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]]> Romane: Schücking. S. 23. König. S. 23.
Schlichtkrnll. S. 2!i. Gold. S. 26. Bren¬
ner. S. 31. Dickens. S. 401. Vermischte.
S. 3». 34. 403/ 410.
Vermischte Literatur. S. 232. 280.
Seit einiger Zeit circulirte die in üblicher Weise vom Directorium erlassene
Einladung zu den im Lauf des nächsten Winters zu gebenden 2V Abonnement-
concerten. Obgleich der seines Erfolges beim Publicum sichere Laconismuö
dieses Documents nicht viel davon verräth, wieweit das Directorium sich
seiner Aufgabe bewußt ist, das unter seiner Leitung stehende Institut einem
höheren Ziel entgegenzuführen, so wird doch dem, welchem es Ernst mit der
Kunst ist, der diese Concerte dienen, von neuem die Pflicht auferlegt, zu
prüfen was geboten wird und zu mahnen, was erreicht werden soll. Das
Directorium sieht in dem Festhalten der „bisherigen Grundsätze" und den „be¬
währten Leistungen unsres Orchesters" die Bürgschaft dafür, daß die Concerte
auch dieses Mal den Erwartungen des kunstsinnigen Publicums entsprechen werden.
Es ist ein schönes Ding um die Tradition guter Grundsätze und bewährter
Leistungen: für den, der mil Einsicht in die Anforderungen der Gegenwart und
mit dem ernsten Willen, das Bessere zu erreichen, rüstig vorwärts strebt, ist sie
der sicherste Halt und die kräftigste Stütze; für den, der an den bisherigen Grund¬
sätzen und den bereits bewährten Leistungen festklebt, wird sie ein hemmendes
Bleigewicht und eine drückende Fessel, ein Adel ohne Leistungen, ein Patent
ohne Würde. Vielleicht hätte es der Würde des Directoriums keinen Eintrag
gethan, wenn es hätte merken-lassen, daß das ehrwürdige Alter der Concerte
weder der Einsicht in eigne Mängel und Gebrechen noch der Kraft vorwärts
zu streben geschadet habe. Indessen mag es darum sein, wenn nur die Concerte
zeigen, daß man es besser macht.
Wichtig allerdings und dankenswert!) ist die kurze Notiz, daß die musi¬
kalische Leitung der Concerte Herrn Kapellmeister Julius Rietz als Mustk-
director und Herrn Ferdinand David als Concertmeister übertragen worden
ist. Daß Herr David in seine frühere Stellung zurückgetreten ist, in
welcher er sich verdienten Ruhm durch vieljährige Leistungen erworben hat, ist
in jeder Beziehung ehrenwerth und verdient umsomehr Anerkennung, je
schmerzlicher er an jenem Platz vermißt worden ist. Herr Rietz ist als ein
durch und durch geschulter und gebildeter Musiker von ernster Richtung und
geläutertem Geschmack, als ein Mann von Geist und Bildung, als ein Diri¬
gent von seltener Befähigung und einer auf langjährige Erfahrung gegründe¬
ten Sicherheit allgemein anerkannt. Wie wir hören, ist er ganz vom Theater
zurückgetreten und seine Thätigkeit als Dirigent allein den Concerten zugewandt.
Allerdings ist dies eine unerläßliche Bedingung ihres Gedeihens; sie wollen
mit ungetheilter Sorgfalt und Aufmerksamkeit, mit der Hingebung gepflegt
sein, welche man einem einzigen Liebling zu Theil werden läßt, an den man
alles wendet, was man vermag, um ihn auf die höchste Stufe der Vollendung
zu bringen. Die Liebe zur Kunst und das lebhafte Gefühl für die Bedeutung
seiner Stellung für die Kunst, welche wir bei Herrn Nietz voraussetzen können,
leisten Bürgschaft für den Eifer, mit welchem er die Concerte in jeder Be¬
ziehung wieder zü heben bestrebt sein wird.
Um dies zu erreichen, muß atXer auch auf die Herstellung der Mittel die
gleiche Sorgfalt verwendet werden. Es ist schon früher bemerkt worden und
muß wiederholt bemerkt werden, daß das Leipziger Orchester hinter anderen
großen Orchestern, denen es'in anderer Beziehung gleich oder voransteht, hin¬
sichtlich des schönen Tons, des materiellen Wohlklangs bedeutend zurückbleibt.
Dies erste Erforderniß einer schönen künstlerischen Wirkung darf beim Instru¬
mentale ebensowenig vernachlässigt werden, als beim Gesänge. Alle Vorzüge
des Vertrags erhalten erst ihre Bedeutung, ihr wahres Licht, beim Sänger
durch schöne Stimme und deren kunstgemäße Bildung, beim Orchester dadurch,
daß die einzelnen Instrumente gut gebaut sind, geschickt behandelt werden, und
daß in der Zusammensetzung des ganzen Orchesters das richtige Verhältniß
beachtet ist; erst unter diesen Voraussetzungen kann der Dirigent auf Ver¬
schmelzung der verschiedenen Tonmassen zu einem harmonischen Ganzen und
auf die richtige Vertheilung von Licht und Schatten hinwirken. Niemand
wird in Abrede stellen, daß das Leipziger Orchester nicht über die Mittel und
Kräfte einer königlichen Kapelle verfügen kann und daß wir uns in manchen
Dingen bescheiden müssen; um so wichtiger ist es, daß die beschränkteren Mittel
mit der klarsten Einsicht uno nach schärfster Prüfung dahin verwandt werden,
wo die wichtigsten Bedürfnisse zu befriedigen sind, wo für die höheren und
edleren Zwecke der Kunst am erfolgreichsten gewirkt werden kann. Sicherlich
sind es nicht die Honorare für Virtuosen, in denen das Geld zum wahren
Besten der Kunst angelegt wird, eine durchgreifende Hebung des Orchesters wirkt
unscheinbarer aber sicherer dafür. Konnte das Direktorium seine Sorge daraus
richten, daß möglichst gute Instrumente im Gebrauch sind, wo es nöthig ist,
durch Anschaffen derselben oder Unterstützung beim Anschaffen, so würde dadurch
in mehr als einer Hinsicht wohlthätig eingewirkt werden. Noch wichtiger ist
freilich die Sorge für die Tüchtigkeit der Mitglieder, und dies ist jedenfalls
der Punkt, wo die Beschränktheit der Mittel die größten Schwierigkeiten her¬
vorruft. Um so wichtiger wird es, — man muß es wiederholen — daß nicht
der Zufall, nicht andereMicksichten als auf die Kunst entscheiden, sondern nur die
genaue Erwägung dessen, was Noth ist und ausgeführt werden kann. Die
moderne Jnstrumentation verlangt als ein Gewicht gegen die gehäuften Blas¬
instrumente sehr stark besetzte Saiteninstrumente; wenn man nun deshalb die Geigen
vermehrt, so kann diese Verbesserung nach der einen Seite hin doch im ganzen
einen sehr zweifelhaften Erfolg haben, indem das richtige Verhältniß nach einer
anderen Seite gestört wird; gar nicht davon zu reden, daß die Vermehrung
der Spieler die Präcision und Reinheit des Zusammenspiels sehr erschwert und
also doppelte Sorgfalt in der Auswahl nöthig macht. Daß aber starke
Saiteninstrumente die Mängel und Gebrechen der Blasinstrumente — und
diese sind bei uns nicht gering — wol gelegentlich verdecken können, in Wahr¬
heit aber das Bedürfniß nach guten Blasinstrumenten nur um so lebhafter
empfinden lassen, das ist wol für jeden klar.
Wenn die Mittel unsres Orchesters keineswegs-ganz befriedigend sind, so ist
sorgfältiges Studiren und Einüben der aufzuführenden Werke um so dringender
geboten. Hier ist es, wo wir die „bewährten Leistungen unsres Orchesters"
am meisten fürchten. Schätze man die gewonnene Routine so hoch, daß man
wähnt, es bedürfe keiner Arbeit, keiner anstrengenden Arbeit mehr, um auch
nur das bereits Erreichte festzuhalten; meint man, das Durchspielen in einer,
höchstens zwei Proben müsse ausreichen, um für schwierige Werke eine höheren
Anforderungen genügende Ausführung zu erreichen: so überschätzt man entweder
die vorhandenen Kräfte oder man steckt das Ziel niedriger, als es dem Ruhm
und der Würde der Leipziger Abonnementconcerte angemessen ist. Allerdings
kann ein tüchtiger und geschickter Dirigent mit einem routinirten Orchester auch
in kurzer Frist gewisse täuschende Effecte erreichen, er kann einen Grad von
Präcision, das Innehalten von piano und lorte, das Märtirer mancher
schlagender Effecte, einzelne geistreiche Züge, im günstigen Fall auch Lebhaftig¬
keit und Feuer hervorrufen und durch alles das für oberflächliche Zuhörer
den-Schein einer gelungenen Ausführung; allein ein eigentliches, tiefer ein¬
gehendes Verständniß eines Kunstwerks bei den Ausführenden und dann bei den
Zuhörern zu bewirken, das bedarf mehr Zeit und Mühe. Und doch ist es die
letzte und höchste Ausgabe des Dirigenten, das Verständniß des vorzutragenden
Kunstwerks im Ganzen und bis in ^die geringsten Einzelheiten den Mit¬
wirkenden zu eröffnen, sie damit zu durchdringen, daß jeder das lebendige
Gefühl und die klare Einsicht von dem habe, was seine Leistung an jeder
Stelle für sich und für das Ganze bedeute. Erst dann wird ein wirkliches
Zusammenspiel, ein nicht allein richtiges, sondern auch lebendiges Vertheilen
von Licht und Schatten, eine wahre Mischung und Nuancirung der Farben
erreicht werden, wenn der einzelne sich im Ganzen fühlt, in jedem Moment
sich bewußt ist,'was hervor — was zurücktreten, wer herrschen und wer unter¬
stützen, wo das Individuelle sich geltend machen und wo die Masse wirken solle.
Der Dirigent, dem es gelingt, zu diesem Verständniß sein Orchester zu führen,
wird es leiten, wie'einen lebendigen Organismus, dessen Seele er ist, der
durch ihn empfindet und versteht; er selbst wird getragen werden durch die Freudig¬
keit uicht zu einer prompter Erecntion dressirter' Maschinen, sondern zu freier
Thätigkeit belebter Künstler. Und die Aufführung eines Kunstwerks', welche
nicht allein als das Ueberwinden technischer Schwierigkeit, sondern als eine
freie Darstellung des geistigen Inhalts desselben erscheint, macht auch den
Zuhörer geistig frei und für die künstlerische Auffassung und Würdigung em¬
pfänglich. Allein nicht leicht und rasch ist dieses Verständniß erreicht. Es setzt
ein anhaltendes Studium, eine gründliche und eingehende Beschäftigung mit
dem Einzelnen voraus, die nichts in Bausch und Bogen nimmt, sondern dem
Kleinsten die Vollendung zu geben sich bemüht, ohne die sie im Großen nicht
erreicht werden kann. DK> Leistungen des Orchesters in den Concerten des
Pariser Conservatvire unter Habeneck sind durch die Vollendung der technischen
Ausführung, wie den Geist und das Feuer, von welchem sie durchdrungen
waren, allgemein und mit Recht berühmt. Aber wie wurden die Meisterwerke
dort bis ins Einzelnste studirt und geübt! Als einmal die neunte Symphonie
von Beethoven wieder aufgeführt wurde, war in der Probe das Crescendo zum
Schluß des ersten Satzes von neuem ein Gegenstand des sorgfältigsten Stu¬
diums. Zuerst wurden die Saiteninstrumente allein vorgenommen und nach
den genauesten Bestimmungen, um eine völlige Gleichheit der technischen Aus¬
führung zu erreichen, unermüdet probirt, bis eine allmälige Steigerung vom
pp. bis zum ik. erreicht wurde, von einer Wahrheit, wie wenn es die Aeußerung
eines lebenden Wesens gewesen wäre. Dann kamen die Blasinstrumente daran,
zuerst die Oboen. Kaum angefangen, mußten sie wieder aufhören: es war nicht,
die zarte Nuance.des leisen Tons getroffen, welchen Habeneck wünschte. Und
nun wurden die beiden großen Virtuosen, welche an dem Pult standen, nicht
müde, die vier Tacte zu blasen und wieder zu, blasen, um ihrem Herrn und
Meister zu genügen, der kopfschüttelnd und Gesichter schneidend vor ihnen auf-
und niederging, bis er auf einmal stehen blieb und ganz beglückt ausrief:
t^'est c^, mes enlÄnts. c'sse pa! Und das ganze Orchester, das schweigend zu¬
gehört hatte, erhob sich und klatschte Beifall. Diese Sorge um eine Tonnuance
wäre kleinlich gewesen, hätte es ein Virtuosenkunststück gegolten, aber aus der
begeisterten Pietät für ein großes Kunstwerk, aus dem unermüdlichen Pflicht¬
gefühl für eine würdige Darstellung desselben hervorgegangen, war sie schön
und großartig. In dieser Pietät und Kunstliebe, in der Sorgfalt und Ausdauer
des Studiums kann und soll unser Orchester mit allen wetteifern. Allerdings
ist es mit dem guten Willen des Dirigenten und des Orchesters nicht allein ge¬
than ; denn sorgfältiges Einstudiren verlangt viel Zeit und viele Proben, und diese,
müssen bezahlt werden. Allein dies ist wiederum ein Punkt, wo übertriebene
Sparsamkeit am unrechten Orte sein würde. Die Mitglieder unsres Orchesters
sind leider nichts weniger als glänzend gestellt, und niemand bringt der Kunst
und der Ehre der Concerte größere Opfer als eben sie. DaS Direktorium und
daS Publicum, welches jenem die pecuniären Mittel darbietet-, erfüllen nur
eine aus vielen Rücksichten gebotene Pflicht, wenn sie durch zahlreiche, nicht
allzu kärglich bezahlte Proben es den Mitgliedern des Orchesters möglich
machen, ohne die unerträglichsten Anstrengungen durch unbelohnte Zeit und
Mühe das zu leisten, was sie selbst vielleicht noch mehr als das Publicum
von sich fordern.
Wenn von Bestrebungen der Art in dem Concertprogramm nichts zu fin¬
den ist, so erhalten wir leider auch dafür keine Zusicherung, daß in Beziehung
auf die Wahl der aufzuführenden Werke eine großartigere, consequentere, auf
einen künstlerischen Zusammenhang gerichtete Auffassung maßgebend sein werde
als es bisher der Fall gewesen ist. Das früher gegebene Versprechen, „unter¬
stützt durch die ausgezeichnetsten hiesigen Kunftmitttel, umfangreichere Kunstwerke
älterer und neuerer Zeit öfter noch, als bisher möglich wurde, zur Aufführung
zu bringen und dadurch nicht nur den Einfluß der Gewandhausconcerte auf
Erhaltung .und Fortbildung unsres gesammten musikalischen Kunstlebens immer
mehr erweiter», sondern auch den wohlverdienten Ruf derselben, sowie die Ach¬
tung, welche das Kunsturtheil unsers Publicums genießt, immer fester begrün¬
den zu helfen" — dies Versprechen ist jetzt ganz fortgeblieben. Es ist nur lobens¬
wert!) etwas nicht zu versprechen, welches halten zu können man nicht gewiß
ist. Aber ein trauriges Zeichen ist es, wenn das Direktorium diejenigen Be¬
strebungen, welche, wie es selbst andeutet, auf das Höchste und Wichtigste ge¬
richtet sind, aus was immer für Gründen glaubt fallen lassen oder in den
Hintergrund schieben zu müssen. Dagegen erfahren wir nur, daß das Direc-
torium darauf bedacht gewesen ist, möglichst gute und tüchtige Kräfte für Solo¬
gesang und Solospiel zu sichern. Daß dieses einseitige Hervorheben der Lei¬
stungen der Virtuosität als des eigentlichen Schwerpunktes der Concerte auf
einem bedauernswerthen Verkennen dessen, was die Concerte der Kunst und
dem Publicum leisten sollen, beruhen, das wollen wir jetzr nicht von neuem
auseinandersetzen. Allein selbst für die zu erwartenden Leistungen auf diesem
Gebiet können wir nur ein übles Prognostikon stellen. Denn diese allgemein
gehaltne Zustcherung heißt nach den bisherigen Erfahrungen nichts anders als:
Das Direktorium ist vergeblich bemüht gewesen eine Sängerin zu engagiren,
welche den Anforderungen, die das Publicum zu machen berechtigt ist, einiger¬
maßen genügt, hat auch noch keineswegs Aussicht für alle oder mehre Cor-
. certe eine solche zu gewinnen, es zweifelt aber nicht, daß wie bisher für jedes
-Concert eine Dame zu finden sein wird, die die unvermeidlichen beiden,Arien
singt. Auch haben sich schon soviele Virtuosen, namentlich Claviervirtuosen,
die Beethovens l^dur- Concert zu spielen wünschen, angemeldet, daß sich vor¬
aussichtlich für kein Concert eine Lücke ergeben wird!
Vielleicht thut der Zufall im Laufe des Winters das Seinige, daß es
hiermit besser ausfällt als es jetzt scheint. Aber das wird dem Bedauern und der
Mißbilligung keinen Eintrag thun, womit man bei der Verwaltung eines gro߬
artigen Kunstinstituts die wichtigsten und edelsten Gesichtspunkte vernachlässigt
und zurückgesetzt und selbst das, was als Hauptsache gelten soll, dem Spiel
des Zufalls überlassen sieht.
Im schweizerischen Festkalender standen.fin den Monat Julius zwei Feste
angeschrieben, das schweizerische Musikfest in Sitten und das eidgenös¬
sische Sängerfest in Winterthur. So verwandt die beiden Fsste scheinen,
soweit gehen sie doch auseinander; man könnte sie die Feste der musikalischen
Aristokratie und der musikalischen Demokratie nennen.
Der Gedanke der schweizerischen Musikgesellschaft ist, die in der ganzen
Schweiz zerstreuten Musiker alle zwei Jahre zu der Aufführung größerer clas¬
sischer Musikwerke zu vereinigen, wozu die musikalischen Kräfte der einzelnen
Schweizerstädte nicht ausreichen. Der Verein ist einer der ältesten in der Schweiz,
da er schon seit Anfang, dieses Jahrhunderts eristirt. Seit dieser Zeit sind aber -
eine Menge von Veränderungen über die Schweiz gegangen, viele Vereine mit
verwandter Tendenz sind entstanden; die schweizerische Musikgesellschaft hat aber
zähe an ihren alten Formen festgehalten, weshalb sie gegenwärtig zu den un¬
populärsten gehört.
Die Gründer der schweizerischen Mustkgesellschaft waren meist reiche
Dilettanten- aus den patricischen Familien der großen, Schweizerstädte oder
aus der beneidenswerthen Classe gütergesegneter Handelsherrn und Rentiers,
welche nach des Tages Mühen die wandelbare Scala des Börsen- und Wechsel-
curscs und des Prir courant der Waaren bei der Musikscala vergaßen und
unter Leitung des obersten und renommirtesten Stadtmusici einige^ gleichgesinnt«:
Freunde der holden Frau Musica um sich zu versammeln pflegten. Was sie
mit löblichem Eifer im Kleinen versuchten, sollte die schweizerische Musikgesellschaft
im Großen leisten. So wandern sie denn auch jetzt noch alle zwei Jahre zum
musikalischen Kongresse im gutgepolsterten Zweispänner, im Fond-des Wagens
Fräulein Tochter, welche dieses Jahr zum ersten Male ihre silberne Stimme
vor einer größern Gesellschaft ertönen lassen soll, und hinten über den Kisten
und Kasten wohlverpackt in elegantem Futterale die klagende Bratsche oder
das sentimentale Fagott, das unter Papas kunstgeübten Händen dieses Jahr'
der Familie neue Lorbeer» erwerben soll, an deren Erinnerung die heimatlichen
Laren noch den ganzen Winter zehren werden.
Es wäre zuviel verlangt von diesen Musikern gewichtigen Klanges, daß
sie Beethovensche, Symphonien oder Händelsche Oratorien allein aufführen
»sollen. Da kennen die Herrn ihre Kräfte zu gut, und so werden denn auf
die Zeiten des Musikfestes die Musttiehrer aus den großen und kleinen Städten
des gemeinsamen Vaterlandes insgesammt aufgeboten, um bei dem Feste die
ersten und schwierigern Partien zu übernehmen; zwischen den Productionen
dieser kunstgeübten Hände klagen und summen und brummen dann gemüthlich
die Flöten und Klarinetten und Violinen und Bratschen der Herrn Dilettanten.
Die Fräulein Töchter im weißen Gewände mit rother Armbinde oder Busen-
schieife singen im Chor, während zur Uebernahme der Solopartien irgendeine
renommirte Sängerin verschrieben wird.
So kommt es, daß an diesen sogenannten schweizerischen Musikfesten der
größere Theil der dabei Thätigen aus fremden, für das Mitwirken besonders
bezahlten Musikern besteht, und daß nur Dilettanten, die im Besitze eines
modernen schwarzen Frackes und einer gestopften Börse sind., an diesen Festen
theilnehmen können. Denn das versteht sich doch, daß auch die Delassements,
die den anstrengenden Proben und Aufführungen folgen, nur von der feinsten
Sorte sind. Ein da! parv, eine promenaSv ä ekar. ein äiusr souMoire ge¬
hören ganz nothwendig in das Programm jedes schweizerischen Musikfestes;
hier revangirt sich dann auch die zweite Violine, das zweite Horn.und das
zweite Fagott für die Zurücksetzung beim Concert; hier übernehmen sie jetzt
als Virwosen die ersten Partien, während die ersten Violinen des Concerts sich
bescheiden in irgendeine Ecke des Bailsales drücken, um den etwas antiken
Schnitt ihrer Frackflügel in dem schützenden Schatten einer Sophaecke zu
verbergen.
Für Hebung der Musik in der Schweiz leistet die Musikgesellschaft gegen¬
wärtig wenig; es fehlt ihr eben die Gliederung in cantonale und in locale
Vereine, die zu einem gemeinsamen Zwecke zusammenwirken. Dergleichen
Vereine zählt aber jetzt die Schweiz mehre, die ein gesundes und kräftiges
Leben entwickeln. In Bern hat Edele einen Verein für Aufführung alter
classischer Musik gegründet, dessen Aufführungen sogar in der etwas nüchternen
Bundesstadt allgemeinen Beifall sich errangen; in Basel führt Reiter mit dem
durch ihn geleiteten Verein jeden Winter ein großes Oratorium mit voll¬
ständiger Orchesterbegleitung auf; von den großartigen Anstrengungen Zürichs,
das letzten Winter Tonstücke von Richard Wagner in einer Vollkommenheit
zur Aufführung brachte, die jeder fürstlichen Kapelle Ehre gemacht hätte, haben
seiner Zeit die öffentlichen Blätter berichtet; Genf hat vor ungefähr einem
Jahre ein Conservatorium für Musik gegründet; in Lausanne und Se. Gallen:c.
bestehen gleichfalls Musikvereine mit nicht unbedeutenden Mitteln. Alle diese
Vereine sollte die schweizerische Musikgesc.llschaft als Glieder eines großen
Ganzen in sich aufnehmen und in einen organischen Zusammenhang bringen,
wie wir ihn bei den Gesangvereinen finden werden; dann wäre möglich, nicht
nur den ursprünglichen Zweck des Vereins besser als bisher zu erreichen, sondern,
auch auf die Hebung der Musik in der Schweiz einen wichtigen Einfluß
zu gewinnen.
Merkwürdig war, daß dieses Jahr die Musikgesellschaft ihre Mitglieder
nach Wallis berufen hatte. In den letzten Jahren der alten Bundesverfassung
hatte man sich gewöhnt, die größeren schweizerischen Vereine beinahe aus¬
schließlich in den größeren Städten der ebenen Schweiz zusammentreten zu
sehen; seit der neuen Bundesverfassung zeigt sich das Bestreben, mit diesen
Zusammenkünften auch in die innere Schweiz, in die Thäler vorzudringen, die
dem gewöhnlichen Schweizerphilister nur aus seiner Schulgeograpl)le und aus
den Zeitungsblättern bekannt, sind. Man kann dies mit dem leisen und den
meisten noch unbewußten Streben nach größerer Centralisation zusammenstellen,
der die Schweiz trotz aller lauten Stimmen, die sich dagegen erheben, langsam
aber sicher entgegengeht.
Wol kann man sagen, Wallis ist für viele Schweizer erst seit -1848 be¬
kannter geworden.. Früher wegen der bekannten Halsauöwücbse' vieler seiner
Bewohner in der übrigen Schweiz verspottet, dann wegen der blutigen Kämpfe
seiner politischen Parteien gefürchtet, trat es mit dem Jahre 1848 in das fried¬
liche Concert sämmtlicher Cantone ein, und da vernahm auf einmal das große
Publicum, was vorher nur wenigen Eingeweihten bekannt war, daß Wallis
ein ganz ordentliches, Land sei, das seine Genüsse und Schönheiten besitze, um
die es andere Cantone sogar beneiden dürsten. Die neue Bundesverfassung
öffnete den trefflichen Walliser Weinen den Durchpaß durch den Canton Waadt,
der bisher seinen 1a Lolo und Vvorue durch einen Moe.u8 Kvrwvticiue von
Zöllen vor einer Invasion dieses Rivalen geschützt hatte; im Saaßthale und
im Nikolaithale am Fuße des Matterhorns und des Monte Rosa, oder wie es
dort in den deutschen Thälern heißt, des Gornerhorns, entdeckte man ein
neues Oberland, reich an grandiosen Naturscenen, an Eisfeldern und Wasser¬
fällen und mit einer vom Zusammenstoße mit der reisenden verdorbenen Welt
noch unberührten Bevölkerung. Zuerst nur von den Gourmands der Natur¬
bewunderer besucht, wuchs der Ruf dieser neu entdeckten Gebirgswelt von Jahr
zu Jahr, und jetzt erheben sich in Zermatt, dem wallisischen Jmerlaken, die
Hütels du Mont Cervin und du Monte Rosa, wo vor einigen Jahren nur
elende hölzerne Hütten standen; auf dem Rossel, 10,000 Fuß über dem mittel¬
ländischen Meere, findet seit Anbruch dieses Frühlings der Tourist den bekannten
Comfort schweizerischer Hotels. Wer möchte noch bezweifeln, daß Wallis nicht
mit aller Gewalt in die allgemeine europäische Civilisation hineingerissen wird,
lange bevor die neue Straße über den großen Se. Bernhard mit dem ge¬
waltigen Tunnel beendet ist, für dessen Herstellung die schweizerische Bundes¬
versammlung in der letzten Sommersitzung einen Beitrag von 300,000 si. votirt
hat, oder bevor die projectirte und concesstonirte Eisenbahn vom Genfer See
nach dem stillen Sitten hinaufbraust, dessen gottesfürchtige Ruhe bis jetzt nur
durch das Geläute der Kirchen- und Herdenglocken unterbrochen wurde.
Trotz seiner Abgeschiedenheit von der übrigen Welt haj es Wallis
Nie an gebildeten Männern gefehlt. Die politischen Geschäfte des Landes
wurden von einer Anzahl adliger Familien geleitet, die ihren Reichthum und
ihre Bildung in fremden Kriegsdiensten, vorzüglich in Frankreich, geholt hatten.
Die Walliser sind, wie ihre ganze Geschichte beweist, ein kriegerisches Volk;
daher haben sie zu den capitnlirten Truppen in Frankreich, in Spanien und
in Italien stets kein geringes Contingent geliefert; ihre Bärmann, de Ruck,
Riedmatten, Tafsiner stiegen dort zu hohen kriegerischen Ehren, und wenn in
neueren Zeiten der Canton Schwyz den Spaniern den Kriegsminister Bläser
geliefert hat, der in seinem Vaterlande es nur zum Standesweibel hatte bringen
können, so nimmt dafür Wallis die Ehre in Anspruch, Kalbermatlen, den
Kriegsminister von Plus IX. unter seine Bürger zu zählen. Zurückgekehrt in
ihre Heimat lebte» diese Herrn von ihren Pensionen und widmeten ihre Zeit
deu Landesgeschäften. Ist dies nun auch durch die Gunst oder Ungunst der
Zeile» anders geworden, so ist doch noch manches Herrenhaus im Wallis Sitz
französischer Bildung und alter französischer Courtoiste, und es ist nichts
Seltenes, daß der Reisende in Oberwallis mitten unter Hirtendörfern ärmlichen
Aussehens plötzlich auf ein stattliches Haus stößt, in welchem ein alter adliger
Herr, ehemals in königlich französischen Diensten, jetzt nnter seinen Pächtern
das patriarchalische Leben eines Seignenrs alten Stils führt. Französische
Sitte, städtisches Leben, Wein- und Getreidebau ist überwiegend im französischen
Unterwallis; weitauSeiuauderliegende Dörfer und Höfe, Viehzucht und Wiesen¬
bau charaktensiren daS deutsche Oberwallis. Die Sprachgrenze, die mitten
durch den Clinton geht, scheidet zwei nicht nur in Sprache, sondern in Cha¬
rakter, Bildung, Lebensart und in ihren politischen Anschauungen ganz ver¬
schiedene Volksstämme, unten Burgunder, oben Allemannen oder, wie die Sage
meldet, versprengte Gothen aus dem Reiche Theodorichs und Totilas.
Die Natnrforschergesellschast war der erste schweizerische Verein, der es
wagte, in Wallis vorzudringen. Die Walliser hatten aber ihre gelehrten
Miteidgenossen so herzlich aufgenommen, und ihnen die Merkwürdigkeiten ihres
Landes in den Thälern und auf den Bergen, in Küche und Keller so bereit¬
willig gezeigt, daß die eidgenössischen Violinen, Bratschen und Contrcbässe das
folgende Jahr es ebenfalls wagten, über die Gemmi und durch das Felsenthor
von Se. Maurice nach Sitten aufzubrechen. Um bei den Gästen Ehre ein¬
zulegen waren die für das große und kleine Concert bestimmten Chöre, Sym¬
phonien und Ouvertüren schon viele Wochen vorher eingeübt worden. In
Sitten, in Martinach, in Monther wurde vor dem schönen und vor dem starken
Geschlechte mit Anstrengung musieirt und gesungen, als in der ersten Juliwoche
Methfessel aus Bern und Richard Wagner aus Zürich eintrafen, Am das
Commando der eidgenössischen musikalischen Armee zu übernehmen. Richard
Wagner war bestimmt, eine Beethovensche Symphonie zu dirigiren; er fand
aber bei seiner Ankunft in Sitten das Theater freilich zum Ballsal hergerichtet
und Triumphbogen und Ehrenpforten zum Empfange der Gäste gebaut; da¬
gegen sollte die alte, im byzantinischen Stile gebaute Kirche als Concertsal
dienen, und als der Maestro nach dem Orchester fragte, fand er erst einzelne
zerstreute Elemente desselben beisammen. Sei es, daß er bei diesen mißlichen
Aussichten an dem Gelingen des Unternehmens zweifelte, sei es, daß andere
Gründe ihn verstimmten, genug, er reiste plötzlich wieder ab und überließ es
seinem College» Methfessel, die bald von allen Seiten anrückenden Sänger
und Musiker zu einem homogenen Ganzen zusammenzustimmen.
Montag, Juli, war die Probe des großen Concertes, in welchem laut
Statuten nur größere classische Werke vor sämmtlkhen anwesenden Mitgliedern
der Musikgesellschaft aufgeführt werden. Dieses Jahr sollten Neukomms Hymne
an die Nacht, Mendelsohns Lobgesang und.Beethovens Symphonie in ^dur
zur Aufführung kommen. Die Probe dieser aus allen Richtungen der Wind¬
rose zusammengekommenen Musiker ließ nicht viel Gutes erwarten; um so
überraschter war man, als die Aufführung des folgenden Tages über Erwarten
gelang. Es ist hier nicht der Ort, an eine solche Production den Maßstab
der strengen Kritik anzulegen; wir suchen die Wichtigkeit mehr in dem cultur¬
historischen Moment, das die Aufführung in sich bergen kann, und dies möchte
im gegenwärtigen Falle nicht gering sein. Seit der Monte Rosa steht, und
die Rhone ihre grünen Wasser von der Furka in den Lemansee hinunterwälzt,
war es das erste Mal, daß dieses Land Beethovensche und Mendelsohnsche
Compositionen mit einer solchen Tonmasse zu hören bekam. Dem-aufmerksamen
Beobachter des Volkslebens waren auch die überraschten Mienen der in Menge
zusammengeströmten Zuschauer so interessant als die Aufführung selbst. Erst
verwirrt über das noch nie Gehörte, schienen die Gemüther allmälig in dem
Strome der auf sie herunterflntenden Töne sich zurechtzufinden; dann ihre
Bedeutung zu begreifen, endlich wurden sie von ihnen hingerissen, wie die an¬
dächtige Stille, die dem Schlüsse jeder Nummer folgte, deutlich zeigte. Ob der
Bischof von Sitten wol eine Ahnung hatte von der culturhistorischen Wichtig¬
keit der Musik, als er bereitwillig seine Kirche, in welcher bis jetzt nur die
Sequenzen und Antiphonen seiner Domherrn ertönten, zum ersten Male dem
Beethoven und Mendelsohn öffnete, und mit seinem ganzen bischöflichen Gefolge
der Ausführung beiwohnte?
Mittwoch folgte das kleinere Concert, für kleinere Tonstücke und die Pro¬
duktionen einzelner Sänger und Musiker bestimmt; es ist der Tag, an welchem
dem Musiker von Fach Gelegenheit gegeben wird, sich hören zu lassen. Wir
schreiben auch hier das Programm nicht ab, und begnügen uns, die größeren
Productionen dieses Concertes aufzuzeichnen: die c^dur-Symphonie von Nils
Gabe und die Ouvertüre zu Webers Eury'anthe. Mehre Sänger und
Sängerinnen ließen sich hören; doch fehlte der bekannte Walliser Sänger
Mengis, der gegenwärtig den californischen Goldgräbern in Se. Francisco die
berühmte Arie „das Gold ist eine Chimäre" singt, den Spruch aber zum Nutzen
und Frommen seiner Börse anzuwenden versteht. Wenden wir uns jetzt aus
dem glattgebohnten Salon der Musikgesellschaft und von ihrer gemessenen
Etiquette zu der Sängerhütte des schweizerischen Sängervereins, der ungefähr
um die gleiche Zeit in Winterthur zusammenkam. Hier rauscht das Volksleben
mit vollem Strom und die Wellen der Freude schlagen zusammen in be¬
täubendem Jubel.
Die Gesangvereine sind ein bedeutendes Culturelement für die Schweiz
geworden. Das Verdienst, dieses Element des Volksgesanges erkannt und
durch Schrift und Wort zu seiner allgemeinen Einführung angeregt zu haben,
gebührt dem Züricher Hans Georg Naegeli. , Ein philosophischer Kopf und
mit den Resultaten der deutschen Philosophie, namentlich Kants, bekannt, faßte
er die Idee der Volkserziehung von einem ideellen Standpunkte: die Kunst
sollte die Sendung haben, die Menschen sittlich und religiös zu heiligen; als
das Bildendste und Bleibendste in der Lichtwelt der Kunst galt ihm aber das
in schöner Tonform gesungene Wort. Der Idee, den Gesang zu einem mäch¬
tigen Erzieher des Volkes.zu erheben, war sein ganzes Leben geweiht. Ueber
2600 größere und kleinere Arbeiten hat er in dieser Richtung vollendet. Als
Pädagog schrieb er im Geiste Pestalozzis mehre theoretische Werke und An¬
leitungen zum Gesänge; als . Componist bedachte er das ganze Volksleben in
'
allen seinen Schichten von den Liedern für die Schuljugend bis zu den vier¬
stimmigen Chören für Männer; d.le von ihm angestrebte Reformation des
Kirchengesangs umfaßte beide Confessionen; so bearbeitete er nicht nur sein
beliebtes Züricher Kirchengesangbuch, sondern auch die Kirchengesänge für das
Bisthum Konstanz, Mit Recht nennen ihn daher die schweizerischen Sänger¬
vereine ihren Vater auf dem Denksteine, den sie ihm im Jahre I8i8 in Zürich
setzten. Durch ihn wurde der schweizerische vierstimmige Männerchor gegründet,
und seinem begeisterten Wirken verdankt es der Gesangunterricht, daß er seit
der Regeneration des Volksschulwesenö in den dreißiger Jahren überall unter
die Gegenstände des Primarunterrichts aufgenommen wurde.
Die Saat, die Naegeli ausstreute, ist seither zu einem mächtigen Aehren-
felde herangereift, und so war es natürlich, daß die vielen tausend Sänger
in. allen Theilen der deutschen Schweiz das Bedürfniß fühlten, sich zu ver¬
einigen. Diese Vereinigung geschal) stufenweise, wie das Bedürfniß und die
Lust an größeren Gesangausführungen wuchs; die Localvereine traten zusammen
i» Bezirkverciue, diese sammelten allmälig ihre Kräfte in Cantonalveteinen, und
endlich trat als letztes, alle Vereine in sich ausnehmendes Ganzes der eid¬
genössische Säugerverein hinzu. Es gibt gegenwärtig keinen Canton in der
deutschen Schweiz, der nicht seine Gesangvereine hat, in den meisten ist die
Gliederung, die wir genannt, durchgeführt, in keinem aber vollständiger und
ineinandergreifender als im Canton Bern. So ist jeder Sommer reich an
Gesangfesten: bald hält ein Bezirk sein Bezirkgesangfcst, und die umliegende»
Bezirke schicken ihre Abgeordneten, oder ein Canton feiert sein Cantonal-
sängcrfest, zu dem die Sänger der angrenzenden Cantone geladen werden. Dahin
zieht man dann nicht im reichgepolsterten Zweispänner, sondern auf langen
Leiterwagen, verziert mit Mooskräuzen und flatternden Bändern, halten die
Säuger ihren Einzug, und es ist kein Dörflein so klein, eine Fahne wenigstens
muß darin sein; an einem solchen Tage wird sie entfaltet, und verschönert
dann natürlich durch ihr lustiges Flattern um ein Merkliches die Schönheit
des Tages.
Winterthur hatte es unternommen, dieses Jahr die eidgenössischen Sänger
zu versammeln, Winterthur, die freundliche, gewerbreiche Stadt, von der man
in der ganzen Schweiz mit respectvoller Miene erzählt, sie besitze das größte
Communalvermögen und vertheile jedem ihrer Bürger jährlich soviel an „Bürger¬
genuß", daß, wenn er es nicht zu hoch treibe, er süglich davon leben könne.
Wenn auch ersteres wahr, so wird man in letzteres einen wohlbegründeten
Zweifel setzen beim Anblicke der vielen Fabrikgebäude Winterthurs; Leute,
die solche Häuser bauen und bevölkern, leben nicht von „Bürgergenuß".
Winterthur gehört nicht zu den „Hauptstädten", die bis jetzt allein die
Ehre in Anspruch genommen hatten, die eidgenössischen Sänger in ihre Mauern
einzuladen, Spornes genug für eine demokratische Provinzialstadt, zu zeigen, daß
man Empfang und Bewirthung eidgenössischer Gäste versuche, ohne eben zu den
sogenannten Hauptstädten zu zählen.
Winterthur hat keine Kirche, geräumig genug, die tausende von Sängern
und Zuhörern zu fassen; was thut das zur Sache? Man baut für das Fest
eine eigne, geschlossene Säugerhalle aus Holz, 260 Fuß laug und 93 Fuß
hoch und groß genua, in ihrem Hauptschiffe und den beiden Nebenschiffen und
auf ihren Tribünen und Galerien 6000 Menschen zu fassen. Die langgestreckten
Gassen Winterthurs verwandeln sich in einen Garten von Blumengewinden,
die sich von Haus zu Haus und über die Straßen ziehen, von Ehrenpforten
und Triumphbogen; die silbernen Becher, aus denen die Gäste den Willkomm-
trunk in bestem Winterthurer trinken sollen, werden blank gescheuert und auf
dem Stadthause sammeln sich ungeduldig die Mitglieder der vielen Comite'S.
Sonntag, den 16. Juli, Morgens 10 Uhr fand die feierliche Uebergabe
der Fahnen statt. Die eidgenössische Fahne, welcher die Züricher eine Bedeckung
von Berittenen mitgegeben hatten, flatterte bald, umweht von beinahe hundert
Vereinsfahnen von dem Stadthause herunter. Den Willkommreden folgte
der Chor „Russe du, mein Vaterland" und der Ehrentrunk, worauf sich die
Sänger zerstreuten^ um beim gemeinschaftlichen Mittagsmahle sich wieder¬
zutreffen.
Allein heute galt es, nüchtern zu bleiben; denn Nachmittags sollten die
Wettgesänge zur Aufführung kommen. Neunzehn Vereine hatten sich zum
Wettsingen gemeldet, und eine einladende Reihr kunstreich gearbeiteter Pokale
winkte den glücklichen Siegern. Da hieß es seine Kräfte zusammenhalten.
Mit ängstlicher Sorgfalt wachten daher die Directoren über die wettsingenden
Kehlen ihrer Untergebenen, damit nicht eine plötzliche Heiserkeit der ersten
Tenore die Anstrengungen vieler Wochen auf einmal vernichte, oder ein zu
lebhaft gewordener Baß den richtigen Moment des Einfallenö und damit auch
die Ehre des Tages verpasse.
Die Aufzähl-ung aller wettsingenden Vereine und die Kritik der Leistungen
eines jeden gehört nicht hierher; wir begnügen uns, den allgemeinen Eindruck
des Ganzen zu skizziren. Aufgefallen ist, daß die Wahl der meisten zum Wett¬
singen bestimmten Stücke auf Compositionen von vorwiegend sentimentalen
Charakter fiel, und es machte bisweilen einen eigenthümlichen Eindruck, einen
Chor von kräftigen, bärtigen Männergestalten sich abmühen zu hören, ein recht
leises Pianissimo-hinzuhauchen; bei andern mochten die Schwierigkeiten, welche
die Compositiv» zu überwinden gab, mehr zur Wahl beigetragen haben, als
der musikalische Werth. Wir hätten markigere, einfachere Tonstücke gewünscht,
ächten Männergesang. Vielleicht mochten die Grundsätze, nach welchen die
Kampfrichter die Wettgesänge zu beurtheilen h'alten, manches zu solchen Ver-
irrungen beigetragen haben, wie denn auch dieses Institut der Kampfrichter
noch bei jedem Sängerfeste Anlaß zur Unzufriedenheit gegeben hat und Schuld
ist, daß manche Vereine, die sich hintangesetzt glaubten, sich gar nicht mehr beim
Wettsingen betheiligen. So hatte vor einigen Jahren die Frage, ob die Kuh¬
reiher der Appenzeller zum Wettsingen zugelassen werden dürften, lebhafte
Debatten in einem solchen Kampfgerichte hervorgerufen, Kücken, den ein reicher
Appenzeller auf eigne Kosten nach dem Appenzeller Lande geladen hatte, um
seine gesangeslustigen Landsleute mit ihren hellen Tenorstimmen im Gesänge
auszubilden, soll sich für die Zulassung ausgesprochen haben; die andern Kampf¬
richter sprachen dagegen den Jodlern den musikalischen Werth ab. So kam es,
daß die Appenzeller nicht den Rang erhielten, den sie für ihre Leistungen sich
versprachen, und den der Beifall des Publicums ihnen gewährte, und seit dieser
Zeit haben sie sich von den eidgenössischen Sängerfesten zurückgezogen. Aehn-
liches passirte auch in Winterthur. Der Verein von Altdorf, der zum ersten
Male das eidgenössische Sängerfest besuchte, war von dem Kampfgerichte an
'den letzten Platz gesetzt worden, und zog zornig ab, ohne die ihm zugedachte
Ehrengabe in Empfang zu nehmen.
Der zweite Tag des Festes versammelte die Sänger, die sich von den
Anstrengungen des in der Sängerhalle froh verlebten Abends erholt hatten,
zu einem Orgelconcerte in der Hauptkirche und dann zur, Probe der Haupt-
aufsührnng. Diese fand Nachmittags in der großen Sängerhallc statt. Der
Eindruck dieser von 2000 Sängern aufgeführten Chöre war mächtig, doch nicht
so gewaltig, als man es von dieser Tonmasse erwartet hatte, eine Erfahrung
die man auch schon bei den Sängerfesten gemacht, die nicht in hölzernen Hallen,
sondern in gut akustisch gebauten Kirchen gehalten wurden. ' Auffallend war,
daß, während bei andern Sängerfesten die Wettgesänge mehr versprachen als
die Gesammtau'sführung, dieses Mal die Stimme des Publicums sich eher zu
Gunsten der letztern aussprach, was wir dem schon von uns gerügten zu gleich¬
artigen Charakter der Wettgesänge und ihrer zu. großen Anzahl zuschreiben.
Der Nest des Tages war der Eröffnung des Spruches der Kampfrichter,
der Uebergabe der Preise und den Freuden der Tafel und des Bechers geweiht.
Schnyder von Wartensee als Vorsitzer des Kampfgerichtes eröffnete den Spruch
und würzte die Ueberreichung der Ehrengaben mit manchem launigen Spruche
in seiner Luzerner Mundart. Gewaltigen Jubel erregte es, als der Stuttgarter
Verein (der einzige deutsche, der am Feste theilnahm) hervorgerufen und mit
einem prächtigen Trinkhorn als Erinnerungszeichen an die froh verlebten
Stunden bedacht wurde. So sehr es auch manchen drücken mochte, beim
Bankette in der Sängerhälle seiner gehobenen Stimmung in einem Trinksprüche
, Ausdruck zu geben, so ließ doch der. stürmische Festjubel niemand zu Worte
kommen; einzig dem Redner der Stuttgarter horchte man.
Am andern Margen stoben die Sänger auseinander, und die Sängerhalle
blieb einsam zurück, träumend über das in ihren Räumen so schnell aufgeblühte
und erstorbene Leben.
Das große Glück, welches die Beckersche Weltgeschichte ihrer Zeit gemacht
hat, erklärt sich theils aus der sehr gewandten, leichtfaßlichen und die Haupt-
Punkte hervorhebenden Erzählung, theils aus der Freiheit von Voraus¬
setzungen und Vorurtheilen, die sie wenigstens bis zu einem gewissen Grade
behauptete. Sehr vortheilhaft war namentlich für jeden, der Sinn für That¬
sachen hatte, der Abstich gegen die Nottecksche Weltgeschichte, in welcher man
wenig- mehr als eine sehr oberflächliche Tendenzschrift zur Empfehlung des con-
stitutionellen Princips sehen konnte. Das Werk hat seit der Zeit eine ziemliche
Reihe von Umarbeitungen erlebt, und man kann wol sagen, daß von der alten
Fassung nicht mehr viel Anderes geblieben ist als die Firma. Das Merk¬
würdigste ist dabei, daß eine gewisse Symmetrie sich doch immer erhalten
hat, obgleich die Bearbeiter sehr verschiedenen Parteien, zum Theil sogar sehr
verschiedenen Bildungsstufen angehörten.
Eine Arglosigkeit der Erzählung, wie sie zu Anfang dieses Jahrhunderts
möglich war, (die erste Ausgabe der Weltgeschichte erschien-180-1) ist im gegen¬
wärtigen Augenblick nicht mehr denkbar, am wenigsten in den Partien, die
auf das Gebiet der neueren Geschichte eingehen. Wer es gegenwärtig unter¬
nehmen wollte, die Erlebnisse der letzten Zeit unparteiisch d. h. ohne directe
Theilnahme für irgendeine der vie Zeit bewegenden Ideen darzustellen, würde
bei keinem Theile des Publicums Beifall finden. Denn soweit hat sich das
politische Leben doch bereits ausgebildet, daß jeder im Volke mit seinen Wün¬
schen und Hoffnungen oder auch nur mit seinen Befürchtungen auf einer Seite
steht, und daß er von dem Geschichtschreiber erwartet, in seinen Ueberzeugungen
bestärkt, in seiner Erkenntniß der Gründe, die ihn an die bestimmte Partei
binden, gefördert zu werden. Es kommt nur darauf an, daß die politische
Ueberzeugung auf die Darstellung der Thatsachen keinen schädlichen Einfluß aus¬
übt, und daß sie sich soweit in der Mitte der Gegensätze hält, um nach allen
Seiten hin wenigstens verstanden zu werden. Es ist das ein Punkt, den man
im Auge behalten muß, wenn man die Beobachtung macht, daß in Zeiten einer
Krisis die ertremen Parteien die mächtigste Einwirkung ausüben, weil sie der
größten Leidenschaft fähig sind. Diese Einwirkung dauert nur eine kurze Zeit
und wird augenblicklich aufgehoben, sobald das natürliche Gefühl und die un¬
befangene Beobachtung der Thatsachen wieder Raum gewinnt. Eine historische
Darstellung der Geschichte der neuern Zeit vom Standpunkt einer ertremen
Partei, etwa des Radicalismus oder der Kreuzzeitung, würde nirgend Anklang
finden; vielleicht nicht einmal bei den Angehörigen derselben Partei, weil die
Thatsachen sehr bald dazu führen, den Leidenschaften zu widersprechen.
Der Verfasser der vorliegenden Schrift gehört dem gemäßigten Liberalis¬
mus an, gewiß derjenigen Partei, die bei der Darstellung der neuen Zeit die
meiste Aussicht auf Anerkennung hat. Denn, daß in dem Ausgang der großen
Bewegung, die mit 18-13 begann, viele gerechte Anforderungen und Wünsche
unbefriedigt geblieben sind, dieser Ueberzeugung wird sich selbst derjenige nicht
entschlagen können, der in dem leidenschaftlichen Ausdruck jener Anforderungen
und Wünsche eine unstatthafte Auflehnung gegen das Bestehende steht.
Nun hat seit jener Zeit der'Liberalismus seine Kenntniß nach manchen Seiten
hin erweitert und demgemäß seine Ueberzeugung berichtigt. In den dreißiger,
Jahren sah man in jeder Opposition gegen die Gewalthaber, namentlich in den
Ländern, wo die Unwürdigkeit der Regierung augenscheinlich war, einen Fortschritt
zum Bessern. Jetzt hat man sich daran gewöhnt, nur diejenige Opposition für
gerechtfertigt zu halten, die mit einer gewissen Naturkraft, die produktiv eintritt.
Denn regiert müssen die Staaten werden, und zum Sturz der bestehenden Ne¬
gierung beizutragen hat nur derjenige das Recht, der eine neue zu bilden im
Stande ist. Außerdem ist in unsern Tagen der locale Gesichtspunkt durch den
europäischen verdrängt worden. Früher folgte man bei der Beurtheilung der
Thatsachen dem Jnstinct, der Sympathie oder Antipathie; jetzt fragt man nach
her Bedeutung, die ein localer Erfolg für die allgemeine europäische Entwick-
lung haben kann. Man läßt sich z. B. durch einzelne heroische Züge der
Polen nicht mehr bestimmen, ose weiteres aus ihre Seite zu treten und man
sieht in dem Aufstand der Griechen nicht mehr blos den natürlichen Freiheits¬
trieb, nicht mehr blos das religiöse Gefühl, sondern ebenso auch die russische
Intrigue.
Ganz sind in dem vorliegenden Werk diese wechselndem Gesichtspunkte nicht
zur Ausgleichung gekommen. So würden wir nach der jetzt herrschenden Auf¬
fassung der allgemeinen Verhältnisse die orientalischen Händel der zwanziger
Jahre wol anders darstellen, als es hier geschehen ist. Indeß bei einer Ge¬
schichte der neuesten Zeit ist so etwas überhaupt schwer zu vermeiden. Es ist
eigentlich immer ein Urtheilsspruch vor dem Schluß der Acten, und kann daher
nur eine vorläufige Geltung in Anspruch nehmen. Wenn man es nur ver¬
meidet, durch Leidenschaftlichkeit oder blinden Autoritätsglauben sich in die
Ertreme verlocken zu lassen, und wenn man den Grundgedanken der modernen
Bildung immer festhält, so werden sich die Widersprüche wenigstens einiger¬
maßen ausgleichen.
Die Form der Darstellung ist im allgemeinen zu loben. Die Thatsachen
sind übersichtlich, geordnet und einfach erzählt; von dem Detail ist nur soviel
aufgenommen, als zum Verständniß des allgemeinen Ganges der Handlung
nothwendig ist. —
Der Inhalt dieses Büchleins, die Geschichte der Wiedertäufer in Münster,
erinnert in mancher Beziehung an die heutigen Mormonen, und gehört zu jenen
Blättern der Geschichte, die den menschlichen Verstand warnen können, wenn
er einmal gar zu übermüthig auf seine Kraft pochen wollte. In ruhigen Zeiten
kommt uns die .Erzählung einer so wahnwitzigen Begebenheit wie eine Ge¬
schichte aus Tausend und einer Nacht vor, aber niemand kann dafür stehen,
daß nicht noch einmal eine Zeit kommt, wo wir sie sehr begreiflich finden.
Das Reich der Wiedertäufer in Münster war ein Reich des Unsinns und der
Greuel, und doch hat es seine Märtyrer, die in den Qualen des Todes noch
ihren Glauben bekannten. — Nebenbei muß man freilich bemerken, daß die
Quellen, aus denen wir die Geschichte der Wiedertäufer schöpfen, nicht ganz
rein sind, daß sie meistens von Zeugen ausgehen, die ein Interesse daran hatten,
die Sache so abscheulich als möglich darzustellen. — Der Verfasser des vor¬
liegenden Büchleins macht zuweilen Bemerkungen, die uns außer Fassung
setzen. So erzählt er Seite 49. folgende Geschichte. Eine der Gemahlinnen
des Königs von Zion (bekanntlich war von den neuen Propheten die Vielweibe¬
rei eingeführt) hat in einem Anfall von Gewissensangst die Aeußerung gethan,
sie könne unmöglich glauben, daß Gott damit gedient sei, wenn das arme Volk
so hungere und verschmachte. Dein König ward die Aeußerung hinterbracht
und da uun verordnete er eine große Versammlung aus dem Markte und ließ
alle seine Frauen dort erscheinen; Else mußte aus dem Chor hervortreten, er
zückte das Richtschwert und ihr Haupt flog von den blendenden Schultern in
den Sand. Dann sprach er zum Volk, indem er den Leichnam mit dem Fuße
stieß: sie hat sich an dem heiligen Geist versündigt, der durch den König spricht;
sie hat also ihre Strafe wohl verdient. Ehre sei Gott in der Höhe. Seine
Frauen stimmten einen Lobgesang an, in welchen die ganze Versammlung ein¬
fiel und zum Schluß begann der König mit der Königin einen Reigentanz, an
den sich die ganze Gemeinde anschloß. — Zu diesem Factum macht der Ver¬
sasser folgende Bemerkung: „Diejenigen, welchen der Zwang der Umstände das
höchste Gesetz ist, werden freilich wol geneigt sein, solche blutige Strenge
zu entschuldigen, aber schwerlich sind die jeweiligen Umstände das höchste
Gesetz." —
Die Verfasser haben sich bemüht, aus dem Studium einer unendlichen
Anzahl von Quellen, die von den eigentlich politischen Schriftstellern nicht be¬
achtet werden, ein Gemälde, der innern gesellschaftlichen Zustände Frankreichs
während der Revolution zu entwerfen, das vom höchsten Interesse sein würde,
wenn sie nur nicht bei dem Bestreben, alles so abscheulich und lächerlich als
möglich darzustellen, in der Auswahl und Kritik der Quellen gar zu nachlässig ge¬
wesen wären. Das Werk ist für die Sittengeschichte jener Zeit nicht zu umgehen,
aber es macht doch eine neue kritische Nacharbeit nicht überflüssig, wenn man
nicht das Wahre mit dem Falschen ausnehmen will. Nebenbei ist der Stil vom
allermodernsten Französisch. Wir theilen eine Probe daraus mit. „'laut sauriail,
LK pliüsvQl. a eUre eos msssisurs, a 1» foci6l.6 kraoyaisv; vt Mnais no l'ni u»
mondo o.ni s'ollbUüt mieux a vivrv c?>. a savoir vivre. loro lutte; court.viss vtuU,
entre les xsns as also, a c>al üourirait leg bi<zu«6s,llvss et l<z lion 6Sö evwpsxnivs:
vt. v'plait parmi les rvpag, Iss soupvrs, 1v jeu, los eolwUvns, 1a clanse et
1(-8 antr«Z8 <1ion!ruf8EmiZnl8, uno parllouliorL Louvvrsalion et un oiiarunz alö
^parolös qu'on no pone äirv, et üonl it us laut lent-ör qu'un oraxou. — oss
riens Mi kmsaiönt kigure, prenaient touraure, amorph ä'un joli air; «Jos clia-
IvAUvs soutenus en Sö jouanl; g<zö Kenn es kortunes So .i»rg«n u. s. w." —
Unter den neuern historischen Werken, die in Paris erschienen sind, machen
wir ferner aus die Korrespondenz des König Joseph aufmerksam. Sie
umfaßt 10 Bände und gehört zu den wichtigsten Beiträgen für die Kenntniß
des Napoleonischen Zeitalters. —
Es kann nicht fehlen, daß ein Bürgerkrieg, der eine Reihe von Jahren
hindurch fortdauert, alle Leidenschaften aufs wildeste aufregt und nach den blu¬
tigsten Greulthaten endlich ohne ersichtlichen Zweck verläuft, die unbefangene
und unparteiische Geschichtschreibung nicht begünstigt. Die Geschichte des drei¬
ßigjährigen Krieges ist überall vom Parteistandpunkte geschrieben und setzt
deshalb der kritischen Forschung um so größere Schwierigkeiten entgegen, da
durch ein glänzendes rhetorisches Kunstwerk die öffentliche Meinung auf eine
lange Zeit hin bestimmt ist. Wir finden es daher sehr begreiflich, daß ein Schrift¬
steller zunächst durch die reine Wahrheitsliebe sich bestimmen läßt, mit einer gewis-
sen Leidenschaftlichkeit die entgegengesetzte Seite zu ergreifen und indem er zu¬
nächst nur eine Widerlegung der Thatsachen bezweckt, im Eifer des Kampfs
die entgegengesetzten Principien zu vertreten. So ist es Herrn Gfrörer ge¬
gangen, so dem Versasser der vorliegenden Schriften, der beiläufig in der Vor¬
rede versichert, beim Abfassen seiner Schrift von der Arbeit seines Vorgängers
keine Kenntniß gehabt zu haben. Wir wollen dieser Versicherung gern Glauben
schenken, denn eine unabhängige Uebereinstimmung ist wol denkbar, da gleiche
Ursachen gleiche Wirkungen erzeugen; und außerdem sind Gfrörers Ansichten
schon soweit in das Publicum eingedrungen, daß sie wol auch da eine Wirkung
ausüben können, wo man nicht grade auf die Schriften selbst zurückgeht.
In der ersten Abhandlung sucht Herr Heising nachzuweisen, daß man dem
baierschen Feldherrn bei der Zerstörung von Magdeburg Unrecht gethan, daß
er sich gegen die Stadt ziemlich rücksichtsvoll betragen habe und daß die wirk¬
lich erfolgte Zerstörung nicht ihm zuzuschreiben sei, sondern andern Umständen,
die gleichfalls erörtert worden, ohne doch über die Sicherheit einer Conjectur
hinaus festgestellt zu werden. Soweit ist die Arbeit ganz dankenswert!), denn
die Geschichte hat die Verpflichtung, jedes Unrecht, das man einem Helden gethan,
-gleichviel wie man seinen Charakter im allgemeinen auffassen möge, durch Kritik
wieder gut zu machen. Wenn aber Herr Heising den Magdeburgern empfiehlt,
Tilly eine Ehrensäule zu errichten, weil er gegen ihre Stadt so nachsichtsvoll
gewesen, so werden die Magdeburger diesen Rath geiviß verlachen, und bei
näherer Ueberlegung wird Herr Heising wol selbst einsehen, daß man einem
Feinde, dessen Sieg zur Zerstörung der Stadt geführt, keine Ehrensäulen errichtet,
auch wenn er persönlich an dieser Zerstörung unschuldig war. Wenigstens
konnten wir mit demselben Recht den Einwohnern Moskaus vorschlagen, Napo¬
leon ein Denkmal zu setzen, weil er ihre Stadt nicht verbrannt. Wir glauben, daß
die Russen diesem Rathe keine Folge leisten würden. Sie werden im Gegen¬
theil, wenn es ihnen darauf ankommt, überhaupt ein Denkmal zu setzen, diese
Ehre Rostopschin zu Theil werden lassen, der die Stadt verbrannt, um den Feind'
zu vernichten.
Die zweite Abhandlung sucht nachzuweisen, daß man mit Unrecht in Gustav
Adolph einen Glaubenshelden verehrt, daß der religiöse Grund seines Unter¬
nehmens ein secundärer war und daß er vorzugsweise von politischen Motiven
und von persönlichem Ehrgeiz bestimmt wurde. Diese Auffassung ist nicht so
ganz neu als die vorige. Daß Gustav Adolph ganz in seinen religiösen En¬
thusiasmus aufging, hat noch kein Geschichtschreiber behauptet und eben jenes
populäre rhetorische Werk, durch welches die öffentliche Meinung in Deutsch¬
land bestimmt worden ist, die Geschichte des dreißigjährigen Kriegs von
Schiller, hat die weltlichen Absichten des großen Königs sehr scharf hervor¬
gehoben. Ja Schiller ist sogar soweit gegangen, in dem frühen Tode des
Königs ein Glück für den Ruhm desselben wie für die Entwicklung Deutsch¬
lands zu finden, worin wir ihm keineswegs beipflichten können. In diesem
Sinn ist sogar Gfrörer viel unbefangener. Principiell stellt er sich zwar auf
die Seite des Kaiser Ferdinand und Wallensteins, eventuell aber auf die Seite
Gustav Adolphs. Wenn das katholische Kaiserreich nicht zu stände kam, so
wäre er auch mit dem protestantischen zufrieden gewesen. Die Hauptsache war
ihm, daß überhaupt ein deutsches Reich zu stände kam.
Was nun bei diesen modernen Behandlungen der Geschichte zunächst
auffällt, ist die Verwechslung des Princips, welches unsre Zeit gewonnen
hat, mit dem Princip einer frühern historischen Entwicklung. Die Idee der
politischen Einigung Deutschlands mit Nichtachtung der confessionellen Unter¬
schiede wird zwar im gegenwärtigen Augenblick von der Mehrzahl des deut¬
schen Volks gebilligt werden, allein im 17. Jahrhundert war die Unbefan¬
genheit in Glaubenssachen keineswegs so groß. Wenn wir verlangen, daß
die bestimmenden Motive des 16. Jahrhunderts andere gewesen sein sollen, als
sie es wirklich waren, so ist das eine Verkennung der historischen Mächte und
der historischen Entwicklung. Jede große Leidenschaft will ihre Zeit haben
und die herrschende Leidenschaft des 16. und 17. Jahrhunderts war die religiöse.
Wenn man ab»r einmal das müßige Geschäft betreiben will, bestimmte histori¬
sche Persönlichkeiten für den historischen Causalneruö verantwortlich zu machen,
so möge man Heinrich IV. und Richelieu mit Ferdinand II. vergleichen. Den
ersteren, die gleichfalls die Erbschaft langer Bürgerkriege überkamen, ist es
gelungen, die Staatseinheit in Frankreich herzustellen, weil sie das Princip
der Glaubensfreiheit aufstellten und dadurch der religiösen Leidenschaft die ge¬
gen den Staat gerichtete Spitze abbrachen. Ferdinand II. dagegen hat die Ein¬
heit des Reichs zerstört, weil er in seiner Bigotterie sich vermaß, seine eigne
religiöse Ueberzeugung mit Gewalt dem Volk aufzudringen, und dabei war
im Grunde die natürliche Entwicklung in Deutschland einfacher indicirt als in
Frankreich. Denn in Frankreich waren zwar, die Protestanten eine sehr mächtige
Sekte, aber die öffentliche Meinung war entschieden katholisch, ja liguistisch.
In Deutschland war das Umgekehrte der Fall. Freilich werden wir persönlich
den Kaiser Ferdinand nicht darum geringschätzen, daß ihm sein Glaube über
alles ging, allein ebensowenig werden wir es den Protestanten verdenken,
wenn sie zur Abwehr dieser gewaltthätigen und unrechtmäßigen Unterdrückung
alles anwendeten, was ihnen zu Gebote flano, wenn sie selbst die politische Un¬
abhängigkeit Deutschlands auss Spiel setzten. Wenn der Ausgang deS Kam¬
pfes für Deutschland ein unglückseliger war, was wir vollkommen zugeben, so
muß derjenige dafür verantwortlich gemacht werden,' der ihn erregte, und das war
Ferdinand l!., der Jesuitenschüler. Ja wir gehen noch weiter. Nicht blos im
Sinn des 17. Jahrhunderts billigen wir den Widerstand der Protestanten und
ihr Bündniß mit Gustav Adoph, wir billigen es auch nach ^unsern heutigen
Ueberzeugungen. Man darf nur unbefangen zusammenstellen, was feit Ende des
17. Jahrhunderts die Protestanten und was die Katholiken in Deutschland geleistet,
um die Männer zu segnen, die durch ihre Empörung den Glaubensdruck
wenigstens von Norddeutschland abgewandt haben. Es ist möglich, daß wir
jetzt ein Einheitsstaat wären, wenn es Wallenstein mit seiner Soldateska ge¬
lungen wäre, den Widerstand der Protestanten zu brechen, und die Jesuiten zu
Führern der deutschen Cultur zu machen. Aber Spanien hat sich ja dieses
Glücks auch erfreut, und sowenig wir mit der deutschen Entwicklung zufrieden sind,
so scheint sie uns doch immer noch den Preis vor der spanischen zu verdienen.
Spanien ist durch die Bigvterie aus den Reihen der Culturvölker herausge¬
treten. Deutschland ist trotz der Verwüstungen des dreißigjährigen Krieges,
trotz der Erschöpfung aller seiner Kräfte durch den Protestantismus in die
Reihe der Culturvölker eingeführt worden. Und dieser Gewinn kommt nicht
nur den deutschen Protestanten, sondern auch den deutschen Katholiken zugute.
Wir halten die leidenschaftliche Erbitterung, mit welcher Herr Hcising die
protestantischen Geschichtschreiber bekämpft, für sehr bedenklich. Es ist noch
nicht lange Zeit her, daß wir eine Analyse von der literarischen Stellung
Gfrörers gaben. Damals suchten wir nachzuweisen, daß keineswegs der re¬
ligiöse Glaube, sondern die politische Doctrin diesen Schriftsteller bestimmt hat¬
ten, in seinem Urtheil sich so entschieden von der öffentlichen Stimmung abzu¬
wenden. Aber es ist ein altes Sprichwort, daß der Teufel, wenn man ihm
einen Finger gibt, bald die ganze Hand nimmt. Kurze Zeit nach unsrem Artikel
kehrte Herr Gfrörer als reuiger Sohn" in den Schoß der alleinseligmachenden
Kirche zurück. Diese Thatsache muß uns darauf aufmerksam machen, daß man
nicht ungestraft unter dem Anschein der Parteilostgteit die eigne Partei ver¬
lästert. —
Herr von Neumond hat uns aus dem Gebiet der, italienischen Geschichte
schon manche beachtenswerthe Monographie gegeben. Das gegenwärtige Werk
schließt sich würdig seinen Vorgängern an. Es beschäftigt sich mit der Jugend¬
zeit einer Frau, die in ihrer Beziehung zu der blutigen Bartholomäusnacht
in der Geschichte einen unheilvollen Namen davongetragen hat. Wenn aber
von ihrem eignen Wesen sich uns in dieser Vorgeschichte wenig enthüllt, so
lernen wir doch aus ver Charakteristik der Umgebungen, unter denen sie auf¬
wuchs, durch die Geschichte der Intriguen, deren Mittelpunkt sie schon in ihrer
frühesten Kindheit war, die sittliche Atmosphäre verstehen, die uns ihre spätere
Handlungsweise zwar nicht entschuldigt, aber doch einigermaßen erklärt. — In
der Methode der Forschung wie der Komposition läßt sich bei Herrn von Reu-
mont der Einfluß Leopold Rankes nicht verkennen. Er bemüht sich, für alles,
was er erzählt, urkundliche Belege aufzufinden und vermeidet es sorgfältig, sich
Geschichschreiberu anzuvertrauen, die nicht aus erster Quelle schöpften. Seine
Darstellung dagegen hat ein mehr novellistisches als historisches Gepräge. Er
vermeidet das Zusammenfassen, daS Parallelisireu, das Verallgemeinern, was
die herrschende historische Schule in Deutschland zum Hauptgegenstand macht.
In seinem Streben nach Individualität ist ihm das Porträt und die Anekdote
grade recht. Ueberall geht er darauf aus, uns mit dem historischen Leben der
Zeit zugleich das sociale zu versinnlichen. Er beschreibt die Localitäten, die
Kunstwerke, welche in denselben aufgestellt wurden, die Cermonien u. s. w.,
wie man es sonst nur im historischen Roman gewohnt ist. Seinem Vorbild ist
es gelungen, mit derselben Methode durch Erweiterung der Perspectiven, um¬
fassende Einsicht in den Gang der Literatur im Verhältniß zu der Umbildung der
Sitten, und durch höhere Auffassung der Principien große historische Kunstwerke
zu stände zu bringen. Bei den kleinern Dimensionen unsres Verfassers ist
das nicht wol thunlich. Im Gegentheil macht seine Darstellung zuweilen den
Eindruck deS Manierirten. Indessen eignet sich die Zeit, die er zum Haupt¬
gegenstand seiner Studien gemacht hat, vielleicht mehr als eine andre für diese
leichtere Form, und da der positive historische Gewinn ein unbestreitbarer ist, so
können wir es ihm nur Dank wissen, baß er uns anch das Ernste mit Anmuth
und Zierlichkeit vorträgt. —
Eine Reihe interessanter, zum Theil höchst ergötzlicher Bilder, welche die Ge¬
schichte Hamburgs von ihrem ersten Ursprung bis in die neuere Zeit begleiten.
Wenn auch das Anekdotische und sagenhafte soweit vorherrscht, daß zuweilen
selbst in der Sprache die naive volkstümliche Form beibehalten ist, so haben
alle diese Geschichten doch zugleich einen historischen Sinn, denn sie versinnlichen
uns die sittliche Bildung der Zeit, in der sie entstanden sind. In dem Inhalts¬
verzeichnis) hat der Verfasser genau seine Quellen angegeben, und dadurch zu¬
gleich indirect das Verhältniß zwischen Sage und Geschichte festgestellt. Die
Form der Darstellung verdient großes Lob; denn trotz der Verschiedenheit im
Einzelnen (einige Geschichten von besonders naivem Charakter sind plattdeutsch
erzählt), ist doch eine verwandte Farbe hergestellt, so daß wir den Eindruck
eines Ganzen empfangen. Wir wünschten, daß ähnliche Sammlungen auch
in andern unsrer historischen Städte angestellt würden, die Einsicht in das
deutsche Wesen und damit das Interesse für das Vaterland könnte dadurch nur
vermehrt werden. —
Der geschickte Novellist hat in diesem Roman die Geschichte des bekannten
Abenteurers Naundorf behandelt, der -1843 in Holland starb und sich für den
Sohn Ludwigs XVI. ausgab, welcher im Tempel nicht gestorben sei, sondern
an dessen Stelle man einen andern Knaben begraben habe. Der Verfasser
schenkt den Erzählungen dieses Abenteurers vollen Glauben, und die Documente,
welche derselbe für sich anführt, nehmen einen großen Theil des Romans ein.
— Wir haben bereits früher ein historisches Werk angeführt, in welchem die
Geschichte dieses unglücklichen Prinzen behandelt ist. Louis XVll. La vo,
son axonicz, su mort. OaMvitv alö in lamMe royal an templo. OuvraFv en-
riolü Z'autoxrapliLS) cle Portraits et c>o utans par N. alö övaulllnzsnll.
Wer dieses Werk, welches durchaus auf Originalurkunden begründet ist, auf¬
merksam durchliest, kann an dem wirklichen Tode des unglücklichen Gefangenen
nicht zweifeln. Nun wird es zwar bis zu einer gewissen Grenze dem Novel¬
listen verstattet sein müssen, über die historischen Thatsachen nach Willkür zu
verfügen, wenigstens wenn diese wirklichen Dunkel gehüllt sind. Aber es
bleibt doch immer ein gewagtes Unternehmen, wenn sehr bekannte, uus nahe¬
stehende Persönlichkeiten darin verwickelt sind, und wenn die angeblich historische
Entdeckung alles romantische Interesse in sich concentrirt. Denn was sich nicht
unmittelbar auf diese dunkle Intrigue bezieht, ist sehr oberflächlich behandelt.
Namentlich ist das psychologische Interesse fast gar nicht vertreten. Einzelne
humoristische Genrebilder ans den Sitten jener Zeit sind sehr gelungen. Auch ist
die eigentliche Intrigue nicht ohne Geschick angelegt, obgleich die Pointe fehlt. —
Der Dichter beginnt mit dieser neuen Auflage seiner Herzensgeschichte die
Gesammtausgabe seiner Werke. Er sammelt in der Vorrede einige Zeugnisse
für die gute Aufnahme seiner Romane vom Publieum und von der Kritik und
wir wollen diese Thatsache gern constatiren. Wir wollen sie auch nicht im
geringsten dadurch erschüttern, daß wir uns diesem Urtheil nicht anschließen.
Für unsre Person aber müssen wir offen gestehen, daß wir die Regina für ein
sehr schlechtes Buch halten. Der Stil ist schlecht, er ist von der überschweng¬
lichsten Manier, auffallend geziert und dabei doch trivial; die Erzählung ist
schlecht, sie ist undeutlich, verworren, sie verweilt sehr lange und ausführlich
bei Nebensachen, berührt die Hauptpunkte oberflächlich und springt über die
wichtigsten Motive ganz hinweg; die Charakteristik ist schlecht, denn sie gibt
uns nur sporadische Charakterzüge, sie macht auch nicht einmal den Versuch,
uns eine individuelle Natur organisch zu entwickeln; und der sittliche Inhalt
ist schlecht, denn es wird uns als Held, für den wir uns interessiren sollen,
ein ganz siecher, haltloser, launenhafter Mensch geschildert, der, abgerechnet seine
Kotzebuesche Wohlthätigkeit, die in Romanen keine großen Unkosten macht, in
allen bestimmten Fällen so empfindet, denkt, spricht und handelt, wie ein sitt¬
lich gebildeter Mann nicht empfindet, denkt, spricht und handelt. Gott mag
wissen, in welchen Classen der Gesellschaft solche Sitten zu Hause-sind! Wir
glauben, daß unsre wirkliche Gesellschaft immer noch besser ist alö die ideale
unsrer sogenannten Dichter. Um aber einen Beleg sür unsre Ansicht zu geben,
greifen wir eine ganz beliebige Stelle heraus, auf die aber vom Dichter großes
Gewicht gelegt wird. Augustin, der Held, ist in einer Gesellschaft zwischen
einer edlen und geistreichen Jüdin, Regina, und einer leichtsinnigen Sängerin,
Fanny, seiner ehemaligen Maitresse, der vierte in der Gesellschaft ist Julius,
der Fanny liebt und sie heirathen will. Die Situation ist an sich schon recht
artig. Nun macht Julius folgende Bemerkung:
„Unsre liebenswürdige Fanny befindet sich zwischen uns beiden in einer ihr neuen und
eignen Situation. Ich begreife es, ich, und kann Ihnen Aufschluß geben, mein Freund. Ein
so ehrliches, einfaches Herz wie Fannys befindet sich auf einmal zwischen zwei Polen. Ver¬
stehen Sie mich nur recht, Fanny! Ich meine nicht Pokale», der Doctor versteht mich, was
man Pole in der Physik nennt, Anziehung, Abstoß. Ich will lieber sagen, zwischen zwei
Pole verseht. Sie sind nämlich ein Verehrer unsrer ausgezeichneten Sängerin und ich erkläre
mich für den Anbeter der liebenswürdigen.Fanny, Der Verehrer darf lauschen und sich alles
zuwenden, was er erlauschen kann; dem Anbeter gebührt aber auch ein Unehelichen von den
Regungen des Herzens, die dem bloßen Verehrer fernbleiben, wie — wie Schaubrote. Herrlich
und treffend! lachte Augustin. Schaubrote! Sehr bezeichnend, mein Freund! Aber -nicht
wahr, Julius, die Schaubrote waren ehemals — ungesäuert? So sollen wir Sie denn ins
gelobte Land scheiden sehen, schöne Fanny, mit ungesäuerten Broden?"
Die ungesäuerten Brote werden dann noch ziemlich ausführlich behandelt
und die übrigen Gleichnisse entsprechen an. Inhalt und Anmuth diesem echt
jungdeutschen Einfall. Uebrigens geht die Sache späer ins Tragische über.
Augustin erschießt sich, nachdem er sich noch vorher beim Wein und Kerzenlicht
eine poetische Stunde gemacht. Regina überlegt, ob sie sich solle laufen lassen,
thut es aber nicht. Dies wird im Schluß ausgedrückt, den wir hier mittheilen,
um neben jener humoristischen Sprachprobe auch eine von dem höheren Stil
zu geben.
„Und so trat eines Morgens Regina mit der Miene erhabener Entschlossenheit in den
Kreis der Familie und der Gäste. — Ich "bin zur Erleuchtung gekommen! sagte sie feierlich.
Warum, Helene, sollte ich Christin werden? Um meinen Schmerz zu besiegen? Aber nein,
ich will ihn behalte». Ich bin ja hinausgestoßen in die Wüste des Lebens und der Schmerz ist
meinJsmael. Ich bin Hagar und mein Herz ist der Krug, mit dein ich, meinen Durst zu löschen,
und meinen Zsmacl zu erquicken, aus dem ewigen Born des echt Menschlichen schöpfe. Dort
quillt auch mein Taufwasser. ohne daß ich eine getaufte Jüdin heiße. Wo ist denn auch
Christlich? Hier ist Katholisch, da Lutherisch, dort Ncformirt. Sie haben recht, Main, aus
Schlesien; die Offenbarung des Gottmenschen ist zu einem babylonischen Thurm geworden, an
dem sich die Völker mißverstehen »ut entzweien. Dem Gott z» Liebe, der Mensch geworden
ist, werfen sie die Nächstenliebe von sich und schmähen die Welt. Was bleibt uns übrig, uns
Ungläubigen, als eine neue Menschwerdung für jeden einzelnen, und daß wir uns den Stoff
und den Zuschnitt gefallen lassen, in den sich eine Gottheit gekleidet hat!" —
Bereits bei dem ersten Roman dieser jungen Dame haben wir darauf auf¬
merksam gemacht, daß wir es mit einem nicht gemeinen Talent zu thun haben, daß
wir aber eine höchst bedenkliche Richtung dieses Talents beklagen müssen.' Auch
in der gegenwärtigen Schrift finden sich Züge einer echt poetischen Anschauung;
die Charaktere sind, wenn man auch zahlreiche Fehler in ihnen entdecken wird, be¬
stimmt gedacht und angeschaut; die Erzählung, wenn auch durch zu große Sprünge
unterbrochen, ist verständlich und zusammenhängend; die Empfindung ist stark und
wenn sie auch zuweilen ins Unnatürliche, überspringt, doch niemals aus der Luft
gegriffen und das Urtheil zuweilen von einer ungewöhnlichen Reife. Was wir
bei dem Roman vermissen,^ ist die Jugendlichkeit. Die Personen, die darin
auftreten, haben meistens etwas Gebrochenes, und der Skepticismus, der sich
in der ganzen Anlage der Handlung ausspricht, und der doch unmöglich aus
wirklichen Lebenserfahrungen geschöpft sein kann, verräth eine seltsame Abirrung
der Phantasie. Manche Aufgaben, denen sonst nur der reife Mann gerecht
wird, sind hier einer jungen Dame gelungen, z. B. die Zeichnung eines ab¬
gefeimten Schurken, nicht eines Theaterschurken, der durch teuflische Grimassen
die Kinder zum Entsetzen bringt, sondern eines kalten egoistischen Weltmannes,
dessen unerbittliche Energie durch eine unruhige Geschäftigkeit paralysirt wird
und dessen feinste und kühnste Entwürfe scheitern, weil sein Ehrgeiz inhaltlos
ist und daher seine Zwecke aus der Imagination genommen sind. Auch in
dem Conflict zwischen dem angebornen edlen Sinn und der Abstraction des
weltlichen Zweckes, wie er uns in dem Charakter des Helden dargestellt wird,
finden wir manche überraschende Perspektiven; und wir können nur wünschen,
daß der Verfasserin gelingen möge, für ihr eignes Streben und folglich für ihr
eignes Dichten einen Haltpunkt zu finden, aus dem sich ihr dann auch die
Well in weniger trüben Farben darstellen wird. — Noch auf einen Neben¬
umstand müssen wir auch dies Mal hindeuten: der Roman sollte die Politik
so sehr als möglich vermeiden. Zwar haben es in England mehre Novellisten
versucht, die politische Intrigue novellistisch zu behandeln, allein es ist ihnen
fast immer mißlungen; denn wenn man bei derselben von den bestimmten un¬
mittelbaren Zwecken absieht, so ist sie einem stets langweilig und am wenigsten
geeignet, ein Urtheil über den wirklichen politischen Inhalt möglich zu machen.
Am gefährlichsten ist es, in eine ganz genau bekannte politische Entwicklung, iulder
uns die einzelnen Betheiligten vollständig gegenwärtig sind, poetische Figuren
einzuführen. Wenn es auch nicht grade die Aufgabe des Romans ist, uns den
Schein der Wahrheit zu geben, so muß doch wenigstens alles vermieden werden,
uns auf die Widersprüche gegen die Wahrheit aufmerksam zu machen, und
wenn unser Gedächtniß unsrer Phantasie fortwährend hinderlich in den Weg
tritt, so wird dadurch der unbefangene Eindruck aufgehoben. Möchte überhaupt
die Verfasserin den Dichter, der sie zu diesem Mißgriff verleitet zu haben scheint,
Bulwer, mit einem der neueren vertauschen, z. B. mit Dickens, der ihrer Phan^
laste bei der poetischen Auffassung, bei der Anschauung des Lebens behilflich
sein kann. —
Dieses Buch, das bei seinem ersten Erscheinen ein so großes Aufsehen
gemacht hat, war uns noch nicht zu Gesicht gekommen. Die Vorrede und die
ersten Capitel machten in.it ihrer gezierten, schwülstigen und incorrecten Sprache
einen höchst unangenehmen Eindruck auf uns und wir waren schon geneigt,
ungeduldig zu werden, als uns das nachfolgende Gespräch zwischen einer Mutter
und ihrem Kinde zu Gesicht kam.
Ach sieh mal, Mama, wie der Lutsche Lu wieder aussieht.
Mutier. Und du, schweige mir ganz still, du bist mir auch der rechte Fähnchen-
sührer, du! "
Louis. Ja, er hat mich mitgenimml und in Zucks gemeißt-
Mutter. Siehst dn. Mnsjechen! das hab ich mir gleich gedacht, erst führst dn den
Jungen in den tiefsten Schmuz und dann kommst du, dich noch wcißzubreuuen, na warte, du
Cujou, laß »ur den Valer zu Hause kommen, dann sollt ihr beide, der eine wie der andre,
was abkriegeu, ich will mich mit euch Rangen gar nicht mehr befassen; ich gräme mich so
schon zu Tode über eure Nichtsnutzigkeit!
Louis. Mama, du wirst sterben?
Mutter. Ja, ich werd sterben, und dann wirst du keine Mutter mehr habe», die dich
des Tags dreimal aus- und anzieht, du Unart du!
Louis. Mama, wann wirst du sterben?
Mutter. Wenn ich nicht länger mehr leben kann.
Lords. Dn lebst aber, Mama.
Mutter. Ja, noch lebe ich, aber wenn du so unartig bleibst und dich in allem Schmuz
herumtreibst, so werd ich mal eines Morgens früh todt sein.
Louis. Mausetodt, Mama?!
Mut ter- Na, nu seh mir einer die kleine Dummheit an ! Komm her, du kleiner Nacaille!
was soll ich mit dir macheu, du bist ja »och ein kleines, ganz dummes Aiehstückche», dn! na,
wirst dus anch nicht mehr thun?
Louis. Nicht mehr thun?
Mutier. Ja, nicht mehr herumtreiben, d» dreihaariger Schlingel du!
Louis. Mama, wie ist das dreihaar — ?
Mutter. Junge, das ist, wenn man so ein kleiner, unnützer, naseweiser Schelm ist,
wie du! ,
Louis. Mutter, wie ist das/wenn man wcisinasig ist?
Mutter (lachend). Wenn man so eine kleine Stumpfnase hat, wie du, die nie rein ge¬
wischt ist, verstehst du?
Louis. Warum ist sie nicht rein gewischt, Mama?
Mutter. Junge, im höre-aus mit Fragen ! Weil du sie dir nicht gewischt hast, du klei¬
ner Schmuzbodcl, du! aber ich muß dich doch lieben. Nu lauf! aber uicht in den Schmuz,
hörst du!
Das ist unzweifelhaft echte Naturwahrheit und innige Gemüthlichkeit und
hätte der Verfasser diese und ähnliche Stellen, wo wirklich Angeschautes und
Erlebtes dargestellt wird, ausschließlich mitgetheilt, so würde daraus ein sehr
schätzbares Buch hervorgegangen sein. Allein dieser reale Inhalt ist ihm wahr¬
scheinlich zu unbedeutend vorgekommen und er hat eine sentimentale Brühe
darübergegossen, die für den gesunden Geschmack unerträglich ist. Gewiß ist
die Kindheit eine werthvolle, wenn man will, eine heilige Zeit, und wenn ein
Dichter im Stande ist, uns ein klares, anschauliches Bild davon zu geben, die
kleinen Geheimnisse des Kinderherzens zu belauschen, und die fragmentarischen
Gebilde des ursprünglichen Seelenlebens in Sinn und Zusammenhang zu
bringen, so wird er uns gewiß zum größten Dank verpflichten. Wenn er aber
seine Aufgabe dadurch zu lösen sucht, daß er in überschwenglichen und doch
meistentheils trivialen Phrasen uns sein eignes Entzücken über das Wesen der
Kindheit vorstammelt, so ist das eigentlich nur sür hysterische Personen. Wel¬
cher Mensch von gesunden Sinnen kann z. B. das folgende Gerede aushalten?
Ach der bloße, baare Unsinn, ist ein weit tieferer Sinn und Verstand, wen» er mit
Herz und Seele eingebildet wird, als der Tiefsinn der Schulvernunft ohne Herz
und Imaginativ», nud von Glückseligkeit ist bei der Dialektik vollends nicht die Rede,
wenn sie mal.immanent ist, d. h. wenn sie ihrem Man» unausgesetzt auf dem Halse bleiben
^darf, um ihn im Wachsein, wie im Träumen Alp zu drücken. O beim hohen Himmel, bei
dem Kindcrhimmel seis geschworen, lieber eine Ewigkeit mit KtndersinnWaldsvechte gefangen», f.w.
Wer nicht reich an Gedanken ist, aber reich an Anschauungen, der bedarf
gewiß keiner Entschuldigung, wenn er uns seine Anschauungen mittheilt und
seine Gedanken für sich behält. Aber wenn er seine Gedankenarmuth zu Re¬
flexionen zerpflückt, die den Schein von Gedanken haben und doch gedankenlos
sind, so wird er sich weder dadurch rechtfertigen können, daß er über seine
eignen halben Gedanken in beständiges Entzücken ausbricht, noch dadurch, daß
er die herzlosen Metaphysiker bejammert.
Herr Goltz hat neben seiner Empfehlung der Kinderwelt auch die Absicht,
die Gemüthlichkeit des ostpreußischen, namentlich des Königsberger Wesens dar¬
zustellen. Hätte er es doch nur gethan! Trotz unsrer grauen Erbsen mit
Schemper, trotz unsrer Schweigsamkeit und unsrer zerquetschten Vocale ist bei
uns in Ostpreußen ebensoviel Gemüthlichkeit zu finden, als bei den auf dem
Theater so gern gesehenen Tyrolern und Schwaben, als bei den zungenfertigen
Rheinländern und den lieben Wienern. Aber wer -für unsre Gemüthlichkeit
in die Schranken treten will, muß sie beweisen, d. l). Plastisch darstellen; der
bloßen Versicherung glaubt der Ausländer nicht, wenn sie auch in jedem Satz
durch ein O! oder Ach! eingeführt wird. —
Ein versificirter Roman, der uns vor dem Talent des russischen Dichters allen
Respect einflößt, obgleich es dem höchst begabten Uebersetzer, der in seinen Ueber-
tragungen lyrischer Gedichte auf uns fast durchweg den Eindruck eines Original¬
schriststellers macht, bei diesem widerstrebenden Stoff nicht ganz gelungen ist,
den Eindruck der Uebersetzung zu verwischen. Es soll das kein Tadel sein;
denn die Unmöglichkeit, diese specifisch russischen Anschauungen so wiederzugeben,
daß sie uns deutsch erscheinen, liegt auf der Hand. — Der Inhalt der Novelle
ist sehr einfach. Der Held ist ein junger russischer Dandy/ der nach
dem gewöhnlichen Erziehungsprincip der russischen Aristokratie schon in frühester
Jugend gelernt hat, den Schaum der Ideale und des Lebens abzuschöpfen.
So ist er, obgleich an Jahren noch jung, in seinem Geiste alt und verlebt
geworden, und hat kein Interesse mehr am Leben, als höchstens an dessen
gastrischen Genüssen. Durch den Tod eines reichen Oheims erbt er ein Land¬
gut und schleppt nun sein Leben im trägen Müßiggang hin. Ein Freund und
Nachbar, Lensky, führt ihn in eine benachbarte Familie ein, wo er mit der
jungem Tochter des Hauses verlobt ist. Die ältere Tochter faßt eine Neigung
für den jungen , blasirten Herrn und gesteht ihm ihre Gefühle in einem
leidenschaftlichen Briefe. Eugen ist grade in der tugendhaften Laune, hält ihr
einen erbaulichen Vortrag und sucht sie von ihrer thörichten Leidenschaft zurück¬
zubringen. Um sich für diese Enthaltsamkeit zu entschädigen macht er auf einem
Ball der Braut seines Freundes die Cour, nicht etwa in ernsthafter Absicht, sondern
nur um seinen Freund zu necken und ein paar langweilige Stunden zu todten.
Der Freund versteht keinen Spaß, er fordert Eugen zum Duell heraus und
dieser tödtet ihn, ohne es eigentlich zu wollen. Nun erfolgt ein ziemlich großer
Sprung in der Geschichte. Wir finden Eugen bei einem Fest in der Haupt¬
stadt wieder, in der alten blasirten Stimmung, als er unvermuthet jenes Mädchen
wiedersieht, deren Liebe er früher verschmähte; aber dies Mal als verheiratete
Frau, als Fürstin. Wie es bei blasirten Leuten in solchen Fällen zu geschehen
pflegt, es erfaßt ihn plötzlich eine wüthende Leidenschaft und er bietet alle er¬
denklichen Mittel auf, um die Schöne zu -gewinnen, die aber seinen Be¬
werbungen dies Mal Kälte und Verachtung entgegensetzt. Mitten in dieser Lage
der Dinge bricht die Geschichte ab. — Man fühlt in der Darstellung des
Helden theils den Einfluß Lord Byrons, theils Reminiscenzen des eignen
Lebens heraus, wenn auch der Dichter grade wie sein Vorbild zwischen dem
Charakter seines Helden und seinem eignen eine Scheidelinie zu ziehen versucht.
Denn zuweilen spricht er in seiner eignen Person, und dann sind seine Em¬
pfindungen und Reflexionen durchaus von denen seines Helden nicht ver¬
schieden. In dieser subjektiven Darstellung kann das Interesse des Romans
nicht gesucht werden, denn in dieser Beziehung können wir bei Byron aus
einer ursprünglichem und viel bedeutenderen Quelle schöpfen: aber im höchsten
Grade anziehend und belehrend ist die eingewebte Darstellung der russischen
Sitten. Freilich hat die Aristokratie der ganzen gebildeten Welt etwas sehr
Verwandtes, aber der russischen ist es doch gelungen, manche Eigenthümlichkeiten
festzuhalten, und dies zeigt sich grade am meisten in der Art und Weise,
wie die Nachäffung des Französischen getrieben wird. Die Censur hat zwar
sehr viel gestrichen, aber daß ihr doch manches entgangen ist, zeigen die beiden
folgenden Stellen. Zuerst eine Schilderung der Salons:
Langweilig, schwatzhaft sind die Leute;
Dumm, abgeschmackt, was man erzählt;
Ja, selbst in der Verleumdung fehlt
Der Witz; in allem ist man peinlich
Und kalt von 'Herzen und Gesicht,
Und geistreich selbst durch Zufall nicht.
O große Welt, wie farblos, kleinlich,
Wie ernsthaft flach und hohl du bist.
Wo Dummheit selbst nicht komisch ist!
Wenn sich diese Stelle noch außerhalb der politischen Sphäre zu bewegen
und daher ungefährlich zu sein scheint, so kann man das von der folgenden
wol kaum behaupten:
In dieser Welt voll Thoren, Lassen,
Verkäuflicher Gerechtigkeit,
In Uniform gefleckter Affen,
Auswürfe jeder Schlechtigkeit,
Spione, frömmelnder Koketten,
Und Sklaven, stolz auf ihre Ketten!
In dieser Welt der Heuchelei/
Des Lugs und Trugs, der Kriecherei,
Verschmitztheit, Rohheit, Alltagsleerc,
Klatschsucht, Verleumdung, Unnatur, —
In diesem Tugendgrab, wo nur
Das Laster kommt zu Ruhm und Ehre, —
In diesem Sumpf, in welchem wir
Uns, Freunde, alle baden hier!
Wir empfehlen diese und ähnliche SteAen dem Philosophen von Char¬
lottenburg, der in der Urkraft und Naturwüchsigkeit des russischen Volks die
dereinstige Erlösung des sündhaftigen Menschengeschlechts zu erkennen glaubt. —
Diese Herzensgeschichte hat den Vorzug, deutlich erzählt zu sein und einen
gemüthlichen Inhalt zu haben. Der Dichter hat sich bisher vorzugsweise
mit dem -Problem des innern Lebens beschäftigt. Möchte er darüber die äußere
Welt nicht zu sehr vernachlässigen, denn dieses rächt sich unausbleiblich durch
Unklarheit und Ueberschwenglichkeit in der Empfindung. Von der Art und
Weise, wie der Dichter die Regungen des Herzens analysirt, geben wir eine
Probe.
— Sicher, wenn auch still geräuschlos,
Kommt die Stunde in der Jugend Tagen,
Wo die Sinne hämmern an die Schläfen;
^ Wo sich regt im Vorgefühl des Weibes
In der Jungfrau Busen ein geheimes
Wunderbares, räthselvvlles Walten;
Wo ein wonnig niegcfühltes Strömen
Sie durchpulst, und eines Auges Fiebern
Es besagt, wie ihre Rechte künden
Der Natur urcwige Gesetze;
Wo das Ahnungsgrancn der Bestimmung
In der Keuschheit Blume sich vergeistigt,
Und sie fliehen heißt des Mannes Pfade. —
Die Fassung und Haltung dieses halb novellistischen, halb pädagogischen
Büchleins ist genau so wie die des vorigen Hefts, das wir im vergangenen
Jahr besprochen haben. Die Verbindung der beiden Zwecke hat etwas Be¬
denkliches, denn sie hebt die Naivetät aus. Die Illustrationen, die dem Büch¬
lein beigelegt sind, zeugen vortheilhaft für die gemüthliche Stimmung und
künstlerische Begabung des Malers. —
Der Roman unterscheidet sich von den gewöhnlichen Räuberromanen
unsrer Leihbibliotheken zwar dadurch, daß er ausführlicher und anschaulicher
schildert, und einigermaßen auf die Localitäten eingeht; aber sonst gibt er ihnen
an Abgeschmacktheit nichts nach. —
Die kleinen Geschichten dieses Bandes sind zwar dialogisirt, sie haben aber
einen wesentlich novellistischen Charakter. Außer einzelnen satirischen Scenen
und Gruppen aus dem gesellschaftlichen Leben enthält die Sammlung eine
kleine dramatisirte Novelle „Gisella", die Geschichte eines jungen Wüstlings,
der nach vielen abenteuerlichen Irrfahrten sich endlich in eine Landeöverrätherei
einläßt, und deshalb auf dem Schaffst enden soll, bis. eine verlassene und ver¬
rathene Geliebte ihn diesem schmählichen Tode entzieht. Das Talent, lebhaft
und ansprechend zu erzählen, zeigt sich auch in diesen Versuchen, leider anch
die Leichtfertigkeit der Arbeit, die Herrn v. Sternberg verhindert hat, sich in
der Literatur diejenige Stellung zu erringen, die seinem unbestreitbaren Talent
eigentlich zukäme. —
Die Fruchtbarkeit unsres Autors ist in der That erstaunlich. Wenn wir
auch davon abrechnen, was er mit der größten Unbefangenheit von der Welt
aus andern Schriftstellern, namentlich aus den deutschen abschreibt, so
bleibt doch die Mannhaftigkeit seiner Einfälle und Erfindungen unbegreiflich,
und dabei ist doch fast immer, was er schreibt, von einigem Interesse. Auch
der Inhalt dieses Bandes, die Liebesgeschichte zwischen einem Maler und einem
vornehmen Fräulein, so verbraucht an sich der Gegenstand erscheint, ist doch
mir soviel Geschick behandelt, daß man sie mit einiger Theilnahme durchblättern
kann; wir sagen durchblättern, denn Dumas erleichtert die Lectüre ungemein,
indem er überall eine Masse unnützer Redensarten einschiebt, die man über¬
schlagen kann, ohne dabei Gefahr zu laufen, einen der Hauptpunkte zu über¬
sehen ; denn solche verfehlt der Dichter niemals drei bis viermal zu wiederholen.
Freilich begegnen ihm dabei Menschlichkeiten; er hat mitunter vergessen, was
er einige Seiten vorher erzählt hat und erzählt etwas Anderes an dessen Stelle,
aber dergleichen liebenswürdige Schwächen stören nicht im mindesten, da man
nach dem Zusammenhang überhaupt nicht fragt. —
Gleichzeitig ist auch die zweite Uebersetzung erschienen: Die Mohikaner
von Paris u. s. w. Aus dem Französischen von Alvensleben. i. Bd.
Brüssel u. Leipzig, A. Schnee. —
sowol die Geschichtschreiber als die Novellisten haben in der neuesten
Zeit angefangen, bei der Betrachtung unsrer deutschen Vorzeit ihre Aufmerk¬
samkeit von dem Ritterthum auf das Städtewesen zu wenden. Wir können
uns über diese Wendung nur freuen, denn sie verräth einen richtigen politischen
Jnstinct. Die Kämpfe der deutschen Kaiser in Italien, soviele ritterliche und
romantische Erinnerungen sich daran knüpfen, hatten doch keinen politischen,
keinen nationalen Inhalt, und weit entfernt, der Gründung eines deutschen
Reichs förderlich zu sein, haben sie vielmehr einen politischen Idealismus ein¬
geführt, der jedes ernste, zusammenhängende, zweckmäßige Streben ausschloß.
Dagegen hatte sich in Norddeutschland eine Macht gebildet, die unmittelbar
aus dem deutschen Volke hervorging und die unter einer richtigen Leitung wol
im stände gewesen wäre, die Grundveste eines deutschen Staates zu bilden.
