. Die Verlagshandlung.