Das Kaiserthum hat die Thorheit begangen, die Hansa fallen zu lassen; sie
ist durch überlegene Gewalt zertrümmert worden und mit ihr ist die Hoffnung
einer volksthümlichen Entwicklung Deutschlands zu Grabe getragen. Indeß ist
diese Zeit noch nicht solange vorüber, daß wir uns nicht mehr ein Bild von
jener Kraft, die das deutsche Volk bereits in der Geschichte entwickelt, machen
könnten, und wir müssen daher jeden Versuch mit Dank aufnehmen, der uns
unter anmuthiger novellistischer Hülle auf historischen Boden führt.
Nur darf in solchen Fällen der Dichter nicht übersehen, daß das Interesse
für jene Zeit zunächst nur ein historisches oder vielmehr politisches, nicht ein
ästhetisches ist. In dieser Beziehung waren Walter Scott und seine Nach¬
folger, die das alte Ritterthum aus dem Schutt der Vergessenheit wieder aus¬
gruben, viel günstiger gestellt. Denn sowenig politischer Verstand in den
Begebenheiten zu finden war, die sie mit dem Schimmer der Poesie verherr¬
lichten, soviel individuelles Interesse boten ihnen ihre Stoffe. Die Sitten
des Ritterthums, wenn man sie nur geschickt zu gruppiren verstand, konnten
als ein ideales Costüm aufgefaßt werden, das auf alle Stände eine gleich¬
mäßig angenehme Wirkung hervorbrachte. Die politischen Beziehungen waren
im ganzen einfach und leicht zu übersehen, denn sie beruhten theils auf der
gleichmäßigen Tradition, theils auf persönlichen Interessen und Launen; sie
fanden ihren Mittelpunkt in der strahlenden Persönlichkeit von Helden und
Fürsten und sie erweckten auch kein politisches Bedenken, da sie keine unmit¬
telbare Beziehung zur.Gegenwart hatten. Anders ists mit der Geschichte der
deutschen Städte. Sie macht einen großen Eindruck, wenn man sie als Gan¬
zes auffaßt und von der welthistorischen Warte betrachtet. Aber das Leben
in den Städten des Mittelalters ist unsrem Bürgerthume eigentlich ebenso fremd
geworden, wie das Ritterwesen, und entbehrt den Vorzug eines idealen Costüms.
Wenn man bei der Geschichte der Städte ins Einzelne geht, so enthalten sie
sehr vieles Kleine, Gehässige und Widerwärtige. Der Gegensatz der Zünfte ge¬
gen die Geschlechter entzieht sich vielmehr der poetischen Darstellung als die Feh¬
den der Ritter untereinander, ihre Turniere und ihre Liebesgeschichten: und
wenn man in dem unbefangenen Leser einmal die romantische Stimmung erweckt,
so wird er sich leicht versucht fühlen, für den patriarchalischen Klopffechter, den
Ritter mit der eisernen Hand gegen die Pfefferkrämer und Tuchfabrikanten
Partei zu nehmen. Denn was jeder rechte Nomanleser als Convenienz ver¬
abscheuen muß, war in den Städten viel concentrirter und dabei viel kleinlicher
anzutreffen als in den Schlössern des Adels. Ein zweiter Uebelstand ist die
Verworrenheit der politischen Beziehungen. Das -I(>. Jahrhundert, in welchem
die Hansa zum letzten Mal auf eine großartige Weise ihre Machtfülle entwi¬
ckelte, zwang sie, in die allgemeinen europäischen Intriguen einzugehen, die wir
erst von vielen Seiten betrachten und analysiren müssen, ehe wir ein Urtheil darüber
und damit eine wirkliche Theilnahme gewinnen. An diesem Umstand ist auch
Gutzkowö Wullenweber gescheitert. Der Bürgermeister von Lübeck mischt sich in
die Ncichsintriguen von Dänemark, von Schweden, von Holland, überall, wie
es sehr verständig ist, im Interesse seiner Stadt: aber dieses Interesse kann
auch zuweilen mit sich bringen, daß er Parteien unterstützt, die wir vom all¬
gemein menschlichen Standpunkt nicht billigen können; und wenn wir diese Ver¬
wicklungen hin und her überlegen, um uns ein Urtheil zu bilden, so wird da¬
durch unsre Aufmerksamkeit von der Hauptsache abgelenkt, sie wird zerstreut
und verwirrt.
Es sind das alles große Uebelstände, aber sie sind zu überwinden. Der
Verfasser des gegenwärtigen Romans hat sich die Sache zu leicht gemacht.
Er hat die Hauptbegcbenheiten' der Geschichte Wullenwebers aus den geläufigsten
Compendien zusammengestellt, vielleicht auch hin und wieder ein Buch zu Rathe
gezogen, um sich über das Costüm zu unterrichten, aber er hat sich nicht soweit
in seine Quellen vertieft, um das Leben jener Zeit wirklich empfinden und
wiedergeben zu können. Seine Personen bewegen sich in modernen Vor¬
stellungen oder innerhalb der novellistischen Convenienz. Ein eigenthümliches
Leben ist in ihnen nicht vorhanden. Statt dessen hat der Verfasser wieder die
leidige Seemannösprache hervorgesucht, und quält uns mit Gangspill, Luvseite,
Bugspriet, Achteraaen u. s. w., was für unsre lengraphische Kenntniß ganz gut
sein mag, obgleich sich der Verfasser nicht mit großer Geschicklichkeit in diesen
Ausdrücken zu bewegen scheint; was aber jedenfalls nicht geeignet ist, uns zu
interessiren. Zu Coopers Zeit hatte diese Seemannssprache den Reiz der Neu¬
heit; außerdem waren Cooper, Marryat, Charnier u. f. w. Wirkliche Kenner des
Seewesens, man gewann aus ihrer Darstellung eine lebendige Anschauung
und bereicherte seine Kenntniß.' In dem vorliegenden Buch aber merkt man
zu deutlich heraus, daß das Lerikon die Hauptsache gethan hat.
Wer sich über die höchst interessante Geschichte Wullenweberö genauer
unterrichten will, dem empfehlen wir die Geschichte der deutschen Städte von
Barthold, der S. 332 :c. diesen Gegenstand behandelt. —
Herr Willkomm begann als jungdeutschcr Literat mit wcltschmerzlichen und
europamüden Geschichten. Er hat sich gegenwärtig der allgemeinen literari¬
schen Reaction angeschlossen, welche im Gegensatz gegen die gestaltlosen poli¬
tischen und socialen Abstractionen sich die Aufgabe steIt, das individuelle, con-
crete Leben zu schildern. Wir sind mit dieser Wendung wohl zufrieden. Wir
hätten zwar an dem Stil der gegenwärtigen kleinen Erzählung manches aus¬
zusetzen, namentlich weil er uns nicht einfach genug vorkommt, aber es sind
doch wirkliche Anschauungen und Lebensbcobachtungen darin; und man wird
aus der luftigen Gegend der Abstraction in die lebendigen Zustände des Volkes
eingeführt. Die Sammlung enthält folgende Geschichten: Der Zeidler, der
Halligmann, ein Besuch auf Sylt, der Schlickläufer, die verbindenden Flammen,
die Kringelhöchl. —
Montaigne erzählt von einem Könige, an dessen Hofe es Sitte gewesen,
daß jedes Mal eine Hofdame die Hand hinhielt, so oft die Speicheldrüse der
Majestät von Ueberfluß geplagt war. Gewisse Journalisten scheinen diese
Rolle jener Hofdame zu beneiden. Graner aus Casfaignac hat in neuester
Zeit in diesem Geschäft besondern Eiser gezeigt. Louis Napoleon hat ihm
zwar die polemische Feder ebensogut aus der Hand geschlagen wie den andern
Tageskämpfern der Presse auch — aber der Ritter, der sich selbst geadelt,
nimmt es nicht mehr so genau. Seitdem er die Asfemblve nationale nicht
mehr beschimpfen kann, läßt er seine Wuth unter dem Vorwande sogenann¬
ter historischer Arbeiten und Kritiken aus. Heute hat er den Muth gehabt,
ein Werk von Louis 'Veuillot über >,1e üroii an gsi^neur^ in einer Weise zu
loben, die wirklich das Blut kochen macht. Sie haben in Deutschland auch
Bertheidiger des Mittelalters und aller Mißbräuche, die es in seinem Gefolge
hatte, aber so arg treibt es doch keiner, weder Herr Stahl noch Herr von
Gerlach. Der Redacteur des Univers wollte die angeblichen Lügen und Ueber¬
treibungen der liberalen Schriftsteller gegen das Mittelalter und dessen In¬
stitutionen widerlegen und schrieb das genannte Werk, in dem die willkür¬
lichste Entstellung der Thatsachen mit viel Talent und viel Geist in das Kleid
historischer Erzählung und Erörterung gehüllt wird. Bei einem Manne, der
den Muth hat, die Inquisition sans ümdaxö zu vertheidigen, ist das ein .
erklärliches Unternehmen. .Veuillot spricht dem Obscurantismus bei jeder Ge-
legenden das Wort, er proclamirt sich laut als Lanzknecht der ultramontanen
Schwarzröcke und wir lesen seine talentvollen Arbeiten mit dem Behagen, mit
dem wir die Virtuosität eines Jongleurs anstaunen. Es ist System in allem
was er thut, er ist eine lebendige Veranschaulichung der Pathologie deö
menschlichen Geistes — es hat Interesse für uns wie ein Stuhl ans dem vier¬
zehnten Jahrhundert, es ist eine antiquarische Kuriosität. Aber dieser Cassaig-
nae, der hinterdrein nachkommt mit seiner Harlekinspritsche und sich selbst
mit dem flachen Holzschwerte zur Wuth gegen den gesunden Menschenver¬
stand aufreizt, erfüllt unsre Seele mit. Ekel. Die Herren Junker des Mittel¬
alters werden uns als achtungswerthe Erscheinungen geschildert, als heilsame
Nothwendigkeit jener Zeit — als ehrsame Väter der modernen Civilisation.
Und doch geben sich diese Männer so gern als Vertheidiger der Monarchie
aus, wahrscheinlich weil sie vor jedem Gewalthaber im Staube kriechen. Diese
Vertreter der monarchischen Idee vergessen, daß die Monarchie zur Herrschaft
und zur Achtung erst gelangte, als sie mit dem Volke Gemeinschaft gegen die
Feudalität gemacht hatten. Die factische Neprimirung alles freiheitlichen Ge-
staltens genügt jenen Schreibern nicht. Dieser revolutionäre Anstoß für eine
gegebene Zukunft ist ihnen nicht stark genug, sie müssen durch Verhöhnung
unsrer liebsten Errungenschaft, die wir vor jedem Angriffe sicher glaubten, die
Antipathie gegen den Absolutismus noch vermehren. Sie greifen jetzt die
Aufklärung, die innere Freiheit des Gedankens, unsre menschliche Anschauung
an, sowie sie früher gegen die politischen Ideen gewüthet hatten. Seit ich
Frankreich und seine Zustände näher kenne, habe ich mit wachsender Stärke
die Ueberzeugung gewonnen, daß die Revolutionen in diesem Lande durch die
Regierungen und ihre Freunde mehr noch als durch die Oppositionen hervor¬
gerufen worden sind. Die französischen Minister sollten immer mehr darauf
bedacht sein, die Schriften ihrer Anhänger zu controliren, als die ihrer Geg¬
ner. Die französische Presse gewährt überhaupt einen sehr unerquicklichen Ein¬
druck in diesem Augenblicke. Aufrichtig gestanden, vermissen wir die soge¬
nannten Premier Paris, die unter Preßverhältnissen wie die unsrigen gradezu
unmöglich oder unnöthig geworden sind, nur wenig. Soviel begabte Jour¬
nalisten Frankreich auch zählen mag, die Behandlung der Politik der franzö¬
sischen Leiter der Presse hat mir nie behagt. Dieser Kampf um die Herrschaft
ließ die Wahrheit ebensowenig aufkommen wie jetzt die gezwungene Stille.
Die Parteien waren womöglich noch ccntralistrter als der Staat selbst und
man sah selten in einem Blatte die wirkliche Meinung deö Landes vertreten.
Ich beklage mich auch über die größere Beachtung der fremden Journalistik
nicht, welche zur Füllung der großen Journale von selbst sich empfiehlt.
Die Franzosen mit ihrer bisherigen Verachtung der ausländischen Presse waren
nachgrade ^ lächerlich geworden. Was mir an den Journalen heute so alß-
fällt, das ist die Heuchelei, welche die meisten an den Tag legen, um mit
ihren politischen Gesinnungen, und ihren nationalen Gefühlen nicht in Con¬
flict zu gerathen. Die Legitimsten, das Journal -des Debats und ein Theil
der demokratischen Presse nehmen sich oft ganz wunderlich aus in ihren patrioti¬
schen Geberdungen. Sie dürfen nicht sagen, was sie möchten und möchten
auch jnicht sagen was sie allein dürfen. — sagen aber wollen sie doch etwas,
und so mühen sie.sich hinter der politischen Allegorie, hinter den künstlichsten
Anspielungen ab. Das Journal des Debats läßt keine Gelegenheit vorüber, ohne
Sardinien und Spanien Guizots Grundsätze einzuschärfen, als ob die Frank¬
reich so wohl bekommen wären. Die Asscmblve nationale kämpft täglich gegen
die Revolution, in China oder in Spanien. 'Ueber die heimischen Zustände
schweigen sie auch nicht, aber sie verschanzen sich so sehr hinter ihren patrioti¬
schen Betheuetungen, daß kein Mensch recht daran glauben kann.
Das Journal des Debats, das seinen Respect und, sagen wir es heraus,
gewisse Sympathien für Rußland auch jetzt noch nicht ganz verloren hat, wagt
es nicht, auf das Gefährliche der Erpedition gegen die Krim aufmerksam zu
machen, aber es läßt in allgemeinen strategischen Artikeln seine Ansicht errathen.
Jetzt, wo trotz Jomini und trotz Nussenfurcht das Gefährlichste der Operation, die
Ausschiffung, ohne alle Schwierigkeit vor sich gegangen ist, jetzt wird der Mentor
der Presse sich in weiser Schweigsamkeit zurückziehen. Die andern Journale
benehmen sich nicht besser. Ich bin aber überzeugt, daß, wenn die Presse soviel
Muth gezeigt hätte als z. B. die spanische, ihre Lage eine viel bessere wäre.
Ich habe Ihnen freilich erst jüngst auseinandergesetzt, wie dies aus materiellen
Rücksichten jetzt, nicht leicht möglich ist. Die Industrie ist stärker als das
Gewissen. Wenn das so fortgeht, wird die Presse in Frankreich um allen
Credit kommen und wenn sich auch das Land wieder zu größerer Freiheit erhebt, es
wird erst neuer Proben von Seiten der Journalisten bedürfen, ehe das Publicum
wieder Vertrauen fassen dürfte. Seitdem die Artikel alle unterzeichnet werden,
und man die Persönlichkeiten kennt, welche das große Wort führen, hat die Be¬
deutung der Journale sehr gelitten. Wie soll man auch einen Prediger mit An¬
dacht hören, der Graner de Cassaignac heißt, einen Mann, der allen Parteien
gedient und alle Farben gespielt. Die Oppositionsblätter haben doch eine
Entschuldigung in ihrer Stellung, aber auch sie mißbrauchen diese mehr als
nothwendig wäre. Zu etwas werden die gegenwärtigen Verhältnisse jedenfalls
gut gewesen sein — sie beseitigen für die Zukunft aus natürliche Weise eine
Anzahl von Charakterlosigkeiten, die der Entwicklung des Wünschenswerten
eine große Unbequemlichkeit gewesen wären.
Die gelehrte Welt oder vielmehr die Akademie der Gelehrten ist mit einem
bisher unbekannten Menschenschlage, mit einer neuen Sprosse in der Leiter der
thierischen Existenzen bereichert. Ein französischer Reisender, Dr. Couret, der
seit fünfzehn Jahren in Asien Afrika und Amerika gereist war, kommt mit der
Entdeckung einer unbekannten Menschengattung, die zwischen d<in Menschen
und dem Affen stände. Der Reisende will in Aethiopien Geschöpfe entdeckt
haben, welche dem Affenthum mit dem Rücken und dem Menschengeschlechte
mit der vorderen Seite angehören, Thiere, welche eine Sprache haben (arabisch)
und einen Schwanz von einer halben Elle wie die Affen. Herr Or. Couret
hat seine Beschreibung der Akademie vorgelegt und die Presse hat auch be¬
gonnen, sich dieses interessanten Gegenstandes zu bemächtigen. Was uns Mi߬
trauen gegen den Reisenden einflößt, ist, baß La Presse und die Mousquetiere
von Alerander Dumas allein, die Vertheidigung der neuen Menschen über¬
nommen haben: — die Presse, welche uns die Entdeckung des sympathischen
Schneckentclegraphen als eine Wirklichkeit aufbinden wollte und Alexander
Dumas, der Großmogul der französischen Blagueurs, der uns or. Courer als
seinen Freund aufführt. Nach der Behauptung deS Herrn Dr, Couret handelte
es sich bei seinen sprechenden Affen oder beschwatzten Menschen nicht um einen
jener krankhaften Auswüchse, welche die Aerzte mit Höllenstein curiren — es
wäre vielmehr ein natürlicher Bestandtheil, ein normales Gewächs wie bei den
vierfüßigen Thieren und wie bei den Affen. Die Fourrieristen sind natürlich ganz
außer sich über diese Entdeckung und sehen die Phantasie ihres Lehrers und
Propheten gerechtfertigt — es fehlt l)r. Courets Menschen zwar noch etwas
an der Länge ihres Zubehörs und auch hat sich noch kein Auge aufgethan, das
dem Idealmenschen gestattet, nach allen Seiten zu sehen, ohne sich umzukehren
— aber das kann doch auch noch gefunden werden. Die Hauptsache ist ge¬
wonnen, es gibt Menschen mit Schwänzen.
Der Herbst beginnt und Paris athmet wieder auf — es fängt an sich
heimisch zu fühlen, die Prvvinzialgesichter verlieren sich, man sieht auf den
Boulevards wieder seine Bekannten. — — Der verhaßte Monat August, der
dies Mal sich bis Ende September verspätet hatte, ist vorüber, die Theater-
directvren, die Clubleure, die Feuilletonisten, die Künstler, alles, was dem
eigentlichen Paris angehört, tritt in seine Rechte ein, und wenn auch die Jagd-
sreuden mit den Boulevards, und was damit zusammenhängt, Concurren; machen
— Paris wird wieder Paris. Die Klagen über den Monat August, die Sie
regelmäßig jedes Jahr in allen Feuilletons, in allen Berichten über die Pariser
Gesellschaft wiederholt finden, sind aufrichtig gemeint und ganz besonders von
Seiten der Theaterdirectoren. Diese müssen ihren Privilegien nach ihre An¬
stalten während des ganzen Jahres offen halten (mit Ausnahme der großen
Oper, des italienischen Theaters und des Odeontheaters, denen Ferien ge¬
stattet sind) und im Monate Juli, besonders August, sowie die ersten Tage des
Septembers, können sie es mit den interessantesten Vorstellungen (die übrigens
zu den Seltenheiten gehören) nicht auf die Kosten bringen. Die Regierung
fürchtet wahrscheinlich, Paris ohne Theater könnte sich einem andern gefährlichen
Zeitvertreibe überlassen und sie hält streng darauf, daß die kleinen Theater und
auch daS Theatre fraiwais, die komische Oper u. s, w, nicht geschlossen werden.
Ich habe jüngst sehr beredte Klagen von einem Theaterdirector über dieses
Verhängniß gehört. „Warum sind wir allein verdammt, der Tyrannei dieses
abscheulichen Monates ausgesetzt zu sein!" rief er unter andern, aus. Der
Feuilletonist eines großen Journals, der auch gegenwärtig war, suchte den
armen Theaterdirector zu trösten: „Auch wir leiden unter diesem kaiserlichen
Monate — auch die Börse — der Kleinhandel — kurz das Paris, das Pariser
braucht. Sie -werden sich aber noch mehr wundern^ wenn ich Ihnen sage, daß
die höhere Gastronomie (nicht Astronomie) diesem Monde ebenso feindselige
Gefühle weiht, wie Sie, mon elwr cHrveteui-. Ich habe mir diese meine für
einen Feuilletonisten ganz erstaunungswürdige Gelehrsamkeit aus dem DiLticmnairc-
äe eiüsiriö et ä'öecniomiö menctAero von Zurufe „ex oMewr als dvuekö" geholt.
Diese Encyklopädie, welche an scharssinnigenDefinitionen und an pittoresken Stile
dem Wörterbuche der Akademie wenig nachgibt, bringt unter dem Artikel Calendier
eine gastronomische Würdigung der zwölf Monate. Der arme Monat August
wird in folgender Weise abgefertigt: „Man wundert sich, daß Augustus, der
für einen Gourmand und für einen Sinnenmenschen gilt, sich dazu hergegeben
habe, diesem schlechten Monate August zur Taufe zu stehen. Was hat die
Saison der Seidenhasen, der jungen Kaninchen, der Rebhühner und der Ferkel
mit dem Beschützer von Horaz und Virgil gemein? Ich weiß es nicht, aber
ich weiß, daß im Monate August alle Töpfe, die auf ihre Ehre halten, um¬
gestürzt sind. Es ist ein allgemeines sauvs ani port und jedermann flüchtet
sich auf sein Schloß. Nun beginnt eine allgemeine Entvölkerung, eine wahre
mgssaLi'L ach iiwveenL. Eine ganze Generation wird getödtet. Die Hoffnung
der Ebenen, der Wälder und unsrer Tische wird vernichtet. Haltet ein,
Barbaren! Dieses junge Kaninchen, das heute noch so fade ist, wird in
einem Monate ein wohlschmeckender Bissen geworden sein. Dieser junge Hase,
den Du heute ohne Vergnügen verspeisest, hätte für Dich sein großmüthiges
Fleisch gestärkt. Sie hören mich nicht', mit Ludwig XV. rufen sie aus
— das wird immer noch solange dauern als ich!... Aber Deine
Söhne, sollen sie ohne Wildpret leben? Selbst das Ferkel, dieses graziöse und
furchtsame Thier, wird nicht verschont! Grausamer! Was wirst Du seiner inter¬
essanten Mutter antworten, wenn Dich ihr Geschrei anklagt? Verblendeter,
der Du bist, spricht denn nicht dein eignes Interesse für die Unschuld? Dieses
Ferkel, das Du in sein glänzendes Goldbrocat gehüllt auftischst, es würde Dir
zwei Schinken, ein Schweinsmaul, Schweinsohren, Schweinsfüße, Speck, Blut¬
würste, Leberwürste, eine Zunge u. s. ». geboten haben. Hast Du denn
niemals über den guten Lafontaine nachgedacht? Kennst Du denn die Henne
mit den goldnen Eiern nicht?" Diese im pathetischen Tone eines Mit¬
gliedes der Comedie frau^ais vorgetragene Citation machte die erwünschte
Wirkung — man lachte und sprach von etwas Anderem.
Jetzt füllen sich die Theater — zwar ist es nur die Avantgarde der Pariser,
aber es sängt schon an lebendig zu werden auf dem Programme wie im-Or¬
chester. Das Varietestheater kündigt an, daß ihm von der Erbschaft der
vorigen Administration blos noch einige zwanzig angenommene Stückchen im
Portefeuille bleiben und daß man im Laufe dieses Monats damit fertig zu
sein hoffe. Das Vaudeville hat gestern mit dem (^.daret, co xot oassv die
eigentliche Eröffnung seines Theaters begonnen — aber es ist noch nicht der
rechte Wurf. Das Ambigu comique spielt t»ngUüs et trau^is, ein Gelegen¬
heitsstück, in dem, wir von Paris nach Bukarest und von Bukarest nach
Bvmarsund getragen werden und wobei brav geschossen und auf die Russen
gewitzelt wird, Der Repräsentant Frankreichs ist ein Commisvoyageur, jener
Englands ein Chirurgus. Das Publicum freut sich der schönen Decora-
tionen, der entvntv vor<Zial«, der Witze auf die Russen, der großen Pulver-
cousumtion, und es applaudirt diesem Erstlingswerke eines fmsöurs «n Kolbe.
Madame Sand hat dem Gymnase eine für dieses Theater bestimmte Komödie
gelesen und erhielt von den Schauspielern bei dieser Gelegenheit eine sehr
schmeichelhafte Ovation. Die Memoiren dieser Schriftstellerin, welche bekannt¬
lich in der Presse erscheinen werden, dürften dem skandalsüchtigen Theile der
Lesewelt eine arge Enttäuschung bringen. Die ersten Bände behandeln blos
die Geschichten von Madame Sands Bater, und alles was-fertig ist reicht
nicht über 1830 hinaus. Das Odeon macht mit feiner Bearbeitung des
Vicar of Wakefield nicht viel Glück. Biel Bewegung herrscht in dem kleinen
Pvssentheater des Palais royal und auch in der großen Komödie desselben
Gebäudes. Für Mademoiselle Rachel sollen zwei neue Dramen und eine Tra¬
gödie fertig sein. Daß von Madame Sand und von Madame Girardin Stücke
daselbst vorbereitet werden, glaube ich Ihnen schon gesagt zu haben. Die Oper
macht schlechte Geschäfte — Madame Stolz besitzt nicht Anziehungskraft
genug; wenn die italienische Oper dies Jahr mit ihrem Programme besser
umzugehen weiß, kann sie sich auf die Beine helfen. Die komische Oper
macht mit Herolds l>rv aux cloros jeden Tag volle Häuser. Die Feuilleto-
nisten und der Staatsminister sind noch immer nicht versöhnt. Die besseren
Journale bestehen darauf, daß man, seine Eintrittskarten bezahle-— aber die
kleineren Journale bestehen auf dem Usus.
— Die Con-
certdircctu'n, die in ihrem Programm erklärte, streng an den alten Bestimmungen
festhalten zu wollen, ist neuerdings wenigstens soweit auf die Wünsche des Pu-
blicmns eingegangen, daß sie in dem Saal eine Anzahl von Sperrsitzen eingerichtet
hat. Als Zeichen des guten Willens wollen wir diese Neuerung um so dankbarer
begrüßen, da unsre Localjournalistcn, die doch soviel Nnnöthigcs sagen, über diesen
Punkt ein höchst diplomatisches Stillschweigen beobachtet haben (was beiläufig der
einzige Grund ist, der uns veranlaßt, einen uus eigentlich fernliegenden Gegen¬
stand in den Kreis unsrer Blätter zu ziehen); allein leider müssen wir hinzusetze»,
daß auch hier, wie bei allen halben Maßregeln, die Sache eher verschlimmert als
verbessert wird. Wenn die Plätze, die bisher von den Herren besetzt wurden, zu
Sperrsitze» umgewandelt werden, so wird dadurch die bisherige Physiognomie des
Saales aufgehoben; denn da noch kein Mittel erfunden ist, sich vielleicht von der
Decke ans in der Schwebe zu erhalten, so werden die von ihren bisherigen Plätzen
vertriebenen Herren sich der bisher den Damen reservirten Plätze bemächtige», und
dadurch wird das Getümmel keineswegs verringert, sondern es nimmt nur einen
neuen und, offen gestanden, noch viel wunderlicheren Charakter an. Das Gedränge,
das bisher seinen Hauptschauplatz aus der Treppe hatte, wird jetzt theilweise in
den Saal verlegt werden.
Unsrer Ansicht nach konnte die Conccrtdircction, wenn sie nicht einfach ans
unsre Vorschläge eingehen wollte, was entschieden das Zweckmäßigste gewesen wäre,
uur einen Mittelweg einschlagen: nämlich statt der -IöO reservirten Plätze, soviel
einrichten, als Anmeldungen einginge» und der Saal zuläßt. In diesem Fall wäre
die Einnahme sehr erhöht und es hörte auch die Rechtsbeschwcrde auf; den» we»n
jedem Gelegenheit gegeben war, sich eine» bestimmten Platz zu erwerben, so kann
er sich nachher nicht darüber beschweren, dem zweifelhaften Loose einer Schlacht
' ausgesetzt zu sei», dcnnvolouu >wu l!>. injurui. Und wen» der Sal voll war, und das
Publicum dennoch Billete nahm, mit der bestimmte» Aussicht in, Vorsaal zu bleibe»,
so konnte es auch zufrieden sein aus dem nämlichen Grunde.
Es scheint uus noch immer nicht zu spät zu sein, diese Vorschläge wenigstens
in ernsthafte Erwägung z» ziehen; denn jede Einrichtung einer bestimmen Anzahl
von Sperrsitze» wird doch nnr als eine neue Bevorzugung einzelner empfunden
und gemißbilligt werden.
Mit Ur. '4O beginnt diese Zeitschrift ein neues Quartal,
welches durch alle Buchhandlungen und Postämter zu be¬
ziehen ist.
Leipzig, Ende September 1854.
Die Verlagshandlung.
Das Wort „Romantik" gehört zu jenen vieldeutigen Ausdrücken, bei deren
Anwendung man leicht aus einem Bild ins andre überspringt, so daß man zuletzt
vollständig vergißt, waS der Begriff ursprünglich für einen Inhalt gehabt hat.
Am deutlichsten zeigt sich das bei der Anwendung auf die bildende Kunst und
auf die Musik. Wir müssen offen gestehen, daß wir uns vorläufig bei dem
Ausdrucke „romantische Malerei" und „romantische Musik" noch gar nichts
Bestimmtes denken können, und daß uns auch das vorliegende Büchlein darüber
nicht aufgeklärt hat. Es enthält zwar eine Reihe treffender Beobachtungen,
die aber einen viel befriedigenderen Eindruck machen würden, wenn der Ver¬
fasser die Beziehung derselben zu dem Wort „Romantik" ganz und gar hätte
fallen lassen. Die Mühe, die er sich gegeben hat, aus dem Begriffe heraus
aufs Concrete zu kommen, ist, wenn nicht überhaupt, doch gewiß in diesem
Fall eine vergebliche.
Es scheint uns, daß, wenn man von romantischer Malerei und romanti¬
scher Musik spricht, man vorzugsweise die Beziehungen der Künstler zu den
romantischen Dichtern oder 'die Auswahl ihrer Stoffe im Auge hat. Wenn
man das gelegentlich thut, ohne damit etwas Erschöpfenifeö ausdrücken zu
wollen, so läßt sich dagegen noch nicht viel einwenden; nur einen logischen
oder dialektischen Zusammenhang muß man nicht hineinbringen wollen. Der
Ausdruck Romantik ist nämlich nicht ein aus dem abstracten Begriff hergeleiteter,
sondern er drückt, wenn man ihn auf die Literatur anwendet, eine ganz be¬
stimmte concrete Vorstellung aus. Das ist aber in der Malerei nicht der Fall.
Bald nennt man die Heiligenbilder romantisch, weil sie die Ideale einer ver¬
gangenen Zeit behandeln, bald die sentimentale Manier der alten Düsseldorfer,
bald die symbolische Darstellung eines Cornelius oder Kaulbach, bald die Nach¬
bildung der steifen gothischen Formen u. s. w. Aus allem diesen eine Gesammt-
Vorstellung machen zu wollen, die ihre Stelle in der Kunstgeschichte einnehmen
könnte, würde wol eine vergebliche Mühe sein. Die Ausdrücke akademisch und
naturalistisch, symbolisch und realistisch u. s. w. haben einen bestimmten Inhalt
und sind daher allgemein verständlich. Mit dem Ausdruck „Romantik" dagegen
wird für die Malerei nicht viel gewonnen.
Der Ausdruck findet seinen bestimmten Sinn nur in der Literatur. Ro¬
mantisch nennt man den Charakter der romanischen Literatur, wie er sich dem
modernen Bewußtsein im Gegensatz gegen unsre eignen Vorstellungen, gegen
die classische Poesie und gegen die specifisch deutsche Literatur darstellt. Wenn
Wieland in einer Zeit, wo jener Ausdruck noch kein Stichwort für die.literari¬
schen Kämpfe geworden war, die Musen auffordert, ihm den Hippogryphen zu
satteln zum Ritt ins alte romantische Land, so meint er damit die Fabelwelt,
welche den Stoff der romanischen Dichter ausgemacht hatte. Daß er an eine
eigentliche romantische Behandlung nicht dachte, zeigen schon die Gottheiten,
die er anrief. Erst mit der sogenannten romantischen Schule kam das Be¬
streben aus, mit Bewußtsein im Sinn eines vergangenen Zeitalters zu dichten.
Wenn man bisher eine'fremde Literatur nachgeahmt hatte, so war es immer
im Gefühl geschehen, daß man es mit einer überlegenen Bildung zu thun habe:
so war bald die antike, bald die französische, bald die italienische Literatur
ein Vorbild der übrigen Nationen gewesen. In diesem Fall aber wußte man
sehr wohl, daß man den romanischen Dichtern an Bildung überlegen war;
man ahmte sie nach, nicht wegen der Bildung ihres Geistes, sondern weil ihr
Geist den wahrhaft Gebildeten interessanter war, als die moderne Bildung selbst.
Dies war allerdings eine Methode der Production, wie sie wenigstens in aus¬
gedehntem Maße in der Geschichte der Literatur noch gar nicht vorgekommen
war, und daraus erklärt sich auch der doppelte Begriff, der sich sogleich in dem
Ausdruck Romantik einführte: indem man nämlich einmal nur den Charakter
des nachgebildeten Gegenstandes ins Auge faßte, dann aber die Art und Weise
der Nachbildung.
Es ergibt sich von selbst, daß eine solche Vermischung zweier Vorstellungen
auch bei der gedankenlosen Methode unsrer Aesthetiker nur dann möglich war^
wenn zwischen beiden eine gewisse Verwandtschaft stattfand. Der Proceß, in
welchem die romanischen Völker sich die von den Römern überkommene religiöse
und ästhetische Bildung asstmilirten, hat in der That eine gewisse' Ähnlichkeit
mit demjenigen, durch welchen unsre romantische Schule die romanische Vor¬
stellungsweise wieder einbürgern wollte, nur daß der erste naiv und unbewußt,
der zweite dagegen durch die Vermittlung der Reflexion erfolgte. Zwar ist
auch bei den germanischen Völkern in der Christianisirung altheidnischer Mythen
und in der Germanisirung antiker Vorstellungen eine Analogie jenes Processes
vorhanden; aber indem die Germanen in Deutschland und England ihre
Sprache beibehielten, indem sie also im Stande waren Mes die fremden Vor¬
stellungen vollständig in die Formen ihres Denkens und Empfindens zu über¬
setzen, wurde dieser Bildungsproccß bei ihnen ein organischer und behielt seine-
volksthümliche Basis bei. Ja auch der Protestantismus war in seinen wesentlichen
Grundzügen nichts Anderes, als die Ausmerzung der fremdartigen Elemente,
die in diesem Älldungsproceß nicht in den Organismus des deutschen Volks
übergegangen warm.
Die Germanen dagegen, welche in Frankreich, Italien und Spanien in
die Sprache des besiegten Volks verfielen, konnten, weil sie gegen die fremden
Vorstellungen wehrlos waren, dem mechanischen Bildungsproceß nicht ent¬
gehen; und doch waren sie. als die Inhaber ,der factischen Gewalt zugleich die
Träger der wirklichen Bildung. So entstand nun in der romanischen Sprache
und Literatur jene beständige Symbolik, bei der man nicht unterscheiden konnte,
was Bild und was Gegenbild war: jene bunte und verworrene Vermischung
zweier Weltanschauungen, r?on denen die eine die andere ausschloß und die doch
nebeneinander zu bestehen suchten. Als die Reformation eintrat, war innerhalb
der romanischen Völker die Klust zwischen diesen beiden Weltanschauungen
am weitesten geworden. Aus der einen Seite Arelim, Macchiavelli, Pulci u. s. w.,
auf der andern die Kirche in der ganzen Fülle ihrer himmlischen Ansprüche.
Die Reformation hatte aus die romanischen Völker zunächst den Einfluß, daß
die Kirche sich zusammenraffte und ihren weltlichen heidnischen Gegensatz unter¬
drückte. Die Inquisition, die Jesuiten, die spanischen Dichter, namentlich
Calderon, waren die bestimmtesten Ausdrücke dieses Sieges, und zugleich die
bestimmtesten Ausdrücke der Romantik, die dies Mal mit Bewußtsein das der
Bildung und der Natur feindliche Glaubensmoment vertrat, nicht obgleich,
sondern weil es der weltlichen Bildung feindlich war.
Man steht, daß in dieser poetischen Methode Calderons und der übrigen
etwas Verwandtes mit der Methode ihrer deutschen Epigonen im 19. Jahr¬
hundert lag. Allein der Unterschied springt gleichfalls in die Augen. Cal¬
deron befriedigt in seinen Dichtungen nicht seine subjectiven, ästhetischen Ge¬
lüste, sondern er drückt in ihnen den fertigen Inhalt des Volksbewußtseins aus,
wie er aus den Händen der Inquisition, der Jesuiten hervorgegangen war-
Unsre Romantiker dagegen verherrlichen den Katholicismus, das Ritterthum u.s. w.
nicht als Vertreter ihres Volks, auch nicht als den Ausdruck ihrer eignen
Ueberzeugung (spätere Consequenzen dürfen uns daran nicht irreführen), sondern
weil sie zum Behuf der höheren Poesie dergleichen Fictionen für nöthig hielten.
Diese Stimmung nun ist der Gipfel und zugleich die Widerlegung der Ro¬
mantik; denn über diese Form des Widerspruchs gegen Bildung und Natur kann
die Verkehrtheit des menschlichen Idealismus nicht mehr hinausgehen.
Wir wollen, noch auf einen Umstand aufmerksam machen. Der Spiri-
tualiömus hatte zwar bei den romanischen Völkern im 16. u. 17. Jahrhundert
über die weltliche Gesinnung und die Frivolität den Sieg davon getragen,
aber die letztere war nur gebunden, nicht vernichtet. In Italien brach die
alte Frivolität sehr bald wieder aus, wenn sie auch dies Mal schicklicherweise die
Maske der Heuchelei aufstecken mußte. In Frankreich zeigten die Encyklo¬
pädisten und die Revolution, daß auf die Dauer ein kräftiges Volk mit geist¬
lichen Abstractionen nicht auskommen könne, und Spanien scheint gegenwärtig
diesem Vorbilde zu folgen. Aber freilich folgt dann auf die Revolution immer
wieder die Herstellung des Cultus aus Gründen der Convenienz, bis dann
eine neue Revolution ausbricht u. s. w. Auch dieses Hin- und Herspringen hat
, unsre deutsche Romantik nachgeahmt. Um die Genoveva zu verstehen, muß
man die Lucinde vergleichen, und um zu wissen, was Friedrich Schlegel in
seiner Geschichte der Literatur eigentlich gemeint hat, muß man die Fragmente
desselben Schriftstellers im Athenäum zu Rathe ziehen. Frivolität und Schwär¬
merei, bald nebeneinander, bald ineinander übergehend, das sind die charakteri¬
stischen Kennzeichen der Romantik, sowol in ihrer naiven Zeit, im 13., 14. und.
16. Jahrhundert, als in ihrer reflectirten Zeit, im 16. und 17., als auch in
ihrer rein doetrinären Entwicklung, im 18. und 19. Jahrhundert.
Wenn also die Romantik nur eine bestimmte historische Vorstellung ist,
die sich auf die Literaturgeschichre bezieht, nicht aber ein -r priori herzuleitender
Begriff, so ergibt sich von selbst, daß man bei 'der Anwendung desselben auf
anderweitige Erscheinungen sehr vorsichtig sein muß, wenn man nicht die
Sprache der Aesthetik in jene Willkürlichkeit verstricken will, in welcher keiner
den andern mehr versteht. Es zeigt sich'das namentlich in der bildenden Kunst.
Statt aber in dieser Beziehung auf die allgemeinen Ansichten . einzugehen, die
in der vorliegenden kleinen Schrift entwickelt werden, knüpfen wir unsre Be¬
trachtungen an ein zweites Werkchen an, das sich mit einem bestimmten und
daher von allen Seiten faßbaren Gegenstande beschäftigt. —
Das Werkchen hat das große Verdienst, daß sein Erfolg unabhängig von
seinen Ansichten ist. Man kann mit den ästhetischen Ansichten des Verfassers
einverstanden sein oder nicht, man wird es ihm aber unter allen Umständen
Dank wissen, daß er uns den Gegenstand, an den er dieselben anknüpft, aus¬
führlich und correct beschrieben, daß er uns über die Intentionen des Künstlers
sowol bei dem Entwurf der einzelnen Gemälde als bei der architektonischen
Zusammenstellung derselben eine sehr genaue und wie es scheint authentische
Auskunft gibt. Wir sehen daraus, was uns übrigens auch sonst schon bekannt
war, daß Kaulbach, ein höchst geistvoller Mann ist und daß seine künstlerischen
Leistungen einem nicht unbedeutenden Dentproeeß wenigstens zum Theil ihr
Dasein verdanken. Dagegen sehen wir aus dieser Beschreibung keineswegs,
was Kaulbach als bestimmter Künstler, d. h. als Maler leistet. Die De-
ductionen des Aesthetikers könnten bis auf den kleinsten Punkt richtig sein,
und die Gemälde doch unter aller Kritik, schlecht. Denn nicht in der Intention,
sondern in der Ausführung zeigt sich der Künstler. Daß hier der Dichter und
der Maler in einer Person vereinigt ist, wie in Richard Wagner der Dichter
und Komponist, trägt nichts zur Sache bei. Man muß beide Functionen streng
voneinander unterscheiden, wenn man sich nicht in unbestimmte Raisonnements
verlieren will. Um Kaulbachs, Pläne oder Wagners Textbücher zu entwerfen,
mußte man zwar in dem einen Fall plastische, in dem andern musikalische
Bildung besitzen, aber es war im übrigen nicht das geringste productive, pla¬
stische oder musikalische Talent dazu nöthig. Wir können also hier das, was
die eigentlich künstlerische Seite Kaulbachs ausmacht, das productive Talent
völlig bei Seite lassen; nur wollen wir dabei die Bemerkung nicht unterdrücken,
daß uns dasselbe im allgemeinen jetzt ebenso ungerecht herabgesetzt zu werden
scheint, als es früher übermäßig hervorgehoben wurde. Wer nur den Carton
zur Hunnenschlacht studirt, sowol in Beziehung aus die Composition, als auf
die Figuren, und dabei noch leugnet, daß Kaulbach ein Künstler, und zwar
ein großer Künstler ist, dem fehlt es entweder an Einsicht oder an gutem Willen.
Indeß diese Bemerkung machen wir nur nebenbei, wir haben es nur mit der
poetischen Seite der Malerei zu thun; mit der Erfindung und Auffassung.
Herr Schaöler findet in Kaulbachs Werken das Aufblühen einer neuen
Kuustgattung, die er als die symbolisch-historische bezeichnet. Sie unterscheidet
sich voll der frühern idealistischen Kirchenmalerei dadurch, daß sie ihre Symbole
und die ihr zu Grunde liegenden Ideen selbst erfindet, während sie sich diese von
der Kirche überliefern ließ; von der modernen realistischen Malerei dadurch,
daß sie nicht blos eine ästhetisch aufgefaßte Reproduction der Natur oder der
thatsächlichen Welt ist, sondern daß sie durch ihre Erscheinungen höhere Ideen
durchschimmern läßt. — Wir wollen diesen Gedanken in seine Bestandtheile
auflösen.
Daß zunächst die materielle Nachahmung der Natur, auch wenn sie künst¬
lerischen Gesetzen folgt, auch wenn sie die Poesie der Linien, der Farben, der
Composttion in hohem Grade erreicht, nur eine untergeordnete Stelle inner¬
halb der Kunst einnimmt, wird wol jedermann dem Verfasser zugeben, der über¬
haupt über Kunst nachgedacht hat; nur im Stillleben und in der Genremalerei
kann uns der reine Realismus befriedigen. Schon die Landschaft muß durch
die Stimmung vergeistigt werden. Bei eigentlich historischen Gemälden aber
empfinden wir es als eine Herabwürdigung der Kunst, wenn sie sich blos in
materieller Nachahmung der .Natur bewegen. So hoch wir z. B. Gallait in
Beziehung auf seine bestimmte Kunst stellen müssen, — keiner der jetzt lebenden
Künstler steht ihm darin zur Seite, so gering denken wir von seiner Poesie.
Die Nothwendigkeit einer symbolischen, poetischen, allgemein menschlichen, idealen
.Wahrheit neben der realistischen, technischen Wahrheit in einem historischen
Gemälde' größeren Stils, wird also allgemein zugestanden werden. Die Frage
ist nur erstens, wieweit haben wir daS Recht, neben jenem symbolischen, ideellen
Inhalt zugleich aus Naturwahrheit zu dringen, zweitens, von welcher Art muß
die Symbolik sein, wenn sie den künstlerischen Zwecken entsprechen soll?
Was das erste betrifft, so wird die Forderung gemeiner Naturwahrheit
wenigstens bei historischen Gemälden wol von- niemand mehr gestellt werden.
Gegen die Hunnenschlacht oder gegen die Sirtinische Madonna wird wol
niemand mehr die Einwendung machen, daß sie Gegenstände enthalten, die in
der Wirklichkeit nicht vorkommen. Wenn jemand die Danaiden malen will, so
wird man auf die Zahl fünfzig wol kein Gewicht legen.
Auf der andern -Seite wird aber die Freiheit in Beziehung zur Nach¬
ahmung der Natur, die man früher dem Künstler verstattete, bei unsrer gegen¬
wärtigen Bildung beschränkt werden müssen. Wir wollen mir einzelne Bei¬
spiele anführen, über die alle Welt einig sein wird. Man wird den Personen
keinen Zettel in den Mund stecken, worauf geschrieben steht, was sie reden.
Man wird auf demselben Gemälde nicht Dinge als gleichzeitig darstellen
dürfen, die nur hintereinander gedacht-werden können. Man wird die Heilig¬
keit eines Menschen nicht dadurch symbvlistren wollen, daß man ihn ohne
Knochen und Fleisch darstellt, ihn also zu einer Molluske herabsetzt. Man
wird die Symbolik nicht mehr durch einfache Attribute ersetzen können, die
Dreieinigkeit nicht durch einen Triangel u. f. w. So würden sich noch mehre
Punkte auffinden, die Phantasie des Künstlers durch das Maß der NatUr-
wcchrheit zu beschränken, über die alle Welt einig sein würde. Und wir sehen
in. dieser veränderten Stimmung des Publicums, nicht wie mancher Romantiker
eine Abschwächung och natürlichen Gefühls, sondern einen echten Fortschritt
der künstlerischen Bildung.
Wir glauben das Verhältniß der idealistischen Symbolik zur realistischen
Darstellung wenigstens im allgemeinen so bezeichnen zu können, daß, wie auch
der symbolische Inhalt sein möge, das Bild ein sinnlich anschaubareö Factum
enthalten muß, und serner, daß der symbolische Inhalt dem Geiste der wirk¬
lichen Darstellung entsprechen muß. Wenn nicht dieses beides beobachtet wird,
so erhalten wir einen Rebus, aber kein Gemälde. Der bloße Blick muß uns
darüber belehren, was für ein allgemein menschlich interessirendes Factum wir
vor uns sehen; wenn uns auch die tiefere symbolische Bedeutung erst später auf¬
gehen mag. So werden wir z. B. unter den Cartons von Cornelius den Ent¬
wurf der sieben Reiter billigen, denn der sinnliche Inhalt derselben ist uns
klar, abgesehen von dem geistigen Inhalt; den Entwurf zum neuen Jerusalem
aber mißbilligen , denn wenn wir hier nicht die Apokalypse nachschlagen, ge¬
winnen wir auch nicht einmal eine sinnliche Borstellung von dem, was der
Künstler gewollt hat. Es ist in der Blütezeit der Malerei öfters vorgekommen,
baß die Künstler ihre Figuren lediglich nach künstlerischen Gesetzen gruppirten
und ein .reales Zusammenwirken derselben sür überflüssig hielten. Wenn die
neuere Zeit an den Maler strengere' Anforderungen stellt, so ist durch diesen
Fortschritt der Bildung keineswegs ein Uebersehen gegen die sonstigen Vorzüge
der früheren Kunst angedeutet. Wenn man allegorische oder symbolische Fi-
guren in der Weise malt / wie. Kaulbach seine Sage und Geschichte, so wird
ein solcher Realismus allerdings überflüssig, denn es sind im wesentlichen doch
nur Studienköpfe mit bestimmten Attributen. Sobald man aber mehre Per¬
sonen zu einer Gruppe vereinigt, so muß aus der Anschauung ein menschlich
verständlicher Inhalt ihres Zusammenseins hervorgehen. Daß auch hier von
der gemeinen Naturwahrheit oder von der gemeinen Beobachtung der geschicht¬
lichen Treue nicht die Rede sein kann, versteht sich von selbst; namentlich bei
Vorstellungen von einer größeren Dimension, bei welcher der Dichter alles an¬
wenden muß, um den Eindruck zu concentriren und zu vereinfachen. Was
z. B. der Maler seinem singenden Homer sür ein Publicum gibt, Menschen
aus den verschiedensten Zeiten, Götter, Seeungeheuer u. s. w., das wird ganz
seiner Wahl anheimgestellt bleiben, und wenn er es aus malerischen oder archi¬
tektonischen Gründen für angemessen erachtet, zu den Sitzen dieses Publicums
Himmel, Erde, Meer und Unterwelt anzuwenden, so wird sich dagegen auch
nicht das geringste einwenden lassen, auch wenn der Akustiker die physische
Möglichkeit eines solchen, Vortrages bestreiten wollte. Aber was er auch für
Figuren zu seinem Publicum anwendet, er wird den- Act ihrer Aufmerksamkeit
so darstellen müssen, wie wir es bei Wesen unsres Gleichen zu beobachten Ge¬
legenheit haben: und wenn er eS auch dem Commentar überläßt, uns zu er¬
klären, wer diese Personen eigentlich sind, die sich für den Sänger interessiren,
und was der Sänger ihnen vorträgt, so muß doch die Thatsache selbst keines
C ommentars b e d ürfe n.
Dieser Realismus ist bei den neueren Gemälden um so strenger festzu¬
halten, da die neuere Symbolik nicht wie in der alten Kunst eine gegebene ist,
sondern das freie Nachdenken des Zuschauers beschäftigen soll. Die älteren
Maler mußten so malen, wie sie malten, nicht blos weil der heilige Geist sie
erfüllte, sondern weil die Bilder in dieser bestimmten Form bei ihnen bestellt
waren. Die Symbole und der damit verbundene Cultus war die Hauptsache,
und erst in ziemlich später Zeit fing man an, einen menschlichen, gemüthlichen
Inhalt in dieselben einzuführen, und sie dadurch zur Nebensache herabzusetzen.
Daß jene Bedingungen, die freilich die Ausübung der Kunst sehr stark be-
schränkten, auf der andern Seite wieder ein großer Vortheil für die Kunst
waren, weil sie einen idealen Stil aufrechthielten, und die naturalistische Ver¬
wilderung unmöglich machten, haben in unsrer Zeit die Kunsttheoretiker richtig
hervorgehoben. Das Bestreben der Künstler, einen neuen idealen Gehalt zu
gewinnen, eine neue Symbolik zu erfinden, welche die empirischen Thatsachen
der gewöhnlichen Historienmalerei wieder in einem höheren Licht darstellt, ist
an sich durchaus zu billigen, und auch die Ausführung dieses Princips ist in
der bildenden Kunst mit mehr Glück versucht worden, als in der Poeste durch
die romantische Schule, deren Bemühungen, eine neue Mythologie und damit
eine neue Religion zu gewinnen, durchaus gescheitert sind. Kaulbachs Idee,
die Thatsachen der Geschichte und der Sage ideell zu bearbeiten, und von einem
freieren kosmopolitischen Standpunkte aus dieselbe Symbolik wieder aufzu¬
nehmen, welche dem Maler durch daS Christenthum gegeben war, ist ein wirk¬
licher Fortschritt in der künstlerischen Idee. Und es wird hier nur darauf an--
kommen, in seinen Idealen so unbefangen zu Werke zu gehen, daß sie wirklich
den Sinn des Volks erfassen; das übrige muß dann die Ausführung thun,
die nicht mehr den poetischen, sondern den plastischen Gesetzen folgt. Wenn
aber diese dem Grundgedanken entsprechen soll, so muß man sogleich beim Ent-,
wurf desselben das plastische Gesetz vor Augen haben, man muß ihn nicht erst
aus dem Poetischen ins Plastische übersetzen wollen, sondern ihn sogleich pla¬
stisch- concipiren. Und dieser Punkt ist es, auf den die Gegner Kaulbachs hin¬
deuten, wenn sie seine künstlerische Thätigkeit als eine reflectirte bezeichnen; nicht
daß er überhaupt Symbole darstellt, machen sie ihm zum Vorwurf, sondern daß
er poetische Symbole plastisch zu versinnlichen strebt: und von diesem'Vor¬
wurf wird der geistvolle Künstler nicht ganz freizusprechen sein.
In der Streitfrage über die Entstehung des volkstümlichen Epos, die
seit Wolf unsre Gelehrten vielfältig beschäftigt hat, muß man den allge¬
meinen Gesichtspunkt über die Natur des Epos überhaupt von dem speciellen,
der die Geschichte des bestimmten Epos betrifft, sorgfältig unterscheiden. Die
erste Frage, die eigentlich diejenige ist, welche ausschließlich das größere Pu-
blicum beschäftigt, kann man heute wol als entschieden betrachten. Es wird
wol niemand mehr geben, der sich die Entstehung eines volksthümlichen, das
sittliche Bewußtsein der Nation darstellenden Epos so dächte, wie etwa die Ent¬
stehung eines modernen Romans. Eine Ilias und ein Nibelungenlied gehl
nicht aus der Phantasie eines einzelnen Dichters hervor, es muß im Stoff und
im Stil bereits seine bestimmte Basis -vorfinden. Wie nun aber das Verhältniß
der bestimmten Redaction zu dieser Basis beschaffen ist, darüber kann die Phi¬
losophie der Geschichte nichts ausmachen, es muß daS der Gelehrsamkeit über¬
lassen bleiben. — Ueber die Nibelungen hatte Lachmann, der eigentliche Be¬
gründer der Methode innerhalb der deutschen Philologie, die Ansicht festzustellen
gesucht, daß unter den vorhandenen Bearbeitungen derselben die rohere, wider¬
spruchsvollere die älteste sei, daß wir in ihr die unmittelbarste Verarbeitung
der alten Volkslieder haben, und daß erst allmälig durch Erweiterungen und
Einschiebungen, Ausgleichungen der Widersprüche und dergleichen die vollkom¬
menere Form des Epos entstanden sei. — In unsren Tagen hat Holtzmann
den Versuch gemacht, die entgegengesetzte Ansicht zu begründen, daß nämlich
die vollkommenere Form die ursprüngliche und die weitere Bearbeitung eine
Verwilderung und Abschwächung gewesen sei.
Der Verfasser der vorliegenden Schrift, der sich der letzteren Ansicht an¬
schließt, sucht die kritischen Gesichtspunkte, die bei der Entscheidung dieser Frage
in Betracht kommen, methodisch festzustellen. Von dieser Seite ist das Büch¬
lein für den Freund der altdeutschen Literatur, der auf die eigentliche Gelehr¬
tenuntersuchung nicht eingehen kann, sehr interessant, denn es trägt die spseiss
l-iLli anschaulich vor und eröffnet einen Einblick in die wissenschaftliche Methode.
Es versteht sich von selbst, daß man sich daraus nur über die Fragestellung
unterrichten darf, nicht etwa über das Urtheil selbst, über welches nur derjenige
mitzusprechen hat, der diese bestimmte Seite der Wissenschaft zum Gegenstand
seines speciellen Studiums gemacht hat. —
Bekanntlich sind uns die Abenteuer Walthers von Aquitanien in einer
lateinischen Bearbeitung in Hexametern aus dem zehnten Jahrhundert erhalten.
Man nimmt an, daß dieser Bearbeitung ursprünglich eine deutsche Dichtung
zu Grunde liegt. Der Verfasser der gegenwärtigen Schrift hat versucht, sowol
durch die Form, wie auch durch die Vereinfachung des Costüms gewissermaßen
zu jener altdeutschen Auffassung zurückzukehren, und so diese Dichtung, die eng
in den Sagenkreis des Nibelungenliedes gehört, in der Weise wieder herzu¬
stellen, wie auch das moderne Publicum sie sich anzueignen pflegt. Die För¬
derung, die dem Interesse für unsre Vorzeit durch solche Bearbeitungen zu Theil
wird, ist unbestreitbar und wiegt wol den Nachtheil aus, den eine freie Be¬
arbeitung stets den älteren Gedichten zufügt. Den Ton der Erzählung hat der
Uebersetzer ganz modern gehalten, eS wäre daher zweckmäßig gewesen, wenn
er einzelne alterthümliche Anklänge, z. B. die Nachstellung der Pronomina
Possessiva um der Konsequenz willen gleichfalls vermieden hätte. —
Dieses Werk ist eine sehr erfreuliche und bedeutende Bereicherung der
Literaturgeschichte, und ein neues Zeugniß für die Gewissenhaftigkeit der deutschen
Gelehrten. In der Literaturgeschichte ihres eignen Volks, soweit es sich um
eine vollständige, zugleich wissenschaftliche und künstlerische Darstellung handelt,
stehen die Engländer noch weit hinter uns zurück. Namentlich ist die ältere
Literatur vor Chaucer, welche uns die Entstehung der Sprache Versinnlicht, in
den bisherigen literarhistorischen Abrissen sehr oberflächlich behandelt. Spalding
hat in seiner Literaturgeschichte, die wir vor einiger Zeit besprochen haben, zwar
eine Darstellung dieser Vorzeit zu geben versucht, aber eS fehlt dieser Abhand¬
lung die historische Vollständigkeit. Das gegenwärtige Werk gibt uns trotz
seines verhältnißmäßig geringen Umfangs eine sehr ausführliche Literatur, die
uns von Jahrhundert zu Jahrhundert ein anschauliches Bild der Sprach-
entmicklung verstattet, bis endlich durch die allmälige Verschmelzung des Nor-
mannischen und Sächsischen die eigentlich englische Literatur hervorgeht. Die Ana¬
lyse dieser mitgetheilten Beispiele, die nebenbei den Vorzug außerordentlicher Kor¬
rektheit haben, zeigt von großem Scharfsinn und umfassender Gelehrsamkeit. Aus
dem leitenden Zweck dieses Werkes ergibt sich von selbst, daß die andern Ge¬
sichtspunkte der Literaturgeschichte, die Sagenstoffe, die sociale Seite der Literatur,
die Technik u. s. w. neben der sprachlichen Untersuchung zurücktrittt. Doch ist
auch in diesen Beziehungen soviel gethan, wie nach dem bisherigen Stand der
Untersuchung möglich war, und was die Geschichte der Sprache betrifft, so kön¬
nen wir die Leistung als eine classische bezeichnen. Die Geschichte der Ein¬
führung der Buchdruckerkunst, mit der die naive Periode der Sprachbildung
ihren Abschluß findet, beendet das höchst werthvolle Werk, das wir als eine
wesentliche Bereicherung der Culturgeschichte begrüßen. —
Nach dem Titel und der kurzen Vorrede zu urtheilen, hatte der Verfasser
ein juristisches Handbuch beabsichtigt; in welchem Falle das Buch aus dem
Kreis unsrer Betrachtungen ausgeschlossen werden müßte. Allein zu einem
Handbuch fehlt ihm sowol die Vollständigkeit als die Methode in der Anord¬
nung, und da nebenbei der Gegenstand jedem von Interesse sein muß, der sich
überhaupt mit der Culturgeschichte beschäftigt, so können wir nicht umhin, ganz
abgesehen von der juristischen Brauchbarkeit, auch im Namen des größeren
Publicums einige Ausstellungen zu machen.
Daß der Verfasser sür die Signatur sittlicher Vorstellungen im Volks¬
bewußtsein verschiedenartige Quellen benutzt hat, wirkliche Sprichwörter, Weis-
thümer, Einleitungen zu Gesetzen, Normen, die von Rechtslehrern aufgestellt
sind u. s. w,, daß er serner seine Sammlung auf einen sehr weiten Zeitraum
ausdehnt, ist an sich natürlich; aber es wäre nothwendig gewesen, sowol in
Beziehung auf die Zeiten als auch auf die Quellen einen Unterschied zu
machen. Nun hat der Versasser z. B. die deutschen Sprichwörter nach, den
Gegenständen abgetheilt, so daß es den Anschein gewinnt, als ob in jedem
einzelnen Capitel eine bestimmte Seite des sittlichen Bewußtseins abgethan
werden sollte. Wie bunt das aber alles durcheinandcrgeht, wird man sehen,
wenn man ein beliebiges Capitel aufschlägt, z. B. 1i. „Von Handlungen
und den daraus entstehenden Rechten." Wir wollen die zehn ersten Sprich¬
wörter, die sich mit dem Ehrenwort beschäftigen, zusammenstellen.
„Der Wille ist des Werkes Seele. Der Wille gibt dem Werk den Namen. Ein jeder
ist seiner Worte bester Ausleger. , Ehrenworte binden nicht. Eine Nothlüge schadet nicht.
Auf eine Lüge gehört eine Maulschelle. An Entschuldigungen wird es leicht niemandem fehlen
(» xovu» vo»tuwaoig>s thos, otwi» UKsrat oauss,). Wenn die Füße gebunden sind, laust die
Zunge am meisten. Ein Wort ein Wort, ein Mann ein Mann. Versprechen ist edelmännisch;
halten ist bäurisch. Es ist niemand ein Sklave seiner Worte."
Damit ist das Capitel erledigt. Wer sich daraus nun aber ein Bild von
dem sittlichen Vorstellungskreise deö deutschen Volks machen würde, wäre gar
sehr im Argen. — Bei der deutschen Sammlung herrscht das wirkliche Sprich¬
wort vor, obgleich auch wirkliche Nechtsbestimmungen darin vorkommen, z. B.
„Brauerwerk ist keine Kaufmannschaft." „Ehe bricht Miethe, die Luft macht
leibeigen" u. s. w. Bei der französischen Sammlung dagegen bildet die Grund¬
lage das wirkliche, nach Titeln geordnete Recht, z. B. „l^-r Kr^nLö est rue
monirrolüc! QLrvclitairtZ tempLevo par Jo3 lois." Freilich dazwischen auch wie¬
der bloße Sprichwörter, z. B. „Oixniz?! vilsrin, U vous polnüra; poi^NW
villrin, it vous oinclra." Bei dem römischen Recht sind es zum großen Theil
wirkliche Rechtsnormen, obgleich man zuweilen auch durch Sätze wie der fol¬
gende überrascht wird: „crrs wülawr n-Uurinn (S. 36) oder cüvicls et lap^iÄ
is. 100) oder „äiMLillimum est Menin äolormn töMpLrare" (S. 100) oder
„L0Li(5sIa PÄtur mcrtsr c-l, oultrix MSlilicrö" (S. 112) oder „erraro vt äveixi
turpll clumiuus" (S. 121). Ferner ist die alphabetische Anordnung ohne alle
Rücksicht auf die Materie sehr ungeschickt. — Es ist schade, daß der Versasser
den schönen Stoff, was er nebenbei ohne große Mühe hätte thun können, nicht
so geordnet hat, daß er durch Gruppirung des Zusammengehörigen ein wenig¬
stens einigermaßen vollständiges Bild von dem Rechtsbewußtsein der verschie¬
denen Völker hervorgebracht hat.—
„Auf meinen Reisen," sagt der Verfasser in der Vorrede, „besonders aber
während meines längern Aufenthalts in Italien, vermißte ich oft selbst ein
Buch, welches dem Besucher der verschiedenen Äniikenmuseen Europas das Mittel
böte, die wichtigsten und berühmtesten Werke der alten Plastik und Malerei
mit Nutzen für seine ästhetische Bildung betrachten und in ihrer Bedeutung
für die alte Kunstgeschichte würdigen zu können. Es schien mir ein verdienst¬
liches Unternehmen, den Blick der zahlreichen Freunde alter Kunst durch eine
genaue Beschreibung dieser Werke, inmitten der verwirrenden Masse solcher
Sammlungen, auf das Vortrefflichste und Bedeutendste zu beschränken und für
das allseitige Verständniß desselben zu schärfen."
Ein Werk dieser Art zu schreiben wird nicht leicht jemand befähigter sein
als Herr Stahr. Von einer tüchtigen und gründlichen philologischen Bildung
ausgehend, hat er sich dann der neuen Bewegung in der Philosophie und
namentlich der Aesthetik lebhast angeschlossen; er hat seine große und weltum¬
fassende Empfänglichkeit für alles Schone durch Reise» ausgebildet und nament¬
lich in seinem Werke über Italien das günstigste Zeugniß für seine Fähigkeit,
ernste Gegenstände ernst und doch mit Anmuth darzustellen, abgelegt. Das
vorliegende Werk ist gewissermaßen dazu bestimmt, die früheren aphoristischen
Beobachtungen über die Kunstdenkmale des Alterthums zu ergänzen und zum
Abschluß zu bringen. Zwar war durch den Zweck desselben eine etwas
modificirte Bearbeitung mit Nothwendigkeit geboten, aber Stil und Fassung
erinnern doch lebhaft an die frühere Schrift, und darin liegt sowol ein Vorzug
als ein Nachtheil. Ein Vorzug, denn wir sind keineswegs der Ansicht, daß
wissenschaftliche Schriften über Kunstgegenstände an den Schulstaub erinnern
sollen, wir halten im Gegentheil eine warme und lebensvolle Behandlung für
die einzige richtige Art, die Kunst der größeren Menge zugänglicher zu machen;
ein Nachtheil, denn Herr Stahr hat sich verleiten lassen, die sporadische Weise
des Reisebeschreibers wenigstens einigermaßen beizubehalten. Zwar sucht er
sowol durch den Titel, der nicht blos die Natur seines Gegenstandes, sondern
auch die Natur seiner Behandlung bezeichnen soll, als auch durch die Vorrede'
das Fragmentarische des Buchs zu rechtfertigen. Wir finden aber diese Recht¬
fertigung nicht ganz ausreichend. Daß er bei der Beschreibung der Kunstwerke
selbst keine genaue Reihenfolge eingehalten hat, liegt in der Natur der Sache,
da eine chronologische Bestimmung nur in den seltensten Fällen ausreichend
festgestellt ist, und da es hier nur darauf ankam, jedes einzelne. Kunstwerk in
einer abgerundeten und durchsichtigen Abhandlung zu erörtern. Allein die all¬
gemeinen Theile des Berichts hätten eine sorgfältigere Verarbeitung wünschens-
werth gemacht, da sie jetzt nur wie Ercurse aussehen. Es kommt noch ein
zweiter Uebelstand hinzu. Bei einer Reisebeschreibung, die doch einen wesentlich
subjectiven Charakter hat, läßt man es sich gefallen, wenn der Verfasser Ueber¬
zeugungen, die von den gewöhnlichen Ansichten bedeutend abweichen, mit Be¬
stimmtheit aufstellt, und sich die weitere Begründung vorbehält. Bei einem
objectiven Handbuch dagegen reicht diese Methode nicht aus. Wenn man sich
in einem solchen auf Polemik einläßt, was freilich nicht immer zu vermeiden
sein dürfte, so muß diese Polemik in streng wissenschaftlicher Form gehalten
werden. Herr Stahr stellt bei seiner Ansicht über die alte Kunstgeschichte zwei
Grundsätze fest, erstens, daß die Griechen die Kunst aus dem Orient über¬
kommen haben, zweitens, daß die griechische Kunst von Perikles bis auf Kaiser
Hadrian im wesentlichen sich gleich geblieben ist, und daß die gewöhnliche
Ansicht von verschiedenen Perioden, namentlich von einer langen Periode des
Verfalls, auf Mißverständnissen beruht. In beiden Grundsätzen kommt er mit
sehr gewichtigen Autoritäten in Conflict, und nimmt es, wie es wenigstens
uns scheint, mit der Polemik zu leicht; umsomehr, da er die Waffe deS Spotts
benutzt. Ein solcher Spott findet zu jeder Zeit leicht Anklang, da der Un¬
wissende sich für das Gefühl unvollkommener Bildung an dem Gelehrten gern
durch Hervorhebung seiner lächerlichen Seiten rächt. Wenn nun aber ein
wissenschaftlich gebildeter Mann wie Herr Stahr, der von dem Ernst und der
Bedeutung des strengwissenschaftlichen Studiums sehr wohl unterrichtet ist, das
verdienstliche Werk unternimmt, die Errungenschaften unsrer Gelehrsamkeit dem
größeren Publicum zu vermitteln, so scheint es uns zweckmäßiger zu sein, dem¬
selben die Art und Weise der gelehrten Thätigkeit verständlich und dadurch ehr¬
würdig zu machen, als durch geläufige Kategorien, wie Stubensitzer und der¬
gleichen, den gemeinen Vorstellungen in die Hände zu arbeiten. Außer den
Herren Thiersch und Rost, die Herr Stahr als seine Gewährsmänner anführt,
hat noch so mancher andre unter unsren Gelehrten das Alterthum aus eigner
Anschauung kennen gelernt und daraus entgegengesetzte Ansichten gewonnen
als jene beiden Herren, und daß bei der großen Verbreitung der alten Kunst¬
werke durch Abbildungen, Abgüsse und dergleichen, sowie bei den andern Hilfs¬
mitteln der Gelehrsamkeit eine Localinspectivn nothwendig ist, um ein Urtheil
über die Entwicklung der Kunst zu fällen, das wäre noch erst zu erweisen; we¬
nigstens wenn man die Eilfertigkeit in Betracht zieht, mit der die neuesten eng¬
lischen Reisenden Entdeckungen über das Zeitalter des Königs Ninus machen,-
wobei ihnen dann zuweilen das Geständniß entschlüpft, daß sie es bei einzelnen
Werken dahingestellt lassen müssen, ob sie der Semiramis oder den Seleuciden
angehören, so sollte man wol zuweilen zu der Muthmaßung kommen, daß auch
die Localinspection, so großen Werth man ihr beilegen muß, doch an sich noch
nicht ausreicht, um ein ruhiges und besonnenes Urtheil zu begründen.
Sehen wir nun von diesen Ausstellungen ab, so können wir über viele
einzelne Theile des Werks unsre unbedingte Befriedigung aussprechen. Am
gelungensten scheinen uns überall die Beschreibungen der Kunstwerke selbst;
sie sind klar und durchsichtig, correct und dabei in einem blühenden Stil ver¬
faßt, der in diesem Fall einen sehr angenehmen Eindruck macht. Sie erreichen
den doppelten Zweck, dem Beschauer seine eignen Empfindungen zum Bewußt¬
sein zu bringen und demjenigen, der keine Gelegenheit zur eignen Anschauung
hat, ein Bild zu geben. Was die Erläuterung der Kunstwerke betrifft, so wird
wol hin und wieder ein Bedenken aufstoßen, allein es wird wol selten zwei
Archäologen geben, die hier in allen Punkten miteinander übereinstimmten.
Am vortrefflichsten scheint uns die Abhandlung über die Parthenonsculpturen.
Vielleicht wird Herr Stahr sich veranlaßt sehen, im zweiten Band die einzelnen
Notizen, die er bei dieser und andern. Abhandlungen über die Schicksale der
alten Kunstwerke in der modernen Zeit mittheilt, zu einem Gescimmtbilde zu
verarbeiten. Es wäre das eine sehr dankenswert!)«.' Ausgabe, umsomehr, da
bisher noch wenig dafür gethan ist. — Musterhaft ist die Abhandlung über
vie Stellung der Künstler im hellenischen Leben, und die Ansicht deS Verfas¬
sers, daß eine Geringschätzung des Künstlerstandes in der classischen Zeit nicht
vorkommt, scheint uns bis zur Evidenz begründet zu sein. Weniger befriedigend
ist der Ereurs, der den Titel führt: die Kunst und die Freiheit. Hier steht
die allgemeine Idee, welcher Herr Stahr huldigt, mit seiner wissenschaftlichen
Ueberzeugung von der Kunstgeschichte im Widerspruch und er sucht diesen Wider¬
spruch vergebens durch das Fragmentarische der Darstellung zu verwischen.
Das Werk verdient o,hre Zweifel, daß jeder, der sich für die alle Kunst
interesstrt, Notiz davon nimmt. Da aber durch einzelne kritische Bemerkungen
der Leser kein Bild vo.n dem Stil und der Haltung des Ganzen gewinnt, so
führen wir als ein Beispiel derselben die Beschreibung deö Apollo Sauroktonos
an, nicht weil sie die gelungenste, sondern weil sie die kleinste ist.
Keins unter allen Werken des Praxiteles ist so ganz geeignet, uns die Art und Weise zu
versinnlichen, in welcher dieser geniale Künstler glückliche Motive der alltäglichen Wirklichkeit
zu benutzen wußte, um sie irgendeinem der im hellenische» Volksbewußtsein lebenden Götter
in der Darstellung anzupassen. Denken wir uns den Künstler, wie er Feld nud Wald seines
Heimatlandes durchstreifend einem solchen Motive begegnet. Ein nackter Hitteuknabe in be¬
haglicher Sonuncrnihe, an einen Baum gelehnt, erblickt eine Facette, die sich lustig an dem
Stamme hinanfschläugelt. Halb muthwillig, halb im Ernst versucht er mit einem Stäbchen
oder Pfeil, ob es ihm wol gelinge, das stutzende Thierchen zu treffen. Der Künstler erblickt
'die reizende Stellung des Knaben, das anmuthige Motiv der lauernden Haltung und — vor
ihm steht die Idee des Werks, das uns noch heute entzückt; und die Sage von der orcikelspeu-
dcnden Kraft, welche »ach dem Glaube» der Hellenen der Eidechse, wie allen in der Tiefe der
Erde hausende» Thiere» innewohnte, verleiht seiner Schöpfung den Namen des jugendlichen
OratclgottcS, unter dem sie uns Plinius nennt, und den sie noch heute trägt. Ganz realistisch
aber, als reines' Genrebild faßte die Gruppe schon der römische Dichter Martiol in dem auf
sie bezügliche», überaus feingcfnhlten Epigramme, das seinen griechischen Ursprung nicht ver¬
leugnet:
Z» dir schlüpft sie heran, die Lacerte, o lauernder Knabe,
. ^ Schone ihr Leben, sie giebts selber ja dir in die Hand.
Damit ist eigentlich die ganze Situativ» dieses reizenden geistreichen Werks ausgesprochen.
Das Original war in Bronze, eine Bronzekopie mit silberauSgclegtcin Diadem befindet sich in
Villa Albaui, zwei andere in Marmor sieht man im Museum Pio Clementinnm des Vatikan
und im Louvre. Die letztere, a»S »arischen Marmor, ist vortrefflich erhalten. Die größere
Schlankheit der jugendlichere» Leibesformc» abgerechnet, hat die Haltung des Leibes u»d die
Stellung der Füße viel Aehnlichkeit mit dem ruhenden Faun desselben Meisters- —
Wir glauben dem würdigen, um die Kunst so hoch verdienten Mann kein
Unrecht zu thun, wenn wir die novellistische Einkleidung seines Werkes völlig
bei Seite lassen. So gemüthlich die einzelnen Liebesgeschichten erzählt sind,
das Interesse des Lesers knüpft sich doch vor allem an die kleinen Charakteristiken
der Künstler, die vor und neben Schadow der deutschen Kunst eine neue Bahn
gebrochen haben.
Das Urtheil, das er über dieselben fällt, ist mild und human, wie es
dem Alter ziemt, aber doch frei von aller störenden Rücksicht auf Vorurtheile und
herkömmliche Meinungen. Unbefangen und durch Stimmungen unbeirrt, hebt
er manchen verdienten Künstler, den man heute geringschätzt, vom historischen
Gesichtspunkt wieder hervor, und weist mancher gefeierten Größe, der die
Zeit eine unbegrenzte Verehrung zollt, ihr richtiges Maß an.
Als ein Beispiel des ersteren verweisen wir auf sein Urtheil über Mengs.
— Mengs trat am Schluß einer Periode des vollendeten Ungeschmacks auf, und
man muß ihm das große Verdienst zuschreiben , daß er wiederum eine richtige
Anschauung in der Natur und in ihrer edelsten Auffassung, in der Antike, ge¬
wann. Daraus entsprang seine strenge und fleißige Methode im nachzeichnen,
und er bereitete dadurch den Boden vor, in welchem das geniale Samenkorn
seiner Nachfolger gedeihlich aufwachsen konnte. Erfindung hatte ihm die Natur
versagt; deshalb bleibt er bei antiken Gegenständen, wenngleich-correct, doch
kalt; bei christlichen Darstellungen aber, wo die Innigkeit der Empfindung un¬
erläßlich, ist er ungenießbar. Er ist wahrhaft lebendig nur wo er porträtirt;
alles, was in der Phantasie geboren werden muß, beschränkt sich bei ihm le¬
diglich auf Reminiscenzen, doch' erinnerte er sich jederzeit nur des Besten, das
vor ihm geschehen war. Sein Streben war durchaus edel, und er zeichnet sich
in dieser Beziehung unter seinen Zeitgenossen merkwürdig aus.
Wenn wir bei dem Urtheil über Cornelius mehr die negative Seite her¬
vorheben, so wollen wir damit nicht sagen, daß Schadow dem größten Künstler
Deutschlands aus den letzten Jahrzehnten nicht Gerechtigkeit widerfahren ließe.
Im Gegentheil feiert er mit Liebe und Wärme seinen Genius; aber er unter¬
läßt nicht, auf seine Mängel aufmerksam zu machen, die, wie alle Fehler eines
großen Mannes, aus die nachfolgende Entwicklung schädlich einwirken können,
und vor welchen daher die Jugend gewarnt werden muß. „Die Mängel in
seinen spätern Werken sind lediglich den widerwärtigen Umständen seiner Ju¬
gend zuzuschreiben; es fehlte ihm die geistige und materielle Unterstützung, und
es gehört sein bewundernswürdiges Genie dazu, welches ihm bei so mangel¬
haften Kenntnissen schon damals so außerordentliches schaffen ließ . . . Der
Ruf zu den Werken, welche König Ludwig in München ausführen ließ, brachte
seine Thätigkeit auf ein Feld, welches die wahren Verehrer seines Genies ihm
einige Jahre später gewünscht hätten, weil auch die größten Anlagen eine ge¬
raume Zeit zu ihrer technischen Ausbildung bedürfen. Damals- wäre es mög¬
lich gewesen, die unverschuldeten Mängel seiner künstlerischen Erziehung aus¬
zugleichen. München war aber einem Treibhause zu vergleichen, dessen Gärtner
durch übermäßige Heizung mancher Pflanze nicht die nöthige Zeit gönnte, sich
so vollkommen auszubilden, als es ihrer ursprünglichen Natur nach möglich
gewesen wäre . . . Ein Genie seiner Art wirkt so mächtig auf seine Umgebung,
reißt diese so gewaltig in seinen Jdeenkreis und seine Methode hinein, daß
geringere Talente leicht in den Dünkel verfallen, ähnliches schaffen zu wollen,
und dies hat zuweilen unbequeme Caricaturen zur Erscheinung gebracht, welche
sich nur deshalb groß dünkten, weil ihr Meister groß war. Denn wir haben
junge Künstler aus seiner Schule gesehen, welche mit frecher Naivetät falsche
Conturen figurenreicher Compositionen zeichneten und dasjenige Stil nannten,
was Manier war." —
Die äußere Ausstattung ist glänzend: eine Rücksicht auf die Bedeutung
des Verfassers, die der Buchhandlung umsomehr zur Ehre gereicht, je seltner
sie ist. Eine Reihe vortrefflicher Bildnisse berühmter Künstler, nach Zeichnun¬
gen von Julius Hübner, in Holz geschnitten von Bürkner, verzieren das
schöne Werk.
Es ist uns vor einiger Zeit mitgetheilt worden, daß Herr von Schadow
seine Memorabilien vorbereite. Schon aus den vorliegenden Skizzen können
wir die große Bedeutung entnehmen, welche dieselbe für die Einsicht in die
Kunstgeschichte haben werden. —
Der Hehler, der sich bei den frühern historischen Werken des Herrn
v. Lamartine jedem unbefangenem Auge aufdrängt, daß er nämlich seiner
Imagination einen zu freien Spielraum läßt, And von den überlieferten That¬
sachen ohne ernsthafte und wohlerwogene Kritik der Quellen diejenigen aus¬
wählt, die ihm als die unterhaltendsten erscheinen, tritt bei seinem neuen Bei¬
trage zur Revolutionsgeschichte weniger hervor. Die Zeit der Girondisten ist
verhältnismäßig eine dunkle, in welcher die Aufregung der Leidenschaften eine
unbefangene Auffassung der Thatsachen fast unmöglich machte. Hier bleiben
also viele Räthsel und die geschäftige Phantasie hat alle mögliche Freiheit,
in der Erforschung der geheimen Motive, der psychologischen Erregungen, der
Intriguen und Verschwörungen ihre Thätigkeit zu entwickeln. Es war
eine wilde Zeit, reich an wirklichen Ungeheuerlichkeiten und daher wohl an¬
gethan, noch Schrecklicheres im Verborgenen vermuthen zu lassen. Die Zeit
von 1789 hatte einen andern Charakter; wie hoch auch bereits unter allen
Ständen die Aufregung gestiegen war, sie hatte doch den Sinn für die Wirk¬
lichkeit noch nicht ertödtet. Wer sich an den Parteiungen betheiligte, mußte
sich einen denkbaren Zweck vorsetzen, mußte die Glut seiner Begeisterung
wenigstens soweit mäßigen, daß sie dem Gemeingefühl verständlich blieb, weil
er ohne dieses auf keine Wirkung hoffen konnte. Darum sind wir auch im
ganzen über diese Zeit sehr wohl unterrichtet und wenn man etwas Räthsel-
Haftes in ihr finden will, muß man es erst hineinlegen. Damals hatten die
Politiker noch Muße und Besonnenheit genug, auf ihre Verhältnisse zu andern
ein stetiges Augenmerk zu richten, ihre Korrespondenz zu ordnen, eine gewisse
Folgerichtigkeit in den Bewegungen und in ihrer Theilnahme, an denselben zu
erstreben: eine Folgerichtigkeit, an die im Taumel der spätern Jahre niemand
mehr denken wollte. Diese Phase der Revolution ist daher überreich an
Quellen, und die subjective Färbung späterer Memoiren wird vollkommen durch
.die gleichzeitigen Documente corrigirt.
Eine solche. Periode setzt der schöpferischen Phantasie eines Schrift¬
stellers, auch wenn er ein Dichter ist, ganz andere Schranken, als eine Periode
trüber Gährung wie das Jahr 1793. Wenn man also, der Geschichte der
Girondisten von Lamartine mit weit größerem Rechte, als es Goethe gethan,
die Bezeichnung Wahrheit und Dichtung geben könnte, so würde ein solcher
Vorwurf die Geschichte der constituirenden Versammlung nicht treffen. Der
Stoff derselben ist wirklich historisch; und. wenn man ihr einen Vorwurf machen
kann, so ist es nicht der leichtsinniger Erfindung, sondern ungeschickter Grup-
pirung und Verarbeitung.. Herr v. Lamartine hat ziemlich viel,Quellen benutzt,
vor allem aber den Moniteur und die Correspondenz Mirabeaus. Diese sind
nun aber so reichhaltig, daß die Hauptaufgabe des Geschichtschreibers sein muß,
die charakteristischen Momente so prägnant als möglich hervorzuheben, um dem
Leser für das Uebermaß an Thatsachen, das er sich anderweitig mit leichter
Mühe zugänglich machen kann, einen Leitfaden an die Hand zu geben. DaS
hat Lamartine darum nicht verstanden, weil er selbst keinen hat. Er lehrt
heute, was er gestern gelernt. Ihm ist in "den Quellen, die er benutzt, daS
meiste neu und 'daher interessant und er findet keinen Anstoß, in dem Leser ein
gleiches Interesse vorauszusetzen, und ihm in der größten Ausführlichkeit alles,
was ihm vorkommt, mitzutheilen. Ganze Reden aus dem Moniteur, ganze
Briefe aus der Correspondenz sind wieder abgedruckt. Nun hat zwar Lamartine
stets den Vorzug eines fließenden Stils und einer eleganten Rhetorik, aber
dieses reicht doch nicht aus, um den durch den trägen Fluß der Geschichte ab¬
gespannten Leser wach zu erhalten. Der Reiz des Pikanten, der sich in den
Girondisten so übermäßig geltend macht, konnte hier nur in geringer Aus¬
dehnung angewendet werden, und so haben wir das unangenehme Gefühl,
es mit einem geistvollen Mann und mit einer höchst bedeutenden historischen
Periode zu thun zu haben und doch die innere Nothwendigkeit des Werks
leugnen zu müssen. —
Ein dem Umfange nach kleines Werk, aber von der größten Bedeutung
für die Kenntniß des Bodens, der wieder ein welthistorischer zu werden scheint,
und daS 'Resultat vieljähriger gewissenhafter und mühevoller Forschungen.
Durch Kiepert haben die geographischen Studien einen Aufschwung genommen,
der in seiner Art ebenso wichtig ist, als die Wendung, die ihnen Ritter früher
gegeben hat. Die beiden Karten, die uns hier vorliegen, geben uns die mo¬
dernen Verhältnisse, aus denen wir das, was auf denselben vorgeht, allein
verstehen können, im größten Detail wieder, und sie versinnlichen uns zugleich
das Verhältniß zum Alterthum durch die Hinweisung auf die alten Namen
und Localitäten. Jemehr in neuerer Zeit die Entwerfung von Karten einer
leichtsinnigen Industrie anheimgefallen ist, desto lebhafter müssen wir auf ein
Werk aufmerksam machen, das aus den Ruhm wissenschaftlicher Strenge Anspruch
machen darf und zugleich durch seine verständige und zweckmäßige Ausstattung
den Bedürfnissen des größern Publicums auf das vollkommenste entspricht.
Die Industrie wird, nicht verfehlen, auch diese Früchte mühevollster Anstrengung,
soviel es geht, an sich zu reißen, aber in solchen Fällen hat auch die Nach¬
bildung ihre Schwierigkeiten, und jeder irgend Urteilsfähige wird finden, daß
wissenschaftliche Gründlichkeit auch stets das zweckmäßigste ist, und daß es für
jeden, der sich nicht mit einer ganz flüchtigen, oberflächlichen Kenntniß be¬
friedigen will, nothwendig ist, auf das Original zurückzugehen. —
Der Werth der vorliegenden Arbeit, namentlich für die Kriegswissenschaft,
ist unter Sachverständigen bereits anerkannt. Wir begnügen uns damit, auf
das Interesse derselben für das größere Lesepublicum hinzuweisen. Sehr originell
sind namentlich die Crcurse des berühmten EmirS; sie sind im Ton der orienta¬
lischen Poesie gehalten, reich an Sprichwörtern und dichterischen Citaten. Wir
wollen hier eine Probe mittheilen, über die Wahl und den Kauf der Pferde..
Der Dichter Salad erwiderte einem Könige, der sein Pferd von ihm forderte: Salad ist
nicht verkäuflich und nimmer werde ich ihn anch vertauschen; ich würde ihn mir um den Preis
maries Lebens zurückkaufe». Ein Araber sagte: Meine Landsleute tadeln mich um meiner
Schulden halber, und doch habe ich sie nur gemacht wegen eines Pferdes von edler Rare und
gerundete» Formen, das meinem Gvum ein Talisman» ist und dem ich eine» Sklaven zum
Diener gegeben habe. — Ein Araber schickte eines Tages seinen Sohn auf den Markt, um ihm
ein Pferd zu kaufen; bevor dieser abreiste, fragte er seinen Aater, welche Eigenschaften es be¬
sitzen müsse. Der Vater erwiderte: Seine Ohren müssen sich unaufhörlich bewegen; es muß
bald vvrwcirts bald znrückschcuicn, als ob es etwas hörte; seine Angen lunssen lebhaft und wild
um sich schauen, als e>b es sich mit irgendeine»! Gegenstände beschäftige; seine Beine müsse»
g»t gegliedert und weht vrvpvrtivmrt sei». — El» solches Pferd, sagte der Svh», wird
von seinem Herrn niemals verkauft werden.-—Viele Araber besitzen gciccalvgischc Tabelle», in
welchen sie dnrch völlig glaubwürdige Zeugen die Geburt und die Abkunft ihrer Pferde fest¬
stellen und bestätigen lassen, so das>, wenn ein Besitzer sein Pferd verkaufe» will, er nur
jene geucalvgische Tabelle vorzuzeigen nöthig hat, um dem Käufer zu beweisen, daß er ihn
nicht täusche.
Bei den Amaza, einem Tribu, der das Land zwischen Bagdad bis Syrien bewohnt, habe
ich Pferde gesehen, deren Preis so hoch war, daß es fast unmöglich ist, eins davon zu kaufen und
neu»c»euch baar z» bezahle». Diese Pferde werden in der Regel an hohe Pcrsvircn oder reiche
Kaufleute verhandelt, die im Laufe eines Jahres in 30 bis ö(i Terminen den wahrhaft fabel¬
haften Preis für ein einziges solches Thier bezahle»', oder sich verpflichten, dem Verkäufer und
leinen Nachkomme» eine immerwährende Reute zu zahle». Ich überrasche sie des Morgens,
wen» der Vogel »och i» sei»em Neste schläft u»d die reichliche» Thautropfen sich einen Weg
nach dem nächsten Bache, suche». Ich überfalle sie mit einem Nenner mit glänzendem Haare
der dnrch seine Schnelligkeit die wilden Thiere erreicht und unaufhörlich, zu allen Jahreszeiten
die Gazelle fern von unsrer Zelten jagt. Er hat die Flanken der Gazelle, die Füße des
weibliche» Straußes, den geraden Rucke» des wilden Esels, der ans einem Hügel Wache
hält- Seine Kruppe gleicht einem Sandhaufen, der dnrch Feuchtigkeit dicht geworden ist
und entspricht dem Widcrriß, der sich über den Rücken erhebt, wie der Sanmsattcl des Kamce-
lcs, der die Sänfte trägt. Die Erhöhungen hinter den Ohren find rund wie Kugeln; die
Gurte und die Sänfte scheine» an einem blätterlosen Stamm des Palmbaumes befestigt zu sein.
Rede» ander, n Pferden angebunden, beißt er eifersüchtig um sich und tritt > unruhig hin und
her, als wenn er von einem böse».Geiste geplagt würde.
Eine bedeutende und gründlich gearbeitete Monographie, deren Zweck der
Verfasser in der Vorrede angibt, „Ich wünsche zunächst über die Vergcmgen-
h'eit der Inseln die vorhandenen Lücken in der Geschichte mit demjenigen aus¬
zufüllen, was ich darüber in Archiven und Bibliotheken aufgefunden habe.
Daran werde ich meine Ansichten über die gegenwärtige Lage der Inseln, die
Bedingungen, Quellen und Verwerthung ihres Bodenreichthums und ihrer
Arbeitskräfte knüpfen......Wenn die Negierung der Veranlassung zur Ent¬
völkerung der Inseln nachforscht, so können ihr die eigentlichen Motive der
Verarmung und deren- Konsequenzen nicht entgehen. Die Lage der besitzlosen
Classe ist auf den Canarien durch die eigenthümlichen Verhältnisse bedingt.
Sie ist unbillig, unhaltbar, und wird auf die Dauer unerträglich. So traurig
v>me Abnahme der Bevölkerung durch Auswanderung immerhin ist, eine solche
Seibstverbannung bleibt mindestens ein friedliches Mittel zur Lösung der
Frage. Wahre sich die Negierung, daß es nicht zu einem Versuche der gewalt¬
samen Lösung komme, denn ein solcher muß nöthged,rungcn durch gewaltsame,
vernichtende Mittel unterdrückt und beseitigt werden. Durch vieljährige Er¬
fahrung und das Studium des Menschen in den verschiedenen Classen der
Bevölkerung schärfen sich Aug und Ohr, und bei meiner Bereisung jener
Inseln bin ich zu der Ueberzeugung gelangt, daß trotz der Gutartigkeit, Ein-'
fachheit und Liebenswürdigkeit ihrer Bewohner, diese doch schon zum Bewußtsein
über ihre Lage und Zukunft gelangt sind."
Aus diesen Bemerkungen geht hervor, daß das Hauptaugenmerk des Ver»
fassers auf die politische Entwicklung der Inseln gerichtet gewesen ist. So
gering die Bedeutung derselben für die allgemeine Geschichte sein mag, so
wichtig ist es, die Erfahrungen der verschiedenen Colonien miteinander zu ver¬
gleichen, um zu bleibenden, wissenschaftlich begründeten Resultaten zu gelangen,
und in dieser Beziehung macht es keinen großen Unterschied, wie groß der
Umfang des beobachteten Gegenstandes ist. Im gegenwärtigen Fall werden
die Beobachtungen deö Verfassers umsomehr Eindruck machen, da er mit
Wohlwollen und wahrem Interesse zu Werke geht, und durchaus nicht in den
Fehler der gewöhnlichen Touristen verfällt, durch Uebertreibungen und schwarze
Farben auf die Phantasie der Leser zu wirken. Er hat den ernsthaften Willen,
klar zu sehen und nirgend einen Tadel auszusprechen, wo er nicht auf eine Ab¬
hilfe wenigstens hindeuten kann.
Einen bleibenden Werth hat die Beschreibung der Inseln und der kurze
Abriß ihrer Geschichte, die eng in die Geschichte des Mutterlandes verwebt ist,
und über manche dunkle Umstände derselben Licht verbreiten kann, da man in
einem kleinern Raum von Beobachtungen aufmerksam auf Beziehungen ist, die
sich bei einem größern Umfang leicht den Blicken entziehen. —
Bearbeitungen der Weltgeschichte für Frauen werden in der Regel mit
einem gewissen Vorurtheil angesehen. Man nimmt an, daß nicht blos bei
der Auswahl der Thatsachen der specielle Zweck maßgebend gewesen ist, son¬
dern auch bei der Art und Weise der Darstellung; daß der Verfasser sich be¬
müht hat, durch einen gewissen weichlichen und empfindsamen Stil die Gunst
seines Publicums zu gewinnen. Wenn dieses Vorurtheil bei den meisten
Büchern ähnlicher Art begründet ist, so findet eS auf das vorliegende, mit Recht
allgemein beliebte Werk, keine Anwendung.. ES ist im Gegentheil, namentlich
in seiner neuesten Bearbeitung, ein günstiges Zeugniß dafür, daß man die
Erziehung der Frauen auch in wissenschaftlicher Beziehung nicht mehr als ein
Spiel betrachtet, daß man ihnen im Gegentheil eine ganz ernsthafte Anstrengung
zumuthet. Die Mädchenschulen, bei denen das gegenwärtige Werk zu Grunde
gelegt wird, werden sich nicht damit begnügen, ihren Zöglingen einzelne wohl¬
feile Redensarten zum Behuf der Conversation mühelos an die Hand zu geben,
sie werden ihnen vielmehr im Geschichtsunterricht klare und bestimmte Vorstel¬
lungen entwickeln und sie zu einer heilsamen Gymnastik des Geistes anregen.
Die politische Geschichte ist, wie billig, so eingerichtet, daß sie.ebenso die Phan¬
tasie als den Verstand beschäftigt: es wird ausführlich erzählt und einfach
reflectirt. Am Schluß einer jeden - Periode wird ein Gesammtbild der Cultur¬
entwicklung entworfen und dabei auch soweit auf die Literatur eingegangen,
als es für Frauen ersprießlich ist. Da aber bloße Referate über ti'e Literatur-
geschichte im ganzen wenig Nutzen haben, so hat der Versasser den verständigen
Einfall gehabt, in dem Anhang zu der Geschichte des Mittelalters eine -Aus¬
wahl literarischer Fragmente mitzutheilen, vorzugsweise aus den Geschicht¬
schreibern, aber auch aus religiösen und philosophischen Schriftstellern. Der
Umfang dieser Auswahl- ist bedeutend genug, er umfaßt über 100 Seiten, und
mit der Auswahl selbst können wir uns nur einverstanden erklären. Sie ist
vorzugsweise auf solche Fragmente gerichtet, die ein anschauliches Bild von
der Eigenthümlichkeit des Schriftstellers oder von dem Charakter der Zeit geben.
Die Gesinnung ist protestantisch, aber von der Humanitätsidee verklärt; neben¬
bei überall gemäßigt und nach allen Seiten hin soweit gerecht als ohne Ver¬
leugnung der eignen Grundsätze möglich ist. Mit einem Wort, das Buch
(das nebenbei den Vorzug ungewöhnlicher Billigkeit hat) macht einen durchaus
wohlthuenden Eindruck und sollte in keiner Frauenbibliothek fehlen. — Zwei
vortreffliche Portraits, die heilige Elisabeth und die Königin Louise von Preu¬
ßen, verzieren die Sammlung. —
Der Zweck ist löblich, die Ausführung wenigstens im ganzen gelungen.
Unser Interesse für die norddeutsche Bildung geht freilich nicht soweit, daß wir
ihr eine abgesonderte historische Darstellung wünschten; aber in der Form von
Skizzen auf die eigenthümliche Vorgeschichte des niedersächsischen Stammes
aufmerksam zu machen, die man bei den herkömmlichen Kaiser- und Reichs¬
historien zu vernachlässigen pflegt, kann die Vaterlandsliebe nur fördern. Aus
der Zeit des frühen Mittelalters hätte sich der Herausgeber manches, was in
die allgemeine Geschichte gehört, ersparen können; destomehr befriedigt die Aus¬
wahl in den spätern Partien, namentlich die Zusammenstellung der Freiheits¬
kämpfe des Landvolks gegen Fürsten und Städte. In der stilistischen Behand¬
lung Hütten wir mehr Einheit gewünscht; an sich ist' gegen die Benutzung
anderweitiger Geschichtschreiber nichts einzuwenden, aber der Bearbeiter muß
auch das Fremdartige in die Farbe seiner eignen Auffassung zu tauchen ver¬
stehen. —
Vor einigen Jahren, wenn eS sämmtlichen Feuilletonisten von Paris ein¬
gefallen mare, den guten Franzosen einzureden, daß der Himmel grün ist und
die Bäume blau, sie hätten ihre Phantasie durchgesetzt. Der Bourgeois von
Paris hätte ganz verwundert üver die neue Entdeckung zum Fenster hinaus¬
geguckt, er hätte sich wol einen Augenblick erlaubt, zweifelnd den Kopf zu
schütteln, aber seine Widerspenstigkeit würde nicht von langer Dauer gewesen
sein, er hätte sich gefügt und den grünen Himmel und die blauen Bäume hin¬
genommen wie viele andere Paradoxa auch. Die geistreiche Presse hat seinem
ästhetischen Gefühle nicht geringere Ungeheuerlichkeiten aufzudringen gewußt. Das
war eine schöne Zeit, wo die Presse noch eine wirkliche, vor allem eine moralische
Macht bildete, wo das Publieum im paradiesischen Zustande naiver Gläubigkeit
sich befand und noch nicht vom Baume der Erkenntniß gegessen hatte. Die
französische Schriftstellern war noch nicht Industrie geworden, es war noch
. ein Priesterthum, bei dem man nur durch Beruf und durch Talent Aufnahme
bekam. Die Gesellschaft war damals, in den letzten Jahren der Restauration
und in den ersten Jahren nach der Julirevolution, weniger materiell. Die
französische Intelligenz stand den freiheitlichen Interessen zur Seite, der Glaube
an das Schöne war noch nicht erschüttert und in der Politik wie in der Literatur
herrschte jene innige Gewaltigkeit des Lebens, welche eine starke Ueberzeugung
allein zu verleihen im Stande ist. Man kämpfte für ein Regierungssystem
nicht mit mehr Leidenschaft als für eine Richtung in der Literatur oder in der
Kunst. Alle Regionen der französischen Intelligenz waren von jugendlichem
Feuer durchdrungen. Man hatte eine Fahne in der Politik wie in der
Literatur. Da begann das bekannte Corruptionssystem, das allmälig die herr¬
schenden Classen angefressen. Die Jugend sah mit Entsetzen nach und nach
ihre angebeteten Größen in den Schlamm versinken. Die Großen zogen die
Kleinen nach sich, die Presse wurde wie in der Politik als Borstube eines
Ministeriums, in der Kritik oder in der Literatur als Mittel zu leichterwor¬
benen Reichthümern betrachtet.. Man sah nur die außerordentlichen Erfolge
jener Schriftsteller vor sich, und da diese ihr Glück nicht eben den gelungen¬
sten Schöpfungen ihres Geistes, nicht grade ihrer nachahmungswerthen Seile
zu verdanken hatten, so wurde dieser am meisten nachgestrebt. Die letztjährigen
Revolutionen und Contrerevolutioncn haben nichts dazu beigetragen, die feder¬
führende Classe zu ihrer würdevollen Stellung von ehemals zurückzurufen,
denn im Rausche der Bewegung haben sich die Schwachgesinntcn weiterreißcn
lassen, als es ihre Ueberzeugung erlauben sollte, und sie rächten ihre eigne
Charakterlosigkeit durch um so auffallendere Rückfälle während der Zeit der Reac¬
tion. Die Blutlosigkeit der Republik, die Abwesenheit alles Terrorismus wäh¬
rend derselben, dies führte ihnen später ihre ganze Erbärmlichkeit zu Gemüthe und
sie wollten sich in ihren eignen Augen durch Andichtungen jeder Art entschul¬
digen und zugleich ihr neues Nenegatcnthum durch retrospective Lügen be¬
schönigen. Die Journalistik ist aber seit der Julirevolution die vorherrschende
Thätigkeit des französischen Schriftstellerthums in einem Maße geworden, daß
auch die Literatur und alles waS mit dieser zusammenhängt, vorzüglich aber
die Kritik in denselben Strudel des Verderbnisses gerissen wurde. Sowie die
materialistische Skepsis in der Politik jeden Abfall erklärt, so macht die ebenso
materialistische Gleichgiltigkeit in Literatur- und Kunstsachen den Leichtsinn, die
Gewissenlosigkeit und die Liederlichkeit begreiflich, mit der im allgemeinen die
Kritik in Frankreich gehandhabt, wird. Ich mag nicht in Abrede stellen, daß
auch vordem die Kritik, das sogenannte Feuilleton, oft mit Parteilichkeit ge¬
leitet wurde. Es war aber eine Parteilichkeit, welche einen großen Grundsatz
im Schilde führte. Wenn V. Hugos Werken z. B. von seinen Anhängern
oft eine unbedingte Bewunderung gezollt wurde, die sie nie verdient hätten,
so verbarg sich hinter dieser Ertase der Abscheu vor den? Perückenhaften
Wesen Nacines, mit seinen Hoffiguren, welche griechische Helden darstellen
sollten. Wenn wieder die Vertheidiger der classischen Schule uns haarsträu¬
bende Geschichten von dem Unwesen der jungen Romantiker erzählten, so waren
diese Repressalien gemildert durch den Gedanken, daß jene Anhänger in Racine
mit Recht die Meisterhaftigkeit der Sprache und der Form ihren Gegnern ent¬
gegenhielten, die von diesen mit zuviel sens l'^«n behandelt worden war und
noch wird. Der Kampf war von beiden Seiten ein gerechtfertigter, weil beide
Parteien durch eine große Leidenschaft getrieben wurden, . Beide hatten einen
literarischen Glauben, beide fühlten lebhaftes Interesse für die Kunst und
alles, was in ihren Kreis geHort, Auf dem Gebiete der bildenden Künste
machten sich dieselben Erscheinungen bemerklich: die Coloristen standen den An¬
betern der Linie mit ebensoviel Feuer wie die Romantiker den Klassikern gegen¬
über. In der Musik wäre auch ähnliches nachzuweisen und wir dürfen in
dieser Beziehung nur an die Bewegung erinnern, die Berlioz erste Schöpfungen
hervorgerufen hatten. Es war allenthalben heißblütiges Leben in der künst¬
lerischen wie in der literarischen Welt und die Feuilletonisten waren auf der
Höhe ihrer Aufgabe als Vermittler zwischen dem gebildeten Publicum und. je¬
nen productiven Geistern in der Literatur wie in d^r Kunst.
Diese und ähnliche Betrachtungen habe ich oft angestellt, bei der hand¬
werksmäßigen Weise unserer heutigen Kritik und bei den vielen Skandalen,
welche dem Eingeweihten hier jeden Tag begegnen. Der Leser erwarte von
mir keine skandalösen Enthüllungen, ich überlasse diese Arbeit gern literarischen
Herkulessen, welche den Muth, und einen genug starken Besen haben, den Augias¬
stall der heutigen Feuilletons zu säubern. Ich glaube auch nicht, daß man
der Literatur -einen guten Dienst erweist, wenn man in diesem Düngerhaufen
herumwühlt. Der Philister verdient die Schadenfreude nicht, die ihm diese
Herabwürdigung wenn auch falscher Jünger der Geistesaristokratie verursacht.
Die Spießbürger finden es ebenso natürlich, von den Literaten alle Tugenden
beanspruchen zu dürfen, wie die Diplomaten von ven Liberalen — sie sind
naiv genug, Eigennutz »ud andere menschliche Schwächen als ausschließliches
Privilegium- in Anspruch zu nehmen. Ich werde mich also jeder Anekdote
hier enthalten^ obgleich die erbaulichsten zu meiner Verfügung ständen — ich
will mich nur ans Allgemeine halten, um zu zeigen, wie alle höheren Inter¬
essen solidarisch verbunden sind old daß in einem Lande mit einem Regime, mit
einer Gesellschaft wie die jetzige in Frankreich.auch die Literatur und die Kritik
in einem erbärmlichen Zustande sein müssen. Die Schwächen der Gesellschaft
sind allerdings niemals mit mehr Konsequenz ausgebeutet worden als jetzt. Die
Franzosen, namentlich alles was zur Presse gehört, fühlen sich oft noch von einer
neuen Maßregel überrascht und sie recken die Hände wie ein gefesselter Niese;
aber es ist nichts weiter und bleibt beim Alten, weil das andere Gefühl, daß
es doch so gut zum Ganzen passe, vorherrschend wird. Die jüngst erwähnte
Verletzung der gesammten kritischen Presse durch den Staatsminister wäre von
keiner andern Regierung gewagt worden, und doch hat Herr Fould seinen Wil¬
len durchgesetzt, ohne daß die Feuilletonisten es über den Anlauf zu einem
Versuche von Protestation hinaufgebracht hätten. Die französische Presse ist so
herabgekommen, daß sie sogar in ihrer unverwundlichsten Seite, im Corporations-
wesen, gebrochen ist. Die Socialisten bildeten sonst eine festgegliederte Körper¬
schaft, deren Angehörige alle für einen standen und fielen. Ich will die vie¬
len und großen Nachtheile eines solchen Zustandes nicht verkennen, aber es
muß zugegeben werden, daß das Zusammenhalten der Schriftsteller, wenn in
irgendeinem Falle, Regierungsübergriffen gegenüber am gehörigen Platze sei.
Die Redactionen aber hängen, wie ich unlängst bemerkt habe, von industriell¬
gesinnten Actionären und die Schriftsteller von ihrer eignen Schwäche ab.
Die Presse ließ Herr Fould gewähren, sie widersetzte sich nicht, sie wahrte ihre
Unabhängigkeit nicht, sie nahm die Capitulationsbedingungcn, die das Staats¬
ministerium vorschlug, ohne weiteres an. Mit dieser Annahme wurde zugleich
auch jede freie Stellung der Kritik der kaiserlichen Akademie gegenüber aufgegeben,
denn wer A sagt muß auch B sagen; wie erschüttert das Ansehen der kritischen
Journalistik ist, wie gelockert das Band, das die Schriftsteller oft zum Guten
zusammenhielt, geht auch aus dem Umstände hervor, daß sie auf ihre innere
Jurisdiction, die sich bisher als Ehrengericht oft vortheilhaft an den Tag legte,
ganz verzichtet hat. Es ist in jüngster Zeit geschehen, daß ein Feuilletonist
der verabscheuungswerthesten Käuflichkeit überwiesen wurde, ohne daß das ver¬
letzte Ehrgefühl der Kritiker den Ausschluß dieses unwürdigen Mitgliedes auch
nur versucht hätte. In einem Lande wie Deutschland, wo die Literatur demo-
ralisirt ist, wo eigentlich gar keine Gemeinschaftlichkeit herrscht, Härte das gar
nichts zu bedeuten. Hier aber fühlen sich die Schriftsteller als Gemeinschaft
und zu jeder andern Zeit würde sich ihr Nerdict geltend gemacht haben. Man
ist eben gegen die Kunst gleichgiltiger geworden, und so kümmert man sich
auch wenig darum, welche Motive bei der Kritik die Feder führen. Bei dem
jetzigen Zustande von Miasma ist es vielmehr zu verwundern, daß nicht
noch häufigere Fälle von Bestechlichkeit vorkommen als ohnehin schon nachge¬
wiesen werden. Die Charakterlosigkeit braucht bei den häusigsten Gelegenheiten
nicht erst bezahlt zu werden, sie ist vorhanden, sie wird von dem Mangel an
Interesse für das, was man als Priesterthum betrachten sollte, bedingt und sie
wird vergrößert durch daS gesunkene Ansehen der heutigen französischen Kritik.
Theils durch diese Leichtfertigkeit, theils durch angebornes Wohlwollen, endlich
infolge der von Alters gewohnten Anpreisung der französischen Kritik-ist. incl
Publicum so mißtrauisch gegen die Presse geworden, daß man ein-eÄ WrNlleton
in der Regel nicht mehr Glauben schenkt als einem Theaterzettel oder eine in
Parfümerieprogramme. Richtiger gesagt lassen sich nur die Gimpel noch an¬
führen, deren beneidenswertes Loos es auf Erden ist, unter allen Verhält¬
nissen angeführt zu werden. So ein Feuilletonist mag sich nun oft denken
daß das Publicum längst Baumwolle in den Ohren habe gegen die verführe¬
rische Stimme der Feuilletonsirenen und er sündigt auf diesen Talisman hin>
mit um so größerer Behaglichkeit los als ihm diese Sünden häufig an
die verschiedenste Weise versüßt werden. Es gibt Kritiker, die sich einreden,
ironisch zu loben, und es ist unter den Eingeweihten im Publicum in der
Wirklichkeit herkömmlich geworden, einen Autor, oder einen Künstler, der nicht
als Genie angepriesen wird, für einen Stümper zu halten, ohne daß zu¬
gleich ausgemacht wäre, er sei keiner, wenn er vom Feuilleton als Genius
proclamirt wird.
Ein anderer Beweis der Gesunkenheit des modernen Feuilletons ist, daß
die Verschiedenheit der literarischen Farbe beinahe verschwunden ist — die
Kritik ist einer fast allgemein gewordenen Monochromie verfallen, die sich wieder
nur aus der künstlerischen Gleichgiltigkeit erklären läßt, die ich als Haupt¬
grund der Charakterlosigkeit des Feuilletons von heute angegeben habe, und
man kann täglich Mozart, Meyerbeer und Donizetti, Shakespeare, Dumas,
und Ponsard, Rafael und Horace Vernet in einen Farbentopf geworfen sehen.
Ich brauche mich wol nicht erst vor dem Vorwurfe zu rechtfertigen» als wünschte
ich Einseitigkeit, blinde Ausschließlichkeit in der Kritik vorherrschend, aber ohne
leitende Grundsätze, ohne Ideal, ohne bestimmenden Kunstglauben eristirt keine
Kritik. Der Dillettant mag Eklektiker sein und beim Künstler kann Eklekticis¬
mus, wenn er in einer gewaltigen Individualität verarbeitet wird, seine Be¬
rechtigung finden — der Kritiker aber muß einer jeden Kunstleistung gerecht
werden können, ohne selbst Eklektiker zu sein.
In der heutigen Kritik aber ist Eklekticismus ganz allein herrschend. Die
Romantiker haben blos die bilderreichere Sprache und die Geläufigkeit der
paradoren Aufstellungen beibehalten, und selbst die Legitimisten, welche die
reactionären Tendenzen in der Literatur wie in der Politik vertreten, fangen
mit wenigen Ausnahmen, an, in diese allgemeine Farblosigkeit sich zu ver¬
mischen. Diese Erfahrung- erklärt sich auch aus der Camaraderie, welche ti.e
einzige Seite der schriftstellerischen Solidarität ist, die man noch zu erhalten
gesucht. Weil den kritischen Schriftstellern das, was sie treiben, nicht heilig
ist, lassen sie sich von Liebesdienst zu Liebesdienst bis zur charakterlosesten
Lobhudelei verleiten und es wird ihnen dieses Metier in ihren eignen Augen
so verleidet, daß sie selten ein Buch besprechen, sondern stets daneben hertra¬
ben, um so das Undankbare ihrer Aufgabe zu mildern.
Ein neues Journal haben wir erlebt, es ist die erste Nummer der Revue
universelle von Herrn Vicomte dArlincourt. Das soll eine legitimistische
Revue werden, die dem Herrn Vicomte einen Vormund zur Veröffentlichung
seiner abgeschmackten Artikel bieten soll. Ob jedoch eine zweite Nummer dieser
Revue erscheint, ist noch lange nicht ausgemacht.
Die Revue de deur mondes (13, Sept. 1834) enthält unter dem Titel:
I.c-s avoux ä'un poste cle 1a nouvolle ^ULwiignv ein Fragment aus den Lebens¬
erinnerungen dieses Dichters, die, wie uns in einer Anmerkung mitgetheilt ist,
In der nächsten Zeit bei Hoffmann und Campe erscheinen und den ersten Band
der „Vermischten Schriften" ausmachen sollen. Der Herausgeber macht über
die Stellen, die er nicht mittheilt, die Bemerkung, daß Heine seinem Versprechen,
seine Zeitgenossen nicht zu schwarz zu malen, keineswegs treu geblieben ist, was
sich übrigens erwarten ließ.
Zierlich genug ist auch dieses kleine Fragment wieder geschrieben, aber
wenigstens auf uns macht jene neue Schrift Heines einen immer widerwärtigern
Eindruck. Es sind nicht allein die Zoten, die einige Mal sehr stark auftreten,
was uns anstößig erscheint, sondern vor allem die Koketterie mit seiner eignen
Schwäche. Heine hat dafür gesorgt, das deutsche Publicum von den Fort¬
schritten seiner Krankheit regelmäßig in Kenntniß zu setzen, und sämmtliche
deutsche Touristen haben sich beeifert, ihm darin behilflich zu sein. Auch dies
Mal theilt er ein Bulletin aus, und zwar erfahren wir dies Mal mit einiger
Verwunderung, daß es nach der Aussage seiner Aerzte damit nicht so sehr viel
auf sich hat, nur daß es ihn ans Bette fesselt. Nun ist es zwar sehr viel
verständiger und schicklicher über seine Hilflosigkeit zu spötteln als darüber zu
jammern, aber es gehört doch eine eigne Freude am Häßlichen dazu, um
ohne Aufhören seinen guten Freunden seine Blößen aufzudecken^ Am wider¬
wärtigsten ist für uns die Art und Weise, wie er die Religion in diese Kranken¬
geschichte hineinmischt. Er vertheidigt sich in dem vorliegenden Aufsatz gegen
die Behauptung, die Gott weiß wer aufgestellt hat, als ob er jetzt ein pietistischer
Frömmler oder ein Katholik geworden sei. Im Gegentheil: wir glauben, daß jeder
echte Christ über die Art und Weise, wie er jetzt mit seinem lieben Gott umgeht,
viel mehr empört sein wird als über seine frühere Frivolität. Denn den lie¬
ben Gott in feinen eignen Schmuz herabzuziehen und ihn zu behandeln wie
einen Bruder in der Liederlichkeit, ist gewiß noch viel frecher und ruchloser als
ihn zu leugnen oder ihn zu lästern.
Wir glauben nicht, daß Heines Religiosität sich wesentlich geant'ert hät^
Jene Mischung von französischer Voltairischer Aufklärung und deutscher Ro¬
mantik, die sich bereits in seinen ersten Jugendgedichten zeigt und über die er
selbst ein so klares Bewußtsein hat, ist ihm auch im Alter geblieben. Heute
findet Heine eine poetische Seite dieses oder jenes Gottes heraus, gleichviel ob
er aus Judäa oder aus Griechenland stammt, dann betet er ihn an, oder er
spricht sich gnädig über ihn aus, je nach Gutbefinden. Den andern Tag fallen
ihm die lächerlichen Seiten der gewöhnlichen Vorstellungen ein, dann lästert er
oder leugnet seine Existenz. Heine hat, den Franzosen allerlei schöne Sachen
über die Philosophie erzählt, auch über Kant, Fichte u. s. w., aber von dem
Gott, den diese gelehrt, hat er nie einen Begriff gehabt; denn es war ein
Gott des Gewissens. Heine verstand sehr wohl die Seiten des Göttlichen,
welche die Phantasie oder das Gemüth ausschließt, denn er ist nach beiden
Richtungen hin eine hochbegabte Natur, aber was Gewissen heißt, davon hat.
er nie eine Ahnung gehabt. Darum ist ihm unter allen Religionsformen am
meisten der Protestantismus verhaßt gewesen, obgleich er zufällig in diese Kirche
eingeführt wurde; und er hat bald den heidnischen Göttern, bald den katho¬
lischen Heiligen Altäre aufgerichtet. Die neuerdings hervortretende Vorliebe
für den Katholicismus nimmt uns daher nicht Wunder. Wohlverstanden, für
den Katholicismus aus den Zeiten Leos X. „Auch ich war in meiner Jugend,"
schreibt er in dem gegenwärtigen Bericht, „von der geheimen und unendlichen
Süßigkeit dieser spiritualistischen Poesie berauscht, und das Entzücken des Todes,
das darin waltet, erregte in mir zuweilen einen Freudenschauer. Auch ich be¬
geisterte mich damals für die unbefleckte Königin des Himmels und beschrieb
in koketten Versen die Legenden ihrer grenzenlosen Barmherzigkeit u. s. w."
Seine Bestimmung, setzt er hinzu, wäre eigentlich gewesen, ein galanter Ubbo
zu sein; und wir geben ihm darin vollkommen Recht, und haben auch nichts
dagegen, wenn er mit großem Behagen die komische Situation ausmalt, wie
er als Papst dem vor ihm knienden Gläubigen seinen Segen ertheilt haben
würde. Es hat unter den Päpsten so manchen gegeben, der Heines Geistes¬
verwandter war.
Wenn eS aber in seinem Gemüthe einmal Ernst wurde, was freilich selten
geschah, so war es nicht das griechische Heidenthum, auch nicht der Katholicis¬
mus, der seine Seile ausfüllte, sondern die Reminiscenzen der alten jüdischen
Religion, in der er erzogen war, und dieses einzige positive Gefühl, so sehr er
sich seiner durch Hohn und Spott zu erwehren sucht, ist für uns doch die
menschlich achtungswertheste Seite in seinem Wesen. In den Spielen seiner
Phantasie konnte er sich ganz mit Recht einen Romantiker nennen, der die
Kapuze von sich geworfen (un ron antike äLtroauv), aber im Innersten seines
Wesens ist er nie etwas Andres gewesen als Jude, und das rechnen wir ihm
zur Ehre an.
Sehr richtig schildert er auch dies Mal sein Verhältniß zu der deutschen
Philosophie. „Auch ich gehörte zu jenen frivolen Starkgeistem, die in der
Mehrzahl den liberalen großen Herren glichen, welche vor der Revolution
die Langeweile ihres eintönigen Hoflebens durch den Reiz neuer subversiver
Ideen zu unterbrechen suchten. Aber als ich bemerkte, daß diese Fragen auch
in den Kneipen discutirt wurden, wo an die Stelle der Armleuchter und
Wachslichter das Talglicht trat, als der Atheismus anfing, nach Talg, Schnaps
und Tabak zu riechen, da wurden meine Augen klar und ich entsagte dem
Atheismus."
Diese Darstellung ist vollkommen richtig, wohlgemerkt, wenn man den Ver¬
gleich zwischen Heine und den liberalen Seigneurs. nicht über diesen einen
bestimmten Punkt ausdehnt. Denn sonst hat Heine vom Aristokraten und vom
vornehmen Herren nicht das Geringste; er ist ein feiner Kopf, voll der glän¬
zendsten Gaben der Phantasie, aber er ist durch und durch Parvenu, der
Mann aus niederen Ständen, der im Handschuh und gezierten Wesen und
dergleichen den jungen Herrn nachäfft, die er früher im Laden bedient.. Der vor¬
nehme Mann wird nicht aufhören, es zu sein, auch in der schlechtesten Klei¬
dung, im schlechtesten Hause, denn vornehm ist, wer fest und sicher auf sich
selbst ruht.
Höchst ergötzlich ist auch die Art und Weise, wie er seine aristokratische
Gesinnung dem Schneider Weitling gegenüber entfaltet. Dieser erzürnt ihn
zunächst dadurch, daß er ihn als seinesgleichen behandelt; dann aber setzt er
ihn durch das Geständniß außer Fassung, er habe früher im Gefängniß gesessen
und zwar an Ketten. Da geht der seine Mann in sich und kommt zu der Er¬
kenntniß, daß man mit solchen Halunken nicht umgehen dürfe. Wohlgefällig
bemerkt er dazu, daß doch ein seltsamer Widerspruch in seinem Wesen wäre.
Er habe doch die Ketten von den Händen des Schneider Johann Bockhold und die
Zangen, mit denen man ihn gezwickt, geküßt und als Reliquien verehrt; aber
mit dem lebendigen Schneider, der an Ketten gelegen, habe er nichts zu thun
haben wollen. Dieser Widerspruch mag noch hingehen, denn ein Romantiker
hat seine Einbildungskraft anderwärts als seinen Verstand und sein Herz; aber
ein anderer viel näher liegender Widerspruch ist ihm entgangen. Eine Seite
vorher erzählt er von einem preußischen Regierungsrath, der auch das Schick¬
sal Weitlings getheilt, und hier stellt sich keine Spur von jenem aristokratischen
Widerwillen ein. Also ist es nicht der politische Verbrecher, der seine Phan¬
tasie unangenehm berührt, sondern der Schneider. Dagegen wäre an sich
nichts zu sagen, wenn er es offen auöspräche; aber für den Leser, dessen
Phantasie beim Gefängniß zunächst an Diebstahl, Mord und Raub denkt,
vielleicht auch für seine eigne Phantasie, stellt er es so dar, als habe die
Ideenassociation mit Diebstahl u. dergl., ihn abgeschreckt, und das ist eine von
den Geisteswendungen, die uns Heines Erscheinung trotz aller Achtung vor
seinem Talent gradezu unerträglich machen.
Abgesehen von diesen unangenehmen Stellen sind wieder, wie sich bei
Heine erwarten läßt^ einzelne allerliebste Einfälle darin. Am besten hat uns
die Erzählung von dem französischen Küster gefallen, der ihm die Legende vom
heiligen Dionysius erzählt. Der böse Heidenkönig hatte ihn enthaupten lassen,
was ihn aber keineswegs abhielt, mit dem Kopf in der Hand von Paris nach
Saint-Denis zu laufen, um sich dort begraben zu lassen und dem Ort seinen
Namen zu geben. „Wenn man die Entfernung bedenkt, so muß man sich ver¬
wundern, daß jemand ohne Kopf soweit habe zu Fuß gehen können; indessen
in solchen Fällen it r>',y s. «Mo 16 prowisr eas cM vouee." —
In demselben Heft ist ein Artikel über die poetische Schule Shelleys in
England, von Arthur Dudley, bei Gelegenheit der Besprechung einiger
jüngeren Dichter, Mathew Arnold, Alexander Smith und Julian Falte. Wir
stimmen vollständig mit der Ansicht überein, daß der Einfluß Shelleys und
der deutschen Dichter von ähnlicher Richtung sich in der jungenglischen Poesie
immer weiter ausdehnt, wir haben aber darüber die entgegengesetzte Empfindung,
wir halten es für ein Unglück. Ein großes Talent wird Shelley niemand
absprechen; aber kein Dichter war so wenig englisch, so entgegengesetzt dem ge¬
sunden Menschenverstand und dem natürlichen Gefühl des Volks. Die An¬
sichten, die sein Verehrer über andere Dichter entwickelt, namentlich über Byron,
den er tief unter Shelley stellt, sind wahrhaft erstaunlich. — Ein anderer
Artikel von Gustave Planche über Prosper M6rim(>e entwickelt logisch und
correct, aber in der bekannten trocknen und monotonen Manier dieses Kritikers,
die nachgrade etwas sehr Ermüdendes hat, die großen Vorzüge dieses im Ver¬
hältniß zu seiner Zeit noch immer nicht genug gewürdigten Dichters, namentlich
seine Naturwahrheit und künstlerische Mäßigung auch bei extravaganten Stoffen.
Nebenbei müssen wir eine Bemerkung machen, die sich zum Theil auf den
vorstehenden Bericht unsres Korrespondenten über die Pariser Journalisten
bezieht. Was die localen Berühmtheiten betrifft, von denen er uns nächstens
ein ausführlicheres Bild zu geben versprochen hat, so haben wir darüber natürlich
kein Urtheil. Wenn er aber seine Verdammung über die wirklichen Kritiker Frank¬
reichs ausdehnen, und diese unter ihre Kollegen in Deutschland und unter ihre poe¬
tischen Landsleute stellen wollte, so könnten wir dieser Ansicht nicht beipflichten.
Wir finden in der Revue de deur mondes unter den Kritikern, namentlich unter
denen, die sich mit der englischen Poesie beschäftigen, einen ganz entschiedenen
Fortschritt zum Bessern, ein ernstes und energisches Bestreben, Principien fest¬
zustellen und dabei ein gebildetes, nach allen Seiten gerechtes Urtheil zu wagen.
Die heutige französische Prosa ist sehr viel besser, als die Prosa, die vor zwanzig
Jahren geschrieben wurde, sie ist männlicher, gesinnungsvoller und gebildeter
Von der Poesie kann man das nicht behupten, namentlich dürste unter den
Schöpfungen der letzten zehn Jahre keine einzige sein, der man ein längeres als
ephemeres Dasein versprechen könnte. Ein solches Uebergewicht der Prosa über
die Poesie ist zwar nicht unter allen Umständen normal, sür eine Uebergangszeit
aber können wir es uns wohl gefallen lassen, denn es kommt setzt vor allen
Dingen darauf an, aus der chaotischen Ideenverwirrung des Jahrhunderts
wieder jenes allgemeingiltige Urtheil herzustellen, welches den gesunden Menschen¬
verstand der Nation ausdrückt, und darauf hinzuwirken, möchte die Prosa
geeigneter sein als die Poesie. —
Schon kam von allen Seiten die frohe Botschaft der Eroberung von Se-
bastopol. Sie scheint zwar noch verfrüht zu sein, aber die Umstände, über die
Dir genaue Nachricht haben, sind doch von der Art, daß sich an dem schnellen
und entscheidenden Erfolg kaum'mehr zweifeln läßt. Es dürfte dies das wich¬
tigste Ereigniß sein, welches in Europa seit dem Jahre eingetreten ist,
denn die Revolutionen, die dazwischenliegen, hatten nur eine ephemere Wir¬
kung, während die offenbar gewordene Hohlheit der russischen Macht und die
factisch festgestellte Verbrüderung zwischen Engländern und Franzosen als ein
welthistorisches Ereignis) von ganz unberechenbarer Tragweite aufzufassen sind.
Unzweifelhaft wird es zunächst auch auf die Stellung der übrigen Mächte sei¬
nen Einfluß haben.
Daß unter diesen Umständen das Bündniß zwischen Oestreich und Preu¬
ßen in der alten Form als nicht mehr giltig betrachtet wird, ist an sich noch
nicht geeignet, die günstige Lage der deutschen Mächte zu verderben. Es
kommt daraus an, einen neuen Vertrag zu schließen, der günstiger und zweck¬
mäßiger ist als der alte. Oestreich, Preußen und Deutschland können an
dem Kampfe gegen Nußland in einer Weise theilnehmen, die für den Aus¬
gang des Krieges entscheidend ist. Es ist billig, daß sie sich dabei überlegen,
auf was für einen Gewinn sie bei diesem großen Einsatz zu rechnen haben.
Es liegt im Interesse Oestreichs, die Donaumündungeu zu beherrschen,
es liegt im Interesse Preußens, eine feste Position an der Ost- und Nordsee
zu haben. Das eine kann nur durch den Besitz der Donaufürstent'hümer, das
andere nur durch den Besitz von Schleswig-Holstein geschehen. Es liegt ferner
im Interesse des gesammten Deutschlands, daß Oestreich und Preußen diese
Eroberungen machen. Denn abgesehen von dem Interesse, das wir für unsre
deutschen Stammesverwandtcn in Schleswig-Holstein haben, würde d'er Besitz
von Kiel in jeder andern Hand als in der Preußens für die Entwicklung
Deutschlands ein völlig unnützer sein.
Die Türkei und Dänemark, die zu beeinträchtigen von Seiten der West¬
mächte jetzt kein Grund ist, können, wenn man einen glücklichen Krieg gegen
Rußland fuhrt, entschädigt werden. Es liegt aber im Interesse der West¬
mächte, daß Rußland im schwarzen Meere wie in der Ostsee eine selbstständige
Macht entgegengestellt werde, und das kann weder die Türkei noch Dänemark
leisten.
Wenn also heute noch Oestreich und Preußen ihre alte unfruchtbare
Eifersucht beseitigen und frei von allen romantischen Sympathien und Anti¬
pathien den Westmächten jene Bedingungen stellen, so ist die Möglichkeit vor¬
handen, sie zu erreichen. Denn wenn sie auf ernstliche, bleibende Erfolge
gegen Rußland denken, so können sie die Mitwirkung Deutschlands nicht ent¬
behren; und im gegenwärtigen Augenblick ist wol der Enthusiasmus der gan¬
zen Nation so groß geworden, daß die Regierungen an eine friedliche Bei¬
legung nicht denken können.
Indeß allzulange dürfte die Situation doch nicht dauern, und namentlich
wenn die Allianz der Westmächte mit Schweden früher abgeschlossen wird, als
die mit Preußen, so dürfte an eine solche Bedingung nicht mehr gedacht werden.
Möchte man daher doch bald zu der Einsicht kommen, daß es in kriegerischen
Zeiten die unklugste Politik ist, zu klug sein zu wollen. —
Im Verlage von Hermann Geibel in Pesth erscheint
nächstens ein'Werk, auf welches wir unsre Leser von vornherein aufmerksam machen
wollen: Skizzen ans dem Volksleben in Ungarn. Pracht-Album in Folio mit
fünfundzwanzig Aquarellbildcrn., — Der Zweck desselben ist, die Gebräuche und
Eigenthümlichkeiten im Volksleben Ungarns, die bei der immer größeren Erleichterung
der Communicationsmittel vielleicht sehr bald der nivellirenden Cultur weichen
müssen, in anschaulichen Bildern der Nachwelt aufzubewahren. Der Inhalt der
Bilder ist folgender: eine Bauernhochzeit; malerische Trachten der Hauptnationali¬
täten Ungars; die Haide im Mondlicht; die frühere Dorfgerichtsbarkeit; der Erntc-
zug; die Tretplätze Unterungarns; das Winzerfest zu Ofen; die Spinnstube; der
Roßhirt im Einsangen wilder Pferde; der Nindviehhirt mit Herde und Hunden;
der Büffelhirt; der Schafhirt; der Schweinhirt im Bakonywalde; der Gänsehändler;
die Theißfischerei; die Trappenjagd zu Wagen; die Hasenhetze; der Pcsthcr Mc-
lonenmarkt; die Garküche an der Donau; der Wassermann zu Pesth; der Oclbauer
Obernngarns; der Drahtbinder aus einer Schneelandschaft; walachische Fuhrleute,
und eine wandernde Zigeunerfamilie. — Das Werk wird auf das glänzendste aus-
gestattet. Die Aquarcllbilder werden in der Anstalt von Ärnz Ä Comp. in Düssel¬
dorf ausgeführt. Der Preis ist auf 18 Thlr. festgesetzt.—
Von den „kleinen Schriften und Studien zur Kunstgeschichte" von Franz Kug-
ler ist soeben die 1^. u. 1i. Lieferung erschienen. Stuttgart, Ebner u. seubert.
— Mit der nächstfolgenden Lieferung wird das reichhaltige und für die Kenntniß der
Kunstgeschichte höchst werthvolle Werk geschlossen sein. Der vorliegende Band be¬
schäftigt sich vorzugsweise mit Werken neuerer Künstler. Der Verfasser bemerkt in
der Vorrede mit Recht, daß die Urtheile aus den dreißiger Jahren jetzt zum Theil
den Eindruck übergroßer Milde machen werden. Allein wir mochten den Grund
nicht ausschließlich in dem Umstand suchen, daß die Stimmung des Publicums jetzt
bei weitem kritischer, bei weitem'spröder gegen den unmittelbaren Genuß geworden
ist; die Hauptsache scheint uns vielmehr zu sein, daß die Kunst selbst seit der Zeit
^einen ganz ungewöhnlichen Ausschwung gewonnen hat und daß wir jetzt sür das
Schöne und Bedeutende einen ganz andern Maßstab haben. Wenn das erste Auf¬
treten der Düsseldorfer Schule das deutsche Publicum in eine angenehme Aufregung
versetzte, so war diese ganz gerechtfertigt, denn es war ein ungemeiner Gewinn,
daß die deutschen Maler wieder einmal Sinn für Farbe, Stimmung und Natur-
leben zeigten. Man darf aber jetzt nnr eine Sammlung ausehen, die vorzugsweise
aus die berühmten Werke der damaligen Zeit begründet ist, z. B. die Sammlung
des Konsul Wagner in Berlin, oder auch die aus Schloß Bellevue, um sich zu
überzeugen, daß unsre Ideale und unsre Begriffe vom künstlerischen Stil jetzt ganz
andere geworden sind. Diese nachträgliche Kritik thut aber dem Recht der damaligen
Empfindung keinen Eintrag. — Es ist verständig, daß der Verfasser aus der ersten
Auflage seines Handbuches der Geschichte der Malerei den Schlußabschnitt über
die gegenwärtigen Verhältnisse der Kunst zum Leben wieder hat abdrucken lassen.
Sie ist noch immer von Interesse. Der bedeutendste Theil dieser Sammluug ist
die Charakteristik Schinkels; eine höchst vielseitige und gerechte Würdigung dieses
ausgezeichneten Mannes, dessen Verdienste man im gegenwärtigen Augenblick, wo
der Geschmack eine andre Richtung genommen hat, gar zu sehr herabzusetzen geneigt
ist. Nach dem Erscheinen der letzten Lieferung behalten wir uns vor, eine Gesammt-
übcrsicht des Werth und zugleich eine Würdigung der Verdienste, welche sich. Franz
Kugler um die' Kunstgeschichte überhaupt erworben hat, zu geben. —
Im Lauf der letzten Monate ist in Köln durch die Gemäldeausstellung auf
dem Gürzenich deu Kunstfreunden Gelegenheit gegeben, die Werke der altdeutschen
Kunst, welche im Anfange dieses Jahrhunderts eine so lebhafte Polemik hervor¬
riefen, in einer größern Masse zu übersehen. Sie ist theils aus den großen
Sammlungen reicher Privatleute, theils aus einigen Kirchen zusammengebracht.
Den Männern, welche in den ersten Decennien dieses Jahrhunderts ans die eigen¬
thümliche Blüte unsrer Kunst vor dem Beginn der hohem Knnsteiitwicklung durch
Dürer und Holden aufmerksam gemacht haben, wird Anerkennung und Dank nie
versagt werden können; denn sie haben uns ein wichtiges Moment unsrer Cultur-
eutwickluug offenbart. Wer das berühmte Bild vom Seitenaltar des Kölner Doms
auch nur aus Lithographien kennt, wird keinen Zweifel mehr darüber hegen, daß
bereits im und 1ü. Jahrhundert unsre Kunst eine Blüte zeigte, die der da¬
maligen italienischen nichts' nachgibt. Allein daß in der Anpreisung dieser neuen
Entdeckungen zu weit gegangen wurde, wird wol heutzutage ebensowenig in Abrede
gestellt werden. Wir wollen hier nicht weiter auf die Stoffe eingehen, die früher
zu sehr in den Vordergrund geschoben wurde»; denn solange die Kunst überhaupt
geblüht hat, siud diese christlichen Stoffe immer die leitenden gewesen, und daß
unsre alten Meister nicht zur Abwechslung neben der Jungfrau Maria auch eine
Venus, eine Leda nud Jo in aller Glut heidnischer Sinnlichkeit darstellten, kann
ihnen nur zum Ruhme gereiche». Wir werden wol alle jetzt über den Grundsatz
einig sei», daß der Stoff erst durch die Behandlung seinen wahren Inhalt erhält.
Vielleicht wird es uus bei keinem Gegenstand so klar, wie außerordentlich verschiedene
Momente im Christenthum enthalten sind, als bei der Anschauung der Kunstwerke.
Jedermann hat in der Dresdner Galerie die Madonnen von Rafael, Correggio und
Holbein zur unmittelbarsten Vergleichung an der Hand. Gewiß sind alle diese
Darstellungen eines göttlich-menschlichen Ideals bis zu einem gewissen Umfang-
christlich, und doch drückt jedes eine ganz verschiedene Stimmung aus. Bei
Correggio scheint Himmel und Erde über das fröhliche Wunder des Evangeliums
in eine ausgelassene Lustigkeit zu gerathen. Engel und Menschen tummeln sich
in bachantischem Entzücken über die frohe Botschaft durcheinander; die Natur
wetteifert mit diesem frohen Behagen der Sterblichen durch übermüthige lebendige
Farben und die Gottheit selbst schaut mit gemüthvoller Heiterkeit in das bunte
Leben hinein, das sie hervorgerufen hat. Aus den zugleich milden und strengen
Augen der Holbeinschen Madonna blickt uns der sittliche Ernst entgegen, den die
.Kirche dem Heidenthum gegenüberstellte. Von der Sixtinischen Madonna kann man
vielleicht ohne Uebertreibung sagen, daß hier in der That ein Wunder geschehen ist;
denn durch .die höchste Poesie ist dem Gemüth faßlich gemacht, was der Verstand
niemals begreifen wird. In diese» drei Bildern mochten wir die drei Richtungen
der Religion auf Phantasie, Gewissen und Gemüth am deutlichsten versinnlicht
finden. Anstatt mit zelotischcm Eifer die eine von diesen Offenbarungen einseitig
festzuhalten und alle andern als ketzerisch zu verschmähen, sollten wir uns lieber an
der Fülle erfreuen, welche die christliche Kunst nach allen Seiten hin hervorgerufen
hat. Und so ist uns auch in der altdeutschen, namentlich der rheinischen Schule,
die eigenthümliche künstlerische Offenbarung des Christenthums willkommen. Das
Göttliche, das in der kindliche» Unschuld, in der »aiveu Ergebung, in der Andacht
liegt, die vor dem Zweifel kommt, hat keine Schule mit so süßem Reiz ausgedrückt.
Aber wir wollen uns auch nicht ableugnen, daß grade in dieser Richtung die größte
Gefahr liegt, in Manier zu verfalle», und wie manierirt die ganze Schule war,
das sieht man recht.deutlich, wenn man eine gewisse Anzahl dieser Heiligenbilder
zusammen überschaut. Die stillvcrklärte Kindlichkeit, die uns aus dem Dombilde
so tief in die Seele geht, ist hier aus den meisten Gesichtern nur Maske und macht
einen'höchst unangenehmen Eindruck. Was die Schwache» der Technik betrifft, so
ist über die Thatsache kein Streit, aber es hat sich i» letzter Zeit eine neue ultra-
montanischc Schule aufgethan, die keinen Anstand nimmt, in dieser Schwäche einen
Vorzug zu finden, die von dem Grundsatz ausgeht, die Darstellung des Göttlichen
müsse so sehr als möglich von der des Menschliche» abweiche»; u»d da die Kunst
beseelte Wesen leider nicht anders vorstellen kann, so müsse wenigstens das Körperliche
soweit abgestreift werden als möglich. Magere Beine, verrenkte Glieder, fleisch- und
blutlose Gesichter u. se w. werden als die sichersten Kriterien des Göttlichen angenom¬
men, weil sie dem heidnischen Begriff der menschlichen Schönheit widersprechen. Die
Kritik hat natürlich mit dieser Theorie nichts zu thun, aber die Culturgeschichte der
Menschheit wird davon Act nehmen. — Uebrigens laden im Kölner Dom die ein¬
ander gegenüberstehende» alten und neuen Glasmalereien zu einer Vergleichung des
naiven und modcrnisirten Christenthums ein, auf die wir noch einmal zurückkommen
wollen, da dieses Wunderwerk der deutschen Nation in seinem gegenwärtigen Zu¬
stande zu mehr als einer Betrachtung Veranlassung gibt. —
— Indem wir eine neue Reihe von Flug¬
schriften anführen, die darauf berechnet siud, die Zeitungsleser über die vorliegen¬
de» Tagesfragen zu orientiren, müssen wir die Bemerkung vorausschicken, daß wir
unmöglich alle diese Broschüren so genau miteinander vergleichen können, um das
Verhältniß derselben zueinander unzweifelhaft zu constatiren. — Zunächst führen
wir an: Rußland, historisch und strategisch beleuchtet von einem deutscheu Officier.
Leipzig, Remmclinann. — Die Broschüre ist entschieden antirnssisch, tadelt aber die
bisherige Kriegführung der Westmächtc. „Allein trotz dieser Ausstellungen glauben
wir, daß die Gewalt der Ereignisse bald alle Demonstrationen verschlingen wird, die
man bereits im Kriege nach so langem erschlaffenden Frieden aus Feigheit oder mit
verwirrtem Blick gemacht. So geht es immer, wenn in einer großartigen- Zeit,
die zwar männliche, doch leicht zu fassende Entschlüsse erheischt, kleine Menschen auf
der Bühne stehen, und es kommt nnr darauf an zu warten, bis die Ereignisse den
Leuten dictiren, was sie machen sollen...... Nie war der Moment, Rußland
anzugreifen, so günstig wie jetzt, und vielleicht nie kehrt ein ähnlicher wieder......
Wohl kennen wir den Ausgang des jetzigen Kampfes nicht, aber eins glauben wir
zu wissen, daß Rußland durch sein bisheriges Verfahre» den Beginn einer neuen,
für Enropa und besonders Deutschland viel verheißende» Epoche beschleunigt hat,
und daß an dem Tage, wo Fürst Menschikoff Konstantinopel verließ, die russische
Macht am größten gewesen war." — Es kommt dem Verfasser vorzugsweise dar¬
aus an, das Vorurtheil der russischen^ Unwiderstehlichkeit aufzuheben, die sich vor¬
zugsweise aus den: Feldzug von 1812 herschreibt: Zu diesem Zweck gibt er eine
genaue und interessante Kritik dieses Feldzugs und sucht dabei die begangenen
Fehler nachzuweisen. -— An diese Broschüre schließt sich die zweite an: Die See¬
macht Englands und Frankreichs nulitairisch-statistisch. Nebst Unterscheidung
der in den Kriegsmarinen beider Staaten gebräuchlichen Schiffe. Bearbeitet von
G. Zweytinger, Schiffsbaumcister in Colberg. Leipzig, Rcmmeimann. — Die
Darstellung ist durchaus sachlich und gibt sür das Verständniß der Zeitungen be¬
queme und dankenswerthe Aufklärungen. — Ferner: Spaniens Verfassnwgs-
kampf, seine Parteien und hervorragendste» Staatsmänner. Zur Aufklärung.
Leipzig, Rcmmelmann. — Die Zeit bis zum Ministerium Bravo Murillo ist uur
ganz summarisch behandelt. Dagegen die Neactionsvcrsuche seit dem französischen
Staatsstreich und die daraus hervorgerufene Revolution ausführlich. Der Anfang
gibt die Charakteristik der vier Generale, welche .jetzig ans die Entscheidung der
spanischen Angelegenheiten den meisten Einfluß ausüben, und einige statistische No¬
tizen. — Etwas ausführlicher müssen wir uns mit einer andern Broschüre be-
schäftigen: Der Bischofskampf am Rhein. Zu seiner politischen und natio¬
nalen Würdigung, Frankfurt a. M,, Bronncr. —- Zwar scheint uns der Verfasser
viel zu weit zu gehen, wenn er die Bestrebungen der römischen Curie, sich die
Weltherrschaft wiederzugewinnen, noch in derjenigen Konsequenz und Ausdauer zu
erkennen meint, wie sie im 16. und 17. Jahrhundert stattfand. Allein beachtens¬
wert!) bleibt die Erscheinung immer, daß grade im gegenwärtigen Augenblick, wo
die Aufmerksamkeit des Publicums nach einer andern Seite hin beschäftigt ist, der
Ultramontanismus wieder eine ganz ungewöhnliche Rührigkeit entwickelt. Der Ver¬
fasser kennt den basischen Kirchenstreit, um den es sich hier vorzugsweise handelt,
sehr genau, und zerlegt ihn in seine einzelnen Momente. Er klagt weniger das
Papstthum, als die deutschen Bischöfe an, die zum Theil selbst wider den Willen
des Papstes die Staatsgewalt durch beständige Vexationen in Aufregung erhalten.
„Nach solchen Erfahrungen kann der Staat sich fernerhin nicht mehr auf Verhand¬
lung und Verkehr mit dem Episcopat einlassen, am wenigsten, wenn er seine Aufgabe
nicht in einem temporären und localen Sondercompromiß erfüllt sieht, sondern die
nationale und allgemeine conservative Bedeutung des speciellen Conflicts fortwäh¬
rend im Auge hält. ..... Baden steht am Abschluß eines Concordats mit Rom.
Auch diese Feststellungen werden noch harte Kämpfe kosten. Und ist damit der
Streit wahrhaft geendet? Vergessen wir es nicht: Die Bischöfe haben sich von vorn¬
herein mit dieser Erklärung auch gegen Rom in Opposition gesetzt. Was Baden
erringt, kann wol Baden für lange Jahre schützen. Aber im übrigen Deutschland
wird das Zerwürfniß immer von neuem aufblitzen, wenn Deutschland den Bischofs¬
kampf am Rhein aus den Augen verliert und dem Vorkämpfer gegen die hierar¬
chische Bedrohung unsres nationalen Lebens seine nationale Unterstützung nicht mit
voller Hingebung gewährt." — Wir müssen den Verfasser vor allem deshalb lo¬
ben, daß er die Frage wesentlich vom Gesichtspunkt des Staats beleuchtet. So sehr
wir uns davor hüten müssen, durch religiöse Gleichgiltigkeit den Uebergriffen des
Ultramontanismus in die Hände zu arbeiten, ebenso entschieden müssen wir es
vermeiden, uns durch Eingehen in die Sache wieder in jene confessionellen Händel
verwickeln zu lassen, die Deutschlands beste Lebenskraft aufgezehrt haben. Es ist
nicht der Katholicismus, deu wir bekämpfen, sondern der Ultramontanismus. Wir
hoffe», daß unsre christlichen Brüder, die der katholischen Confession angehören, in
natürlicher Entwicklung ihres Glaubenssystcms sich uns allmälig nähern werden;
daß es ihnen gelingen wird, aus eigner Kraft heraus die Krebsschäden, die noch,
mit ihrer Kirchenverfassung verbunden sind, auszumerzen. Allein wir wollen uns
in diesen Proceß nicht einmischen, da wir nur das Gegentheil unsres Zweckes er¬
reichen würden, nämlich ein erneutes Zusammenraffen der bedrohten Kirche gegen
den gemeinsamen Feind. Dagegen greift der Ultramontanismus entschieden in das
politische Gebiet über; er hintertreibt die nationale Entwicklung, er macht die
Souverainetät der Staaten unmöglich. Gegen ihn kann aber nicht von Seiten der
evangelischen Kirche gewirkt werden, sondern mir von Seiten des Staats. Nicht
blos der evangelische oder paritätische Staat hat Ursache, gegen diese «»patriotische
Tendenz, die uns in die Hände des Auslandes geben mochte, aus der Hut zu sein,
sonder» ebenso der katholische Staat. Auch Oestreich strebt z. B. nach einer
nationalen und staatlichen Selbstständigkeit; auch seinen Absichten wirkt der Ultra-
montanismus feindlich entgegen. Wir wollen also nicht blind in die Schlingen
unsrer Feinde rennen, die den kirchlichen Gegensatz gern mit dem politischen iden-
tificiren möchten, um die vorwiegend katholischen Staaten vollständig von Rom
abhängig zu machen. Oestreich hat in den auswärtigen Angelegenheiten angefan¬
gen, freilich zunächst nur im eignen Interesse, was wir ganz in der Ordnung
finden, eine den Wünschen und Hoffnungen des deutschen Volks entsprechende Po¬
litik einzuschlagen. Mochte es nun zu der Einsicht kommen, daß diese Politik nur
dann eine Aussicht aus Erfolg haben wird, wenn es auch in anderer Beziehung
den Bedürfnissen des Volks sein Ohr nicht verschließt. Wenn Oestreich sich zu¬
nächst mit Preußen und dann mit den übrigen Bundesstaaten dahin einigte,
durch ein Bundesgesetz, ganz abgesehen von allen Concordatcn, die staatlichen Ver¬
hältnisse der katholischen Kirche für Deutschland zu regeln, und die Ansprüche der
Curie auf dasjenige Maß zurückzuführen, welches ihnen nach der Geschichte und der
veränderten Lage der Dinge zukommt, so würde das seine Stellung in Deutschland
mehr befestigen, als selbst seine Haltung in der orientalischen Frage. Möchten
überhaupt die beiden deutschen Großmächte einsehen, daß ihre sehr berechtigte und
nothwendige Rivalität nur dann einen Sinn hat, wenn sie wetteifernd für das
wahre Wohl Deutschlands sorgen, nicht aber, wenn sie durch kleinliche Intriguen
einander "entgegenwirken. Es würde sich daun sehr bald ergeben, daß ihre we¬
sentlichen Interessen nicht so sehr auseinandcrlaufen. als es den Anschein hat, und
daß sie in dem Wohje des gesammten Deutschlands ihren Brennpunkt finden. Die
Hoffnungen auf ein einiges Deutschland würden dann aufhören ein bloßer Traum
zu fein. —
Soeben erscheint eine neue Broschüre, die wir hier gleichfalls anzeigen:
Die Armeen der kriegführenden Mächte und ihre neueste Organisa¬
tion in militärisch - statistischer Zusammenstellung. Von einem deutschen Officier.
Leipzig, Rcmmclmann. — Wir bemerken, daß außer denjenigen Mächten, die
wirklich im Kriege begriffen sind, Rußland, Türkei, England und Frankreich, auch
die folgenden in dieser Broschüre berücksichtigt find: Oestreich, Preußen, der
deutsche Bund, Schweden, Dänemark, Belgien, Niederlande, Sardinien und Grie¬
chenland. Die Znsannncnstellnng ist für Zeitungsleser sehr bequem und brauchbar
eingerichtet.
— Was ist Lebenskraft? Versuch einer Autwort auf diese
Frage von C. A. Werther. Dessau, Katz. — Zur Erklärung der Phänomene, in
welchen der Unterschied zwischen der belebten und unbelebten Natur hervortritt, hatte
man in früheren Zeiten eine von den Gesetzen der Physik und Chemie ganz un¬
abhängige Kraft, die Lebenskraft angenommen, sowie man den Inbegriff der geistigen
Thätigkeit des Menschen, um sie von den untergeordneten Functionen des Thier¬
lebens zu unterscheiden, Seele nannte. Nachdem nun in neuerer Zeit die Natur-
wissenschaft überall das ganz richtige Princip aufgestellt und festgehalten hat, daß
in den Gesetzen der Natur Einheit herrschen müsse, hat sich die sogenannte ma¬
terialistische Schule aufgethan, welche beide Begriffe unbedingt verwirft und die
Gesetze des höhern Lebens, des geistigen wie des animalischen, auf die gewöhnlichen
Gesetze der Physik, der Chemie und der Mechanik zurückzuführen sich bemüht. Der
Umstand, daß aus den bisher beobachteten Phänomenen eine solche Reduction der
Kräfte noch nicht hat durchgeführt werden können, würde an sich diese Hypothese
noch nicht widerlegen, doch werden die Vertheidiger der Lebenskraft immer die
Beobachtung für sich anführen können, daß selbst in den chemischen Processen or¬
ganischer Körper, solange das Leben dauert, ganz andere chemische Gesetze walten,
als in der anorganischen Natur, und daß erst mit dem Eintreten des Todes die
gemeine Chemie in ihre Rechte eintritt. — Die Materialisten gehen von dem
Grundsatz aus, daß eine-Kraft überhaupt nicht für sich denkbar ist, sondern nur
als Eigenschaft von Dingen; daß es z. B. keine Anziehungskraft für sich gibt,
sondern nur insofern sie von bestimmten Körpern ausgeübt wird. Den Inbegriff
dieser Dinge nennen sie Materie, und dieser Materie sammt den ihr inwohnenden
Kräften legen sie ausschließlich das Prädicat des Seins, des Werdens u. s. w. bei;
Prädicate, die man früher nur in dem individuellen Leben suchte. — Es ist uicht
zu verkennen, daß sich hier Abstraktion an Abstraction reibt. Solange der Einfluß
der Theologie auf die Naturwissenschaft fortdauerte, glaubte man eigentlich nnr an
die Existenz des Geistigen. Die Materie behandelte man als etwas Gleichgiltiges,
Werthloses und Richtiges. Das Leben war ein Reich des Wunders; die Stoffe
nnr ein Spielraum, in welchem sich zufällig nur der Geist bethätigte, da er ebenso¬
gut auch einen andern hätte wählen können. — Diese Wnndertheorie würde freilich
jede Naturwissenschaft unnöthig machen, aber die Materialisten vergessen dabei, daß
ihr eignes Grundprincip, die Materie, etwas ebenso Abstraktes und Bedeutungsloses
ist, als die entgegengesetzte Abstraction der Kraft oder des Lebens. — Diese dop¬
pelte Einseitigkeit hat der Verfasser des vorliegenden Büchleins richtig durchschaut,
aber er versucht an ihre Stelle eine neue Theorie zu setzen, die nicht viel haltbarer
sein dürfte. Da man die Existenz verschiedenartiger Kräfte, z. B. der mechanischen,
der chemischen, der elektrischen u. f. w. zugibt, warum sollte man daneben nicht
auch eine Lebenskraft annehmen, die allerdings den Gesetzen jener nicht widersprechen
dürste, die aber noch ganz andere Seiten der Natur entwickeln könnte? — Was
man nun aber unter Elektricität, Schwere u. tgi. versteht, ist weiter nichts als der
Inbegriff verschiedener gleichartiger Erscheinungen, die man vorläufig als eine Ein¬
heit bestehen läßt, solange man nicht weitere Anknüpfungen oder Unterschiede ge¬
sunden hat. So wissen wir z. B. schon jetzt, daß die Erscheinungen der Elektri¬
cität und des Magnetismus zusammengehören. Ueber die Kraft, welche beiden zu
Grunde liegt, ist dadurch freilich noch, nichts ausgemacht, und w.cum die Natur¬
wissenschaft keine andere Aufgabe hätte, als Räthsel zu lösen, so würde ein solches
Resultat freilich sehr betrübend sei»; allein die echte Naturwissenschaft begnügt sich
zunächst auch immer damit, die Grenze festzustellen, wo ihr Wissen aufhört. Sie
weiß, daß die elektrischen und magnetischen Erscheinungen zusammengehören, und
kann den Beweis jeden Augenblick durch ein argumvittui» -ni l!<imm«in führen: wenn
man sie aber fragt, warum sie zusammengehören, so wird sie sich bescheiden müssen
zu erklären, sie wisse es nicht. — Und so wird es anch mit der organischen Chemie,
mit der ganzen Physiologie der Fall sein. Wir wissen, daß bei lebendigen Wesen
anbete chemische Gesetze gelten, als in der anorganischen Natur und wir können
diese Gesetze wenigstens bis zu einer gewissen Grenze constatiren, Mein den Grund
davon wissen wir nicht anzugeben, und es ist am besten, wenn wir das offeiv sagen.
Wenn wir ihn statt dessen aus der Lebenskraft erklären, so kommen wir damit um
keinen Schritt weiter und gerathen noch in Gefahr, durch eine willkürliche Ab¬
straktion unsre Beobachtung zu irren. So hat namentlich in neuester Zeit die
Physiologie über die Organe unsrer Sinne und über die Organe der Bewegung
die interessantesten Entdeckungen gemacht, ohne doch dem tiefsten Räthsel des Lebens
damit um einen Schritt näher gekommen zu sein. Denn wenn wir auch den Weg
des Lichts durch unser Auge bis in die kleinsten Nervcuvcrzweigungeu verfolgen,
so bleibt doch der Punkt, in dem es zum Bewußtsein wird, vorläufig ein völlig
unbegreiflicher. So haben wir über die physischen Mittel, deren sich unser Wille
bedient, um den Körper zu bewegen, die feinsten Beobachtungen gemacht; aber wie
der Wille überhaupt dazu kommt, sich zu äußern, darüber wissen wir durchaus nicht
mehr, als mau vor zwei Jahrtausenden wußte. Nur eins ist jetzt sicher festgestellt:
auch diese Erscheinungen müssen einem bestimmten Gesetze folgen, welches ans dem
Sirius. so gut gelten .muß wie aus der Erde. Dem menschlichen Stolz würde es
freilich weit mehr schmeicheln, wenn wir » pnoii sagen könnten: ans diese Weise
muß es zusammenhängen. Und die Speculation hat seit zwei Jahrtausenden auch
die schönsten Dinge darüber zu Tage gefördert. Allein sie hat nicht das Geringste
zu erklären vermocht und so wird es wol am zweckmäßigsten sein, unsre Unwissenheit
zu bekennen. — Wir wollen nnr ans ein bestimmtes Beispiel hindeuten, wo die
Naturwissenschaft völlig rathlos dasteht. Die Geologie ist soweit vorgeschritten, daß
wir mit apodiktischer Gewißheit eine Periode der Erde annehmen müssen, wo ein
organisches Leben in'unsrem Sinne nicht möglich war, während jetzt die Erde mit
organischem Leben überfüllt ist. Es muß also einmal einen Punkt gegeben haben,
wo Organisches ans dem Unorganischen entstand; und doch zeigt uus unsre heutige
Naturwissenschaft uicht die geringste Möglichkeit, für dieses Phänomen auch nur
eine Analogie zu finden. Nun werden wir wol annehmen müssen, daß die Gesetze
als solche damals die nämlichen gewesen sein müssen wie heute, da es im Natur-
leben keine Unterbrechung geben kann; daß aber die Combinationen, in denen diese
Gesetze zur Erscheinung kommen, namentlich in Beziehung ans die productive Kraft,
damals andere waren als heute. Soweit können und müssen wir gehen, aber jeder
Schritt weiter bringt uns in das Reich des Unsinns. — Nun ist der menschliche
Geist unermüdet beschäftigt, sich mit dem, was er gewonnen hat, unzufrieden zu
fühlen, und das, was er entbehren muß, als das allein schätzenswerthe zu betrachte».
Und so hat man denn nach dem Vorbilde des Faust die Naturwissenschaft leiden¬
schaftlich gelästert, ja sie wol als etwas ganz Überflüssiges erklärt, da man über
den Grund des Lebens ja doch nichts wissen könne. Wir sind vielmehr der Ansicht,
daß es schon ein großer Gewinn ist, wenn man die Natur zum Sprechen und zum
Dienen bringen kann. Ein großer Theil der Naturkräfte gehorcht unsrem Gebot»
obgleich in ihr inneres Wesen noch niemand geschaut hat. Vielleicht wird es der
^Menschheit noch einmal gelingen. Wenn "das aber auch nicht der Fall sein sollte,
so glauben wir, daß die Menschheit sich schon darum sehr glücklich preisen kann,
weil sie wenigstens weiß, was sie nicht weiß; und das ist zwar nicht, wie Sokrates
meint, das letzte Resultat, aber doch der erste Schritt zur Weisheit. —
Karl der Zweite vou England und sein Kanzler. Historisch-dramati¬
sches Gedicht in fünf Auszügen von Sigismund Wallace. Hamburg, Jowien.
— Der Dichter hat sich bemüht/uns die Zeit, die durch Macaulay historisch so
lebhaft versinnlicht wird, in poetischem Gewande vorzuführen. Wenn schon die Aus¬
gabe sehr mißlich ist, da die kleinlichen politischen Intriguen jenes Hofes eine ernste
dramatische Sammlung und Spannung nicht zulassen, so ist die Ausführung keines¬
wegs geeignet, diese Schwierigkeiten zu überwinden; sie ist breit, die Auswahl der
Umstände, die hervorgehoben werden, ist ungeschickt und selbst die Form hat etwas
Hölzernes, namentlich wegen der sehr unzweckmäßigen Reime, die der Dichter dnrch
den größern Theil seines Dramas angewendet hat. Wenn das Stück für das
Theater brauchbar sein soll, so muß es durchaus umgearbeitet und bis auf die
Hälfte verkürzt werden. —
Jesus-Hymnen. Sammlung altkirchlicher lateinischer Gesänge. Heraus¬
gegeben und mit freier deutscher Uebersetzung begleitet von Eduard Kaufser.
Leipzig, Noßberg. — Die Uebersetzung ist sehr geschickt, und es ist dem Dichter
wenigstens mehre Male gelungen, den poetischen Ton des Originals mit voller
Kraft wiederzugeben, z. B. das kleine >>>», »xo sunt, «ol'u»-»". Einige Male ist die
Uebersetzung zu frei, ohne doch dadurch gut deutsch zu werden. Z. B.
I,so<-M xi-SLÄts. ossxitsm
rervuue es Mobuni!I
I'Jan-«8 wlontk äiviti8,
T'e aiviäeni! lÄllsrtg,s.
,,Rul) sanft!" so heißt's. Die Stunde rollt,
Mit ihr der Lieb' Gelodcr.
Der Erbe theilt sich in dein Gold
Und i» dich Molch und Moder.
— Mit großer Verwunderung bemerken wir seit geraumer Zeit in
den deutschen Blättern, die uns sonst nahe stehen, daß die Korrespondenten aus
England es sich angelegen sein lassen, das englische Volk un'd die englische Cultur
so schwarz als möglich darzustellen. Daß ein deutscher Tourist, wenn ihm ein
Gassenjunge in London ein paar spöttische Redensarten nachfahren, das ganze Volk
für demoralisirt erklärt, ist nichts Neues, aber die Redactionen sollten doch namentlich
jetzt, wo jede Beschimpfung Englands der Kreuzzeitung in die Hände arbeitet,
solchem lächerlichen Gerede ihre Spalten verschließen. Neulich wurde vou einer
Nothzucht berichtet, die ein englischer Offizier in der Trunkenheit an einer Dirne
ausgeübt, und bonn lib« daraus die Sittenlosigkeit des gesammten britischen Volks
hergeleitet!! In deutschen Kasernen, Studcntenkueipcn u. s. w, kommen zuweilen
noch Dinge vor, die nicht sehr erbaulich sind, aber welcher Vernünftige würde das
gesammte Volk dafür verantwortlich machen. — Noch ärger geht es über Nord¬
amerika her, und hier pflegt namentlich das Ausland, ein sonst sehr schätzenswerthes
Blatt, durch Verallgemeinerung einzelner Vorfälle das Urtheil zu verwirren.
Mit Ser. 4O beginnt diese Zeitschrift ein neues Quartal,
welches durch alle Buchhandlungen und Postämter zu be¬
ziehen ist.
Leipzig, Ende September Die Verlagshandlung.
Den meisten Deutschen gelte» die Holländer für egoistische Krämer, bei
denen demzufolge Literatur und Kunst höchstens als Mode- und Putzartikel
reicher Bourgeois eine relative Beachtung fänden; auch sei an eine nationale
und selbstständige Geistesbildung sowenig zu denken, daß das geistige Leben
der Niederländer vielmehr ein Mischmasch der englischen, französischen und
deutschen Entwicklungen sei und immerfort bleiben werde. Um zu sehen, wie
weit Wahres und Falsches in dieser gäng und geben Beurtheilung enthalten
sei, wollen wir auseinandersetzen , wie und wie hoch das niederländische Volk
Wissenschaft, Literatur und Kunst tarirt, wie es dieselben pflegt und benutzt,
sodann einige der wichtigsten Leistungen näher betrachten.
Die Hauptmerkmale der niederländischen geistigen Entwicklung sind ein
unbedingter christlicher Standpunkt der Auffassung und Beurtheilung, völliges
Fehlen eines büreaukratischen Einflusses, Mangel wie Scheu vor logischer Kon¬
sequenz und Kleben am Gewesenen, Gegenwärtigen und Autoritäten.
Was den ersten Punkt betrifft, so ist es eine Thatsache, daß die vielen
berühmten Freidenker, welche sich während der letzten Jahrhunderte in den
Niederlanden als europäischer geistiger Freistätte aufgehalten haben, auf den
religiösen Sinn des Volkes wie der Gebildeten nicht den geringsten Einfluß
geübt haben; die Niederländer betrachteten sie lediglich als Fremde, welche ihren
Geschäften ungestört nachgehen dürfen, solange sie nicht den niederländischen
Staat oder Niederländer beeinträchtigen; aber einen Bayle, Spinoza, Hobbes,
Voltaires, zu officiellen Verkündern der Wissenschaften zu machen, wäre eine
Unmöglichkeit gewesen, weil keine einzige niederländische wissenschaftliche Anstalt
bis zur heutigen Stunde den kirchlichen Boden auch nur auf einem entlegenen
Gebiete zu verlassen gewagt hat, Soviele religiöse Sekten auch die Niederlande
seit den drei letzten Jahrhunderten beherbergt haben und noch beherbergen, so
sind sie doch alle gleich den drei großen Confesstonen kirchliche, dogmatisch¬
christliche, und wäre eine freigemeindliche Sekte in den Niederlanden gradezu
eine Unmöglichkeit; eine pantheistische und eine materialistische Weltanschauung
darf sich auf keinem wissenschaftlichen Gebiete, selbst nicht dem der Natur¬
wissenschaft vor das Publicum wagen, wie noch das jüngste Beispiel Mole¬
schotts zeigt, dessen wissenschaftliches Ansehen und sociale Stellung in den
Niederlanden mit einem Schlage vernichtet waren, als er den Materialismus
bekannte; die Philosophie, welche officiell gelehrt wird, ist ein etwas moderni-
sirter Wolfianiömus, der über die wichtigsten Fragen oberflächlich hinweg¬
schlüpft oder an der Hand religiöser Dogmata hinwegspringt, und die Be¬
kanntschaft Mit der deutschen Philosophie hört bei Kant größtentheils auf.
Kann man durchaus nicht umhin, der neuesten Philosophie zu erwähnen, so
sind die beiden einzigen Waffen, mit denen* man sie bekämpft, die religiös-dog¬
matische und die praktisch-sociale, von denen die erste natürlich theoretisch nichts,
die andere für die Praxis zwar viel, aber für die Theorie nichts vermag, dem
Holländer aber genügen, weil er die Wissenschaft den Anforderungen des
socialen Lebens, dieses dem Dogma unterordnet.
Daher finden religiös-dogmatische Streitigkeiten nirgend, vielleicht mit
Ausnahme Schottlands, ein eifrigeres Publicum als in den Niederlanden, und
der rothe Faden, welcher sich durch dieselben hindurchzieht, ist noch immer der¬
selbe, wie zur Zeit des Oldenbarneveldt und Hugo Grotius, nämlich der Gegen¬
satz der remonstrantischen und contraremonstrantischm Auffassung der reformirten
Lehre, welcher bekanntlich die Lehre von der Prädestination und Gnadenwahl,
die Symbola und die Selbstständigkeit der Kirche gegenüber den Staat betraf,
von welchen Punkten die Remoustranten hinsichtlich des ersten eine humane, wenn
auch herzlich unlogische Auffassung hatten, die zweiten als Glaubensquellen
verwarfen und hinsichtlich des dritten Punktes dem Staate einen großen Ein¬
fluß gewährten.
Die Partei der Remonstrcmten, als politische Vertreterin der ständischen
Rechte gegen die des Hauses Oranien, und des Provinzialismus gegen die
rationale Centralisation, ward bekanntlich von Prinz Moritz in ihren Führern
Oldenbarneveldt und Hugo de Groot politisch und von der Synode zu Dordrecht
kirchlich vernichtet, eristirte aber in beiden Beziehungen als Faction und Sekte
unter häufigen Reactionsversuchen, wie z. B. der Revolution von 1787, bis auf
den heutigen Tag fort, wo sie durch die politische Erschütterung von 1848
siegreich ward, aber schon 18S1 durch die Aprilbewegung wieder unterlag.
Freilich hat der Zahn der Zeit an diesen Gegensätzen genagt, aber nicht so
stark, daß sie nicht noch deutlich zu erkennen wären. Der Nemonstrantismus
hat die politischen Principien des liberalen Bürgerthums adoptirt und steht
religiös hart an der Grenze des Humanismus, sein gegenwärtiges Bündniß
mit den Katholiken ist aber sowenig neu, daß schon die Zeiten vor Oldenbarneveldt
und de Groot dasselbe gesehen haben, und, wie es scheint, beide Male mit
denselben Hintergedanken seitens der Katholiken, Groningen ist die Universität,
der dortige Professor Hofstede de Groot der beredte Verfechter und die indu¬
striellen wie jungen Städte die Sitze des modernen RemonstrantiSmus, an den
sich alle andern reformirten Sekten und augenblicklich auch der Katholicismus
Politisch anlehnen.
> Dagegen sind Leyden und besonders Utrecht die Universitäten des Contra-
remonstrantismus, Groen van Prinsterer sein politischer Chef, wissenschaftlicher
Vorfechter, und die altholländifchen Städte und die Familien des mittleren
Bürgerstandes seine Sitze. seinen äußersten rechten Flügel bilden aber die
sogenannten Cvkionen, ober nach ihrer eignen Bezeichnung „chnstlich-reformirte
Abgeschiedene", welche von einem Kandidaten der Theologie, Col, ins Leben
gerufen, sechzig Gemeinden bilden, und nach zehnjährigen Kampfe mit den
damals vom remonstrantisch-bureaukratischen Geiste beherrschten Staate eine
völlige Selbstständigkeit errangen, die gegenwärtig von der reaktionären und
Hofpolitik zu politischen Zwecken ausgebeutet wird.
Denn die Politik des Hauses Oranien war von Moritz bis Wilhelm I.
stets für ein enges Bündniß mit den Contraremonstranten. Wilhelm I. regierte
nach dem Codex der liberalen Bureaukratie, Wilhelm III. hat sich wiederum
offen in die Arme des Contraremonstrantismus geworfen, aber die Zahl der
remonstrantischen Prediger ist gegenwärtig so überwiegend, daß eS zu ihrer
Unterdrückung noch viel ärgerer Gewaltmaßregeln bedürfte, als zu Moritzs
Zeiten; freilich ist auch jetzt, wie zu jenen Zeiten, der große Haufen ent¬
schieden contraremonstrantisch, aber nicht etwa in altgewohnten Gehorsam gegen
die Befehle allmächtiger Priester, noch in blindem Glauben an ererbte Satzungen,
sondern mit einer Selbstständigkeit der Forschung und Untersuchung in den ihm
zustehenden Quellen, der Bibel und religiösen Schriften, wie sie ähnlich nur
in Schottland und bei englischen Sekten gefunden wird. Die reformirte
Kirche in den Niederlanden hat den Prediger stets nur als einen Gemeinde¬
genossen betrachtet, der seinen ersten Platz nur den Kenntnissen verdankt, welche
ihm die jedem freistehende Erklärung der heiligen Schrift erleichtern, und des¬
halb in den Kirchenräthen' ein eignes mächtiges Organ zur Wahrung der An¬
sprüche der gleichberechtigten Gemeindegenossen in dogmatischer und kirchen¬
politischer Beziehung erschaffen und bis auf den heutigen Tag in hoher Blüte
erhalten. Die Kirchenräthe sind zwar aus allen Ständen, mit Ausnahme des
Proletariats, gewählte, aber in ihrer Mehrzahl die angesehensten Mitglieder
der Gemeinden, und es macht anfänglich auf den Fremden einen seltsamen
Eindruck, wenn man in der mit Herren wie Damen der ersten Stände voll¬
gefüllten Kirche einen vornehmen Mann als Diacon mit dem Klingelbeutel zur
Sammlung der Armenbeiträge während der Predigt herumgehen oder Hoch¬
gebildete als eifrige Rivale um den Posten eines Kirchenvorstandes sieht.
Man konnte hinaus vielleicht schließen, daß die Prediger einen über¬
wiegenden Einfluß auf die religiösen Ansichten ihrer Gemeindemitglieder übten,
aber gewiß fälschlich, da der Holländer es für eine eonclitio sins Mg, non eines
einigermaßen unterrichteten Mannes hält, eine bestimmte religiöse Ansicht zu
haben und überall zu vertheidigen, freilich nur auf dem allen Konfessionen und
Sekten gemeinsamen Boden, der Göttlichkeit der Bibel.
Die Prediger sind auch pecuniär nicht hoch gestellt, desto höher aber
social, so daß eine reiche Heirath für einen Prediger fast ebenso leicht erreichbar
als selbstverständlich ist. Nur die Prediger in Ostindien sind mit 6—8000 si.
jährlich besoldet und also im Stande, noch frühzeitig genug heimzukehren, um
ihren Gewinn zu genießen.
Wie sehr die reformirte Weltanschauung nicht blos die Wissenschaft und
das praktische Leben, sondern auch die Aeußerlichkeiten des Lebens beherrscht,
wäre Gegenstand einer selbst bis zur althvlländischen Kunstschule zurückgreifen¬
den und. also für unsre Uebersicht zu weitläufigen Untersuchung; als Probe
möge nur die allgemeine niederländische Sitte der reformirten Bevölkerung
dienen, sich nur in dunkle Farben zu kleiden, vorzüglich in Schwarz und Weiß,
von denen ein reformirter Kirchenlehrer die erste Farbe als das Symbol des
Gnadenfalls und die zweite als das der Erlösung bezeichnet; ein bunt geklei.
tetes Mädchen aus mittleren und niedern Ständen ist in den Niederlanden
entweder eine Katholikin oder eine Fremde, und der schwarze Frack, schwarzes
Beinkleid und dunkle Weste nebst weißem Halstuche der tägliche wie feierliche
Anzug eines gebildeten Holländers.
Wenn wir als zweite Eigenschaft der niederländischen geistigen Entwick¬
lung das Fehlen jedes bureaukratischen Einflusses nannten, so bezeichneten wir
damit zugleich einen der größten politischen und socialen Vorzüge des nieder¬
ländischen Volke .
Der ganze Verlauf der niederländischen Geschichte, insbesondere aber der
nach dem Freiheitskriege, zeigt einen fortwährenden siegreichen Kampf der Selbst-
ständigkeit, Selbstregierung der Korporationen, Gemeinden, Provinzen gegen
die Centralisation; kam dazu noch die in allen reichen Handelslanden gewöhn¬
liche Erscheinung, daß die öffentlichen Aemter mehr der Ehre und des Ein¬
flusses, als der Besoldungen wegen gesucht werden, so erklärt sich, wie die
Niederlande keine Büreaukratie und keine bürokratische Weltanschauung kennen;
der schwache Versuch Wilhelm I., sie zu schaffen, erlag spurlos mit der Loö-
trennung Belgiens.
Der Richterstand ist eine Ehrencarriere, indem die Besoldungen bei keinem
Richter, selbst nicht dem untersten, dem Eantonrichter, ausreichen; die Ver¬
waltungsbeamten sind, bis auf einige Büreaubeamte, entweder junge Advocaten,
die des zeitweiligen Broterwerbes wegen, oder Männer, welche des politischen
Einflusses wegen die Geschäfte, übernommen haben, und nur sehr ausnahms¬
weise für ihr ganzes Leben, woraus sich auch die Möglichkeit der staatsgrund-
gesetzlichen Bestimmung erklärt, daß alle Bürgermeister — die niederen Verwal¬
tungsbeamten für Stadt und Land — alle fünf Jahre der königlichen Bestä¬
tigung bedürfen. Die höheren Verwaltungsstellen sind reine Ehrenämter, wie
z. B. die Mitglieder der Provinzialregierung, die mit Ausnahme des Präsiden¬
ten und Secretärs, nur Diäten und Reisekosten, keinen Gehalt erhalten.
Bau-, Post-, Steuer-, Eisenbahn-,:c. Beamte sind theils keine Staats¬
diener, theils viel mehr zeitweilig Angestellte, als das z. B, in Deutschland der
Fall, wo noch immer zu viele den Staatsdienst als ihre Versorgungsanstalt
ansehen, zum Theil leider müssen.
Die höchsten Verwaltungsbehörden wechseln in einem so parteienreichcn
Lande, wie die Niederlande, so häufig, daß auch hier an die Bildung einer
höheren Büreaukratie nicht zu denken; überhaupt ist die Büreaukratie eine so
fremde Pflanze in den Niederlanden, daß sie selbst in dem üppigen Boden
einer ministeriellen Autokratie über die Colonien nicht hat gedeihen wollen.
Was endlich die Beamten der Wissenschaft betrifft, so sind auch sie dem
Staatseiuflusse sehr entzogen, indem die Gymnasien fast alle Gemeindeanstalten
sind / die 3 Universitäten wenigstens zum Theil unter provinziellen Korporatio¬
nen und Stiftungseinflüssen stehen, außerdem alle kleine gelehrte Schulen,
als Athenaea, chirurgische, Seefahrtö-, Handels-, Industrie-, Ackerbau- :e.
Schulen mit dem Staate wenig oder nichts zu schaffen haben.
Die Geistlichkeit endlich hängt, was die reformirte Konfession und die
protestantischen Sekten betrifft, mit dem Staate in keinerlei Weise mehr zusam¬
men, man möchte denn das gesetzlich geregelte Bestätigungsrecht des Königs
dahin rechnen wollen; sogar der Patrvnatspfarrer sind nur noch wenige, und
Claßiö und Synode sind also die einzig einflußreichen Organe der protestanti¬
schen Kirche; wenn irgendwo, hat die Demokratie des Nesormirtenthumö in der
niederländischen reformirten Kirche gesiegt.
Die katholische Geistlichkeit ist natürlich vom Staate ebenso unabhängig,
inzwischen zu allen Zeiten ohne Einfluß auf die reformirt geistige Entwicklung
des niederländischen Volkes gewesen.
Am allerwenigsten eristirt etwas von militärischer Büreaukratie, da es
nicht einmal einen einflußreichen Milirärstand gibt, indem die Landarmee noch
mit den üblen Traditionen des früheren und noch nicht ganz abgeschafften
Werbesystems zu kämpfen hat, sehr viele Ausländer, auch als Offiziere, unter
sich zählt, welche die Nation für ihre gemietheten Kriegsknechte hält, endlich
durch die Verbindung mit der an schlechten Subjecten reichen Eolonialarmee
und den Gegensatz gegen die allgemein angesehene Marine wie die bürgerlich
geachtete Landwehr — Schutterei — sehr in Ansehen und Einfluß leidet, zumal
in einem Handelstande der Militärstand nie recht angesehen, und noch seltener
einflußreich ist.
Alle hier aufgezählten, aber nicht ausgeführten Ursachen haben das Aus¬
kommen des büreaukratischen Geistes auch in der Literatur völlig gehindert, sie
bewahrt vor einer Staatsphilosophie, Staatsreligion, officieller oder dynastischer
Geschichtschreibung und allen ähnlichen Gärtnerkünsteu an dem freien Baume
des menschlichen Wissens und Denkens, und so aus einem Gebiete die völlige
Freiheit erhalten, wo die deutsche und noch mehr die französische Literatur ge¬
nöthigt worden sind, die Wahrheit Mehr oder weniger zu fälschen; freilich wiegt
dieser große Vorzug dennoch die religiöse sreie Bewegung nicht auf, welcher
die fremden Literaturen sich mehr oder weniger erfreuen.
Die Hauptsvlgen des Fehlens eines büreaukratischen Geistes zeigen sich
erstlich als sreie und praktische Urtheile über menschliche Handlungen und
staatliche Zustände, an deren Stelle die deutsche Literatur so oft ein philoso¬
phisches Prokrustesbett setzt; man lese nur z. B. einen Wagenaar, einen Luzac,
einen de Jorge und man wird seine freudige Anerkennung dieser wahrhaft
antiken, von allen philosophischen Künsteleien befreiten, recht menschlich-prakti¬
schen Auffassung der geschichtlichen Ereignisse nicht versagen können, d. h. über¬
all, wo nicht der biblische Standpunkt in Gefahr ist, wie z. B. bei den Wie¬
dertäufern, wo bei allen holländischen Historikern alle Billigkeit, alles Verständ¬
niß aufhört. Eine zweite Folge ist die Selbstständigkeit der politischen, juri¬
stischen, pädagogischen, theologischen Ansichten und praktischen Ausführungen,
allerdings stets in den religiösen Grenzen. Denn wo findet man mehre aus
dem Boden der praktischen Verständigkeit streitende und wo ein solches voll¬
ständiges Fehlen der idealen und extremen politischen Parteien, als in den Nie¬
derlanden, wo sogar selbst die stürmische Reformationszeit nur schwache Ansätze
zum religiös-politischen Radicalismus erzeugt hat; wo gibt es eine Rechts¬
wissenschaft, die weniger vom Staate und mehr von den praktischen Bedürf¬
nissen der Nation beeinflußt ist und wird, als in den Niederlanden, welche den
Code Napoleon auf das weiseste dem niederländischen Volksgeiste angepaßt
und zu musterhaften Specialgesetzbüchern entwickelt haben; wo herrscht
auf dem Gebiete der religiösen Dogmatik ein regeres Interesse aufopfernder
Parteinahme, als in der niederländischen Nation, welche keine Superintenden¬
ten, keine Konsistorien, kein Cultusministerium — und kaum Staatöprofessorcn
der Theologie kennt? Das niederländische Schulwesen verdankt seine Blüte,
das höhere und mittlere die des 17. und 18. Jahrhunderts, das niedere seine
jetzige Blüte lediglich der Privat- und Associations-Thätigkeit und übertrifft
dadurch an Vielseitigkeit der Methode, und vor allem an praktischem Sinn
die deutschen Anstalten weit, wenn auch die niederländischen Lehrer an allge¬
meiner Bildung, philosophischer Umschau, humanistischer Auffassung den denk-
schen weit nachstehen; ein holländischer Volksschüler weiß jedenfalls mehr und
genauer als ein deutscher, ein niederländischer Student übertrifft den deutschen
in Fleiß und geistigem Interesse, und nur die Gymnasien stehen den deutschen
nach, weil das gelehrte Studium eben ein nicht so verbreitetes Versorgungs¬
mittel ist, als in dem armen und an hochmüthigen Beamten und verarmten
Adligen reichen Deutschland. Wo endlich haben vom Staate begünstigte
Philosophie- und Religionssysteme weniger die sreie Aeußerung des Wissens
und Denkens gehemmt als in den Niederlanden?
Endlich steht die .Volksbildung, welche zur Erhaltung des confessionellen
Friedens soviel beiträgt, ebendeshalb so hoch, weil weder eine herrschsüchtige
Bureaukratie das Schulwesen meistert, noch confessionelle Parteisucht sich wechsels¬
weise die Geldmittel vorenthält; denn das niederländische Volksschulwesen,
hervorgegangen aus den Bestrebungen der berühmten Naatsedapp^ tot riut van
IM ^Ixsilttzen, nach deren Principien gesetzlich geordnet durch den großen Raths¬
pensionär Schimmelpennink im Jahre 4806, genießt die beiden unvergleichli¬
chen Vortheile, erstens ein christlich-humanes und nicht ein confesstonell-
dogmatisches zu sein, und zweitens nicht bureaukmtisch gouvernirt, sondern von
Gemeinde, Provinz oder Privaten mit jener praktischen Verständigkeit regiert
zu werden, die sich in den mittlern Kreisen der Menschheit und sür die eignen
und naheliegenden Angelegenheiten fast ebenso gewöhnlich findet, als sie eben
zu sein pflegt. Freilich hat der Mangel an einer concentrirten Staatsleitung
des Unterrichtswesens in Verband mit den seit einem halben Jahrhundert
bedrängten Finanzen die niederländische Wissenschaft und noch mehr die Kunst
ohne jenen Glanz gelassen, welchen große, bureaukratisch regierte Staaten, wie
Frankreich, Preußen ':c. oder die reichen Privaten Englands ihr verliehen
haben, aber nach unsrer Ansicht ohne sehr großen Schaden sür den reellen
Fortschritt.
Wir wenden uns zur dritten Haupteigenschaft der niederländischen Geistes¬
bildung, nämlich dem Mangel an und der Scheu vor logischer Consequenz.
Sie hat drei Hauptursachen, erstens das unbedingte Festhalten an dem biblischen
Standpunkt, zweitens die starke Hinneigung zur Gefühlspoesie und Romantik,
drittens die übertriebene Achtung vor dem Bestehenden.
Was die zweite dieser Ursachen betrifft, so hat der Holländer diese Eigen¬
schaft gemein mit den norddeutschen und skandinavischen Völkern, übertrifft
diese Stammverwandten darin aber weit, daß er sie nicht blos auf die poeti¬
schen Lebensmomente und die literarischen Erzeugnisse derselben beschränkt,
sondern mehr oder weniger sein ganzes geistiges Dasein, seine ganze Literatur
romantisch und gefühlspoetisch färbt. "
Nirgend ist die Frauenwelt für sentimentale Gespräche, romantisches Aeußere
und Empfindeleien empfänglicher, als in den Niederlanden, wo ein gewisser
Grad von Nervenschwäche sogar bei den Baucrweibern zum guten Tone gehört,
und die elegante Welt in der Literatur nichts mehr liebt, als die heftigsten
Erschütterungen des Gemüths; am deutlichsten zeigt sich diese sonderbare Nei¬
gung des niederländischen Volks in .der Taktik aller Zeitungen und Journale,
ihre ^Spalten stets zu einem großen Theile mit Schauer-, Schreckens- und
Unglücksereignissen zu füllen, oft so alltäglicher Natur, daß in Deutschland
selbst ein Localblatt sie übergehen würde; hängt diese Eigenschaft psychologisch
vielleicht mit dem übermäßigen Gefühle von der eignen Sicherheit und Wohl-
häbigkeit zusammen, welche des Gegensatzes bedürfen, um recht genossen zu
werden?
Diese Empfindelei hat in der Literatur in den letzten 60 Jahren fort¬
während zugenommen oder datirt sich gar erst von dieser Zeit her, da wenig¬
stens die ältern Historiker sich frei davon erhalten haben, während sie jetzt
alles beherrscht, zu dem sie nur irgendwie gelangen kann, vorzüglich die theo¬
logische und schöne Literatur. So ist das moderne niederländische Trauer¬
spiel, wie wir an einem Beispiele im zweiten Artikel zeigen werden, durchaus
krank an überladenen Pathos, Haschen nach Effecten und Schauerscenen, fast
ganz in der Weise der französisch-romantischen Schule; so finden die Erzeug¬
nisse der romantischen Perioden der englischen, französischen und deutschen
Literatur bei weitem größern Anklang, als diejenigen, welche aus einer un-
verzärtelten und klaren Lebensanschauung entsprungen sind, und findet man
nirgend mehr gekünsteltes Pathos und Empfindelei bei öffentlichen Verhand¬
lungen, als in den Niederlanden. Selbst bei der Lectüre von Abhandlungen
rein praktischer Natur hat man sortwährend einen verwirrenden Wust von
religiösen und moralischen Betrachtungen, Gefühlsergießungen und melancho¬
lischen Reflexionen zu entfernen, es gehört solch ein Ausputz ebenso zur Li¬
teratur, wie das Kirchengehen und tägliche Bibellesen zum alltäglichen Leben.
Der dritte Grund des Mangels an logischer Consequenz fällt mit unsrer vierten
Haupteigenschaft der niederländischen Literatur zusammen, nämlich der über¬
triebenen Achtung des Bestehenden-und Gewesenen, einer Eigenschaft, deren
Entstehen freilich nicht schwer zu erklären ist.
Jedes Volk, welches eine ruhmreiche Periode hinter sich hat, ohne eine
zweite gleiche oder ähnliche mit Grund erwarten zu können, was beides bei
den Niederländern der Fall ist,, wird ein eifersüchtiger Vertheidiger des Ge¬
wesenen und Bestehenden. Die Niederlande sind politisch wie handelspolitisch
an einem Punkte angelangt, wo jeder Fortschritt zur Unterordnung unter das
stammverwandte Deutschland sichren muß, unter das Deutschland, welches man
zwar in ersterer Beziehung noch gar nicht und in zweiter erst in den letzten
Jahren zu respectiren begonnen hat, von dem man aber für die Zukunft um-
somehr fürchtet, als man bei einigem Nachdenken das Vorhandensein uner-
westlicher Entwicklungskräste nicht leugnen kann. In dem ganzen Volke der
Niederlande steckt eine bange Furcht vor dem Erwachen des deutschen Mannes,
dessen Wissenschaftlichkeit kein holländischer Gelehrter zu leugnen wagt, eher
überschätzt, dessen Arbeitsamkeit und Umsicht den holländischen Kaufleuten,
deren Comptoiristen zu ^/z Deutsche sind und die sich in den letzten Jahren fast
überall von deutschen eingewanderten Firmen überflügelt sehen., nur zu wohl
bekannt sind und dessen robusten und unverdorbenen Körper der Städter wie
Landmann in den Kerngestalten der vielen Handwerker und Tagelöhner be¬
wundert, von denen die ersten sast stets Wohlstand, die letzteren, sogenannte
Holländsgänger, 20—30,000 per Jahr — ihren Mieth- und Pachtzins ge¬
winnen.
Kamen nun hierzu das von den socialen Doctoren vorzugsweise bedrohte In¬
teresse der zahlreichen Rentiers und die in den Niederlanden fast allgemein behauptete
Verbindung der deutschen Freigeisterei mit der deutschen und französischen rothen
Republik, so mußte nach den politischen Ausschweifungen des deutschen Volkes
im Jahre -I8i8 und 18L9 sich die schon vorhandene Furcht zu einem bangen
Hasse gegen das „den Staat, die Gesellschaft, die Religion bedrohende Deutsch-
, land" steigern, und eine besonnene Beurtheilung der deutschen Zustände, ins¬
besondere der Mittelpartei, unmöglich machen; deutsche Flotte, deutsche Einig¬
keit, deutsches Parlament und deutsche Politik sind daher selbst verständigen
Niederländern fast stets Gegenstände des täglichen Spottes, unter dem sich
aber die Furcht und der Haß verborgen halten, Verstand wie Herz gegen alle,
zumal deutsche, Neuerungen verblendet. In keinem Lande haben deshalb die
Ideen unsrer Kreuzzeitungsmänner rascher einen größern Anhang gefunden, als
in den Niederlanden, glücklicherweise aber sosort wieder verloren, als man ihren
revolutionären Charakter erkannte. Denn das niederländische.Volk ist gegen¬
wärtig infolge der jüngsten politischen Vorgänge in Deutschland, Frankreich,
Italien :c. und durch die Erscheinungen auf dem Gebiete des Christenthums,
in einen Zustand gerathen, in welchem man viele Dinge weder hören noch
sehen will, sondern sich mit geschlossenen Ohren und Augen an das Bestehende
anklammert, das Gewesene preist, ohne es zurückrufen zu wollen oder zu
können, und in die Zukunft hineintreibe, ohne sie beherrschen zu wollen; hier
der Zustand einer ganzen Nation, was. in den andern Staaten Europas nur
bei der sogenannten höhern Bourgeoisie sich vorfindet, und ähnlich wie diese
sich immer mehr von den extremen Parteien scheint fortschleppen lassen zu wollen,
so erwarten die Niederlande ihr Schicksal in dem großen Principienstreit Eu¬
ropas, ohne nur eine stille Parteinahme sich zu erlauben, wie sich in der gegen¬
wärtigen Krisis auf das deutlichste zeigt.
Die Betrachtung der Vergangenheit und Gegenwart redet zwar für die
Westmächte, aber die Scheu vor der Zukunft, von der man für die Niederlande
kaum etwas Gutes, aber vieles Böse erwartet, und im niederländischen Sinn
auch erwarten kann, läßt die Verminderung einer Macht fürchten, welche als
Hort der socialen Ordnung so oft angepriesen ist, und wie man in Gering¬
schätzung der deutschen c-onservativen Kräfte wähnt, 1848 sich in Deutschland
als solche so bewährt hat, daß man eine Dosis russischen Despotismus und
russischer Uebermacht für die Erhaltung des Bestehenden und Niederhalten der
dunklen Kräfte Deutschlands.für nöthig hält, und also erträglich findet.
Das niederländische Volk geht seinem Ende als selbstständige Nation ent¬
gegen und muß sich an ein Volk anschließen, dessen Entwicklung es fürchtet,
dessen Zustände es nicht begreift, und dessen Geschichte ihm keine starken Bürg¬
schaften für einen verständigen Fortschritt bietet. Dieser gepreßte Zustand spiegelt
sich ab in der schwankenden Haltung des Volks und der ganzen Tagespresse
gegenüber allen kritischen Ereignissen und in dem Widersinn gegen alle sociale
und politischen Principienkämpfe, äußerlich am besten zu erkennen an der Un¬
sicherheit der niederländischen Presse im Jahre 1848 und 1854 und in der
Principienlostgkeit der nationalökonomischen und theologischen Literatur, in
welcher alle Extreme mit der ewigen Formel abgefertigt werden, daß ihre Reali-
sirung eine Unmöglichkeit sei.
'
Eine Hauptwirkung dieses geistigen Zustandes des niederländischen Volks
auf seine gegenwärtige Literatur findet sich in dem fortwährenden Anpreisen der
praktischen Seite der Wissenschaften und Begeifern aller Theorie und Spe¬
kulation und darin, daß nirgend die nationalökonomischen Wissenschaften so
rasch und so sehr ein Uebergewicht über die andern erhalten haben, als in
den Niederlanden, wo freilich weder die schöne Literatur, noch die Philosophie,
nur die Theologie ein bedeutendes Gegengewicht in die Wage legen konnte.
Wir schließen daher mit der Ueberzeugung, daß man durch Concurrenz
vieler Umstände' nirgend mehr Gefahr läuft, alles Wissen als eine tüchtige
Kuh, die uns mit Butter versorgt, zu betrachten, als in diesem Lande, welches
politisch, handelspolitisch und geistig in einer schwankenden Lage ist, aus welcher
es nur durch einen festen Anschluß an die deutsche Entwicklung sich mit Er¬
haltung seiner Vorzüge retten wird,
Sakuntala. Nach dem Indischen des Kalidasa von Eduard Lovedanz.
Leipzig, VrockhanS. —
Es ist jetzt 60 Jahre her, daß Georg Forster dieses berühmteste
der indischen Dramen durch eine prosaische Uebersetzung dem deutschen
Volk bekannt machte. Die Zeit war grade damals sehr empfänglich für
alles Fremdartige und Ungewöhnliche, wenn man es iM- irgend als eine
neue Offenbarung des Schönen betrachten konnte. Herder und Goethe sprachen
ein warmes, fast überschwengliches Lob aus und die romantische Schule wett¬
eiferte mit ihnen, die süßen Geheimnisse der indischen Poesie dem deutschen
Bewußtsein einzuschmeicheln. Seit der Zeit hat sich unsre Kenntniß des in¬
dischen Wesens unendlich erweitert, wir haben über das Verhältniß der ver¬
schiedenen Dichtnngsformen zueinander ernsthafter nachgedacht, und so scheint
es wol an der Zeit zu sein, die neugewonnenen ästhetischen Principien an dem
Versuch einer neuen Uebertragung zu bethätigen. Was seit Forster in dieser
Beziehung geschehen ist, kann als ein wahrer Fortschritt nicht betrachtet werden.
Der gegenwärtig?'Uebersetzer hat sich die Aufgabe gestellt, bei möglichster Treue
in Beziehung auf den Inhalt das Erzeugniß eines fremden Himmelstrichs
den Formen der deutschen Poesie soweit anzunähern, als die Verschiedenartig¬
keit des Gegenstandes erlaubt. Lassen wir das Princip einmal gelten, so müssen
wir zugestehen, daß die Absicht erreicht ist. Der Verfasser hat den fünffüßigen
Jambus beibehalten, er hat die eigenthümliche indische Wortbildung, welche
manche unsrer Übersetzungen so ungenießbar macht, vollständig bei Seite
gelassen, und er hat die Sprache in der Weise behandelt, wie sie durch Goethes
Vorbild in unsrer Poesie festgestellt ist. So seltsam uns also zuweilen die
Vorstellungen des Werks erscheinen, so bleibt uns in der Form nichts Frem¬
des; sie macht auf uns den Eindruck eines deutschen Originalwerkes.
Was das Princip betrifft, so können wir uns damit nicht unbedingt ein¬
verstanden erklären. Wir gehen zwar nicht von der Ansicht aus, die seit der
romantischen Schule bei uns die herrschende gewesen ist, daß jede poetische
Uebersetzung die Form des Originals getreu wiedergeben müsse; denn wenn wir
diesem Grundsatz streng huldigen, so wird in vielen Fällen der Zweck der
Uebersetzung unmöglich gemacht, der doch nur darin bestehen kann, daß
die Uebersetzung auf uns ungefähr denselben Eindruck macht, wie das Original
aus das Volk, aus dem es hervorgegangen ist. Die Nachbildung eines aus¬
ländischen Versmaßes kann nur dann einen Sinn haben, wenn es wirklich in
unsrem Ohr liegt, und dieses ist bei den indischen Versmaßen unzweifelhaft
nicht der Fall. Eine solche Nachbildung würde also keinen andern Zweck haben,
als die deutsche Sprache gewaltsam zu verrenken und wo das Original vielleicht
ganz unbefangen und naiv zu Werke geht, den Eindruck von etwas Erkün¬
steltem und Erzwungenem zu machen.
Auf der andern Seite glauben wir aber, daß der Uebersetzer alles vermei¬
den muß, durch die Form den Schein der Verwandtschaft hervorzubringen, wo
in dem Inhalt der vollständige Gegensatz herrscht. DaS scheint uns bei der
Sakuntala der Fall zu sein. Der fünffüßige Jambus erinnert uns zu lebhaft
an die Gewohnheiten unsres Theaters und an die geläufigen Vorstellungen
unsrer Poesie. Umsomehr werden wir durch die Widersprüche in dem Inhalt
verletzt. Zwar ist in der poetischen Auffassung der Natur, in dem warmen,
zärtlichen Verhältniß des Menschen zu Pflanzen, Thieren u. s. w. etwas, was
unsrem Gemüthsleben, wie es sich jetzt gebildet hat, sehr verwandt ist. Aber
abgesehen von den mythisch-sittlichen Vorstellungen der Jndier, die uns auf
jeder Seite aufstoßen, z. B. von der Wunderkraft, die man durch das Verdienst
der guten Werke erwirbt, ohne daß das Gemüth dabei betheiligt wäre und
von dem Neide, welchen die Götter darüber empfinden, ^venu ein frommer
Einsiedler durch Fasten, Bußen und dergleichen sich eine Macht erwirbt', die
ihm selbst gefährlich werden kann, ist es auch die vollständig abweichende Tech¬
nik, die unsre Reminiscenzen an das gewöhnliche Theater iir'Verwirrung brin¬
gen. Fragmentarisch aneinandergeknüpfte dramatische" Scenen lassen wir uns
wol gefallen, da wir selbst mehr, als wünschenswert!) ist, daran gewöhnt sind;,
aber ein beständiges Retardiren der Handlung, eine Breite, die auf das Un¬
wesentliche ebensoviel Gewicht legt, wie auf das Wesentliche, verstößt umso¬
mehr gegen unsre Gewohnheiten, wenn zugleich das erregende Motiv der
Handlung uns unverständlich ist. Sakuntala hat sich in freier Liebe mit dem
König von Indien verlobt und dieser hat ihr durch das Unterpfand eines Rin¬
ges versprochen, sie bald als seine Braut heimzuführen. Da sie nun aber ganz
von ihrer Liebe erfüllt ist, versäumt sie einmal die strengste ihrer Pflichten,
nämlich die Gastfreundschaft gegen einen Heiligen. Der erzürnte Heilige spricht
die Verwünschung über sie aus, ihr Gatte solle sie vergessen, bis durch die
Anschauung eines Unterpfandes seine Erinnerung wieder geweckt wird. Die
Verwünschung würde also gar keine Wirkung haben, da ein solches Unterpfand
vorhanden ist, wenn nicht Sakuntala zufällig im Bade den Ring verlöre.
So dauert also die Entfremdung solange, bis der verhängnisvolle Ring, wie
der Ring des. Polykrates, in dem Magen eines Fisches aufgefunden wird.
Diese Art zu motiviren und zu retardiren erscheint nach unsren Begriffen von
dramatischer Kunst, die beiläufig einen mehr als subjectiven Werth beanspru¬
chen, nicht statthaft: und so wird das übrigens höchst poetische Werk auf uns
immer den Eindruck von etwas Fremdartigen machen. Diese Fremdartigkeit
erscheint in der prosaischen Form, durch welche der Uebersetzer von vornherein
darauf verzichtet, gegen unsre eignen poetischen Erinnerungen in die Schranken
zu treten, vielweniger auffallend, als bei d,em Versuch, den Unterschied durch
Nachbildung der Form künstlich zu verstecken, und in dieser Beziehung geben
wir der Forsterschen Uebersetzung vor der gegenwärtigen, die wegen ihres Fleißes
und ihres Geschmacks alles Lob verdient, den Vorzug. —
Das kleine Buch hat einen sehr wohlthuenden Eindruck auf uns gemacht.
Einerseits die Treue und Correctheit der Beobachtung, die sich jeder vorgefaßten
Meinung enthält und mit klaren, gesunden Augen die Dinge anschaut; andrer¬
seits die Wärme und Innigkeit der Empfindung, die man in vielen Fällen
poetisch nennen kann, verleihen diesen Bildern einen Reiz, den wir in ähnlichen
Versuchen selten antreffen würden. Die Verfasserin verbindet mit der Anmuth
und Innigkeit, die man wenigstens in prosaischen Werken nur bei Frauen
findet,' weil die Männer nicht so daran gewöhnt sind, aus sich selbst heraus¬
zugehen, eine Bildung und eine Besonnenheit, die einem Mann Ehre machen
würde. Jemehr unser Büchermarkt vor? Versuchen ähnlicher Art, die keinen
Werth haben, überschwemmt wird, umsomehr halten wir es für unsre Pflicht,
aus diese ungewöhnlich liebenswürdige Erscheinung aufmerksam zu machen. —
Das Buch ist gewissermaßen die Fortsetzung der südslawischen Bilder von
demselben Verfasser, die einen verdienten Beifall gefunden haben. Im gegen¬
wärtigen Augenblick, wo die Länder, die er bereist, ein historisches Interesse
gewonnen haben, wird man seinen Wanderungen mit noch größerer Auf¬
merksamkeit folgen. An dem Stil hätten wir manches auszusetzen, er ist häufig
sehr nachlässig und dabei zuweilen gegiert. Auch die politischen Reflerionen
nehmen im Verhältniß zu ihrem wirklichen Inhalt einen viel zu großen Raum
ein. Aber das Auge, mit dem der Verfasser die Mannigfaltigkeit der höchst
..fremdartigen Eindrücke beherrscht, ist scharf und klar, und das plastische Talent,
mit dem er seine Eindrücke verarbeitet, sehr bedeutend. Vielleicht der anziehendste
Theil ist derjenige, welcher uns Mittheilungen aus der serbischen Volkspoesie
und Volksmusik gibt. Es ist daraus zwar schon sehr viel bekannt geworden,
aber der serbische Stamm scheint darin eine ganz unendliche Productivität zu
entwickeln. Wir würden die eine dieser Balladen, die Geschichte von der Rache
des Radul Petrowitzsch hier aufnehmen, wenn sie nicht zu lang wäre. —
Vielleicht rührt der höchst unangenehme Eindruck, den dieses Buch des
sonst talentvollen Verfassers auf uns gemacht hat, aus der Zusammenstellung
mit dem vorigen her. Von unbefangener Auffassung der Wirklichkeit haben
wir hier keine Spur. Wir befinden uns auf durchaus jungdeutschen Boden,
d. h. es kommt dem Verfasser mehr darauf an, ssprit zu machen, als das, was
er gesehen und erlebt, naturgetreu darzustellen. Diese Methode ist zunächst
schädlich für den.Inhalt, denn sie veranlaßt jeden neuen Touristen, seinem
Vorgänger so leichtsinnig als möglich nachzuschwätzen und um doch etwas
Eigenthümliches zu haben, ihn in gewagten und paradoxen Behauptungen zu
überbieten. Am schädlichsten wirkt in dieser Beziehung der bekannte, übrigens
höchst geistvolle Londoner Correspondent der Nationalzeitung ein, der sich aber in
seinem Urtheil durch Hitze der Leidenschaft und durch Doctrinen so leicht be¬
stehen läßt, daß er zuweilen die ärgsten Absurditäten nicht scheut. Indeß bei
Herrn Bucher kann man zuweilen auch aus den Irrthümern etwas lernen, denn
er hat namentlich in der Nationalökonomie bedeutende Kenntnisse und weiß
wenigstens interessante Gesichtspunkte aufzufinden, wenn diese auch häufig sehr
einseitig sind. Herr Fontane dagegen hat die Bildung eines lyrischen Poeten,
und spricht nun, nachdem er sich ein paar Monate in London ausgehalten, mit
einer Zuversichtlichkeit über die Gegenwart und Zukunft der socialen und po¬
litischen Verhältnisse Großbritanniens ab, die uns erzürnen würde, wenn sie
nicht gar zu komisch wäre. Mit Recht empören wir uns gegen den Leichtsinn
der französischen und englischen Touristen, die ein paar Monate sich ans deutschen
Eisenbahnen herumfahren lassen, und daun ein Buch über die höhere Philo¬
sophie des deutschen Wesens zusammenschreiben. Aber wir Deutsche machen
es eigentlich noch ärger. Nebenbei wäre es wünschenswert), wenn endlich die
Geckenhaftigkeit unsres Feuilletonstils aufhörte. Folgendes sollte z. B. nur
noch in Modezeitungen Aufnahme finden:
„Lei uns ist der Zopf zur Mythe geworden, er eMirt nur noch als Spitz- und Gcißcl-
wort für alles, was, wie die östreichische Landwehr, „nicht mitkommen kann", und wenn Heine
gelegentlich von unsren Soldaten singt: „der ^opf, der ihnen sonst hinten hing, der hängt
jetzt unter der Nase", so können wir aus diesem Witz, dessen Pointe etwas dunkel bleibt,
immerhin gefallen lasse». Anders ist es mir England: es darf mit China darum streiten, wer
ihn am längsten trägt. Nach den Gründe» forsche wer will; ich werfe für den Liebhaber mir
so hin, daß der Kaffee zu emancipiren, der Thee zu conserviren scheint." —
Ein ander Mal, als Herr Fontane über das deutsche Theater in London
Bericht erstattet, macht er die Bemerkung (S. 127), daß ihn im Egmont die
Freiheitstiraden des letzten Acts wie etwas Verbrauchtes berührt hätten. „Ob
es ein Fluch der Phrasenhaftigkeit unsrer Zeit ist, uns auch die Freude an
dem verleidet zu haben, was über dem tönenden Erz und der klingenden Schelle
steht, oder ob jenes Pathos vom Tod fürs Vaterland, vom Schergen- und
Tyrannenthum wirklich einer Stufe angehört, die von einer politisch reifern
Zeit überwunden werden mußte, lasse ich dahingestellt sein." Wenn der Ver¬
fasser über diesen Punkt wirklich in Zweifel wäre, so müßte man ihn bemitleiden.
Aber wir sind fest davon überzeugt, daß sein Gemüth keineswegs so trocken ist,
als er es darstellt; daß, wenn es daraus ankommt, für das Vaterland und
gegen die Tyrannen in die Schranken zu ziehen, er es ebensowenig an sich
wird fehlen lassen, als irgendein anderer, und daß er vielleicht recht bald
Gelegenheit finden wird, wenn er einmal zur lyrischen Poesie zurückkehrt, die
Vaterlandsliebe und den Freiheitskampf wie ein zweiter Tyrtäus zu besingen.
Aber unsren Feuilletonisten kommt es vor allem darauf an, geistreich zu sein,
und sie haben aus Heine und der übrigen jungdeutschen Schule gelernt, daß
man sich am bequemsten als geistreich zeigt, wenn man gemüthlos redet und
dasjenige bezweifelt, was allen Menschen als heilig erscheint. Wenn das bloße
Stilübungen wären, so möchte es hingehen, aber die häufige Wiederholung
ähnlicher Phrasen thut doch großen Schaden. Ohne Zweifel ist Heine die
bedeutendste poetische Kraft, die in Deutschland seit den letzten dreißig Jahren
ausgetreten ist; aber niemals hat ein Dichter einen verderblichem Einfluß auf
eine ganze literarische Generation ausgeübt. Der Eifer unsrer sogenannten
politischen Dichter von 1850, die mit aller Gewalt darauf losschlagen wollten,
einerlei gegen wen, war mitunter sehr komisch: aber diese Geziertheit und
dieses blasirte, altkluge Wesen unsrer jüngsten Dichter ist noch unendlich viel
lächerlicher., ,, ,.,'., ?,..,> -.../.^-.i ' ...^p-
Möchte der talentvolle Verfasser durch dieses ernsthafte Wort aufmerksam
gemacht werden. Wenn er sich damit begnügt, als harmloser Tourist zu er¬
zählen, was er gesehen und gehört hat, so wird das um so besser sein, je un¬
befangener er es thut. Aber wenn er uns aufklären will über höhere Politik,
Geschichte und Staatskunst, so genügt es nicht, ein paar Spalten Bucherscher
Artikel durchzublättern, die Reminiscenzen aus denselben mit einigen Neise-
anekdoten zu vermischen und „Grundsätze" auszustellen, wie den folgenden:
„Der Engländer ist praktisch, aber ohne Menschenkenntniß" (S. A32). Wer
dergleichen unternimmt, muß ernsthafte Studien anstellen, und wenn er an
die Bearbeitung derselben geht, alle die schönen Phrasen, die er früher
für Feuilletons und Mvdezeitungen verwerthet, ohne Unterschied von sich
werfen. —
Der Verfasser machte im Jahr 1868 seine Reise nach Südamerika und
berührte dabei vorzugsweise Chili, Peru, die oceanischen Inseln und Kali¬
fornien. Er hat seine Reise in dem leichten, graziösen Stil beschrieben, den
man bereits an ihm kennt, und das Buch gehört wesentlich in das Gebiet der
Unterhaltungslectüre, wenn es auch an einzelnen treffenden Bemerkungen über
die beobachteten Zustände nicht fehlt. Zuweilen erweitern sich die Anekdoten zu
ganzen Novelletten, darunter ist namentlich die eine, die Geschichte der beiden
Mariquita, mit entschiedenem poetischen Talent erzählt. —
Der Verfasser spricht sich über sein Werkchen mit einer Bescheidenheit
aus, die für einen Reisebeschreiber aus dem 4 9. Jahrhundert wahrhaft uner¬
hört ist. Er hätte es nicht nöthig gehabt, denn das kleine Buch ist aus der
einschlagenden Literatur eins der interessantesten, das uns in neuester Zeit
vorgekommen ist, grade weil der Verfasser jede Ausschmückung, jedes Eingehen
aus Dinge, die er aus der Lectüre hatte schöpfen müssen, verschmäht, und ein¬
fach aber anschaulich nur das erzählt, was er wirklich gesehen hat. — Er
wurde im Frühjahr 4 843 von der russisch-amerikanischen Compagnie als Arzt
nach Ajan, einer kleinen Factorei am Meer von Ochozk, berufen, grade als
er im Begriff war, zu heirathen. Das junge Ehepaar machte sich wirklich
auf, und erreichte nach sechs Monaten der entsetzlichsten Strapazen seinen
Bestimmungsort, wo er bis 48S4 blieb und dann auf dem Seewege, über die
australischen Inseln, das Cap.Horn u. f. w. nach seiner Heimat zurückkehrte.
— Wer sich für menschliches Leben interessirt, wird diese Blätter nicht ohne
Befriedigung aus der Hand legen. —
Die Haltung der preußischen Regierung in der orientalischen Frage hatte
alle Hoffnungen, die wir aus unser Vaterland setzten, so durchkreuzt, daß es
uns schien, als wären die angebornen Sympathien in uns erblaßt; jene Sym¬
pathien, die uns im Jahre 4 848 viel entschiedener auf die streng konservative
Seite hinübergeführt hatten, als alle Scheu vor Anarchie, Communismus und
wie sonst die Schreckbilder heißen, um welche sich die Freunde des Bestehenden
zu scharen pflegen, weil ihnen ein positives Gefühl fehlt. Daß wir uns aber
dennoch getäuscht hatten, wenn wir glaubten, das angeborne Gefühl könne
durch Ueberlegung unterdrückt werden, empfanden wir recht lebhaft, als wir
die neueste östreichische Note an Preußen lasen. Mit unsrem Verstände mu߬
ten wir Oestreich vollkommen Recht geben; wir fanden alle seine Deductionen
richtig; wir fänden selbst seine Sprache, obgleich unerhört in den Acten der
Diplomatie, durch die Umstände erklärt und gerechtfertigt, und doch war das
Gefühl, mit dem wir sie lasen, alles andere eher als das der Befriedigung.
Es wird für den, der einem kleinen unhistorischen Staat angehört, schwer sein,
sich von diesem Gefühl eine Vorstellung zu machen. Wie kann sich die einzelne
Ziffer in den Millionen, welche den preußischen Staatsverband ausmachen,
durch einen Schlag getroffen fühlen, der nicht einmal dem Staat, der wenig¬
stens zunächst'nur der Negierung gilt? Wie kann es den Privatmann, dem
sich seine Negierung nur durch Confiscationen, Ausweisungen und Ähnliche
Freundschaftsbezeugungen in Erinnerung bringt, verletzen, wenn ein fremder
Staat dieser Regierung gegenüber eine Sprache führt, die er am liebsten selbst
führen möchte, wenn er die Macht dazu hätte? Und doch ist es so: und wir
sind fest davon überzeugt, daß bei weitem in der Mehrzahl der preußischen
Staatsbürger, auch wenn sie das Verhalten der Regierung so mißbilligen
wie wir, sich dasselbe Gefühl geltend machen wird. Das ist das Geheimniß
eines geschichtlich aufgewachsenen Staatsorganismus, der das Leben des Ein¬
zelnen in das Leben des Ganzen-aufnimmt, und das ist es zugleich, was in
uns den Glauben an Preußens Bestimmung für Deutschland aufrechthält,
wenn' unser Verstand auch kein Mittel mehr zeigt, durch Wahrscheinlichkeits¬
rechnung .dieselbe zu bewähren.
Wir haben seit geraumer Zeit geschwiegen, weil wir in einem Moment
der allgemeinen Erschlaffung es für ziemlich gi'eichgiltig halten, was die Presse
überhaupt thut, und weil ein zweckloses Märtyrerthum uns als etwas Roman¬
tisches erscheint. Zudem versicherte die preußische Negierung fortwährend durch
ihre officiellen und nichtofficiellen Blätter, daß die Maxime ihres Handelns von
den Rathschlägen ihrer Freunde aus der Kreuzzeitung weit entfernt sei, und
daß sie von einer verborgenen Weisheit geleitet werde, die nur der Eingeweihte
verstehen könne. Namentlich versicherte sie direct und indirect überall, daß das
Publicum über die Stellung Oestreichs sich der unbegreiflichsten Verblendung
hingebe. Wir hatten zwar ziemlich starke Gründe, an diesen Versicherungen zu
zweifeln, aber wir konnten doch die Möglichkeit nicht ableugnen, daß in den
diplomatischen Verhandlungen so manches vorgekommen sei, was, wenn es
bekannt wäre, auf die Handlungsweise der verschiedenen Staaten ein andres
Licht werfen würde. Ein sehr weit verbreitetes und einflußreiches Organ, bei
dem wir einen Einfluß von Seiten der Negierungskreise durchaus nicht anneh¬
men konnten, erklärte sich zu unsrer Ueberraschung mit der Politik.des Cabiners
durchaus einverstanden und da es doch schwerlich ganz ohne Rücksicht auf
sein Publicum eine so entscheidende Wendung einschlug, so mußten wir anneh¬
men, daß die Opposition des preußischen Volks in dieser Frage wirklich nicht
so groß sei, als wir es uns vorgestellt hatten.
Jetzt ist aber der Schleier von diesen Geheimnissen gelüftet, und wir sind
in der That sehr begierig, wie die conservativen und demokratischen Freunde
der Regierung sich aussprechen werden. Wir sagen, der Schleier ist gelüftet,
obgleich für den gewöhnlichen Menschenverstand kein Schleier vorhanden war;
denn Oestreichs Politik erschien so zusammenhängend und folgerichtig) daß nur
durch Annahme einer völlig unbekannten und versteckten Thatsache ein Wider-
Spruch hineingebracht werden konnte. Es hat sich jetzt herausgestellt, daß
Oestreichs Handlungen mit seinen Worten vollkommen übereinstimmen, und
daß es nicht seine Schuld-ist, .wenn es Preußen das Gegentheil vorwerfen muß.
Jetzt möchten wir die preußische Regierung fragen, was sie durch ihre
dem beschränkten Unterthanenverstand verborgene Staatsweisheit eigentlich er-,
reicht hat? — Sehen wir uns zunächst im deutschen Volk um, oder um den
bescheideneren Ausdruck zu gebrauchen, im deutschen Publicum, so finden wir
neben den vielen aus der Kirchspielpolitik beruhenden Antipathien gegen Preu¬
ßen auch eine sehr zahlreiche, durch Bildung und Besitz einflußreiche Partei,
welche, soviel es in ihren Kräften stand, entschieden für Preußen und gegen
Oestreich arbeitete. Solche Sympathien kann nur derjenige gering anschlagen,
der von der Vorstellung ausgeht, die Regierungen schwebten in der Luft und
bedürften keines natürlichen Bodens. Von dieser Partei ist gegenwärtig die
Mehrzahl aus natürlichen und völlig gerechtfertigten Gründen ins östreichische
Lager übergegangen. — Sehen wir das Ausland an, so unterbricht uns frei¬
lich die preußische Negierung durch die Versicherung, sie werde die preußischen
Interessen nicht sür einen Händedruck der Times aufopfern. Wir glauben
gern, daß es dem Herrn Baron von Manteuffel auf einen Händedruck des
Herrn Walter nicht ankommen wird, und finden auch keinen Grund, auf diesen
Händedruck ein größeres Gewicht zu legen als der Chef des preußischen Mini¬
steriums. Aber Herr Walter ruft in das Publicum nur aus, was ihm vom
Publicum entgegenhallt, und wie das englische Publicum über die Politik eines
Staats urtheilt, dürfte doch von größerer Wichtigkeit sein, als die Ansichten
und Meinungen des deutschen Publicums, umsomehr da die Regierung dies
Mal ganz'der Ansicht ihres Publicums ist. Von Frankreich gilt dasselbe. —
Noch in den ersten Monaten dieses Jahres waren die Regierungen der West¬
mächte entschlossen, die Theilnahme Preußens durch nicht unbedeutende Zu-
sicherungen zu erkaufen. Im gegenwärtigen Augenblick dagegen dürften sie
sich leicht versucht fühlen, die Rolle der Kumäischen Sibylle zu spielen, und
für den nämlichen Preis etwas unendlich Geringfügigeres zu bieten.
Endlich Oestreich. Was hat der preußischen Regierung das Verbot des
Lloyd gefruchtet? Von den Diatriben des Herrn Warrens sie verschont, da¬
gegen muß sie sich gefallen lassen, was ihm Herr von Buol zu sagen sür
gut findet, und man kann nicht behaupten, daß dieser Staatsmann sich glimpf¬
licher ausdrückt als der Redacteur eines Blattes, das doch immer keine öffent¬
liche Stellung hat. Freilich man kann auch die officielle Wiener Zeitung ver¬
bieten und wenn das nicht genügt, die sämmtlichen deutschen Blätter und die
preußischen obendrein. Aendert man aber damit die Thatsachen?
Oder hat man durch die bisherige Richtung etwa Rußland gewonnen?
Für den Fall, daß der Krieg fortdauert, und daß Preußen, aus seiner Neutra-
tidal getrieben, sich der russischen Allianz anschließt, allerdings; aber dieser
Gewinn scheint uns doch ein verzweifelt geringer. Wir können in dieser Be¬
ziehung einen competentercn Richter citiren als wir es sind, den ehemaligen
preußischen Kriegsminister, dessen Worte wol noch in aller Gedächtniß sein
werden. — Wenn aber die preußische Regierung glauben sollte, Nußland auch
für den Fall gewonnen zu haben, daß jetzt der Friede zu stände kommt, so
dürfte das doch ein ungeheurer, verhängnißvoller Irrthum sein. Die preu¬
ßische Haltung ist allerdings der russischen Politik die bequemste, vielleicht
bequemer als eine offene Allianz, aber sie ist nicht von der Art, ihr jenes Gefühl
einzuflößen, welches die Fortdauer der Verbindung wünschen läßt. Im Gegen¬
theil wird Nußland, wenn es jetzt durch die Starken eine Einbuße erleidet,
sich später an dem zu cnschädigcn suchen, der es seine Stärke nicht hat fühlen
lassen. Die Lage, in der sich Preußen sämmtlichen Mächten gegenüber befindet,
wenn heute der Friede geschlossen wird, ist wahrlich keine beneidenswerthe.
Oder hat Preußen doch einen Gewinn gemacht? Sind vielleicht diejenigen
deutschen Regierungen, die es früher immer mit Oestreich hielten, jetzt auf
Preußens Seite getreten? — Wir trauen zwar der preußischen Diplomatie
keine übertriebene Scharsstcht zu, allein über diesen Punkt sie eines Bessern zu
belehren, halten wir doch für überflüssig.
Die Lage der Dinge ist sehr schlimm, schlimmer als vor den Tagen von
Olmütz. Damals führte Oestreich eine ähnliche Sprache gegen Preußen als
heute, aber damals war Preußen in seinem guten Recht und konnte sich nur
nicht zu dem Bewußtsein seiner Macht zusammenraffen. Wenn wir auch nicht
der Ansicht sind, die damals ausgesprochen wurde, daß der Starke seine Stärke
durch Zurückgehen bethätigt, so gestehen wir doch zu, daß es Augenblicke
gibt, wo der Starke vor dem Stärkern zurückgehen muß. — Aber heute ist
die Sache anders. Was will Preußen auf die Beschuldigung Oestreichs ant¬
worten, daß es ein Wiverspruch sei, gewissen Anforderungen seine Unterstützung
zu verheißen und sogleich gegen dieselben Anforderungen moralische Bedenken
zu erheben?
Die Lage ist schlimm, aber sie ist nicht verzweifelt. Wie herausfordernd
auch die Sprache Oestreichs sein mag, es weiß doch sehr gut, daß es mehr
in seinem Interesse liegt, mit Preußen als gegen Preußen zu gehen. Den
ersten Schritt, den ihm Preußen entgegenkommt, wird es durch zwei corre-
spondirende Schritte erwidern. Wir sind keineswegs der Ansicht des Herrn
von Gerlach, daß es für einen Staat, der einen Fehler begangen, das größte
Heil sei, so tief als möglich gedemüthigt zu werden. Wir. halten diese Ansicht
für höchst unpatriotisch, für höchst unpreußisch. Jede Demüthigung beeinträch-.
ligt die Würde eines Staates ebensogut, als die eines einzelnen. Aber wenn
ein Staat einen Fehler begangen hat, so soll er ihn, sobald er ihn erkennt,
schnell und entschieden Wieder gutmachen, Preußen kann es noch thun, es
kann es sogar noch auf eine würdige Weise thun. Die Ehre des ganzen
preußischen Volks gibt ihm dazu die Mittel an die Hand. Wenn Preußen
sich den gerechten Anforderungen Oestreichs bequemt, so kaun es dabei das
volle Selbstgefühl einer stark entwickelten Staatsgewalt und einer durch ge¬
schichtliche Bande geketteten Nation entwickeln,. Und wenn das geschieht, so
wird Oestreich klug genug sein, alles das wieder gutzumachen, was in sei¬
nem letzten Schritt für dieses Selbstgefühl Verletzendes liegen könnte.
Möchte Preußen sich schnell entscheiden, Wir hegen vor dem berühmten
„zu spät" nicht jene abergläubische Furcht, die jede Minute nach der Uhr sieht,
aber es kommt allerdings eine Zeit, wo das Gespenst ungerufen eintritt.
Ludwig Tiecks gesammelte Novellen. Vollständige Ausgabe in 12 Bünden.
Berlin, G. Reimer. —
Der elfte Band dieser Sammlung ist jetzt erschienen und wir benutzen
diese Gelegenheit, unsrem Versprechen gemäß eine chronologisch geordnete
kurze Skizze der einzelnen Novellen zu geben, mit Ausschluß derjenigen, die
wir bereits besprochen haben und mit dem Vorbehalt«, beim Erscheinen der
letzten Lieferung den Schluß hinzuzufügen.'
Die Gemälde (182Z), die erste derNovellen, mit welcher Tieck seine
neue künstlerische Thätigkeit eröffnete, ein Jahr, nachdem durch Hoffmanns
Tod das Feld sür die Novellisten freigemacht war, ist vielleicht der glücklichste
Griff, den der Dichter überhaupt gemacht hat. Zwar ist in der Anlage der
Novelle das Vorbild Hoffmanns mit seinen sämmtlichen Vorzügen und Fehlern
nicht zu verkennen. Es kommt dem Dichter nur auf Bilder, Anschauungen,
Stimmungen und Ideen an; die Ereignisse und Charaktere müssen sich diesen
Bedürfnissen fügen: aber die. Bilder sind in der That von einer bezaubernden
Anmuth und Frische, und was die Ansichten, namentlich über Kunst, betrifft,
so hat Tieck vor Hoffmann den unverkennbaren Vorzug größerer Bildung
voraus. Hoffmann geht immer völlig in seinen Kunstenthustaömus auf. Wer
nicht von vornherein mit ihm übereinstimmt, oder nicht wenigstens die gleiche
enthusiastische Anlage mitbringt, wird seiner Schilderungen bald müde. Tieck
dagegen befriedigt den Spötter wie den Gläubigen. Zuerst geht er mit dem
größten Ernst auf den Idealismus der Kunst ein, dann aber regt sich plötzlich
unvermuthet der Schalk, und der classische wie der romantische Kunstbegriff, die
Kennerschaft wie der Dilettantismus, werden mit gleichem Spott übergössen.
Ein humoristischer Gauner, der übrigens vollständig in der Hoffmannschen
Manier angelegt ist, erweist sich alö der einzig Verständige in diesem ganzen
Kunsttreiben. Mit nicht geringerem Leichtsinn wie mit den ästhetischen Begriffen
wird mit den sittlichen umgesprungen. Ein Bruder Liederlich, dem kein anderes
Verdienst zukommt, als das zweifelhafte der Gutmüthigkeit, gewinnt den
Preis. Die Moralisten und Vernunftmenschen werden beschämt. Aber'wer
nicht Tiecks übrige Werke kennt, und sich daran erinnert, daß in dieser Ironie
gegen allen Ernst des Lebens das gefährliche Princip der romantischen Schule
versteckt lag, empfindet in diesen heitern, anmuthigen und dem Anschein nach
unbefangenen Bildern die innere Unwahrheit nicht heraus. Erst wenn man
diese schone Sinnlichkeit zu analysiren anfängt, erkennt man die Unwahrheit der
Darstellung. Die Figuren sind nur um der Einfälle wegen da; sie haben
kein inneres Leben, keinen realen Boden. Trotz ihrer anscheinenden Modernität
schweben sie ebenso in der Luft, wie die Tendenzbilder in Tiecks früheren
Märchen.
Die.zweite Novelle, die Verlobung (1823) empfiehlt sich gleichfalls
durch eine heitere Stimmung und durch frische Farbe. Sie ist die dreisteste
Satire gegen die damals wiedererwachende Frömmelei, die man in Deutschland
gewagt hat. Wen es Wunder nimmt, daß grade Tieck, der sich doch in seinen
frühern Versuchen mit so feierlicher Salbung über die Religion hatte vernehmen
lassen, hier so ganz auf Seite der Weltkinder tritt, und unter dem Vorgeben,
die erheuchelte Frömmigkeit zu entlarven, das innere Wefen des Pharisäerthums
mit unerbittlicher Geißel trifft, der muß folgendes erwägen. Einmal hatten
grade damals die Pietisten den Freunden der Poesie großes Aergerniß gegeben;
ein Jahr vorher waren die falschen Wanderjahre von Pustkuchen erschienen, in
denen die heidnische, weltliche Gesinnung des Dichters von einem beschränkten
Christenthum aus verdammt wurde. Dieser frömmelnden Werkheiligkeit gegen¬
über konnte sich der Apostel der reinen Poesie wol versucht fühlen, die Freude
.am Leben selbst im einfachsten epikureischen Sinn zu rechtfertigen. Außerdem
war Tiecks Religiosität immer nur in der Phantasie gewesen, nicht im Herzen;
er hatte die Religion im poetischen Sinn vertheidigt, aber wo sie aus der
Poesie heraustreten und sich im Leben geltendmachen, ja wol gar die ironische
Freiheit des Dichters beeinträchtigen wollte, durfte er sie nicht gelten lassen;
grade wie Aristophanes hätte er sich wol unter Umständen als ein begeisterter
Apostel des Dionysos-Cult geberdet, wenn sich der Gott nur gefallen ließ, an
seinem eignen Fest als Hanswurst verspottet zu werden. Die auf Speculation,
Phantasie und Mystik gegründete poetische Religion der Romantiker war eine
ganz andere, als die praktischen Versuche des neuerwecklen christlichen Glaubens.
Dies kann nicht oft genug wiederholt werden, wenn man nicht fortwährend
in die ärgsten Mißverständnisse verfallen will.
Der Geheimnißvolle (1823) spielt in den Zeiten der französischen
Herrschaft und sieht fast so aus, wie ein gelinder Spott gegen den National-
enthustasmus. Der Held, der beinahe dazu gekommen wäre, als Märtyrer der
guten Sache zu fallen, ist ein Lügner und Windbeutel ohne allen Inhalt, ja
ohne allen Humor. Er entschädigt uns nicht wie Falstaff für seine sittliche
Hohlheit durch übermüthige Laune und Ueppigkeit der Erfindung, er ist viel¬
mehr in seinen Lügen so trocken und hilflos, daß er in gewissem Sinne unser
Mitleid erregt. Dieses Mitleid hat der Dichter auch in der That geltenv-
gemacbt. Er läßt den hohlen Prahlhans glücklich werden mit gelinder An¬
deutung, daß er sich bessern werde. ES ist das eine höchst seltsame Erfindung
und sieht fast so aus, als ob nach der Ansicht des Dichters doch auch die
heiligsten Regungen des Menschenlebens zum großen Theil auf Wahn und
Einbildung beruhten; so daß man gegen die ausgesprochene Lügenhaftigkeit
keine Ursache habe, den Trumpf sittlicher Entrüstung auszuspielen.
Noch viel seltsamer ist die Erfindung in der folgenden Novelle: Die
Reisenden (1824). Die Scene geht in einem Irrenhaus vor sich, in welchem
zuletzt der Arzt und Director gleichfalls verrückt wird und die sämmtlichen
Kranken als geheilt entläßt. Nach der Vorstellung von der Welt, die man
aus dieser Erzählung gewinnt, hat er auch gar nicht zu unrecht; denn die an¬
geblich vernünftigen Menschen, die'diesen befreiten und umherirrenden Tollen
begegnen, sind eigentlich viel verrückter als diese: ja es steht so aus, als ob
der sogenannte gesunde Menschenverstand nur in einer gewissen Talentlosigkeit,
in einer Unproductivität der Phantasie bestehe. In dem allgemeinen Irrenhaus,
welches die Welt genannt wird, scheinen die ausgebrochenen Tollen die legi¬
timsten Bürger zu sein. Glücklicherweise vermeidet Tieck bei dieser Darstellung
wenigstens den schlimmsten Fehler, in den Hoffmann wahrscheinlich verfallen
sein wurde; nämlich den Wahnsinn auch noch von seiner tragischen Seite zu
zeigen. Er bleibt stets in der reinen Posse, grade wie Kotzebue in seinem
Pachter Feldkümmel, wobei man freilich die Frage ausstellen kann, ob es auch
erlaubt ist, den Wahnsinn' von der komischen Seite zu zeigen. Eine reine,
volle und üppige Komik wird doch dadurch nicht hervorgebracht; denn bei der
bloße-n Absurdität fehlt uns der Maßstab, den wir bei einem unbefangenen
Gelächter nicht entbehren können.
Die musikalischen Leiden und Freuden (1824.) sind in der Anlage
wie in der Ausführung ganz im Hoffmannschen Geschmack, aber viel ungeschickter
und unreinlicher erzählt. Tieck hatte durchaus keine Veranlassung, auf diesen
Dichter, der zugleich sein Nachahmer und sein Vorbild war, mit soviel Gering¬
schätzung herabzublicken. Die Ansichten, die er bei dieser Gelegenheit in der
Musik entwickelt, sind viel schwächer und unbedeutender als bei Hoffmann. Man
sieht den bloßen Dilettanten.
Die Gesellschaft auf dem Lande (182S) zeigt in ihrer humoristischen
Redeweise mehr Anklang an Jean Paul, als wir sonst bei Tieck gewohnt sind,
wenn auch die Ironie nicht fehlt. Charakteristisch ist in dieser Geschichte, die
übrigens recht unbedeutend ist, nur die Figur des ehrlichen Pommer, des Guts-
verwalters, dessen ganzes Leben sich auf die Erinnerungen an den siebenjährigen
Krieg, den er als Husar mitgemacht, zusammenzieht. Er lebt mit einer rüh¬
renden Leidenschaftlichkeit in diesen Erinnerungen, und selbst der Stolz, mit dem
er einen ungeheuren Zopf trägt, gewissermaßen das Symbol jener großen Zeit, wird
uns dadurch begreiflich und erträglich. Nun schneidet ihm ein Spaßvogel, der
ihn schon früher fortwährend belästigt, einmal heimlich diesen Zopf ab. Der
ehrliche Husar wird davon so schmerzlich getroffen, daß er in eine Krankheit
verfällt und stirbt. Nach seinem Tode ergibt sich, daß sein ganzes Leben eine
Lüge war, daß er nie den siebenjährigen Krieg mitgemacht hat, nie Husar ge¬
wesen ist, sondern ein ehrlicher Schneider. — Aller Glaube und aller Inhalt
dieses Lebens ist Wind! Das ist auch dies Mal der rothe Fade», der sich durch
diese .seltsamen Erfindungen zieht. — Uebrigens zeigt sich hier die Manier auch
im Stil schon viel unangenehmer, als in den frühern Novellen. Das Ge¬
machte und Unnatürliche in der Redeweise der einzelnen Personen, von denen
keine so spricht, wie es ihrem Stande und ihrer Bildung angemessen wäre,
wird dies Mal durch den anmuthigen Schleier der Dichtung kaum mehr versteckt.
Glück giebt Verstand (1826). In dieser Novelle wird, wie früher
die Lüge und der Wahnsinn, die Einfalt und Schwäche emancipirt. Ein auf¬
fallend unbedeutender Mensch, sowol seinem Verstand als seinem Charakter
nach, macht Glück und wird zu den höchsten Ehrenstellen des Landes befördert.
Offenbar hat dem Dichter bei dieser Erfindung das Volksmärchen vorgeschwebt,
in welchem gleichfalls in der Regel die treuherzige, resolute und gutmüthige
Einfalt den Preis über List, Verschmitztheit und Gewalt davon trägt; aber
was im Märchen das natürlichste ist, erscheint im Rahmen der Novelle, die
uns in bestimmte gesellschaftliche Zustände einführen soll , als sinnlos und ab¬
geschmackt. Aus dieser Novelle kann man recht sehen, wie wenig Einsicht der
Dichter trotz seiner scharfen Ironie in das wirkliche Leben hat. Alle Einzeln¬
heiten der Begebenheit, die er uns erzählt, sind unnatürlich und unmöglich,
und dabei werden wir doch zu sehr an die Details der Wirklichkeit erinnert,
um uns unbefangen dem träumerischen Spiel der Phantasie hingeben zu kön¬
nen. Wahrscheinlich hatte Tieck das Leben eines Taugenichts von Eichendorf
im Auge, das ein Jahr vorher erschienen war. Aber in diesem hatte der
Dichter die Zauberwelt der Romantik mit so hellen, saftigen Farben auszumalen
gewußt, daß man in der That, trotz der scheinbaren Beziehung auf die Wirk¬
lichkeit, dieselbe ganz aus den Augen verlor.
Der 1ö. November»(l827). Dies Mal ist ein Wahnsinniger oder viel-
mehr Blödsinniger der Held, der aber nicht blos tiefer und reiner empfindet,
sondern auch feiner begreift und einen praktischeren, consequcnteren Willen hat,
als die vernünftigen Leute. Eine durchaus abgeschmackte Erfindung, die uns
recht lebhaft verherrlicht, zu welchen Conseguenzen endlich ein abstracteö Princip
verleitet, und die durch einen Beischmack von Frömmelei durchaus nicht erträg¬
licher gemacht wird.
Der Gelehrte (18Ä7). Die Novelle hat einen vortrefflichen sittlichen
Grundgedanken, nämlich die Polemik gegen den Dilettantismus im Wissen.
Einzelne Ausführungen dieses Princips überraschen durch ihre eindringende
Wahrheit. Und diese Verherrlichung der ernsten Gelehrsamkeit von Seite der
Romantik würde uns noch mehr befremden, wenn sich dahinter nicht zugleich
die alte Polemik gegen den Rationalismus versteckte, der an Stelle der Phi¬
lologie in die Schulen die Naturwissenschaft oder vielmehr eine Sammlung von
einem nützlichen Allerlei einführen wollte. Uebrigens macht die Novelle bei
ihrer durchweg harmlosen Haltung einen wohlthuenden Eindruck, obgleich das
Märchen von Aschenbrödel ungeschickt in das moderne Leben verwebt ist und
obgleich beim genauern Zusehen der Realismus der Handlung ziemlich stark
zusammenschrumpft. Von dem Leben eines Gymnasialdirectors scheint sich Tieck
doch keine sehr bestimmten Vorstellungen gemacht zu haben.
Pietro von Abano l"> 8Ä8). Hier hat Tieck einmal den Versuch gemacht,
eine Wundergeschichte ganz ernsthaft, ohne alle Beimischung von Ironie zu er¬
zählen. Es ist ihm nicht gelungen. Zwar ist der Stil bei weitem feiner
und gebildeter als bei van der Velde oder ähnlichen Tagesschriftstellern, aber
die Erfindungen der letzteren sehen doch natürlicher aus, und haben mehr innere
Consistenz und Haltung, als diese gezierte Geistergeschichte.
Der Alte vom Berge (1828) erinnert mehr an die alte Weise seines
Schaffens, als die übrigen Novellen; namentlich treten Reminiscenzen an den
Runenbcrg und an die Bergmannsgcschichte im Heinrich von Ofterdingen hervor,
wenn auch die alte Romantik durch moderne Beziehungen abgeschwächt ist.
Einige Male nimmt der Dichter einen ganz ernsthaften Anlauf, um den Grü¬
beleien des tiefsinnigen alten Menschenfeindes mit seiner Empfindung nachzu¬
folgen und sie wiederzugeben, und wir werden dann durch eine wirkliche
Poesie des Gedankens und der Empfindung überrascht. Aber diese Poesie
wird sehr bald durch bizarre und .sinnlose Erfindungen überdeckt, die jede
ernsthafte Theilnahme unmöglich machen. Der eigentlich novellistische Theil
ist ganz, leichtsinnig gearbeitet; von einer sittlichen Klarheit ist keine Spur;
der Ausgang ist fade und albern und der Schlußcindruck durchaus verstimmt.
Das Zauberschlo ß (1830). Wieder eine Gespenstergeschichte und dies Mal
eine recht ernsthafte, die wenigstens dem Anscheine nach dazu bestimmt ist, uns
zu erschrecken und zu beängstigen. Wer nicht geir^ne Aufmerksamkeit auf den
Stil verwendet, würde sich versucht fühlen, diese capriciöse Erfindung gradezu
Hoffmann zuzuschreiben. An sich ist die Erfindung der gespenstischen Ernestine
auch nicht schlecht, obgleich wir es immer für eine Entwürdigung der Kunst
halten, wenn sie sich mit Larven abgibt,. Aber der Eindruck wird durch zuviel
unnützes Beiwerk und durch eine zu breite Darstellung abgeschwächt.
Die Wundersüchtigen (18Z1). Eine der besten Novellen unsres
Dichters. Die beiden Figuren des Cagliostro und Schrepfer sind sogar nicht
ohne Genialität angelegt, und der Wunderglaube des gebildeten Pöbels ist
mit einem köstlichen Humor dargestellt. Nur hat die Novelle zwei Fehler.
Einmal ist das Costüm der Zeit vergriffen, was hier, wo es sich um eine be¬
stimmte Verirrung des Geistes handelt, nicht unwesentlich war; sodann ist der
Geist des Dichters doch nicht ganz von den Thorheiten frei, die er verspottet.
Freilich wollte er das Wunder nur für die. Poesie gelten lassen, nicht sür das
praktische Leben, aber die Scheidelinie ist schwer zu ziehen, und wenn beide
Gebiete ineinander übergreifen, so wird dadurch die Darstellung verwirrt.
Der Jahrmarkt (1832). Dies Mal überwiegt das stoffliche Interesse.
Es ist eine phantastische Posse, in der eine Reihe glücklich geschilderter komi¬
scher Figuren und Intriguen sich zusammendrängt. Einzelne Erfindungen sind
vortrefflich und werden ihre Wirkung nie verfehlen. Im ganzen ist das Ge¬
dränge zu groß, um einen unbefangenen und ruhigen Genuß zu'erlauben;
ümsonK'hr, da die Sünden gegen die Naturwahrheit doch gar zu häufig vor¬
kommen. In dem Versuch, die Naivetät darzustellen, fällt der Dichter nicht
selten in die Kotzebuesche Manier und erinnert uns gradezu an Gurly. Die
Satire gegen die Jean Paulsche Empfindsamkeit, gegen die Jesui.tenriecherei und
ähnliche Thorheiten, die Tieck auch so oft verspottet, macht dies Mal eine um
so bessere Wirkung, da sie ziemlich harmlos ist.
Der Mondsüchtige (1832). Eine Apologie Goethes gegen die Libe¬
ralen, deren Angriffe gegen den aristokratischen Dichter damals grade sehr
lebhaft wurden. Fade und manierirt.
Die Ahnenprobe (1833). Die Tendenz, die socialen Gegensätze möglichst
auszugleichen und die guten Seiten der gesellschaftlichen Unterschiede hervorzu¬
heben, ist an sich sehr zu loben, aber die Ausführung läßt vieles zu wünschen
übrig/ Die liberalen Gegner des Adels werden als lauter Elende und Tolle
dargestellt; der Edelmann selbst ist in seinem Ahnenstolz zu sehr doctrinär, zu
wenig natürlich, zu sehr der Reflexion ausgesetzt, um als eine historisch berech¬
tigte Erscheinung zu wirken. Er ist im Grunde doch nur veredelter Kotzebue.
Der Ahnenstolz hat gewiß, wie alle Einseitigkeiten, seine sehr berechtigten Seiten.
Wenn man ihn aber schildern will, so muß man sich aller modernen Empfind¬
samkeit entschlagen. Man muß eine Leidenschaft und ein Vorurtheil, das als
solches bedeutend in die Geschichte eingegriffen hat, nicht als eine bloße
'
Reflexion des Verstandes oder gar als eine romantische Grille schildern wollen.
Man muß es serner nicht durch Weichmüthigkeit abschwächen, man muß es
vielmehr den andern historischen Kräften überlassen, die Einseitigkeit zu cor-
rigiren. — Der Ton der Erzählung ist gut getroffen; die Frauencharakrere sind,
wie fast immer bei Tieck, verfehlt.
Eine Sommerreise (183i). Die ziemlich ausführliche Novelle, die aber
sehr nachlässig componirt ist, enthält vorzugsweise literarische Reminiscenzen
aus der Periode von 1803, die uns sehr interessant sein würden, wenn Tieck
nicht fortwährend Wahrheit und Dichtung vermischt hätte. ' Einzelne Bemer¬
kungen sind für die Charakteristik des romantischen Princips sehr wichtig.
Wir heben die eine derselben hervor, welche sich aus das Verhältniß des künst¬
lerischen Idealismus zu den realen Ueberzeugungen des Dichters bezieht.
... Don Quixote, so treu, edel und' herzhaft er ist, nimmt sich etwas vor. das, obgleich
es schön und herrlich ist, er auszuführen keine Mittel besitzt.... Die Phantasie des ebenso
braven als poetischen Manchancrs ist dnrch jene Bücher verschoben, die schon längst der Poesie
ebensosehr wie der Wahrheit abgesagt hatten. Das, was noch in ihnen poetisch war, oder
jenes Phantastische, was das Unmögliche erstrebte, sowie die schönen Sitten der Ritterzeit,'
alles dies durfte der ehrsame Herr Quixote wol in einem seinen Sinne bewahren, ja sich zu
jener adligen Tugend seines eingebildeten Ritters hinancrzichen, wenn er nicht darauf aus¬
gegangen wäre, diese Fabelwelt in der wirklichen aufzusuchen und in diesem von Mond und
Sonne zugleich beschienenen Gemälde den Mittelpunkt und die Hauptfigur selbst zu formtreu.
Er. war aber im Recht, wenn er, manchen seiner Zeitgenossen entgegen, die Lichtseite und die
Poesie jener entschwundenen Zeit und Sitte würdigte, wenn er sich selbst als Dichtcrsteund
an dem ganz Thörichten und Phantastischen seiner Bücher ergötzte/ Nun aber zog er aus,
alles das, was ihm begeisternd vorschwebte, selbst zu erleben; jeues unsichtbare Wunder, welches
ihn reizte, wollte er mit seinen körperlichen Händen erfassen und als einen Besitz sich an¬
eignen ----
Es wird dann die Anwendung auf einen Anwesenden gemacht, der im
Begriff ist, katholisch zu werden.
Ihre aufgeregte Phantasie würdigt die schöne und bildrciche Seite des katholische» Cultus,
Sie sind in unsern späten Tagen von jener Rührung durchdrungen, die einst kräftige Jahr¬
hunderte begeisterten. Seit kurzem ist ein religiöser Sinn bei jungen Gemüther» in Deutsch¬
land wieder erwacht, Novalis und dessen Freunde sprechen , reine» und dichten, um das ver¬
kannte Heilige in seine Rechte wiedereinzusetzen; aber diese Anerkennung, diese süße Poesie
des stillen Gemüthes in der Wirklichkeit suchen oder erschaffe» wolle», scheint mir ganz der¬
selbe Mißverstand zu sein, den wir oben charakterisier haben... In einem Gebirgslande verirrt
sich ein Jüngling, der ganz in der zweifelnden Aufgeklärtheit seiner Zeit erzogen, aber dabei
schwärmerisch verliebt ist, in der Einsamkeit des Waldgebirges. Unvermnthet trifft er auf einen
Einsiedler . . . Ueber den Beruf der Einsiedler, über die Wunder der Kirche, über die Legende
und alles, was sich in diesem Kreise bewegt, verwundert sich der Jüngling und kann es nicht
unterlassen, auf seine Weise zu spotten . .„Wie? ruft der Greis, du bist in Liebe entzündet
und kannst doch kein Wunder fasse»? Ist die Blume, welche dein Mädchen berührt, die
Locke, die sie dir geschenkt hat, nicht Reliquie? empfindest, siehst d» an ihnen nicht Licht und-
Weihe, die kein andrer Gegenstand dir bietet? . . und doch verkennst du i» der Geschichte der
Vorzeit den Ausdruck dieser Liebe, in den seltsamen Entzückungen begeisterter Gemüther, blos
weil sie diese Sehnsucht und Herzenstrnukcuhcit nicht ans ein Weib' hingelenkt haben?" —
Der Jüngling wird nachdenkend und besucht den Alten nun, so oft er die Stunde erübrigen
kann. In diesen Zeiträumen erzählt ihm der Greis jene wundersamen Legenden von Einsied-
tern, Jungfrauen, Männern und Kirchenältcsten, die ihr ganzes Geniiith der Beschauung des
Himmlischen, der Enthaltung jener geheimnißvollen Liebe widmeten ... Nach einigen Monaten
erklärt der Jüngling, er sei entschlossen, in den Schoß der alten Kirche zurückzukehren. „Nein,
ruft der Greis, verwechsle nicht diese unsichtbare Liebe mit den Zufällen der Wirklichkeit- Dn
würdest, anstatt des Göttlichen, nnr die Schwachheit unsrer Priester kennen lernen. Wozu,
daß du deinen innern Entzückungen, die im Geheimniß deiner Brust Wahrheit und Bedeutung
haben, in die kalte Wirklichkeit verpflanzen willst, in welcher sie erstarren und verwelken müssen?"
....Das erste Wahrnehmen, der Blick der Begeisterung, die Aufregung der Liebe findet immer
und trinkt den reinen Brnnnqnell des Lebens; aber nun will der Mensch im Schauen das
Wahre noch wahrer machen, der Eigensinn der Consequenz bemächtigt sich des
Gefühls und spinnt aus dem Wahren eine Fabel heraus, die dann ost mit
den Wahngeburten der Irrenhäusler in ziemlich naher Verbindung steht. —
Nun klingt das zwar sehr aufgeklärt und verständig und der Dichter kann
nach Herzenslust in dem Gebiet der Poesie seiner Einbildungskraft die Zügel
schießen lassen, ohne fürchten zu müssen, mit der sittlichen Bildung und Auf¬
klärung seiner Zeit in einen ernsthaften Conflict zu gerathen. Aber wir halten
das Princip dennoch für falsch, ja für das Protvnpseudos der Romantik. Die
poetischen Ideale und die sittlichen Ideale der Wirklichkeit dürfen nicht von¬
einander getrennt werden, sonst geht daraus jene glänzende, aber krankhafte
Dichtung hervor, deren Phosphoreöciren nur ein Zeichen der Verwesung ist.
Man ist in der romantischen und in der jungdeutschen Zeit nicht müde ge¬
worden, gegen die Idee von der moralischen Bedeutung der Poesie zu Felde
zu ziehen, als ob man darunter ein einseitiges Moralisiren und Predigen zu
verstehen habe. Es heißt aber nichts Anderes, als daß man in der Poesie
dasselbe lieben und bewundern soll, was man in der Wirklichkeit liebt und be¬
wundert. Daß Ti.cet und August Wilhelm Schlegel sich durch ihre artistische
Vorliebe für den Katholicismus nicht verleiten ließen, dem Beispiele Friedrich
Schlegels zu folgen, und im Schoß der alleinseligmachenden Kirche ebenso das
Heil für ihr Gemüth zu suchen, wie in den Lobliedern ans die Jungfrau Maria
die Befriedigung ihrer Phantasie, macht ihrem Verstände mehr Ehre als ihrem
Gemüth. Eine Poesie, die sich für Gegenstände erwärmt und begeistert, von
denen sie bei ruhiger Ueberlegung sagen muß, daß sie diese Wärme und Be¬
geisterung nicht verdienen, jhe ästhetisch'wie moralisch gleich verwerflich; sie ver¬
wirrt die Begriffe und Empfindungen des Volks und hat in sich selbst nur
ein scheinbares Leben, da die bewußte Illusion nie im Stande ist, lebendige
Götter- und Heldengestalten, ergreifende Leidenschaften und ein erschütterndes
Schicksal schöpferisch zu erzeugen.
In dem Anfange der vierziger Jahre, in der Bewegung des philosophischen
Radi.calismus und der Lichtfreunde, schien es fast, als solle sich die erregte
Theilnahme der Laien an den theologischen Händeln, die im siebzehnten Jahr¬
hundert Deutschland in seiner Entwicklung so sehr aufgehalten hat, noch ein¬
mal erneuern. Wir sind sehr damit zufrieden, daß diese Gefahr von unsrer
Bildung abgewandt ist, daß die politische Aufregung die religiöse verdrängt
hat. Es nicht gut für ein Volk, wenn jeder einzelne sich über die Mysterien
deö göttlichen Wesens Gedanken macht, einerlei, ob diese Mysterien in der
Weise des Kaiser Justinian, oder der theologischen Klopffechter aus dem sieb¬
zehnten Jahrhundert oder auch der lichtfreundlichen Pastoren unsrer Tage auf¬
gefaßt werden. Der Protestantismus hebt zwar das Sacrament der Priester¬
weihe auf, aber er führt an Stelle dessen das Amt ein; und wenn auch das
Volk, in geistlichen wie in weltlichen Dingen, auf seine Beamten ein wach¬
sames' Auge haben soll, so darf diese Wachsamkeit doch nicht bis zur unfrucht¬
baren und unerquicklichen Betheiligung an den Einzelheiten gehn, welche die
Thätigkeit der Volkskraft aus ihrer natürlichen Bahn lenken würde. Sobald
die Laien sich über das Gebiet der praktischen Frömmigkeit und des Cultus
hinaus an theologischen Dingen betheiligen, kommt in alle Angelegenheiten
und in die Bildung selbst jene theologische Färbung, die etwas Krankhaftes
und Unnatürliches hat.
Dagegen ist es von der höchsten Wichtigkeit, eine Vermittlung zwischen
der weltlichen Bildung der Gegenwart und dem christlichen Bewußtsein anzu¬
bahnen. Wenn diese beiden Momente einander ignoriren, so tritt eine vor¬
übergehende, fremdartige Bildungsform ein, die wol häufig die schönsten Er¬
scheinungen hervorbringt, wie zu Ende des vorigen Jahrhunderts, die aber
eine unausfüllbare Kluft zwischen Vergangenheit und Zukunft läßt, und die
daher wieder überwunden werden muß, wenn der natürliche Verlauf der Ent¬
wicklung wieder aufgenommen werden soll.
Abgesehen von der unmittelbaren Betheiligung am kirchlichen Leben, das
auch den Gleichgiltigen unsichtbar umgibt und ihn in ein Netz unscheinbarer
und doch werthvoller Beziehungen verstrickt, gibt es kein zweckmäßigeres Mittel,
diese Vermittlung zwischen der Religion und Bildung anzubahnen, als die sihlo-
rische Darstellung der Religion. Wir meinen nicht die Geschichte der Offen¬
barung, die man am unbefangensten aus den Quellen schöpft, sondern die
Geschichte des christlichen Lebens, wie es sich im eignen Volk und zwar in
Perioden, die uns noch nahe liegen, gestaltet hat. '
Bücher, wie das.vorliegende, sind also von einer außerordentlichen Wich¬
tigkeit für das religiöse Leben überhaupt; sie können großen Schaden stiften,
wenn sie leichtsinnig oder vorurtheilsvoll abgefaßt sind, sie können aber der
gesunden Entwicklung sehr förderlich sein, wenn sie warme Theilnahme für die
Sache mit Freiheit und Unbefangenheit der Bildung vereinigen. Je seltner
eine solche Verbindung stattfinden wird, da der Eifer in der Regel die Unbe¬
fangenheit ausschließt, namentlich in geistlichen Dingen, wo sich die Phantasie
leicht dem ordnenden Maß des Verstandes entzieht, desto unerläßlicher ist sie,
wenn aus der Geschichte der Religion nicht ein Zerrbild werden soll.
Wenn man an das vorliegende Werk nicht den streng wissenschaftlichen
Maßstab anlegen will — einen Maßstab, den der Verfasser selbst sehr entschieden
zurückweist — so können wir den Eindruck des Ganzen nur befriedigend nen¬
nen. Der Verfasser vermeidet es absichtlich, sich in die eigentlich theologischen
Streitigkeiten einzulassen; er geht nur soweit auf sie ein, als sie dazu beitra¬
gen, uns ein Bild von den Culiurvcrhältnissen der Zeit überhaupt zu geben. Da¬
gegen geht er'sehr ausführlich auf die Wechselwirkung der politischen und re¬
ligiösen Bewegungen ein, und sucht mit soviel Gerechtigkeit, als für einen, der
selbst einer Partei angehört, möglich ist, nachzuweisen, inwieweit die Cultur
dadurch gefördert, inwieweit sie ausgehalten ist. Mit besonderer Vorliebe aber
stellt er die menschliche Seite der Religiosität dar, ihren Einfluß auf einzelne
bedeutende Charaktere, die theils als Bilder einer religiösen Richtung, theils
als Leiter des geistigen Fortschrittes für die Kulturgeschichte von Wichtigkeit
sind. Erfüllt von den christlichen Glaubenslehren, aber in der festen Ueber¬
zeugung, daß diese nur dann fruchtbar sind, wenn sie auf das praktische Leben
einwirken, und die Gesammtbildung der verschiedenen menschlichen Kräfte be¬
fördern, weist er in den verschiedenen Richtungen der Lutherischen Orthodorie,
des Puritanismus, des Pietismus, ver Mystik und des Rationalismus die
Einseitigkeiten nach, die vorzugsweise darin bestehen, daß sie eine specielle
Geistesthätigkeit zu ausschließlichem Gegenstand der Religiosität machen. Er
vergißt aber nicht hinzuzufügen, daß diese Einseitigkeiten einander ergänzen,
und wenn man sie von der culturhistorischen Perspective betrachtet, ein schönes
Gesammtbild vom Einfluß des Christenthums geben. Es- kommt nun darauf
an, was in' der Culturgeschichte sich in verschiedenen Erscheinungen auseinander¬
breitet, zu einer Gesammtwirkung zu vereinigen; und indem man den Verstand,
das Herz, die Einbildungskraft und das Gewissen gleichmäßig von der Reli¬
gion durchdringen läßt, eben dadurch die Einseitigkeiten, die der ausschließlichen
Bevorzugung der einen oder andern Richtung anhaften, auszumerzen. Wenn
wir also unter den historischen Parteinamen einen auswählen wollten, um
die Stellung des Verfassers zu bezeichnen, so würde es der eines Synkretisten
sein, obgleich er über die praktische Ausführung dieser Ideen anders denkt, als
die würdigen Männer, denen dieser Name zurrst beigelegt wurde. Im allge¬
meinen mochte wol jeder Wohlgesinnte, in dem die Achtung vor der Religion
seines Volks ebenso lebhaft ist, als die Achtung vor der freien Bildung, diesen
Wünschen und Hoffnungen beipflichten, umsomehr, da sie dasjenige voraus¬
setzen, was allen Fortschritt der Menschheit bedingt, nämlich die Freiheit der
Entwicklung.
Da mehr oder minder jeder einzelne der Gegenwart den Einfluß der
Kirche gläubig oder abwehrend empfunden und sich eine bestimmte Meinung
gebildet hat, von weicher aus er seine Kritik der anderweitigen Meinungen
ausübt, so ist es von Wichtigkeit, diese zunächst nur als Vorurtheil aufgenom¬
menen Vorstellungen durch historische Einsicht in das, was sie eigentlich aus¬
drückten, zu ergänzen und zu läutern, und die Milde und Toleranz des vor¬
liegenden Buchs macht es ganz geeignet, in dieser Beziehung zu einem Leit¬
faden zu dienen. —
Culturgeschichte des deutschen Volkes in der Zeit des Uebergangs ans
dem Heidenthum in das Christenthum. Von Heinrich Rückert, Professor
an der Universität Breslau. Zweiter Theil. Leipzig, T. O. Weigel. —
Wir haben bereits beim Erscheinen des ersten Bandes in unsren Lesern
für dieses Werk diejenige Theilnahme zu erwecken gesucht, die uns ein ernstes,
consequentes und auf die edelsten Höhen der Wissenschaft gerichtetes Streben
zu verdienen scheint, auch wo man bei der Neuheit der Bahn nicht erwarten
darf, in allen Einzelnheiten einen befriedigenden Abschluß zu finden, ja wenn
auch hin und wieder bei der Kühnheit der Conjecturen das eine oder das
andere, was durch die strenge wissenschaftliche Methode festgestellt war, in
Verwirrung gerathen sollte. Wir halten das Unternehmen für einen neuen
Schritt zur Verbindung der Philosophie der Geschichte mit der Geschichts¬
wissenschaft.
Daß die Philosophie der Geschichte in neuester Zeit von den meisten Ge¬
lehrten scheel angesehen wird, liegt nicht in der Natur der Sache selbst, son¬
dern theils in der unbestimmten Aufgabe, die sie sich früher stellte, theils in
der leichtsinnigen Art und Weise, mit der sie die Thatsachen behandelte. Gegen
den einseitigen Empirismus, der nur nach Thatsachen ruft, noch anzukämpfen,
ist eigentlich überflüssig; denn abgesehen davon, daß die bloße Feststellung von
sogenannten historischen Thatsachen an und für sich für die Bildung der Mensch¬
heit nicht den geringsten Werth hat, so läßt sich auch bei der Ermittlung der
Thatsachen die Anwendung der Philosophie nicht vermeiden. Was das ^erste
betrifft, so unterscheiden sich die geschichtlichen Thatsachen sehr' wesentlich von
den naturhistorischen Thatsachen/denn die letztern stellen fest, was wirklich da
ist, und haben also für die Bereicherung unsres Geistes einen augenblicklichen,
unmittelbaren Werth, auch wenn sie sich nur auf eine neue Classe von Infu¬
sorien beziehen sollten. Die sogenannte historische Thatsache dagegen hat längst
aufgehört, Thatsache und Wirklichkeit zu sein, wenn man sie als solche feststellt.
Wenn man z. B. heute aus den alten Inschriften herausfindet, daß irgendein
ägyptischer König mit unaussprechlichem Namen irgendeinen assyrischen König
mit gleichfalls unaussprechlichem Namen geschlagen hat, und daß dies bemer¬
kenswerthe Factum zu einer Zeit stattfand, als die Sonne zur Erde diese öde^r
jene Konstellation zeigte, so bleibt diese Thatsache solange ein bloßes Spiel
für Kinder, als man nicht hoffen darf, mit Hilfe derselben Mittel und Wege
zu finden, um auf die Culturentwicklung der Menschheit Schlüsse zu ziehen.
Daß die Geschichte kein bloßer Naritätenkram sein darf, sondern daß sie darauf
ausgehen muß, das Leben des freilich sehr complicirten Individuums, welches
wir Menschheit nennen, als eine Continuität darzustellen, darüber kann heute
gar nicht ernsthaft mehr gestritten werden. Aber auch den zweiten Punkt wird
man uns bei einiger Ueberlegung zugeben. Grade in den wichtigsten Ent¬
wicklungsperioden der Menschheit können die Thatsachen nicht so ohne weite¬
res durch philologische Kritik und ähnliches festgestellt werden. So ist z. B.
die Entstehung'jeder neuen Religion, auch wenn sie, wie das Christenthum,
in eine Zeit fällt, die in andrer Beziehung hinlänglich aufgehellt ist, in tiefes
Dunkel gehüllt, und die Quellen derselben werden philosophisch, d. h. mit sorg¬
fältigem Studium über die Natur des menschlichen Geistes durchforscht werden
müssen, wenn man überhaupt aus ihnen etwas machen,' sie zur Feststellung
einer sogenannten Thatsache benutzen will. Wenn man z. B. früher die Evan¬
gelien miteinander verglich, und in einzelnen wesentlichen und unwesentlichen
Punkten Abweichungen und Widersprüche antraf, so war diese Entdeckung wol
insofern von Wichtigkeit, als dadurch die Meinung widerlegt wurde, der hei¬
lige Geist habe den Evangelisten ihre Geschichten in die Feder dictirt, weil die
Annahme, daß der heilige Geist sich widersprechen könnte, wenigstens nicht
viel Wahrscheinlichkeit für sich hat. Aber wenn man mit dieser Methode über
den negativen Zweck hinausgehen und positive Thatsachen feststellen wollte, so
kam man in der Regel zu sehr einfältigen Resultaten. Um die Thatsachen der
Urgeschichte des Christenthums festzustellen, (nicht für die Kirche, sondern für
die Wissenschaft,) wird es viel wichtiger sein, die Natur der menschlichen Reli¬
giosität überhaupt, den Zustand der religiösen Entwicklung zu Christi Zeit und
ähnliches, was ins philosophische Gebiet gehört, festzustellen, als Thatsachen
aus dem einen Evangelisten in den andern einzuschalten, andres auszumer-
zen u, s. w. , Die Thatsache, die in der Zahl der Leute liesse, welche Christus
mit einer kleinen Anzahl von Fischen speiste, scheint uns ungleich unwichtiger
als die Frage, was sich die Juden zu Christi Zeit unter dem erwarteten Mes¬
sias vorstellten, weil die erste Thatsache uns über die Natur der neuen Reli¬
gion gar nichts lehrt, während das Zweite uns wenigstens zu einem Theil
ihrer Mysterien den Schlüssel gibt,
Uebrigens hat die sogenannte historische Schule, so sehr sie gegen die
philosophische zu Felde zog, sich im ganzen derselben Mittel bedient und den¬
selben Zwecken nachgestrebt. Es kam Niebuhr, Müller u, s. w. ebenso darauf
an, durch die Combination der einzelnen Thatsachen und durch Herbeiziehung
tfer Regeln, die theils aus Analogien, theils aus dem Studium des mensch¬
lichen Geistes überhaupt entsprangen, ein zusammenhängendes Bild von Zu¬
ständen und ihrer Entwicklung zu entwerfen, als den Philosophen sämmtlicher
Schulen. Daß sie auf die Analogie ein größeres Gewicht legten, als Hegel
u, f. w, war an sich noch kein qualitativer Unterschied; denn die Analogie
konnte ihnen doch nicht als bloße Thatsache etwas gelten, sondern nur insofern,
als sich in ihr ein nothwendiges und bleibendes Gesetz der menschlichen Natur
aufschloß, das man aus einzelnen Thatsachen zwar conjiciren, aber nicht fest¬
stellen durfte.
Die Sünden, welche die Philosophie der Geschichte zu allen Zeiten be¬
gangen hat, liegen zu sehr auf der Hand. Einmal hat sie fast immer ge¬
glaubt, durch die Spekulation die strenghistvrische Kritik wenigstens zum Theil
ersetzen zu können, was übrigens der historischen Schule mit ihren Analogien
auch ost genug begegnet ist, sodann hat sie in der Regel einen zu idealen
Standpunkt eingenommen: sie hat entweder wie die Rationalisten und Auf¬
klärer die neueste Bildung der Menschen zum allein giltigen Maßstab gemacht
und die frühere Geschichte so construirt, als ob der Entwicklungsproceß der Men¬
schen zu allen Zeiten der wämliche gewesen sei, woraus natürlich die heilloseste
Verwirrung entstehen mußte; oder sie hat wenigstens dem Urheber der Weltge¬
schichte, gleichviel auf welche Weise sie sich denselben versinnlichen mochte, einen
idealen Zweck untergeschoben, und nach diesem Zweck den Thatsachen Gewalt
angethan, während die wahre Philosophie der Geschichte grade so wie die Natur-
wissenschaft nach Realität zu trachten hat.
Wir halten diese Bemerkungen zum Verständniß des vorliegenden Werks
nicht für überflüssig, weil die Mißverständnisse zu nahe liegen. Bisher hat
die Geschichtschreibung einen der wichtigsten Processe in der Weltgeschichte, die
Christianisirung der Germane», ganz äußerlich behandelt, und zwar kann man das
von den Supranaturalisten ebenso sagen als von den Rationalisten. Die ersten
sahen in dem Factum ein Wunder, womit für das Verständniß, ja auch nur
für die Anschauung desselben nicht viel gewonnen war, die andern erklärten
es durch eine Reihe politischer Intriguen, weil sie sich keine Vorstellung davon
macheu konnten, daß die Phantasie und das Gemüth ebenso wichtige Hebel
der geschichtlichen Entwicklung sind, als der Verstand, der Ehrgeiz und andere
handgreifliche Triebfedern. Daß man eine alte Religion nicht so ohne weiteres
wegwerfen kann, wie einen alten Handschuh, wird wol jedermann einsehen.
Auch wo äußere Gewalt und Unterdrückung dazu kommt, muß in der alten
Religion ein Moment sein, welches auf die neue hinweist, und in der neuen
ein Moment, welches Beziehungen zur alten zuläßt. Die neue Religion wird
wie jede Revolution nur scheinbar mit dem alten tabula rasa machen; in der
That wird sie durch ihren neuen Träger eine innere Umwandlung erleiden, die
aus dem scheinbar mechanischen Proceß einen organischen macht, und zwar wird
diese Umwandlung der neuen Religion um so gewaltiger sein, je größer die Ge¬
müthstiefe des Volks ist, dan die neue Religion aufnimmt. Wenn der sittlich
ausgehöhlte, glaubenlose und von Todesschrecken erfüllte Römerstaat dem
Christenthum jene negativ-spiritualistische Richtung gab, welche die heutigen
Gegner des Christenthums allein in demselben finden wollen, so gewann es
dagegen bei den Germanen jenen Reichthum des Gemüths, und jene Bestimmt¬
heit der sittlichen Vorstellungen, die ihm, soweit wir in menschlichen Dingen
überhaupt den Begriff des Unendlichen anwenden dürfen, eine ewige Dauer
verheißen.
Die Bedeutung der Aufgabe, diesen Proceß im Einzelnen durchzuführen,
zuerst nachzuweisen, was in der heidnisch-germanischen Bildung sür Elemente
lagen, die zu einer innern Entwicklung aufforderten, und da diese vom Volk
aus eignen Kräften nicht vollzogen werden konnte, die Empfänglichkeit für eine
fremde, wunderbare Religion hervorbrachten; sodann darzustellen, was das
Christenthum diesem Bedürfniß für entsprechende Bildungsformen entgegen¬
brachte, wie die Apostel des Christenthums diese Momente geltendzumachen
wußten, und wie der Geist des Volks sie innerlich verarbeitete: — die Be¬
deutung dieser Aufgabe wird von keinem verkannt werden. Das Unternehmen
konnte nur in einer Zeit angestellt werden, wo durch die neueren mythologischen
Forschungen, namentlich durch die Riesenarbeit der Gebrüder Grimm ein un
endliches Material geboten war, an welchem die Übertragung heidnischer Vor¬
stellungen in christliche und umgekehrt versinnlicht werden konnte. — Das
Unternehmen wurde aber serner nothwendig dadurch, daß die Form und Me¬
thode der bisherigen Forschung jede wirkliche Darstellung ausschloß.
Setzen wir nun hinzu, daß der Verfasser der vorliegenden Schrift eine
gründliche philologische Bildung, eine sehr detaillirte Kenntniß des deutschen
Alterthums und ein eingehendes Studium der christlichen Dogmatik mitbringt;
daß er ferner mit dem größten Ernst bemüht gewesen ist, die Gesichtspunkte,
die man bei den dogmatischen und sittlichen Vorstellungen der Religion anwen-
den muß, um sich jenen Umbildungsproceß zu versinnlichen, nach einem strengen
System festgestellt und geordnet hat, so glauben wir damit alles gesagt zu haben,
was von unsrem Standpunkt zum Verständniß des Werks geschehen kann.
Etwas ganz Anderes ist es mit der wissenschaftlichen Prüfung. Herr
Rückert hat es verschmäht, in allen einzelnen Punkten Speculation und hi¬
storische Kritik so miteinander zu verbinden, daß man ihr Verhältniß zueinander
augenblicklich prüfen kann. Viele von den wichtigsten Deductionen suchen uns
nur durch die innere Wahrscheinlichkeit des Processes zu gewinnen, weisen aber
nicht nach, in welchem Verhältniß diese Ansichten zu den durch kritische Me¬
thode festgestellten Thatsachen stehen.
Hier wird es nun Sache der Männer der Wissenschaft sein, im Einzelnen
festzustellen, wieweit der speculative Inhalt die Probe der methodischen Kritik
besteht. Allein wenn sich auch nach dieser Prüfung herausstellen sollte, daß
von dem Einzelnen viel weniger stehen bleibt, als wir es mit fester Ueber¬
zeugung erwarten, so bleibt deshalb die Bedeutung des Werks doch bestehen,
denn es hat wenigstens correct und systematisch die Fragen festgestellt, die wir
an die Gelehrsamkeit zu richten haben, um uns von dem Uebergang aus dem
Heidenthum zum Christenthum bei den Deutschen ein anschauliches und blei¬
bendes Bild zu entwerfen. —
Dem Versasser ist es vorzugsweise auf Vollständigkeit der einzelnen That¬
sachen, nicht auf Ausführlichkeit der ^ Erzählung angekommen. Das Buch ist
also weniger für die Lectüre als fürs Nachschlagen bestimmt. Wenn man da¬
bei abrechnet, was bei industriellen Unternehmungen (wir gebrauchen das Wort
nicht im tadelnden Sinn, da auch die Industrie ihre Berechtigung hat), an
Eilfertigkeit und Leichtsinn mit unterläuft, da ein wirkliches Quellenstudium
durch die Schnelligkeit der Arbeit und zum Theil selbst durch die Enge des
'Raums ausgeschlossen wird, so glauben wir das Werk dem größern Publicum
empfehlen zu können. Es ist auf alle Fälle der von Butan bearbeiteten Po¬
litischen Weltgeschichte vorzuziehen, schon weil es unbefangener ist und den
Thatsachen nie ein fremdes Gewand umwirft, wenigstens nicht mit Bewußtsein.
Die Anordnung und Gruppirung des Materials ist zweckmäßig, das Raisonne-
ment nicht bedeutend. Der Stil ist der bei solchen Handbüchern gewöhnliche,
es ist wenigstens nicht allzuviel Rhetorik darin,.obgleich sie nicht ganz hat ver¬
mieden werden können.
Unter den Bestrebungen thätiger und uneigennütziger Menschenliebe, welche
unser Jahrhundert vor allen vorangegangenen auszeichnen, nimmt die den
Taubstummen gewidmete Sorgfalt einen der vornehmsten Plätze ein. Diese
unglückliche Menschenclasse, nur mit vier Sinnen geboren und deshalb der ge¬
wöhnlichen Mittel beraubt, ihre Muttersprache zu erlernen, verdient in der
That Theilnahme und entgegenkommendes Bemühen fast mehr als irgendeine
andere. Deutschland ist, wie in allen Dingen dieser Art, so auch im Taub¬
stummenunterricht hinter den zugsührenden Nationen der Civilisation Europas
nicht zurückgeblieben. Die deutsche Methode hat vor der französischen sogar
vielfach eigenthümliche und werthvolle Vorzüge voraus. Sie wird in diesem
Augenblick auf etwa sechzig Schulen zum Segen der heilsbedürftigen Kinder
angewandt, so daß es keinen Winkel des Baterlandes gibt, der nicht eine die¬
ser wohlthätigen Erziehungsanstalten in ganz erreichbarer Nähe hätte. Die
Anstalten zu Berlin, Breslau, Leipzig und Hildesheim mögen die namhaftesten
unter ihnen heißen.
Der Staat hat also schon viel für diesen Zweig des öffentlichen Unter¬
richts gethan. Unsres Wissens besteht in Deutschland noch keine Anstalt, die
nicht der Staat entweder geschaffen hätte oder doch nachhaltig unterstützte.
Dennoch sollte er unsres Erachtens noch etwas mehr thun. Er "sollte rückstcht-
lich des Taubstummenunterrichts den vollständigsten Schulzwang unnachsichtlich
zur Ausführung bringen. Sogar diejenigen Politiker oder Philosophen, welche
die Einmischung des Staats in öffentlichen Unterricht aller Art mit unverho-
lenem Mißtrauen betrachten, werden im Punkt des Taubstummenunterrichts
mit uns derselben Meinung sein. Wieviel mehr diejenigen, welche das herr¬
schende System im wesentlichen für immer zu erhalten wünschen.
Die entscheidende Betrachtung ist sehr einfach. Auch wer der Wirksamkeit
der Staatsgewalten die engsten Grenzen zieht, nimmt darin doch die Sorge für
die öffentliche Sicherheit und die Strafrechtspflege als die erste und wichtigste
Aufgabe auf. Nun denken wir, daß der Staat für die Sicherheit der ihm an¬
vertrauten Gesellschaft nicht besser zu sorgen, sich das schwere und bedenkliche
Geschäft der Strafrechtspflege nicht zweckmäßiger zu erleichtern vermag, als
indem er unter anderen auch solche Vorkehrungen trifft, welche alle bildungs¬
fähigen Taubstummen innerhalb seines Bereichs einem verständig geleiteten
Unterricht zu unterwerfen dienen. Die Annalen der rächenden Gerechtigkeit sind
leider aller Orten voll von Beispielen, in denen ein Taubstummer aus Mangel
an der ihm zusagenden Ausbildung zum Verbrecher gegen irdische und gött¬
liche Strafgesetze wurde. Auf der andern Seite ist es unerhört, daß wirklich
erzogene Taubstumme wegen irgendeines Verbrechens oder Vergehens vor
ihren Richter hätten gezogen werden müssen. Es scheint also keine Gattung
mißgcborner oder verwahrloster menschlicher Wesen zu geben, in denen das
Licht des Unterrichts, der einfachen Unterweisung in sittlichen und vernunft¬
gemäßen Begriffen solche Wunder zu wirken im Stande wäre, wie unter den
Taubstummen. Anerzogen erhebt sich der Taubstumme kaum über die Rohheit
thierischer Jnstincte, während die Erziehung ihn stets sanft und gelehrig stimmt,
ohne daß die Welt ihm ihre Verführungen jemals so nahe zu rücken vermöchte,
wie dem vollsinnigen Menschen. Abgesehen von seinem äußern Umfang ist
daher der Taubstummenunterricht der wichtigste Zweig der gesammten öffent¬
lichen Erziehung zu nennen. Er zählt nicht nur unter den edelsten Bestrebun¬
gen heutiger Humanität mit, sondern er gehört auch zu den Gegenständen, welche
dn Staat nach einer klar gegebenen Pflicht in die Kreise seiner überlegenen,
Thätigkeit zu ziehen hat.
Steht dieser Grundsatz einmal fest, so sind die Schwierigkeiten der Durch¬
führung allesammt untergeordnet und leicht zu heben. Selbst wenn der Finanz-
minister irgendeines deutschen Staats für alle bildungsfähige Taubstumme
seines Landes die Unterhaltungskosten der Anstalt herbeischaffen sollte, würde
er schwerlich sagen, das sei für ihn eine unerschwingliche Leistung. Die
Zahl dieser Unglücklichen ist glücklicherweise überall so gering, daß ihre besser
begabten Brüder sich um ihretwillen nicht grade in Schulden zu stürzen brauchen.
Zunächst hat-allerdings die eigne Familie des Kindes, alsdann die Gemeinde
die Mittel herzugeben. Aber wenn beider Kräfte nicht ausreichen, so wird es
auch keinen deutschen Staat in finanzielle Verlegenheit setzen, hier aushelfend
einzutreten. Es ist keine sehr beträchtliche Ausgabe, und doch vielleicht die
lohnendste von allen in seinem Budget.
— In den vier ersten Tagen dieser Woche
war London berauscht durch die Nachricht vom Falle Sebastvpols, die ihm Buka-
rcstcr und Wiener Depeschcnfabrikantcn mit großem Geschick und Nachdruck kredenzt
hatten. Darauf folgte naturgemäß der Katzenjammer der Enttäuschung. Wir haben
ihn alle verdient. An Mirakel darf heute zu Tage blos der Baier und der Neapo¬
litaner glauben, und auch diese nur, wenn es ihnen von ihren Bischöfen geboten
wird. Der Orient war von jeher das Land, von wo die Wunder nach dem Westen
exportirt wurden, und dem protestantischen England ist nur der eine Trost geblieben,
daß es dies Mal seine Gläubigkeit mit allen andern Confessionen Europas theilte.
Den Katzenjammer haben wir aber größtentheils allein, denn die englischen Regi¬
menter scheinen am meisten bei der Schlacht am Almaflnß gelitten zu haben. Nicht
14»v sondern über 2000 Engländer wurden getödtet oder verwundet, darunter eine
große Anzahl Offiziere. Vom Z3. Regiment fielen alle bis ans drei. Tausend von
Familien leben in gräßlicher Spannung, bis die Namenliste der Gefallenen in der
Gazette veröffentlicht wird. Und das kann vor nächstem Sonntag oder Dienstag
nicht geschehen» Visher war Rußland in England weniger als in den meisten
Staaten des Festlands gehaßt. Um einander zu hassen, muß man einander kennen
und fürchten. Die Engländer waren aber bisher nur mit dem parfümirten Theil
der russischen Bevölkerung in Berührung gekommen; von einer unmittelbaren Furcht
vor Rußland, wie sie in Deutschland mit den Kindern aufwächst, war hier zu
Lande nie die Rede. Man haßte blos unter dem Eindrucke von Leitartikeln und
Reisebeschreibungen. Derlei Gefühle dringen nicht in Mark und Bein. Jetzt
wirds anders werden, nachdem britisches Blut auf einem russischen Schlachtfelde
in Strömen vergossen ist. Die Wiener Protokolle und die Berliner Vcrmittlungs-
nvtcn — die dagewesenen und die noch in Aussicht, stehenden — schicke mau getrost
zum Einstampfen in die Papiermühle. Merken Sie aus den Ton der hiesigen
Presse. Auch die zahmsten Federn werden wild. Unter den professionellen Friedens¬
freunden gibt, es die besten Boxer im Lande. Sie werden bald Bibel und Regen¬
schirm zum Teufel werfen und die Fäuste zeigen.
Um auf die ersten Tage der Woche zurückzukommen — — es herrschte eine
merkwürdige Aufregung in unsrer Stadt. Sie war sogar aus den Straßen sicht¬
bar; und das will für London viel sagen, wo ein paar Gran Aufregung in die
alltägliche Dosis von Lärm und Gedränge geworfen, keine sichtbare Wirkung hervor¬
bringen. Aus Wien schreibt man:' die ganze Stadt sei voll Jubel. Und wen»
Wien jubelt, springts jedem in die Augen, der in das erste beste Kaffeehaus ein¬
tritt oder auch nicht eintritt. Ganz Wien ist ja ein Kaffeehaus,' behaglich und
gedrängt, wo sich alles, was sich kennt,, zehnmal im Tage begegnet und ausspricht.
Dagegen London — — es hat keine Kaffeehäuser uach Art der Wiener, wo
sich Leute treffen um »och anderes zu thun als grade Thee oder Kaffee zu trinken;
es hat keine Witzcolpvrtcure wie Berlin, und keinen Centralpunkt wie ihn Paris
in seinen Boulevards besitzt. Wie offenbart sich da die Stimmung? Wie kann
sie sich auf diesem riesenmäßigen Hänsertcrrain kundgeben? Ein schalkhafter Freund
stürzte am Dienstag in meine Stube, und rief mir zu: „London ist in der furcht¬
barsten Aufregung über die Nachrichten' aus der Krim." — London? Aufregung?
furchtbar? — frug ich — wo? wie? woran sichtbar? — Daran, daß ich eben an
einer Straßenecke in der City, wo mir das Wagcndränge sür ein paar Minuten das
Weitergehen unmöglich machte, von einem wildfremden Menschen, dem ich nie vor¬
gestellt worden war, angeredet worden bin, ob keine neuen, officiellen Berichte
über Sebastopol eingelaufen seien. Ist das in London erhört? Ein Mensch, der
mich nicht kennt! spricht mit mir ans der Straße! Ein Vollblut-Engländer! Das
ist Beweis furchtbarer, allgemeiner Aufregung. Gewiß.
Ja wol, mein Freund hat recht. Daran erkannte man die Aufregung: daß
wildfremde Menschen einander um Nachrichten fingen, daß man auf Omnibusdächern
von Sebastopol statt vom schonen Wetter sprach, das immer abscheulich ist — —
das war alles und das ist sür London viel. Im innern Heiligthum der Häuser,
da freilich äußerte sich die Stimmung offener, lebhafter; aber die Hausthüren sind
verschlossen; jeder weiß nur, was bei sich und bei Freunden vorgeht. Auf Straßen
und in öffentlichen Localen gibt fich der Eindruck großer Ereignisse nur gelegentlich
kund, wie etwa am vorigen Sonnabend nach zehn Uhr Nachts, als der Lord Mayor,
einer alten Sitte getreu die "Siegesbotschaft von den Ste'intreppen der Börse ver¬
kündete. Ein Trompeter stieß vor der Ankündigung ins Horn, sonst hätte der Lord
Mayor lange auf der Börsentreppe stehen können, ohne daß ihn jemand beachtet
hätte, als etwa der wachthabende Pvliceman, dem der nächtliche Börscugast als ver¬
dächtig aufgefallen wäre. — Verlesung einer Siegesbotschaft auf offener Straße —
mit Trompetenouverture — von der obersten Magistratsperson--— klingt das
nicht mittelalterlich, reichsstädtisch, spießbürgerlich, nürnbergisch? Allerdings; aber
daß nach -10 Uhr Abends, in der City, dem stillsten Stadttheil Londons bei Nacht,
beim ersten Trompetenstoß fich doch gleich an 300 Menschen um den Trompetenton
angesammelt haben, das ist wieder mehr als Nürnberg leisten könnte. Da gabs
Aufregung und Vivats für die Königin und den Kaiser Napoleon. Aber bei
Tage wäre dergleichen gefährlich. Man riskirt ohnedies schon Hals und Beine,
wenn man dem Wagcngcdrängc vor Börse und Bank entschlüpfen will. Extra-
spcctakel würde sich die Eitymcuscbhcit ihrer eignen Sicherheit wegen-verbitten.
Im fashionablen Westend waren vermuthlich sämmtliche Portiere und Haus¬
hunde im Stadium viertägiger Begeisterung. Sie machen jetzt dessen Bevölkerung
aus. Die Clubs sind gleichfalls verödet, und die militärischen zumal sind leer wie
die Kasernen. Da und dort an einem vorspringenden Eckfenster sieht man wol
noch zwei Veteranen sitzen, mit großen Zeitungsblättcrn und noch größern Special-
kartcn der Krim vor sich, hagere Herren mit schneeweißen Cravatcn und Backen,
harten, denen vor Jahren einmal ein Bein oder Arm zufMg abhanden gekommen
ist, und die jetzt bemüht sind, den Bewegungen ihrer jüngeren Kameraden-aus der
Landkarte zu folgen. Sonst ists stille in den prachtvollen Clubsalons wie in ver¬
fallenen Klvstergängcn. Die Jungen sind aus der See, im Norden, im Süd.en,
vor Sebastvpvl oder in den Hochlanden um Grouse zu schießen. Was vielleicht Lust
gehabt hätte zu bleibe»/ hat die Cholera verscheucht.
Dieser unbequeme Gast scheint endlich abzuziehen. Das plebejische Futter hat
er satt. Man verdaut nicht auf die Länge der Zeit 1200 Tischler und Goldlackirer
wöchentlich, selbst wenn man einen Magen wie Frau Cholera hat. Sie war lange
unentschlossen, wohin sie sich wenden sollte. Der russische Gesandte ist leider nicht
in London anwesend, um ihr den Paß nach der Heimat zu visiren. So muß sie
sich denn paßlos, bei Nacht und Nebel, wieder znrückschlcicheu wohin sie gehört.
Die vielverbreitete Behauptung, daß sie einem kürzlich aufgewühlten alten Pest-
kirchhofe entstiegen sei, hat sich übrigens als unstatthaft erwiesen. Dieser von
Macaulay erwähnte Kirchhof liegt uuter den Häuser'n von Little Malborough Street
ruhig begraben, und in dieser Straße kam kein Cholerasall vor. Es sei dies blos
als Gegengift gegen die Bemühungen einzelner Aerzte erwähnt, welche.das Auftreten
der Seuche überall aus Localursachen ableiten wollen. In einzelnen Stadtvierteln
gibts übrigens noch Cholcrafälle genug, um ein kleines Königreich damit zu speisen.
Die Spitäler sind ebenfalls voll. Es wird viel experimentirt. Die Patienten
sterben und genesen an den entgegengesetztesten Cnrmcthvdcn, und die paar tausend
Menschen, die in den letzten Wochen hier gestorben sind, haben nicht einmal die
Befriedigung mit ins Grab genommen, die Wissenschaft.um einen einzigen halt-
baren Gedanken bereichert zu haben. — Im ganzen denkt das Publicum hier sehr
wenig an die Cholera. Die Theater sind voll wie sonst, obwol meist alte Stücke
gegeben werden, theils ans Mangel an neuen Producten, theils um die Vorberei¬
tungen für die eigentliche Wintersaison ungestörter betreiben zu können. Nur das
kleine Se. Jamesthcater, wo voriges Jahr unsre deutschen Landsleute gastirten,
öffnete seine Pforten mit einem neuen Drama von Reate und Tom Taylor. Es
hat nicht angesprochen. Tom Taylor, unser fruchtbarster und talentvollster Bühnen¬
dichter, wird sich und uus hoffentlich dadurch entschädigen, daß er in wenig Wochen
ein neues und besseres Stück zur Aufführung bringt. Der schüttelt die Theater¬
stücke aus dem Aermel. Nebenbei spielt er selbst auf aristokratischen Liebhaber¬
theatern, ist Secretär des GesuudheitspräsidinmS, einer Abtheilung des Ministeriums
des Innern, und einer der Redacteure des Punch. Am Tage arbeitet er unter
Palmerston, und des Abends carikirt er ihn sür Punch. , Es ist doch gar keine
Ordnung und Gesittung in diesem England! Wo hat man in Deutschland je ge¬
hört, daß ein Redacteur des „Kladderadatsch" oder der „fliegenden Blätter" zum
Ministcrialsecretär mit 1000 Pfund jährlichem Gehalt gemacht") wurde? Eher
avancirt er auf die Festung. —
— Das schöne Märchen aus dem Oriente mit den Feen¬
schlössern, die ein Tartar unsrer Phantasie aufgebaut, ist versunken — es ist wie
ein Sommernachtstraum von dem Lichte der Sonne verwischt, verschwunden und
vergessen. Die Lage der Feinde Rußlands ist noch gut genug, um keine Gewissens¬
bisse darüber zu haben, wenn man sich über die europäische Leichtgläubigkeit ein
wenig lustig macht. Ganz Europa würde vom Hnmvrc jenes unsterblich geworde¬
nen Tartaren an der Nase herumgeführt werden — gekrönte Häupter, Diplomaten,
Journalisten. Ich frage mich blos, warum man bei diesem allgemeinen Glauben
nicht dies spätere Dementi trotz seiner Wahrhaftigkeit in den Bann gethan hat.
Was liegt daran, ob ein Factum richtig oder nicht ist, wenn die ganze Welt daran
glauben will? Die Einnahme von Sebastopvl wäre dann nachgekommen und wir
hätten später über den divinatorischen Jux des phantasiereichen Tartaren gelacht.
Die englischen und französischen Journale sind voll der drolligsten Geschichten über
den gegenstandlos gewordenen Enthusiasmus der beiden Nationen. Die Arithmetik
hatte ihre Entlassung eingereicht, die Strategiker schwiegen, es war ausgemacht,
daß von der Alma bis hinein nach Sebastvpol vom Anfange des 20. bis zum
Schlüsse des 23. September ein Katzensprung sei sür Truppen, wie jene der aliir-
ten Mächte. Ihr Briefsteller hat von der allgemeinen Regel keine Ausnahme ge¬
macht, denn Rußland hat uns soviel Neue eingeflößt wegen unsres retrospectiven
Respects, daß wir jetzt wieder glaubten, die russischen Truppen haben das Schießen
ganz verlernt. Was war in der That unwahrscheinliches daran, daß die Russen
eine erste Niederlage erleidend, von den Franzosen und Engländern verfolgt, in Se¬
bastvpol selbst von.einer militärischen Emaille empfangen, die Waffen gestreckt hätten?
Es war so wahrscheinlich, daß es unwahr gewesen, und wir finden uns jetzt, aus
dem Traumrciche der fabelhaften Siege gerissen, wieder auf dem festen Boden der
Wirklichkeit. Mau hätte es dem Fürsten Meuschikvff von Herzen gern gegönnt,
sich als lächerliche» Fanfarou zu zeigen, nachdem man ihn als unüberlegten Diplo¬
maten kennen gelernt. Diese Schadenfreude hat er nnn verdorben. Fürst Meu¬
schikvff vertheidigt sich und die Russen schlagen sich zum ersten Male während dieses
Feldzuges tapfer. Die Festung wird auch kaum mit einem Streiche fallen, aber sie
wird genommen, sie wird mit dem Preise vielen Blutvergießens genommen werden.
Die Pariser Börse hat sich bei dieser Gelegenheit viel standhafter benommen, als
vorauszusehen gewesen war. Sie hat an der errungenen Hauffe festgehalten und
ist mit viel strategischen Takte der Position der Aliirteu in Balat'lawa gefolgt,
indem sie sich hinter dem Curse von 76 verschanzte. Das wird das Land trö¬
sten — man wird die Einzelheiten von der Schlacht an der Alma so interessant
erzählen, daß alles andere im Augenblicke darüber vergessen werden soll, bis end¬
lich der wirkliche Fall Sebastopols die erste Campagne von 185i beschließen wird.
Wir haben es uns bei den verschiedenen Wendepunkte», welche die orientalische
Frage »um im Kriege gegen Rußland durchgemacht, zur Aufgabe gestellt, nach der
öffentlichen Meinung hiuzuhorchcu. Wir hatten anfangs trotz der Billigung der Po¬
litik Napoleons nur wenig Begeisterung für deu Krieg gesunde». Wir haben diese
Gleichgültigkeit von Zeit zu Zeit'lebhaftem Mitgefühle Platz machen scheu, aber
seit der Expedition gegen die Krim ist ganz Frankreich bei seiner und mit seiner
Armee. Wenn der Kaiser Barb^s amnestirte, weil dieser den Wunsch ausgesprochen,
die Franzosen möchten die Kosacken gehörig durchprügeln, daun müßten mit eben dem
Rechte die Gefängnisse alle politischen Gefangenen von sich geben. Die Feind¬
schaft gegen die Regierung geht jetzt selbst bei den extremsten Parteien nicht mehr
soweit, eine Niederlage den aliirteu Truppen zu wünschen. Mau wünscht mit
ganzer Seele den Erfolg der französischen Waffen. Es wird wol auch behauptet,
daß Barbös Freigebung blos der Anfang einer ausgedehnterm Maßregel dieser Art
sei, und wir müssen nebst unsern Zweifeln zugleich hinzufügen, daß ein Theil der
Spießbürger diese Möglichkeit nicht wenig fürchte. Sie bekommen leicht die Gänse¬
haut, wenn mau ihnen mit de» socialistisch-demokratische» Velleitätc» des Kaisers
droht. Obgleich Barbus trotz seines in Co»spiratio»an und im Kerker verbrachten
Lebens eine harmlose Natur ohne Initiative ist. so haben sie doch Angst vor ihm,
als- ob er der personifizirte Socialismus wäre. Daß uns Kaiser Napoleon noch
manches zu rathen geben werde, ist unsre Ueberzeugung. — Das Interesse an
den Ereignissen in der Krim ist so allgemein und so groß, daß die Nachricht
von Rossinis Krankheit und George Sands Memoiren im Feuilleton der Presse
keine Aufmerksamkeit erhielt. Die Theater siud leer, sogar die Potichomanie ist
mit Vergessenheit bedroht — Paris, Frankreich hat nur eine» Gedanke» — Se-
bastopol, Niederlage der Russen.
Mit Ur. 4O beginnt diese Zeitschrift ein neues Quartal,
welches durch alle Buchhandlungen und Postämter zu be¬
ziehen ist.
Leipzig, Ende September 1854. Die Verlagshandlung.
Ehemals pflegten d'le Feldherrn ihre beabsichtigten Kriegsoperationen nicht
im voraus zu verkünden. Sie fürchteten sich dem Feinde zu verrathen. In¬
zwischen scheint gegenwärtig die Gewohnheit der Westmächte so ganz umgekehrt,
daß das Publicum in der ersten Zeit die Annoncen bevorstehender Waffenthaten
meistens für absichtliche Täuschungen des Feindes hielt. Allein die gleichermaßen
angekündigte Zerstörung von Bvmarsund, die Besetzung der Insel Nargen, selbst
die kleinen Razzias gegen unbewaffnete Ostseehäfen sind nach dem Programm
ausgeführt worden. Ganz in gleicher Weise spielten die Dinge auf dem süd¬
lichen Kriegstheater; die Erpedition gegen Sebastopol ward sechs Wochen vor
ihrem, Unternehmen verkündet, Tag und Stunde ward festgesetzt, wie bei einer
Vorstellung im Hippodrom, und die Aufführung so ungestört begonnen, als
wärs ein lustiges Manöver mit „markirten Feinden".
Schon als! ein größerer Theil- der französischen Flotte den baltischen Kampf¬
platz verließ, versicherte die englische Presse, Sir Charles werde den Herbst¬
stürmen nicht weichen, ohne vorher eine erklecklichere Kriegsthat ausgeführt zu
habe», als die bisherigen. . .
Gelehrte strategische Forscher, welche aus der Studirstube zu Augsburg
oder in der Wilhelmsstraße zu Berlin vor jedem gegenrussischen Angriffe die Un¬
möglichkeit seines Gelingens und hinter jedem Erfolge beweisen, daß es gar
kein Erfolg gewesen sei, werden ihre Kriegsweisheit auch dies Mal nicht vor-
emhalten. Sie werden erörtern, Revals Bombardement erscheine eine ebenso
nutzlose als ruhmlose Grausamkeit, wie sie denn auch schon dem Wandalismus,
welcher durch Zerstörung der Waldungen auf der Insel Nargen (NargöeS) be¬
gangen worden, ihre sittliche Entrüstung nicht stark genug bezeugen konnten.
Und warum? Weil der Kaiser von Nußland die Schonung dieser Wälder durch
einen besonderen Mas verfügt hatte. Der Ukas mag gegen die wälderverwüstenden
Gewohnheiten der dortigen Bauern sehr nützlich sein. Aber ein angreifender
Feind kann schwerlich jede Polizeiverordnung respectiren, besonders wenn, wie
es mit Nargen der Fall, eine Insel nicht nur den Zugang zum Hafen eines
starkbefestigten Marineetablissements beherrscht, sondern auch an ihrer dem Fest¬
lande zugewendeten Seite mit Schanzen und Batterieständcn ausgerüstet ist.
Freilich wurde Nargen trotzdem von den Russen nicht vertheidigt. Aber diese
Schuld ist den „britischen Barbaren" nicht aufzubürden. Auch erscheint nun¬
mehr die Besetzung der Insel Nargen — in nordwestlicher Richtung etwa
3 Meilen von Neval entfernt — keine so ganz kopf - und gedankenlose That,
als man sie in verschiedenen Blättern schildert. Der directe Angriff aus Reval
ward damit wesentlich vorbereitet und die gefällten Waldstücken sind keineswegs
bedeutungslos, falls etwa während des Kampfes um den Kriegshafen feindliche
Schiffe aus Sweaborg hervorbrechen möchten, um den Angreifern in den Rücken
zu fallen und'die Insel zum Stützpunkt ihrer Operationen zu machen.
Doch dies nur beiläufig. Wir sind weit entfernt, überhaupt die strategische
Wichtigkeit einer Operation gegen Neval ins Auge zu fassen, ja selbst nur den
Ort mit besonderer Rücklicht auf seine fortificatorische Wichtigkeit vorzuführen.
Wir kennen ihn nur im tiefsten Frieden. Noch dachte damals kein Mensch
daran, dem Zaren seine Ostseeküsten beschädigen zu wollen. Vielmehr hatte
England mit dem Londoner Protokoll über die dänische Thronfolge am eifrigsten
daran gearbeitet, dem Hause Holstein-Gottorp^Romanow die ganze Ostsee erb¬
eigenthümlich als Binnensee zu sichern. Ueberdies sind es ja auch heute nicht
die „granitnen Quadern" — welche, nebenbei gesagt, in und um Reval aus
leicht verwitternden Sandstein bestehen — wofür sich das große Publicum
interessirt, sondern das Menschenleben ist es, welches sich dahinter bewegt, seil
Jahrhunderten dort einen Sammelpunkt für den baltischen Norden bildete und
nun schuldlos den Kriegsschrecken verfällt, die von der Petersburger Politik in
beispiellosem Uebermuthe gegen ganz Europa herausgefordert wurden.
Reval sah den Feind schon oft durch seine Straßen toben, obgleich es
noch keine alte Stadt zu nennen. Denn was sind sechs Jahrhunderte? Vom
Dänenkönig Waldemar II., der auch Narva gründete, ists zu Anfang des
13. Jahrhunderts gebaut worden und genannt nach dem dänischen Worte
Nesseln d. i. Riff. Die Letten, welche damals unter den deutschen Schwert¬
rittern noch ein streitbares Volk waren, bezeichneten und bezeichnen es als
Dahin Plius d. i. die Stadt der Dänen, esthnisch heißt es Tallina, und die
Russen, welche es schon früh einmal erobernd verwüsteten, hinterließen dem
Trümmerhaufen den Namen Koliwan. Da noch heute all diese Völkerschaften
hier verkehren, so sind auch all diese Namen noch im Gebrauch. — Man findet
eS im Anblicke des isolirt und schroffaufstesgenden Dombergeö, von welchem
die Bürgerstraßen zum Strande hinabfließen, ganz natürlich, daß hier schon
vor Nepals Gründung eine feste, weilhinschauende Burg der Esthen gethront
hat. Lindanissa lautete deren wohlklingender Name. Ein Vorgänger Walde-
mars machte daraus ein dänisches Königsschloß und baute daneben ein frommes
Kloster. Das ward später Theil der Stadt wie. der Domberg. Mit Festungs-
mauern und neuen Häusern überbaueten sich die ruinenhaften Reste, ohne ganz
zu verschwinden. Die Mauern, selbst sanken hier und da zusammen, während
anderwärts noch ihre trotzigen Thürme ragen und den zusammengedrängten
Haufen schloßähnlicher Gebäude auf dem Domberge doch nicht erreichen, so
daß dieser wie ein Kronschmuck über den grauen verwitterten Baumassen
schimmert. Bürgerlich einfach, aber weithin sichtbar und' den Schiffern selbst
das erste Wahrzeichen des nahen Hafens, schießt aus der niederen Bürgerstadt
der Thurm der ältesten, fünfmal zertrümmerten und wieder gebauten Se. Olai-
kirche empor, von dem die Deutschrussen behaupten, er stehe dem Straßburger
Münster nur um 16 und der Peterskirche in Rom nur um S8 Fuß an Höhe
nach. Dies ist möglich; allein die einfache Spitze hat im Totalanblicke der so
recht streitkräftig anzusehenden Stadt etwas Störendes. Sie steht in keinem
Verhältniß zu den frommen Glockenthürmen der andern 1A Kirchen — unter
denen natürlich schon fünf oder sechs russische —; vollends nicht zu den kriegeri¬
schen Mauerthürmen mit ihren stumpfen Kränzen.
Nach seiner Bevölkerungsmenge nimmt Reval im russischen Reiche die
fünfundzwanzigste Stelle ein; es zählt etwas Der 24,000 Einwohner, von
denen der Ac>el fast ausschließlich den Domberg besetzt, während die ganz
deutsche Bürgerschaft den eigentlichen Stadtkern bewohnt, die russischen An-
wanderer aber, wie überall in den Ostseeprovinzen, breitstraßige Vorstädte,
(Sloboden) am Meeresufer hinausbaueten.*) Diese drei Bevölkerungsschichten
geben bei näherer Betrachtung der Stadt drei ganz verschiedene Physiognomien.
Man muß selbst noch einen vierten besondern Stadttheil abscheiden, der vom
Domberge rückwärts in drei Straßen ausläuft und officiell die neue Gasse, im
Munde des Volkes dagegen der Katzenschwanz genannt wird. Es ist daS
Proletarierviertel.
Wir dürfen dabei nicht eigentlich an das Proletariat unsrer deutschen '
Binnenstädte denken. Nicht etwa deshalb, weil wir es mit einer Seestadt zu
thun haben. Denn allerdings bildet sich hier das Proletariat aus dem Flach-
lande, nicht vorzugsweise durch Matrosen und sonstige Gesellen des Schiffs¬
verkehrs. Aber es bildet sich in den baltischen Städten, theilweise auch in
den russischen, anders als im übrigen Europa, Die persönliche Freiheit der
Stammvölker der Ostseeprovinzen ist noch sehr jung; die ehemals Leibeigenen
sind noch heute ohne Grundbesitz, das Leben des ganzen Landes beruht dagegen
fast ausschließlich auf dem Bodenbau, die Städte waren und sind fortwährend
gewissermaßen erotische Gebilde, keine organischen Theile des Landes. Nicht
blos der Adel ist darum eine vom Volk abgeschiedene Kaste, auch der. deutsche
Stadtbürger stellt sich unnahbar darüber. Das Volk hat nun den alten
Haß gegen den Adel aus der alten Unterthänigkeit fortgeerbt und muß ent¬
weder factisch die alten Leibeigenschaftsfesseln forttragen, wenn es in den ge¬
wohnten Arbeiten fortleben will, oder es sieht sich überall fortgestoßen und
findet arbeitsuchend in der Stadt nicht einmal das Annäherungsmittel der
gemeinsamen Sprache an die gewerbtreibenden, arbeitgebenden Classen. Die
Industrie steht überdies in keiner baltischen Stadt in solcher Herrschaft, um
solche Trennungen zu überwinden oder ihren Angehörigen wieder jenes gewisse
Gemeinsamkeitsbewußtsein zu geben, wie es sich in den Arbeiterclassen wirklicher
Fabrikstädte zü entwickeln pflegt. Eine nähere Beziehung fühlen sie einzig zu
den gleich ihnen auf gut Glück herangewanderten Russenscharen; es ist die un¬
bewußte Sympathie gleichartiger Lebensbedingungen in der Vergangenheit wie
für die Zukunft. Denn auch die Russen sind meistens nur auf Arbeitspaß
entlassene Leibeigene. — Aber den Letten, Esthen und Finnen fehlt jenes tech¬
nische Talent, womit die Russen, wenn sie nicht lieber kräinernd und hausirend
erwerben, sehr rasch den zünftigen Handwerkern eine gefährliche Concurrenz zu
machen wissen. Und wenn ers hä.ete, so fehlt ihm vor allem der russische Asso¬
ciationstrieb, jenes nationale Erbe des altslawischen Gemeindelcbens, welcher
selbst die fremdesten Stammgenossen in den städtischen Sammelpunkten sofort
zum fabrikmäßigen Betriebe des einen oder andern Gewerbes in Compagnien
socialistischen Charakters vereint. Hätte ein Lette, Esthe und Finne selbst ein-
' mal ausnahmsweise diesen Trieb, so würde ihn doch zunächst die Sprach-
unkenntniß von solchen russischen Associationen fernhalten; und überdies
sind die sonst so zugänglichen Russe» in dieser einen Richtung vollkommen
schwäbisch crclusiv. So bleibt den baltischen „Altdeutschen" meistens nichts,
als Handlanger der russischen Thätigkeit zu werden, während die baltischen
„Halbdeutschcn" (d. i. solche, welche sich deutsch zu verständigen wissen) sich
theils dem Luxus des Stadtadels, theils ben niedeistcn Dienstbedürfnissen der
Bürger zu Gebote stellen. Auf solche Art entsteht nun daS Proletariat der
baltischen Städte; es ist durch die Art seiner Entstehung von vornherein ver¬
derbt bis in die tiefste Tiefe seines Daseins. Von jenen Resten bürgerlichen
Gefühls, die in Europas Proletarierherden doch immer noch einen Kern zu-
sammenhalten, der durch seine Ehrenhaftigkeit eine Art Proletarieradcl bildet
und vorzugsweise dadurch, daß er die roheste Offenbarung der Entsittlichung
in seinen Kreisen hindert, mildert, wenigstens verdeckt, eine Art Uebergang
und Vermittlung zur seßhaften Bürgerlichkeit unterhält — von jenen Resten
ist hier keine Spur, weil wir es eben nicht mit moralischer oder socialer Ver¬
kommenheit zu thun haben, sondern mit einer Race, die losgelassenen Sträf¬
lingen gleich nicht in die Gemeinschaft eines geordneten Lebens zu dringen
vermag. Halten wir diese Entstehung des eingebornen Proletariats in den
baltischen Städten fest, so ist das äußere Wesen seiner Mitglieder, ihre Er¬
werbsart, ihr Verkehr, das Ansehen ihrer Wohnungen, die sie meistens auf er¬
bettelten Grund erbaueten, leicht zu abstrahiren. Es gibt nichts Widerlicheres,
als diese Theile der baltischen Städte, nichts Anekelnderes, als ihr Menschen¬
gewühl. Ein Gemisch von Niederträchtigkeit und Prostitution, von Unter-
thänigkeit und Sündenfrechheit, von Käuflichkeit des Heiligsten und heuchlerischer
Frommthuerei, von Heimlichkeit und Prahlerei, von Hochmuth auf eigne
Schlechtigkeit und Speichelleckerei gegen jedes unsaubere Gelüst — wenns nur
Geld bringt. Zu was es in der Häßlichkeit seines physiognomischen Ausdrucks
in Reval schildern? Jede größere Stadt hat verrufene Winkel, in denen wir
ungefähr demselben äußern Ausdrucke der Bevölkerung begegnen; und wer
Paris oder London kennt, weiß von ganzen Quartieren zu erzählen. Nur
vertheilt sich dort auf Millionen, was in den baltischen Städten bis auf Mitau
herunter mit seinen kaum 20,000 Einwohnern (nach Hr. Ungewitter 29,000)
ganze Straßen gleichen Gepräges erschafft.
Es ist nicht zufällig, daß Riga, die größte und älteste der baltischen
Städte, verhältnißmäßig am wenigsten von dieser besondern Art des Proletariats
erblicken läßt. Denn Riga ist eben die einzige Stadt, in welcher das wahr¬
haft bürgerliche Element fortwährend bedingend blieb, bis erst die neueste Zeit
den tschinadligen und militärischen Charakter neben einer zahlreichen Russen¬
bevölkerung integrirend machte. Aber diese Charaktere tragen zur Entstehung
jenes specifischen Proletariats der „Altdeutschen und Halbdeutschen" lange nicht
in dem Maße bei, als jenes hochmögende Junkerthum der deutschen Herrn,
welches die Städte nur als Winterresivenzen, Kornbörsen, Bazare betrachtet
und namentlich den Bauer, weil er sich hier als Freier bewegt, mit
doppelter Rücksichtslosigkeit zum bloßen Instrument hinabdrückt. Man kann
bei genauer Kenntniß der Ostseeprovinzen selbst noch speciellere Bemerkungen
verfolgen. In Esthland, wo der Adel am frühesten seinen materiellen Wohl¬
stand einbüßte, darum am raschesten dem russischen Hof- und Staatsdienste
nachstreben mußte, wo sich also die Grundaristokratie am frühesten in ein ge¬
wöhnliches Junkerthum verkehrte, da ist die Entsittlichung der in die Städte
gezogenen Ureinwohner am weitesten vorgeschritten, während in Kurland, wo
man heute noch einen Stolz darein setzt, als freier Seigneur zu leben, immerhin
ein gewisser Zusammenhang zwischen Bauern und Herrn auch in den Städten
blieb. Dafür übernehmen es dort freilich die Juden, welche fast ein Sechs¬
theil der Bevölkerung aller Städte und Städtchen bilden, im unehrenhaften
Proletariate den vornehmen Passionen und Bedürfnissen zu dienen ....
Doch wohin verirren wir uns! Aus der Betrachtung des Katzenschwanzes
in Reval schwillt eine Erörterung über das baltische Proletariat der Städte
auf; und selbst nur eines Theiles. Denn auch in der Bürgerstadt und in
den Sloboden begegnen wir andern proletarischen Erscheinungen, wenn sie gleich
nicht so heißen. — Wer mag sich irotzdem solcher Betrachtungen einschlagen,
wenn er aus dem Getriebe dieser Gassen emporblickt an den starraufsteigenden
Wänden des Domberges, der uns die übrige Stadt verdeckt und nur etwa
seitwärts den Blick auf die kahlen, gelblichgrauen Felsen des Laakberges offen
läßt, die sich bis ans Meer hinziehen und dort nur ?inen schmalen sandigen
Saum als unmittelbares Ufer vor sich herschieben. Man möchte glauben, in
unvordenklicher Zeit habe eine Sturmflut die Buchtung ausgerissen, in welcher
die Stadt vom Domberge zum Hafen hinabfließt, und der Domberg selbst stehe
als Monument dieser Entblößung der Grundfesten des Seenfers.
Er bildet eine kreisförmige Felsenbank, etwa zwanzig Minuten im Umfang.
Das Schloß des Gouverneurs nimmt seine Mitte ein und die Häuser des
Adels drängen sich darum. Auch nur des Adels; denn kein „Unadliger" darf
auf dem Domberge Grund und Boden erwerben; er hat sogar seine besondere
Gerichtsbarkeit. Die esthnischen Barone fühlen sich in dieser Absonderung auch
so wohl, daß hier jedes kleinste Stück Bauplatz mit 'den enormsten Preisen
bezahlt wird, um eine Wohnung im aristokratischen Kreise zu tragen, wenns
selbst in der engsten Gasse wäre oder hinter den Ruinen massenhafter Mauern
und Thürme, die ihren Platz seit jener Zeit behaupten, da der ganze Berg
vom dänischen Königöschlosse eingenommen war. Wer Geld hat, baut freilich
die Fronte ins Freie hinaus und so nah am Abstürze des'Felsens, daß vor
der Hauptfacade nicht einmal ein schmaler Fußsteig hinlaufen kann. Dafür
treten moderne Balkone oder alterthümliche Erker aus den Stockwerken über
die schwindelnde Tiefe hinaus; wenigstens fehlen die großen Aussichtsfenster,
welche in jedem eleganteren Petersburger Salon gewöhnlich, nur ausnahmsweise
einer außengelegenen Wohnung auf dem Domberge zu Reval.
Sie haben allerdings das vollste Recht; der Ausblick ist überraschend, in
manchen Beleuchtungen unbeschreiblich schön. Zwei Drittel der Blickweite
umfaßt die See, auf deren ferneren Breiten die Insel Nargen schwimmt, wäh¬
rend rechtshin (nordöstlich) die steilen Felsenufer der Hafenbucht allmälig in
die Wellen zu sinken scheinen, um dann in fernster Ferne nochmals mit einem
deutlichern Körper aufzutauchen. Dies sind die mit dem östlichen Lauberde
der Bucht fast zusammenhängenden Inseln Wulffen. Linkshin (nordwestlich)
ist der Blick etwas begrenzter, da hier das Land sich weniger weit in die
Fluten hinausschiebt und die Karlsinseln schützend vor den Kriegshafen treten.
Unmittelbar unter den Fenstern liegt die geschäftige, rauchende Stadt. Hier
uno dort blickt man unmittelbar in das Straßengetreibe. Zwischen den alter¬
thümlichen Giebeln mit allerlei Schnörkelwerk und Verzierungen ziehen sich auch
dort alte Fortisicationslinien hin, hier und da ragt Dach und Thurm einer
lutherischen- Kirche aus dem Häuserknäuel empor; fremdartig wölben sich die
byzantinischen Formen der russischen Gotteshäuser über mittelalterlichen und
gothischen Unterbauten. Dort und da grünt wol auch ein Baum im Häusergrau,
und wo die Menschenwohnungen aus den sieben Thoren Nepals in regel¬
mäßigeren und, breiteren Straßen hinausquellen, da bleiben die russischen
Kolokolniks (Glockenthürme) allein noch übrig als Erhabenheiten über die breit¬
angelegten, niedern, geschmacklosen Russenhäuser. Vom Hasen erkennt man
nur einzelne Dachfirste, von den ankernden Schissen blos die Mastspitzen.
Dichter gedrängt und ansehnlicher sind sie im Kriegshafen, verstreuter und un¬
ansehnlicher im Kauffartcihafen.
Zu diesem lebensvollen Bilde bilden die eignen Straßen des Dombergs
einen wunderbaren Gegensatz. Nur um den Palast des Gouverneurs', vor
welchem natürlich die Wachen nicht fehlen, bewegt sich regeres Fußgängerleben;
doch lauter unisormirte Menschen, unmittelbare Diener der Staatsmacht. Die¬
selbe eigenthümliche Stille, wie in den Diplomatenstraßen der künstlich empor¬
gepflegten Residenzen Deutschlands waltet in den übrigen Gassen, deren vor¬
nehme Häuser tagsüber ihre Fenster meistens verhängen, um am Abende breite
Lichtgarben durch die Spalten der Vorhänge aus die harrenden Equipagen
hinabzuwerfen. Wer hier oben wohnt, geht nicht zu Fuß, wenigstens nur
ausnahmsweise und noch seltner öffentlich, obgleich man vom äußersten Rande
des Dombergs zum entgegengesetzten nicht länger als 3—4 Minuten zu gehen
hat. Die Gestalten, welche halb verstohlen von einer Hausthür zur andern
schlüpfen, gehören zum Dienst der Aristokratie. Nur rollende Wagen und
klappernde Noßtritle bilden den Straßenlärm und Petersburger Bespannung
mit unendlich langgeschirrtem Postzuge, zwcrgigem Vorreiter und russischem
Kutscher gehört unnachsichtlich zum guten Ton.
Man ist überhaupt in Esthland und speciell in Reval in sklavischer Nach¬
ahmung der Petersburger Mo/de viel peinlicher, als in Liv- und Kurland.
Freilich ist man auch nur etwa 40 Meilen von der Zarenresidenz entfernt, mit
familienhaften und dienstlichen Beziehungen fast ausnahmslos dahin gewiesen
und selbst im Bürgerstande großentheils auf die Petersburger Erwerbsquellen
angewiesen. Es herrscht darum in der Geselligkeit des Adels kaum ausnahms¬
weise jener wahrhaft vornehme, dennoch so liebenswürdig ungezwungene Ton,
welcher namentlich die kurischen Adelsgesellschaften auszeichnet. Vielmehr übt
ängstliche Rang- und Würderücksicht, welche dort vor dem freiherrlichen Gleich¬
heilsbewußtsein aller nicht aufkommen kann, hier schon eine außerordentliche
Kraft, Selbst in Petersburg hat man sich mehr davon emancipirt, indem man
in den Gesellschaften die Titel gänzlich beseitigte und nur etwa der Ercellenz
noch ausnahmsweise einige Betonung gibt. In Neval ist dagegen das baltische
Freiherrlichkeitsbewußlsein nicht mehr stolz genug, um den TschinorganiSmuS
zu ignoriren und das Tschinbewußtsein noch nicht berechtigt genug, um dem
baltischen Baronat seine Huldigungen vorenthalten zu können. Daher mag
es kommen, daß auch in gemischten Kreisen die Herrn und Damen sich fast
ängstlich voneinander scheiden, bis endlich die Mittags- oder Abendtafel eine
bunte Reihe erzwingt, oder die Tanzmusik gestattet, eine Dame eiligst zu einer
Tour zu rauben, um sie nach deren Beendigung ebenso eilig der schützenden
Mutter oder Duenna zurückzustellen. Selbst die nordische Körperschönheit
erscheint weder so auffallend, noch ein so allgemeines Erbtheil, wie z. B. in
den vornehmen Gesellschaften Kurlands. Bei den Männern ist vie freie Frische
häufiger in Militäruniformen eingezwängt, der Bart nach Norm und Reglement
für Civildiener und Offiziere gezogen, das vom Unterschreiben blöde Auge öfter
hinter Brillengläsern verborgen. Unter den Damen bemerkt man allerdings
viel" schöne Gestalten und üppiges blondes Haar, zugleich aber ein frühes Ver---
welken und baldige Unreinheit des Teints, während sonst die baltische Frauen¬
schönheit sich meistens lang erhält und ein reiner Teint selbst noch die Alters¬
runzeln verschönt. — Woher dies kommt? Wer mag in solche Geheimnisse
dringen? Wer jedoch längere Zeit die verschiedenen Lebenskreise der drei Ost-
seeprovinzen zu beobachten Gelegenheit hatte, wird nicht ableugnen können,
daß der esthnische Adel-den Vorstellungen am wenigsten entspricht, welche wir
uns gewöhnlich von der äußerlichen Erscheinung dieser Epigonen des Schwert-
ritterthumö machen. Vielleicht ist er grade darum noch erclusiver als die kurische
und livische Adelschaft gegen die „Unadligen" des Landes. Junkerthum ist
überall ohne Edelmannsnatur. >.
Uebrigens wird der Domberg meistens nur im Winter vollzählig bewohnt,
im Sommer nur während der Seebadezeit ab und zu bevölkert. Den übrigen
Theil des Jahres bringen die „Herrn" im kaiserlichen Dienst oder auf ihren
Landgütern zu. Und die weder dem Kaiser dienen, noch eigne Güter besitzen,
sind doch gewöhnlich genugsam mit Verwandten gesegnet, bei denen man die
Sommermonate sparend zu Gaste geht, um im Winter den alten Geschlechts¬
namen, den man trägt, standesgemäß vertreten zu können.
Von dieser Wintersaison des Dvmbergs und her Seebadwochcn lebt heute
fast ausschließlich die „niedere Stadt", wie das eigentliche Reval von den
Bewohnern der „Oberstadt", d. i. des Domberges vorzugsweise genannt wird-
Sie hat bessere Zeiten gekannt, namentlich als sie unter Schweden stand und
zur Hansa gehörte; ihr unrettbarer Rückgang begann eigentlich erst seit dem
Entstehen von Petersburg. Um den Residenzhafen zu füllen, untersagten näm¬
lich die Zaren den baltischen Seestädten, denen Peter I. die Erhaltung ihrer
Rechte und Privilegien feierlich zugeschworen, den wichtigsten Theil ihrer Aus¬
uno Einfuhrgeschäfte. Riga allein war so glücklich, unter Alexander einen
Theil seiner Rechte als Gnadengeschenk wiederzuerhalten. Unerbittlich ließ
man dagegen Reval in eine erzwungene GeschäftSlosigkeit versenkt; um so un¬
erbittlicher, weil es der (bis 183V) zollfreien finnischen Küste gegenüberliegt
und dem künstlich emporgcpflegten Wohlstande Petersburgs eine bedenkliche
Concurrenz gemacht haben würde. Die Petersburger Animosität war selbst
stark genug, um dort bis gegen das Ende der vierziger Jahre ein regelmäßiges
Anlanden der zwischen Lübeck, Stettin, Stockholm und Petersburg gehenden
Dampfschiffe zu verhindern; sogar sein Localverkehr mit Helsingfors und Kron¬
stäbe blieb den ausgesuchtesten Plackereien unterworfen.
Daß unter solchen Ukasen und Manipulationen Nepals Seeverkehr aufs
tiefste sinken mußte, bedarf keiner weitläufigen Versicherungen. Wie die Stadt
verarmte, , so wurde ihre Bürgerschaft in immer größere materielle Abhängigkeit
vom Landadel oder auch von Petersburg gezwungen. Die strebsamen Elemente,
welche sich hier nicht zu entfalten vermochten, verließen selbstverständlich die
Wohnungen der Väter, um im Innern des Zarenreichs die Kräfte auszubeuten,
deren Verwendung in der Heimat der Zarenbefehl unmöglich gemacht. Wäh¬
rend die Stadt zurückging, ihre Capitale fortzögen und das Heimatsbewußtsein
ihrer Bevölkerung sich abschwächte, kamen dennoch die Verluste dein künstlichen
Bau des militärischen Industriestaates nicht wirklich zugute'. In Reval aber
blieb fast nur Kleinhandel und jenes Pfahlbürgerthum, das im eingetretenen
Wege energielos fortlebt und mit dem Kleinsten sich begnügt, weil Größeres
unerreichbar scheint. —
Diese heutige Geschichte prägt sich im Gassenleben Revals aus, während
sein steinerner Körper von der großen hanseatischen Vergangenheit zeugt. Zwei
enge Thore führen zwischen verwitterten Festungsmauern vom Domberge in
die Stadt. Außer den uniformirten Angehörigen des Gouverneurpalasteö steigt
dort kaum ein Fußgänger herunter, wenn nicht etwa ein Handwerker, welcher
noch aus ältern Zeiten ausnahmsweise eine adlige Kundschaft bewahrte. Die
aristokratischen Equipagen rollen dagegen zahlreich — durch diese Stadtstraßen
und weit hinunter bis gegen den Hafen, wo russische „Magazinisten" ihre
Waaren auslegen. Freilich sehen die Häuser, an denen sie vorüberjagen, kaum
darnach aus, als pb ihre Bewohner solcher kleiner Verdienste bedürften. Wer
Bremen, Lübeck oder das Innere Rigas kennt, der weiß es augenblicklich, daß
Reval deren Schwesterstadt. Dieselben hohen Häuser mit dem vorwärts ge-
'
wendeten Giebelschmuck, dieselbe einzig dem „Geschäft" , gewidmete Straßen-
fronte, an welcher über weiten Thorwegen Speicherthüren, Lagerlucken und
Krahnstöcke unregelmäßig bis inS oberste Gestock emporsteigen, während vor¬
hanglose, wohlvergitterte Schreibstubensenster daneben auf uns niederblicken.
So eng. sind häufig die Straßen, daß aus den Schreibstuben den ganzen Tag
eine trübe Lampe hervorflimmcrt; und dennoch begrüßt man sie freudig. Denn
da drin ist noch etwas vom alten, stillen, aber großen Geschäftsverkehr übrig,
während anderwärts die Comptoirs jahraus jahrein mit Bietern versetzt sind,
die vorragenden Krahnbalken abgebrochen und angefault, die großen Thorwege
von Spinngeweben überzogen. Wenn auch hier und da ein Verkaufsladen
seine glitzernden Schaufenster einbaute in solch ein Haus, so sieht es aus, nicht
als ob er dessen verborgenen Reichthum hervorglänzen ließe, sondern als ob er
die letzten Neste davon feilböte. Ja, es thut fast wohl, daß die alten, düster¬
stolzen Gebäude immer seltener werden, jemehr man aus dem Innern gegen
die Säume der Stadt hinkommt. Die charakterlose Eleganz des Petersburger
Häusergeschmacks paßt besser zum modernen Kleinverkehr. Dort beleben sich
auch die Straßen wieder. Die russischen, esthnischen, finnischen Trachten,
welche nebst Militär- und Civiluniformen den bürgerlichen Rock fast verschwin¬
den lassen, bezeugen wenigstens, daß nichts«lies im Absterben sei, wenn auch
das deutsche und althanseatische Bürgerthum. Es ist aber ein „deutscher Trost".
Tretzdcm hätte unrecht, wer glauben möchte, dahinten im Stadtkern sei
mit der Geschäftsrüstigkeit des Großhandels auch das alte innige Familien¬
leben verschmachtet, von welchem Revals frühere Zeilen kaum Rühmliches genug
zu berichten wußten. In die Straße blickt davon freilich nichts. Es ist ein
Hinterstubenleben'im wörtlichsten Sinne. Die alte Zeit fühlte überhaupt für
ihr häusliches Leben nicht das gleiche Bedürfniß wie unsre Gegenwart nach
Luft und Licht, noch weniger nach Verbindungen und Beziehungen mit dem
allgemeinen Verkehr der Straßen und Plätze. Sie ließ in den Städten kaum
einen offnen Raum, außer dem Marktplatze und vor den Pforten der Kirchen,
zwischen den Gräbern. Das ist nun im alten Neval besonders charakteristisch
ausgeprägt. Alle Familienzimmer seiner Häuser öffnen ihre Thüren und
Fenster gegen den Hofraum, hinter welchem nur selten ein kleines grünes
Plätzchen mit Bäumen hervorlugt. Natürlich münden auch die Zugänge zu
diesen Familienräumen nicht etwa im Innern des Hauses auf einen gemein¬
samen Treppenbau, sondern es läuft eine hölzerne Galerie vor jedem Stockwerk
hin, auf welche, die freie Treppe aus dem Hose hinaufsteigt. Und weil die
Galerie meistens gedeckt ist, bleibt den Zimmern eben kein überflüssiges Licht.
Dieser Mangel an Licht, sowie die Gewißheit, keinem fremden Neugierblick aus¬
gesetzt zu sein, hat ferner die Gewohnheit herbeigeführt, die Zimmer ohne Vor¬
hänge zu lassen. Dabei ist keine Stube der andern gleich an Höhe und
Tiefe; um aus der einen in die andre zu gelangen, muß man fast stets ein
Paar Stufen steigen; fast immer schwitzen die Wände von feuchtem Gestein;
alterthümliche, gigantische Meubel verdüstern meistens den ohnehin düstern Raum.
So währt es dem Ungewohnten immer einige Zeit, ehe er sich hier behaglich fühlt.
Auch Art und Wesen der Nevalenserinnen ist etwas von dieser Hinter-
ftubenatmosphäre angeweht. Man sieht sie selten auf der Straße, noch seltener
auf einem Spaziergang und am allerseltensten ohne weibliche Handarbeit. Das
läuft sogar in Concerte und in das keineswegs schlechte deutsche Theater mit, welches
hier gewöhnlich seine Wintersaison abhält. Dabei meistens Mangelan geschmack¬
voller Eleganz der Kleidung, wenn auch prachtvolle Stoffe und reicher Schmuck
nicht fehlen; im Wesen und BeHaben eine gewisse nonnenhaste Schüchternheit
und der Ausdruck jener puritanischen Frommheit, die aus Mangel an weiteren
Interessen jeden Genuß der Lebensschönheit wie eine Sünde gegen ihren Schöpfer
ansieht. Die echten Nevalenserinnen sollen vortreffliche Mütter und Hausfrauen
sein. Aber unser modernes Geschlecht begnügt sich nun einmal nicht mit der
Geschicklichkeit im Einmachen der Killoströmlinge, in der Bereitung des Meth :c.
ES ist darum eine ganz natürliche Reaction, wenn neben solchen etwas
verblichenen Gewohnheiten und Sitten der weiblichen Bürgerkreise >in andern
Kreisen die Petersburger F>5rin und Lebensweise vollkommen in Herrschaft ge¬
setzt wurde. Und man kann es der Männerwelt kaum verdenken, wenn sie
sich im allgemeinen dieser Modernisirung mit Vorliebe zuwendet. Besonders gilt
dies von den Bewohnern der dem Hafen, den russischen Sloboden und den
Petersburger Seebadgästen näher gelegenen Straßen.
Hier lebt das moderne Reval mit dem welterfahrenen Theil seiner Bürger¬
schaft. Hier muß freilich auch jeder Versuch rascher Charakteristik erlahmen
und es wäre am Ende kaum lohnend, da wir es großentheils nicht mit na¬
türlich aus dem Boden gewachsenen Erscheinungen oder mit Resten unter¬
gehender Zustände, sondern mit weltmännisch angenommenen oder officiell auf¬
gepfropften Aeußerlichkeiten zu thun haben. Dem russischen Regiment sich cic-
commodiren, den Petersburger Sommergästen für möglichst viel Geld sich mög¬
lichst behaglich zeigen, das alte Reval vergessen, um es zur Petersburger Filiale
zu machen, das ist hier Lebensweisheit. Die Leute haben in ihrer Art auch
nicht unrecht. Neval kann nicht gegen den Strom schwimmen, dafür ist es zu
geschwächt; und würde außerdem als Seebad aus der Petersburger Mode
kommen, wenn es, wie einst eine Großfürstin bei seinem Anblick äußerte,
„parlaitemknt roooco" bleiben wollte. So etwas gefällt den verwöhnten Resi¬
denzlern für ein paar Tage, doch nicht lange.
In diesen Gegenden hört auch äußerlich das alte Neval auf. Ostwärts
läuft eS in die Nussenvmstadt aus, westwärts zerfasert es sich in militärische
und andre Anlagen mit großen wüsten Strecken dazwischen. Nechtöhin beginnt
unter fortwährendem Geklingel der russischen Kirchen das Gewühl russischer
Krämerei und das Geklapper russischer Industrie, welches seinen Hauptsammel¬
platz auf dem Trödelbazar findet, den sie, wie in Petersburg, Talkutschindwor
d. i. Läusemarkt nennen. Daneben ist der esthnische Bauernmarkt. Linksbin
aber liegt der Hafen mit seinem Treiben, die Admiralität, Kasernen, Spitäler,
vie Reperbahn u. s. w.
Dies alles ist jedoch nur zufällig in Reval, nicht im Werden und Sein
der Stadt bedingt. Dagegen wurde das Badeleben, obgleich erst seit 1840
gepflegt, bereits ein wichtiges Stück seines modernen Daseins. Die Bevölkerung
vermehrt sich dann in kurzer Jut um viele Hunderte, welche fast ausschließlich
von Petersburg herandampfen, nur ausnahmsweise durch den Landadel ver¬
stärkt werden. Und man braucht die Badecur eigentlich nur sehr beiläufig; die
Hauptsache bleibt, sich möglichst gut zu amüsiren. Dazu bietet indessen Reval
an sich wenig Gelegenheit. Hätte Peter I. nicht die Allee von der Stadt nach
dem aus dem Sand emporgezauberten Park von Katharinenthal angelegt, so
könnte die vergnügungslnstige Welt nicht einmal einen Corso etabliren. Dieser
ist indessen in der Seebadezeit fast in gleicher Weise wie in Homburg, Baden-
Baden oder Ostende hergestellt. So bleibt uns von seinem Wogen und Trei¬
ben zu Wagen, Pferd und Fuß, von seinen Musikbanden, Eisbuden, Tanzsälen
und Cönversationszimmern nichts zu erzählen., «ü'izst, Wut comme eko? rious.
Die dichten Parkgruppcn aber, welche das verlassene Zarenschloß Katharinen¬
thal und das wohlerhaltene Häuschen Peters umgeben, decken mit ihren
Schatten die aus dem Gewühl geflüchteten Geheimnisse. Die eigentliche innere
Stadt Reval ist dann noch stiller als sonst.
Sie hat ihre lebhafteste Zeit in der ersten Hälste des März, wo die „ge¬
meine Bezahlung" stattfindet, welche dem „Johannis" in Mitau und den
„Contracten" der polnischen Hauptstädte entspricht. Ehemals fand sie auch um
Johannis statt; seitdem aber die Creditkasse (1826) ihre Zahlungen auf März
und September verlegte, ist der Frühlingstermin der wichtigste geworden. Er
versammelt fast alle Gutsbesitzer des Landes in den Mauern der Stadt, da alle
Zahlungen, Pachtcontracte und selbst Familienabkommen auf diese Zeit gestellt
sind. Natürlich wird er dadurch auch die Periode der Bälle, Concerte und
sonstigen Vergnügungen; ein Jahrmarkt, der früher sehr bedeutend war, ver¬
bindet sich von selbst damit. Desto auffallender contrastirt aber mit diesem
Gewühl die letzte Hälste des März; und nicht vermehrte Masten in, Handels¬
hafen, sondern nur hin und wieder sichtbare Frachtwagen erinnern daran, das
Reval jetzt sein Hauptgeschäft abgethan hat. ^
Der Hafen ist überhaupt Nepals herbster Schmerz. Sein Dasein erinnert
fortwährend daran, was die Stadt gewesen, sein jetziger Zustand sagt, was sie
geworden. Von den Schweden war er trefflich angelegt, jetzt ragen nur
noch seine Gerippe aus dem Schlamm hervor, um zu zeigen, wieweit die
Versandung vorgeschritten ist. Man hat den Molo darum tiefer ins Wasser
hinausgeschoben; aber auch an ihn legt sich der Sand bereits von neuem an
und droht mit dem Schicksale des alten'Hafens. Dazu kommt noch, daß an
seinem Eingänge öfters Schiffe strandeten, liegen blieben und so der Versandung
neue Stützpunkte boten. Am meisten aber schadet seinem Bestände der 1T00 Schritt
lange Damm des westlich vom Kaufmannshafen angelegten Kriegshafens, wel¬
cher allerdings den größten Kriegsschiffen genügende Tiefe bietet. Ueber die¬
sem Zwecke hat das heutige Nußland rasch vergessen, daß Peter I. Reval zum
Hauptstapelplatz des finnischen Busens zu machen, daß er selbst den persischen.
Handel hierher zu leiten gedachte. Was gilt der bürgerliche Wohlstand ganzer
Provinzen, sobald es einen Kriegszwcck gilt!
Man muß gestehen, als Marinestation ist der Kriegshafen vortefflich.
Gegen Westen schützt ihn eine vorspringende Landzunge mit den daranhängeu-
den Karlsinseln; im Nordosten bricht Nargen die Wuth der Wellen. Daß
dort zugleich eine Befestigung aufgeworfen ward, ist schon erwähnt. Und weil
denn eben alles möglichst nach Petersburger, respective Kronstädter Thema gerichtet
sein muß, wurde weiter die sogenannte Kesselbatterie (Fort Kollin) mitten in
die Fluten hinausgelegt. Vom Festlande aber droht auf dem Kalkfelsen, etwa
60 Fuß über dem Meeresspiegel, die sogenannte Westbatterie. — Damit waren je¬
doch die militärischen Schutzmaßregeln (wenigstens in den Friedensjahren) erschöpft.
Die Festungswerke der Stadt selbst blieben nicht nur in Verfall, sondern wur¬
den gegen die Landseite dem Niederreißen bedingungslos preisgegeben. Nur
einmal hatte man die Idee, im Nordosten und jenseits Katharinenthal den
hohen Strand mit casemattirten Kasernen zu besetzen. Man hat sie auch voll¬
kommen fertig gebaut und sie haben Millionen gekostet. Es sind stattliche,
palastartige Bauten. Als man aber die Soldaten hineinlegen wollte, fand
sich, daß sie gradezu unbewohnbar sind, weil man sie aus sogenanntem weißen
Wasscrflies gebaut hatte. Dieser zieht beständig Feuchtigkeit aus der Atmo¬
sphäre an und zerbröckelt natürlich nach kürzester Zeit. So stehen denn diese
Festungspaläste verlassen und leer, nur von Eulen und Fledermäusen bewohnt.
spärliches Gras überzieht die Fußböden ihrer Räume, über welche von Zeit
zu Zeit eine Wand oder Decke hereinbricht. Selbst eine Moschee der Muha-
medaner, welche auf der Flotte dienen, hat geräumt und aus dem unsichern
Gestein in die sicherern Räume einer hölzernen Privatsternwarte verlegt werden
müssen, die vom Eigenthümer verlassen war. Die Nevaler aber sehen in die¬
sem Verfalle gewissermaßen eine Nemesis für den Verfall, welchem 'man um
Petersburg ihr Handelsleben, um Kriegszwecke ihren Handelshafen opferte, und
erfanden für den verunglückten Bau den Spottnamen: „Ruinen von Palmyra."
Wir finden uns Herrn Reichensperger gegenüber in einer eigenthümlichen
Lage. Fast jede seiner Schriften enthält viele Einzelnheiten, die uns aus der
Seele gesprochen sind und die-uns wünschen lassen, daß wir auch mit dem
Ganzen übereinstimmen könnten. Und doch müssen wir sehr bald gewahr wer¬
den, daß unsre Ansichten von den seinigen durch eine unübersteigliche Kluft
getrennt sind. Wir können uns diesen Widerspruch auch nicht daraus erklä¬
ren, daß wir ihm Inconsequenzen nachweisen; er entwickelt vielmehr eine
Folgerichtigkeit, die in ihrem Kreise vollkommen zu Hause ist, die jedem Rede
steht, die sich vor keiner Anklage scheut, und wir haben uns nnr darüber zu
verwundern, daß ein so hochgebildeter Mann sich, wie es scheint, mit voller
Seele in eine Anschauungsweise vertieft hat, die uns wie ein Schattenbild
vergangener Zeiten ansieht. Es ist eine sonderbare Erscheinung M unsrer
Zeit, daß bei dem schärfsten Denken sich zuweilen die Kernpunkte des Denkens
der Logik entziehen, daß hier die Phantasie ein freies Spiel treibt, ohne daß
man doch von einer wirklichen Leidenschaft reden könnte. Denn das müssen
wir offen aussprechen, wenn wir auch keinen Verdacht haben, daß Herr
Reichensperger etwas sagt, was er nicht wirklich glaubt, so macht er ans uns
doch nicht jenen imponirenden Eindruck, den der echte Glaube überall hervor¬
ruft, auch wo man ihn für einen sinnlosen Fanatismus halten muß. Der
echte Gläubige tritt uns mit der Gewalt einer Naturkraft gegenüber, gegen die
wir ankämpfen, bei der wir aber auf keine innere Vermittlung rechnen können.
Herrn Reichensperger gegenüber aber befinden wir uns auf.gleichem Niveau,
und wir würden ihm gegenüber mit vollkommener Offenheit und Unbefangen¬
heit zu Werke gehen, wenn uns äußerliche Gründe es verstatteten. Es sind
wunderliche Leute diese Ultramontanen. „Möchte nur erst einmal Luft und
Sonne unter den Streitenden oder beziehungsweise Wetteifernden gleich getheilt
sein!" so sagt Herr Reichensperger S. 1ö. und wir stimmen aus vollster
Seele in diesen Stoßseufzer ein. Nur finden wir die gegenwärtige Theilung
der Luft und des Lichts nicht so, wie unser Verfasser sie darstellt. Würden
wir den Ton, mit dem er die Aufklärung bespricht, gegen den Katholicismus
anwenden», so würde man uns Luft und Licht überhaupt versagen, d. h. man
würde uns einsperren, und zwar in einem protestantischen Staat ebensogut
wie in einem katholischen. Wenn es Herr Reichensperger dahin bringen kann,
daß von Staatswegen in religiösen Dingen die Presse frei gegeben wird, wobei
es der Kirche unbenommen bliebe, ihre bisherigen Mittel gegen die Presse
auch ferner anzuwenden, so wollten wir alle übrigen Anforderungen der Ultra¬
montanen an den Staat aus allen Kräften unterstützen. Solange das aber
nicht der Fall ist, solange die Kirche in dieser Beziehung sich auf den Staat
stützt, werden wir unsrerseits die Einmischung des Staats in den Punkten,
wo er mit uns übereinstimmt, gleichfalls in Anspruch nehmen.
Um nun nicht zwei verschiedene Dinge miteinander zu vermischen, wollen
wir zunächst das Positive des Buches hervorheben. Herr Reichensperger hat
bei demselben einen praktischen Zweck. Da das Bedürfniß der Gemeinden
theils den Aufbau neuer Kirchen, theils die Restauration alter nöthig macht,
so kommt es darauf an, eine richtige und leicht zu befolgende Methode festzu¬
stellen, damit bei der Stillosigke'it unsrer Tage, die jeden Bauunternehmer auf
seine eigne Erfindungsgabe verweist, nicht Mittel und Kräfte unnütz vergeudet
werden. Herrn Reichensperger kommt es vor allem darauf an, Vorbilder und
Movclle aufzustellen, die unmittelbar praktisch nachgebildet werden können.
Daher geht er auf geometrische Genauigkeit aus, auf Schärfe der Verhältnisse,
nicht auf eitlen Schmuck, auf die Kosten, auf die Beziehungen zum Material u.s. w.
Kurz er wendet sich mit seinen Lehren mehr an den Handwerker als an den
Künstler, aber an den Handwerker im edleren Sinn, wie man den Begriff
im Mittelalter auffaßte. Die Aufgabe des Kirchenbaues ist, den einzelnen
Bedürfnissen des Cultus zu entsprechen, eine der Würde ihres Zweckes ent¬
sprechende Localität herzustellen, solide Arbeit zu liefern und das alles mit so
wenig Kostenj als möglich. Die Art und Weise, wie diesen verschiedenen
Bedürfnissen Rechnung getragen ist, kann man als musterhaft bezeichnen und
wir sind fest davon überzeugt, daß eine größere Verbreitung des Buches unter
den Betheiligten viel dazu beitragen wird, uns zunächst in dem Kirchenbau,
Hann aber auch in den übrigen Zweigen der Architektur wieder einen Stil zu
verschaffen, der nach Herrn Reichenspergers sehr glücklicher Bezeichnung nicht
von außen nach innen, sondern von innen nach außen geht. Nur in diesem
Sinn können wir auch seinen Rath billigen, daß man vorläufig' mit dem Bau
neuer Kirchen soviel als möglich zögern soll, bis die Sicherheit der Technik
die jetzt zum großen Theil verloren gegangen ist, in dem Kreis der Baumeister
und Handwerker sich wiederhergestellt haben wird. Denn über den Beruf unsrer
Zeit zum Kirchenbau denkt Herr Reichensperger keineswegs so geringschätzig,
als Herr von SavigNh im Jahr 1814 über den Beruf unsrer Zeit zur Gesetze
gebung dachte. Er ist im Gegentheil fest davon überzeugt, daß, wenn wir uns
nur der falschen Vorbilder einschlagen, wir wol im Stande sind, die Meister
des 13. Jahrhunderts zu erreichen, vielleicht zu übertreffen.
Was die Restauration alter Kirchen betrifft, so gibt er den Rath, nur
diejenigen Verbesserungen eintreten zu lassen,' die für die Erhaltung des Ge-
bandes und für die unmittelbaren Bedürfnisse der Gemeinde nothwendig sind;
dagegen alle sogenannte Verschönerungen aus blos Ästhetischen Gründen bei
Seite zu lassen. Denn einmal geht durch solche Verbesserungen in der Regel
sehr vieles verloren, was für das Studium der Kunstgeschichte von der höchsten
Wichtigkeit ist, sodann sind wir zu leicht geneigt, die Bedürfnisse unsrer Privat¬
wohnungen, Reinlichkeit, Zierlichkeit,.Comfort u, f. w. auch auf die Kirchen
auszudehnen, wo sie nicht hingehören, da ein alterthümlicher Anstrich den
feierlichen Eindruck der Kirche nur erhöhen kann.
Für neue Bauten empfiehlt er einzig und allein den gothischen Stil. Bei¬
läufig bemerken wir, daß er wenigstens in der Regel diesen Ausdruck gebraucht,
nicht den neuerdings beliebten des germanischen Stils, und daß wir ihm
darin vollkommen beipflichten. Denn grade weil der Ausdruck „gothisch" gar
nichts sagt (daß eine Beziehung zu den Gothen nicht stattfindet, weiß jedes
Kind), eignet er sich ganz vortrefflich zur Bezeichnung eines bestimmten Kunst¬
stils, umsomehr, da er in dem Munde des Volks geläufig ist. Der Aus¬
druck „germanisch" dagegen sagt zugleich zu viel und zu wenig; denn der
gothische Stil ist ebensowenig auf Deutschland eingeschränkt, als er auf die
Gesammtentwicklung der deutschen Kunst ausgedehnt werden kann.
Aber Herr Reichensperger empfiehlt die gothische Baukunst keineswegs in
dem Sinn, wie es von so manchem dilettantischen Verehrer des Mittelalters
geschieht, die den alten Meistern allerlei Zierrathen, Schnörkel und Kuriositäten
absehen, und dann meinen, im Sinn des Mitelalterö zu bauen, wenn sie
diese bunten Schnörkel in so bunter Fülle als möglich überall anbringen,
gleichviel ob sie mit dem Stil der Umgebung übereinstimmen oder nicht. Man
soll sich vielmehr des architektonischen Gedankens bemeistern, der die Ent¬
wicklung der gothischen Baukunst bestimmt hat, und darum nicht die Pracht¬
bauten des 14. Jahrhunderts, sondern die einfachen und klaren Verhält¬
nisse der ersten Periode des gothischen Stils zum Vorbild nehmen, die in einer
kleinen Landkirche ebenso zur Geltung kommen können wie in der Kathedrale
einer Hauptstadt. Erst wenn die Technik in diesen ursprünglichen Verhältnissen
so vollständig zu Hause sein wird, daß die Kunst wieder ein eignes selbststän¬
diges Leben gewinnt, darf man an einen Fortschritt denken, der entweder
in derselben Art gescheben wird, wie im 14. Jahrhundert, oder was besser ist,
sell'stständig und aus eigner Kraft heraus.
Diese Gedanken sind nun in allen Einzelnheiten, so verständig und zweck¬
mäßig durchgeführt, mit so steter Beziehung auf das praktische Bedürfniß, daß
wir in dieser Beziehung dem Werk nur unsren vollständigen Beifall schenken
können. Ja selbst, indem wir zur Polemik übergehen, müssen wir voraus¬
schicken, daß wir, abstract genommen, den Principien, deren Anwendung wir
bekämpfen, gleichfalls beipflichten, und daß wir den Irrthum nur darin finden,
daß der Verfasser den Gegenstand nur von einer Seite betrachtet hat. Seine
Principien sind nämlich folgende.
Einmal hält er in der Entwicklung der Kunst einen innern organischen
Zusammenhang, einen Fortbau auf dem Boden der nationalen Bedürfnisse und
der Tradition für wünschenswert!), und beklagt daher die Wiederaufnahme des
Alterthums in Literatur und Kunst, die man als das Zeitalter der Wiedergeburt
(rsnaissanos) bezeichnet, als einen Abweg von der natürlichen Entwicklung.
Sodann verwirft er den Grundsatz, der zu Ende des vorigen Jahrhunderts
in Deutschland aufgestellt und nach allen Seiten hin praktisch bethätigt wurde,
daß die Kunst um der Kunst willen da sei, durchaus und unbedingt, in dem
Grundgedanken wie in den Folgerungen, und stellt dagegen das Princip auf,
daß die Kunst wie das Handwerk einem bestimmten praktischen Zwecke dienen
müsse; in welche Kategorie er mit Recht auch die kirchlichen Zwecke rechnet.
Abstract genommen treten wir beiden Sätzen bei. Wir finden es nament¬
lich in Deutschland sehr beklagenswert!), wenigstens sür den. Augenblick, daß
in der Kunst wie in der Literatur ein gewaltsamer Bruch mit der Vergangenheit
stattgefunden hat, und daß die Kunst durch ihre Trennung von dem Inhalt
des wirklichen Lebens das Volk seinem eignen Ideal entfremdet hat. Ja wir
nehmen ebensowenig Anstand als Herr Reichensperger, an die größten Erschei¬
nungen unsrer Kunst und unsrer Literatur dieses Gefühl des Bedauerns anzu¬
knüpfen. — Aber zweierlei möchten wir ihm zu bedenken geben.
Einmal ist es nicht möglich, eine einzelne historische Entwicklung von
der Gesammtentwicklung der Menschheit so zu isoliren, daß sie rein aus sich
selbst organisch ohne allen fremden Einfluß sich fortbilden könnte. Die Barbarei
des Mittelalters — gegen diesen Ausdruck wird wol niemand etwas einzu¬
wenden haben, wenn wir die Periode von der Völkerwanderung bis ans die
Kreuzzüge damit bezeichnen — hatte die Cultur des Alterthums unter einem
tiefen Schutt begraben, aber sie hatte sie nicht vernichtet. Nun gelang es zwar
dem gesunden Leben der Germanen, entzündet durch den Geist des Christenthums,
eine neue Cultur hervorzubringen, die an sich schon zu sehr erfreulichen Er¬
scheinungen führte, und die einen noch bessern Fortschritt in Aussicht stellte.
Aber diese Cultur, so harmonisch sie in sich zu sein schien, konnte doch den
Trieb des Menschen nach der Kenntniß des Fremden nicht ersticken. Man
grub in dem alten Schutt nach, und entdeckte das classische Alterthum. Daß
die fremde Erscheinung allgemein imponirte, daß sie einzelne zu einseitiger
Bewunderung und zum Verkennen ihrer volkstümlichen Bildung verleitete,
lag in der Natur der Sache. Aber daß sie im Stande war, die ganze
Cultur des Mittelalters, wenn auch nur im allmäligen GährungSproceß,
in Verwirrung zu setzen, aus den Fugen zu reißen, auseinanderzusprengen,
das zeigt unzweifelhaft, daß diese scheinbar so harmonische, ^so übereinstim-
wende, so befriedigende Cultur des Mittelalters keineswegs das war, wofür
sie sich ausgab; daß sie vielmehr von den tiefsten Widersprüchen zerrissen war,
und daß sie die Wiedcrentdeckung des Alterthums ebenso postulirte, wie das
heidnische Alterthum die christliche Offenbarung. Zwar hat das Mittelalter
den Humanismus ebensowenig aus sich heraus hervorzubringen vermocht, als
Rom das Christenthum, aber daß in beiden Fällen die alte Bildung der neuen
unterlag, war ein deutliches Zeichen, daß sie dieselbe bedürfte. Petrarca, Bo-
caccio, Macchiavell, Leo X., Rafael, Michel Angelo, Ludwig XI., Luther, Shake¬
speare und wie die Begründer der neueren Zeit sonst heißen mögen, die trotz
ihrer ungeheuren Verschiedenheit der moderne Ultramontanismus mit dem gleichen
Bannfluch belegt, sie waren alle keine willkürlichen Neuerer, sondern ihre Er¬
scheinung war ein schlagendes Zeugniß dafür, daß der Tag gekommen war,
wo die alte Bildung in sich selbst zusammenstürzen mußte. Und diese gewaltige
Revolution in- dem Bewußtsein der germanischen Völker ist nicht ein Zeichen
von der Schwäche der Germanen, sondern von ihrer historischen Bildungs¬
fähigkeit. Völker ohne innere Revolution, wie die Wilden einerseits, die Chi¬
nesen andrerseits, gehören nicht in die Geschichte.
Wir kommen auf den zweiten Punkt. Wir stimmen mit Herrn Reichens-
perger vollkommen darin überein, daß der Grundsatz, die Kunst sei um ihrer
selbst willen da, ein falscher ist; und was er über den akademischen Stil, über
Museen und Kunstvereine u. s, w. sagt, findet unsren vollen Beifall. Gewiß
wird die wahre classische Kunst nur dann hervorgehen, wenn sie dem innern
Leben des Volks einen Ausdruck gibt, wenn sie seinen Bedürfnissen und Idealen
entspricht. In dieser Beziehung finden wir in der That bei den Griechen, bei
den Spaniern im siebzehnten Jahrhundert, — aber auch, mit Erlaubniß des
Herrn Reichensperger, bei den Italienern im fünfzehnten und sechzehnten, bei
den Franzosen im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert, einen echterer Ge¬
halt und eine classischere Form als in der Blütezeit unsrer deutschen Kunst, wo
jeder sich seine Götter nach eignem Bilde schnitzte.
Allein wir erlauben uns die Frage an Herrn Reichensperger, was dann
geschehen soll, wenn ein volksthümlicher Inhalt des Bewußtseins, eine sittliche
Tradition, eine feste Form des Cultus und der Ideale nicht vorhanden ist?
Dann wird doch wol der Genius, der schöpferische Kraft in sich fühlt,
seine Ideale selbst hervorzubringen suchen, und da aus nichts nichts wird,
sich an die reifste Bildungösorm anlehnen, die er überhaupt in der Geschichte
antrifft.
Das thaten die akademischen Künstler in der Plastik, wie Goethe und
Schiller in der Poesie? Sie wandten sich zu der heidnischen Kunst, weil aus den
nationalen Formen die Bildung und das Ideal gewichen war. Da erhielt die Kunst
jenen Beruf, der ihr keineswegs angeboren und immanent ist, den sie aber unter
besonders glücklichen Konstellationen allerdings durchführen kann; nämlich aus
eigner Schöpfungskraft heraus die Welt mit neuen Idealen zu erfüllen. Wer
kennt nicht Schillers Künstler? Dieses wunderbar schöne Gedicht hat zwar
in der Hauptsache unrecht, denn nicht die Kunst hat die griechische Bildung
hervorgebracht, sondern umgekehrt; aber für den bestimmten Fall, auf den er
sich eigentlich bezog, war sein Princip vollkommen anwendbar. Mit Stolz
kann der Deutsche des neunzehnten Jahrhunderts es von sich rühmen, daß er
durch das Morgenthor des Schönen in der Erkenntniß Land eingegangen ist.
Die Kunst hat uns nicht nur das Wiederaufleben der Wissenschaften vermittelt,
sondern auch das Wiederaufleben der Religion. Herr Reichensperger mag sein
christliches Selbstgefühl so hoch treiben als er will, er wird die Wahrheit nicht
umgehen können, daß unsre religiöse Verjüngung nicht von den Theologen,
sondern von den Künstlern ausgegangen ist. Erst mußten wir am Heidenthum
lernen, was überhaupt schön ist, um auch die Schönheit des Christenthums
wiederzuentdecken, und erst die Schönheit dieser Erscheinung macht uns auf die
menschlichen Wahrheiten aufmerksam, die in den Mysterien der Religion ver¬
borgen liegen.
Herr Reichensperger wendet sich mit seinen Vorschlägen zur Verbesserung
der Baukunst an die Kirche. Vom Staat hofft er ebensowenig als von den
Akademikern. Es ist auch dagegen nichts einzuwenden, denn warum soll nicht
auch die Kirche für einen nützlichen Zweck in Bewegung gesetzt werden? Wenn
die Klöster seinem Vorschlag folgen und statt unnützer Bußübungen Architektur
und Malerei treiben, wenn die Jesuiten statt ihrer casuistischen Spekulationen
Propaganda sür die gothische Baukunst machen, so ist daS ja recht schön und
löblich. Aber alle Achtung vor der Kirche! Herr Reichensperger thut den¬
noch unrecht, sie als den Träger der idealen Baukunst zu preisen, denn sie
hat sich in der Rennaissance, dem Jcsuitenstil, im Zopf und in den akademischen
Formen ebenso bethätigt wie in der mittelalterlichen Baukunst. Die Kirche ist
unabhängig von der gothischen Architektur, die gothische Architektur unabhängig
von der Kirche. Hätte Herr Reichensperger wie Schleiermacher seine Vor¬
schläge nicht an die Kirche, sondern an die Gebildeten unter den Verächtern
der kirchlichen Baukunst gerichtet, er würde ein dankbareres und bereitwilligeres
Publicum gefunden haben; denn wenn wir mit der gothischen Baukunst auch
die Inquisition und den Jesuitismus mit in den Kauf nehmen sollen, so blei¬
ben wir lieber bei der Akademie, allenfalls auch beim Zopf, und sagen mit
Herrn Tyiers, wenn es die Wahl zwischen dem Lächerlichen und Schrecklichen
gilt: <zu Kor oUo>«l> ^js prvlerv is riüiLulsl
Der Verfasser hofft mit Recht, daß das Interesse für diese Kunstleistungen
sich weit über den Kreis hinaus ausdehnen wird, für den sie zunächst bestimmt
sind. Der Inhalt der Gemälde hat zwar kein größeres historisches Interesse,
allein die saubere, correcte und dabei originelle Ausführung wird jeden be¬
friedigen, der überhaupt ein Interesse für die Kunst und namentlich für die
naiven und charakteristischen Formen derselben mitbringt. Die Bilder enthalten
ein kräftig bewegtes Leben, eine sreie und gesunde Haltung, und sie sind au¬
ßerdem von echt deutscher Gemüthlichkeit erfüllt, ohne doch irgendwie in das
Gebiet des Sentimentalen übcrzustreifen. Im Interesse der Kunst wünschen
wir diesem Werk eine recht freundliche Aufnahme, allgemeine Verbreitung und
Nachfolge. Bei dem Erscheinen der späternHeftc, die bei der außerordentlichen
Billigkeit des Preises (das Heft von sechs Blättern zu 1>/» Thlr.) hoffentlich
nicht lange wird aus sich warten lassen, werden wir näher darauf ein¬
gehen. —
DaS lobenswerthe Unternehmen, auf das wir bereits beim Erscheinen des
ersten Hefts hingewiesen haben, enthält in seinem zweiten Hest die Grablegung
Christi von Titian, aus der kaiserlichen Galerie im Belvedere; die schlafenden
Kinder von Amcrling (geboren 1803) aus der Galerie Beroldingen und den
Faust von Schmorr aus> dem Belvedere. Die technische Ausführung macht durch
ihren Geschmack und ihre Sorgfalt den Künstlern alle Ehre. Die erklärenden
Beilagen sind zweckmäßig und das Ganze wird wesentlich dazu beitragen, den
Kunstschätzen Wiens auch in dem übrigen Deutschland Aufmerksamkeit und
Theilnahme zuzuwenden. —
Die. Klage über den Mangel an guten historischen Bildern hören wir
nun schon manches Jahr und bei jeder Ausstellung meint man, es wäre nie
vorher so schlimm gewesen. — Läßt uns nun wol jede böse Gegenwart die
Vergangenheit in hellerem Lichte sehen, so ist dieses Mal doch nicht ant eine
Täuschung möglich. Wir können dreist behaupten, so schlimm ist es wirklich
noch nicht gewesen. — Wir erkennen sehr wohl an, daß es nicht so leicht ist,
ein gutes historisches Bild zu malen, daß die Künstler, welche diesem Felde
ihre Thätigkeit zuwenden, noch dazu mit bedeutenden materiellen Schwierigkeiten
zu kämpfen haben, durch welche sie zu dem meist dankbareren Genre und der
ihm verwandteren Richtung gedrängt werden. Umsomehr würden wir uns ge¬
drungen suhlen, jede Leistung auf dem Felde der Historienmalerei selbst bei
großen Mängeln anzuerkennen, wenn sie dafür auf der andern Seite über¬
wiegende oder wenigstens gleichbedeutende Borzüge böte. — Aber auch solche
Erscheinungen suchen wir (namentlich unter den historischen Bildern höheren Stils)
fast vergebens; und leider bleibt es nicht bei den historischen; es sind wol
einige, aber doch nicht viele Bilder da, an denen man eine rechte Freude hätte.
Ganz abgesehen von der Menge von Erbärmlichen, das man ganz und gar
von der Ausstellung zurückweisen sollte, das gewiß eine gute Hälfte der ge¬
stimmten Anzahl von Bildern beträgt, ist doch eine solche Menge von Richtigen,
vollkommen Inhaltlosem, daß man von neuem sich verwundern muß, wo eine solche
Masse von langer Weile hergekommen ist. — An der bloßen materiellen Natur¬
wahrheit, an frappanter Wirkung oder gar am bloßen Machwerk haben wir doch
nachgrade genug. — Und so erlassen Sie mir wol, Ihre Leser und mich mit
einer ausführlichen Beschreibung und Kritik zu ermüden; nur das wichtigere
will ich Ihnen nennen und an einigen vortrefflichen Bildern, die, Dank seis
den Musen, doch auch nicht fehlen, wollen wir uns erquicken. — Ich muß
Ihnen doch wenigstens einige historische Bilder nennen. —
Da hat Herr Gentz ein großes Bild gemalt, „Christus und Maria
Magdalena bei ven Pharisäer Simon". — Herr Gentz hat seinen
Paul Veronese fleißig studirt und mag bei mancher Copie nach ihm geschwitzt
haben, und wir müssen gestehen, er hat ihm manches Geheimniß der Farbe
abgemerkt. Das Bild ist vortrefflich zusammen, das Kolorit ernst und harmonisch,
das ist der sehr entschieden erste Eindruck des Bildes. Aber was nun weiter,
welchen Gedanken zu versinnlichen hat der Maler so gewaltige Mittel ange¬
strengt? .Wir wollen uns zuvor einmal der Geschichte erinnern, wie Christus
von der Sünderin sagte, die ihm die Füße mit ihren Haaren trocknete, sie
salbte und küßte: „Sie hat viel geliebt, drum sind ihr viele Sünden vergeben",
wie das Simon und die übrigen Tischgenossen nicht fassen konnten und sich
verwunderten. Von alle dem sehen wir nichts; nur einen ausdruckslosen
Christus und ebenso ausdruckslose oder karrikirte Nebenfiguren. Paul Vero-
neses Auffassungsweise heiliger Gegenstände ist für uns durchaus nicht ma߬
gebend; aber hätte doch Herr Gentz, da er ihn sonst so eifrig studirt, we¬
nigstens etwas von dessen anmuthig frischem Leben in sich aufgenommen und
seinem Bilde mitgetheilt. Doch genug über die Inhaltlosigkeit, wo nichts
ist, darüber laßt sich wenig sagen. Wir wollten zufrieden sein, wenn uns
zu der tüchtigen Farbe eine schöne, oder wenigstens gesunde, durchgebildete Form
gegeben würde. Doch davon ist nicht die Rede, die Zeichnung ist höchst roh,
die bei Tisch aufwartende Magd sogar in den Verhältnissen vernachlässigt, so
daß sie entschieden verwachsen aussieht; ihr Kopf ist in unerlaubter Weise
skizzirt. Das ganze Bild sieht am Ende so aus, wie eine kolossale Farben¬
skizze, die der Maler malte, um auf möglichst derber Leinewand mit sei¬
ner technischen Bravour zu kokettiren; daher ist denn auch im einzelnen
nicht einmal die Farbe durchweg zu loben, am gelungensten sind Stoffe, Fu߬
boden, Hintergrund u. f. w.; die Fleischpartien, die eine solidere, liebevollere
Behandlung verlangen, stehen verhältnißmäßig sehr zurück. — Ein anderes
Bild von Gentz „Aegyptische Studenten" ist ebenso inhaltslos.
Oscar Begas, der Sohn des Professor Begas, malte auch ein großes
Bild, die Kreuzabnahme. Wir wollen gar nicht daran denken, daß
dieser Gegenstand von den ersten Meistern vortrefflich behandelt ist, warum
sollte nicht in einem minder vortrefflichen Bilde doch manches vorhanden sein,
was das Unternehmen des Künstlers, diesen Gegenstand von neuem zu be¬
handeln rechtfertigte. Doch in diesem Bilde tourner wir dieses Rechtfertigende
nicht entdecken. Es sind eben zusammengestellte Figuren ohne irgendwelche tiefe
innere Erregung und Beziehung. Von Ausdruck, der, wie überall namentlich
bei einem solchen Gegenstande die Hauptsache sein soll, ist mit geringer Aus¬
nahme kaum die Rede. Das in dem ganzen Bilde herrschende Leben ist
ein ganz materielles und selbst dieses nicht bedeutend und kräftig. Maria ist
die einzige Figur, in der wenigstens etwas mehr angestrebt wurde, wenns
auch nicht gelungen ist (sie erweckt übrigens sehr entschiedene Reminiscenzen
sowie auch manche andere Figuren). Und nun in der Form, welcher Mangel
alles Großen, Ernster, Gewaltigen. Christus, welch schwächlicher, dünnarmiger
Leichnam! und Magdalena, wenn die nach Maria die Hände ausstreckende
weibliche Figur sie vorstellen soll, oder soll es die womöglich noch un¬
bedeutendere Blondine neben ihr sein? welch nichtssagendes Gesicht, ohne Be¬
deutung, ohne Schönheit und Reiz, der ihr zukommt. Wäre wenigstens
äußerlich Charakter in den Figuren, aber auch der sehlt, oben auf dem Kreuz,
der weißbärtige greise Petrus hat einen jugendlichen runden Körper, wie ein
zwanzigjähriger Jüngling. Man sieht deutlich, der Kopf und der Körper
sind einem andern Modell entnommen, wie man denn durch das ganze Bild
deutlich die Studien durchsieht. DaS ganze kolossale Bild macht den Eindruck
einer großen Studie. DaS einzige Verdienst ist eine im ganzen correcte Zeich¬
nung und recht gewandte Technik, die aber nicht gleichmäßig genug ist.
Das Colorit ist unbedeutend, ohne Kraft und Leben. Das ganze Bild ist
trotz der Größe sehr unbedeutend. Herr Vegas scheint für dieses Fach der
Malerei gar keinen Beruf zu haben.
W. Sohn (ein Neffe, wenn ich nicht irre, des Prof. Sohn in Düssel¬
dorf) zeigt in seinem Bilde „Christus und die Jünger auf dem Meere"
ein entschiedenes Streben nach Stil in Form und Farbe, bas, wenn wir auch
nicht ganz befriedigt werden, doch angenehm berührt. Aber ein rechtes
inneres Interesse kann uns das Bild auch nicht einflößen, man sieht überall
doch nur die Absicht, die der Künstler mit jeder Figur hatte, ohne daß sie zur
plastisch lebendigen Wirklichkeit geworden wäre, man steht jede Figur ihre
Stellung machen und ihren Ausdruck annehmen, den Zug gewaltiger Angst,
der alle Jünger durchfährt und sie endlich bewegt, ihren Meister, als von dem
allein Rettung zu erwarten ist, zu wecken, vermochte der Maler nicht auszu¬
drücken. Dennoch möchten wir namentlich wegen des gediegenen Strebens
dieses Bild den übrigen dieser Gattung vorziehen.
Noch viel weniger ist es Pietrowski in seiner „Geburt Christi" ge¬
lungen, irgendetwas von innerer wirklicher Empfindung auszudrücken; Form
und Farbe sind unbedeutend; Maria sieht wie ein elegantes Edelfräulein aus,
die in üblicher Weise gen Himmel blickt.
Ein „Koog domo" von Mengelberg ist zu weichlich aufgefaßt, dürf¬
tig und ohne Stil in der Form, aber gut, wenn auch nicht kräftig genug
gemalt.
Ein Bild von Adolph Schmidts hat „das Scherflein der Wittwe"
zum Gegenstande. Hier haben wir wenigstens einen entschiedenen Ausdruck
und sehen, was der Künstler gewollt hat. Es ist geistiger Inhalt in dem
Bilde. Freilich ist die reiche jüdische Familie, namentlich der Mann, der
seine Geldbörse schließt, aus der er eben mir großer Demonstration dem Gottes¬
kasten gespendet, zu karrikirt und schmeckt zu sehr nach dem modernen jüdischen
Parvenu; auch die Priester an dem Gotteskasten haben einen zu modernen
Typus, wenn auch namentlich der vordere gut im Ausdruck ist. In die
Wittwe dagegen müßte ein viel bedeutenderer Ausdruck gelegt sein, sie
schreitet zu gleichgiltig vorbei, indem sie ihr Scherflein in den Kasten legt;
grade das, woraus es ankommt, und was freilich am schwersten auszudrücken
war, sieht man nicht genug, daß sie ihr schwer zu entbehrendes Scherflein mit
frommem Sinn und der wirklichen Empfindung des Gebens hineinlegt. So
scheint sie nicht viel verdienstlicher, als der reiche Mann, und der Gegensatz
verliert seine Spitze. Sonst ist grade diese Gruppe, die Wittwe mit dem
Kinde, äußerlich die ansprechendste, namentlich durch die bescheidene ernste
Farbe, auch durch geschickte Zeichnung. Das ganze Bild macht einen zu modernen
Eindruck. Die etwas kokette Farbe und Behandlung ist (selbst abgesehen von
dem Mangel der Auffassung) dem Ernst des Inhalts nicht angemessen. Schön-
heit und Stil sind bei dem Streben nach Charakteristischen und Pikanten
zu sehr vernachlässigt.
Ganz unbedeutend und lächerlich ist ein Bild von Prof. Schmidt in
London, „die Versuchung Christi". Der versuchende Satan sieht wie ein
moderner Theatermephisto aus, aber wie ein ungeschickter; von dem schwächlichen
nichtssagenden Christus ist weiter nichts zu sagen.
Das wären alle.Bilder biblischen Inhaltes. Ich kann mich kaum ent¬
schließen, Ihnen so weiter alles mehr oder weniger Mittelmäßige, was noch
da ist, zu nennen; es ist zu trostlos, die geringen Vorzüge und großen
Fehler einer Menge von Bildern zu besprechen. Noch will ich Ihnen also
allenfalls ein Bild von Kloeber, „die Crwcckung der Psyche" nennen,
das freilich auch gar nkcht den Ansprüchen nachkommt, die man an dergleichen
mythologische Gegenstände machen muß; als da sind: maßvoller aber ent¬
schiedener Ausdruck; edle Lineen, höchste Vollendung der Form, einfaches
Colorit. Von alledem ist wenig da, namentlich kein Ausdruck; das Beste
ist die Composition der Gruppe, die Form ist zu flau und charakterlos, die
Farbe zu schwer und manierirt.
Eine einfachere, dem Gegenstande angemessene Farbe ist in dem Bilde von
Steinfurth: „Aurora hebt den jugendlichen Tithonus zum Himmel
empor". Die Zeichnung ist in manchen Theilen der Figuren gut, in andern
etwas roh und unschön, aber wenigstens doch entschiedener, als in dem vor¬
erwähnten Bilde. Die Köpfe sind lange nicht schön genug. Das Bild ist
übrigens beim Hängen sehr schlecht behandelt, es ist nicht besser, aber auch
nicht schlechter als manche andere; es war also ungerecht, es in einem
dunkeln Winkel zu placiren. Ueberhaupt kann die Ungerechtigkeit, die beim
Hängen der Bilder ausgeübt wird, nicht oft genug gerügt werden. Gönnerschaft
entscheidet dabei zu viel. Der erste lange Sal ist bekanntlich der einzige,
der ein recht brauchbares Licht hat; und man geizt sehr mit dem Vergeben
der Plätze in diesem Sale, um sie für vie bessern Bilder offen zu halten.
Wie kommt nun dahin die Muse Urania vom Hrn. Prof. Lengerich,
die weit entfernt den leisesten Anspruch aus irgendein Verdienst zu haben an
kindisch lächerlicher Ungeschicktheit alles Maß deS Erlaubten und Unerlaubtem
überschreitet?
Doch wir wollen endlich zu Besserem kommen, daher übergehen wir das
langweilige Bild von Clara Oerike, „Johann Friedrich der Großmüthige, nach
der Schlacht bei Mühlberg gefangen, weigert sich, das von Granvelle ihm
vorgelegte kaiserliche Interim anzunehmen", mit Stillschweigen;- ebenso' Paul
und Virginie von Steinbrück, das wir ihm nicht zugetraut hätten; Faust und
Gretchen im Kerker von Prof. Vegas, das wir ebenfalls nicht so schlecht von
ihm erwartet hätten.
Wir wenden uns zu dem Schlachtbilde von Bleibtreu (dem interessan¬
testen dieser Gattung).
„Die Erstürmung des äußeren Grimmaer Thores von Leipzig
am 19. October -1813 durch das Königsberger Landwehrbataillon
unter Major Friccius." Das ist frisch und warm empfunden, die Land¬
wehrmänner arbeiten wacker an der Erweiterung der gemachten Bresche, Fric¬
cius fordert mit sprechender Handbewegung die Seinigen aus, ihm zu folgen;
es geht tüchtig und lebendig her. Dabei ist bei der Mannigfaltigkeit der
Motive die Composition in sich einig, zusammenhängend und klar. Einige Fi¬
guren sind leider nicht so plastisch lebendig in der Ausführung, als sie gedacht
sind; so der junge Landwehrmann links im Vordergrunde, der zum Sturm vor¬
läuft, aber mit gewaltiger Bewegung der Beine doch recht recht läuft, und leider
auch die Hauptfigur, Friccius, der ein Gewehr etwas gewaltsam und doch nicht
recht ausdrucksvoll mit der linken Hand ergriffen hat. Noch einiges ist über
die Anordnung und technische Ausführung zu sagen. Die Hauptmasse der
Angreifenden liegt in einem Wolkenschatten, nur auf wenige etwas weiter im
Hintergrunde zurückstehende sällt ein mattes Sonnenlicht; gegen die Absicht
ist nichts zu sagen, es gibt dem Bilde sogar etwas Pikantes, das hier ganz
am Platz ist; nur ist der Wolkenschatten in zu dunklem und schmuziggrauem
Ton durchgeführt; so kommt etwas zu Monotones ins Bild, die Gruppen
sondern sich nicht recht; und während wir sonst wol bei vielen Bildern den
Wunsch aussprechen möchten, daß das Einzelne dem Ganzen untergeordneter
wäre, möchten wir hier im Gegentheil wünschen, daß man das Einzelne in
der Masse sogleich entschiedener sähe. Sonst muß grade diese Einfachheit und
Anspruchslosigkeit im Aeußeren gerühmt werden, wenn sie auch hier zu weit
getrieben ist.
C. Steffeck, „die Quitzows treiben die Herden der Stadt Ber¬
lin fort". Der Gegenstand ist für einen Künstler, der mit Vorliebe Thiere
malt, außerordentlich glücklich gewählt, da er die Thiergruppen, auf die es doch
namentlich abgesehen war, durch einen historischen Vorgang geschickt verbindet
und dem Ganzen einen pikanten Reiz verleiht. Aber Herr Steffeck hat den
wohlerdachten Vorwurf seines Bildes nicht so gegeben, wie wirs wol wünschten.
Es geht zwar lebendig bei der Affaire her, auch ist der Vorgang sehr über¬
sichtlich; aber die eigentlichen Kunstrücksichten sind nicht beobachtet. Wir
sind mit Herrn Steffeck der Meinung, daß eine gewisse Derbheit hier ein
Haupterforderniß war, aber er ist doch bisweilen darin zu weit gegangen. Ein
Schwein ist einmal kein schönes Thier; es dursten schon einige Schweine sich
unter dem andren schöneren Vieh umhertreiben; daß aber grade eine Herde
Schweine vorn zum Bilde hinauslaufend dem Beschauer zuerst entgegentritt,
sieht fast so aus, als kokettirte.der Maler mit seinem derben Realismus, und
wollte einmal malen, was noch keiner gemalt hat. Ferner durfte wol eine
bedeutendere Gruppe im Vordergrunde das Hauptinteresse in Anspruch nehmen
statt der drei den Hirten verfolgenden Reiter, die als Nebenfiguren immer eine
sehr lebendige Gruppe abgegeben hätten, während nun der sehr häßliche, noch
dazu durch Zorn und Angst entstellte Hirte als zweiter Hauptgegenstand im
Vordergrund (der andre ist die Schweineherde) neben seiner Unschönheit nicht
bedeutend genug ist. Die Technik ist sehr gewandt, aber doch zu flüchtig;
es fehlt auch hier Herrn Steffeck an einem gediegenen künstlerischen Streben,
dessen Mangel bei noch so großer Lebendigkeit und Wahrheit auch sonst in dem
ganzen Bilde sich ausspricht.
In einen ähnlichen Fehler wie Steffeck verfiel Menzel in seinem Bilde
„Friedrich der Große-auf Reisen" (nach dem siebenjährigen Kriege), durch
das Streben dem Ausdruck einzig und allein zu genügen. Es ist wahr,
daß er diesen mit einer Prägnanz zur Anschauung bringt, die unter der Menge
von Richtigen, Bedeutungslosen höchst erquicklich ist; wir wissen gleich, worum
es sich handelt: Friedrich der Große, eben aus seinem Wagen gestiegen, wird
von den Dorfbewohnern, die aufs treffendste charakterisirt sind, empfangen; der
König selbst geht eilig huldvoll vorüber; die Bewegung der Arme und Hände,
in deren einer er die Tabaksdose, in der andern die Prise hält, gibt seiner
Haltung einen Anflug von Komischen, das stört. Hinter ihm sein Begleiter,
Herr von Lentulus, ist vortrefflich; vor allem aber möchte wol der geheime Kriegö-
und Finanzrath von Brenkeuhvs die gelungenste Figur sein, — Es handelt
sich darum, nach dem Kriege dem Lande wieder aufzuhelfen; zu dem Zweck
unternahm der König Reisen durchs Land, deren eine wir hier dargestellt
sehen; da war eS denn eben Herr von Brenkeuhvs, der dem Könige stets zur
Hand ging, und so sehen wir ihn hier bereits in voller Thätigkeit, mit sach¬
kundigem Eifer (der unübertrefflich ausgedrückt ist) Baupläne oder dergleichen
prüfend. Die specielle Betrachtung jedes Einzelnen, das noch dazu beiträgt, die
Situation zu veranschaulichen, würde uns zu weit führen; nur im allgemeinen
wiederholen wir: mit Ausnahme des Königs läßt der Ausdruck nirgends etwas
zu wünschen übrig. Eine andre Frage ist „In, welcher Form gab Herr
Menzel diesen Ausdruck?" Und da müssen wir entschieden aussprechen, daß
uns diese nicht genügen kann, sie ist zu derb und unschön. Das Charakteristische
ist überall zu stark betont; so sinven wir nirgends bei ihm auch nur einen an¬
nähernd schönen Menschen, selbst Frauen uno Kinder sind häßlich; dazu kommt
die Farbe, die zwar meist wahr und entschieden, doch alles Reizes entbehrt, den
wir doch wenigstens hier und da verlangen; der blvndköpfige, blauäugige Bauern¬
junge, der hinter seinem petitionirenben Vater steht, ist mit zu schmuzigen
grauen Tönen gemalt, um auch nur wahr, geschweige schön in der Farbe zu
sein; auch bei einigen andern Figuren ist das zwar nicht so auffallend, aber
doch auch der Fall. Menzels Bild auf der vorigen Ausstellung „Ein
Flötenconcert in Sanssouci" war (abgesehen von dem Anziehenderen des Gegen¬
standes), auch in dieser Hinsicht entschieden diesem vorzuziehen. Möchte
Herr Menzel doch nicht auf diesem Wege weitergehen, und sich vor Manieris¬
mus hüten. Etwas Manier wollen wir schon gern bei so bedeutenden und
originellen Leistungen, wie die Menzels sind, mitnehmen, aber es hat doch
alles sein Maß.
Schließlich erwähne ich in diesem Theile meines Berichts noch eines
großen-Cartons von Teschner, der sich erst seit kurzer Zeit auf der Ausstellung
befindet; es ist ein Carton zu einem Glasfenster für den Münster zu Aachen,
der die „Krönung Marias" zum Gegenstand hat; der Entwurf ist von
Cornelius. Der Carton ist fleißig und mit Liebe gezeichnet; auch ist der
äußerliche Typus der Corneliusschcn Physiognomien festgehalten; aber es fehlt
doch die Kraft und das Mark, welches Cornelius seinen Gestalten verleiht;
vor allem aber vermissen wir die ergreifende Allgewalt des Ausdrucks und
können so nicht recht warm werden. —
Die große Frage, die-gegenwärtig ganz Europa in Athem hält, hat die
Aufmerksamkeit des eigentlichen Publicums von den Ereignissen, die sich jenseits
des atlantischen Oceans vorbereiten, wenigstens theilweise abgelenkt, wenn
auch die Beziehungen Europas zu Amerika in ununterbrochener Continuität
fortdauern, ja durch die Fluth der Auswandrung in stetigem Wachsthum be¬
griffen sind. Je wichtiger die nordamerikanischen Freistaaten für die Zukunft
der Weltgeschichte sein müssen, um so leichtsinniger erscheint es uns, nach ober¬
flächlicher Kenntnißnahme den Europäern Vorurtheile für oder gegen dieselben
einzuflößen, Noch vor ganz kurzer Zeit Haben wir das Publicum davor
gewarnt, den Ansichten der meisten unsrer Zeitschriften, die aus Amerika gern
ein zweites Sodom machen möchten, voreiligen Glauben zu schenken. Daß in
den Freistaaten nicht alles so ist, wie es sein sollte, daß sich neben primitiver
Rohheit hin und wieder auch bereits die Depravation einer verwilderten Cultur
einstellt, läßt sich allerdings nicht ableugnen. Aber einmal glaubten wir sehr
vieles auf die unfertigen Zustände schreiben zu müssen, deren Folgen zugleich
mit der Ursache aufhören wurden, andrerseits schien uns das Uebel keineswegs
so ausgedehnt, wie man nach einzelnen Berichten schließen konnte. Das unge¬
heure Territorium der Vereinigten Staaten umfaßt sehr große Strecken, in
denen noch keine feste bürgerliche Ordnung herrscht. Der einzelne ist ganz
auf die Stärke seines Armes und auf seine Erfindsamkeit in kleinen Hilfs¬
mitteln angewiesen. Daß unter diesen Umständen der, Egoismus zu härteren
und ungeselligeren Formen führt, als wir es bei der Verweichlichung unsrer
Civilisation ertragen können, schien uns sehr natürlich und durchaus nicht ver-
hängnißvoll für die weitre Entwicklung Amerikas. Denn je härter das Metall
ist, desto besser läßt es sich schmieden.
Aber wir müssen offen gestehen, daß die kleine Schrift von Kapp unsre
Aussichten sehr verdüstert hat, daß dieser kleine historische, ganz objectiv gehaltne
Abriß mehr dazu beigetragen hat, uns gegen Amerika einzunehmen, als alle die
schrecklichen Schilderungen der amerikanischen Sklavenzustände von Dickens bis
zu Onkel Tom. Daß die Sklaverei eine schändliche, verabscheuungswürdige,
unmenschliche und unchristliche Einrichtung ist, daß sie nicht blos die Sklaven,
sondern auch die Sklavenbesitzer zu Bestien entwürdigt, daß sie also auf den
Fortgang der Geschichte unheilvoll und verderblich wirken muß, darüber ist
wol in Europa kein Mensch zweifelhaft, wenn sich nicht etwa unter den gott¬
seliger Aposteln der Legitimität so verwahrloste Geschöpfe finden sollten, auch
die Sklaverei als eine legitime Einrichtung Gottes zu prSconistren. Alle die
Beschönigungen, welche die Anwälte der Sklaverei versuchten, indem sie den
Zustand der europäischen Fabrikarbeiter und des übrigen Proletariats mit den
Zuständen der amerikanischen Sklaven verglichen, sind uns immer lächerlich
vorgekommen. Denn die factischen Verhältnisse unsres Proletariats mögen so
schlimm sein als sie wollen, und sie sind in der That sehr schlimm, sie enthalten
doch keine EntHeiligung des Rechts. Wenn große Scharen unsrer Mitmenschen
im Elend leben, oder gar vor Hunger sterben, so ist das sehr schrecklich, und
der Staat wie der einzelne hat die Pflicht, soviel er kann, für die Abhilfe
dieser Noth zu thun. Aber die Pflicht kann nicht über die Macht hinausgehen.
Der Mensch kann nicht überall die Rolle der Vorsehung spielen, sowenig wie
er jeder Feuersbrunst wehren kann, ein menschliches Leben zu vernichten, so¬
wenig kann er dem Mangel und dem Elend auf dieser Erde eine genügende
Abhilfe verschaffen. Das ist noch kein Grund die Hände in den Schoß zu
legen, und daß es bei uns sowol der Staat als die Gemeinde nicht blos als
einen Act guter Gesinnung, sondern als eine Pflicht betrachtet, der elementaren
Macht des Elends nach Kräften zu begegnen, das zeigen die Armensteuern. —
Aber etwas ganz Andres ist es, wenn der Staat, wenn die Gesellschaft gesetzlich
einen fluchwürdigen Zustand sanctioniren, wenn sie nicht nur nichts thun, um
dem Nebel zu steuern, sondern auch der Privatthätigkeit jeden Weg verschließen,
allmälig dem Uebel zu steuern.
Bisher konnten die Anwälte Amerikas sich immer darauf stützen, daß die
Sklaverei nicht von den Vereinigten Staaten ausgegangen, sondern ihnen als
ein Erbtheil von der alten Negierung hinterlassen sei; daß man sie also als
einen Naturproceß betrachten müsse, der durch allgemeine Phrasen nicht abzu¬
stellen, der nur durch allmälige Milderung des Verhältnisses, durch Einschrän¬
kung seiner Ausdehnung und durch rechtliche Normirung erträglicher zu machen
sei. Gegen solche Deductionen konnte man nichts einwenden, denn es ist
nicht gut, einen Teufel durch der Teufel obersten auszutreiben. So schlimm die
Sklaverei war, eine Emancipation in der Weise Hallis war unstreitig etwas
noch weit Schlimmeres.
Aber anders stellt sich die Sache nach dem vorliegenden Buch heraus.
Die Sklaverei ist seit Anfang des gegenwärtigen Jahrhunderts, was ihre
Ausdehnung über das Gebiet der Vereinigten Staaten betrifft, in fortwähren¬
dem, ungeheuer beschleunigtem Wachsthum begriffen, und die Gesetzgebung IM
seitdem alles gethan, um den Zustand der Sklaverei schlimmer, entwürdigender
und unauflöslicher zu Machen.
Das sind zwei Thatsachen, die uns mit Entsetzen erfüllen müssen und die
durch das vorliegende Buch bis zur Evidenz festgestellt sind. Ja nach beiden
Seiten hin wächst das Verderbnis) in geometrischer Progression; es hat zu
keiner Zeit so reißende Fortschritte gemacht, als grade in den letzten Jahren.
Die Sklavenbesitzer der südlichen Staaten, denen es früher nur daraus ankam,
die Eingriffe des Kongresses von ihren Grenzen abzuwehren, beherrschen jetzt
durch einen Theil der nördlichen Kaufleute, die ihnen die Baumwollenindustrie
zugeführt hat, den Congreß und den Senat, und haben bereits, namentlich in
Beziehung auf die Jagd auf entlaufene Sklaven, in den nördlichen Staaten
eine Reihe gesetzlicher Bestimmungen durchgesetzt, die den Norden ganz in ihre
Botmäßigkeit bringen und die alle Menschlichkeit mit Füßen treten.
Nur wenn der Norden sich noch einmal zusammenrafft, wozu aber jetzt
bei der Zersplitterung aller Parteien wenig Aussicht ist, kann dem Umsichgreifen
dieses Verderbens gewehrt werden.
Diese Eindrücke haben uns auch bei der Lectüre des zweiten Buchs befangen
gemacht. Der Versasser stellt uns zwar die Zustände von Missouri, um die
Deutschen zur Auswanderung in diese Gegend zu bestimmen, so erträglich als
möglich dar, und wir glauben auch gern, daß er nach bester Ueberzeugung und
bestem Wissen spricht, da er durchaus den Eindruck eines tüchtigen, ehrlichen
und gewissenhaften Mannes macht, aber vereinzelte befriedigende Zustände
beweisen ebensowenig, als vereinzelte Verderbnisse. Es kommt auf die Regel
an; und da Missouri ein Sklavenstaat ist, und der Deutsche, wenn er nicht
'ganz verwahrlost ist, die Sklaverei verabscheuen muß, so möge er sich wohl
vorsehen, in einen Staat auszuwandern, wo er nur durch Theilnahme an dem
Verbrechen der Sklaverei bestehen kann.
Ein Buch wie das erste der vorstehenden Reihe erweckt in uns eigen¬
thümliche Betrachtungen über den schnellen Stimmungswechsel der öffentlichen
Meinung. Wenn wir auch in der naturphilosophischen Literatur, die zu
Anfang des laufenden Jahrhunderts einen so entschiedenen Einfluß auf Wissen¬
schaft und Kunst ausübte, nicht übertrieben bewandert sind, so glauben wir
doch soviel behaupten zu können, daß in dem vorliegenden Buche viel mehr
wirklich naturwissenschaftlicher Inhalt zu finden ist und daß Phantasie und
Spekulation einen viel beschränkteren Raum darin einnehmen, als in irgend¬
einem von den Werken, die in der Blütezeit Schellings vom Publicum mit
so großer Begierde verschlungen wurden. Die ungeheuern Fortschritte der
Naturwissenschaft während der letzten Generation haben nicht nur den Reich¬
thum des Materials, über das man speculiren darf, ins Unendliche vermehrt,
sondern sie haben auch der Speculation in Form und Methode schärfere
Grenzen gesteckt. In jener unschuldigen Zeit der ersten Begeisterung ließ
man sich einfallen, was der liebe Gott schicken wollte; und wenn es
mit deichsonft bekannten.Wahrheiten nicht stimmen wollte, so hatte man doch
empfunden und speculirt und das war die Hauptsache. Wenn die Männer,
die sich aus hergebrachte Art mit der Wissenschaft beschäftigten, zu diesen neuen
Entdeckungen ein etwas verwundertes Gesicht machten, so konnte man sie leichr
widerlegen, indem man ihnen Mangel an Gemüthstiese, an speculativem Geist
und an poetischem Verständniß vorwarf. Solche Vorwürfe, die damals wirk¬
lich etwas sagen wollten, würden heute nur noch Lächeln erregen. Ja es
geht noch weiter: der Naturphilosoph könnte heute die überraschendsten Com¬
binationen aufstellen, Combinationen, die zu den wirklichen Naturgesetzen auf
das vortrefflichste stimmten, und die Wissenschaft würde doch unzufrieden sein,
da der Philosoph zu seinen Resultaten nicht aus demjenigen Wege gekommen
ist, den man jetzt als den allein giltigen zu begreifen gelernt hat.
Herr Hinrichs hat die neuern Entdeckungen in der Physik mit Ernst und
Gründlichkeit sich angeeignet und er hat sie in das Register der Hegelschen
Philosophie mit großer Geschicklichkeit zu verweben gewußt. Allein es 'geht
den heutigen Physikern nicht so wie ihren Vorgängern, denen die Speculation,
wie sehr sie dieselbe auch verabscheuten, dennoch als etwas Fremdes und Un¬
begreifliches imponirte. Sie haben sich vielmehr selbst aufs Speculiren gelegt
und dadurch über ihre Gegner einen großen Vortheil errungen. Denn so gut
oder so schlecht der einzelne Physiker auch speculiren möge, man fühlt doch
immer bei ihm heraus, daß seine Speculation aus dem Inhalt seiner Kenntnisse
und Studien unmittelbar hervorgeht, daß also in seinem Lehrgebäude, man
möge es annehmen oder nicht, eine innere Einheit herrscht, und das ist bei
den Philosophen nicht der Fall. Ein geschulter Philosoph, wie Herr Hin-"
richs, hat zuerst speculirt, sich zuerst theils nach Anleitung seines Meisters,
theils nach eignem Ermessen ein Speculatives System entworfen, bevor er den
empirischen realen Stoff, den ihm nur die wirkliche Naturwissenschaft bieten
konnte, in dasselbe ausnahm. So geschickt er nun auch diese Operation an¬
stellen mag, so wird man sich doch nie darüber täuschen können, daß diese
empirischen Thatsachen fremdartige Bestandtheile sind, die von dem Fluß der
Speculation hin- und hergeschaukelt werden, sich aber niemals Mit ihm ver¬
mischen, und da jetzt das Mißtrauen allgemein rege geworden ist, so wird
dieses Gefühl auch den wohlgemeintesten Absichten hemmend in den Weg
treten.
Was der Naturphilosophie zu Anfang dieses Jahrhunderts eine so große
Anerkennung verschaffte, war nicht blos der Umstand, daß sehr bald eine
Reihe wirklicher Naturforscher sich ihr anschloß, Steffens, Schubert, Oken,
Ennemoser u. f. w., sondern vorzugsweise die allgemeine Tendenz der Zeit.
Man war der fragmentarischen, gemeinempirischen Methode müde, und wollte
das Leben der Natur als ein Gesammtbild auffassen. Die Forderung, die
Faust an den Makrokosmos stellte, stellte das gesammte Publicum an die Natur-
wissenschaft. Goethes Studien über die Farbenlehre, über die Metamorphose
der Pflanzen und Thiere haben denselben Grund, und Alexander von Hum¬
boldt, dem man wahrlich nicht vorwerfen wird, sich in irgendeiner Weise des
leichtsinnigen Verfahrens der Naturphilosophen schuldig gemacht zu haben, ging
doch gleichfalls auf diese constructiver Entwürfe ein und stand mit Goethe,
Schelling und Steffens auch in Beziehung auf ihren gemeinsamen Gegenstand
im besten Vernehmen.
Wenn man also damals daraus ausging, lebensvolle Anschauungen und
kühne Gedankenverbindungen ineinanderzuflechten, so ist diese Verbindung
später der eigentlichen Naturwissenschaft zugute gekommen; sie ist nicht mehr
ideenlos, sie ist nicht mehr unkünstlerisch; sie zerlegt nicht mehr blos, sondern
sie construirt: und darum bleibt der specifischen Philosophie kein rechter Spiel¬
raum mehr.
Freilich sind nun die Resultate der naturwissenschaftlichen Speculation auch
nicht von der Art, daß sie die gewöhnlichen mit dem Gemüth zusammenhän¬
genden Vorstellungen befriedigen; man kann es nicht leugnen, die Natur¬
wissenschaft ist wesentlich,atomistisch geworden, und wenn einzelne unter den
Gelehrten der entgegengesetzten Ansicht Concession machen, so merkt man doch
sehr bald heraus, daß dies nicht geschieht weil, sondern obgleich sie Natur¬
forscher sind. In der zuletzt genanten Schrift stellt nun Herr Rudolph Wagner
an seine College» die bestimmte Frage: sich über diese bestimmte Richtung der
Naturwissenschaft näher zu erklären. Mehr als diese Frage ist in seiner Rebe
eigentlich nicht enthalten, denn die Winke, die er zur Beantwortung derselben
gibt, könnten nur durch eine nähere Ausführung gerechtfertigt werden.")
Einen sehr unglücklichen Versuch, die beliebten Vorstellungen des Volks¬
glaubens mit den Principien des gesunden Menschenverstandes in Einklang zu
bringen, hat Herr Mayo gemacht. Er stellt die verschiedenen Formen des
Aberglaubens bei allen möglichen Völkern zusammen und sucht dieselben wenig¬
stens theilweise durch neuentdeckte physikalische Kräfte zu rechtfertigen, unter
denen namentlich das berühmte Ob eine große Rolle spielt. Das Buch ist
für Tischrückcr, Geisterklvpfer und ihresgleichen geschrieben. .
Die anderen Schriften gehen darauf aus, bekannte Thatsachen der Natur¬
wissenschaft dem Volk zu vermitteln, theils zur praktischen Anwendung, theils
zur Bereicherung des Gemüthes und der Phantasie. Am meisten scheint uns
das bei Herrn Körner gelungen, der ein sehr lebendiges Gemälde von dem
Gesammtgebiet der Natur, so weit sie den Zwecken der Menschen unterthänig
gemacht wird, entworfen hat.
— So große Achtung wir vor der britischen Erbweisheit
empfinden, und so entschieden wir in der gegenwärtigen Frage mit der britischen
Politik im allgemeinen übereinstimmen, so finden wir doch, daß auch den erblichen
Staatsmännern zuweilen ebensolche Menschlichkeiten begegnen, wie den Vertretern
eines Parvcnnstaates. Zu solchen Menschlichkeiten rechnen wir die' Note, welche
Lord Clarendon an den Gesandten in Dresden gerichtet, hat. Die Antwort des
Herrn von Beust — sowenig wir im übrigen die Politik vou Bregenz für zweck¬
mäßig halten können — ist zugleich würdig und schlagend. Der englische Lord hat
in der Form unrecht; denn wenn auch die Lage der einzelnen deutschen Staaten
nicht von der Art ist, ihnen in der großen Politik volle Souveränetät zu ver¬
statten, so unterliegt es doch keinem Zweifel, daß England in dieser Beziehung
nicht das geringste mitzureden hat, und daß jeder Versuch der Art als eine unstatt¬
hafte Anmaßung zurückgewiesen werden aufi. Er Hai aber auch an der Sache un¬
recht, weil er sich an die falsche Adresse gewandt hat. Nicht in dem Verhalten der
deutschen Mittelstaaten liegt der Grund der Unschlüssigkeit Deutschlands, sondern in
der unklaren Haltung Preußens; denn die erstere würde nicht stattgefunden haben,
wenn Oestreich und Preußen ihren Verbündeten in 5>en schicklichen Formen einen
klaren, bestimmten, einigen Willen ausgedruckt hätten. Nicht Sachsen hat in den
Nevolntionsjahren von Rußland gelitten, sondern Preußen. In dem berühmten
Tage von Warschau war es nicht Herr von Beust, dem die russische Ueberlegenheit
auf eine empfindliche Weise fühlbar gemacht wurde, sondern Graf Brandenburg.
Nicht Herr von Beust ist infolge der russischen Haltung nach Ollmütz gereift, son¬
dern Baron von Manteuffel. Sachsen hat, als Staat für sich betrachtet, nicht die
geringste Veranlassung, mit Rußlands Politik der letzten Jahre unzufrieden zu sein,
sondern Preußen. Indeß auch diese retrospcctive Unzufriedenheit würde nicht den
Ausschlag geben dürfen, wenn nicht die Natur des preußischen Staats von der Art
wäre, daß der Gegensatz gegen Rußland solange hervortreten wird, als Preußen
sich nicht selbst ausgibt. Sachsen, Baiern., Würtemberg, als isolirte Staaten be¬
trachtet, abgesehen von ihrer Stellung zu Deutschland, haben kein Interesse weder
für noch gegen Rußland; sie haben nur Interesse an der Fortdauer dös Friedens,
und es ist ihnen nickt im geringsten zu verdenken, daß sie dieses Interesse geltend-
machen — vorausgesetzt, daß sie patriotisch genug denken, ihr specielles Interesse
dem allgemeinen unterzuordnen, wenn dieses — dnrch'die feste Einigung Oestreichs
und Preußens — klar und entschieden hervortritt. — Der Staat Friedrichs des
Großen hat dagegen eine andre Bedeutung. Als Herwegh die bekannten Worte sprach:
'''
^.ol»'!!>'i't«!Ä sol'i?5 Q'/l'4!>'rl
Sieh, w:e die Jugend sich verzehrt
"In Gluten eines Meleager!
O drück in ihre Hand el» Schwert,
Fuhr aus den Städten sie ins Lager!
so klang das zwar äußerst studentisch und unreif, aber es lag doch ein Funke
Wahrheit darin. Es ist nicht grade die Rauflust der preußischen Jugend, welche
diese Sehnsucht hervorruft, sondern die Lage des preußischen Staats, der keine Be-
rcchtigung hat, überhaupt zu existiren, wenn er sich darauf resignirt, so zu bleiben,
wie er ist. Die deutschen Mittelstaatcn drücken mehr oder minder eine provincielle
Einheit aus, sie haben keinen Grund, eine Veränderung ihrer Lage zu wünschen.
Anders Preußen. Wenn der sächsische Staatsmann sich sür Schleswig-Holstein, für
die Freiheit der Donau u. s. w. interessirt, so thut er das nicht in specifisch säch¬
sischem Sinn, sondern im deutschen; bei Preußen sällt aber beides zusammen, und
darum sollten sich die Aufforderungen der Engländer nicht an Sachsen, sondern an
Preußen richten.
Wir wollen offen aussprechen, daß die Popularität der preußischen Regierung
weit mehr von ihrem Eingehen auf diese nationalen Jnstincte abhängt, als von
ihrem Liberalismus. Es gibt allerdings eine Kleinlichkeit des Drucks, die mehr ver¬
stimmt als der consequentcste Absolutismus; aber einer Regierung, welche kräftig die
Ehre des Volks vertritt, die jeder einzelne mit Stolz und Selbstgefühl die seinige
nennen kann, verzeiht man vieles. — Man sehe auf Louis Napoleon; daß er den
Brief von Barbös im Moniteur veröffentlicht, ist ein Zeichen seiner Klugheit, aber
auch ein Zeichen, wie sicher er den Jnstinct seines Volkes auffaßt. Was man über¬
haupt gegen den Mann auf dem Herzen hat -— und bei Gott! in der Halbheit
unsrer Zeit wollen wir es bei Barbss nicht gering anschlagen, daß er es offen aus-
spricht,"wie komisch es auch aussieht — was man auch gegen ihn hat, sein Geist
ist nicht von kleinem Zuschnitt. Die Art, wie er zum Thron kam, bei Seite gesetzt
— daß er jetzt in Frankreich regiert, ist sür die allgemeine europäische Sache gewiß
besser als der Orleanismus, die Legitimität oder die Republik.
Dem preußischen Ministerium ist der Entschluß, heroisch zu sein, dadurch sehr
erleichtert, daß die Chancen einer Wahl mehr und mehr schwinden. Im Jahre 1830
gab die preußische Nation in ihrer Mobilisirung einen glorreichen Anblick, es war
nicht ihre Schuld, daß der Ausgang den Erwartungen nicht entsprach. Dauert der
Krieg über den Winter fort — und es ist wol nicht daran zu zweifeln — so wird
Preußen doch wol wieder mobilisiren müssen, und dabei wird es doch nicht ganz
unwesentlich sein, für wen man mobilifirt. Das preußische' Kriegsheer ist ja das
Volk selbst.
Wie kann man nun anstehen, einen Entschluß zu fassen, wo der Entschluß so
leicht ist! Von augenblicklichen Mobilisiren ist ja keine Rede, ein continentaler
Winterfeldzug liegt außer aller Frage. Aber warum geht man nicht offen mit
Oestreich? Warum die Männer der Kreuzzeitung dagegen sind, ist sehr klar, denn
ihnen ist Neutralität die Brücke zum russischen Bündniß; aber was denkt sich die
herrschende conservative Parket dabei? Ein offleiöser Korrespondent der Düsseldorfer
Zeitung meint, Oestreichs Note sei ein Schrei der Verzweiflung. Deutschland müsse
jetzt Preußen zufallen und eine imposante Neutralität gegen Oestreich, Frankreich
und England aufrechthalten! Sollte man wirklich in der Geographie soweit zurück
sein, daß man den Marsch der Franzosen nach Scbastopol sür einfacher hält als
den Marsch über den Rhein? Dann wird man den Franzosen tapfer widerstehen,
wir glauben das wohl, aber was hat mau dann erreicht? — Man hat die Ent¬
scheidung der Frage, für und gegen wen man kämpfen soll, dem blin¬
den Zufall übertragen!
Und dabei ist die Lage Preußens noch immer so günstig, daß es doch der
Mittelpunkt der deutschen Entwicklung bleibt. Mit der äußern Politik ist man all¬
gemein unzufrieden, das Land selbst ist aber im stetigen Aufblühen, trotz aller Tra-
cassericu. Dabei hat noch eben die Negierung durch endliche Feststellung der ersten
Kammer gezeigt — es war freilich die höchste Zeit! — daß sie auf die Verfassung
ernsthaft eingehen will. Das Hereinziehen der Aristokratie in die Verfassung ist
ein Schritt von großer Tragweite, und was man an den einzelnen Bestimmungen
aussetzen möge, im Großen und Ganzen ist die Anordnung dem Zweck entsprechend,
schon darum, weil der sogenannte Herrenstand, der bisher im ganzen sehr wenig
preußisch war, für Preußen gewonnen wird, und dann, weil dadurch zugleich die
Idee eines deutschen Oberhauses gegeben wird, wie es sich im Laus der Zeiten ge¬
stalten kann. Möchte das erste Einberufen dieser Kammer zugleich durch eine ernste
nationale Botschaft, durch eine Erklärung seitens der Krone eröffnet werden, daß
Preußen noch immer ein geschichtlicher Staat ist, noch immer das Schwert von
Zorndvrs in den Händen trägt. —
— Wir erwarten mit Ungeduld neue Nachrichten
ans der Krim. Unsre Ehre ist gleichsam bei dieser Kriegsthat engagirt. Denn
von hier aus wurde der Sieg in jener famosen Depesche anticipirt und ganz Europa
in unzeitigen Jubel versetzt. Wir haben uns somit für den Erfolg moralisch ver¬
antwortlich gemacht. Und Alt und Jung, Diplomat und Zeitnugscolpvrteur, Stabs¬
offizier und Gevatter Schneider, alles studirt mit gleichem Eiser den „Kriegsschau¬
platz", ergeht sich in strategischen Discnrsen, die neuen Karten von Handtke und
Petermann, aus welchen beinah die Tschakos der Russen zu sehen und die Schnaps-
mänler der Kosaken.zu riechen sind, wandern von Hand zu Hand, an den Schau¬
fenstern unsrer Kunsthändler müssen die friedlichen Bilder vom Comersee, von Nizza
und Elbflvrcnz, den Vogelperspektiven von Kronstäbe und Sebaftopol weichen,
man zählt jede Kanone der schrecklichen Verschanzungen, man beobachtet jedes Linien¬
schiff unter russischer Flagge, daß es uicht aus dem innersten Hasen herausschlüpft,
man sieht Menschikoff im Paletot das Fort Constantin in die Lust sprengen, man
kämpft und blutet an der Seite der tapfern Zuaven und Riflcs an der Alma, an
der Katscha und an der Balbeck, ganze Batterien fliegen in die Höhe, Kosakenbärte,
Bomben, lange Rockschöße, Raketen und Federbüsche russischer Generale bedecken
den Horizont, Pulverdampf und Staubwolken benehmen uns fast den Athem
und dabei pocht das bürgerliche Herz so stürmisch und doch so seelenvergnügt und
nimmt so innigen Antheil an der orientalischen Frage und an den Siegen der ver¬
bündeten Armeen! — Unser Volk ist wirklich ganz politisch geworden. So oft
eine ftendige Nachricht vom großen Blutvergießen im Osten hier eintrifft, fließt
auch bei uns — der Champagner in Strömen. Das „Lagerbier" wird beliebter
denn je. Noch vor einem Jahre wollte man die Ruhe, heute will man den Kampf
um jeden Preis. So verwickelt anch die Verhältnisse an der Donau und am
schwarzen Meere sind und soviel Kopfzerbrechen sie selbst den eingeweihten Diplo¬
maten machen, so besteht doch in allen Kreisen unsrer Bevölkerung eine sehr ein¬
fache, naive Anschauung der Streitfragen, die auf ein entschiedenes Zerhauen des
Knotens mit dem Schwert hinausläuft. Diese Anschauung ist aber auf ein festes
Vertrauen auf die Machtentfaltung und die neugeborne Kraft Oestreichs gestützt und
es kann nicht bezweifelt werden, daß zu keiner Zeit, bezüglich einer wichtigen Tages¬
frage,, eine größere Uebereinstimmung zwischen Regierung und Regierten in unsrem
Lande stattgefunden hat, als eben jetzt. Die Haltung unsres Cabinets während
des ganzen Verlaufs der neuen Krisis hat dnrch männliche Offenheit die Herzen
der Oestreicher gewonnen und patriotische Erscheinungen an den Tag gebracht,
welche — man muß es offen gestehen — noch vor einem Jahre als unmöglich be¬
zeichnet worden wären. Ein Gefühl, weiches bisher dem Oestreicher fremd war, und
dessen Mangel sehr viel zu den Wirrnissen des Jahres 1848 beigetragen hatte,
das Gefühl der Nationaleinheit, die Selbstachtung ist nnn rege geworden und mit
ihnen auch die ganze Spannkraft, welche unter dem alten Regime gelähmt war,
und den Staat an sich selbst verzweifeln gemacht hatte. Es ist ein gewaltiger Unter¬
schied und ein entscheidendes Symptom für den Gesundheitszustand eines Staates,
ob die Bewohner desselben sagen: „Wir rücken nun in die Fürstentümer ein, oder
wir werden endlich den Krieg beginnen müssen, oder ob es, wie einstens, heißt:
Es werden soundsoviele Bataillone vom Regiment soundso nnter den Befehl des
u. f. f. einmarschiren. — Rußland, als es den Fehdehandschuh hinwarf, hatte auch
dies, wie so vieles andere, übersehen. .
Sie werden sich noch der Zeit erinnern, wo ein Oestreicher im Auslande,
wozu auch Deutschland gehörte, nnr mit Sehen und selbst nicht ohne Scham-
röthe, sich zu seiner Heimat bekennen konnte. Oestreich galt vor -1848 nur als
vorgeschobener Posten Rußlands und war geringer geachtet als das Zarenreich
selbst, da in diesem ein mächtiger Wille alle Untcrthanenseelen zu einem Glauben,
einer Nationalidee, einem scstgegliederten Werkzeug des Absolutismus zusammen¬
hielt, während die kraftlose, zerfahrene Politik der vormärzlichen Staatsmänner das
östreichische Reich der innern Auflösung zuführte und nach außenhin nnr mit
Mühe den Charakter einer Großmacht behauptete.
Heute haben sich die Verhältnisse geändert. Oestreich hat die Rolle des geisti¬
gen und materiellen Führers aus dem Labyrinth der südöstlichen Verwicklungen an
sich gebracht, ein wol berechtigter Stolz, das Gefühl wirklich vorhandener Kraft
^beseelt heute nicht nur das Cabinet, welches den großen diplomatischen Sieg in
den Dvnausürsteuthümern errungen"hat, sondern jeden Patrioten in Oestreich und
man kaun gewiß sein, daß in dieser Frage jeder Oestreicher mit Herz und Hand
Patriot und als solcher zu jedem Opfer bereit ist.
Es scheint nothwendig, einmal an einem unparteiischen Orte aus diese wesent¬
lich influirende, factisch bestehende Stimmung in unsren Landen hinzuweisen, damit
die blöde Anklage in gewissen russeusreundlichen Kreisen und Zeitungen endlich ver-
- stumme,, daß die ganze unsriedsertige Stellung Oestreichs nur in dem Ehrgeiz ein¬
zelner Staatsmänner ihren Grund und nur in der insgesammt von der Regierung
inspirirter Presse ihren Ausdruck habe. — —> '
Ich gehe zu einem andern Thema über. —
Das Burgtheater, bildet noch immer den Mittelpunkt unsrer künstlerischen In¬
teressen. In dem großen Wettkampf der Münchner Gcsammtgastspiele hat sich auch
der Ruf dieses Institutes glänzend bewährt. Wenn überall in Deutschland bedeu¬
tende Talente sporadisch die Bühnen beleben, so ist es das Ensemble der Darstellun¬
gen, die harmonische Fülle von geistigen Kräften, wodurch unsre Hofbühne zur
Musterschule sich erhoben hat. Leider werden viele unsrer bisherigen Koryphäen
altersschwach und so wird manches Glied der schönen Kette durch den Rost der
Zeit unbrauchbar. Herr Laube, der Intendant, hat darum jetzt eine um so schwie¬
rigere Aufgabe, weil die frühere Intendanz nicht sür die Herbeischaffung eines frischen
Nachwuchses bedacht und das Publicum selbst gewissermaßen mit den alten Lieblingen
der Hosbühne gealtert war. Nun sollen plötzlich manche Lücken gefüllt, andern, deren
Entstehen nahe ist, vorgebeugt werden. Eine Schar von neucngagirtcn Mit¬
gliedern tummelt sich etwas ungebührlich in dem Heiligthum des alten Musentempcls
umher, das Publicum läßt sich schwer von der Tradition der alten Schule abbringen,
mit der es aufgewachsen, es ist verstimmt und ungeduldig; was hinter der Scene
vorgeht, die Eifersüchteleien zwischen den Alten und Jungen, und was dergleichen
mehr, mag auch nicht zu den Annehmlichkeiten des Intendanten gehören. Es ist
Laube gelungen, eine Reihe von Shakespearestücken, welche bisher dem Repertoir
fehlten, bühnengerecht aufführen zu lassen. In letzter Woche wurde uns nun auch
der „Sommernachtstraum" vorgeführt und zwar fast durchgehends mit den jüngern
Kräften der Bühne besetzt, worunter ich Ihnen nur den Hamburger Antheil, näm¬
lich die Damen Würzburg und Bossler, und Herrn Landvogt nenne. Laube hatte
wahrscheinlich die Intention, den poetischen Reiz der dramatischen Dichtung auch
äußerlich durch jugendliche Persönlichkeiten, durch die Frische und Wärme der sinn¬
lichen Erscheinung aus die Bühne zu bannen. Vielleicht war auch die kleine
Dircctionscitelkeit dabei im Spiel, einmal die ganze Truppe neuengagirter Mit¬
glieder vor dem verwöhnten Publicum Parade machen zu lassen. Das Spiel der
jungen Personen war überdies durch alle Mittel der modernen Scenerie und Ma¬
schinerie, durch Elfen und Ballctcorps und durch Mendelssohn (schlecht exccutirte)
Musik hinreichend unterstützt: eine Ueberfülle äußerer Mittel, welche die zarte Poesie
des Stücks halb erstickte.
Die Handwerksscene z. B. und die Priamuskomvdie, welche grade durch die
einfachste Scenerie die höchste Wirkung hervorbringen müssen, gaben im Zusammen-
spiel mit dem Flitterwerk und bunten Durcheinander den romantischen Scenen den
vollständigen Eindruck der Zauberposse, wie sie in den letzten Jahren an unsren
Vorstadtbühnen gäng und gebe war.
Verführt von der großen Entwicklung der heutigen technischen Mittel und von
der Effecthaschcrei der modernen dramatischen Schule sucht man die Phantasie und
den Geist des Publicums jeder Anstrengung dadurch zu entheben, daß man ihm
alles mögliche greifbar vorznzaubern versucht. Man bringt allerdings eine gewisse
Behaglichkeit des gemeinen Verstandes, der jede Arbeit scheut, hervor, und das
bürgerliche Gemüth wird von einer Reihe von verschiedenen Stimmungen hinläng¬
lich bequem durchfahren, ^ daß es sich am Ende durch eine sanfte Durchschüttlung
derjenigen Eingeweide, in welchen nach dem Sprachgebrauch die verschiedenen Seelen-
zustände ihren Sitz haben, sür den Entreeprcis der Vorstellung vollkommen ent¬
schädigt hält. Es ist unmöglich, selbst mit den größten äußerlichen Mitteln, der
Phantasie des Zuschauers zu ersetze», was sie nicht dnrch eigne Spannkraft errei¬
chen kann und den Sinn und Geist einer Dichtung durch die Randbemerkungen
des Ballet- und Maschinenmeisters dem geistigen Auge der hohen Galerien zu enthüllen.
Der Ruin der Schauspielkunst hängt wesentlich mit dem Ucberwnchern der außer-
liehen Kunststücke zusammen. Die Einfachheit und Selbstständigkeit der Darstellung
wird dem Künstler unnütz, zum Theil sogar hinderlich, wo alles um ihn herum
darauf angelegt ist, Auge nud Ohr des Zuschauers von der eigentlichen Action ab¬
zuziehen. Um so erfreulicher, ist es, wenn jetzt einzelne Individualitäten in der
Bühnenwelt auftauchen, welche ihren eignen originellen Weg mit wahrer Begeiste¬
rung und mit siegender Kraft einschlagen. Eine solche war uns Davisvn, der jetzt
in Dresden spielt. Und eine solche ist auch ein neues Mitglied unsrer Hvfbühne,
welches bereits in München mitten unter den alten routiuirtcu Mienen Deutschlands die
allgemeine Bewunderung erregte. Wir meinen Fräulein Louise Seebach, früher
in Hamburg, eine so merkwürdige Erscheinung in den dramatischen Annalen, daß
sie wol bald alle sogenannten ersten Heldinnen unsrer deutschen Theater verdunkeln
wird. Sie hat den Vorzug, daß sie nicht durch eine ausgezeichnete äußere
Persönlichkeit von vornherein das Urtheil besticht, sondern einzig und allein durch
das durchgeistigte lebenswarme Spiel. Es ist eine keusche, fast unbewußte Künstler¬
natur, die unter der Masse von vielgerühmten Heldinnen und Liebhaberinnen, womit
Deutschland gesegnet ist, herauszufinden und unsrer Hofbühne zuzubringen, kein
geringes Verdienst Laubes ist. —
Nachtrag der Redaction. — Auch Gervinus tadelt sehr lebhast die von Tieck
geleitete Berliner Aufführung des Sommernachtstraums, die das Borbild der Wiener
gewesen zu sein scheint. Aber wie sollen denn eigentlich die Elfen dargestellt werden?
Etwas Lustiges, Phantastisches, Kindliches müssen sie doch haben, also wenn man
auch das Pariser Balletcostum verwirft, etwas Aehnliches muß doch erfunden werden.
Den Shakespeareschen Oberon als Stück von einem Mann darstellen zu lassen,
scheint uns völlig vergriffen zu sein. — Der Sommernachtstraum ist eine theatra¬
lische Caprice, die sich nach den Theaterconvenienzen jeder Zeit richten muß; sür
unsre Zeit scheinen Tieck und Mendelssohn ungefähr das Nichtige getroffen zu haben.
Der komische Eindrnck der drei Gruppen von verschiedener Färbung (Hofleute,
Elfen, Rüpel) macht sich von selbst; die schwierigste Ausgabe ist die der beiden
Liebespaare, die einen stark lächerlichen Eindrnck machen sollen, ohne doch ins Ge¬
meine zu fallen. Wenn Heraia und Lysqnder gut gegeben werden, die andern
Rollen spielen sich von selbst. —
— Lord Aberdeen ist gewiß ein rechtschaf¬
fener Manu, der es mit England ehrlich meint, aber daß ihn der Zufall eben jetzt
Premierminister sein läßt, ist kein Glück fürs Land. Der britische Löwe hat Blut
geleckt; im Herzen des ganzen Volkes drängen sich Gefühle des gerechten Stolzes
'über die Tapferkeit seines Heeres, bittere Wehmuth über die Gefallenen und Ver¬
wundete«, sanguinische Hoffnungen aus eine rasche, glorreiche Beendigung des dies¬
jährigen Feldzuges, Stolz, Haß und Vaterlandsliebe. Es bedarf nicht erst eines
Pitt, um die Leidenschaften zu entflammen, aber überflüssig wahrlich ist ein Aber-
deen, um politische Kaltwasserprincipien zum Besten zu geben, wo es sich noch um
einen Kampf aus Tod und Leben handelt. Wie war doch seine Rede, die er vor
wenigen Tagen in Aberdeen hielt, so eisig! Keine Spur von Begeisterung. Von
Anfang bis zu Eude Entschuldigungen, daß die Regierung sich endlich zum Kriege
gegen Rußland entschlossen hat. Als hätte ein einziger Mensch im ganzen Lande
dem Ministerium je vorgeworfen, daß es leichtsinnig, ohne genügende Gründe, dem
Russen die lange verdiente Kriegserklärung ins Hans geschickt hat! Gedrängt hat
das Volk zum Kriege, gebeten hat es darum in hundert Petitionen, gebeten um
einen ernsten, energischen, entscheidenden Kampf. Und nachdem die erste große
Schlacht geschlagen ist, in der 3000 Engländer waffeuunfähig gemacht wurden, tritt
der Premier mit den oftgehörtcn Phrasen auf, daß er ein verzweifelter Politiker
des Friedens sei, daß er zum Krieg gerathen habe, weil er nicht anders konnte,
daß er dann auf eine energische Kriegführung bestanden habe, aber auch jetzt noch
an einen „dauernden und ehrenvollen" Frieden denke. Was bedeuten diese letzten
Worte? Hätte sie ein Kannegießer beim Glas Bier oder ein Quäker in einem
Meeting gebraucht — nichts. Im Munde des Premiers — noch weniger als
nichts, Civilisirte Staaten zerfleischen sich einander nicht ans bloßer Rauflust. Wenn
sie sich zum Kriege entschließen, denkt jede der kämpfenden Parteien an die Erkäm¬
pfung eines „dauernden und ehrenvollen" Friedens. Um solche Weisheit zu ver¬
kündigen, braucht man nicht Haupt des englischen Cabinets zu sein. Lord Aber-
deen gebrauchte dieselben Worte im April dieses Jahres. Er muß sich dabei doch
einige gewisse Bedingungen denken, unter welchen dieser Friede zu Staude kommen
kann und soll. Thäte ers nicht, so fehlte seiner jetzigen Kriegspolitik ja die praktisch
erreichbare Spitze. Nun braucht er aber heute noch genau dieselben Worte, wie
unmittelbar vor und nach der Kriegserklärung. Daraus läßt sich schließen, daß
die Friedensbedingungen, die er sich damals ausgedacht — die zwischen Wien und
Berlin zu Tod gehetzten vier Punkte — noch heute die einzigen sind, an denen er
festhält. Das ist ein schlimmes Omen. Nicht für England, auch nicht für die
gute Sache, denn eine glückliche Schlacht, ein glorreicher Feldzug werfen die vier
Aberdeenschen Punkte so sicher über den Häuser, wie sie die östreichische Neutra¬
lität zusammenwerfen werden. Aber Verzögerungen entstehen durch den Starrsinn
des edlen Lords, die zu bedauern sind, weil sie den Krieg unnöthigerweise in die
Länge ziehen, wie es bisher geschehen ist. Der Hetzereien im Parlamente, der
Widersprüche im Conseil wird kein Ende sein, und Lord Aberdeen besitzt die Tu¬
gend/ sich Monate lang drängen zu lassen, um endlich nachzugeben und seinem
Posten doch nicht zu entsagen. Viele behaupten, er werde, wenn der Friede im
Winter nicht zu Stande kommt, vor Zusammentritt des Parlaments abdanken.
Bei seinem zähen Naturell und der Achtung, die er bei Hofe genießt, ist ein sol¬
cher Schritt von ihm kaum zu erwarten. Wir wiederholen es — der edle Lord
ist ein Ehrenmann, aber offenbar hat er sich in den Glauben hineingelebt, daß er
für das Wohl Englands unentbehrlich sei, daß unsre jungen Hitzköpfe, Rüssel,
Palmerston, Lansdowne und Genossen, den Krieg gegen Rußland aus bloßer Lei¬
denschaft bis in Ewigkeit fortführen würden.
Einstweilen wartet man hier mit einer fieberhaften Spannung, die man dem
verschrienen Phlegma des englischen Volkes kaum zutrauen sollte, auf den Fall
von Scbastopol. Fallen wird es, darüber ist hier jeder Spaziergänger in den
Parks mit sich im Reinen, und charakteristisch ist es, wie man sich nur mehr um
Nebensachen kümmert z. B. wie jammerschade es sei, daß die Flotte müßig werde
zusehen müssen, oder — ob man Mentschikoff todt oder lebendig oder gar nicht
kriegen werde, oder — ob man die versenkten russischen Linienschiffe nach dieser oder
jener Methode aus der Tiefe herausholen werde u, tgi. mehr. Aufrichtig bedauert
wird die ganze Mannschaft der Ostsecflotte, die viel Arbeit und wenig Ruhm hatte.
Schon um dieser braven Jungen halber sollte man von rechtswegen keinen schnellen
Friede» machen — so hört man naiv sagen — sie haben sich gar zu sehr auf
Schlachten, Avancements und Prisengelder gefreut. Für dieses Jahr siud sie um
ihre Hoffnungen betrogen. Der eine Trost wird ihnen und ihrem Admiral bleiben,
daß man uicht ihnen, sondern der Negierung die Schuld beimißt, weil diese nicht
frühzeitig genug leichtgcheude Kanonenboote in'die Ostsee schickte. Auch dem wird
im nächsten Frühjahr abgeholfen werden. Sechs solcher Boote sind fertig, sechs
andere im Bau begriffen, und überdies ist diese Woche von der Admiralität der
Befehl ertheilt worden, schwimmende Batterien zu bauen, die an Solidität und
Tragkraft alles in diesem Genre bisher Dagewesene überbieten sollen. Was britische
Hände, deutsches Eichenholz und englisches Eisen zusammen wird leisten können, das
wird sich an diesen Batterien zeigen, die eine bombenfeste Bekleidung aus 4- bis
8 Zoll dicken Eisenplatten erhalten, und im Frühjahr als Liebesboten gegen Kron¬
stäbe ausziehen sollen. Fällt Sebastopol, so wird anch der größte Theil der gegen¬
wärtig im schwarzen Meere befindlichen Flotte dann in die nordischen Gewässer
berufen werden, und ein Zcrstöruugskampf wird beginnen, wie ihn die Welt noch
nicht gesehen. Wird Dänemark, wird Schweden diesem Drucke widerstehen können?
Wird es Preußen im Stande sein? Schwer anzunehmen. Wenn das Eis der
Ostsee schmilzt, und Rußland wieder durch die große Meeresciubuchtung im Norden
mit dem übrigen Europa in' Verbindung tritt, dürfte es sich in Europa erst recht
vereinsamt scheu.
Morgen Abend wird die Königin hier zurückerwartet. Sie bleibt blos über
Sonntag in London und geht nach Windsor. Es heißt noch immer, sie werde dort
den Kaiser der Franzosen mit seiner „pretty Eugenie", wie mau die Kaiserin hier
vertraulich nennt, als Gäste empfangen. Das hiesige Publicum freut sich auf
diesen Besuch; denn seitdem es den Glauben an den großen Gentleman des Nordens
eingebüßt hat, ist ihm der Kaiscrparvenu auffallend sympathisch geworden. Wenn
Louis Napoleon klug ist. besucht er den alten Tabakladen bei Se. James, wo er
sonst seine Cigarre zu rauchen pflegte. Das würde ihn in den Augen John Bulls
unsterblich populär machen. — Nächste Woche kommen auch sämmtliche Minister vom
Lande herein. Wir bekommen eine kleine Wintersaison. Die Theater rücken all-
mälig mit Novitäten heraus. Eines derselbe» gibt seit vorgestern: „Faust und
Margarethe, Trauerspiel in fünf Aufzügen, aus dem Französischen übersetzt/' Nach¬
barin, Euer Fläschchen! —
Mit Ur. 4O beginnt diese Zeitschrift ein neues Quartal,
welches durch alle Buchhandlungen und Postämter zu be-
zi>chen^,ist,?i^ ^..-^ j^j WM!»-/.?' ' 7..^ ^..---.i,^'.„'.,->,>'„.
Leipzig, Ende September 185i. Die Verlagshandlung.
Es ist charakteristisch, daß die beiden Schriftsteller, welche Ungefähr für die
nämliche Periode der deutschen und französischen Literatur eine ungewöhnliche
Bedeutung in Anspruch nehmen dürfen, im gegenwärtigen Augenblick daraus
denken, das Publicum, welches sie bisher durch freie Schöpfungen erfreut, mit
ihren eignen Erinnerungen zu unterhalten. Man fühlt sich in der Stimmung,
von seinem Leben Rechenschaft zu geben, sobald man merkt, daß es mit der
eignen Production zur Neige geht; und das konnte man in der That schon
seit einiger Zeit bei beiden Schriftstellern finden. Wir geben zwar nicht die
Hoffnung auf, im einzelnen noch manche glückliche Leistung von ihnen zu er¬
leben, die uns an die alte Zeit erinnert, aber daß sie noch einmal bedeutend
in die Literatur eingreifen sollten, läßt sich nicht erwarten. Für eine bestimmte
Entwicklungsperiode der Cultur füllen sie einen ansehnlichen Platz aus, aber
diese Entwicklungsperiode ist jetzt vorüber, und man möge es uns nicht ver¬
argen, wenn wir „Gott sei Dank" dazu sagen.
Selbstbiographien sind unzweifelhaft für die Auffassung historischer Zustände
und auch für die Kenntniß des menschlichen Herzens höchst belehrend, wenn
sie mit Hingebung und Gewissenhaftigkeit geschrieben werden. Es läßt sich
aber nicht leugnen, daß für ein sein empfindendes Gemüth mit dieser Thätigkeit
immer etwas Unbequemes verknüpft ist; besonders wenn man dem Publicum
nicht bedeutende Erlebnisse mitzutheilen hat, wo man sich selbst gewissermaßen
über den Thatsachen vergessen kann, sondern nur die Geschichte des eignen
Herzens und der eignen Bildung, von denen ohnehin der Schriftsteller in sei¬
nen Werken dem Publicum das Beste vorgelegt haben muß. Diese Unbequem¬
lichkeit verdoppelt sich bei einer Frau, die gewiß Anstand nehmen wird, die
zartesten Geheimnisse ihrer innern Geschichte der Oeffentlichkeit preiszugeben,
während doch grade in dem, was sie aus Zartgefühl verschweigen muß, für
das Publicum das größte Interesse liegen würde.
George Sand verspricht in der Einleitung zu ihren Memoiren, ihre
Lebensgeschichte mit vollkommener Treue und Wahrheit zu schildern: auf der
andern Seite aber erklärt sie, die Freunde des Skandals würden an dieser
Lectüre kein Vergnügen finden, denn davon wolle sie nichts mittheilen. So
erklärt sie gleich zur Abwendung aller Mißverständnisse, daß sie keineswegs ge¬
sonnen sei, das Publicum mit ihrem Scheidungsproceß, der ihr eigentlich die
literarische Laufbahn eröffnet hat, zu unterhalten. Sie bemerkt nur, daß ihre
bisherigen- Biographen die Sache gar zu nachtheilig für ihren Mann dar¬
gestellt hätten, und daß Unvereinbarkeit der Charaktere der einzige Grund jener
Scheidung gewesen sei. Wir finden diese Discretion im höchsten Grade lobens¬
wert!) und haben es auch von George Sand nicht anders erwartet, da wir
trotz des bedenklichen Stoffs, den sie in der Regel behandelt, bei ihr stets eine
große Feinheit und Noblesse des Gemüths wahrgenommen haben. Aber wir
müssen offen gestehen, daß wir sehr neugierig darauf sind, was sie uns eigent¬
lich erzählen wird; denn auf ihre Verhältnisse zu samtenen, Chopin, Alfred de
Musset u. s. w. ausführlich einzugehen, wird sie wahrscheinlich ebenso Anstand
nehmen, wie in Beziehung auf das Verhältniß zu ihrem Mann. Wenn sie
uns aber blos die Geschichte ihrer Empfindungen mit völliger Abstraction von
dem Gegenstand geben will, so fürchten wir, daß daraus nur eine zweite Auflage
ihrer Romane hervorgehen wird; denn, bei ihrer außerordentlichen Fruchtbarkeit
hat sie wol für jedes Bildungsmomenl und für jede Seite der Empfindung, die
sie einmal mächtiger erregt hat, einen Platz in ihren Werken gesunden; und
dergleichen lieben wir doch immer mehr aus der ersten Hand.
Wie dem auch sei, das Buch ist wieder sehr schön geschrieben und für die
erste Zeit ihres Lebens, wo sie mehr Eindrücke als Erlebnisse zu berichten
hat, und wo sie die ersteren noch nicht zu poetischen Werken verwerthet hat, wird
sich auch wol kein Anstoß findend Die vorliegende erste Lieferung beschäftigt
sich vorzugsweise mit dem Leben ihrer Großmutter, die mit den bedeutendsten
Männern der Zeit, namentlich mit Rousseau, in engen Beziehungen stand und
deren Erinnerungen uns über viele einzelne Umstände aus der Vorgeschichte
der Revolution nähere Aufklärungen geben. Wir werden bei der Fortsetzung
des Werks, das gewiß viele interessante Seiten darbieten wirb, näher daraus
eingehen. Auch eine Charakteristik der Dichterin, die unser Pariser Korre¬
spondent eingesandt hat, werden wir mittheilen, obgleich wir bereits in früherer
Zeit von unsrem Standpunkt eine literarhistorische Darstellung versucht haben;
da eine Erscheinung wie George Sand wol Interesse genug darbietet, um von
verschiedenen Seiten beleuchtet zu werden.
Heinrich Heine, der nur vier bis fünf Jahr alter ist als George Sand,
hat auf die Entwicklung der deutschen Literatur einen ebenso bedeutenden Ein¬
fluß ausgeübt, als George Sand auf die der französischen, wenn auch in einem
beinahe entgegengesetzten Sinn. Denn die 'Verwandtschaft der Stoffe, die beide
mit besonderer Vorliebe behandeln, darf uns über den vollständigen Gegensatz
ihrer Natur nicht täuschen. Das Interesse für die moderne Auffassung der
Liebe und Ehe, die Anläufe, zu einer neuen Religion und was sie sonst mit¬
einander gemein haben, lag in der Entwicklung der Zeit überhaupt. Und wenn
man auch ihr Talent in gewissen Beziehungen miteinander vergleichen kann,
da beide eine außerordentlich plastische Kraft haben, und dabei neben der aus¬
gesprochensten Neigung zu Extravaganzen des Gefühls und des Witzes einen
ganz gesunden Menschenverstand, der ihnen überall zugebote steht, wo sie
ihm nicht absichtlich Trotz bieten, so ist doch die Grundstimmung ihres Gemüths
eine wesentlich verschiedene. George Sand ist ihrer innersten Natur nach eine
Gläubige, eine Enthusiastin, eine Schwärmerin. Wenn der Gegenstand ihres
Glaubens ein andrer ist als bei den schönen Seelen der früheren Jahrhunderte,
so liegt das in der veränderten Richtung der Zeit; und wenn sie sich in man¬
chem ihrer früheren Werke, namentlich in der Lelia, zuweilen zu Atrocitäten
des Zweifels hat hinreißen lassen, die ans Frivole streifen, so lag der Grund
davon lediglich in der Ueberschwenglichkeit ihrer Sehnsucht nach einem Glauben,
der ihrem Herzen Ruhe verschaffen sollte. Nicht jede Lästerung ist das Zeichen
eines ruchlosen Gemüths, sie entspringt zuweilen aus einem unreifen, aber
kraftvollen Idealismus, der sein Maß überschritten hat, und daher in der gött¬
lichen Weltordnung nur Widersprüche gegen das zu sehen glaubt, was ihm
selbst als das Heiligste erscheint.
Ganz anders ist es bei Heine. Der Grundzug seines Geistes ist Frivolität,
und wenn er dabei einen lebhast erreglichen Sinn für alles Große und Schöne
in sich trägt, wenn er Augenblicke hat, die an Glauben und Entzücken streifen,
so vernichtet er doch sogleich wieder jene schönen Momente durch die roman¬
tische Ironie, die das kaum Geschaffene in seine Atome wieder auflöst. Heine
glaubt und liebt nur, um seinen eignen Glauben und seine eigne Liebe frevel¬
haft zu verspotten. So reich und mannigfaltig belebt der Schein ist, den die
gegenständliche Welt ihm entgegenstrahlt, so hat diese Welt doch keinen Kern,
weil sein eignes Gemüth ohne Kern ist; und darum stellt jener verführerische
Schimmer nur das Phosphoresciren der Fäulniß dar. Er hat reizende Götter¬
gestalten ins Leben gerufen, aber diese haben sich stets unter seinen Händen
in Gespenster, Unholde und Teufelslarven verwandelt, wie er es selbst in einem
seiner Jugendgedichte „die Götterdämmerung^ treffend geschildert hat.
Ein frivoles Gemüth wird ebensowenig zu einer innern Lebensentwicklung
führen als ein schwärmerisches, ja es wird trotz aller anscheinenden Sprünge
und Metamorphosen in seinem wahren Lebensinhalt noch einförmiger sein. Die
Schwärmerei kann sich wenigstens in ihren Gegenstand immer gründlicher ver¬
tiefen, sie kann sich stärken, befestigen; sie kann sich dnrch Humanität und
Nachdenken verklären; der Frivolität dagegen fehlt der feste Boden, von dem
aus sie vorwärts schreiten kann. Man treibt mit jenem Ausdruck einen großen
Mißbrauch. So wird z. B. Voltaire von aller Welt für frivol gehalten, weil
er gegen Dinge, die den meisten Menschen als heilig gelten, einen argen und
allerdings ziemlich freveln Spott ausgeübt hat; aber bei alledem hatte er
einen festen Grund des Glaubens, der zwar sehr enge war, auf dem er aber
vollkommen feststand; und selbst in seinem Spott, wenn man von den Regungen
seiner Eitelkeit absteht, war ein positiver Inhalt, ja eine kräftige und gläubige
Leidenschaft gegen das, was er für schlecht hielt. Heines Gemüth dagegen ist
an nichts gefesselt; er ist in seinem Spott ebenso inconsequent, wie in seiner
Liebe, consequent nur in Äußerlichkeiten, nur in Beziehung aus Personen, die
ihn persönlich verletzt haben, wie Menzel, Maßmann, Eckstein u. s. w.
Eine eigentliche Lebenöcntwicklung dürfen wir also von seinen Memoiren
nicht erwarten, wol aber sehr viel anziehende und srappirende Einzelheiten.
Denn das ist der große Hauptvorzug eines ausgesprochenen Talents, man kann es
tadeln, verdammen, aber man muß Notiz von ihm nehmen: und so ist es auch
mit den vorliegenden Bänden. Wir haben, wenn wir ehrlich sein wollen,
nichts oder sast nichts darin gesunden, was wir billigen könnten, aber wir
haben alles mit einem gewissen Behagen gelesen, und wir glauben, daß es aller
Welt so gehen wird.
Heine theilt uns dies Mal noch nicht seine wirklichen Memoiren mit,
sondern nur Fragmente daraus. Aber wir glauben, daß er es überhaupt nicht
zu einem Ganzen bringen wird, da bei aller Elasticität seines Geistes doch zu
wenig Energie in ihm ist, um einen Stoff bis zur vollständigen Vollendung
zu beherrschen.
Der erste Band enthält die Geständnisse, neue Gedichte (90 Seiten), die
Götter im Erik nebst einem neuen Zusatz, die Göttin Diana, und biographische
Notizen über einen in Paris gestorbenen Freund, Ludwig Markus. Die beiden
folgenden Bände enthalten die Pariser Korrespondenzen der allgemeinen Zeitung
aus den Jahren 18i0 bis i2, mit Ergänzung der Censurlücken und retro-
spcctiven Nachträgen über sein Verhältniß zur Redaction und über seine po¬
litische Stellung im allgemeinen.
Die Geständnisse und die Götter im Erik haben wir bereits nach der
französischen Ausgabe in der Revue des deur mondes besprochen. Die Ge¬
ständnisse sind etwas erweitert, aber wir haben in den Zusätzen nichts Wesent¬
liches gesunden. Von welcher Art übrigens zum Theil diese Geständnisse sind,
davon müssen wir doch eine Probe geben, obgleich mit einigem Bedenken. Das
Publicum muß sich doch davon überzeugen, daß Heine, von. dessen Bekehrung
man soviel Wesens macht, noch ganz der alte Heine aus den Reisebildern ist.
„Ich war ein abstracter Denker, und ich nahm die Synthese der Hegelschen Doctrin un-
geprüft an, da ihre Folgerungen meiner. Eitelkeit schmeichelten. Ich war jung und stolz, und
es that meinem Hochmuth wohl, als ich von Hegel erfahr, daß nicht, wie meine Großmutter
meinte, der liebe Gott, der im Himmel residirt, sondern ich selbst , hier ans Erden der liebe
Gott sei. Dieser thörichte Stolz übte keineswegs einen verderblichen Einfluß ans meine Ge¬
fühle, die er vielmehr bis zum Heroismus steigerte; und ich machte damals einen solchen Auf¬
wand von Grvsimuth und Selbstaufopferung, daß ich dadurch die brillantesten Hochthäler jener
guten Spießbürger der Tugend, die nur ans Pflichtgefühl handelten und nnr den Gesetzen der
Moral gehorchten, gewiß außerordentlich verdunkelte. War ich' doch selbst jetzt das lebende
Gesetz der Moral und der Quell alles Rechtes und aller Befugnis). Ich war die Ursittlichkeit,
ich war unsündbar, ich war die incarnirte Reinheit; die anrüchigsten Magdalenen wurden
purificirt dnrch die läuternde und sühnende Macht meiner Liebesflammcn, und fleckenlos wie
Lilien und erröthend wie keusche Rosen, mit einer ganz neuen Jungfräulichkeit, gingen sie
hervor ans den Umarmungen des Gottes. Diese Restaurationen beschädigter Magdlhümcr, ich
gestehe es, erschöpften zuweilen meine Kräfte. Aber ich gab ohne zu feilschen, und un¬
erschöpflich war der Born meiner Barmherzigkeit."
Uns über diese Stelle näher auszulassen, dazu fehlen uns, offen gestanden,
die Worte. Wir fügen nur die Bemerkung hinzu, daß sie noch nicht die ärgste
ist. 'Zuletzt kommt er auf den lieben Gott zu sprechen, zu dem er sich wieder
bekehrt habe, und nennt ihn seinen Kollegen, den großen Aristophanes des
Himmels, der aber in seinen Späßen ziemlich einförmig sei und namentlich
durch die lange Krankheit des Dichters an sich selbst ein Plagiat be-'
gangen habe.
Der Nachtrag zu den Göttern im Erik ist im Sinne des Tanzpoöms
Faust geschrieben; ob Lumley wirklich bei ihm ein Ballett bestellt hat, oder ob
diese Bestellung nur eine Fiction ist, um eine neue Caprice einzuleiten, wissen
wir nicht. Die beständige Selbstironie würde für ein wirkliches Ballet nicht
passen, aber ob die Priester der höheren Tanzkunst nicht dennoch diese Winke
benutzen könnten, um in ihre Erfindungen und Arrangements, die meistens an
dem Uebelstand allzugroßen Blödsinns leiden, wenigstens einige Abwechslung
zu bringen, das wollen wir dahingestellt sein lassen. — Die kleine Abhandlung
über Markus hat einen sehr unangenehmen Ton, wenn man bedenkt, daß es
sich um einen unglücklich verstorbenen Freund handelt; aber sie enthält einige
treffende Bemerkungen über die Judenemancipation.
Die Gedichte sind im Ton und Stil des Romanzero, die alten süßen
Töne aus dem Buch der Lieder sind vollständig verloren gegangen; sie bewegen
sich nur in häßlichen, abscheulichen Vorstellungen und werden von einer krampf¬
haften Todesfurcht unheimlich angehaucht. Wer wollte den Dichter nicht be¬
mitleiden, den ein widerwärtiges Schicksal solange ans Krankenlager fesselt,
aber nicht blos der echte Dichter, sondern auch der gewöhnliche Mensch, der
einen wirklichen Inhalt hat, würde nicht so ganz von diesen abscheulichen Vor-
Stellungen befangen werden; er würde dem Ueberwiegen der Materie durch
geistige Kraft vorbeugen. Wenigstens Poesie sind diese Stoßseufzer nicht, z, B,:
„O Herr! ich glaub', es wär das Beste,
Du ließest mich in dieser Welt;
Heil' nur zuvor mein Leibgebrcste,
Und sorge auch für etwas Geld.Ich weiß, es ist voll Sünd und Laster
Die Welt; jedoch ich bin einmal
Gewohnt, auf diesem Erdpechpflaster
Zu schlendern durch das Jammerthal,Geniren wird das Weltgetrcibc
Mich nie; denn selten geh' ich aus;
In Schlafrock und Pantoffeln bleibe
Ich gern bei meiner Frau zu Haus."
Aber wenn ihn einmal der Kobold des tollen Humors erfaßt, dann er¬
kennen mir auch hier den alten Heine wieder, und verzeihen ihm gern seine
sah'eltworte, Lästerungen und Cynismen, wegen seiner treffenden und durch¬
greifenden Einfalle. So z. B. die Himmelfahrt, die Launen der Verliebten,
Erinnerungen aus Krähwinkels Schrcckenstagen u. f. w,
„Ihr Deutschen seid ein großes Volk,
So simpel und doch so begäbet!
Man sieht auch wahrhaftig nicht an,
Daß ihr das Pulver erfunden habet."
Die neuen französischen Zustände werden durch eine Dedication an den
Fürsten von Pückler-Muskau eingeleitet, den Heine als einen Geistesverwandten
begrüßt, und mit Recht. Denn trotz ihrer verschiedenen Stellung in der Ge¬
sellschaft war ihre Bildung eine sehr homogene und sie sind beide als die Väter
der jungdeutschen Literatur zu betrachten. — Was die Korrespondenzen selbst
betrifft, so sind sie insofern ein sehr interessanter Beitrag zur Geschichte unsrer
Literatur, als sie uns die Art und Weise versinnlichen, wie die allgemeine
Zeitung auf die politische Bildung ihres Publicums einzuwirken bemüht ge¬
wesen ist. Daß dieses Blatt bei 'seinen außerordentlichen Mitteln und seiner
Verbreitung über die ganze Welt auch in der Form jene Eleganz und Zier¬
lichkeit anstrebt, die einem gebildeten und zum Theil vornehmen Publicum die
politischen Neuigkeiten annehmbar macht, finden wir ganz in der Ordnung:
aber sie geht in diesem Streben ohne Zweifel zu weit. Denn Heine ist nicht
der einzige ihrer Korrespondenten, dem es vor allem auf den Stil ankommt,
und dann erst auf den Inhalt, .soweit derselbe für das abstracte Stilbedürfniß
nicht völlig zu umgehen ist, sondern ein großer Theil ihrer Mitarbeiter — und
wir glauben kaum zu weit zu gehen, wenn wir behaupten, daß ihre Arbeiten
die Hälfte der ganzen Zeitung ausfüllen — ist mit geringerem Geschick, aber
mit gleichem Eifer in die Fußstapfen des Dichters getreten. Freilich ist die
Zeitung dann in der Regel so unparteiisch, auch die schlimmen Dinge, die
man von ihren Mitarbeitern sagen kann, in ihre Spalten aufzunehmen, wenn
diese nur gleichfalls in elegantem Stil geschrieben sind; und sie hat dieses
Recht der Unparteilichkeit auch gegen Heine in einem reichen Maße ausgeübt:
ja in einem Maße, das in dem Verhältniß einer Zeitung, zu ihren Mit¬
arbeitern fast über den guten Geschmack hinausgeht. Aber wir zweifeln, ob
durch eine solche nachträgliche Unparteilichkeit die Sache wieder gut gemacht
wird. Eine Zeitung hat zwar zunächst die Aufgabe, die Thatsachen so aus¬
führlich und so correct als möglich mitzutheilen, aber daneben doch wol auch
entschieden die zweite nicht minder wichtige, ihr Publicum zu festen politischen
Principien anzuleiten. Wir wollen nicht so engherzig sein, von einer weit-,
verbreiteten Zeitung die Haltung eines politischen Parteiblatts zu verlangen,
aber wenigstens muß sie alles vermeiden, was zu ihrer leitenden Tendenz in
einem gar zu argen Contrast steht. Nun steckt die Zeitung stets die Fahne
der deutschen Nationalität auf, wenn auch in andrem Sinne als wir, wozu sie
vollkommen das Recht hat, und wogegen wir nicht das geringste einzuwenden
haben. Aber wie man auch die deutsche Nationalität auffassen mag, das
jungdeutsche Feuilleton, waS sie durch alle ihre Spalten hinzieht, stimmt dazu
auf keine Weise. — Heines Korrespondenzen zeichnen sich in der That durch
stilistische Eleganz und durch überraschende Einfälle aus. So schreibt sich z. B.
die Bezeichnung Napoleon des Friedens, die eine Zeitlang aus Ludwig Philipp
angewandt wurde, aus diesen Korrespondenzen her; aber von politischer Ein¬
sicht, von politischer Gesinnung und Ueberzeugung ist bei ihm durchaus keine
Rede. Er setzt seiner augenblicklichen Laune und Stimmung nicht den geringsten
Widerstand entgegen. Heine selbst ist stets der Mittelpunkt seiner. Gedanken;
und daher lebte er lange Zeit in dem krankhaften Wahn, alle Welt mache sich
über seine politische Consequenz, über seine Ehrlichkeit u. s. in. Gedanken, und
es käme dem Publicum vor allen Dingen daraus an, nicht ob es zwischen
England und Frankreich zum Krieg kommen werde, sondern vo Heine von
Ludwig Philipp erkauft sei oder nicht. Er hat daher seine Correspondenzen
durch eine Reihe von Nachträgen erweitert, worin er die UnHaltbarkeit dieses
Verdachts nachzuweisen sucht: nach unsrer Ansicht sein überflüssig, denn wenn
Ludwig Philipp bei der Pension, die er dem deutschen Dichter ertheilte, wirklich
die Absicht gehabt hat, ihn zum Reden oder Schweigen zu bringen, so ist er
ein leichtsinniger Verschwender gewesen. Ueberhaupt macht sich Heine von
seinem Einfluß ganz falsche Vorstellungen. Jedermann liest seine Späße mit
Behagen, freut sich an seinen Witzen, auch wenn sie grob sind, und für die¬
jenigen, die es trifft, mag es unbequem genug sein; grade wie wenn man
das Unglück hat, ein Stichblatt des Kladderadatsch zu werden. Aber über
diesen momentanen Genuß hinaus erstreckt sich sein Einfluß nicht. ^Wenn er
. wirklich glaubt, durch die Kraft seines Genius sich schwer versündigt, den Ruf
von Personen und Ideen untergraben und mit jenem mystischen Beil des
Nachrichters, das er so schwärmerisch besingt, Sterbliche und Unsterbliche ge-
tödtet zu haben, so möge er in Frieden zum Himmel eingehen. Diese Sünde
liegt nur in seiner Einbildung.
Abgesehen von diesen politischen Causerien sind die Korrespondenzen von
vielfältigen philosophischen und artistischen Notizen durchflochten. Sehr inter¬
essant ist der Nachtrag über George Sand und Victor Hugo Band 2.
S. u. s. w. Sehr ergötzlich sind auch die Notizen über Spontini und
Meyerbeer, und es wird ihrer komischen Wirkung gar nichts schaden, wenn sie
auch zum größern Theil erfunden sind, was wir allerdings glauben. Amüsiren
wird sich überhaupt auch heute noch jedermann an diesen Korrespondenzen,
obgleich die Gegenstände längst in Vergessenheit gerathen sind. Etwas Blei¬
bendes daraus zu gewinnen, wird man auch hier nicht erwarten. So liebt
ers z. B. über Musik zu sprechen und sagt einmal von Beethoven: „er
treibt die spiritualistische Kunst bis zu jener tönenden Agonie der Erscheinungs-
welt, bis zu jener Vernichtung der Natur, die mich mit einem Grauen erfüllt,
das ich nicht verhehlen mag, obgleich meine Freunde darüber den Kopf
schütteln;" — ferner von Berlioz: „selbst die trägsten Gemüther werden fort¬
gerissen von der Gewalt seines Genius; hier ist ein Flügelschlag, der keinen
gewöhnlichen Sangesvogel verräth, das ist eine kolossale Nachtigall, ein
Sprosser, von Adlersgröße u. s. w." — es ist aber bekannt, daß Heine die
Musikstücke nur nach dem Cvncertzettel unterscheidet.
Wie dem auch sei, das Talent soll man anerkennen, auch wenn man es
tadeln muß, und die zahllose Menge, die Heine unterhält und belustigt, wird
ihm viele seiner Sünden vergeben.
Quickbvrn. Volksleben in plattdeutschen Gedichten Ditmarscher Mundart von
Claus Groll). Dritte -sehr vermehrte und verbesserte Auflage, mit einem
Glossar nebst Einleitung von Prof. Fr. Müllcnhvff. Hamburg, Perthcs-
Besser u. Maule, 1«Si>. —
Ein Buch, das in sehr kurzer Zeit drei Auflagen erlebte, von Jakob
Grimm im Vorworte des Wörterbuchs als Beweis angeführt wird, daß die
niederdeutsche Sprache auch in der Literatur sich ihre Lebenskraft bewahrt hat,
und dem zu Liebe Carl Müllenhoff von seinem sehnlich erwarteten Handbuch
der Alterthumskunde abbrach, um es mit dem feinsinnigsten und interessantesten
Anhange zu versehen, der jemals einem Buche von späterer Hand hinzugefügt
ist, ein solches Buch bedarf der Empfehlung nicht mehr. Dennoch mögen
jemandem noch einige anerkennende Worte darüber gestattet sein, der Tag für
Tag Veranlassung hat, in dem Dialekt zu reden, mit dem es sich beschäftigt,
und denselben Studien nachgeht, die'offenbar auch beiden Herausgebern des
Quickborn wohlbekannt sind. Wie die junge ungarische Literatur, die wir
vor einigen Jahren plötzlich aufschießen sahen, die nationale Beschränkung, welche
sie charakterisirte und durch die sie damals eine gewisse politische Bedeutung er¬
langte, nur durch genaues Eingehen auf die Volksweisen und die Sagen der
Ungarn erlangte, so sehen wir jetzt in Claus Groth einen Dichter vor uns
hintreten, der, offenbar durchdrungen von einer tiefern deutschen Bildung, sich
mit bewußter Beschränkung in Deutschland ein kleineres Gebiet abgesteckt und
dort seine Studien gemacht hat und mit einer Dichtung hervorgetreten ist,
welche uns in ihrer Art an jene ungarischen Dichter Arany, Petöfy u. f. w.
erinnert hat. Was aber den Quickborn als Dialektdichtung anlangt, so braucht
er seine Berechtigung nicht erst nachzuweisen. Viele tausende unsrer Lands¬
leute reden nicht allein diesen Dialekt, sondern, was noch ungleich mehr sagen
will, ihr ganzes Denken modificirt sich nach ihm. Grammatik und Wörter¬
buch können uns keineswegs vollständigen Aufschluß über ihn geben. Die nieder¬
deutsche Sprache verlangt, wie vielleicht jeder andere unverdorbene Dialekt als
solcher, noch eine völlige Naivetät im Denken und Empfinden; sie ist nicht für
den, der sich nicht ganz concret ausdrücken kann, und in einem plattdeutschen
Gedichte wird jeder falsche und unechte Ton, würde er noch so leise angeschlagen,
unglaublich scharf empfunden. Hoch steht der Dichter des Quickboru, der uns
den niederdeutschen Volkscharakter in seiner Sprache wahrhaft wiederspiegelt,
über den Bornemanns, die noch jetzt'neu aufgelegt werden und die wol
schwerlich eine Ahnung davon hatten, wie weh uns jetzt ihr gedankenloses
plattdeutsches Wortgeklingel thut.
So herrlich tönt unsrem Claus Groth keine Musik, singt ihm keine Nach¬
tigall wie seine „Modersprak"; die hellen Zähren laufen ihm, wie er sagt, bei
ihrem Klänge von den Backen. Aber die „Modersprak" erweist sich ihm auch
dankbar für seine Treue. Gedichte wie „der Fischer" (Schön Anna, knüttst
Du fiere Strümp) gehören zu den plastischsten und schönsten lyrischen Ge¬
dichten, welche die deutsche Literatur auszuweisen hat. Wer wird ohne tiefe
Rührung das Gedicht an ein Mädchen lesen, das der Dichter, unter Thränen
lächelnd, scherzhaft „Tös mal" überschreibt und worin ihm, beiläufig bemerkt,
eins der alterthümlichsten und merkwürdigsten Wörter seiner Muttersprache in
den Mund kommt, dem man schon mit besonderer Sorgfalt in dem ältesten
niederdeutschen Sprachdenkmale nachgegangen ist. Nicht minder trefflich sind
Lieder wie: „Min Platz vor dör" (S,17i) „Bör dör" is. 252) und „Aflohnt"
(S. 73Z oder unter den „Dünjens":
Wi ginge tvsam to Feld, min Hans,
Wi ginge tvsam to Rau,
Wi seien achter 'n Disch tosam,
So warn wi old um grau. ^ ,Bargvp so licht, lmrgaf so trag,
So nerui, nerui Jahr —
Un doch, min Hans, noch eben so kees,
As do in brune Haar.
Sehr gelungen sind auch Groths Naturbilder. Wie frisch ist das „Regett-
leed" und ein wie inniges Wohlgefallen spricht das Lied an den Spatz aus
is. 66 u. 67):
Du Spitzbvv, tat sehn — dat 's dat Nest? dat 's dat Nest?
Mal to. un hal Feddern un tun, dat 's dat Best!
Ol Anton sin Pudelmütz liggt güud achterm Tun —
Pinel as, mal man to, lat's man hun, lat's man bum!
In Gedichten der Art, wie die bisher bezeichneten, erscheint Claus Groll)
am tüchtigsten und originellsten. Die größeren Gedichte in reimlosen Jamben
und Herametern ermüden, wie schön sie auch sonst sind, durch diese Form,
die zum Plattdeutschen nicht recht paßt. Nur bei den wenigen schwächern Ge¬
dichten der Sammlung fühlt man sich hier und da an Hebel erinnert, bei
andern, wie z. B. bei der alten Harfenistin, (S. 25) an die sentimentalern
und deshalb weniger echten Klänge der heutigen Volkspoesie, die dem Dichter,
wie wir übrigens mit Vergnügen bemerken, in ihrem ganzen Umfange
bekannt ist.
Sollen wir einem Buche, das in seiner Art der möglichsten Vollendung
schon so nahe ist, einen Rath geben, so ist es der, daß der Dichter bei ferneren
Auflagen noch cousequenter als bisher alles Störende und aus einer fremden
Culturstufe in die niederdeutsche Welt des Quickborn Hereinragende vermeiden
möge. Um aber etwas ganz specielles anzuführen, so sind- wir nicht damit
einverstanden, wenn er (s. S. 129) in seinen plattdeutschen Gedichten Hochdeutsch
vorbringt, wenn er vornehme Personen reden läßt. Zwar pflegt es das Volk,
wenn es Worte von Vornehmen anführt, ebenso zu machen, in einem platt¬
deutschen Gedichte aber stört es eben jene Illusion, daß man sich in einer
völlig für sich abgeschlossenen und befriedigten Welt befindet.
Auch ein Stück in Prosa theilt Claus Groth mit und zwar ein Märchen,
auf welches Schreiber dieser Zeilen noch wird bei anderer Gelegenheit zurück¬
kommen müssen, da es offenbar im wesentlichen dem Volksmunde entnommen
ist. Nachdem nämlich Waitz in Rankes Jahrbüchern in seiner trefflichen Arbeit
über Heinrich 1. nachgewiesen hat, daß dessen Beiname: „der Vogelsteller"
des historischen Grundes entbehrt, wird sich jetzt aus vielen zum Theil noch
ungedruckten Märchen nachweisen lassen, daß diese Erzählung aus eine Art
von Augurium in den Zeiten des deutschen Heidenthums zurückzuführen ist,
daß die Vögel der Sage ursprünglich Raben waren, die von den Göttern
auf die Königswürde übergingen, weshalb auch untern anderm den Rothbart
im Kyffhäuser die Raben umfliegen. Das Stück im Quickborn, welches hier¬
für mit herbeizuziehen sein wird, und für dessen Mittheilung wir dem Dichter
hier vorläufig unsern Dank sagen, hat die Ueberschrift: „Wat man warm
kann, wenn man blöd de Vageln richtigverstcm deit. En Märker."
Ich sah jetzt, daß man bei der Nacht leichter eine solche Passage ausführt
als bei Tage, denn mir wurde bei dem reißenden rind rasch vorüberstürmenden
Wasser fast schwindlig, obgleich ich sonst wenig zu dergleichen geneigt bin.
Es verloren bisweilen die Pferde festen Fuß und wurden schwimmend rasch
abwärts getrieben, bis sie wieder Grund fanden, und so kamen wir öfters aus
der Reihe, welche wir eingeschlagen hatten. Ein Hund, welcher uns begleitete,
wurde fortgerissen, und wir hatten ihn schon verloren gegeben, als er etwa
nach einer halben Stunde, nachdem wir längst auf dem Trockenen, keuchend
und triefend uns wieder einholte.
Das Thal, in welches wir nach Uebersetzung des Flusses gekommen waren,
war am Anfange ziemlich breit und es standen dort ebenfalls einige vereinzelte
Wohnungen, bald aber wurde es enger, und wir folgten einem seiner Abhänge,
indem wir anfingen, ziemlich steil aufwärts zu reiten.
Bald sahen wir in der immer enger werdenden Schlucht nur noch hier
und da den Fluß seinen Lauf verfolgen, und die Gegend nahm in kurzer Zeit
einen andern Charakter an.
Die unendliche Masse von scheinbar wild und ohne alle Ordnung durch-
einandergcworfenem Gesteine, in mannigfachen pittoresken Formen hier an¬
steigend, dort eine tiefe Schlucht, wieder an einer andern Stelle einen mauer-
artigen Kamm bildend, entzückt den Landschaftsmaler und begeistert ihn, während
der Geognost verwirrt wird, und anfänglich die Hoffnung aufgibt, irgendeine
anständige Theorie'zu finden, wie alle diese unendlichen Abstufungen und
Varietäten von Porphyr, Diorit, Dolerit und andere verwandte Felsarten so
bunt durcheinandergewürfelt dorthin gekommen sind.
Mit etwas Phantasie und einigem guten Willen läßt sich vieles leisten,
so ist denn endlich eine nothdürftige Erklärung fertig. Da tritt uns plötzlich
ein Granit entgegen, wir finden Gneis, Sienit an einer Stelle so friedlich
und unbefangen dastehen und leider sowenig in die eben fertige Erklärung
passend, daß wir uns endlich gestehen müssen, ein flüchtiger Blick auf jene
colossale Natur sei wol Halbweg hinreichend, uns ihre Größe erkennen zu
lassen, keineswegs aber, sie nur einigermaßen genügend zu erklären.
Mannigfacher Baumschlag decorirt die Landschaft, indem die Abhänge der
Schluchten meist bewaldet >sind. So ritten wir einmal eine ziemliche Strecke
unter einem natürlichen Bogengange von Psirstchbäumen dahin. Im übrigen
aber waren verschiedene Lanrusarten und einige Species von Berberis das
einzige, was ich erkannte, indem mir, dem leider ziemlich Unkundigen in bo¬
tanischen Studien, deren Betrieb während des Vorübergaloppirens noch
schwerer fiel, als die Auffassung geognostischer Verhältnisse.
An andern Stellen schien der große, dort nicht selten eine Höhe von
20—30 Fuß erreichende Cactus und einige andere kleinere, ebenfalls scharf mit
. Stacheln bewehrte Pflanzen, die ganze Vegetation zu bilden. Dort aber fallen
die Abhänge steil ab und man reitet nicht selten auf einem Pfade, der links
von einer senkrecht ansteigenden Felswand begrenzt wird, wahrend rechts ein
tausend Fuß tiefer Abgrund uns entgegengähnt. Häufig ist ein solcher Pfad,
den meine verwünschten Knechte einen ganz vortrefflichen Weg nannten, so
schmal, daß der eine Fuß an der Felswand streift, während der andere sammt
dem Bügel über dem Abgrund schwebt. Bisweilen lösen sich durch den Huf¬
schlag der Pferde Steine und Geröll ab, und stürzen neben uns in die Tiefe.
Aber all das schadet nicht, man reitet vorwärts und macht aus der Noth eine
Tugend, denn Umwenden geht aus moralischen und physischen Gründen nicht
mehr an.
Weniger gefährlich indessen als es aussieht, sind diese Bergpfade wegen
der Güte und Sicherheit der chilenischen Pferde, aber sie werden bedenklich in
hohem Grade bei Begegnungen. Da nur in seltenen Fällen ein Reisender
jene Vorberge der Cordillera besucht, so sind die Wege derselben meist nur von
holztragenden Maulthieren und ihren Führern betreten, diese aber halten be¬
stimmte Tageszeiten zum Hin- und Zurückgehen ein, weil für alle blos Sant¬
iago das Ziel der Reise ist. Gegenseitiges "'sich Entgegenkommen ist also bei
diesen ein seltener Fall. Ein anderes war es mit uns, die wir grade entgegen¬
gesetzte Richtung mit den zur Stadt ziehenden Holzverkäufern hatten, und mir
wäre fast ein Unfall begegnet, der üble Folgen hätte haben können.
Schon einige Mal waren wir solchen holztragenden Maulthieren begegnet,
aber stets an breiteren Stellen, wo man ausweichen konnte.*) Jetzt aber ritten
wir einen der schmalsten Pfade, der noch dazu sich öfters um den Fels bog,
und ich war eben der letz.te im Zuge, mis der vor mir reitende Knecht mir
zurief, rascher zu reiten. Ich gab dem Pferde die Sporen, aber schon stand
ein Maulthier vor mir mit den Holzbündeln, die auf beiden Seiten des
Rückens befestigt seine Last bilden. Einige hundert Schritte rückwärts war
eine breitere Stelle des Weges, auch vorn, durch die Felsenecke verborgen,
mußte eine solche sein, da die Norausreitenden den Lastthieren ausweichen
konnten, aber zwischen diesen und mir stand das Maulthier und der Kopf des
zweiten war bereits sichtbar. Umwenden schien mir unmöglich. Links eine
steile Felsenwand, rechts ein jäher Abhang, auf dem kaum Fuß zu fassen. Mein
erster Gedanke war das Maulthier vor den Kopf zu schießen, aber dann,
welcher Skandal mit den nachfolgenden Treibern, und ferner wäre mir das
vvrwärtsstürzende Thier ebenso gefährlich als vorher gewesen. So blieb ich
unentschlossen einige Augenblicke haltend, ausweichend soweit als möglich auf
der Seite des Abhangs. Das Maulthier aber rannte vorwärts und stieß mich
mit der Holzlast dergestalt an die Kniescheibe, daß ich fast sammt dem Pferde
in den Abgrund geworfen worden wäre. Meiiie alten deutschen Iagdstiefel
von starkem Rindsleber und handbreit über die Knie reichend, schützten mich
insofern, daß ich nicht argen Schaden litt, doch hatte ich durch das verwünschte
Holz eine ziemliche Kontusion erhalten. Ich begriff jetzt, daß ich auf irgend¬
eine Weise ausweichen mußte, denn schon stand das zweite Maulthier vor mir.
So sprMg ich denn auf der rechten Seite des Pferdes herab und suchte mich
auf dem steilen AbHange festzuhalten, so gut es eben ging, und das zwar
zuerst am Zügel meines Pferdes, den ich in den Händen behalten hatte. Das
Maulthier aber rannte mit seinen Holzbündeln so heftig wider dasselbe, daß
die zwei obersten Decken in Stücke zerrissen, der Gurt gesprengt wurde und
das Pferd das Gleichgewicht verlor. Aber es stürzte nicht, sondern bäumt-'
sich hoch auf, drehte sich auf den Hinterfüßen, fußte wieder auf dem Pfade
und lief rückwärts hinter den Maulthieren her, bis an die vorher erwähnte,
bereits passirte breitere Stelle des'Meges, wo es, den Lastthieren ausweichend,
stehen blieb. Der Zügel, an dem ich mich festgehalten hatte, war-ein nach
europäischer Art gefertigter, und bereits alt, er riß, und dies war ein Glück,
denn bei dem abhängigen und lockeren Standpunkte, den das Pferd hatte, wäre
es ohne Zweifel durch mein Gewicht hinabgezogen worden, und auf mich ge¬
fallen. Aber das mir gehörige Zaumwerk nach der schweren und haltbaren
Weise des Landes gefertigt, war dem Pferde am Kopfe etwas zu enge, und
deshalb entlehnte ich von Segels ein anderes, dessen^ Zerreißen hier zu meinem
Vortheile stattfand
Ich selbst kugelte hierauf, ohne mich irgendwie halten zu können, fünf¬
undzwanzig oder dreißig Schritte abwärts, faßte aber dort einen Strauch und
kletterte oder kroch vielmehr dann wieder den Abhang hinan. Zehn Schritte
unterhalb des rettenden Strauchs fiel die Felswand senkrecht ab. — Dort,
d. h. etwa 800 Fuß tiefer, fließt der liebenswürdige Mapacho zwischen zierlich
zugespitzten Felsen, und hie und da zerstreut zwischen ihnen bleichen fragmen¬
tarisch die Gebeine von Menschen und Thieren, die oben ebenfalls das Gleich¬
gewicht verloren und zufällig nicht an einem Strauche hängen geblieben sind.
Einer der Knechte warf mir seinen Lasso zu, mit dessen Hilfe erreichte ich
die Höhe und dort war meine erste Beschäftigung, eine Unzahl von Stacheln
aus den Händen zu ziehen, Ueberbleibsel des rettenden Strauchs. Dann
wurde Sattel und Zeug wieder in Ordnung gebracht und weiter geritten.
Bald nachdem wir jene Stelle verlassen hatten, begann der Weg sich in
etwas zu verändern.
Statt daß früher ans der einen Seite Felswand, auf der andern Abgrund
war, mußten wir jetzt über einen drei Fuß breiten Felskamm reiten, dessen
beide Seiten senkrecht abfielen. Natürliche Stufen von ebenfalls drei Fuß
Höhe bildeten die Straße und so mußten die Pferde sprungweise anklimmen.
Ich war thöricht genug, mich über die unschuldige Klippe zu ärgern und mein
Pferd erhielt wol, manchen nicht nöthigen Spornstich, indem ich auf den Unsinn
schalt, über Mauern zu reiten, anstatt außen herum. Ich weiß indessen nicht,
ob dies überhaupt angegangen wäre. -
Oben angelangt, wo die Felswand ein kleines Plateau bildete, legte sich
plötzlich unser lasttragendes Maulthier ganz ruhig auf den Boden, und war
auf keine Weise zu be-wegen, wieder aufzustehen. Das Thier hatte die Augen
geschlossen und sein Kopf hing, sammt dem einen Packe der Last, die es trug,
über dem Abgrund. Wenn Maulthiere ihren Führern erklären wollen, daß sie
genug gearbeitet, und keine Lust hätten, weiter zu gehen, nehmen sie stets
dieses Manöver vor, und unsre Knechte sagten, sie thäten dies immer an der
gefährlichsten Stelle, wo sie keine Schläge zu erwarten haben, da eine einzige
unglückliche Bewegung sie in den Abgrund stürzen kann.
In der That wurden oben ans dem Plateau auch blos Schmeichelworte
angewendet, um das Thier zum Aufstehen zu bewegen, aber umsonst. Es lag
wie verendet und rührte kein Glied. Nun blieb nichts übrig, als dasselbe
möglichst auf die Mitte des Plateaus zu ziehen , abzuladen, und so gut es
ging, das andere Thier zu belasten. Ich leistete hierbei hilfreiche' Hand und
bedauerte, in, meiner Jugend neben andern nützlichen Künsten nicht auch die
des Dach- oder Schieferdeckers erlernt zu haben, welche mir dort von be¬
deutendem Nutzen gewesen wäre.
Als wir auf der ander» Seite der Wand- wieder auf festen, d. h. breiten
und geräumigen Boden gekommen waren, bearbeiteten die Knechte das Maul¬
thier nach Herzenslust mit ihren zusammengedrehten Lassos, um sich für die
oben an dasselbe verschwendeten Artigkeiten zu revanchiren, und daS^ Thier
wußte genau den Grund, denn es schlug schon aus, als sie sich ihm nur von
weitem näherten. Aber, als ich noch oben stand bei dem widerspenstigen Thiere
und auf die erstiegene Strecke abwärts blickte, sie sast für gefährlich haltend,
unbedingt aber wohlzufrieden, daß sie zurückgelegt, kam in sorglosen Sätzen
am äußersten Rand, und, wie es schien, auf einem nur mittelmäßigen Klepper
reitend, ein chilenisches Weib desselben Weges. Sie hatte die Zügel auf deS
Pferdes Hals gelegt und liebkoste einen Säugling, den sie im Arme hielt. Ich
schämte mich, als ich eine Parallele zog zwischen des Weibes Reise und mei¬
nem Bedenken.
Es war die Wohnung jenes Weibes die letzte im Gebirge und nun be¬
gann die eigentliche -hohe Cordillera, nachdem wir noch einige Stunden auf
ziemlich guten Wegen scharf fortgeritten waren. Wir machten hierauf etwa
gegen 1 Uhr des Mittags Halt, ließen die Pferde grasen und nahmen selbst
ein kleines Mahl ein. Dort schon sammelte ich geognostische Handstücke und
mehre Insekten, worunter unter andern eine neue Art prosooM Wmrirv8tri8,
Kturm. Auch eine Menge von Scorpionen wurde gefunden und fast unter
jedem Steine, den wir aufhoben, streckte uns einer seine Scheren entgegen.
Nach anderthalbstündiger Ruhe stiegen wie wieder zu Pferde, und setzten
nach einiger Zeit über einen kleinen Fluß, woraus wir mehre Stunden steil
bergauf eilten und endlich aus einen ziemlich breiten Bergrücken ankamen.
Der Charakter der Landschaft hatte sich allmälig bedeutend geändert. Wir
hatten vorher wol Wald und pittoreske Felsenpartien, gefährliche Bergpfadc
und strömende Gewässer in wilden Schluchten, aber immer fehlte der Thpu.s
der tiefen Ruhe und Einsamkeit, der das eigentliche Hochgebirge bezeichnet. Jetzt
aber war auf der Höhe der Pflanzenwuchs bereits verschwunden und nur in
Schluchten tief unter uns zogen sich noch in schmalen Streifen die Vorposten
der. Vegetation dahin. Drohende Schneeberge hingen über uns, während wir
auf kahlem, nacktem Gesteine fortritten. Die Thäler wurden großartiger, und
hie und da öffnete sich eine prachtvolle Fernsicht, um bald wieder durch einen
schwarzen, halb mit Schnee bedeckten Bergriesen verhüllt zu werden. Es war
die hohe Cordillera, in welcher wir uns befanden, das sagte uns schon der
eisige Hauch, der. bisweilen von den nächsten Bergen wehte, uno uns den
Poncho umnehmen ließ. Wir hatten während der Rast das Gepäcke vertheilt
und die Reservepfcrde mit einem Theile belastet, so konnten wir um so rascher
reiten, denn das that jetzt Noth. Der Jäger hatte früher diese Gegenden be¬
sucht und einen passenden Platz gefunden zum Lager. Wir mußten diesen wo¬
möglich noch heute zu erreiche«, suchen, um Holz zur Feuerung, Futter für die
Thiere und Wasser zu haben. Kurz vor Einbruch der Nacht lenkten wir wieder
abwärts, meist auf Pfaden, die daS Guanaco getreten hatte, kamen wieder in
eine wenigstens etwas bewaldete Thalschlucht, und machten endlich an einer etwa
S0 Schritte breiten Stelle derselben, unweit eines rasch strömenden Bergwassers
Halt. Es wurde zur Entlastung der Thiere geschritten und rasch von zusammen¬
gelesenen Holze ein Feuer entzündet, von unsern Satteldecken ein Lager bereitet,
und ein aus Maisbrod und rohem Charque bestehendes Abendbrot eingenommen.
Dann legten wir uns zur Ruhe, und als ich des andern Morgens in meinen
Mantel gewickelt, die Augen aufschlug, verwunderte ich mich fast, im Freien und
nicht unter Segeths gastlichen Dache zu Scmtjago erwacht zu sein.
Die Pferde hatten sich in jener ersten Nacht keine zehn Schritte von uns
entfernt, sondern waren dichtgedrängt in unsrer nächsten Nähe geblieben; als
sie später das Terrain kennen gelernt hatten, entfernten sie sich stundenweit
von unsrem Lagerplatze, stets aber zusammenhaltend und eine kleine Herde
bildend.
Sogleich nach unsrem Erwachen wurden Anstalten zu größerem Comfort
getroffen. Die Schlucht, welche wir in Besitz genommen hatten, strich direct
von Nord nach Süd, und war gegen Ost und West durch steile Abhänge.ein-
geschlossen. Der kleine, aber reißende Gebirgöfluß floß auf der westlichen
Seite, und wir brauchten auf diese Weise nur einige Schritte zu gehen, um
frisches Wasser zu haben. Ich vermag kaum zu schildern, wie erquickend und
stärkend das tägliche Baden in diesen lärmend und brausend dahinströmenden
Fluthen auf mich eingewirkt hat, welches ich sogleich nach dem Erwachen vor¬
nahm, während die Knechte den Kaffee bereiteten.
Große und zum Theil vollkommen abgerundete Steine, welche ringsum
zerstreut lagen, ohne Zweifel von mächtigen periodischen Anschwellungen des
Flusses dorthin geführt, wurden von uns als Tische benützt, und während
Jose Maria, der die Rolle des Kochkünstlers übernahm, einen derselben als
Küchentisch in Beschlag nahm, wurde der andre von mir zum Präparirtisch be¬
stimmt. Die Schlucht siel gegen Süd ab und theilte sich in mehre andre
Thäler, wahrend sie, gegen Nord aufwärts steigend, einige Stunden von un¬
srem Lager durch schneebedeckte Felsmassen geschlossen wurde.
Der Jäger und ich richteten uns ein grobes Tuch, in welchem ein Theil
der mitgebrachten Vorräthe eingeschlagen waren, zum Zelte zu, welches zwar
nur etwa den Kopf und einen Theil des Leibes bedeckte, und vorn und hinten
geöffnet war, indessen doch in etwas gegen den fallenden Thau schützte. Wir
hatten von Santjago Nägel mitgenommen, welche in einige Bäume geschlagen
wurden und zum Aufhängen der Instrumente, des Barometers, Thermometers
und Hygrometers, der Waffen und andern Utensilien dienten, und so war
unsre einfache Einrichtung bald vollendet.
Aehnlich wie in der Stadt wurde auch hier die Zeit eingetheilt, indem ein
Tag zum Sammeln, Jagen und Beobachten, der andre zum Präpariren und
Ordnen des Erworbenen bestimmt wurde. Bisweilen zusammen, Meist aber
vereinzelt .oder von einem der Knechte begleitet, unternahmen wir unsre Streif¬
züge, von welchen wir manchmal bei Zeiten, oft aber erst spät in der Nacht
heimkehrten, denn wir hatten die Umgegend bald so kennen gelernt, daß an
kein Verirren mehr zu denken war.
Große Gelehrte, sowie auch andre Reisende haben die Cordillera geschildert
und die mächtigen Eindrücke, welche sie auf den Besuchenden hervorbringt, und
ich glaube nicht, daß je einer derselben zuviel gesagt hat von der Großartigkeit
jener Massen. Der Charakter des wild Pittoresken ist zwar stets der vorherr¬
schende, aber in so unendlich vielen Abstufungen und häusig in so rascher Ab¬
wechslung, daß eben, wie mir dünkt, hierin einer der größten Reize jenes mäch¬
tigen Gebirges liegt. Das Gebirge steigt fortwährend terassenförmig in die
Höhe. Man steht auf einer solchen Terasse und vor uns steigt eine mit
Firnschnee allenthalben bedeckte Felswand an, die man unbedingt für den höch¬
sten Punkt, der Umgebung halten muß. Endlich ist es gelungen, nicht ohne
Gefahr einen Aufweg zu finden, man klettert an steilen Felsen, man geht über
tiefe, hartgefrorene Schneemassen, welche glücklicherweise eine Schlucht ausfüllen,
und der Fels, der'anfänglich immer höher zu werden scheint, je höher man
klimmt, ist endlich erstiegen. Man ist auf einer Ebene, wo sich kaum Schnee
befindet, ja wo vielleicht selbst hie und da eine einzelne Sarifraga am Gesteine
wuchert. Aber in einiger Entfernung steigt eine neue Felswand empor, mäch¬
tiger als die vorige und spottend jedem Versuche, sie zu ersteigen. Ist aber
bei einer oder der andern dies vielleicht doch gelungen, so wiederholt sich oben
das Schauspiel und man sieht, daß in einer unzähligen Menge solcher Ricsen-
stufen das Gebirge anwärts steigt. Häufig ist auf solchen Ebenen der lachendste
Sonnenschein und eine fast drückende Hitze, aber vom Rande des Plateaus
blickt man in ein Wolkenmeer, welches unterhalb" sich ausbreitet und aus
welchem, in der Sonne glänzend, nur einzelne schneebedeckte Spitzen hervor¬
ragen. Plötzlich, man weiß nicht wie, denn nicht der leiseste Luftzug regt sich,
sind die Wolken fast sämmtlich verschwunden, und nur <n einer schwarzen kra¬
terartigen Vertiefung mit steil abwärts fallenden Wänden, ist eine dichte Masse
derselben geblieben. Ohne Zweifel sind, solche Bildungen, die ich mehrfach ge¬
troffen, ausgebrannte Krater, oder wenigstens solche, die sich in tausendjähriger
Ruhe befinden. Man wartet, um von oben herab gemächlich ins Innere des
zu unsern Füßen liegenden vulkanischen Kessels blicken zu können, bis die
Wolken auch aus ihm verschwunden sind, aber plötzlich gerathen dieselben in
eine wallende Bewegung,- sie erheben sich, breiten sich aus und man ist rasch
und ehe man es vermuthet, selbst in eine Nebelschicht eingehüllt, so daß man
kaum auf einige Schritte zu sehen vermag. -
Schwer wäre in solchen Fällen der Rückweg zu finden, weilten jene Wol-
kenschichten lange auf ein- und derselben Stelle, aber rasch wie sie gekommen,
verschwinden sie auch wieder. —
Einen eigenthümlichen Eindruck machen die oft mehre Stunden langen
Felsenthäler, die bald mehr erweitert, bald aber so enge geschlossen sind, daß
ihre Sohle kaum zwanzig Schritt Breite hat. Während oben aus den Fels¬
kammer, welche die Thalwände bilden, eine freundliche Sonne ruht, ja, erlaubt
es der Stand derselben, Sonnenblicke oft bis ins Thal reichen, so ist nicht
selten die Schlucht durch eine dichte Wolkenmasse geschlossen, welche stundenlang
an ein- und derselben Stelle verweilt, bis sie sich gänzlich vertheilt oder ver¬
schwindet und ein doleritischer Kegel vor uns steht, der halb mit Gletschereis
bedeckt ist, welches das tiefe Schwarz des Gesteins noch mehr hervorhebt. Aus
solchen doleritischen oder basaltischen Kegelbergen brechen stets Quellen hervor,
oder stürzen sich von den scheeigen Wänden derselben herab, wie denn wol
überhaupt die meisten dieser wild und tiefgefurchten Thäler heftigen Wasser-
strömungen früherer Zeit ihren Ursprung verdanken mögen.
Auch der Proceß der Verwitterung hat an manchen Stellen stattgefunden
und theilweise eine eigne Erscheinung hervorgerufen. Größere, häufig von der
Sonne getroffene, bald wieder von ziehenden Wolken berührte Flächen nicht
ganz abschüssiger Felswände, sind mit verwittertem und zersetzten Gerölle be¬
deckt. Durch eigenthümliche plattenförmige Spaltung mancher Gesteine hat das
von oben herab kommende Wasser des gethauten Schnees sich hier bisweilen
gefangen, aus den verwitterten Felsarten ist Erde geworden, stets befeuchtet
durch nachsickerndes Wasser und so sind grünende Oasen entstanden unweit
der Grenze des Schnees, und mitten aus einer kahlen und sonst allenthalben
mit Gesteinfragmenten bedeckten Fläche. Eine mannshohe, gelb blühende, gin¬
sterartige Pflanze, eine Colletia, die Fabian« imbricata und einige Berbers-
arten bilden dort meist die Vegetation in dem sonst nicht selten sumpfigen
Grunde.
Während man aber längere Zeit in einer der geschilderten Schluchten ge¬
wandert, oder eine Felswand erstiegen hat, um von einer zweiten oder dritten
sich den weiteren Weg versperrt zu sehen und schon die Hoffnung aufgegeben
hat, für den Tag etwas Weiteres als Felsmassen, Wolken und Säure zu sehen,
biegt man um die Ecke eines Felsens, und bleibt plötzlich überrascht und ent¬
zückt stehen vor der prachtvollsten Fernsicht, die sich bietet. Weit weg über das
herrliche Chile bis an die Küste des Meeres schweift der Blick, nur begrenzt
durch den tiefblauen Himmel, der über jenem gesegneten Lande lacht. Auf eine
prachtvolle Weise wird aber das in der Sonne glänzende Flachland gehoben
durch die schwarzen Felsenmassen des Vordergrundes und die Gletschcrmasfen,
zwischen welchen hindurch sich jene Fernsicht öffnet. Der Mangel der Licht-
perspective von dem ich schon vorher gesprochen, kommt dem landschaftlichen
Bilde hier unendlich zu statten, und man möchte fast sagen, daß bei der Gro߬
artigkeit des Ganzen die Natur hier keiner beschönenden Tinten bedürfe.
Der unbegreifliche und fast erschütternde Zauber, der für manche Gemüther
in einer erhabenen und reizenden Fernsicht liegt, ist es aber nicht allein, was
in jenen Bergen so mächtig das Herz erhebt, es ist das wohlthätige Gefühl
absoluter Einsamkeit und Abgeschlossenheit, das Bewußtsein unbedingter persön¬
licher Freiheit und das Fernsein aller störenden Einflüsse, aller menschlichen
Kleinlichkeit und Lüge. Ich habe mich dort sicherer und fröhlicher gefühlt als
irgendwo, freilich ohne daran zu denken, daß man auch auf der Spitze der
Anden getäuscht und betrogen werden kann, wenn gleichwol nur pa,r ckistanee.
W. Zahn, die schönsten Ornamente und merkwürdigsten Gemälde von Pompeji,
Herculanum und Stabiä. Dritte Folge. Heft —6. Berlin, Dietr. Reimer.—
' Im Jahre 1830 empfahl Goethe die Anfänge dieses Zahnschen Werkes
dem Publicum durch eine Anzeige in Kunst und Alterthum, welche ein schönes
Zeugniß ablegt von dem frischen und klaren Blick, mit dem er auch als Greis
jede neue Erscheinung des Schönen auffaßte, und von dem ernsten und hohen
Sinn, mit dem er sie nicht als ein Vereinzeltes betrachtete, an dem man sich
vorübergehend ergötzen möge, sondern sie in den kunstgeschichtlichen Zusammen¬
hang einzureihen und in l'hrer Bedeutung für Kunst und Cultur zu würdigen
bestrebt war. Seitdem ist nicht nur die erste vamals begonnene Folge in
100 Blättern beendigt, sondern es hat sich ihr eine zweite von ebenfalls
100 Blättern angeschlossen und von einer dritten auf den gleichen Umfang
berechneten liegt die größere Hälfte in 6 Heften vor. Goethes Urtheil, daß
die Zahnschen Hefte gar mannigfaltigen Nutzen zu stiften geeignet seien, für das
Studium des Alterthums überhaupt und das der alten Kunstgeschichte beson¬
ders, dann aber auch durch ihren Einfluß auf die Praris hat sich seitdem voll¬
ständig bewährt. Das letztere lehrt schon eine Vergleichung dessen, was in den
verschiedenen Folgen in Hinsicht des Steindrucks in Farben geleistet ist, dessen
Vervollkommnung nicht zum geringsten Theil den Bestrebungen zuzuschreiben
ist, welche für die Herstellung dieser Tafeln gemacht wurden. Während in der
ersten Folge die meist schon recht sauber ausgeführten Tafeln über architektoni-
sche Ornamente fast gar nicht hinausgehen, ist in der zweiten schon der Ver¬
such mit Erfolg gemacht, auch solche Gemälde in Farben nachzubilden, welche
Figuren darstellen; doch sind dies einfache Darstellungen, einige jener reizen¬
den Gruppen schwebender Gestalten und ein auch durch seine sorgfältige Aus¬
führung sehr interessantes Gemälde, das aber durch die Behandlung der Farbe
verhältnißmäßig weniger Schwierigkeiten machte. Ungleich größer ist der Fort¬
schritt in der letzten Folge und die ausgeführten farbigen Tafeln, deren jede Lie¬
ferung eine enthält, sind Leistungen der Lithochromie, die in der That Bewun¬
derung verdienen. Es sind Gemälde ausgewählt, die der Megalographie
(historischen Malerei) angehören, in denen die menschlichen Figuren die Haupt¬
sache bilden und die sich durch ihre reiche und schöne Farbenwirkung auszeichnen.
Gleich das erste ist ein wahres Prachtstück. Venus, von einem Seecentauren,
der die Leier spielt, übers Meer getragen, geleitet von einer Nereide.
Amoren halten ihren Schleier, der sich zum Segel bauscht und den Ober¬
körper der Göttin in unverhüllter Schönheit sehen läßt; oben sind die Wind¬
götter sichtbar. Die Wirkung dieses Gemäldes ist wahrhaft blendend, aber
nicht minder schön und in der Ausführung gelungen sind Perseus und An-
dromeda, Venus und Adonis; auch die einfacheren Vorstellungen des von der
Siegesgöttin bekränzten thronenden Jupiter, der Penelope, welche den Freiern
den Bogen bringt, und eines schwebenden Satyrs mit einer Bachantin geben
ihnen nichts nach. Wenn man mit diesen Tafeln die farbigen Nachbildungen
pompejanischer Bilder vergleicht, welche Raoul Rochette für sein Prachtwerk in
den letzten Jahren in Paris hat anfertigen lassen, wird man mit Vergnügen
wahrnehmen, wieweit die Leistungen der« deutschen Lithochromie der französischen
sich hier überlegen zeigen. Allein auch die farbigen Tafeln in Ternites Werk,
so lobenswert!) sie auch sind, stehen doch den in der neuesten Folge des Zahn¬
schen Werkes gegebenen nach.
Die übrigen farbigen Tafeln, deren jedes Heft noch drei enthält, haben
mehr einen ornamentalen Charakter. Theils sind es ganze Wände oder Wand-
abschnilte, die in ihrem vollen Farbenschmuck vorgeführt werden (10 Tafeln),
theils einzelne im Großen ausgeführte Ornamente (3 Tafeln) oder farbige
Architektur (1 Tafel). Die Abbildungen von Mosaikfußböden sind mit Recht
beschränkt 0 Tafeln); unter diesen ist eine Borte von reichen Fruchtgewinden
und Masken, welche sich durch die geschmackvolle Anordnung und saubere
Ausführung gleich sehr auszeichnet. Uebrigens ist hier der Fortschritt der
technischen Ausführung durchgehend nicht in gleichem Maße hervortretend, wie
bei den ausgeführten Bildern, obgleich nicht zu verkennen ist, daß z. B. die
ganzen Wände meistens reich und brillant geschmückt sind. Als eine willkom¬
mene Zugabe der ornamentalen Darstellungen sind die beiden Tafeln anzu¬
sehen, welche sehr wohl ausgeführte Proben geschmackvoller Silber- und Bronze¬
gefäße geben.
Bei den nicht farbigen Tafeln sind die Ornamente so gut wie ganz zurück¬
getreten und die Nachbildungen großer, durch Composition und Gegenstand
anziehender Gemälde sind durchaus vorherrschend. Bei einer Sammlung, die
zunächst nicht antiquarische Zwecke, sondern vorwiegend das künstlerische Inter¬
esse im Auge hat, steht der Reiz des Neuen, früher noch nicht Bekannten in
zweiter Linie und eS kommt wesentlich darauf an, Schönes und Bedeutendes
getreu und würdig darzustellen. Mit welchem Eifer Prof. Zahn die günstige
Gelegenheit die Originalgemälde durchzuzeichnen benutzt hat, zeigen seine, wie
es scheint, unerschöpflichen Mappen; man darf darin auch die Bürgschaft für
die Zuverlässigkeit und Treue seiner Abbildungen finden, welche von den ma-
nierirten Stichen, wie sie z. B. das Museo Borbonico liefert, sich sehr
vortheilhaft unterscheiden. Auch erlaubt das große Format der Sammlung,
die Gemälde zum Theil in der Originalgröße, zum Theil in einem Maßstab
wiederzugeben, d/r aus den günstigen und wahrheitsgemäßen Eindruck von nicht
geringem Einfluß ist. Damit nicht zufrieden hat Prof. Zahn von einigen
ganz besonders ausgezeichneten Gemälden neben der verkleinerten Nachbildung
des Ganzen auch Durchzeichnungen der Köpfe und des Obertheils der Figuren
aus besondern Tafeln gegeben, was mit großem Dank anzuerkennen ist. So
sind von dem großartigen Bilde, das die Auffindung des von der Hirschkuh
ernährten Telephus darstellt, neben der vollständigen Abbildung — der besten,
die bis jetzt gegeben ist — die Köpse der Arkadia und des Pan auf einer und
die des Herakles und der Iris auf einer zweiten Tafel in der natürlichen,Größe
mitgetheilt. Die Gruppe des saugenden Telephus, die nach Göthe alles über¬
trifft, was in der Art je geleistet worden ist, war schon in der ersten Folge in
der Originalgröße abgebildet worden, so daß man nun von dem Ganzen sich
eine genügende Vorstellung zu machen in den Stand gesetzt worden ist. Eben¬
so ist mit den beiden trefflichen Gemälden, welche den Unterricht des Achilleus
im Leierspiel bei Chiron und Hercules mit Dejanira beim Centauren Ressus
vorstellen, verfahren worden; auch sind zu einigen schon in den früheren Folgen
gegebenen Abbildungen einzelne Figuren in der Originalgröße nachgeliefert
worden. Ohne Zweifel ist dadurch allen, welche in irgendeiner Hinsicht an
der Kunst des Alterthums ein ernsthafteres Interesse nehmen, ein wesentlicher
Dienst geleistet.
Bei einer Musterung der mitgetheilten Gemälde wird man im allgemeinen
mit der Auswahl zufrieden sein müssen;' im Verhältniß zu den beiden ersten
Sammlungen findet man des Bedeutenden und Wichtigen mehr, auch für Ab¬
wechslung ist gesorgt, um den Reichthum und die Mannigfaltigkeit dieser
Wandgemälde vor Augen zu stellen. Im einzelnen wird mancher statt dessen,
was ihm schon bekannt und zugänglich war, hier und da lieber anderes zu
sehen wünschen, wie denn z. B. die Darstellungen der Fischerin und der ver¬
lassenen Ariadne schon in den ersten Sammlungen sehr ähnlich sich finden;
auch das Opfer der Iphigenie, die Befreiung der Andromeda sind schon durch
wiederholte Abbildungen bekannt geworden. Indessen muß man anelkennen,
daß grade in dieser Beziehung die Wünsche sehr verschieden und von Zufällig¬
keiten abhängig sind und daß auch von schon bekannten Gemälden Abbildungen
in dieser 'Größe und von solcher Genauigkeit immer willkommen sind, wie sehr
man es auch bedauern muß, daß ungenügende und mittelmäßige Abbildungen
Geduld und Mittel der Käufer nur zu oft erschöpfen und dem Besseren den
Weg abschneiden.
Uebrigens fehlt es in dieser reichen Sammlung auch an ganz neuen
Mittheilungen keineswegs. Um weniger Wichtiges zu übergehen, sei es ge¬
stärket, zum Schluß aus-einen Cyklus von sechs zusammengehörigen Gemälden
aufmerksam zu machen, welche in einem im Jahr-I8i7 in Pompeji ausgegra¬
benen Hause gefunden worden sind und ebenso anziehend in künstlerischer Hinsicht
als interessant für die Kenntniß der Sitten und Cultur jener Zeit sind. Sie
beziehen sich sämmtlich aus Amor und Psyche.
Seitdem man Amor nicht allein als den Gott der Liebe, sondern als den
Gott der menschlichen Leidenschaft, deS gesammten Gemüthslebens, als den
Beseeler des Menschen auffaßte, mußte nothwendig die Vorstellung von diesem
Gott immer allgemeiner und demgemäß dehnbar werden, auf der andern Seite
aber auch individueller, weil Amor nun als der göttliche Urheber und Vertreter
aller Aeußerungen angesehen wurde, in denen nur menschliche Empfindung
und Leidenschaft sich kund gibt. Daher wurde der Gott, der nach sovielen
und so verschiedenen Seiten hin thätig und wirksam war, in ebensoviel
verschiedene Individualitäten geschieden, in denen sich nun alle nur denkbare
Richtungen des menschlichen Lebens spiegelten, und wie es zu gehen pflegt,
wurde namentlich durch den Einfluß der bildenden Kunst diese Repräsentation
des menschlichen Thuns und Treibens durch Amor auch auf das ausgedehnt,
was ursprünglich dem Wesen dieses Gottes fern lag. Wie nun die Seele,
das was im Menschen empfindet und fühlt, der Sitz seiner Macht war, so
wurde ihm, der alles persönlich auffassenden Weise der Griechen gemäß, die
Personification der Seele als ein junges Mädchen mit Schmetterlingsflügeln
(weil Psyche die Seele und den Schmetterling bedeutet) gegenübergestellt. Alle
Beziehungen, in welchen man die Seele des Menschen der Liebe und der
als Gottheit gedachten Kraft zu empfinden gegenüber nur denken mag, hat die
griechische Kunst in der Vereinigung von Amor und Psyche ebenso fein als
schön darzustellen gewußt. Allein sowie aus dem einen Amor eine zahllose
Schar von Amoren wurde, so gesellte mau diesen nun auch .ebensoviel«
Psychen bei; und wie die Vorstellungen des Staats, der Familie, überhaupt
aller Bedingungen menschlicher Eristenz auf die Götter übertragen wurden oder
vielmehr in den Göttern ihren höchsten Ausdruck fanden, so sehen wir nun eine
Familie oder Gesellschaft von Amoren und Psychen, in denen sich das mensch¬
liche Leben in allen Erscheinungen wiederspiegelt, je nach dem Geist der
Zeit und der Auffassung des Künstlers bald ernst und tief, bald heiter und
frivol.
In dem letzten Sinne zeigen uns nun diese sechs Gemälde eine Gesell¬
schaft von Amoren und Psychen, welche sieh mit völliger Unbefangenheit einem
heiteren Lebensgenuß ergeben, der mit allen Reizen eines raffinirten Lurus
versehen ist, wie ihn die Zeit unter den römischen Kaisern kannte. Drei Ge¬
mälde zeigen uns die lustige Gesellschaft unter einem aufgespannten Zeltdach
beim frohen Mahl; die Speisen sind abgetragen auf dem ersten, auf einem
Tischchen stehen die Trinkgeschirre, ein Amor bläst die Doppelflöte, einer
trinkt, der dritte schlägt fröhlich ein Schnippchens ein zärtliches Paar schickt
sich zum Küssen an; dienende Amoren und Psychen stehen umher. ' Auf dem
zwntcn tanzt vor den gespannt zuschauenden Tischgästen eine Psyche im durch¬
sichtigen Gewände mit Castagnetten einen Tanz, zu dem ein Amor auf der
Querflöte bläst; auf dem dritten ist ein aufgeschürzter Amor mit einer spitzen
Amphora im Arm der Tänzer nach dem Schall der Leier, die ein anderer
Amor spielt; ein dritter klatscht Beifall, das zärtliche Paar vergißt den Tän¬
zer. So dürfen wir uns die Zerstreuungen denken, deren sich beim Mahl
wohlhabende und lebenslustige Leute derzeit erfreuten.
Feiner und geistiger sind die Unterhaltungen, welchen wir auf dein anderen
Gemälde begegnen. Auf dem einen ist eine Psyche, im langen Gewände und
festlich geschmückt, dargestellt wie sie sich als Virtuosin auf einer vielfältigen
Leier hören läßt, während eine mehr untergeordnete sie mit den Cymbeln
bekleidet; mehre Psychen und ein Amor als Preisrichter oder Mitbewerber um
den Preis sind zugegen. Auf dem entsprechenden Bild bläst Amor, ebenfalls
im langen Gewände der Künstler, mit Eifer die Doppelflöte, neben ihm steht,
offenbar als Nebenbuhlerin, Psyche mit einer Flöte, umher die übrige schon
bekannte Gesellschaft mit allen Zeichen eines in eifriger Spannung lauschenden
Auditoriums. Endlich zeigt uns das dritte.die Vorbereitung zu einem Schau¬
spiel. Ein Amor, bereits angezogen, in der einen Hand die Maske eines
bärtigen Greises, in der anderen einen Krummstab, hört auf die Worte eines
zweiten, der ihm lebhaft zuspricht. Ein anderer, ebenfalls schon im langen
Gewände, hat sich gesetzt und bindet sich eilig die Schuhe zu; hinter einem
Tisch, auf dem zwei Masken liegen, wird noch Psyche sichtbar.
Das sind recht eigentliche Genrebilder, mitten aus dem unmittelbarsten
Leben der Gegenwart herausgerissen; allein dadurch, daß Amoren und Psychen
handelnd auftreten, kommt ein eigenthümliches Temperament in dieselben,
durch welches sich alte und moderne Kunst bestimmt scheiden.
Aus die östreichische Note, die unsren Patriotismus so lebhaft afficirte,
ist nun auch die preußische Antwort veröffentlicht worden. Wenn das diplo¬
matische Geschäft ein Spiel des Witzes wäre, bei welchem es vorzugsweise
darauf ankäme, dem Gegner durch geistvolle Einfälle zu imponiren und ihn
durch scharfsinnige Combinationen außer Fassung zu setzen, so würde uns diese
Note in hohem Grade befriedigen; denn sie ist in der That mit großer Feinheit
und selbst mit Grazie geschrieben. Auf den ungestümen, herausfordernden Ton
Oestreichs wird mit der höflichen Ironie einer seinen Bildung erwidert und in
der Art und Weise, wie die Gründe für und wider in Reihe und Glied gestellt
werden, verräth sich ohne Zweifel die Metropole der Intelligenz, das Adoptiv-
vaterland der Hegelschen Philosophie.
Wir glauben aber nicht, daß die Entfaltung gebildeter Formen der Haupt¬
zweck der Diplomatie sein kann. Es kommt uns das grade so vor, als wenn
in einem tödtlichen Duell der eine der Kämpfer seinen Gegner und die Zeugen,
die eben einen kräftigen Stoß erwarten, durch ein zierliches Pas überrascht.
Dergleichen wird in der edlen Fechtkunst wol auch eingeübt, aber doch nicht,
um bei dem wirklichen Kampf in Anwendung gebracht zu werden. In Bezie¬
hung auf die Sache selbst, der durch die östreichische Note eine so bestimmte
Richtung gegeben war, sagt die preußische Note nichts; wenn wir nicht etwa
den einen Passus sür eine versteckte Anspielung aus das, was Preußen eigent¬
lich wünscht, halten wollen. Preußen erinnert nämlich Oestreich daran, daß
es bei einer früheren Gelegenheit, welche das Interesse Deutschlands viel leb¬
hafter berührte als die Freiheit der Donauschiffahrt, mit seinen Unternehmun¬
gen sür Deutschland an dem Widerstand des gestimmten Europa, Oestreich mit
Inbegriffen, gescheitert sei. Die Anspielung ist bitter und vollkommen richtig,
aber die preußische Regierung erklärt sich nicht darüber, was sie daraus für
Folgerungen zieht. Denn unmöglich können wir es so 'verstehen, als wollte
Preußen diese Gelegenheit benutzen, um seinerseits den deutschen Absichten
Oestreichs in den Weg zu treten, wie man im gemeinen Sprichwort sagt:
schlugst du meinen Juden, so schlage ich deinen Juden. Wenn aber Preußen
damit auf die Eventualität hindeuten wollte, unter der es sich an dem Unter¬
nehmen Oestreichs betheiligen würde, so hat es nach unsrer Ansicht diese Wei¬
sung nicht bestimmt genug gegeben, die allerdings das Zweckmäßigste wäre,
was Preußen in dieser Frage thun könnte. Wenn Preußen für seine Bethei¬
ligung an der orientalischen Frage den Wiedergewinn der Herzogtümer für
Deutschland als Preis stellt, so wollen wir mit vollem Herzen auf seine Ideen
eingehen und gern alles zurücknehmen, was wir über seine bisherige Politik
gesagt haben.
Allein mit bloßen Anspielungen wird sich die Sache wol nicht erledigen
lassen, umsoweniger, als Preußen über die Freiheit der Wahl, die ihm gelassen
ist, in einem verhängnißvollen Irrthum zu schweben scheint. Wenn englische,
französische und östreichische Blätter Preußen wegen seines Zögerns überhaupt
getadelt haben, nicht wegen der besondern Art seines Zögerns, so waren sie
gewiß im Unrecht. Preußen stand der orientalischen Frage am entferntesten
und es setzte bei einem Kampf das meiste aufs Spiel. Es war daher voll¬
kommen in der Ordnung, wenn es sich vorher darüber Gewißheit zu verschaffen
suchte, daß es später nicht den Kampf allein auszufechten haben würde. Erst
mußten England und Frankreich aus eine Weise in dem Kampf engagirt sein,
daß an ein Zurückgehen nicht weiter zu denken war. Erst mußte Oestreich aufs
klarste und bestimmteste seinen Willen erklärt haben, ehe Preußen daran
denken konnte, die alte Bundesfreundschast mit Rußland zu brechen. Aber die¬
ses Zögern mußte aus'eine Weise geschehen, daß bei dem Eintritt dieses Falles
der Credit Preußens überall feststand; daß die Bedingungen und die Formen
der neuen Verbindung von vornherein festgestellt waren: und das ist nicht
geschehen. Die Stimmung der Verbündeten gegen Preußen ist gegenwärtig
von der Art, daß ein Federgewicht den Ausschlag darüber geben kann, ob die
Verbündeten mehr Preußens Feindschaft oder Preußens Freundschaft suchen.
Dies scheint die preußische Regierung völlig übersehen zu haben. Zwar sind
die Westmächte durch ihre nationale Ehre jetzt so in den Krieg verwickelt, daß
sie ihn ohne einen bedeutenden Erfolg nicht ausgeben können. Allein wenn
der Verdacht, der jetzt schon lebhast rege wird, Preußen halte es geheim mit
Rußland, sich nicht schnell beseitigt, so könnten sie leicht bei sich selbst über¬
legen, daß in Deutschland größere Lorbeeren zu erwerben feien als in der
Türkei. Die deutsche Presse, die gegenwärtig für die Westmächte und für
Oestreich Partei nimmt, stellt sich zuweilen die Sache gar zu sanguinisch vor,
als ob sich die Staatsmänner in Downingsstreet und in den Tuilerien aus den
verhärteten Egoisten, die sie bisher waren, plötzlich in Seraphim und Cherubim
verwandelt hätten, die nur für das Interesse der Menschheit schwärmten. Na¬
poleon lit. hat die Geschichte seines Oheims sehr gründlich studirt und weiß
ganz genau, wie es im Frieden von Tilsit zugegangen ist.
Ueber die Mittel aber, gegen Preußen und Rußland zugleich zu Felde zu
ziehen, kann kein Zweifel obwalten. Wer etwa noch nicht klar darüber sein
sollte, der lese das Schriftchen: „Schreiben an den Kaiser der Fran¬
zosen in Betreff der orientalischen Frage. Aus dem Französischen. Leipzig,
Nemmelmann." Wenn auch Herr von Persigny im gegenwärtigen Augenblick
keine officielle Stellung bekleidet, so drückt er doch ein sehr wesentliches Mo¬
ment im System des Napoleonismus aus; ein Moment, welches sich ohne
Zweifel Geltung verschaffen wird, sobald sich die bisherigen Voraussetzungen
als trügerisch erweisen.
Noch nach einer andern Seite hin dürften die Voraussetzungen Preußens
irrig sein; nämlich in Beziehung aus das Verhältniß der beiden Großmächte
zum deutschen Bund. Die (officielle) Leipziger Zeitung bringt darüber in ihrer
neuesten Nummer eine ziemlich weitläufige Auseinandersetzung, deren Schluß-
folgerungen wir 'aber nicht verstehen. Der Versasser stellt es als unangemessen
dar, wenn man auf dem Bundestage in Beziehung auf die orientalische Frage
dahin streben wollte, eine Majorität hervorzubringen; es müsse vielmehr so ein¬
gerichtet werden, daß allen verschiedenen Interessen der deutschen Mächte Rech¬
nung getragen werde. Nun sind wir damit zwar insofern einverstanden, daß
wir es für nothwendig halten, alle die verschiedenen Interessen zu Rathe zu
ziehen, aber zuletzt muß doch ein Ende gefunden werden. Daß dies nicht in
der Weise eines Majoritätsbeschlusses, wo die deutschen Fürsten nach der Kopf¬
zahl abstimmen, geschehen kann, versteht sich von selbst.' Aber irgendein Mittel
muß doch die Bundesversammlung kennen, einen definitiven Beschluß auch
über die auswärtige Politik zu Stande zu bringen.
Denn wenn das nicht der Fall wäre, so bliebe nichts Anderes übrig, als
das, was die preußische Negierung schon lange vorgeschlagen, wogegen sich
aber die sächsische Regierung mit großer Lebhaftigkeit ausgesprochen hat, näm¬
lich das Princip des freien Bündnisses, oder anders ausgedrückt, der ni» in
Parkes. Dies Princip würde aber für den Fall eines Krieges nichts Anderes
heißen, als Auflösung der Bundesverfassung, Rheinbund u. s. w.
Auch diesen schrecklichen Fall, der aber doch unzweifelhaft im Gebiet der
Möglichkeit liegt, muß sich die preußische Regierung sorgfältig überlegen. Ist,
in diesem Fall die Wahrscheinlichkeit vorhanden, daß die Mehrzahl der deutschen
' Fürsten zu Preußen hält? — Wir sagen mit Bestimmtheit Nein.
Das Interesse sämmtlicher deutschen Fürsten, vom Kaiser von Oestreich
bis zum Großherzog von Hessendarmstadt, erheischt mit unerbittlicher Logik, daß
Preußen nicht vergrößert, daß es womöglich verkleinert werde. Abgesehen von
den speciellen Wünschen einzelner Staaten, z. B. in Beziehung auf Schlesien,
aus PreußM-Sachsen, auf die Rheinprovinz u. s. w. wissen alle deutsche Re¬
gierungen sehr wohl, daß es, ganz abgesehen von der Persönlichkeit des Mon¬
archen und seiner Minister, in der Tendenz des preußischen Staates, dessen
einzelne Besitzungen auf das wüsteste durcheinandergeworfen sind, nothwendig
liegen muß, sich, nach den, Kunstausdruck des vorigen Jahrhunderts, zu arron-
diren, d. h. sich auf Kosten seiner Nachbarn zu vergrößern. Diese vom preu¬
ßischen Wesen unzertrennliche Tendenz stimmt natürlich sehr schlecht zum Inter¬
esse seiner Nachbarstaaten. Solange Deutschland als eine Einheit auftritt
oder solange Preußen durch das nationale Bewußtsein des Volks getragen
wird, tritt dieses Interesse zurück und' wird durch den allgemeinen Patriotismus
zum Schweigen gebracht. Sobald aber das staatsrechtliche Band Deutschlands
sich auflöst, sobald die nationale Stimmung sich nicht deutlich ausspricht oder
sich wol gar gegen Preußen wendet, tritt augenblicklich das natürliche Interesse
wieder hervor, und wir glauben mit mathematischer Gewißheit den Schlußsatz
feststellen zu können: daß es in diesem Fall sämmtliche deutsche Staaten, viel¬
leicht die kleinen Unionsstaaten ausgenommen (und auch von diesen ist es sehr
zweifelhaft), es mit Oestreich und gegen Preußen halten werden: gleichviel, was
dieser letzten Entscheidung vorausgegangen ist.
Wir wiederholen noch einmal, daß wir es auf das lebhafteste hoffen und
wünschen, eine solche Eventualität möge nie eintreten. Allein die preußische
Regierung, wenn sie sich eine Wahl zwischen Oestreich und Rußland als mög¬
lich denkt, muß sie doch in Rechnung bringen, und ein Rechnungsfehler wäre
hier gradezu der Untergang des Staates.
Seit drei Tagen hat der heftige Sturm nachgelassen, welcher eine ganze
Woche hindurch die Fluten des Eurin aufwühlte und für lange Zeit die eben
jetzt so unschätzbar wichtige Verbindung dieses Platzes mit Konstantinopel
sowol, wie mit den Gegenküsten, im besonderen mit der Krim aufhob. Denn
kein Dampfer wagte den Ankergrund von Varnabay zu verlassen, und anderer¬
seits hatte der Telegraph auf dem weit vorgreifenden Cap Galata nur flüch¬
tige Kauffahrer zu signalisiren, die, vor Top und Takel treibend, die hohe
See zu halten suchten oder bemüht waren, die sichere Bucht von Burgas zu
gewinnen. Dermaßen war das Meer aufgestürmt, daß die Wellen hoch an
dem Steilufer hinanliefen, mit dem der Strand bei Varna zur See abstürzt
und dann und wann weiße Schaumflocken über die Mauer sprühten, welche
die Festung auf der Wasserseite abschließt.
Man schifft eben weitere Truppenmassen nach der Krim ein, und, wenn
ich recht berichtet worden bin, werden von den 13,000 Mann, die sich in
Varna und dessen Umgegend noch befinden, mindestens 10,000 Mann den
alliirten Erpeditionsarmeen nachgesendet werden. In Uebereinstimmung mit
dieser Maßregel sind Befehle nach Gallipoli abgefertigt worden, die sämmtliche
dort zurückgebliebene Streitkräfte ebenfalls nach der Halbinsel beordern.
Auch höre ich, daß man in Stambul die Einschiffung von 3000 Mann tür¬
kischer Reservetruppen für die Krim vorbereitet.
Die Macht, welche bis dahin nach der Krim geworfen worden ist, kann
auf etwa 63,000 Mann angeschlagen werden. Man dürfte nicht zu hoch
greifen, wenn man annimmt, daß der Nachschub von hier aus, von Stambul
und Gallipoli, sie auf 83—90,000 Mann bringen wird, d. h. auf ein Stärke¬
maß, welches für alle Vorkommnisse ausreichend sein wird. Denn es man¬
gelt den Russen an dem nothwendigen Unternehmungsgeist, um einen bedeu¬
tenden Theil der Donauarmee nach dem Isthmus von Perekop zu transpor-
tiren; auch dürfte dies, nachdem man ungenützt die Monate August und
September hat verstreichen lassen, jetzt nicht mehr möglich sein.
Der Tod des Marschall Se. Arnaud wurde hier am Sonntag (I.October)
Abends bekannt, und hat nicht verfehlt, einiges Aufsehen zu erregen, wenn
auch der Verstorbene nicht eben die Liebe der französischen Armee besaß. Man
sagt ganz laut, daß der Kaiser Napoleon M. sich zu diesem Trauerfalle Glück
zu wünschen habe. Wie Sie sich denken' können sind die militärischen Vor¬
gänge in Taurien Gegenstand aller Gespräche im hiesigen Lager. Man dis-
cutirt mit Lebhaftigkeit die Frage: wann Sebastopol fallen werde, und die
französischen Hcißköpse wollen kaum bis zur Mitte des Monats warten; früher
indeß dürfte auf keinen Fall das große und heiß erwünschte Ereigniß eintreten.
Omer Pascha hatte aus seinem Hauptquartier zu Bukarest einen jungen
türkischen Generalstabshauptmann hierher gesendet, um sich von hieraus über
die Vorgänge auf der wünschen Halbinsel Bericht erstatten zu lassen. Der
junge Offizier konnte indeß hier so wenige Nachrichten von wirklichem Werthe
einziehen, daß er es vorzog, sich nach dem fraglichen Kriegsschauplatz selbst
einzuschiffen. Am Sonnabend ging er auf einer türkischen Dampfsregatte dahin
ab. Ich führe dies absichtlich an, um Ihnen damit die Schwierigkeiten zu
bezeichnen, welche es hat, sich anderwärts als an Ort und Stelle über die
Ereignisse zu orientiren.
Fragt man französische und englische Offiziere, so erfährt man in der
Regel nur Anekdoten. Die Franzosen nehmen ausschließlich nur Infanterie
und Artillerie mit sich, die Engländer aber außer diesen beiden Waffen auch
ein 300 Pferde starkes Cavalerieregiment. Die Thiere waren von der
Meerfahrt und den Mühen des Aus- und Einschiffens stark mitgenommen
worden; als in dem Treffen bei Alma die Zuaven neben dieser Truppe zum
Angriff vorgingen, konnten sich daher die leichtfüßigen Franzosen im pas A^m-
NÄLtiqus ebenso schnell wie die berittenen Engländer bewegen. Der Comman¬
deur der letzteren wendete sich erstaunt um und sagte: „zum Teufel sind denn
diese FranzmÄnner zu Pferd?"
In diesem Augenblick bietet Varna und die weite Bay im Nordergrunde
noch einen bewegten Anblick dar. Die Ebene und die darüber hinausliegen¬
den Berge, ringsum bedeckt mit den weißen Zelten der hier im Lager stehenden
französischen Division und englischen Cavalerie, auf der Rhede mehr als
100 Transportschiffe und Dampfer, dazwischen ein Gewimmel von Booten
und Barkassen, das ist ein Bild, zu dem man in diesem Augenblicke
wol nur auf dem Ufer der Krim selbst das Gegenstück finden mag. Auch in
anderen Tagen, wo mindestens ebensoviel Truppen in der Stadt und Um¬
gegend standen, nämlich noch vor Abgang der Armada, war es nicht so geräusch¬
voll innerhalb der weißen Festungsmauern. Der Tod hatte seine.schwarzen
Fittige über Stadt und Lager ausgebreitet; täglich starben über Hunden Men¬
schen an der Cholera und dem Sumpffieber. Diese Plage ist nunmehr gewi¬
chen; der Gesundheitszustand ist ein vortrefflicher geworden, und man begräbt
täglich kaum noch vier oder fünf Mann.
Der Winter wird in diesem Jahr für die Länder im Norden vom Balkan
und an beiden Ufern der untern Donau früher eintreten als sonst, und allem
Vermuthen nach wird er streng werden. Den vergangenen Monat, und zwar
schon in den ersten Tagen desselben sah man in der Walachei die Störche und
andre Zugvögel gen Süden ziehen. Rußland wird aus solchem Vorkommniß
indeß schwerlich Vortheile ziehen. Von der Donau ist es ein und für alle
Mal abgedrängt; höchstens daß es im Stande wäre, in die Dobrudscha ein¬
zubrechen, um von hier aus aufs neue seine Kräfte an Silistria zu versuchen,
welches noch vor Beginn der kalten Jahreszeit völlig wiederhergestellt und
stärker wie jemals sein wird.
Sie werden meinen Blies aus Warna vom ö, August erhalten haben.
Damals waren es die Vorbereitungen zu der großen Pontischen Erpedition,
auf welche ich Ihre Aufmerksamkeit hinzulenken bemüht war. Während die Um¬
stände mir ein mehr als zweimonatliches Schweigen auferlegten, ist die große
Armada aus den Buchten von Rama und Baltschik abgesegelt, hat auf russi¬
schem Territorium KS,000 Mann aus Land gesetzt, und diese Armee wiederum
hat eine große Schlacht geliefert, infolge derselben Sebastopol umschlossen
und die Angriffsarbeiten gegen den Platz begonnen. Das sind Ereignisse, die
schwerer wiegen als alles, was sich seit Ausbruch des großen Weltkrieges zu¬
getragen und deren Consequenzen vorerst kein Auge zu übersehen vermag.
Die Zeit bis zum Abgang der Flotte war die letzte Frist, welche die West¬
mächte ihrem Gegner gelassen. Im August und den ersten Tagen des Sep¬
tember wäre es dem Kaiser Nikolaus noch möglich-gewesen, einzulenken, und
allerdings mit Opfern, aber mehr doch mit moralischer als materieller Einbuße,
sich aus den Schlingen herausznwickeln, in welche eine verblendete Politik ihn
hineingeführt hatte. Wie die Dinge sich seitdem gestalteten kann es indeß
für niemanden mehr zweifelhaft sein, daß die Zeiten einer möglichen Aus-
gleichung nunmehr vorüber sind, und zwar für innert Einmal in der Krim
engagirt, können England und Frankreich den großen Kampf nicht anders
als mit einem Frieden beschließen, in welchem Rußland die Halbinsel an das
osmanische Reich oder zur freien Verfügung der türkischen Verbündeten abtritt,
was.wiederum soviel heißt, als auf alle orientalischen Eroberungspläne nicht
nnr, sondern selbst auf jeden bestimmenden Einfluß in dieser Weltgegend zu
verzichten. Daher der allgemeine Glaube, welcher sich erst seit der Landung
consolidirte, daß wir am Anfang einer unabsehbaren Kriegsepvche stehen, deren
Dauer nur nach dem Maß der größeren oder geringeren Zähigkeit gemessen
werden kann, welche Nußland den alliirten Mächten entgegenzusetzen im Stande
sein wird.
Ich will es mir hier zur Aufgabe stellen, in diese verwickelte Frage tiefer
einzugehen und zu ermitteln, welches Kraftaufwandes Rußland für d.le nächste
Zukunft fähig ist. Dann aber: auf wie lange Zeit derselbe zum Widerstand
gegen die Angreifer ausreichen wird.
Ich lege meiner Untersuchung hier mit Absicht die Angaben des Herrn
von Harthausen zu Grunde, weil dieser Schriftsteller auch den Nussenfreunden
als eine gute Autorität gilt und man mir, bei seiner notorischen Vorliebe für
Nußland, nicht den Vorwurf machen kann, ich ginge lediglich vom Standpunkt
der Gegenpartei aus. Nun schlägt aber Harthausen die kriegsbereite russische
Armee in seinen bekannten „Studien" auf
an, wozu, je nach Bedürfniß,
treten.
, Dieses Bedürfniß ist, wie unzweifelhaft feststeht, seit Beginn des Feldzugs
und im besondern nach der Kriegserklärung der Westmächte eingetreten; und
zwar sind jene Reserven nicht als neue geschlossene Truppenkörper ans dem
Kriegsschauplatze aufgetreten: sondern man hat sie verwendet, um damit die
Lücken, welche Gefechte, Desertion und im besonderen Krankheit in den Reihen
der Linienbataillone gerissen hatten, auszufüllen.
Der in die Organisation der russischen Wehrkräfte Uneingeweihte wird
nicht umhin können, über das Mißverhältniß zwischen dem numerischen Bestand
der Reservetruppeu gegenüber der Linie erstaunt zu sein, obwol dieses Mißver¬
hältniß ohne Frage noch ein weit größeres ist, als aus Harthausenö Angaben
hervorzugehen scheint. Im Gegensatz zu der in Preußen durchschnittlich auf
zweiundeinhalb Jahre anzuschlagenden Dienstzeit hat nämlich der russische Sol¬
dat fünfzehn Jahre zu dienen, was soviel sagen will, als daß aus den Reihen
der preußischen Linie unter zwei bis drei Mann jährlich einer in die Reserve
übertritt, während dies im Zarenreich erst auf den fünfzehnten Mann Anwen¬
dung findet. Mit andern Worten: Preußens Armeeorganisation erlaubt, bei
gleicher Stärke der'Bataillone und Schwadronen, aus jedem dieser Truppen¬
theile jährlich den sechsfacher Betrag an Reserven auszubilden. Aber dieser
Unterschied ist vorerst nur als Resultat eines flüchtigen Ueberschlags anzusehn;
nach reiflicher Erwägung der Nebenumstände wird er sich noch als bedeutend
größer herausstellen. Denn man darf offenbar nicht unberücksichtigt lassen,
daß die Gesammtzahl der jährlich zur fünfzehnjährigen Dienstzeit in Rußland
Ausgehobenen während derselben durch Sterblichkeit vermindert wird und bei
der anerkannt schlechten Verpflegung, den Hungermärscheu und Strapazen
wahrscheinlich nur die Hälfte ihre Entlassung erlebt. /Außerdem wird aber der
fünfzehn Jahre dienende russische Soldat an Manneskraft nicht im entfernteste,!
mit dem rüstigen preußischen Kriegsreservisten und Landwehrmann ersten und
zweiten Aufgebots zu vergleichen sein. Im besten Falle ist er eine geschwächte,
wenn nicht völlig auögebrauchte, aufgeriebene .Kraft.
Eine Armeereserve, die so langsam erzeugt wird, besitzt nicht die Fähigkeit,
im Fall gehabter Verluste sich schnell wieder zu completiren. Darum kann im
Laufe eines langdauernden Kriegs der Zar nur während der ersten Jahre aus
dieser Institution Nutzen ziehen. Später wird er darauf angewiesen sein, seine
Armee durch Recrutirung zu ergänzen; man weiß indeß, daß dieses letztere
Auskunftsmittel nur ein halbes ist, denn der gemeine Russe ist im Grunde ge¬
nommen nicht kriegerischer Natur und eignet sich schwer, und meistens erst nach
längerer Zeit, soldatische Eigenschaften an.
Aus diesen Umständen schreibt es sich her, daß der Krieg für Rußland'
eine unter allen Umständen den Staatskörper schwächende Action ist, daß man
im Zarenreiche außer Stande ist, wie in andern Ländern eine Armee durch
den Gebrauch zu erziehen, und daß es jener Macht gradezu unmöglich fallen
dürfte, einen Kampf, mit dem westlichen Europa auf die Dauer zu führen,
wenn anders es sich dadurch nicht den alleräußersten Gefahren preisgeben will.
Die Beweise hierfür können aus der Geschichte der letzten fünfzig Jahre
entnommen werden. Es ist allbekannt, daß Rußland der Invasion des Kai¬
sers Napoleon im Jahre -18-12 nur 230,000 Mann entgegenstellen konnte; von
den i-10,000 Mann, von welchen damalige Berichte reden, standen -180,000
Mann, wie später nachgewiesen worden, nur auf dem Papier. Und doch war
dies eine Kraftzusammennahme im Innern des Landes, d. h. für die Concen-
trirung der Massen unter den günstigsten Umständen.
In den Jahren -18-13—-Is mußte dem Kaiser Alexander alles darauf an¬
kommen, russischerseits die größtmögliche Stärke zu entfalten. Europa ging
einer großartigen politischen Reorganisation entgegen, das „Gleichgewicht" deö
Welttheils sollte nach neuen Bestimmungsgründen festgestellt werden, und der
schlaue Schwärmer kannte die Welt zu gut, um nicht zu wissen, wie sehr in
politischen Fragen der Nachdruck entscheidet, den man im materiellen Sinne
seinen Forderungen zu gehen vermag. Nußland hatte also allen Grund zu
einer 'Hauptkraftanstrengung, und das Resultat derselben waren — -140,000
Mann, mit denen es seine Wiener Unterhandlungen zu stützen suchte.
Diese Belege sind sicherlich schlagend; am nächsten und frischesten aber
steht in unsrer Erinnerung Rußlands Schwäche während der Jahre -1830 und
-I83-I. Dermaßen hatte der nur zweijährige Türkenkrieg (-1828 und 29) die
Kräfte des großen Reiches consumirt, daß man dem aufstehenden Polen nur
mit Mühe und indem man Einäugige und Lahme in die Reihen aufnahm,
eine Armee von 90—-100,000 Mann entgegenstellen konnte. Und man bezwang
,es letztlich nur unter Beihilfe des Vorschubes, den Preußen den Operationen
des Feldmarschalls Paskewitsch leistete (Weichselübergang oberhalb Thorn).
In den seitherigen Kämpfen, im besondern aber durch Krankheiten, hat die
russische Donauarmee bis Ende Sommers einen Verlust von mindestens 70,000
Mann gehabt; die Einbuße der Corps von Odessa und der Krim belief sich,
gering angeschlagen, auf 25,000 Mann; bis Mitte vorigen Monats hatte
,zA Ä 'irr. l>u-?>'uK n-,fs,tü^<j'it, ii^'/ki? in'i ni^ „Art,^
demnach, während der Krieg erst zehn Monate gedauert, ein Ausfall von
nahezu 100,000 Mann stattgefunden, ungerechnet was man in Asien verloren.
Zur Füllung dieser unermeßlichen Lücke hat der Zar bis dahin die Reserve
verwendet; mit andern Worten: von den circa 200,000 Mann dieser Truppen
ist die volle Hälfte der Linienarmee zu deren Ergänzung eingereiht worden, und
es verbleiben darnach, für denselben Zweck, nur noch 100,000 Mann, welche,
wenn die Opfer des nächsten Feldzuges von gleichem Umfange sind, in weiteren
zehn Monaten einzureihen sein winden, um die neuen Ausfälle zu decken. Um
diese Zeit wird Nußland über keine intacter Reserven mehr verfügen und sich
in der Nothwendigkeit befinden, die Ergänzung lediglich durch Necrutcnauö-
hebungen zu bewirken.
Hiermit dürfte, auch der räumlichen Gestaltung und den sonstigen Chancen
nach, eine neue Epoche für den großen Kampf ihren Anfang nehmen. Schwer¬
lich wird der Zar alsdann noch im Stande sein, den Nertheioigungskreis soweit
zu spannen als dies jetzt noch geschieht. Das System der Grenzvertheidigung
wirb aufgegeben und die Entscheidung weiter nach dem Innern zurückverlegt
werden müssen, was wiederum nicht anders denkbar ist, als daß man eine
Provinz nach der andern aufopfert. Es ist auf Grund dieser Ueberzeugung,
daß ich hier die Behauptung aufstelle: der Verlust der Krim ist die erste aus
einer langen Reihe andrer Einbußen, welche Nußland zu erleiden haben wird, wenn
anders die kriegführenden Mächte einig bleiben. Auch Preußens und Oestreichs
hilfsbereite Politik werden es davor nicht zu- retten vermögen, es sei denn, daß
beide Mächte als offene Verfechter der russischen Sache in den Kampf mit eintreten.
Diese Eventualität nun ist eS eben, um die sich in diesem Augenblick alle
Zweifel gruppiren. Kommt in Oestreich und Preußen die richtige Einsicht in
ihre wahren Interessen zur Geltung , so kann den Zaren nur ein baldiger,
allerdings die Ehre seiner Politik bloöstellender Frieden davor bewahren, sein
Reich außer der Krim auch Polens, Finnlands, Befsarabiens und der kauka¬
sischen Länder beraubt und zu einer Macht zweiten Ranges erniedrigt zu sehen.
Das erste der genannten Bücher befriedigt ein wesentliches Bedürfniß der
Literaturgeschichte zweckmäßiger als eine ausführliche Biographie des Dichters.
Der Verfasser hat im kurzen, gedrängten Auszug auf der einen Seite die Er¬
lebnisse des Dichters, aus der andern die Entstehung seiner Gedichte in chro¬
nologischer Ordnung zusammengestellt, so daß man sich mit der größten
Bequemlichkeit in allen Fällen über den Zusammenhang des einen mit dem
andern orientiren kann. Wir können daher den Wunsch des Verfassers , die
kleine Schrift möchte als Supplementband zu allen Gesammtausgaben Goethes
dienen, nur theilen. —
Was das Jahrbuch betrifft, so hat dasselbe mit dem zweiten Heft eine noch
bestimmtere Physiognomie gewonnen; es beschäftigt sich dies Mal ausschließlich
mit der deutschen Literaturgeschichte und bringt eine Reihe werthvoller und inter¬
essanter Abhandlungen, die von allen Freunden der Literatur ins Auge ge¬
saßt zu werden verdienen. Die meisten derselben beschäftigen sich mit der Zeit
deö 17. Jahrhunderts und den zunächstliegenden Perioden. So die Abhand¬
lungen von Hoffmann von Fallersleben über Johann Scheffler (als Ergän¬
zung der Abhandlung von Kahlert, die wir in unsern Heften gleichfalls
besprochen haben), über die deutschen Sprachverderber zur Zeit des dreißig¬
jährigen Krieges und über ein Complimentirbüchlein vom Jahre 1636. Das
spaßhafte Büchlein, welches sehr bezeichnend für den in Deutschland immer
mehr eindringenden Geist der ausländischen Höflichkeit ist, verdient, allgemein
bekannt zu werden. Einen verwandten Stoff behandelt die Darstellung der
Zeitungen des 16. Jahrhunderts von Theodor sinket. In die neuere Literatur
schlagen zwei Abhandlungen ein: über Goethes Gedicht, Hans Sachsens poe¬
tische Sendung von Koberstein und über Charlotte von Kalb von Hermann
Sauppe. Der letztere scheint die Bearbeitung desselben Stoffs von Ernst Köpke
(Berlin, Hertz nicht gekannt zu haben. Uebrigens stellt er die wunder¬
lichen Beziehungen dieser Titanide zu den deutschen Dichtern unbefangener dar
als sein Vorgänger, der von einer gar zu großen Begeisterung für die aller¬
dings hochbegabte Frau durchdrungen ist. In unsrer Zeit erscheinen uns diese
geistreich schönseligen Auffassungen ernsthafter Lebensbeziehungen doch etwas
stark fremdartig, und wenn durch die jüngst erschienenen Briefe Goethes an
Kestner die novellistische Darstellung wirklicher Begebenheiten im Werther we¬
nigstens zum großen Theil als gerechtfertigt betrachtet werden muß, so können
wir dagegen nicht anstehen, in dem Bildniß, welches Jean Paul in seiner
Linda von Frau von Kalb gegeben hat, eine Atrocität zu finden. — Mit der
mittelalterlichen Literatur beschäftigen sich die Darstellung der Minneverhältnisse
Walthers von der Vogelweide von Weiske und die Abhandlung über den armen
Heinrich von Selig Cassel. Der letztere hat mit großem Fleiß die Spuren zu¬
sammengestellt, in denen man bei den verschiedensten Völkern die Idee von der
Heilung des Aussatzes durch Menschenblut wieder antrifft.
Diese beiden Lieferungen machen zusammen einen Band aus. Mit Aus-
nähme der einen Abhandlung, die wir bei Gelegenheit des vorigen Heftes
gerügt haben, ist der ganze Inhalt desselben dem Zweck, die vaterländische
Sitte und Literatur in allen Theilen des Volks bekannt zu machen, durchaus
entsprechend und so können wir der Zeitschrift nur ein fröhliches Gedeihen
wünschen. —
— Wo nur Wien, das „gemüthliche" Wien,
alle die Lügen hernimmt, mit denen es seit einiger Zeit den ganzen Westen ver¬
sorgt! Bisher exportirte es nach England blos Meerschaumpfcifcn und Tabakröhren,
zwei Artikel, mit denen es in gutem Credit stand. Den Credit für seine telegraphischen
Neuigkeiten dagegen hat man ihm rasch gekündigt. Wenn ausWicn wieder gemeldet wird,
daß Sebastopol gefallen ist, trinkt kein rechtschaffener Engländer mehr eine Flasche
Port auf diese Botschaft hin. Dabei find die Wiener Depeschen so parteilos lügen¬
haft: bald melden sie, Sebastopol sei so gut wie geliefert, bald überraschen sie uns
mit der gemüthlichen Botschaft, die einem das Haar zu Berge treibt, Osten-Sacken
sei mit 40,000 Mann längst über Pcrekop hinaus, und dann wehe den braven
Soldaten Englands und Frankreichs. Kein System, keine Parteinahme im Lügen
— das ist unverzeihlich.
Die ausführlichen Berichte unsrer, englischen Berichterstatter, die wir seit gestern
hier in Händen haben, sind, wenn auch nicht weiter als bis zum 3. October reichend,
doch mehr werth als alle telegraphischen Vorläufer. Man weiß doch, woran man
ist. Diese englischen Korrespondenten sind prächtige Menschen. Wenn auch hier und
da ein Sohn des grünen Eilands unter ihnen seiner Phantasie ein wenig die
Zügel schießen läßt, und die Dinge so ausmalt, wie sie sich ihm am Boden seines
sechsten Gläschen Whisky abspiegeln, wenn der eine auch, aus tvristischen Prin->
cipicn mehr Partei als billig ist für Admiral Dundas nimmt und Napier dagegen
einen mauldreschenden Thuuichtgnt schimpft — — im ganzen sind ihre Berichte
doch verläßlich, wenigstens ebenso getreu als die des Pariser Moniteurs. So ein
englischer Korrespondent verläßt Weib und Kind, packt ein großes Schreibzeug und
ein kleines Klciderränzel zusammen, sagt seinen Freunden goacl dz-v und treibt sich
ehrlich aus Schlachtfeldern, in Laufgräben, aus Schiffsvcrdecken, in Cholcraspitälern
herum, schreibt gewissenhaft, was er gesehen und gehört, und wenn er ersäuft, er¬
schossen, erstochen wird, nun dann ist er todt wie ein andrer Mensch, und wenn
er mit heiler Haut zurückkommt, dann ist er auch wieder da wie ein andrer Mensch,
bringt höchstens aus fremdem Lande einen Schnurrbart, das theure, Laster des
Tabakrauchens und ein Heft voll Notizen mit; daraus schreibt er sich ein Buch zu¬
sammen, gut oder schlecht wie ers eben versteht, und sucht sich einen Verleger.
Wohl dem, der einen findet. — Er selbst tritt wieder in den Stab seiner Zeitung
zurück. Nachdem er ein Jahrlang lange blutige Schlachten, verwickelte Manövers,
Heldenthaten, Seestürme und diverse Bombardements geschildert hat, ruht er sich
auf der Tribüne des Parlaments ans und langweilt sich als Reporter aufs aller-
gründlichste, schreibt, zahme Theaterkritiken, trockene Meetingöbcrichte u. f. w. Wer
kennt ^ihn, wer nennt ihn? Er denkt auch gar nicht daran, daß man ihn kennen
soll. Er geht ins Kricgstheatct, weil ihn das Abenteuerliche lockt, weil er gut
bezahlt bekommt, weil er ans diese Weise interessante Reisen machen kann. Ist er
verheirathet oder-hat er eine kranke Mutter, die von seinem Broterwerb abhängt,
so versichert n früher sein Leben, bevor er Leoni Il^o sagt. Das andere — Gott
befohlen.
Unsre deutschen Zeitnngscorresvvndcntcn unterscheiden sich von den englischen
in zwei wesentlichen Punkten. Erstens bekommen letztere besser bezahlt — was
logisch gekommen eigentlich ein Unterschied ist, der die Redactionen charakterisirt —
und zweitens befassen sie sich ans Reisen nicht mit Politik. Sie geben sich Mühe,
alles z» sehen und zu hören, was ihre Angen und Ohren nur scheu und höre»
können; sie flehte» ihre» Stoff und schreiben nach Hause, ohne Seitenblicke aus die
grosic Tagespolitik, ohne allzuviel Raisonnement. Die Kritik überlassen sie ihren
Redactionen. Wogegen die deutschen Korrespondenten >— Blumen vor ihre Füße!
— möglichst wenig sehen, und dafür ans dem Gesehenen möglichst viel Raisonnement ab¬
strahlen, Jede Chiffre macht Politik aus eigne Faust. Das Viereck in Berlin
zankt mit den zwei Sternen in Dresden, und der Halbmond in Wien „wundert
sich", wie das Veuuszcichcu in Paris die „Weltlage" so „einseitig" auffaßt. Das
geschieht alles in einem und demselben Journale. Was aber in Berlin, Dresden,
Wien und Paris wirklich vorgeht, das weiß weder Viereck und Doppelstern, noch
Halbmond und Veuuszcichcu. Blumen vor ihre Füße! —
Die Korrespondenten Wiener Blätter haben ihre eignen Marotten. Da schreibt
der eine „vom Tatragcbirg", der andre „aus deu Karpaten", der dritte „von der
Donau", ein vierter „aus der Zibulka" u. s. w. Warum sagen die Herrn nicht
grade heraus, wo sic sind? Man kauu ein sehr gebildeter Mensch, ja sogar ein
gebildeter Deutscher sein, und doch nicht wissen, welche revolutionäre Erdblase das
Tatragebirge genannt wird. Wenn man „aus den Karpaten" correspondirt, so
sage man ehrlich, aus welchem Orte; denn die Karpaten sind viel verzweigt und
beherbergen verschiedene Nationalitäten, Religionen und Parteiungen. Wer „an
der Donau" sitzt im Abcndsonncnschcin, mit Feder und Papier zur Hand, um cul-
gcsichts der keuschen Flußnhmphc eine Korrespondenz sür die ostdeutsche Post zu
schreiben, der bedenke sein, daß die Donan ein sehr langer Fluß ist, mancher Herren
Länder durchströmt, und daß es dem Zeitungsleser vor allem wichtig ist zu wissen,
ob das, was er liest, aus dem Lande der Baiern, Oestreicher, Magyaren oder
Türken stammt. Die „Zibulka" endlich ist eine böhmische Landpartie; im Vorder¬
gründe ein Bierhaus, im Hintergrunde zwei Bierhäuser. Das ist wenigstens ' ein
begrenzter Raum. Man weiß, wo der Korrespondent sitzt. Entweder im vordern
Bierhaus oder in einem der beide» hintern. Leider wird es viele gebildete Mensche»
geben, die wieder »icht wisse», wo die Zibulka liegt.
Diesem Unwesen in der Tagesliteratur sollte ein Eude gemacht werden. Sonst
erlebe» wirs »och, i» de» östreichische» Blätter» Korrespondenzen „ans den Schluchten
des Hcrmanskogels", „von den Höhe» der Wurzclalp" oder gar „aus der Tiefe
des Gmündner Sees" aufgetischt zu bekommen. Wenns erst soweit ist, dann schreibe
ich Ihnen rührende Aufsätze über die Weltlage im Jenseits „ans dem Innern des
Themsctunnels". —
Hier in England können dergleichen Abgeschmacktheiten nicht vorkommen.
Punch allein würde sie im Keime ersticken. Doch zurück nach London! — das
heißt: auf einem Umwege zurück in den Krieg, denn an anderes kann man un-
möglich denken, wenn man mitten in dieser Aufregung lebt. Es gibt uur zwei
Dinge gegenwärtig in England, auf die das Publicum gespannt ist: aus das Er¬
scheinen einer außerordentlichen Gazette mit Nachrichten vom Kriegsschauplatze —
und ob die Regierung in der nächsten Session nicht gezwungen sein wird, die Sonn-
tagskneipcnbill aufzugeben. Alles andere: Sonne, Mond und Sterne, Deutschland,
die Politik Mantjuffels (so wird hier Manteuffel ausgesprochen), ja sogar der Unter¬
gang des „Arctic", der halb so viel Menschen gekostet hat als die Almaschlacht, stehen
in zweiter Reihe. Was den Krieg betrifft, thut jeder Engländer seine Pflicht, daran
ist nicht zu zweifeln, mit alleiniger Ausnahme vielleicht des Nelsvncpigonen Dundas
im schwarzen Mceere, der nichts von sich hören läßt. Jawol — England thut
seine Schuldigkeit, und die Kölnische Zeitung darf jetzt zufrieden sein. Die Sol¬
daten schlagen sich mit alter Bulldvggcntapferkcit, die Offiziere sind die ersten im
Kugelregen, die Aerzte operiren und curiren mit der ungeheuersten Selbstaufopferung,
die Ingenieure arbeiten Tag und Nacht, die Regierung sorgt, daß es den Truppen
an nichts fehle, die Matrosen spannen sich als Zngfcrdc vor die schweren Schiffs-
gcschützc, die Secsoldaten halten tüchtig Wache in Balaklava, die Generale sind zu
Pferde von Morgen bis Abend. Zu Hause wird gerüstet ohne Unterlaß, an allen
Ecken und Enden des Königreichs wird geworben, in allen Docks wird gezimmert,
auf allen Werften geladen; es werden fortwährend neue Kanonen von nie dage¬
wesener Tragweite gegossen; schwimmende Batterien werden zum kommenden Früh¬
lingstanz gegen Kronstäbe hergestellt, wie sie noch nie aus dem Meere gesehen wor¬
den sind; und die Männer geben Geld, und die Frauen zupfen Charpie für die
verwundeten Soldaten. In allen Kneipen wird gesammelt. Da gibts schon einen
„Patrivtic sunt" und einen „soldicrs widows sunt" und einen „soldiers Hospital
sunt" und Gott weiß wieviel Stiftungen noch. Die Negierung hat zwar erklärt,
daß die Blessirten in Skutari mit allem Erdenklichen versehen, daß die Privat-
sammlungen zu diesem Zwecke überflüssig sind. Dennoch kommen täglich die Pfunde
gelaufen und bitten um freundliche Verwendung. Es ist ein bewegtes Treiben hier
in England, das einem das Herz wieder einmal vollmacht. Die Herbstnebel sangen
zwar an, zudringlich zu werden. Doch ist das Leben in diesem Augenblick hier
farbiger als sonst wo in Europa. Ich möchte London jetzt nicht mit einer Villa in
Neapel vertauschen.
Das Capitel der Sonntagsbill dürfte mich heute zu weit führen. Ich spare
Mirs für ein ander Mal auf. — Kleine Reuigkeiten gibts in Menge, aber die Er¬
wartung der großen stößt sie unerbittlich aus dem Gedächtnisse. Doch will ich zum
Schlüsse erwähnen, daß der geistvolle Tom Taylor, wie ich vorhergesagt, diese Woche
richtig wieder eine einactige allerliebste Posse aus dem Aermel geschüttelt hat. Sie
heißt >>»»! Klij;In,v<> Keil^" und spricht ungemein an. Der Dialog ist prachtvoll
und gespielt wird meisterhaft. Einen einzigen Spaß will ich daraus erzählen, weil
er eine deutsche Unterlage hat. Der Held, das KIig!no,l Iiemg-, ein verkannter Schrift-
steiler, grämt sich unter anderem auch, daß er einen prosaischen, blos einsilbigen
Vor- und Zunamen hat. Er heißt nämlich Joe Wort. O Gott — ruft er pathe¬
tisch — o im»zur>!>> (!evUi! >v!^ (litt und tuo/. «!>>> in>! »t ivlikit ^Voiliiui?! —
Ich wefte zehn gegen eins, daß Sie dkse Klage nicht verstehen. Unsern Goethe
sprechen nämlich die Engländer Geets oder auch GoNH ans, und der Werther
klingt ihnen wie Wörther. Gott bewahre, daß ich damit die englische Nation
herabsetzen will; aber es ist nun einmal so. —
Allgemeines plattdeutsches Volksbuch. Sammlung
von Dichtungen, Sagen, Mährchen, Schwanken, Volks- und Kindcrrcimen, Sprich¬
wörtern u.s. w. Herausgegeben von H.F.N a abe. Wismar u. Ludwigslust, Hinstorss. —
Eine sehr reichhaltige und zweckmäßig angelegte Sammlung, in der namentlich die Sprich¬
wörter allgemeinen Beifall finden werden, >z. B.: „Aller Anfang ist schwer, sagt
dei Deiw, u» stehlt tauirst 'nen Amboß." — „Ward ti dei Tid lau lang, so
nimm's dubbelt." — „Wo man alt, da gab ran, wo man Geld telle, da gab van."
— „Hei is so eigen as Hans Fink, dei soll an Galgen un woll nich." — „Mau
nich ängstlich, seggt dei Has' tum Ncgenwvrm, da Sratt hei.ein up." — „Alle
Frachten lichten, seggt dei Schipper, da Schnee hei sin Fru awer Burt." — Dat
kost jo kein Geld, se'ggt dei Bnr, da prügelt hei sinen Jungen." -— „So kömmt
Gotts Wnhrt in Schwung, segt bei Däwcl, un schnitt dei Bibel awer» Tür." —
„Is rieth ungcsnnner als dat Kranksicn." — „Wi will 'ut in Schostein schriben,
damit' bei Hämmer nich ut kratzen." — „Dat is kein Kinncrspicl, wenn oll Lud up'n
Stock rider." — „Dat geiht nich anners, seggt dei Jung un fidele up'n Stock."
— „Wo't Mod is, ritt dei Preister up'n Bullen na dei Kirch." — „Dei Mann:
Maurer, weck mi hüt Nacht, wenn ut döstig bin." — Dei Frau: Wo soll ick
weiten, wenn du döstich bist?" —- Dei Mann: „Dat is min sort; weck du mi
.man." — Und um mit Poesie zu schließen.'
Wen» hier ein Pott mit Bohne» sea»»',
it» da ein P^et mit Bri,
et» hier »' Büttel Bvaudewi»
Un da '»e Diar» babi:
Ick lat die Bohne» Bohne» sie»,
Un ot den Pott mit Bri,
Ick »eben bei Buttel Bromdcwin
N» ok die Dicrn babi. —
Programm eines neuen Wörterbuchs der deutschen Sprache. Von Daniel
Sanders. Leipzig, I. I. Weber. — Unzweifelhaft hat jedermann das Recht,
bei einem der Oeffentlichkeit übergebenen Unternehmen, anch selbst dem größten
Namen gegenüber, ein vollkommen freies und strenges Urtheil abzugeben. Ebenso
hat er das Recht, wenn ihm die Methode des Unternehmens verfehlt erscheint, eine
Concurrenz z» versuchen und wenn er beides mit Ernst und Gewissenhaftigkeit
ausführt, so kann die Bildung des Volks dadurch nur gewinnen. Das letztere
war im vorliegenden Fall um so leichter, da der Zweck, deu Herr Sanders mit
seinem Wörterbuche verbindet, ein ganz anderer ist, als der, welcher die Gebrüder
Grimm bei ihrem Unternehmen geleitet hat. Unzweifelhaft ist es ein tiefgefühltes
Bedürfniß des großer» Publicums, ein leichthandlichcs Lexikon zu haben, in welchem
sie nachschlagen können, ob angehen mit mir oder mich construirt wird; ob man
religiös oder religiös sagen muß u. s. w. Ferner was die verschiedenen üblichen
Fremdwörter heißen und wie man auf correcte Weise neue Ableitungen und Zu¬
sammensetzungen zu bilde» hat, ein solches Lexikon ist ein tiefgefühltes Bedürfniß
und die Gebrüder Grimm haben keineswegs die Absicht gehabt, diesem Bedürfniß ab¬
zuhelfen, sie haben sich vielmehr den Zweck gestellt, den Sprachschatz der drei letzten
Jahrhunderte in einem Gesammtbilde der Nation zu veranschaulichen. Wenn sich
also Herr Sanders durch das Grimmsche Wörterbuch nicht abhalten ließ, seinerseits
ein ähnliches Unternehmen zu beginnen, und wenn er die Gründe zu diesem Unter¬
nehmen, die abweichenden Gesichtspunkte, die ihn bestimmt hatten, und dergleichen
dem Publicum in der Form einer Kritik vorlegte, so war dagegen durchaus nichts
einzuwenden. Aber wenn man eine Fehde unternehmen will, so muß man sich erst
den Gegner ansehen, mit dem man es zu,thun hat. Der Verfasser hat alle Ursache,
zu einer Erscheinung, wie Jacob Grimm, mit Ehrfurcht emporzublicken. Wenn er
in dieser Broschüre mit ihm umgeht, wie mit einem Schulknaben, so fällt das
Lächerliche nicht ans seinen Gegner, sondern aus ihn selbst zurück. Daß bei einem
Werk vou so kolossalen Dimensionen, wie das Grimmsche Wörterbuch, sich zahlreiche
Irrthümer einstellen, liegt in der Natur der Sache, und es darf keinem verwehrt
sein, aus diese Irrthümer hinzuweisen, wie unbequem und verdrießlich es auch dem
Verfasser sein möge. ,Wenn sich Grimm darüber beschwert, so hat er Unrecht.
Denn einer legitimen, wenn anch kleinlichen Kritik darf man keine Empfindlichkeit
entgegenbringen. Aber tausendfältig Unrecht hat Herr Sanders, wenn er es seinem
Publicum so vorstellt, er habe durch die Aufzählung dieser Irrthümer, die in dem
Lexikon ungefähr einen so großen Umfang einnehmen, wie ein Sandkorn ans einer
Kegelkugel, die Charakteristik des ganzen Werks erschöpft. Wir haben uns beim
Schluß des ersten Theils dieses Wörterbuchs beklagt, daß Grimm überhaupt aus
diese Anklagen eingegangen ist, und daß er es auf eine Weise gethan hat, die seine
Gereiztheit an den Tag legt. Aber die Presse hat allerdings die Pflicht, diesen
litterarischen Sanscnlottismus gegen einen Mann wie Grimm aus das entschiedenste
und rücksichtsloseste zu verdammen.
Zu Schillers Spaziergang. Man liest in diesem unvergleichlichen Gedicht
ohne Anstand bis zu der Stelle, in der die Macht des Menschen über die Natur
in unvergänglichen Versen gefeiert wird:
Zischend fliegt in den Baum» die Axt, es erseufzt die Dryade; -
Hoch von des Kcrgcö Haupt stürzt sich die donnernde Last.
Ann dem FelLbruch wiegt sich der Stein, vom Hebel beflügelt,
In der Gebirge Schlucht taucht sich der Bergmann hinab.
(Ausg. v. 185.7. I.. S. 324, Z. 12 — 9 v. u.) Die Ordnung der Natur
ist umgekehrt: wie der festgewurzelte Baum von seiner Höhe herabstürzt, so reißt
sich auch der Stein von seinem uralten Sitze los und strebt zur Höhe wie ans Flü¬
geln, — die ihm der Hebel leiht, während der Mensch an seiner Statt in die Tiefe
hinabtaucht. „Wiegt" könnte hier an sich sehr passend den Augenblick bezeichnen,
da die Gewalt des Hebels noch.mit der Schwerkraft ringt, die den Block in die Tiefe
hinabzieht, so daß dieser in schaukelnder Bewegung schwankt. Aber wurde denn
(um vou dem seltsamen: Ans dem Felsbrnch wiegt sich — uicht zu sprechen), der
Stein wol darum „beflügelt", um sich schwebend über dem Abgrund zu erhalten.
gleichwie der Chor der Sänger sich auf den Aesten (V. i) und der Schmetterling
„mit zweifelndem Flügel" (V. 16) über dem Klee „wiegt" und nicht vielmehr, um
so rasch als möglich zur Höhe emporzuschnellen? —
Es hieß doch wol:
Aus dem Felsbrnch schwingt sich der Stein, vom Hebel beflügelt,
,Jn der Gebirge Schlucht taucht sich der Bergmann hinab —
wobei die Art der Verderbniß die leichteste und natürlichste von der Welt wäre,
nämlich die, daß das Auge des Setzers (oder Schreibers) von es in „Felsbrnch"
auf die gleichen Zeichen in „schwingt" übersprang, wodurch wingt übrig blieb, das
sehr natürlich zu wiegt wurde. — ^So liest man, um ein ^Beispiel, das uns eben
ausstieß, statt vieler anzuführen: -> A>'o>>t inn>>lo>! meine-» im Nickolas Nicklcby
(Tauchn. Bd. >. S. 1i8, Z. 7) natürlich statt: -> g,-^, ni-in^ in-liriec! womun.)
W i l Helm Bvrnemanns Plattdeutsch c Gadi es t e. Ans den hinterlas¬
senen Handschriften des verstorbenen Dichters gesammelt und herausgegeben von Carl
Bornemann. Berlin, Decker. — Die plattdeutschen Gedichte Borncmanns haben
wegen ihres gemüthlichen Tons und ihres concreten Inhalts, zum Theil auch wol
wegen der allgemeinen Richtung der Zeit auf das Naturwüchsige und Volkstümliche
einen außerordentlichen Beifall im Publicum gefunden, und wir können diesen Er¬
folg nur billigen, wenn wir auch hin und wieder eine größere Auswahl gewünscht
hätten. Um von dem Ton eine Vorstellung zu geben, theilen wir eine Darstellung
der Pommerschen Sitte mit, wie sie am Schluß einer größeren Ballade: Junker
Hans von Platen, ausgeführt wird.
Groad ut sin wy, dät Herz sitt uns,
Klvar up de Trug allbvtt,
Wy rotem nich mit blauen Duns,
Wy knuppern keen Kuinplvtt. 'Mit Joa »n Nee is't afgcdvahn,
Vn Handschlag, Manu to Mann,
Dat müde Seins »5 er Eitboom stoah»,
Doa geit nischt af noch an.U n fr e e d to se iftcn iun uns her,
Ligt nich in unser Sinn;
Un stellt de Nvaber sick »us quer,
Salt he hier Fett ok fiun'n.
lage. Breslau, Trewendt n. Granier. — Die liebenswürdigen kleinen Einfälle
dieses Büchleins gingen unter den ernsthaften Bewegungen der Revolution, die
gleich nach dem Erscheinen desselben eintrat, verloren. Seit der Zeit ist eine ganze
Reihe ähnlicher Versuche erschienen und die Manier hat Beifall gefunden. Der
Verfasser hofft daher mit Recht, daß die neue Auflage seines Buchs einer günstigern
Stimmung begegnen wird. Wir unsrerseits hätten nur gewünscht, daß er diese
Gelegenheit zu einer strengern Auswahl und zur Ausmerzung des gar zu Unbe¬
deutenden benutzt hätte. Denn gemüthliche Phantasiebilder, die sich mit keinem
bestimmten Stoff beschäftigen, werden durch eine zu große Fülle erstickt. —
Der Proceß, der gegenwärtig in erster Instanz zum Nachtheil' der Ange¬
klagten entschieden ist, muß in uns mannigfache Betrachtungen hervorrufen.
Das erste Gefühl ist wol Mitleid mit den Unglücklichen, die eine allerdings
sehr strafbare, daneben aber auch lächerliche Spielerei so schwer büßen müssen.
Eine zweite Empfindung ist das Staunen über die falsche Gemüthsrichtung
in Beziehung auf Politik, Vie immer von neuem aufzukeimen scheint, so häufig
sich auch der Ernst der Ereignisse vernehmlich gemacht hat, Wir theilen zwar
nicht die Ansicht des Staatsanwalts, der dieser einfältigen Verschwörung eine
unmittelbar praktische Bedeutung beimißt; allein als ein Symptom der Zeit
ist die Sache doch sehr traurig. Unter den Angeklagten sind mehre ganz ge¬
bildete Männer, die nicht mehr in der ersten Jugend stehen und die in den
letzten Jahren doch schon durch die Schule der Erfahrung hätten gehen sollen.
Wie ist es nun möglich, daß solche Männer die Vorstellung fassen können,
durch Handgranaten einen Staat umzuwerfen! Vielleicht haben die meisten
darunter sich gar nicht lebhaft vorgestellt, was es für eine Bewandniß mit
einem Bürgerkrieg hat, wieviel unschuldiges Blut unnütz verspritzt wird, und
wie der Lauf der Ereignisse jede andere politische Partei eher begünstigt, als
diejenige, welche die Revolution gemacht hat. Wie ist es möglich, daß nach
den Erfahrungen von Frankfurt und von Paris noch immer die Idee nicht
ausgerottet ist, ein historisch entwickelter Staat könne von unten auf recon-
struirt werden! Setzen wir einmal den Fall, daß es durch eine wunderbare
Constellation von Umständen den Aufständischen gelingt, über die organisirten
Streitkräfte der bestehenden Macht den Sieg davonzutragen und so die vor¬
handene Ordnung umzustürzen, so wird doch die neu zu gründende Ordnung
nicht von den Männern, die sich an dem Aufstand betheiligt haben, gegründet
werden können, denen alle Mittel fehlen, ihre Zwecke mit Abwägung der posi¬
tiven Verhältnisse durchzusetzen, ja die in der Regel nicht einmal soweit sind,
sich überhaupt einen bestimmten Zweck vorzustellen. Es werden also, wenn
die kurze Zeit der Anarchi durch die nothwendige konservative Reaction, die
sich im ganzen Volke erhebt, gestürzt ist, neue Kräfte wiedereintreten müssen,
um den Bau zu beginnen, und aus welcher Richtung diese Kräfte kommen,
das wird in der Regel vom Zufall abhängen. So hat denn die Verschwörung,
nachdem sie das Vaterland in die Gefahr des Untergangs gestürzt hat, da jede
Revolution vorübergehend den Staat wehrlos macht, auch im Fall des Ge¬
lingens für sich und ihre Zwecke nichts erreicht; sie hat für andere gearbeitet,
und noch dazu ohne im voraus zu wissen, wer diese andern sein werden. Im
Fall des Mißlingens aber, der ohne Unterschied der wahrscheinlichere ist, be¬
fördert sie die Reaction; denn jeder mißglückte Aufstand' wirft die ganze Masse
der Bevölkerung, um den Greueln der Anarchie zu entgehen, willenlos der
Gewaltherrschaft in die Arme. Die Folge jeder Revolution, einer gelungenen
oder einer mißglückter, ist der Absolutismus, möge dieser von einer neuen oder
von der alten Gewalt ausgeübt werden.
Und nun um dieses Resultat zu erreichen, was für ein elendes Leben
führen die Verschwörer! Ein beständiges Brüten über chimärischen Entwürfen,
eine Absorption aller Kräfte nach einer ungesunden Richtung hin, die jede
nützliche und zweckmäßige Thätigkeit unmöglich mcvht; ein Umgang mit wüsten
Gesellen, die jeder wohlgebildeten Natur Ekel erregen müssen; ein allseitiges
Mißtrauen auch gegen diejenigen, die dem Vertrauen am nächsten stehen sollten,
ja gegen diese am meisten; ein beständiges Verbergen, Heucheln, Lügen und
Betrügen; eine angstvolle Erregung der Seele,, die von den unbedeutendsten
Umständen angegriffen wird; ein Aufgeben alles natürlichen menschlichen Ver¬
kehrs, — das ist das Leben eines Verschwörers, bis dann eine Erplosion
kommt, die ihm den Kerker öffnet, oder ihn willenlos in den Strudel der Er¬
eignisse treibt.
Und dabei sehen wir noch ganz von den unsittlichen Wirkungen ab, die
indirect mit jeder Verschwörung verknüpft sind. Die Staatsgewalt kann den
Frieden des Landes unmöglich der Willkür einiger Tollköpfe preisgeben; wenn
also auch nicht grade die Existenz des Staates bedroht ist, so muß sie doch
den Landfrieden schützen; sie muß der Verschwörung, von der sich bald dunkle
Gerüchte verbreiten, auf die Spur zu kommen suchen, sie muß in die Pfade
der Verschwörer eintreten und ihre eignen Mittel gegen sie anwenden. Das
ist eine Nothwendigkeit, 'aber eine traurige. Nun wird von der andern Seite
das System der Heuchelei und Lüge in Anwendung gebracht, und die natür¬
lichen Begriffe von Ehre und Sittlichkeit gerathen in Verwirrung; selbst die
Standesehre, die sonst doch gewöhnlich von sehr festen Formen bestimmt ist,
erleidet Schwankungen. Wir hegen vor dem ehemaligen preußischen Kriegs¬
minister die aufrichtigste Hochachtung, aber der Ausspruch, den er nach der
Angabe der Staatsanwaltschaft in dieser Beziehung gefällt haben soll, hat uns
.mit dem tiefsten Bedauern erfüllt.
Die krankhafte Verirrung der Einbildungskraft, aus der die Verschwörung
hervorgeht, läßt sich nur daraus erklären, daß man es aufgibt, den Fort¬
schritt der Staatsentwicklung auf dem ordnungsmäßigen Wege zu erstreben.
In dieser Beziehung unterliegt es stets dem höchsten Bedenken, dem Volk das
Betreten des gesetzlichen Weges zur Erreichung seiner verständigen oder thörichten
Ansprüche abzurathen. Wohl wissen wir, daß häufig der gesetzliche Weg für
eine edle Natur höchst widerlich sein muß, wenn man sieht, wie die ernsthaf¬
testen Anstrengungen ohne alle Wirkung vorübergehen; aber so unästhetisch
auch dieser Kampf sein mag, es bleibt für den, dem es wirklich um das Wohl
des Staates zu thun ist, keine Wahl. Vor 18i8 hatte die Hoffnungslosigkeit
wenigstens formell eine gewisse Berechtigung; denn wo jeder gerade Weg, für
seine politischen Ansichten etwas zu thun, abgeschnitten ist, liegt es zu sehr in
der menschlichen Natur, den krummen zu versuchen. Aber gegenwärtig steht
es anders. Nach allen Seiten hin sind dem politischen Streben die Schranken
eröffnet, freilich noch unter sehr erschwerenden Bedingungen, aber doch nicht
so, daß eine ernste und energische Thätigkeit sie nicht überwinden könnte. So¬
bald die gesetzliche Form der Parteiung einmal geöffnet ist, hat jeder einzelne
die Verpflichtung, soviel es in seinen Kräften steht, in dieser Form sür seine
Ueberzeugungen einzustehen.
Und darum möchten wir die demokratische Partei, die mit jenen Toll-
häuSlern in eine Classe zu werfen uns natürlich nicht einfallen kann, noch
einmal darauf aufmerksam machen, wie falsch es von ihr gewesen ist, sich von
der Theilnahme an der Verfassung fernzuhalten; denn die Theorie des Ab-
wartens kann für ruhige, gemäßigte Männer, die äußerlich und innerlich in
der Lage sind, warten zu können, etwas sehr Bequemes haben, die heißblutige
Jugend dagegen und diejenigen Classen des Volks, die' von einer wirklichen
Noth gedrückt werden, können sich bei dieser Resignation nicht beruhigen; sie
werden zunächst mit ihren Wünschen, dann aber auch durch directe Theilnahme
den Ereignissen zu Hilfe zu kommen suchen, und aus der politischen Unzu¬
friedenheit, welche die Gleichgestimmten zueinandersührt, wird sich leicht die
Romantik einer Verschwörung entwickeln. ^ Die Lage des preußischen Staats
ist in diesem Augenblicke sehr ernst, und in den Kammern, die in kürzester
Frist zusammenkommen müssen, hat das Volk ein Organ, seinen Sympathien
und Ueberzeugungen, die dies Mal schwerer ins Gewicht fallen, als sonst im
natürlichen Lauf der Dinge der Fall ist, Geltung zu verschaffen. Durch ihre
Enthaltung von den Wahlen hat sich die demokratische Partei dieses Organ
verscherzt. Am wenigsten hat sie jetzt das Recht, sich über die schwächliche
Haltung der Kammern zu beschweren, denn wenn das der Fall ist, so trägt sie
selbst davon die Schuld.
Schluß.
Von nachträglich eingegangenen historischen Bildern erwähne ich noch
als eines der bessern eines „Leos nome>" von Teschner, in dem man wenig¬
stens die Intention sieht, die Resignation und Fassung Christi in seinen Leiden
auszudrücken; freilich ist das nicht mit genügender Kraft und Prägnanz ge¬
schehen, wie denn das Bild auch sonst nicht bedeutend ist, aber die im ganzen
richtige Auffassung und Absicht muß namentlich andern gegenüber, wie z, B.
dem von Mengelberg oder gar dem zwar nicht auf der Ausstellung befindlichen,
aber doch vor nicht gar langer Zeit im Kunstvereinslocale ausgestellten Kee-s
Kome> von Steinbrück, die an sentimentaler Fassungslosigkeit wetteifern, ent¬
schieden anerkannt werden.
Doch nun wenden wir uns zu Tidemauds vortrefflichen Bilde: „Nor¬
wegische .Begräbnißsitte", an dem wir uns einmal recht das Herz er¬
quicken können und bei dem wir zu der tröstlichen Ueberzeugung kommen, daß
tiefe, starke Empfindung und gesunde einfache Auffassung bei der sonst ziemlich
allgemeinen Gefühl- und Gedankenlosigkeit noch immer zu finden sind. Die
junge Wittwe am Sarge des Gatten mit dem schlafenden Kinde im Arm, an
ihre alte Mutter gelehnt, ist wahrhaft rührend und ergreifend; der tiefste
Schmerz, aber ohne jede Spur von Sentimentalität; wir empfinden das stärkste
Mitgefühl, aber die Bemitleidete erscheint uns nicht in jämmerlicher Schwäche;
es liegt soviel Gesundes in ihr, daß wir ihr allenfalls die Kraft zutrauen, sich
wieder aufzurichten. Wir werden dessen gewiß, wenn wir daneben die alte
Mutter ansehen; we^ich inniges Mitgefühl in ihr mit dem Unglück der Tochter;
aber dabei die ergebene würdige Haltung in so großem Schmerz! wie sehr
erscheint sie als Stütze, an der die jetzt gebrochene Kraft der Tochter sich wieder
ausrichten wird. Welch markiger schöner Kopf diese Alte, und dabei wie wahr
und lebenswarm. Und so ist jedes wahr und ergreifend durchgeführt, der alte
Vater, der uns abgewandt sein greises Haupt in die Hände hat sinken lassen
in dumpfem sich verbergenden Schmerz und jede andere Figur in ihrer stärkern
oder geringern Theilnahme, sei es mehr tiefes Mitgefühl oder mehr die all¬
gemeine feierliche Stimmung beim Begräbnisse. Wir sehen alle Nuancen des
Schmerzes und der Theilnahme, jede an ihrem Platze, von der allgemeinen
Stimmung getragen und so, daß das Hauptinteresse immer bei jenen beiden, bei
der Wittwe und ihrer Mutter verweilt. Einen besonders rührenden Gegensatz
bildet ein junges Paar in kräftiger, blühender Gesundheit, nahe der Wittwe
im Vorgrunde, die in vollem Leben stehend sich nicht recht heimisch in diesem
Trauerkreise zu fühlen scheinen und mehr officielle Theilnahme zeigen. Es
würde uns zu weit führen, wollten wir bei jeder Figur verweilen. Wir müssen
noch von der Ausführung reden, die nicht minder vortrefflich als die Conception
und ihr vollkommen angemessen ist. Bei dem hier ganz passenden, mehr
naturalistischen Streben ist doch alles zu stark Realistische vermieden und eine
gewisse kräftige, einfache Schönheit, soweit wir sie überhaupt in einem der¬
artigen Bilde wünschen können, bei entschiedener Charakteristik bewahrt. Das
Colorit ist nicht grade bedeutend, aber es ist einfach, wahr und anspruchslos,
dem Gegenstande angemessen; so auch die Behandlung,-die ohne jede Spur
von Koketterie sich unterordnet und nicht bemerkt wird, das Beste, was man
von Behandlung sagen kann. Nichts Störendes ist in dem ganzen Bilde, alles
nur dazu da, das Hauptinteresse zu tragen und zu fördern. — Der tiefe, er¬
greifende Ausdruck, der bleibt das erste und beste. Wir sind sonst nicht grade
zum Nangiren geneigt, aber diesem Bilde möchten wir doch die erste Stelle
zuerkennen.
Ein gutes Bild voll gemüthlichen Humors ist „der Maler aus der
Studierreise" von Kels. Das Selbstgefühl des Bauers, ob der Ehre, die
ihm widerfährt, pvrträtirt zu werden, ist in seiner übermüthigen Derbheit vor¬
trefflich ausgedrückt, der junge Maler mit seinem feinen, hübschen Prosit und
die gut charakterisirten zuschauenden Bauern dahinter, das alles ist von an¬
ziehender Natur. Die Episoden in der Umgebung sind hier ganz am Platz
und machen die Situation lebendiger; die beiden Jungen, die sich auf dem
Fußboden balgen, und deren einer dem and.ern die Palette des Malers ins
Gesicht schmieren will, sind in ihrer ungeschickten Bewegung von sehr komischer
Wirkung, mißlungen ist nur das drohende Mädchen links im Vorgrunde, sie
hat nicht das reale Leben der andern Figuren, und mau weiß nicht recht, wem
sie droht, auch dürfte sie schöner und in der Ausführung weniger roh sein.
Ein Bild von Meier v. Bremen: „die Heimkehr" ist auch hübsch;
der Husar, der uach überstandnen Kriegsgefahren wohlbehalten heimkehrt, und
nun von Weib und Kindern, von Vater und Mutter empfangen wird, sieht
wirklich recht liebenswürdig aus, wie er nun alle wiederfindet; und alles das
andere, die alte Mutter, die ihm die Arme entgegenbreitet, die Frau, die mit
dem Kinde an der Brust ihm nicht schnell genug entgegeneilen kann. Jedes der
Kinder hat etwas eigenthümlich Anziehendes, aber es fehlt dem Ganzen an
einer gewissen Concentration, so daß mehr die einzelnen Figuren jede für sich,
als das ganze Bild, Interesse und Auge auf sich zieht; es liegt das nicht
allein an der etwas zerstreuten Gruppirung, sondern uoch vielmehr daran, daß
der Ausdruck jeder Figur gleich starke Haltung hat. Wenn man daran den"le,
wie z. B. Tidemand in seinem Bilde es verstand/ das Auge und die Em¬
pfindung für eine Gruppe in Anspruch zu nehmen, so wird man,erst recht finden,
was hier fehlt; daß nämlich die prägnanteste, stärkste Empfindung in wenig
«
Figuren, also etwa den Husaren und die Frau gelegt sein sollte, so daß sich
die andern mehr unterordnend jenen mehr das Hauptinteresse lassen; jetzt sieht
man bald auf diese, bald auf jene Figur, und man hat, wie gesagt, an jeder
seine Freude, aber nicht an dem Ganzen im Zusammenhange. Nun kommt
noch eins dazu, daß nämlich alle Figuren sich zwar auf verschiedene Weise
äußern, aber dabei doch nicht innerlich verschieden sind; alle haben dieselbe
weiche Gemüthlichkeit und es ist nur Zufall, nicht innere Nothwendigkeit, daß
nicht alle in gleicher' Weise lächeln. Selbst die Physiognomien haben zuviel
Aehnlichkeit. Das ist ein Fehler Meiers, der sich sonst noch in viel Höhen»
Grade zeigt, die gänzliche Unfähigkeit Charaktere zu erfinden und zu gestalten,
die sich in großer Monotonie äußert; nur der alte Vater ist anders, doch
können wir das nicht mit Lob erwähnen, da dessen greisenhafte Stumpfheit
in der froh behaglichen Familienscene etwas Störendes hat. Dennoch ist das
Bild recht anziehend, und es ist jedenfalls eins der besten, die uns von Meier
seit längerer Zeit zu Gesicht gekommen sind.
Seit wenigen Tagen ist auch das bereits im Katalog angekündigte Bild
von Kraus : „ eine Feuersbrunst" auf der Ausstellung, das die Erwartungen,
die man von diesen» höchst talentvollen Künstler hegen durfte, durchaus nicht
erfüllt. Eine Feuersbrunst bietet wol bedeutendere, ergreifendere Motive, als
eine Menge wirr durcheinanderlaufender Leute, die ihre sieben Sachen in
Sicherheit zu bringen bemüht sind. Daß weiter zurück ein alter Mann jammernd
nach der ausbrechenden Flamme sieht, will nichts sagen. Wir sehen sehr deutlich
den Vorgang, aber wir können nicht im mindesten ergriffen werden; man sieht,
die Leute kommen noch alle in Sicherheit, und um die paar alten Teller, die
vielleicht zerbrochen werden, eine Wanduhr u. tgi., um die sie sich sehr zer-
haoen, können wir uns nicht milgrämen. Wir wiederholen es, bei einer
Feuersbrunst hätten sich wol viel fruchtbarere Momente und interessantere
Motive finden lassen, die Herr Kraus bei seinem großen Talent zu einem er¬
greifenden Bilde hätte gestalten können. War es vielleicht Absicht (nach der
Doctrin einiger modernen Franzosen), den rein materiellen Hergang der Sache,
wie er sich im Leben zuzutragen pflegt, darzustellen, dann um so schlimmer!
Hat Herr Kraus nicht soviel poetische Kraft in sich, dem fremden materiali¬
stischen Einfluß zu widerstehen, so mag er solchem lieber ausweichen, er möchte
also lieber nicht in Paris bleiben. Denn haben wir dieses Bild seinem
Pariser Aufenthalt zuzuschreiben, so können wir eben nicht sagen, daß wir
davon hier irgendeinen guten Einfluß entdecken. Die Technik ist höchst gewandt,
der nächtliche Ton der Luft und der ganzen Umgebung vortrefflich; wie sollte
das aber Herr Kraus nicht vortrefflich machen, er konnte es schon früher.
Sein Talent, das Charakteristische in Physiognomien und Gestalten aufzufassen —
auch dieses finden wir hier wieder, aber wir können uns nicht mehr in dem
Grade, wie früher, daran erfreuen; denn wir sehen sich alles mehr nach dem
Häßlichen hinneigen, und schon zur Manier weiden. Seine sonst große Le¬
bendigkeit und Wahrheit der Darstellung aber suchen wir hier bisweilen ver¬
gebens; selbst abgesehen von dem Uninteressanten der Motive, wird uns nicht,
einmal das Interesse geboten, das wir stets an wahr und lebendig dargestellter
Natur nehmen. Es ist mehr äußere Bewegung als wirkliches Leben in den
Figuren. Wir möchten nicht gern mißverstanden werden; daß wir uns einem
sehr talentvollen Künstler gegenüberbefinden, sehen wir auch an diesem Bilde;
aber um so größer muß unser Bedauern sein, wenn wir sehen, daß er nicht
allein das nicht leistet, was er leisten könnte, sondern daß er sich auf dem
Wege zur Manier befindet, der bei der Jugend des Künstlers um so gefähr¬
licher ist. Möchte uns das Talent des Herrn Kraus in seiner ganzen Kraft
erhalten bleiben!
Friedrich Eduard Meyerheim hat dies Mal einige besonders hübsche
Bildchen geliefert, die ich nicht weiter- näher besprechen will. Die Gegenstände
sind einfach, aber es ist immer ein besonderer naiver Reiz darin, und der
Wunsch, daß Hr. Meyerheim eine etwas kräftigere Farbe und Behandlung sich
aneignete, möchten wir wiederholt aussprechen.
Carl-Becker hat wieder mehre Bilder mit dem bekannten Farbenreiz
und der bekannten Inhaltslosigkeit gebracht; das wird doch am Ende langweilig.
Einige Bilder von Hosemann, z. B. „Tanzende Erdarbeiter,
Kegelbahn, Stelldichein auf dem Lande, sind alle von entschiedener
Komik, aber sie streifen zu sehr an die Caricatur, als daß man rechten Ge¬
fallen daran finden könnte.
. Unter den übrigen Genrebildern ist noch manches nicht ohne Verdienst,
doch ist grade keins'so hervorragend, daß ichs vor andern erwähnen möchte.
Also zur Landschaft. Hier gebührt ohne Zweifel
Calames „Schweizerlandschaft" der erste Preis. Da ist Stimmung
und Duft einer großen schönen Natur mit überzeugender Wahrheit versinnlicht.
Nichts stört die Harmonie, nichts erinnert daran, daß dieser Zauber durch
materielle Mittel hervorgebracht ist; und wenn wir nun doch genauer zusehen,
wie der Künstler es gemacht, dann freuen wir uns doppelt über die einfachen
Mittel und die sichere, aber anspruchslose Behandlung, die immer den Haupt¬
zweck, die Stimmung, den ganzen Eindruck im Auge haltend das Geltend¬
machen des Details verschmähte (obgleich wir bei näherer Betrachtung finden,
daß ihm sein volles Recht geschehen ist); vor allem aber jeder Koketterie fern¬
blieb und eben auf diesem Wege so Schönes erreichte.
Pape in seiner Landschaft: „der Reichend ach auf Rosen laui" hat
wol ein ähnliches Streben, und mit diesem Streben auch ein vortreffliche-s
Bild gegeben, aber diese fesselnde Einheit der Stimmung ist doch nicht darin;
wir achten noch zu sehr auf jedes einzelne und kommen nicht recht zum
ganzen Eindruck, wenigstens nicht in dem erwünschten Maße.
Elsasser, „Landschaft im Charakter der römischen Campagna"
-steht außer der Calameschen Landschaft, was Prägnanz der Stimmung und
Harmonie des Kolorits betrifft, wol keiner nach, aber bei dem Streben nach
Stimmung und Harmonie verschwinden die einzelnen Gegenstände zu sehr.
Sie dürften namentlich im Ton der Farbe mehr voneinandergetrennt sein; so
wird aus der ganzen Ebene mit ihren Bäumen, Steinen u. s. w. bei aller
Feinheit der Lineen eine etwas monotone Masse, aus der wir das einzelne
erst herausfinden müssen, was bei der feinen Absicht und dem gediegenen
Streben des Künstlers umsomehr zu bedauern ist.'
Schirmers (des Berliners) „Neapolitanische Pässe" zeugt von
dem freien poetischen Sinn des Künstlers, der die materielle Naturwahrheit
verschmäht und alles andere der Stimmung opfert. Aber Schirmer geht hierin
öfter zu weit und verfällt in Manier, die wir in der Landschaft, wo das
Formelle eine verhältnißmäßig höhere Haltung hat, als bei Figurenbildern,
am wenigsten vertragen; wir sehen wol gern über Vernachlässigung des Details
weg, aber wir verlangen doch den Eindruck realer Wirklichkeit. Schirmer
hat in Farbe und Form, namentlich in letzterer gewisse Liebhabereien, die mehr
reflectirt, als von wirklich plastischer Wirkung sind. So unter anderm namentlich
eine große Vorliebe für gerade, schavfwinklig gebrochene Lineen, wie sie etwa
bei Schiefergestein vorkommen, aber doch sonst nicht in der Natur begründet
sind. Dieses und manches andere läßt uns selten zu e'mein recht freien Ein¬
druck kommen; wir müssen uns erst von manchem losmachen, ehe wir Schirmers
schöne Bilder genießen können. Wir wünschen Schirmer, was wir den meisten
andern wegwünschen möchten, daß er mehr Naturalist wäre. Wohin ein zu
weit getriebener Idealismus führen kann, fehen wir in Schirmers, anderm
Bilde: „Felsen landschaft", in dem wir die poetische Intention doch nur
mit Mühe aus der mißlungenen Darstellung herausfinden.
Aehnliches, wie von Schirmer, gilt von Weber, der bei dem edlen
Streben, die Natur zu idealisiren, oft vortreffliches leistet, bei dem man aber
auch bisweilen den Eindruck bekommt, er habe die Natur sich mehr zurechtge¬
macht, als frisch und lebendig empfunden. So geht es uns wenigstens in ge¬
wissem Maße bei seinem Bilde aus dieser Ausstellung, das, wie immer schön
in den Lineen und von edlem Stil in den Formen, uns doch nicht warm wer¬
den läßt; namentlich trägt dazu wol das bei ihm etwas stereotyp gewordene,
nicht recht naturwahre Colorit bei.
Mar Schmidt gelingt es sonst oft vortrefflich, Stil und Natur glücklich
zu vereinen. Seine Bilder auf der diesjährigen Ausstellung zeigen wol auch dies
Streben, sind aber sonst nicht besonders anziehend.
Recht im Gegensatz zu den vorgenannten stehen Hoguets Bilder, der
nur darnach strebt, den Eindruck irgendeines Stückes Natur mit aller Gewalt
seiner Mittel zu veranschaulichen; das ist ihm namentlich in seiner „Wald¬
landschaft" vortrefflich gelungen. Das ist eine Kraft und Frische, die
wirkliches Leben athmet; hat man sich aber einmal darüber gefreut, so hat man
doch weiter keinen tiefern Eindruck und Genuß von dem Bilde. Die andern
Bilder haben auch viel Natur, sind aber weniger anziehend; namentlich machen
sich die großen rothen Felsstücke, so wahr sie sein mögen, nicht gut.
Hildebrandt, bei seinem etwas koketten Streben, besonders frappante
Stimmungen und Effecte der Natur wiederzugeben, greift ohne Wahl in das,
was sie ihm bietet, hinein, und gibt es uns mit mehr oder weniger Glück und
Geschick wieder. Hildebrandt hat ein sehr bedeutendes Gefühl für Farbe und
eine sehr gewandte Technik, aber wie wenig damit allein gewonnen ist, sehen
wir sehr klar in seinem Alpenglühen, in dem der Zinnober doch der Haupt¬
eindruck ist. Die Wirkung des Bildes ist weder schön noch überzeugend, die dunk¬
len, nur an den Spitzen vom Glühen etwas gefärbten Berge im Mittelgrund
sehen nicht wie von außen, sondern wie von innen beleuchtet aus. — Hilde¬
brandt ist der rechte Gegensatz von Calames Landschaft, bei der die Mittel
ganz verschwinden, während sie bei Hildebrandt mit einer gewissen Frechheit
sich uns aufdrängen. Eine große Marine von Hildebrandt ist von recht frap¬
panter, aber doch zu materieller Wirkung. Was aber Hildebrandt kann,
wenn er sein gewiß sehr bedeutendes Talent richtig anwendet, das sehen
wir in seiner vortrefflichen Winterlandschaft, die zu den besten der Ausstellung
gehört. Da ist eine Feinheit der Farbe und Stimmung, ein Gefühl für Natur,
das bleibend anzieht und nichts zu wünschen übrigläßt.
Ein gutes Bild ist noch Brendelö „Landschaft mit einem Ochsen¬
gespann", bei dem es dem Maler auch namentlich auf frappante Lichtwirkung
ankam. Er hat den milden Glanz der schon tiefstehenden und durch Wolken
gedeckten Sonne mit großer Energie zur Anschauung gebracht, ohne dabei
scheinbar viele Mittel in Bewegung zu setzen.
Geyer hat viele Bilder,auf der Ausstellung, die bei sehr feiner Zeichnung
zu wenig Kraft des Kolorits haben, um zu fesseln. Seine gezeichneten Vorder¬
grundstudien, die dies Störende nicht häben, sind daher interessanter.
Graeb lieferte einige sehr delicat ausgeführte Architekturbildchen, deren
Hauptreiz aber doch meist der der Ausführung ist.
Herrenberger hat im Gegensatz zu diesem ein großes Architekturbild
mit sehr schlagender Wirkung gebracht, dem aber wieder der Reiz der Ausführung
fehlt, um dauernd zu interessiren.
Noch sind manche gute Landschaften auf der Ausstellung, namentlich aus der
Düsseldorfer Schule, die eben den Stempel jener Schule tragen, das solide
Studium, die gediegene, liebevolle Durchführung und die Neigung zu einem
etwas grauen Ton. Die Bilder sind, wie gesagt, gut; wir sahen aber wol
sonst bedeutendere Landschaften aus Düsseldorf hier; ich nenne unter andern
namentlich Kalkkreuth, Portmann, Rausch. —
Von Porträts erwähnen wir vor allen Noctings vortreffliches Bildniß
des Malers Lentze. Bei lebendiger natürlicher Auffassung und einfacher wahrer
Wirkung ist es auch noch besonders die gediegene, schlichte Behandlung, die von
allen technischen Kunststücken sich fernhält, und der es nur um den richtigen Ein¬
druck zu thun ist, an dem wir uns erfreuen. Wir bekommen den Eindruck wirk¬
lichen Lebens. Das Porträt kann sich de» besten würdig zur Seite stellen.
Bei Richters sehr guten Porträts sehen wir schon vielmehr die Absicht,
es so oder so zu stimmen; wir merken die technischen Mittel und kommen eher
dazu, die Geschicktheit des Malers zu bewundern, als zu dem lebendigen Ein¬
druck der dargestellten Personen; namentlich bei seinem sonst sehr schönen männ¬
lichen Porträt.
Von Magnus sahen wir wol sonst bedeutenderes, wenn schon die meister¬
hafte Gewandtheit auch hier nicht zu verkennen ist. — Begas hat sonst ent¬
schieden bessere Bildnisse geliefert, die hier befindlichen sind ziemlich unbedeutend. —
Dagegen hat Krüger, wenn auch seine übrigen Porträts etwas Trocknes
haben, in dem des Prinzen Adalbert ein sehr lebendiges lebensfrisches
Bild gegeben, das freilich in Colorit und Technik nicht grade bedeutend ist.
Dann ist noch ein weibliches Porträt von C. Sohn zu erwähnen, das
in der bekannten Weise des Meisters mit viel Geschmack und Eleganz gemacht
ist; aber es hat doch etwas Gemachtes, in der Auffassung sowol, wie in dem
etwas schwärzlichen, mehr gemalten als lebenathmenden Kolorit.
Ein weibliches Porträt von Rosenfelder ist sehr lebendig in Auffassung
und Zeichnung, aber trocken in der Farbe.--
Unter manchen verdienstlichen Bildhauerarbeiten erwähne ich einer Win-
zerin von Drake, eine üppige, anmuthige Gestalt, die aber doch wol trotz
der beabsichtigten Fülle etwas schlanker, weniger breit sein dürfte, das Gewand
dürfte lebendiger behandelt sein. Ein betender Engel von Drake, Medaitton-
relief in Gyps ist hübsch, aber etwas zu naturalistisch.
Vortrefflich ausgeführt ist eine Madonna von Steinhäuser, nament¬
lich sind die Gewänder außerordentlich schön; aber die Köpfe der Madonna
wie des Kindes sind in Ausdruck und Form nicht bedeutend genug.
Eine Figur voll anmuthig lebendiger Bewegung ist ein trunkener Faun
von Sußmann (nur Gypsmodell). Die unfähig behagliche Schwere des Kopfs
und der Glieder im Zustande süßer Trunkenheit ist in höchst prägnanter Weise und
dabei mit vieler Grazie veranschaulicht; dazu ist die nackte Figur von sehr schöner
schlanker Form, und die Behandlung des Fleisches von lebendigem Reiz.
Von Porträtbüsten in Marmor nenne ich Ihnen eine außerordentlich
schöne Büste Humboldts von Rauch, von geistreichem Ausdruck und Leben
athmend, auch die Büste Leopolds von Buch von Wichmann ist gut,
von vortrefflicher Durchführung, und die Büste eines Knaben von Bläser
hat viel Leben. Dies wäre wol das erwähncnswcrtheste. —
Bei dieser Gelegenheit theile ich Ihnen zugleich mit, daß seit einigen
Wochen die siebente Gruppe auf der Schloßbrücke aufgestellt ist. Ein Jüng¬
ling, von Minerva angeführt, stürzt sich zum Kampf vor, von
Bläser, die im ganzen den Erwartungen entspricht, die man von Bläser hegen
durfte.--Es ist ein Zug kräftig feurigen Lebens in der Gruppe, die außerdem
eine in den Lineen schön zusammengehende Masse bildet. Der Kopf der Mi¬
nerva ist wol ein wenig zu klein; die Behandlung der Gewänder, namentlich
des Obergewandes der Minerva ist etwas unbeholfen und reizlos. Im
ganzen steht die Gruppe den besseren der übrigen, also der von Schievelbein
und A. Wolf würdig szur Seite. Die letzte Gruppe wird wol noch ziemlich
lange aus sich warten lassen, da, wie wir hören, Wredow noch bei dem
Modell, die Arbeit in Marmor noch gar nicht begonnen ist. —
Es ist über die Sittlichkeit des russischen Volks von Freunden und Feinden
sehr viel geschrieben worden, und die politische Sympathie oder Antipathie hat
in den meisten Fällen die Augengläser dazu hergegeben. Am natürlichsten
ist es wol, wenn wir die russischen Schriftsteller selbst zu Rathe ziehen, und
zwar vorzugsweise denjenigen Theil der Literatur, der in unbefangenen Ab¬
bildern die Zustände des Volks wiedergibt. Wie es mit der höhern Aristokratie
beschaffen ist, welche die barbarischen Gewohnheiten ihrer Vorfahren mit mo¬
dernsten Byronschen Weltschmerz zu vermählen sucht, haben wir aus den Dich¬
tungen Puschkins entnehmen können. Die vorliegenden beiden Werke sühren
uns in den Kreis der bürgerlichen Gesellschaft ein.
Der „Revisor" ist ein Lustspiel, das, soviel wir wissen, in Rußland ohne
Anstand gegeben und gern gesehen wird. Die darin dargestellten Sitten müssen
also für das russische Publicum nichts Anstößiges haben. D»ö Stück führt
"uns ungefähr in der Weise der Kotzebueschen „Kleinstädter" in das Leben
einer Provinzialstadt ein. Es ist den Beamten dieser Stadt heimlich zuge¬
steckt morden, daß nächstens von Petersburg aus ein höherer Beamter incognito
ankommen soll, um die Mißbräuche der Verwaltung zu .untersuchen. Da nun
in derselben Zeit aus Petersburg ein junger Mann anlangt, der im Gasthaus,
obgleich ohne Geldmittel, die Leute grob und rücksichtslos behandelt, so ist alle'
Welt davon überzeugt, dieses müsse der gefürchtete Revisor sein, und beeilt sich
nun, ihn zu bestechen und ihm aus jede andere Weise den Hof zu machen, bis
sich endlich ergibt, daß er ein Schwindler ist. Die Composition des Stücks ist
von sehr rohem Zuschnitt, und, was die Formen des gesellschaftlichen Umgangs
betrifft, so sieht Kotzebue dagegen beinahe noch vornehm aus; aber die komische
Wirkung ist ganz unbestreitbar, und wir glauben, daß es auch auf dem deutschen
Theater von Erfolg sein wird, wenn man nur nicht etwa den Versuch macht,
die russische Komödie auf deutsche Sitten zu übertragen, denn ein solcher Ver¬
such würde an seiner innern Unmöglichkeit scheitern. Gewiß kommt auch in
der deutschen Verwaltung sehr vieles vor, was nicht in der Ordnung ist; aber
wenn wir den „Revisor" studiren, so werden wir von einem wahrhaft glühenden
Patriotismus und von einer tiefen Verehrung vor unsrer hohen Obrigkeit
erfüllt. Die Spitzbübereien, die hier in allen Zweigen der Verwaltung als
etwas ganz Gewöhnliches und Natürliches dargestellt werden, streifen ans
Unerhörte; aber sie sind noch nichts gegen die hündische Devotion, die sich
vor jedermann in den Staub wirft, der, wenn auch nur ganz entfernt, mit dem
Hofe zusammenhängt. Wenn doch-der Charlottenburger Philosoph, der so
lebhaft für den russischen Naturwuchs in die Schranken getreten ist, einmal
diesen Naturwuchs aus den Quellen studiren wollte; er würde sehr bald zu
der Ueberzeugung kommen, daß die deutsche Atmosphäre, in der er die nahe
bevorstehende Verwesung wittert, eitel Wohlgeruch ist im Vergleich zu der
Fäulniß in den Zuständen jenes Volks, welches nach ihm dazu berufen ist,
der neue Träger der Weltgeschichte zu werden.
Genau denselben Eindruck entnehmen wir aus den angeführten Novellen.
Sie haben vor dem Lustspiel den Vorzug, in seinen und gebildeten Formen
dargestellt zu sein; aber der Inhalt ist grade ebenso greulich. Lüge und Hohl¬
heit, Grausamkeit und Bosheit, die sich hinter die eleganten Formen der euro¬
päischen Gesellschaft versteckt, das sind in allen Schichten die Lebensmotive
dieser Gesellschaft, die in dem stolzen Bewußtsein ihres mächtigen Herrschers
gern die Rolle der Römer spielen möchte.
Die Hausbibliothek hat sich durch den außerordentlich günstigen Erfolg,
dem sie ursprünglich vielleicht ebensosehr dem Zufall als ihrem Verdienst ver¬
dankte, auf eine lobenswert!)? Weise anspornen lassen, neue Kräfte zu sammeln
und ihre Kräfte immermehr nach einer bestimmten Richtung hin zu concentriren.
Bei ihren ersten Bänden wäre es in der That schwer gewesen, irgendein be¬
stimmtes Princip der Auswahl aufzufinden, und einem großen Theil der Werke,
die sie aufnahm, sah man die bestellte Arbeit an. Sie ist seit der Zeit in
einem beständigen Fortschritt zum Bessern begriffen und bemüht sich auf das
ernstlichste, die Gunst des Publicums, die ihr in so reichem Maße zu Theil
geworden ist, auch durch den innern Werth ihrer Leistungen zu verdienen. In
neuester Zeit hat sie fast das Ansehen einer encyklopädischen Darstellung alles
Wissenswerthen aus dem Gebiet der neuern Geschichte, der Länder- und Völker¬
kunde und der Naturwissenschaft angenommen, nur mit dem Unterschied, daß
sie ausführlicher und vollständiger sein kann.
Die beiden vorliegenden Bände beschäftigen sich mit den weniger bekannten
Theilen der russischen Monarchie. Sie enthalten die Reiseerinnerungen aus
Sibirien von Professor Hansteen und das Tagebuch aus der Krim und Odessa
von Professor 5? och aus Berlin. Beide Männer unternahmen die Reise aus
naturwissenschaftlichen Zwecken; ein überaus günstiger Umstand, denn einerseits
führt sie der wissenschaftliche Trieb in Gegenden, die sonst der Fuß des Wan¬
derers nicht leicht betritt und veranlaßt sie zur genauen methodischen Erforschung
der factischen Zustände, andrerseits bringen sie der Beobachtung der socialen'
und politischen Verhältnisse keine vorgefaßte Meinung entgegen, sondern lassen
die Dinge ruhig auf sich wirken, wodurch ihre Darstellung an Objectivität
außerordentlich gewinnt. Der Naturforscher wird überall freundlich ausge-'
nommer und gefördert; er erweckt weder das Mißtrauen der Behörden und
der Völker, noch veranlaßt er sie zu jenem künstlichen Entgegenkommen, welches
dem eigentlichen Touristen die Gegenstände so häufig in ganz falschem Lichte
zeigt. Die Personen, mit denen er zusammenkommt, denken nicht daran, ihm
als Modell für künftige Reisestudien zu sitzen, sondern sie geben sich ihm mit
jener Unbefangenheit hin, die niemals ausbleibt, wenn man bei dem Reisenden
einen bestimmten, nützlichen und unbedenklichen Zweck steht.
Professor Hansteen unternahm seine Reise durch Sibirien in den Jahren
1828—1830, und harte einzelnes darüber in dem norwegischen Volkskalender
veröffentlicht. Der Uebersetzer, Dr. Sebald in Berlin, war durch diese inter¬
essanten Bruchstücke angezogen worden und bat den Verfasser, das Gemälde
zu vervollständigen, wodurch dieser veranlaßt wurde, ihm mehre sehr wichtige
Nachträge zuzuschicken, so daß in dieser Ausgabe die Reise zum ersten Male
vollständig erscheint. Sie verdient sowol wegen ihres Inhaltes als wegen
ihrer Form alle Anerkennung. Sie gibt eine Reihe neuerer Beobachtungen
über die wunderlichen Völkerschaften, die man bei dieser Gelegenheit kennen
lernt, ihre Gebräuche, Sitten und Religion, und ist dabei in einem so frischen
und gemüthlichen Ton geschrieben, daß man den Versasser liebgewinnt. Ent-
zuckt ist er von diesen Eindrücken grade nicht; selbst als er dem Kaiser Niko¬
laus vorgestellt wurde, der ihn sehr gütig behandelte, und als dieser ih«
lächelnd fragte, ob man nicht in Sibirien sehr schlecht bewirthet werde, konnte
, er nur die verlegene Antwort hervorstottern: „So schlecht ist es grade auch
nicht;" eine Antwort, die ihm übrigens große Gewissensbedenkcn machte, da
er sich früher sehr lebhaft über die ungesunde sibirische Diät beklagt hatte.
Einen großen Theil der Darstellung nehmen die Berichte über die sibirischen
Verbannten ein, deren trauriges Loos der Verfasser sehr genau kennen zu
lernen Gelegenheit hatte, da er mit einer dieser Familien, die freilich nicht mehr
die Härte der eigentlichen Verbannung zu tragen hatte, in den freundschaft¬
lichsten Beziehungen stand.
Die Beschreibung der Krim von Prof. Koch verdient um so größeres Lob,
da er durchaus den gewöhnlichen manierirten Ton der Touristen vermeidet und
dem Leser ein deutliches und auf genaue Ermittlung der Thatsachen gegrün¬
detes Bild dieser Halbinsel gibt, über die in Europa noch immer sehr falsche
Vorstellungen herrschen. So hat man namentlich eine viel zu übertriebene
Vorstellung von der Fruchtbarkeit der Krim.
Die ausführliche Beschreibung von Sebastopol und der übrigen Orte, die jetzt
als Kriegsschauplatz eine historische Berühmtheit erlangt haben, wird für alle
Zeitungsleser von Interesse sein. — Der Verf. glaubt, daß die Erpedition der
Westmächte sich damit begnügen wird, die Flotte und die Festungswerke zu
.zerstören. „Eine dauernde Besetzung möchte ungeheure Opfer kosten und am
Ende doch zu keinem Resultate führen. Ein Gibraltar würde Sebastopol nie
und nimmer werden. Das schwierigste bei der dauernden Besetzung ist stets
die Unterhaltung einer so bedeutenden Truppenmasse, als für die Behauptung
eines sehr entfernten Ortes. nothwendig erscheint. Wollte nur mit Sebastopol
die ganze Krim wegnehmen, so würden sich die Schwierigkeiten nur steigern,
da die Nähe eines immerhin mächtigen Feindes die größten Vertheidigungs¬
maßregeln verlangt, zumal dieser wieder nur daraus bedacht sein müßte, sich
der Halbinsel von neuem zu bemächtigen. Die Krim wird nie im Stande sein,
neben der Bevölkerung noch bedeutende Heere zu ernähren, denn mit Ausnahme
der wenigen Thäler fehlt Wasser; ohne dieses, zumal nicht einmal Wasserlei¬
tungen gemacht werden können, ist keine Fruchtbarkeit und am allerwenigsten Ge¬
treidebau möglich. Der Glaube von der großen Fruchtbarkeit der Krim, dem man
sich selbst in Rußland ganz allgemein hingibt, stammt noch aus der Zeit der
großen Katharina, die der Fürst Potjomkin (Potemkin) durch ephemere Co-
lonien zu täuschen suchte. Auch die jetzigen Kriege in der europäischen Türkei
haben uns gezeigt, wie schwierig es ist, auf eine längere Zeit große Truppen-
massen in nicht civilisirten Ländern zu unterhalten."
Studien und Skizzen aus den Ländern der alten Cultur. Vierzehn Vor¬
lesungen von Julius Braun. Mannheim, Bassermann u. Matthy. —
Das Buch zeichnet sich durch eine Eigenschaft aus, die bei archäologischen
Werken wol nur sehr selten vorkommen dürfte, nämlich durch eine glänzende
Darstellung. Der Verfasser weiß die Gegenden, in denen er sich bewegt,' der
Einbildungskraft in so kräftigen und cinmuthigen Farben vorzuführen, und
seine mythologischen Ansichten so zierlich, gleichsam arabeskenartig darin zu
verweben, daß jeder Leser gefesselt wird, und daß sich wenigstens in vielen
Fällen für einen Augenblick die Ansicht des Verfassers der Phantasie ein¬
schmeichelt. An sich wäre es nun vortrefflich, wenn man zu gleicher Zeit über
die wichtigsten Fragen der Wissenschaft belehrt und anmuthig unterhalten wer¬
den könnte; wir müssen aber dennoch bezweifeln, daß dies der richtige Weg
ist, das Publicum in sehr schwierige Fragen einzuführen, die nicht durch die
Einbildungskrast, sondern durch den kritischen, allseitig prüfenden Verstand
entschieden werden müssen.
Der Verfasser gehört nämlich zu der Schule, die unter andern die Atlas
und Odyssee wie zwei Kunstgedichte moderner Art, verfaßt von einem Dichter
Namens Homer, betrachtet, und das gesammte griechische Göttersystem aus
Acgypten herleitet. Er ist also in der ersten Beziehung noch viel rechtgläubiger,
als selbst die Engländer, die wenigstens den Verfasser der Odyssee von jenem
der Ilias trennen. Abgesehen von der Kühnheit, sich vor der Erfindung der
Schreibekunst einen Dichter zu denken, der für seine künstlerischen Zwecke weite
Reisen macht, um in seinen Werken die Localfarbe streng festzuhalten, und
der dann nach einem bestimmten Plan verfährt, die Ereignisse gruppirt, den
Göttern neue Bedeutungen beilegt und tgi. — eine Schwierigkeit, die wir hier
nicht berühren, da wir hoffen dürfen, in nächster Zeit einen Abriß von dem
gegenwärtigen Stand der Streitfrage zu geben — liegt dieser Ansicht noch ein
anderes Moment zu Grunde, das uns hier wichtiger erscheint, weil es sich
auf die Principien der Religion und Dichtkunst überhaupt bezieht.
Nach der Auffassung, die bisher in der deutschen Kritik geherrscht hat,
sind die homerischen Dichtungen, gerade wie die spätere Plastik, Ausflüsse des
griechischen Volksgeistes, der durch das Organ verschiedener Künstler sein reli¬
giöses Bewußtsein entwickelt und firirt hat.
Nach Herrn Braun dagegen sind Ilias und Odyssee Dichtungen im
strengsten Sinne des Wortes, d. h. bewußte Erfindungen zu künstlerischem
Zweck, zum Theil mit Nichtachtung, zum Theil im offenen Widerspruch gegen
die herrschende Religion.
Während also die deutsche Kritik in jenen Gesängen Wahrheit, d. h. den
correcten Ausdruck des wirklichen religiösen Bewußtseins fand, was übrigens
in einer naiven Zeit dadurch keineswegs'aufgehoben wird, daß der Dichter
seinen Gegenstand ausführlicher behandelt, in lebendiger» Farben darstellt,
den Göttern und Menschen lange Reden in den Mund legt, ti.e er doch wahr¬
scheinlich nicht gehört haben kann, weil in einer naiven Zeit dieser Unterschied
zwischen phantastischer Poesie und actenmäßiger Prosa noch gar nicht besteht;
während also die deutsche, Kritik den Homer und die Plastik als die Quellen
der griechischen Religion betrachtet, findet Herr Braun in ihnen ein indivi¬
duelles , nicht nationales Kunstwerk, und sucht die Quelle der griechischen Re¬
ligion im Hesiod, der, wie er selbst sagt, nichts weiter enthält, als eine Kor¬
ruption des ägyptischen Systems. Wir wollen ihn selbst hören S. 106.
,,Homer, allerdings nicht am Anfang, sondern am Ende einer langen
Entwicklung stehend, hat die letzten Reste ägyptischer Ideen dem rein helle¬
nischen Schönheitstrieb geopfert. Das ägyptische Bild ist immer nur ein Buch¬
stabe, der keine andere Aufgabe hat, als seinen Sinn zu sagen. Wenn dieser
Sinn verloren ist, dann bleibt nichts, als eine Form, die auf Schönheit nie¬
mals Anspruch machte, aber oft erschrecklich häßlich ist. Was konnte Homer
besseres thun, als schöne Formen daraus machen?... Inhalt dürfen wir in
der That nicht suchen. Was bleibt von einem Apollo, von einer Athene
ohne ihre Gestalt? und jene Götter, in denen Ideen gähren, wie Dionysos
und Dem'eder, wer kann sie nicht brauchen und schließt sie aus von seiner
Götterhalle? Sein Princip ist energisch durchgeführt: Einheit durch die ge¬
meinsame Ausprägung der Formen, mögen sie stammen, woher sie wollen,
aus Historie, Natur oder Abstraction."
Diese Auffassung eines Dichters als eines planmachenden Erfinders scheint
denselben zwar auf ein sehr hohes Piedestal zu stellen, denn sie macht ihn
gradezu zu einem Schöpfer, aber sie ist im Grunde ebenso nüchtern und pro¬
saisch, als die Auffassung Voltaires von Mahomed und Schillers von Moses,
die beide ihre Propheten zu politischen Planmachern herabsetzen, wenn auch
im kolossalsten Maßstabe. Wir haben immer den wahren Dichter für einen
Seher gehalten, in dessen gewaltig concentrirten Gemüth die gegenständliche
Welt ihr wahres Abbild fand, nicht nach künstlich ausgearbeiteten Perspectiven,
sondern in unmittelbarster zutrauensvoller Anschauung. Dabei müssen wir
freilich zweierlei bemerken. Unter den wahren Dichtern verstehen wir nicht die
modernen Versifcre, die sich hinsetzen, um zu Gunsten einer Regel, oder einer
Stimmung des Publicums, oder einer eignen Caprice sich eine Geschichte
auszudenken. Diese halten wir allerdings nicht für Seher, und wir theilen
überhaupt nicht die Ansicht Uhlandö, daß die wahren Dichter so zahlreich sind,
um gleich den Sperlingen von allen Zweigen zu zwitschern. Ferner ist uns
der Ausdruck: Seher, Enthusiast u. s. w. keineswegs identisch mit dem Ausdruck
Schwärmer oder Wahnsinniger u. s. w.; im Gegentheil wird die Gabe des
Schauens nur in einem Gemüth zur Geltung kommen, das sich zugleich der
höchsten Besonnenheit erfreut. Aber daS Technische, das Verständige und
Zweckvolle, was in der Zeit eines complicirten Geschmacks zur Dichtkunst sehr
nothwendig ist, macht ebensowenig den Dichter, als den Propheten, den Er¬
oberer u. s. w., sondern das Schauen ist bei ihm die Hauptsache, auch noch bei
dem echten Dichter in der modernen Zeit, wie z. B. bei Shakespeare, der sich
zwar in einzelnen Fällen auch als ein großer Techniker zeigt, der aber viel
häufiger die Mängel einer sehr zweifelhaften und verdächtigen Technik durch
die Macht seines Schauens ersetzt.
Der Unterschied scheint uns sehr wichtig, denn wenn die Ansicht des Herrn
Braun die richtige wäre, so würde das, was wir eigentliches griechisches Leben
und griechische Kunst nennen, ein bewußter Gegensatz gegen die griechische
Natur und Tradition sein, während es nach unsrer Ansicht nur der correcte
Ausdruck derselben ist. , ^
Vom Hestod sagt der Verf. folgendes: „Er begnügt sich, aufzusammeln,
was er in seiner Nachbarschaft findet, und vermauert die alten Stücke, Capitale
von Memphis und Theben in die Wände seines Provinzialtempels. Die far¬
bigen Sculpturen sind oft gar nach innen gewandt. Aber wir finden, was
wir suchen, denn die alten Ideen stecken noch im Stein, wenn Hesiod es auch
selbst nicht mehr weiß und seine Säulen mit dem Fußgestell nach oben richtet.
Er ist nicht schuld daran, daß aus jener großen kosmischen Katastrophe der
Aegypter, die dort aus dem tiefsten Bedürfniß der Speculation hervorgegangen
mit nothwendiger Sicherheit im System steht, bei den Griechen ein Giganten-
und TiKmenkrieg,' ein Thronkampf des Zeus geworden ist."
Wir müssen zum Verständniß dieser Stelle noch hinzusetzen, daß in der
ganzen Darstellung Hesiod als der Rechtgläubige, Homer als der Ketzer er¬
scheint, mit andern Worten, das natursymbvlische Element der Religion er¬
scheint als das ursprüngliche und wesentliche, das heroische und epische Moment
dagegen als das künstlich gemachte.
Nun glauben wir, daß in jeder Religion (wir lassen >die geoffenbarten
Religionen, die einen andern Ursprung haben, bei Seite), die eine Geschichte
hat, sich ein doppeltes natursymbolisches Moment vorfindet, ein ursprüngliches
und ein reflectirtes. Der erste Ursprung aller Religion ist unzweifelhaft natur¬
symbolisch, denn göttlich ist dem Menschen ursprünglich, was er nicht versteht.
Die Handlungsweise der Menschen versteht er und weiß ihrer feindlichen Ein¬
wirkung zu begegnen; den Grund der physikalischen Erscheinungen dagegen
weiß er sich aus seiner Natur heraus nicht zu erklären, er flieht voll Entsetzen,
oder er wirft sich vor der unbekannten Ursache derselben in den Staub, wie es
dem Wilden geziemt, der noch nicht weiß, daß der Geist über die Natur er¬
haben ist.
Diese naive Natursymbolik des Schreckens, aus welcher der Begriff des
Göttlichen hervorgeht, ist aber wohl zu unterscheiden von einer zweiten reflec-
tirten Natursymbolik, die in die bereits vorhandene Religion in gutem Glauben
oder auch in bewußter Auslegung ihre Speculationen überträgt. Ein Zeitalter
der sieben Weisen, welches bereits affectlos speculü't, welches sich Gedanken
darüber macht, welches das erste der Dinge sei, ob die Materie in irgend¬
einer elementaren Form, oder das Atom, oder die Zahl, oder das Sein im
allgemeinen, oder das Werden u. s. w>, ist nicht schöpferisch in Beziehung auf
die Religion, aber es hat einen großen Einfluß auf die veränderte Auffassung
der Religion, grade wie die entwickelte astronomische Kenntniß bei einem Volk,
welches durch die Lage des Landes gezwungen ist, zum Behuf des Ackerbaues
einen Kalender einzurichten.
Ein Volk, welches keiner historischen Entwicklung fähig ist, wird in der
Fortbildung seiner Religion zwischen diesen beiden Extremen schwanken und
wird bei der innern Verwandtschaft derselben den Anschein einer größern Ein¬
heit und Harmonie zu gewinnen wissen. Ein Volk dagegen von frisch bewegtem
Leben wird zwischen diese beiden Momente ein Zeitalter wirklicher Gottheiten
und Heroen einschicken, welches von der alten Natursymbolik nur höchstens
die Namen beibehält. Der Wilde sucht in der Religion zunächst nur die un¬
bekannte Ursache der Naturerscheinungen; das historische Volk dagegen ist mit
der Antwort gleich bei der Hand; es gibt sie im anthropomorphistischen Sinne,
es verdichtet die abstracte Ursache zu concreten Gestalten, und die Ausmalung
dieser Gestalten wird ihm bald die Hauptsache. Ein solches Zeitalter herbei¬
zuführen, reicht die individuelle Poesie nicht aus, das ganze Volk muß daran
gearbeitet haben, wenn aus ven Naturfatalismus sich eine gestaltenreiche und
lebendig bewegte Plastik der Götter entwickeln soll.
So oft Preußen schon die günstigsten Situationen versäumt hat, um den
Beruf, den ihm seine Natur und seine Geschichte anweist, zu erfüllen, so scheint
das Schicksal doch unermüdlich zu sein, ihm immer neue Wege zu eröffnen,
für sein eignes und für das Interesse Deutschlands zu wirken. In der Lage,
in der es sich jetzt zwischen den kriegführenden Mächten befindet, konnte ihm
kein Ereigniß günstiger sein, als der ausgebrochene Zwist zwischen den beiden
Parteien in Dänemark, die früher die gemeinsame Feindschaft gegen Deutsch-
land vereinigt hat. Es zeigt sich jetzt, daß die Veränderung des Staats¬
grundgesetzes, durch welche Dänemark und die Herzogthümer unter einer ge¬
meinschaftlichen Dynastie zu einem Gesammtstaat verschmolzen werden sollten,
den Interessen des dänischen Volks ebensowenig entspricht, als den Interessen
Deutschlands. Die deutsche Publicistik ist im allgemeinen gegen die Eider-
dänen, diejenige Partei, welche am meisten das dänische Volk repräsentirt,
ungerecht gewesen, weil sie freilich unsre erklärtesten Feinde waren. Bei
einer unparteiischen Würdigung der Thatsachen wird man nicht in Abrede
stellen, daß die Dänen sich in dem damaligen Conflict mit Deutschland so
tüchtig benommen haben/ wie man von einem Volke nur erwarten kann; sie
waren tapfer, ausdauernd und patriotisch, und wenn sie sich in ihrem Streit
mit den Herzogthümern, boshafter und rachsüchtiger zeigten, als sich gegen
einen edlen Feind geziemt, so konnte man sie durch das natürliche Gefühl der
Schwäche entschuldigen, das bei dem scheinbaren Uebergewicht des Gegners
alle unedlen Leidenschaften in der Seele aufregt. Das Uebergewicht war
allerdings nur scheinbar, denn es handelte sich in der That nicht um einen
Kampf zwischen Dänemark und Deutschland, sondern um den Kampf eines
Theils von Deutschland gegen das gesammte Europa. In elender Eifersucht
gegen die Möglichkeit einer deutschen Entwicklung wetteiferten die Westmächte
mit Nußland, und da Deutschland selbst sich nicht einigen konnte, mußte es
sich aus dem Kampf mit einem kleinen und mißachteten Gegner zurückziehen.
Zuletzt wurde durch die Sanction sämmtlicher Großmächte eine neue Con-
stituirung des dänischen Gesammtstaates beliebt, die, wenn sie ins Leben treten
sollte, eine freie Entwicklung Deutschlands unmöglich macht.
Allein dieser scheinbare Gewinn ist den Dänen theuer zu stehen gekommen.
Ueber dem eitlen Bestreben, durch Eroberung der deutschen Herzogthümer ihren
Staat zu dem Range einer Großmacht zu erheben, für den er doch bei seiner
ganzen Lage nicht geeignet ist, haben sie ihre eigne freie nationale Ent¬
wicklung eingebüßt, oder schweben wenigstens in der größten »Gefahr, sie
einzubüßen, und da dürfte es doch wol manchem Patrioten zweifelhaft sein,
ob der Besitz von Kiel und damit die Möglichkeit, ein vergüldetes und mit
Brillanten besetztes Zünglein in der europäischen Wagschale zu bilden, ein
hinreichender Gewinn ist für das Opfer ihrer volksthümlichen Selbstständigkeit.
Auf der andern Seite fangen auch die Westmächte an einzusehen, daß die
beabsichtigte Verfassungsveränderung in Dänemark ihnen nicht gleichgiltig sein
kann, daß die dänische Regierung auf dem besten Wege ist, durch die Unter¬
drückung der Volkssreiheiten sich völlig dem russischen System anheimzugeben.
Die englische und französische Presse saßt zwar die Sache vorläufig noch von
einem höchst brutalen Gesichtspunkt auf, nämlich von dem Gesichtspunkt des
angebornen Hasses gegen Deutschland. Namentlich hat die Times neuerdings
einen Artikel gebracht, der der gewöhnlichen zweideutigen und gemeinen Po¬
litik dieses Krämerblatts vollkommen würdig ist. Sie möchte zwar der gegen¬
wärtigen dänischen Regierung entgegentreten, weil diese sich auf die russische
Seite neigt; ein Umstand, der im gegenwärtigen Augenblick, wo Nußland
mit England im Kriege ist, aufgehört hat, eine Empfehlung für die Times
zu sein; aber sie möchte dafür die Herrschaft einer Partei einführen, die gleich¬
falls nicht eiderdänisch, sondern gesammtstaatlich wäre, und die in ein Ab¬
hängigkeitsverhältniß zu England träte. Allein diese plumpen Ausdrücke der
Nationaleifersucht werden do.es nicht maßgebend sein für die Stimmung des
gestimmten Volks, für die verständige Einsicht der Staatsmänner. Es wird
den englischen Staatsmännern deutlich sein, daß die Unterstützung Deutsch¬
lands ihnen in dem Kampfe gegen Rußland doch unendlich wichtiger sein muß,
als die Unterstützung Dänemarks. Da nun der gegenwärtige Conflict auf das
deutlichste gezeigt hat, daß durch das Londoner Protokoll die dänische An¬
gelegenheit im Sinne des sogenannten europäischen Gleichgewichts noch kei¬
neswegs zweckmäßig geordnet ist, so erscheint eine Revision dieses Protokolls
nicht mehr so unwahrscheinlich wie vor einiger Zeit.
Hier kommt es nun darauf an, daß die deutschen Mächte, daß nament¬
lich Preußen das Gewicht ihres Beistandes in die Wagschale werfen und offen
und klar mit ihren Ansprüchen hervortreten. Zwar hätte Preußen vor einem
halben Jahr, als Oestreich sich noch nicht erklärt hatte, mit größern An¬
sprüchen an die Westmächte hervortreten können, als im gegenwärtigen Augen¬
blick; aber seine Lage ist noch immer günstig genug. Wenn wir auch von
dem französischen Cabinet nicht erwarten können, daß es die nationalen Ideen
von der Nheingrenze soweit vergessen sollte, um nicht von Zeit zu Zeit den
stillen Wunsch zu hegen, Preußen möchte durch ein definitives Bündniß mit
Rußland ihm Veranlassung geben, mit der großen europäischen Frage zugleich
seine eignen geheimen Wünsche zu befriedigen, so muß man von England ent¬
schieden das Gegentheil annehmen. Die Staatsmänner Englands müssen es
einsehen, daß, wenn es Preußen mit Rußland hält, im Fall eines siegreichen
Ausganges für die Westmächte die natürliche Folge eine Vergrößerung Frank¬
reichs nach dem Rhein, eine Vergrößerung Oestreichs nach Schlesien sein wird;
und beides steht mit den Interessen Englands im handgreiflichsten Wider¬
spruch.
Wenn wir nun bis jetzt aus pas entschiedenste für die Verbindung Preu¬
ßens mit den Westmächtcn und Oestreich, gesprochen haben, so konnten.wir
das natürlich nicht sy verstehen, daß sich unser Paterland in einen höchst ge¬
fährlichen Krieg stürzen sollte, ohne alle Aussicht auf Gewinn. Wenn Preu¬
ßen, wenn Deutschland sein bestes Blut im Kampfe gegen Russland vergießt,
so kann es das nicht blos für die Ehre Frankreichs und Englands thun; es
muß Ansprüche erheben^, die zu der Größe seiner Opfer im Verhältniß stehen,
und diese Ansprüche jetzt bestimmt zu erheben ist die Sache Preußens.
Der einzige Gewinn aber, den Deutschland zu seiner nationalen Ent¬
wicklung machen kann, ist Schleswig-Holstein. Dies ist der einzige Preis,
der. die Gefahr eines Krieges aufwiegt. Leider hat sich Pieußen durch sein
unbestimmtes Verhalten gegen Oestreich jetzt die günstige Position verscherzt,
die eine vom gesammten Deutschland gestellte Forderung herbeiführen würde;
aber wenn es auch ganz allein steht, seine Stimme ist noch immer mächtig
genug, um sich im Rathe der Großmächte vernehmbar zu machen. Doch die
Zeit ist dringend, denn das Einverständnis) des französischen und englischen
Volks ist jetzt in seiner Blüte, und wenn die französische Eroberungslust in
Beziehung auf die Rheinprovinz sich einmal im Volke soweit verbreitet hat,
daß man es offen absprechen darf, einen Krieg gegen Preußen dem Bündniß
mit Preußen und Nußland vorzuziehen, so kann man später nicht mehr be¬
rechnen, wieweit der Dang der Ereignisse über die verständigen Berechnungen
und Pläne der Menschen hinausgehen wird. —--
Soeben erscheint eine neue Broschüre: „.Kann Preußen fernerhin
neutral bleiben?" (Leipzig, Geibel), welche ihrem Inhalt wie ihrer Hal¬
tung nach wol als eine officiöse Kundgebung des östreichischen Cabinets an¬
gesehen werden könnte, wenn nicht einzelne Ungenauigkeiten in den Thatsachen
dagegensprächen. So wird z. B. das erste Widerstreben Preußens, einen
bewaffneten Neutralitätsvertrag mit Oestreich abzuschließen, aus russischen
Sympathien hergeleitet, während es bekannt ist, daß grade damals in Berlin
die entgegengesetzte Richtung sich geltend machte. Ferner wird die Vorstellung
einer souveränen Neutralität ihrem Entstehen nach in eine spätere Zeit verlegt,
als in der That der Fall war. Außerdem findet noch eine kleine Ungenauigkeit
in Bezug auf das preußische Gesandtschaftspersonal in Paris statt.
Aus diesen Gründen müssen wir das Schriftchen vorläufig als ein nicht
officielles betrachten. Sein Inhalt wird deshalb'um nichts weniger beherzigens¬
wert!). Durch einfache und schlagende Zusammenstellung der bisherigen Ver¬
handlungen weist der Verfasser drei Punkte nach. Erstens, daß Preußen ans der
wirklichen Neutralität bereits herausgetreten ist, daß es durch seine Betheiligung
an den Wiener Protokollen und durch seinen Vertrag mit Oestreich es sich
wenigstens unmöglich gemacht hat, auf die Seite Rußlands zu treten, weil es
in diesem Fall seine Ehre aufs Spiel setzen würde. Zweitens, daß es im Fall
einer aufrichtig und vollständig festgehaltenen Neutralität, wozu man ihm an
und für sich das Recht nicht absprechen könne, ein für allemal seine Stellung
als europäische Großmacht aufgäbe. Drittens, daß es aber für den Fall, es
mit dieser Neutralität nicht aufrichtig zu meinen, sondern abzuwarten, bis die
Ereignisse ihm eine günstige Gelegenheit geben, das Gewicht seines Schwertes
in die eine oder die andere Wagschale zu werfen, se^h in dieser Berechnung
täuschen würde, da bei seinem ersten Versuch , zu rüsten, sofort kategorische
Anfragen von Seiten der Verbündeten eintreten würden. Dieser letzte Punkt
ist noch in einem strengeren Sinne richtig, als es der Verfasser ausspricht.
Die Anfragen werden schwerlich eine wirkliche Mobilisirung abwarten, da man
eine bedrohende Stellung einnehmen kann, auch ohne daß man sofort zum
Aeußersten schreitet. '
Könnten wir um aber annehmen, daß die Broschüre mehr wäre als eine
Privatschrift, daß sie wirklich die Ansicht der östreichischen Regierung ausdrückt,
so wäre sie noch ungleich wichtiger. Abgesehen von der scharfen Kritik des
preußischen Verhaltens, welche nur ausführlicher und schlagender fortsetzt, was
in der Note vom 30. September bereits angefangen war (so-wird namentlich
nachgewiesen, wie thöricht es sei, dem russischen Hof einreden zu wollen, die
von den Verbündeten festgestellten vorläufigen Anforderungen beabsichtigten
keineswegs eine Schmälerung der Macht, da eine solche Schmälerung doch auf
das bestimmteste in ihnen ausgesprochen ist), wird unter anderm auf S. 42
festgestellt, daß, wenn die Türken allein oder mit ihren Verbündeten aus der
Moldau und Bessarabien einbrechen und von den Nüssen zurückgeschlagen und
bis über den Pruth hinaus verfolgt werden sollten, die Oestreicher nach , der
Convention vom 14. Juni die Pflicht haben, die Russen herauszuschlagen, daß
also in diesem Fall der Krieg erklärt wäre; es wird ferner S. 43 festgestellt,
daß Oestreich sich auch durch das Widerstreben des Bundestages nicht abhalten
lassen darf, in seinem Vertrage mit den Westmächten weiter vorzugehen; eS
wird endlich S. 30 Preußen aufgefordert, seinerseits nach der Richtung, - die
ihm durch seine geographische Lage angewiesen ist, für Deutschland einzutreten.
„Bisher war hauptsächlich'von den deutschen Interessen an der Integrität der
Türkei in den Doiiausürstenthümern und von der freien Schifffahrt der Donau¬
mündung die Rede. Nichts hindert aber Preußen, zu verlangen, daß auch
für seine und Deutschlands Interessen an der Ostsee gesorgt werde. Oestreich
würde sich diesem Verlangen weder widersetzen wollen noch können, und die
betreffenden Forderungen würden in das Ultimatum der beiden deutschen Gro߬
mächte aufgenommen werden."
Das ist vollkommen richtig, und ebenso vortrefflich ist, was über die frühere
Geschichte Preußens, über den mehrfachen Versuch einer Neutralität beim Aus¬
bruch eines europäischen Krieges und über die daraus stets hervorgehende
Schwächung des Staates gesagt wird. Nur möchten wir eins zu bedenken
geben.
Falls Preußen die Initiative ergreift, um die Interessen Deutschlands an
der Ostsee zur Bedingung seines Beitritts zu machen, so wird also Oestreich,
wenn ihm Deutschland wirtlich am Herzen liegt, aus alleil Kräften für die
Annahme dieser Bedingungen zu wirken haben; falls.Preußen aber nicht die
Entschlossenheit dazu besitzt, so wird ihm Oestreich zu Hilfe kommen müssen.
In dieser Beziehung haben die Beschuldigungen der preußischen Noten gegen
Oestreich einigen Grund. Oestreich Hut bis jetzt nur auf Hie deutschen Interessen
hingedeutet, welche zugleich auch Oestreichs Interessen sind; es möge nun
Preußen darauf aufmerksam machen, in welchen Punkten eS für Deutschland
und zugleich für sich selbst wirken kann, und ihm in diesen Punkten seine Unter¬
stützung zusagen. Es gibt aber keinen andern Punkt, als die Aufhebungc>es
Londoner Protokolls über die dänische Succession. Das Londoner Protokoll
ist unter russischem Einfluß festgestellt worden; einem Einfluß, der damals in
Beziehung auf Oestreich so unzweifelhaft war, daß noch längere Zeit darauf
der russische Kaiser das Einverständnis? Oestreichs in Rechnung bringen konnte,
ohne erst darüber anzufragen. Der gegenwärtige Krieg hat nun den ausge¬
sprochenen Zweck, das Uebermaß des russischen Einflusses zu brechen; es scheint
also in der Natur der Sache zu liegen, daß man damit'anfängt, die Resultate
dieses Einflusses, über die man noch Herr ist, aufzuheben. Wenn man Preußen
diesen Preis seines Beitritts stellt, so wird aller Einfluß, den der Herr von
Gerlach haben mag, nicht ausreichen, um noch ein längeres Zaudern möglich
zu machen.
Sollte aber dennoch das Unbegreifliche geschehen, dann hätte Oestreich
die Pflicht , in seinem eignen Namen für Deutschland das zu fordern, was
Deutschland in den Jahren -1850 und -1851 zum großen Theil durch Oestreichs
Schulo eingebüßt hat. Ein »solcher Widerspruch gegen sein früheres Verhalten
würde in diesem Falle Oestreich verschaffen, wonach es so häusig mit kleinen
Mitteln vergebens gestrebt hat: die unbestrittene Hegemonie in Deutschland.
Für diesen,Fall würde der Erwerb der Herzogtümer für Deutschland freilich
nicht in der Form vor sich gehen können, die ihm den unmittelbaren prakti¬
schen Erfolg sichern könnte (denn der Besitz eines Kriegshafens 'hat nur Sinn
in den Händen einer Macht, die in der Lage ist, eine Flotte zu halten), aber
die Hauptsache wäre doch' geschehen, die Trennung der deutscheu Provinzen
von Dänemark, und es wäre der Entwicklung Deutschlands die Zukunft offen
gehalten. —
Was nun die Darstellung der thatsächlichen Verhältnisse betrifft, so ma¬
chen wir zur Ergänzung derselben auf die' Vaterland löcher Hefte auf¬
merksam. (Mannheim, Bassermann u. Matthy.) Das erste Heft behandelt die
Frage: Wo ist das einige Deutschland? Das zweite Heft enthält sieben Ca¬
pitel aus der neuesten Geschichte mit Ackerstücken und einer Zeittafel. In
diesen Heften, die von dem Standpunkte unsrer eignen Partei aus geschrieben
sind, werden die Ereignisse nicht blos behufs einer politischen Frage, sondern
mit wahrhaft historischem Geist erörtert. Möchten sie namentlich in Preußen
beherzigt werden, dessen Lage sie weit günstiger auffassen, als es selbst der
sanguinischeste preußische Beamte erwarten sollte.
Bei dieser Gelegenheit möchten wir über die Haltung unsrer Freunde von
der ehemaligen Gothaischen Partei einige Bemerkungen machen. Es ist gewiß
zweckmäßig und nothwendig, daS deutsche Volf, das leicht geneigt ist, sich
ein neues Götzenbild zu schnitzen, vor einem voreiligen Enthusiasmus für
Oestreich zu warnen. Eine so hohe Anerkennung die redliche, feste und con-
sequente Haltung der östreichischen Politik in der orientalischen Frage verdient,
so sind doch damit noch lange nicht alle Schwierigkeiten hinweggeräumt, die
Oestreich bisher abgehalten haben, sich an die Spitze Deutschlands zu stellen.
So entschieden wir der Haltung Oestreichs vor der Haltung Preußens den
Borzug geben, so dürfen wir darüber doch'nicht vergessen, daß alle diejenigen
Hoffnungen, die sich nicht auf die augenblickliche Haltung des Cabinets, son¬
dern auf die Gesammtheit der geschichtlichen Zustände beziehen, uns bis auf
weiteres immer noch mehr auf Preußen als auf Oestreich hinweisen, obgleich
wir nicht leugnen, daß im Lause des gegenwärtigen Conflicts Fälle eintreten
können, die dieses Verhältniß aufheben.
Aber unweise scheint es uns zu sein, in diesem Augenblicke wieder die
alten Uniönsprojccte aufzunehmen. Kein Zeitpunkt war so wenig geeignet,
auch nur ganz entfernt für die Verwirklichung derselben zu arbeiten, als der
gegenwärtige. Wenn man in diesem Augenblicke den östreichischen Staats¬
männern zumuthet, sie sollen Preußen zum Lohn für seine bisherige Haltung
freiwillig diejenige Hegemonie in Deutschland einräumen, die ihm im Jahre
18i'9 von der Weidenbuschpartei zugedacht war, so kann die Antwort wol nur
ein mitleidiges Lächeln sein.
Wir sind hier schon mitten im Spätherbst, wiewol in andern Jahren die
sonnigen Tage bis zum Schluß 'des November, ja zuweilen tief in den De¬
cember hinein zu währen pflegen. Ein trüber, bleigrauer Himmel breitet sich
über Land und Meer aus, und dermaßen ist die Luft feucht und von Dünsten
erfüllt, daß der Blick eine verengte Scene vor sich findet und nicht mehr über
die Prinzeninseln, den Kaischdagh und- die Höhen von Ejub hinausreicht.
Dabei bläst ein sröstelnmachender Nordwind von Bujukdere her die Meerenge
entlang und über die kahlen Berge hin, welche Pera und die Nebenvorstädte
in'vielfachen Reihen .umgürten. Schon sind die Blumenverkäufer seltener ge¬
worden in der großen Perastraße; nur die breiten Astern, die rothen Fuchs¬
schwänze und bunten, vielfarbigen Georginen behaupten sich noch auf dem
Platze, indeß, wie es scheint, um ihn auch bald zu räumen.
Ehe ich mich zum Schreiben niedersetzte, machte ich einen Gang über das
große Todtenfeld, welches sich in der Nähe meiner Wohnung ausbreitet, und,
im Unterschiede vom älteren Piccolo Campo in der inneren Stadt zwischen
Per« und Kassen Pascha, Campo grande genannt avird. Einzelne von den
hohen Bäumen, deren Laub sich namentlich im letzten Sommer so prächtig
entfaltet hatte, stehen bereits kahl; in den Zweigen der andern braust der Wind
und schüttelt einen Regen gelber Blätter auf die Frankengräber hernieder.
Dabei ist der Weg schon feucht vom letzten Guß, den die Sonne nicht mehr,
wie im Sommer, schnell auszutrocknen vermag; der Koth mehrt sich, die Passage
wird schwieriger und uns beschleicht jenes seinem Grundton nach unbehagliche
Gefühl, was wir beim Herannahen des Winters empfinden.
Das Jahr, in dessen letztes Viertel wir mit dem Beginn dieses Monats
eingetreten sind, hat, das kann nicht geleugnet werden, die Lage dieses Reiches
im hohen Maße zum Bessern umgewandelt. Noch vor weniger als zehn Mo¬
naten war die Zahl derjenigen überwiegend, welche der Zukunft der Pforte
ein nur kurzes Ziel setzten. Man meinte, sie werde unter den Händen
der zu ihrem Beistand herbeieilenden europäischen Mächte verscheiden; wer auf
Fortbestehen der gegenwärtigen Verhältnisse für die Dauer von zehn Jahren
rechnete, galt schon für einen kühnen Speculanten, ja es sollen Wetten abge¬
schlossen worden sein, daß binnen fünf Jahren der Großsultan seine Residenz
in Brussa oder Konieh nehmen werde.
Das wiedergewonnene Vertrauen wird seiner ganzen Größe nach nicht
durch die Cursverbesserung des Papiergeldes um volle fünf Procent seit einem
Vierteljahr repräsentirt; denn die Finanzen sind immerhin noch der wunde Fleck
dieses Gouvernements und sie werden es auf viele Jahre hin noch verbleiben;
aber aus dem steten Steigen des Grundeigenthums im Werthe, aus der Größe
der Geschäfte, die in dieser Beziehung täglich gemacht werden, und bei denen
es vorkommt, daß Gehöfte und Baustellen nach einigen Wochen mit dem dop¬
pelten Preise der Einkaufssumme auss neue verhandelt werden, kann man ent¬
nehmen, daß die hiesigen Verhältnisse im allgemeinen nicht für allzu unsicher
betrachtet werden. Ich habe nicht genaue Kenntniß darüber, aber ich vermuthe,
auf mancherlei Gründe gestützt, daß in diesen Tagen von auswärtigen Kapi¬
talisten manches ,sür die Zukunft äußerst ergiebige Geschäft hier abgeschlossen
worden ist. Vorerst handelt es sich nur um Erwerbung von Land, als da sind
Aecker, Gärten; aber schon regen sich wieder die Agenten der verschiedenen
Compagnien, welche auf den Ausbau dieser oder jener Eisenbahnlinie speculiren,
und nachdem dach Oestreichs Haltung eine Garantie gegen die Gefahr eines
neuen russischen Einfalls in Bulgarien und die Dobrudscha gewonnen zu sein
scheint, ist es selbst nicht mehr ganz unmöglich, daß man mitten im Kriege zur
Ausführung einer der großen Hauptsträuge, etwa der Linie von hier 'über
Adrianopel und Sophia nach Belgrad schreiten wird.
Es liegt aus der Hand, welche große Wichtigkeit diese Verhältnisse für die
südliche deutsche Großmacht haben und daß. Oestreich es sich angelegen lassen
sein wird, sie ihrem ganzen Umfange nach in seinem Interesse auszubeuten.
In solcher Hinsicht ist Herr von Brück in Konstantinopel g^nz an seinem
Platz. Obwol kein Freund Englands und in den Zeiten, wo man in Wien
über die Wahl zwischen dem Westen und Osten stritt, keineswegs zu den Par¬
teigängern des erstern zählend, erkennt er doch deutlich genug, daß für Oestreich,
wenn es dereinst als große Handelsmacht seine Stellung im Herzen des Kon¬
tinents einnehmen will, grade in dieser Zeitperiode ein Conflict mit Gro߬
britannien am meisten zu vermeiden ist; daß ferner es für die commercielle
Politik des Kaiserstaats ein Strebeziel sein muß, mehr und mehr die großen
Communicationslinien zwischen dem Orient und Occident, die heute ihre End¬
punkte am Ganges und der Themse haben, durch sein Gebiet zu leiten, und
endlich, daß die Verbindung der unteren Stromhälfte der Donau und des Bos-
por die wichtigste darunter ist.
Man hatte hier erwartet, daß Oestreich gegen die Erpedition nach der Krim
diplomatischen Einspruch erheben werde, weil nothwendig das Gelingen dieser
Unternehmung und eine darauffolgende bleibende Besitznahme der Halbinsel
durch die Seemächte zu einer Umgestaltung der Machtverhältnisse auf dem Eurin
führen müßte, von dem nicht Nußland allein betroffen werden würde. Wider
Vermuthen scheint indeß Herr von Brück sich inbetreff dieses Punktes schweig¬
sam verhalten zu haben; ja man will wissen, daß eine Verständigung Frank¬
reichs und Englands mit dem Cabinet zu Wien über die in Rede gestellte Frage
schon stattgefunden habe und damit jeder Stein eines etwaigen Anstoßes aus
dem Wege geräumt worden sei.
Es ist auffallend, wie spärlich uns die Nachrichten über den Fortgang der
Operationen auf der taurischen Halbinsel zufließen. Bei der großen Anzahl
von Dampfern, über welche die Flotte der Alliirten zu disponiren hat, könnte
recht füglich eine tägliche Verbindung eingerichtet sein. Dagegen vergeht zu¬
weilen eine halbe Woche, in der wir ganz ohne Kunde sind, wonach dann in¬
nerhalb vierundzwanzig Stunden wiederum zwei oder' drei Dampfer anlangen.
Die vorgestern eingetroffenen Briefe sind vom 1-1. datirt und bestätigen aufs
neue die schon früher gehegte Vermuthung, daß die Schwierigkeiten der Be¬
lagerung anfänglich unterschätzt wurden. Das Feuer gegen die Festung selbst
war noch nicht eröffnet worden, und man glaubte voraussetzen zu dürfen, daß
nicht vor dem 1i, (vorgestern) die Batterien der ersten Parallele vollendet sein
iMrd'eW!!' ' '^'i, n^'l -Il'Üb'Ul! "^^ ,>j5!'^/?!h it'N!-')
Für diejenigen Ihrer Leser, die an den militärischen Vorgängen in Taurien
ein specielleres Interesse nehmen, will ich hier bemerken, daß der Schauplatz
ver Hauptereignisse sich auf jener schmalen Halbinsel befindet, welche' von dem
Sebastopoler („Artillerie-") Hafen, der Rhede von Scbastop'ol, dem Meer und
der Bucht von Balaklava umgrenzt wird, und die südostwärts, in der Gegend
jener Ortschaft, mit dem taurischen Continent im Zusammenhange steht. Hier¬
durch und durch die Anwesenheit einer russischen Beobachtu)igsarmee außerhalb
der Befestigungen sind zwei Fronten der Alliirten bedingt, die jenen Raum zur
Basis ihrer Operationen gemacht haben; eine nördliche Angriffsfronte gegen
die Festung und eine südöstliche Vertheidigungsfronte. Die letztere wendet sich
einer russischen Entsatzarmee entgegen, die in der Richtung von Karasubasar
erscheinen könnte, und soll zugleich- verhindern, daß von derselben Gegend her
Verstärkungen in den Platz hineingeworfen werden.
Wenn der Fortgang der Operationen gegen die Festung seither den Er¬
wartungen nicht entsprach, so liegt dies zum Theil in den großen Schwierig¬
keiten, welche die Angriffsarbeiten aus dem meistens felsigen Terrain finden,
theils auch darin, daß man, nachdem die Hauptmasse des Belagerungsmaterials
beim alten Fort ausgeschifft worden war, die Landpassage um die tiefeinge-
schnittene Bucht herum für zu beschwerlich, und, in Rücksicht auf die Gegenwart
eines russischen starken Observationscorps, auch für den schweren Train als zu
gefährlich erachtete, mithin Munition und Belagerungsgeräth wieder einschiffte,
um die Festung seewärts zu tourniren, indem man die in Rede stehenden
Gegenstände bei Balaklava ans Land schaffte. Endlich hielten es die Alliirten
für rathsam, sich zunächst den Rücken zu decken, bevor sie die weitläufigen und
große Kräfte in Anspruch nehmenden Angriffsarbeiten gegen die Stadt- und
Arsenalfronten der Festung begannen. Anstatt also den Bau der ersten Parallele
zu betreiben, waren die französischen und englischen Ingenieurs zunächst be¬
müht, der südöstlich gewendeten Position von Balaklava einen sortificatorischen
Halt zu verschaffen. Man entschied sich für die Herstellung eines großen Forts,
anstatt die ganze Linie zwischen dem Binnenpunkte der Sebastopoler Rhede und
der Bucht von Balaklava zu befestigen. Vielleicht daß letztere nachfolgen wird,
wenn ersteres vollendet ist.
Den mit dem letzten Dampfer hier eingegangenen Nachrichten zufolge hatte
General Bosquet mit der ersten und zweiten französischen Division und zwei
englischen Brigaden die Stellung von Balaklava bezogen, während die beiden
andern französischen Divistonen, verbunden mit dem ganzen Rest der englischen
Truppen, sowie des kleinen türkischen Corps, die Angriffsarbeiten gegen die
Festung betrieben.
Um die letzteren zu stören, .machten die Russen, kurz vor Abgang des
Steamers, einen Ausfall, der indessen von den Jägern von Vincennes mit
Kraft und unter bedeutendem Verlust des Feindes zurückgewiesen wurde.
Ich wiederhole hier, was ich schon früher als Behauptung hingestellt, daß
der Fall des Platzes, wenn nicht ganz unerwartete Zufälle eintreten, keines¬
wegs vor dem 20. dieses Monats zu erwarten steht, und daß es möglich ist, den¬
selben noch bis zu den ersten Tagen des November in russischen Händen zu sehen.
Unter anderen Umständen als die gegebenen würde leicht möglich der Widerstand
sich selbst über den letzteren Termin hinaus noch verlängern können; indeß sind
die Zerstörungswaffen durch die Hilfsquellen, welche die Schiffsartillerie für Ar-
mirung der Batterien bietet, in zu großer Zahl in den Händen des Angreifers,,
als daß man nicht auf eine beschleunigte Wirkung des Feuers der Belagernden
rechnen dürste. Ich bemerke noch, daß ein Festungskampf von diesen Dimen¬
sionen, und bei dem Land- und Seemacht in solcher Stärke betheiligt gewesen
wären, in der ganzen neueren Kriegsgeschichte nicht vorgekommen ist. Die Be¬
lagerung von Toulon im Jahre -1793, in der Napoleon als Obrist^) Bonaparte
seine ersten Lorbeeren erwarb, bietet Vergleichungspunkte dar, erreicht aber den
gegenwärtigen Fall weder an militärisch-politischer Bedeutung noch in Hinsicht
auf die sür den Angriff und die Vertheidigung aufgewendeten Mittel.
Ich schreibe Ihnen'diese Zeilen in meiner Landwohnung, noch in später
Stunde, während draußen das Terrain weithin von einer ungeheuren Feuers-
brunst erleuchtet ist, die von Nachmittag, eine Stunde vor Sonnenuntergang,
in Ortakoj, einem der am Bospor, nahe dem großherrlichen Palais von
Tschiraghan gelegenen Vordörfer Konstantinopels ausbrach und sich eben jetzt
in ihrer ganzen Furie entfaltet. Die Unerläßlichkeit, zum morgigen Postabgange
den vorliegenden Brief bereit zu machen, hält mich ab, mich auf den Weg zu
machen, um daS ungewöhnliche und grausige Schauspiel von den nächsten
Höhen aus der Vogelperspective zu überschauen. Aber auch von meinen Fen¬
stern aus sehe ich bereits genug, um den Brand seinem ungeheuren Umfange
nach ermessen zu können. Die Lohe schlägt nicht in einer schmalen Flammen¬
säule, sondern in einer Masse auf, die bei anderthalbtausend Schritt Durchmesser
haben mag. Der Wind steht aus Nord, und, den früher bei unzähligen Brän¬
den gemachten Erfahrungen gemäß, bewegt das Feuer sich ihm entgegen; rück¬
wärts erstickt es der Rauch so vieler dampfender Holzmassen. Wie das prasselt
und braust. Ungeachtet die Entfernung zwanzig Minuten beträgt, hört man
das Geschrei der Bewohner und der Spritzenleute deutlich herübertönen; sodann
erfolgt ein Schlag, der die Fenster klirren macht; die Funken stäuben in einer
breiten Garbe aus der Lohe auf und gleichen am schwarzen Nachthimmel einem
Heer flatternder Sterne; es ist ein großer Konack oder ein türkisches Winter¬
haus, welches soeben auf einmal zusammengebrochen ist. Ueber das unbebaute
Feld hin eilen eine Anzahl Laternen; sie gehören Neugierigen zu, die aus
Pera und Toppana kommend, sich den Brand in der Nähe besehen wollen.
Jener ungestüm dahineilende Menschenknäuel — man unterscheidet in der
Dunkelheit nur seine Umrisse—ist eine Spritzencompagnie; die Leute sind nur
mit Hemd und Hosen, zuweilen lediglich mit letzteren bekleidet. Gellert rufen
sie: tschabuck, tschabuck (schnell, schnell!).
Bei einer gegenwärtigen Feuersbrunst liegt der Gedanke nahe, ob nicht
in demselben Augenblick Sebastopol brennen möge. Nach Nachrichten von
dorther ist das Feuer nun endlich eröffnet worden, und die eigentliche Bela¬
gerung hat ihren Anfang genommen. Ich muß Ihnen indeß gestehen, daß
mich der Fortgang, welchen die Operationen bis jetzt genommen haben, nicht
ganz befriedigt.. Aus den Detailberichten verschiedener Offiziere geht hervor,
daß man -mit einer gewissen Langsamkeit agirt, welche den Umständen wenig
angemessen ist, und die, falls sie nicht durch einen andern Modus ersetzt wer¬
den sollte, leicht große Verlegenheiten herbeiführen, wenn Nicht das Gelingen
des ganzen Unternehmens in Frage stehen soll. Darüber ist man hier einig,
daß man die Wegnahme des Platzes als nicht nahe bevorstehend anzusehen hat
und daß es mindestens zweifelhaft ist, ob man nicht genöthigt sein wird, bevor
man zum Sturm der sich eben jetzt vorbereitenden Bresche schreitet, eine Ent¬
scheidung im offenen Felde zu geben.
Schon am 8. dieses Monats wollte man im englisch-französischen Haupt¬
quartiere wissen, daß Lüders mit einem bedeutenden Armeecorps im Anmarsch
gegen die Krim begriffen sei. Wenn wir nun auch aus der Gegend, in welcher
sein Abmarsch erfolgt sein müßte, d. h. aus Bessarabien, keine directen Nach¬
richten darüber haben, so scheinen doch Winke, welche Oestreich gegeben hat,
die Voraussetzung zu bestätigen, daß der Zar einen bedeutenden Truppenkörper
von der Südarmee abgelöst und gegen Perekop dirigirt habe. Vor fünf oder
sechs Tagen sollen diese Landenge große Streitmassen passtrt haben, indeß
dürfte man darin noch nicht das S. Corps, sondern vielmehr diejenige Division
Osten-Sackenö erkennen, welche derselbe bei Empfang der Nachricht von der
Landung der Verbündeten auf der Krim gegen Cherson ausbrechen ließ. Daß
vom Gerücht auch der Anmarsch des General Fürst Bebutoff aus Cirkassten
gemeldet wird, versteht sich von selbst. Derselbe würde jedoch zwei bis drei
Monate nöthig haben, um nach der Krim anzulangen, indem nicht anzunehmen
ist, daß er vom Admiral Dundas die Erlaubniß erhalten wird, die breite See¬
straße von Theodosta auf Booten zu Passiren, und sonach seinen Weg über
Assow nehmen müßte.
Bei dem allen bleibt die Lage immerhin eine ernste und die durchaus
nicht leichtfertig betrachtet werden darf, Unwiderleglich steht es fest, daß der
Zar seine Dispositionen getroffen hat, um im nächsten Monat über hundert¬
tausend Mann, vielleicht hundertundvierzigtausend (!) in der wünschen Halb¬
insel zu concentriren und sollte Sebastvpol bis dahin noch nicht in den Händen
der Verbündeten sein, so wird die Unternehmung mindestens momentan kritisch.
An ihrem endlichen Gelingen zweifle ich ungeachtet dessen nicht.
Neben dem fieberhaften Interesse, welches man hier an den Operationen
in der Krim nimmt, und mit dem man jeden Schritt der verbündeten
Armeen und ihrer Gegner verfolgt, kann sich selbstredend im Augenblick kein
anderes behaupten. Daher die Gleichgiltigkeit, mit der man den jüngsten be¬
deutungsvollen Reformmaßregeln der türkischen Negierung in Bezug auf die
Erweiterung des T'ansimats begegnete. Die Errichtung des neuen Conseils
wird kaum besprochen, und allerdings bedarf es auch vorerst der Wahrnehmung
seiner Wirksamkeit, um über den Werth, welcher ihm beizumessen ist. ein Urtheil
abgeben zu können. Der Name des dabei betheiligten Fuad Essend! und die
große, lebhafte Theilnahme, welche Lord Redcliffe der neuen Institution zu¬
wendet, tragen einige Bürgschaft in sich, daß dieselbe ihren Zweck nicht ganz
verfehlen werde.
Die Situation der Finanzen, insbesondere der große Aufwand für den
Krieg, haben zunächst die Auflegung einer neuen Steuer unerläßlich gemacht.
Es ist eine Haussteuer, die auf kleine Häuser mit der geringen Belastung von
drei Piaster (fünf Silbergroschen) monatlich und auf die größten mit achtzehn
Piaster fällt. Wie eS scheint, hätte man billigerweise diese letztere Summe
noch höher greisen können. Das Wetter ist wieder heiter geworden, nachdem
es eine Reihe von Tagen hindurch recht unfreundlich gewesen. Am letztver-
gangenen Dienstag (17- October) und zwar um elf Uhr Vormittags, wurde
hier ein leichtes u.ut nur einige Secunden währendes Erdbeben verspürt. Der
Wind flauo aus Süden und die Luft war drückend schwül.
I^v in>l> >>u'u>! -I «>it an» te-man«. pur Kann v IZ s i: >! ii n ki. Iji'uxellvii
I^my/ig. liivüijlm^ Le>mj>, 18ni. —
Der Verfasser hat aus der antiken und modernen Literatur der verschie¬
densten Völker alle Stellen zusammengebracht, in denen den Frauen Uebles
nachgesagt wird; der Angabe nach, um sie zu widerlegen, aber wir möchten
auf ihn selbst den Ausspruch anwenden, durch den er den Euripides als einen
Weiberfeind darzustellen sucht: wenn man sich nämlich vielfach in einem be¬
stimmten Kreise von Vorstellungen bewegt, so verräth das doch eine gewisse
Neigung, — In den Aussprüchen sind manche recht originell und ergötzlich.
Wir wollen einige davon anführen. So spricht einmal Frau von Girardin
von der Gewohnheit Balzacs, seine Liebesverhältnisse in der Regel in das
dreißigste Jahr zu verlegen: „Das ist nicht die Schuld des Herrn von Balzac;
der Dichter ist gezwungen, die Leidenschaft da zu malen, wo er sie findet, und
man findet sie nicht mehr in einem Herzen von sechszehn Jahren. Ehemals
ließ sich ein junges Mädchen durch einen Musketier entführen, sie entfloh'
aus dem Kloster über die Mauer, und die Romane dieser Epoche wimmelten
von Klöstern, Musketieren,' Strickleitern und Entführern. Julie liebte Se.
Preur mit achtzehn Jahren, mit zweiundzwanzig Jahren heirathete sie aus
Gehorsam Herrn von Volmar; so war die Sitte deS Zeitalters. Damals
sprach das Herz mit sechszehn Jahren; heute wartet es länger, um gerührt
zu werden. Heute fängt Julie, das ehrgeizige und eitle Mädchen, an, mit
achtzehn Jahren freiwillig Herrn von Volmar zu heirathen, dann mit fünf¬
undzwanzig Jahren kommt sie von den Trugbildern ihrer Eitelkeit zurück und
entflieht mit Se. Preux aus Liebe; denn die Träume der Jugend sind heute
Träume des Stolzes. Ein junges Mädchen heirathet einen jungen Mann
nur unter der Bedingung, daß er ihr einen Rang in der Welt, ein gesichertes
Vermögen, ein wohlausgestattetes Haus verschafft. Einem jungen Mann
ohne Aussichten würde man einen Greis vorziehen, der nichts mehr zu hoffen
hat. Heute würde Racines Junta bald Nero vorziehen, um Kaiserin zu
sein; Manon Leöcaut würde dem Ritter Deögrieur die Thüre weisen, um
einen alten Marschall zu fangen; Virginie würde Paul verlassen, um Herrn
de la Bourdvnnaye zu hei-rathen; selbst Atala würde dem schönen Chactaö
den Pater Aubry vorziehen, wenn dieser nicht das Gelübde der Armuth ab¬
gelegt hätte. Betrachtet doch nur die leidenschaftlichen Frauen, die heute von
sich reden machen. Alle haben mit einer Heirath des Ehrgeizes begonnen; alle
haben reich sein wollen, gnädige Frauen und Gräfinnen, bevor sie daran
dachten, geliebt zu werden. Erst nachdem sie die Eitelkeit der Eitelkeit erkann¬
ten, haben sie sich zur Liebe entschlossen. Ja, es gibt einzelne, die unbefangen
wieder zu ihrer Vergangenheit zurückkehren, und die mit 28 oder 30 Jahren
sich leidenschaftlich für den jungen Mann aufopfern-, dem sie mit 17 Jahren
einen Korb gaben. Herr von Balzac hat also vollkommen Recht, die Leiden¬
schaft da zu malen, wo er sie findet, das heißt außerhalb des natürlichen
Alters. Freilich ist das langweilig für die Nomanleser, aber noch viel trauri¬
ger für die jungen Leute, die von Liebe träumen und genöthigt sind, in ihren
Entzückungen auszurufen: „O wie ich sie liebe! Wie schön muß sie gewesen
sein!" — Recht artig ist auch die Darstellung von Victor Roqueplan über
den Nachtheil, den es dem geselligen Umgang bringt, daß es keine alten
Frauen mehr gibt, die sich entschließen, alte Frauen zu sein. — „Die Freund¬
schaft zweier Frauen," sagt Alphons Karr, „ist immer nur ein Complot gegen
eine dritte." — „Eine tugendhafte Frau," sagte Larochefoucauld, „hat in ihrem
Herze» eine Fiber mehr, als andere Frauen; sie ist entweder dumm oder er¬
haben. Die Tugend der Frauen ist eine Sache des Temperaments." — „Frank¬
reich," sagt Bougeart, „ist sah Land, wo die Männer gegen die Frauen die
meiste Galanterie und die wenigste Achtung haben. Jene beklagen sich auch
'keineswegs darüber, denn die meisten ziehen die Anbetung der Achtung vor."
— „Das einzige Wunder," sagt Stahl, „das noch immer geschieht, obgleich
es durch die Häufigkeit seiner Erscheinung aufgehört hat, die Aufmerksamkeit
auf sich zu ziehen, ist das der Zauberin Circe, welche die Männer in Bestien
verwandelte." — „So schön der Weg sei," fügt derselbe hinzu, „den man mit
einer Frau zurücklegt, so kommt doch stets ein Augenblick, wo man, um sich
zu zerstreuen, genöthigt ist, die Meilenzeiger zu zählen." — „Das Leben einer
Frau," sagt Diderot, „ist im Kops, im Herzen oder in der Leidenschaft. In
dem Alter, wo die Frau über das Leben ihr Urtheil gesprochen hat, muß der
Ehemann wissen, ob die erste Ursache der Treulosigkeit, die sie sich vorsetzt,
von der Eitelkeit, vom Gefühl oder vom Temperament herrührt. Das Tem¬
perament ist eine Krankheit, die man heilen kann; das Gefühl, bietet den Ehe¬
mann große Aussichten auf Erfolg, aber die Eitelkeit ist unheilbar. Die Frau,
die mit dem Kopfe lebt, ist eine Pest; sie vereinigt die Fehler einer leiden¬
schaftlichen und einer liebenden Frau, ohne die gleichen Entschuldigungen zu
haben; sie ist ohne Mitleid, ohne Liebe, ohne Tugend, ohne Geschlecht." —
Zum Schluß einen kleinen Dialog aus Balzac. „Haben Sie wohl bemerkt,
meine Liebe, daß die Freuen in der Regel nur til? Dummen lieben?" „Was
Sie sagen, Frau Gräfin! Wie vereinigen Sie aber diese Bemerkung mit der
Abneigung der Frauen gegen ihre Ehemänner?" —
,>-
Die Gegenwart. Eine -encyklopädische Darstellung der neuesten Zeitgeschichte
für alle Stände. Neunter Band. Leipzig, Brockhcuis. 18Sj. —
Die „Gegenwart" zeigt schon durch ihr langes Fortbestehen, daß die Her¬
ausgeber das Bedürfniß des Publicums verständig in Rechnung zu ziehen ge¬
wußt haben. Umsoweniger kann man darüber zweifeln, da die Zeit des Ent¬
stehens den gegenwärtigen Voraussetzungen sehr stark widerspricht. — Die ersten
Hefte der „Gegenwart" erschienen im Jahre -1848 mitten unter dem Rausch
der Revolution. Damals dachte niemand daran, sich mit etwas andrem zu
beschäftigen als mit den politischen oder socialen Tagesfragen. Ein encyklo¬
pädistisches Werk, welches sich an die Interessen der Zeit wenden wollte, war
also von vornherein darauf angewiesen, die Politik zu seinem Hauptgegenstand
zu machen. So finden wir denn in dem ersten Bande der „Gegenwart" -die
Revolutionsgeschichte entschieden im Vordergrunde; eine Geschichte der neuesten
französischen Revolution wird begonnen und in mehren Absätzen fortgesetzt; die
socialen Bewegungen der Gegenwart, das Heerwesen, der Communismus, die
Bureaukratie, die Schuleinrichtungen, das staatsbürgerliche Verhältniß der Ju¬
den, die Entwicklung des deutschen Volks nach seinen sprachlichen und localen
Voraussetzungen und was sonst damit verwand! ist, wird in ausführlichen Ar¬
tikeln besprochen. Der Werth dieser Aufsätze ist natürlich ein sehr verschiedener;
am wenigsten Gehalt haben diejenigen, welche auf das eigentliche Zeitungs-
publicum berechnet sind, die Referate über die Tagesvorfälle, die, wie es in
solchen Fällen zu geschehen pflegt, leicht und oberflächlich dem unmittelbaren
Eindruck der Zeitungen nachgebildet sind. Doch zeichneten sich schon damals
diese Darstellungen, obgleich sich die Stimmung des Tages in ihnen nicht ver¬
leugnete, durch einen verhältnismäßig ruhigen und gemäßigten Ton aus. Unter
den gegenwärtigen Preßverhältnissen wird der Eindruck freilich ein andrer sein,
und insofern hat die „Gegenwart" gewissermaßen einen historischen Werth; man
erfährt aus ihr, was als ruhiger und gemäßigter Ton galt. — Diese
Referate sind nun in den folgenden Bänden regelmäßig weitergeführt, und
es gereicht den Herausgebern zur Ehre, daß die Haltung sich wenigstens nicht
sehr erheblich geändert hat. Freilich macht sich auch hier der Einfluß der Zeit
geltend. Ideen, die im Rausch der Begeisterung als geprägte Münzen hin¬
genommen wurden, werden begrifflich analysirt und an dem Maßstab der Er¬
fahrung geprüft; die Motive der Thatsachen, die man früher aus einer etwas
entfernten Perspektive betrachtete, werden ans Licht gezogen und gewinnen da¬
durch unmerklich eine neue Gestalt; die Interessen -bilden sich bestimmter aus
und geben den Parteien eine veränderte Richtung; die einzelnen Personen fin¬
den Gelegenheit, ihren Charakter zu entwickeln, und manches Götzenbild wird
von seinem Fußgestell herabgestürzt. Daneben wirken auch die äußern Pre߬
verhältnisse ein. Die Mäßigung, die im Jahre 1858 eine gewisse Gefahr für die
Fenster herbeiführte, brachte in den Jahren 18S2 und 1833 Kollisionen mit der
Polizei, vielleicht auch mit dem Criminalamte hervor. Die beliebten Schriftsteller
wechseln, und auch der einzelne entgeht in seinem Gemüth auf keine Weise dem
Einflüsse der Zeitschwingungen. — Rechnen wir nun die Metamorphosen ab, die
sich an diese äußeren und inneren Einwirkungen anknüpfen, so bleibt es immer
sehr anerkennenswert!), daß die Gesinnung in diesen Darstellungen sich im ganzen
so wenig verändert. Nebenbei haben diese Abhandlungen den Vorzug der Voll-
Ständigkeit. Fast von sämmtlichen Staaten Europas finden wir in diesen Heften
eine mehr oder minder ausführliche encyklopädistische Darstellung, die zum Theil
in die Vergangenheit hinausreicht; die bedeutendsten Charaktere (z. B. Gagern,
Radowitz, Camphausen, Rossi u. s. w.) werden von sachkundigen Biographen
besprochen, und auch die eigentlichen politischen Fragen finden ihr Recht. Man
wird mit den Verfassern derselben in Beziehung aus die ideellen Resultate häufig
in Conflict gerathen, aber die Species facti ist fast immer deutlich und vollstän¬
dig vorgetragen, und das ist in solchen Dingen doch die Hauptsache. — Neben
diesen politischen Artikeln nehmen den meisten Raum diejenigen ein, die sich
mit den Naturwissenschaften, der Geographie, dem Gewerbwesen und den in¬
dustriellen Bewegungen beschäftigen. Diese Artikel haben einen bleibenden
Werth. Sie sind zum Theil nicht blos von Sachverständigen, sondern von
den bedeutendsten Männern der Wissenschaft verfaßt und würden auch inner¬
halb der eigentlichen Literatur ihre Berechtigung haben. — Am wenigsten ist
die Literatur berücksichtigt worden. Es finden sich in den ersten Bänden
einige ganz ausgezeichnete Aufsätze, z. B. über Schlegel und Görres, aber
diese bleiben sporadisch; wir finden zwar .später noch mehre sehr ausführliche
Berichte über das deutsche Theater, den deutschen Roman u. s. w., allein von
einem wesentlich encyklopädistischen Charakter; es werden uns eine ungeheure
Menge von Namen vorgeführt, das Mittelmäßige und Schlechte fast in glei¬
cher Ausdehnung neben dem Guten, aber eine klare Einsicht über den Gang
der Literatur gewinnen wir daraus keineswegs; indeß macht sich dieser Mangel
im ganzen wenig fühlbar, da für die Besprechung der Literatur Zeitschriften
genug vorhanden sind, und da in diesem Felde ein parteiloses, ganz objectives
Urtheil, wie es das Publicum einer Encyklopädie braucht, viel schwerer zu er¬
reichen ist als aus dem Gebiet der Naturwissenschaften und den daran zunächst-
grcnzenden Zweigen des menschlichen Interesses. Wir können von der „Gegen¬
wart" behaupten, daß sie im ganzen einen wohlthätigen Einfluß ausgeübt hat.
Sie hat bei ihrer großen Verbreitung viel dazu beigetragen, das Interesse von
den abstracten Ideen auf die Thatsachen überzuleiten, und das ist ein unbe¬
streitbarer Gewinn, denn die Kenntniß der Thatsachen vermittelt eine ruhig
fortschreitende Bildung, während der einseitige Idealismus die Gemüther in
zwecklosem Streit einander entfremdet. Die unfertigen Ideen verewigen den
Kampf, während der Boden der Thatsachen ein neutraler ist, auf dem die strei¬
tenden Principien zum Austrag kommen. Freilich werden die Thatsachen nur
dann einen bleibenden Werth haben, wenn sie wieder zu neuen Principien und
Ideen führen.
— An dem tragischen Untergang des kühnen Nordpvlreisenden
Sir John Franklin und seiner Gefährten kann nach den neuesten hier eingetrof-
fenen Nachrichten nicht gut mehr gezweifelt werden, or. Rae, der seit längerer
Zeit im Auftrage der Hudsonsbaigesellschaft die nördlichen Theile des amerikanischen
Kontinents bereiste, traf im Frühling dieses Jahres in der Pellybucht eine Gesell¬
schaft Eskimos, welche ihm erzählte, daß weiter westlich eine Anzahl Weißer aus
Mangel an Nahrungsmitteln umgekommen sei. Von andern Eskimos erfuhr er andere
Nachrichten, welche diese Trauerkunde bestätigten und vervollständigten. Er hat sie
selbst nach England gebracht und aus seinem an die Admiralität erstatteten Berichte
geht hervor, daß die Eskimos im Frühjahr 18S0 einer Anzahl weißer Männer,
ungefähr 40, begegnet, welche über das Eis nach Süden wanderten. Einige Es¬
kimos, die sie begleiteten, schleppten ein Boot nach. Die Reisenden konnten sich
in der Sprache des Eskimvstamms, der ihnen begegnete, nicht genügend verständlich
machen, und gaben den Wanderern dnrch Zeichen zu verstehen, daß ihre Schiffe
im Eise zu Grunde gegangen wären, und daß sie jetzt nach Süden gingen, um
eine wildreichere Gegend aufzusuchen. An Lebensmitteln schien es ihnen sehr zu
fehlen, denn sie kauften den Eskimos eine Robbe ab, auch sahen sie alle sehr ab¬
gemagert aus. Einige Zeit später, aber noch in demselben Frühjahr vor dem Auf¬
thauen des Eises fanden Eskimos die Leichen von ungefähr 30 Personen auf dem
Festlande und von 3 Personen auf einer nahen Insel, einige Meilen von einem
großen mit vielen Fällen und Stromschnellen versehenen Strome. Einige derselben
waren begraben; andere lagen in den Zelten, noch andere hatten sich unter ein
umgestürztes Boot gekauert. Einer,- der ein Fernrohr über die Schultern ge¬
schlungen trug, lag auf der Erde aus einer schonen Doppelflinte. Reste in den
Kesseln verriethen, daß sie sich zuletzt von dem Fleisch ihrer todten Kameraden
genährt hatten. An Munition hatte es ihnen nicht gefehlt, denn es war noch
Pulver und Blei im Ueberfluß vorhanden. Die Eskimos, die or. Rae gesprochen,
hatten die Leichen nicht selbst gesehen; doch tauschte Rae von ihnen eine Menge
Gegenstände ein, die unzweifelhaft Franklin und seinen Gefährten gehört hatten.
Es waren dies silberne Gabeln und Löffel mit den Anfangsbuchstaben und Wappen¬
zeichen Sir John Franklins, Capitän Croziers, Lieutenant Gore und anderer,
ein kleines silbernes Schild mit der Aufschrift: Sir John Franklin, K. C. B.
(Comihur des Bathordens), einen Guclphenordcn und verschiedene andere Sachen.
Diese letzten gewichtigen Beweise heben die Zweifel, welche man wegen der Lügen¬
haftigkeit der Eskimos in die Nachricht setzen könnte, und es wäre nur noch fraglich,
ob die Reisenden durch Kälte, Hunger, oder durch die Eingebornen umgekommen
wären. Gegen letzteres spricht aber die geringe Thatkraft und der im allgemeinen
sanfte Charakter der Eskimos. Der Fluß ist der Beschreibung nach der von Sir
G. Back entdeckte und befahrene große Fischfluß, der sich am nördlichen Rande
des amerikanischen Kontinents in das Polarmeer stürzt. Franklin wäre demnach
von Cap Riley, wo er im Winter 18i7 gelagert, nicht den Wellingtoncanal nördlich
hinaus, wie einige vermuthen, sondern seinen Jnstructionen gemäß in westlicher
Richtung weiter gefahren, wo er dann südlich von dem 72. Breitegrade in diesem
an Gefahren so reichen Meer gescheitert. Bekanntlich segelte Sir John Franklin
mit dem Erebus und Terror im Frühling 18i5 von England ab, und gab gegen
Ende desselben Jahres die letzte und einzige Nachricht von sich, seit welcher Zeit
man nichts von ihm gehört hat. Nur die Spuren seines Winterlagers entdeckte
man am Cap Ulley. Er hatte auf drei Jahre Proviant mit sich, der jedoch vier
Jahre langen konnte. So wie es die Jahreszeit erlaubt, wird die Negicruiig eine
Expedition den Fischfluß hinabgehen lassen, sowol um die Nachrichten der Eskimos
an Ort und Stelle zu verificiren, wie auch um Capitän Collinson zu erlösen, von
dem man seit 2 Jahren keine Nachrichten hat, und der sich in der Nähe des
Mackenzieflusses befinden muß . . Er ist der einzige von den zu Franklins Aus¬
suchung Abgeschickten, die noch nicht zurück sind. —
— Die Todten reiten schnell, aber Belagerungen gehen
langsam vor sich, so gründlich langsam, daß unsre auf einen Handstreich hoffende
Phantasie nach Scbastopvl und wieder zurückschnellt wie eine behende, Katze hinter
einem philosophisch einhcrtrabendcu Ochsen ab- und zuläuft. Die Pforten des
Paradieses waren schon halb geöffnet und nun müssen wir uns aus den weiten
Umweg verstehen, der die kostbaren Tage in dieser späten Jahreszeit verschlingt mit
Bangen erregendem Appetite. Die Sache sängt an sehr bedenklich zu werden, so
bedenklich, daß wir uns mit dem Gedanken vertraut machen müssen, die Verwirk¬
lichung der Absichten ans die russische Hauptfestung dürste in diesem ersten Feldzuge
nicht vollkommen erreicht werden.
Wir haben genaue Berichte über die Schwierigkeiten, welche bei näherer Be¬
kanntschaft mit den Festungswerken ans Licht treten. Sie sind solcher Art, daß,
die den Rückzug der Alliirten beherrschenden Elemente in Anschlag gebracht, die
Zeit zu kurz werden könnte, trotz allen Kriegsgenies, trotz der ungeheuren Zer-
störungsmittel, welche England und Frankreich zu Gebote stehen, über die Einnahme
der Stadt sür diesen Winter hinaus zum Ziele zu gelangen. Wir sind gewiß, daß
das Mögliche geleistet wird an Tapferkeit und Unternehmungsgeist, das Unmögliche
sogar, aber der Zug ist ein wenig zu spät begonnen worden und die Russen haben
durch die Schlacht vou Alma, welche sie das Schlachtfeld und bedeutende Verluste
gekostet hat, doch soviel Zeit gewonnen, daß sie im Norden auf das Zuströmen
frischer Hilfstruppen, im Süden aus die Genossenschaft der Herbststürme rechnen
können. Wir sind bei einem eigenthümlichen Dilemma angelangt: entweder Nu߬
land hat seinen Bewunderern neue Enttäuschungen, die großartigsten zu bereiten,
seine bisher bewiesene Ohnmacht wird vergleichsweise noch als respekteinflößend er¬
scheinen oder die Alliirten haben einen so grausen Kampf vor den Mauern Scba-
stopols zu bestehen, daß eben wie im Eingange bemerkt worden, die Kriegsmöglich-
kcitcn auch zum Nachtheile der westlichen Mächte umschlagen können. Obgleich diese
Sachlage von jedem Prüfenden erkannt werden mag, so gründen wir diese An¬
nahme nicht aus bloße Vermuthungen, wir haben dabei ganz genaue officielle Mitthei¬
lungen im Auge. Bisher verlieren zwar die Russen, wie sie selbst eingestehen, an
Terrain, die Bclagerungsarbcitcn sind unter dem Feuer der Russen glücklich zustande
gekommen, ohne daß die Alliirten große Verluste zu beklagen hätten; die Beschießung
der Stadt wird auf die erfolgreichste Weise vor sich gehen, wir zweifeln nicht daran,
aber von der'Stadt zu den Festungswerken des Nordens ist ein harter Weg und die
Jahreszeit drängt schnell ans Ziel oder droht zum Rückzüge zu blasen.
Es ist erklärlich, daß eine solche Möglichkeit nach ihren kühnen Hoffnungen den
Regierungen von England und Frankreich schwerfallen müsse, allein man kann es
nur billigen, wenn sie ihre Stellung mit männlichem Entschluß ins Auge gefaßt, und
zunächst die'Sicherheit der Flotten bedeutend, ihre Generale und Admiräle dahin
angewiesen haben, nicht hartnäckig das Unmögliche zu verfolgen. Wir sind unter¬
richtet, daß nach Verlauf eines nicht fernen Zeitpunktes die Belagerung aufge¬
geben werden soll, wenn bis dahin keine volle Entscheidung erzweckt ist. Es sind
auch sür diesen Fall schon andre Wege bedacht worden, ans denen man sich zu ent¬
schädigen und die öffentliche Meinung zu versöhnen hofft. Diese fuhren uns aus
den Continent und wir haben hier einen Ausspruch zu widerlegen, den man dem
Herrn Thiers in den Mund legt. „Mit dem Falle Scbastopols", soll der ehe¬
malige Aeolus der orientalischen Frage gesagt haben, „beginnt der europäische Krieg,
mit dem Rückzug der Alliirten der Friedensschluß." Thiers versteht sich zu gut aus
Politik, als daß er so etwas gesagt haben könnte. Der Friede tutt dann erst recht
in den Hintergrund, denn der Krieg ist nicht blos in Rußland ein nationaler, im
Gefühle des Westens hat er ebenfalls diese Bedeutung, und während Nußland bei
einer Niederlage sich mit seiner Jsolirung gegenüber von ganz Enropa trösten
könnte, bleibt den Westmächtcn, welche fast sämmtliche Staaten des europäischen Fest¬
landes hinter sich wissen, in einem ähnlichen Falle kein Trost und auch keine andre
Möglichkeit als der Versuch, mit oder gegen Deutschland Nußland vom Westen aus
aus den Leib zu rücken.
Man muß bei Beurtheilung der diplomatischen Seite des gegenwärtigen Krie¬
ges nicht den Umschlag vergessen, der zu Gunsten Louis Napoleons in der öffent¬
lichen Meinung und mehr noch in den Cabinetcn von Europa sich kundgibt. Es
ist bei einer Allianz mit den Westmächten keine Frage mehr, ob man es magen
dürfe, sich mit dem Kaiser von Frankreich, dem Erben Napoleon I., zu verbinden:
alle Rücksicht fällt aus das Interesse, man erwägt blos, ob es das Interesse
des Landes, ob es das Interesse Deutschlands erheische oder gestatte, das Bündniß
mit Frankreich gegen Rußland einzugehen. Welche Veränderung in der dynastischen
Stellung Napoleon III. sich zugetragen, davon bringt jeder Tag ein neues Zeugniß.
Den höchsten Ausdruck dieser Umgestaltung zu Gunsten der napoleoniden finden
wir in dem .Versuche, das Haus Napoleon durch Familienverbindung mit dem
Hause des Königs der Belgier den europäischen Dynastien vollends nahe zu brin¬
gen. Dieser Versuch ist kein bloßes Zeitnngsgerücht und die Abweisung, welche
Ludwig Napoleon sür seine Person gesunden, kann er nicht glänzender rächen, als
indem er sür seinen Cousin die Hand einer Tochter des Königs Leopold verlangen
läßt. Was in unsern Augen diesem Versuche besondere Wichtigkeit verleiht, ist,
daß wir darin den Beweis von dem Bestreben Englands erblicken, Frankreich immer
fester an sich zu knüpfen, und es würde uns kaum wundern, wenn der Gedanke
an diese Verbindung in Lord Palmcrstons Kops entstanden wäre. Die britische
Regierung sieht sich nämlich ans alle Fälle vor und sie sühlt, daß . Nußland nicht
lange der einzige Gegner bleiben wird, den sie zu bekämpfen haben wird. Die
Relation mit den Vereinigten Staaten ist trotz der gütlichen Beilegung der letzten
Schwierigkeiten doch eine unliebsame geblieben und die englischen Staatsmänner
fürchten, es könne die amerikanische Regierung deu gegenwärtigen Moment abpassen
wollen, ihr den Handschuh hinzuwerfen. Dann muß es aber aus Frankreich zählen
können, denn Amerika wäre für England ein um so gefährlicherer Gegner, als es
in Irland vielleicht keinen zu verachtenden Hilssgenosscn fände. England macht
Frankreich förmlich den Hos und sähe es überdies nicht ungern, wenn letzteres mit
der Regierung der Vereinigten Staaten auf denselben Fuß zu stehen käme, aus
dem es sich selbst befindet. Englischen Einflüsterungen ist es zuzuschreiben, wenn
die französische Regierung Souli, den amerikanischen Gesandten, auf seiner Durch¬
reise von Calais nach Dover zurückweisen ließ. Es ist selbstredend, welche Folgen
ein solcher Schritt nach sich ziehen kann und es ist sehr die Frage, ob das Gou¬
vernement der nordamerikanischen Freistaaten sich damit begnügen werde, wenn
ihm der Kaiser versichert, sein Minister habe den diplomatischen Agenten eines be-
freundeten Staates aus dem Lande gewiesen, weil dieser im Verdachte stehe, poli¬
tische Verbindungen mit den Verbannten und mit deu Demokraten Frankreichs zu
unterhalten. Vielleicht wird man auch die Entschuldigung anführen, man habe ge¬
glaubt, Soule' hätte seiue Entlassung eingereicht.
Die besonders freundschaftlichen Beziehungen der englischen Regierung zur
kaiserlichen nehmen der Vermuthung, als habe Louis Napoleon in seinem Briefe
an die Marschallin Se. Armand mit Airs limites, welche den Marschall aufhalten
wollten, die Engländer gemeint, alle Wahrscheinlichkeit. Eine solche Anspielung
hätte gar keinen Sinn, aber bezeichnend bleibt es doch, daß die englische Em¬
pfindlichkeit sofort laut geworden. Wir 'haben hier keinen einzigen Engländer ge¬
sehen und wir verkehren mit vielen, welche diese Phrase nicht anders denn als
aus England gemünzt aufgefaßt hätten- Es beweist eben, wie schwer es wird,
eingewurzelte Vorurtheile und alten Nationalhaß auszurotten. Die Engländer be¬
nehmen sich in dieser Beziehung noch viel intoleranter als die Franzosen. Die
Allianz wird lange bestehen und von erfolgreichem Wirken gekrönt sein, ehe die
Freundschaft der beiden Nationen so sest geworden sein wird, als es im Interesse
der europäischen Gesittung zu wünschen wäre. Diese Anspielung würde nicht blos
eine taktlose sein, sie enthielte auch eine Unwahrheit, da Schreiber dieser Zeilen
einen Brief des Prinzen Napoleon vom 15. August gelesen, in welchem er schreibt,
daß die Engländer sehr zu eiuer Unternehmung gegen die Krim drängen.
Ein anderes politisches Ereigniß, das die Gemüther stark in Anspruch nimmt,
ist die Plötzlich eingetretene Geisteszerrüttung des Staatömiuisters Fould. Es mag
vielleicht Uebertreibung in deu dießsälligcn Gerüchten sein, obgleich sie keineswegs
ganz ohne Grund sein dürften. In der gegenwärtigen Phase des orientalischen
Kampfes läge im Rücktritte des Ministers Fould eine ganz besondere Bedeutung.
Man bringt diesen Fall in Verbindung mit dem Verschwinden einer Sängerin,
was mir eine Verleumdung scheint für die Dame und sür den Herrn. Diese
Sängerin hat sich vor Jahren durch unüberlegte Streiche ausgezeichnet, und dies¬
mal sollte der Preis der pecuniären Opfer eine reiche Heirath sein. Die Verwand¬
ten des fashionablen Bräutigams, welche ihren Judustrieadel, der allerdings ein
reingewaschcncr sein mag, da Barom Vigder sein Vermögen einem Badeetablissemcnt
verdankt, durch die Verbindung ihrer Häuser mit einer Sängerin verunglimpft glau¬
ben, haben hier ausgesprengt, es handle sich blos um eine Wette. Der Bruder der
Sängerin hingegen, der über diesen Punkt keinen Spaß versteht, ist seiner Schwe¬
ster und ihrem Begleiter nachgereist, um diesen, wenn es Noth thun sollte, zu zwin¬
gen, der Ehre der Dame genugzuthun. Der junge Lion wird dieser Aufmun-
terung kaum bedürfen, da er in Fräulein Cruvclli schon seit mehren Jahren ver¬
liebt ist. Seine Pflichten gegen den Jockcyclnbb mögen ihn wohl zu mancher'
Fcmsaronade bewogen hab-en, aber wir glauben, diese Eseapadc werde einen sehr
bürgerlichen Ausgang nehmen. Der Jockcyclnbb wird allenfalls einen seiner Ha-
bituü's für todt erklären und ein Tvdtcnmahl halten. Die große Oper ist dadurch
in Verlegenheit, denn mit Gounot's Machwerk, welches I» unum «-mgluiilv heißt,
wird sie nicht lange ausreichen. Die französische Kritik hat sich wieder einmal in
ihrer ganzen Glorie gezeigt, indem sie dieses Machwerk gelobt. Die Saison beginnt
und in den kleinen wie in den großen Theatern bereiten sich Neuigkeiten vor,
welche unsrer Feder Arbeit versprechen. Die Raubvögel, die -unom- mimllil,
u. s. w. verdienen ebensowenig erwähnt zu werden als die matten Späße in den
Vandevillctheatern. Nächste Woche bringt Gymnase George Sands neues Stück,
das Theater fraiwais Alexander Dumas me>n>>«, jenen Gedankenstrich
zwischen M-me I^s und der »u>»o nux »uniU-i,^ Diese halbe Welt ist aber
die ganze unsrer Herrugcsellschaft und leider auch jene der modernen Dramen¬
dichter. Die Aeademie hat wieder einen Stuhl zu besetzen, und nnter den Lite-
rarcn, welche in ihrem Sitzfleische ein unsterbliches Jucken fühlen, sind es folgende,
welche genannt werden: Ponsard, Angler, Sandeau, Maz^res, Philarcte Chasles,
Emile Deschamps, Casimir Boujonr, Brizcux, Legonv«. Die ersten Drei habe»
am meisten Aussicht, und es ist wahrscheinlich, daß der Dichter der Lucrezia dies¬
mal den Sieg davonträgt. Wir habe» übrigens bald auch neue Empfangs¬
feierlichkeiten zu gewärtigen und die Reden von Bcrrycr und de Sacy sind
in gewissen Kreisen mit einiger Ungeduld erwartet. Fräulein Rachel betrach¬
tet ihren Proceß als gewonnen. Legvuvo's Medea, die sie zu spielen und vor al¬
lem einzustudieren gezwungen ist, wird kaum in den nächsten drei Monaten zur
Wiederholung kommen und nach diesem Termine hört ihr Engagement ans und be¬
ginnt ihr Engagement mit Amerika. Diese Schauspielerin bekommt 1,200,000
Franken sür 200 Vorstellungen. Herr Arsune Houssaye, dessen Existenz als Di-
rector des Theater frau^ais sehr bedroht gewesen, hat dieselbe in einer Audienz
beim Kaiser durch ein Bonmot gerettet. I>>. Vervu, den seine Unthätigkeit zu
drücken beginnt, hatte schon diese Beute als die seinige betrachtet und Fräulein
Rachel vom neuen Director der Comedie framMsc ein Bracclet im Werthe vou
12000 Franken zum Geschenke erhalten. Das erwähnte Witzwort Houssayc's aber
ist folgendes. Der Kaiser rügte Verschiedenes in der Verwaltung und Anordnung
des Theaters und ging später sogar auf die Costümes ein und schloß mit den Wor¬
ten: „Besonders finde ich, daß Sie Fräulein Judith in der Tragödie sehr schlecht
ankleiden." „Sire," antwortete der Director, „Mademoiselle Judith ist une Kilo
M> oft trof lueile K cke8>>AbiUvr ensis exesssivomvol, «liMeilo K I,»I>iIIer." Die
musikalische Saison läßt noch aus sich warten. Das Conservatorium verspricht nnr
sein altes Programm und die Societv Se. Cccile unter der Direction Barberoux
hat uns noch gar nichts versprochen; wir können sicher sein, daß sie wenigstens so
viel halten wird. Virtuosen sind noch nicht angekündigt, aber die bleiben auch
unangckündigt uicht aus. Schmerzlich werden die Freunde der Beethovenschen So-
naten wie überhaupt der klassischen Salonmusik die Abwesenheit von Fräulein
Wilhelmine Clauß fühlen; sie wird die nächste Saison in Holland und in
Wien zubringen. Weil ich grade von Wie.n rede: Der Fechter von Ravenna ver¬
ursacht den Deutschen hier Kopfzerbrechen. Die Vermuthung Ihres Berichter¬
statters hat sich, nach dem, was ich über das Stück gelesen habe, für Vincens We¬
ber, 'den Verfasser des Spartacus, ausgesprochen.
— Ein zweiter Pariser Brief folgt im nächsten Hast.
— Lieder und Sprüche. Von H. Nord he im. Weimar,
Kühn. — Zum Besten der vertriebenen Holstciucr. — Zart empfundene und gut
stilisirte kleine Gedichte aber, ohne eigentliche Originalität. —
Gedichte von I. G. Fischer. Stuttgart und Tübingen, Cotta. — Die
kleine Sammlung gehört zu den besten, die uns in neuester Zeit vorgekommen sind.
Es ist darin nichts von dem modernen Weltschmerz, von jener Zerrissenheit des
Gefühls, welche die angeblichen Mißgriffe Gottes durch Sünden gegen die Gram¬
matik und Logik rächt; im Gegentheil ein stilles, bescheidenes Naturgefühl, und doch,
wo es 'daraus ankommt, eine tüchtige männliche Gesinnung. — Von der poetischen
Melodie geben wir einige Proben:
In einem andern, etwas längern Gedicht, sucht der Dichter die Spur der
Frühlingsgöttin aus; er sieht sie vou weitem —
Bei dem großen Interesse, welches gegenwärtig an den Naturwissenschaften
überall genommen wird, halten wir es nicht für unangemessen, die freundlichen
Mittheilungen, welche uns von Seiten mehrer Männer von Fach gemacht sind,
zu benutzen, wenn auch unsre Leser bei uns an dergleichen Gegenstände nicht
gewöhnt sind, und wir behalten uns vor, auch künftig mit diesen Mittheilungen
fortzufahren. Wie einflußreich die Verbreitung der naturwissenschaftlichen Kennt¬
nisse auf die- allgemeine Bildung und Sittlichkeit einwirft, ist jedermann bekannt.
Sehr geistreich hat noch neuerdings Professor Zeiß in Weimar in einem Pro¬
gramm zur Feier des Wilhelmstages (30. October) darauf hingewiesen. Auf
der andern Seite mußte uns die Erfahrung des Tischrüekens und Geisterklopfens
davon überzeugen, daß trotz des ungeheuren Fortschritts der Naturwissenschaften
das größere Publieum in den ersten Grundbegriffen noch nicht fest ist, daß
jede neue Narrheit und Charlatanerie ihre Anhänger und selbst ihre Fanatiker
findet. Die Männer der Wissenschaft erwerben sich daher unzweifelhaft Dank,
wenn sie den Widerwillen, den jede Berührung mit dem Unsinn in, ihnen her¬
vorrufen muß, überwinde» und der hohlen Phrase, welche die Menge täuscht,
mit allen Waffen der Wissenschaft entgegentreten. — Für heute bringen wir zwei
naturhistorische Mittheilungen.
, Die eine haben wir schon vor vierzehn Tagen angekündigt, als wir den
Versuch des Professor Wagner in Göttingen anzeigten, die Existenz der Seele
zum Gegenstand einer öffentlichen Disputation zu machen. Diese Gelegenheit
hat eine Einsendung an uns veranlaßt, die gewiß unsre Leser lebhast interessiren
wird, und die' wir daher im folgenden mittheilen.
Außerdem berichten wir über die Entlarvung eines Charlatans. — In
Frankfurt am Main treibt seit einiger Zeit ein Herr Regazzoni aus Bergamo sein
Wesen, welcher sich Professor des Magnetismus nennt und durch die Vorstellun¬
gen von Somnambulen einen ziemlich starken Anhang um sich sammelt. Zwei
Aerzte, Dr. Schiff und l.)r. Friedleben, wurden dadurch veranlaßt, in der Woh-
mung des Wunderthäters, der sich nach einigem Sträuben dazu hergab, am
26, October in Gegenwart eines dritten Arztes eine wissenschaftliche Unter¬
suchung anzustellen. Sie sind so freundlich gewesen, uns das Resultat derselben
mitzutheilen, und wir lassen den Berichterstatter, Dr. Friedleben, selbst sprechen.
„Dr. Schiff bestand mit Recht darauf, daß wir dem Nervensystem direct zu
Leibe gehen müßten; wir bewaffneten uns daher mit starken Linsen, um, wenn
nöthig, einen concentrirten Lichtkegel auf die Pupille werfen, mit starker Co-
lequintenlösung, um die Geschmacksnerven befragen, mit einer kleinen Spritze,
um diese Lösung der Kehlkopfgegend des Rachens zuschleuoern und so die em¬
pfindlichen Stimmritzennerven prüfen zu können, wir führten Arhmungsröhren
mit, um die Nase vollkommen schließen, spitze Pincetten, um die Fußsohlen er¬
regen, starke Ohrlöffel, um die innern Ohrnerven kitzeln zu können. Außerdem
als Artilleriepark einen Multiplicator für die galvanische Batterie, verschieden
kalibrirte Leitungsdrähte und Akupunkturnadeln, Und damit auch der Falstaff sein
Recht behaupte, war noch ein lebendes Fröschlein der Begleiter unsrer Er¬
pedition. Von allen diesen Apparaten kam nur das unglückliche, seinem be¬
schaulichen Winterschlafe entrissene Hröschlein, der Multiplicator, die Leitungs¬
drähte und die Akupunkturnadeln ins Treffen.
Abends nach neun°Uhr begaben wir uns gemeinschaftlich in die Wohnung
des Herrn Regazzoni. Im Empfangzimmer fanden wir außer dem im be¬
haglichen Schlafrocke neben einer. Italienerin auf einem Divan hingegossenen
Magnetiseur bereits einen Blütenkranz seiner getreuesten Jünger versammelt.
Zu unsrem Bedauern waren die Somnambulen nicht zu Hause; der Sommer¬
nachtstraum hatte sie in Thaliens Tempel gerufen. Wir erfuhren, daß die
beiden Somnambulen zum Unterricht für die Schüler benutzt würden und daß
Herr Regazzoni nur zwei solcher Mädchen unterhielte, weil es sonst gar zu
viel Geld kosten würde, denn diese müßten doch gut bezahlt werden.
Wir besahen uns zu gleicher Zeit den galvanischen Apparat des Herrn
Regazzoni. Er besteht aus einer Zinkkohlenbatterie von nur einem, aber ziem¬
lich starken Element, aus einer ansehnlichen Spirale und vier Leitungsdräh¬
ten, welche je in einen messingenen, zur Handhabe bestimmten Cylinder aus¬
münden. Beweglich eingeschaltet in /inen Leitungsdraht befindet sich neben
der Spirale eine mit zahlreichen Zähnen versehene Messingplatte, welche zur
Unterbrechung des Stromes dient. Wir beobachteten nicht ihre Anwendung,
lassen also auch die Bedeutung dieser Platte für die in den früheren Soireen
producirten Kunststücke ganz dahingestellt. Herr Regazzoni pries im Tone der
Siegesgewißheit die furchtbare Macht seiner Maschine; wir müßten die Cy¬
linder schnell fallen lassen, wollten wir nicht selbst zu Boden geworfen werden;
hingegen hielten seine Somnambulen den stärksten Coup aus, nur ein leichtes
Auf- und Niederbeben der Arme gäbe Zeichen des galvanischen Stromes.
Wir unterließen nicht, die herrliche Maschine zu bewundern, die zu so
außerordentlichen Erscheinungen construirt war; meinten jedoch, es käme uns
jetzt weniger auf diese Art von Versuchen an, die wir auch schon in öffentlichen
Soireen'aus der Ferne mit gesehen hätten. Dr. Schiff erbat sich vielmehr von
Herrn Regazzoni die Erlaubniß, an den von ihm magnetisirten Somnambulen
nach eignem Ermessen und mit eignen Apparaten Versuche anstellen zu dürfen.
Dies sagte auch Herr Regazzoni zu, nachdem Dr, Schiff ihm bemerkt hatte, daß
es sich ja heute für uns nicht um Controle seiner Experimente, sondern zunächst
nur um Prüfung der Insensibilität seinerv Magnetisirten handle; würden wir
diese auf unsre schlichte, naturwissenschaftliche Art constatiren, dann würden wir
uns als überzeugt bekennen. Als nun Herr Dr. Schiff seinen Multiplicator
an die Stelle der Negazzonischen Spirale aufstellte, um ihn mit Ncgazzonis
Zinkkohlcnbatterie in Verbindung zu setzen, brach ein ungeheurer Sturm los.
Herr Regazzoni schwur, wir würden sofort mit Sack und Pack in sein Lager
überlaufen, wenn wir die Coups foudroyants seiner Maschine sehen würden,
die allein seien ooneluarits cleoisils. Erst nachdem man ihm begreiflich ge¬
macht, das sei doch unsre Sache, wie wir uns überzeugen würden, erst nach¬
dem man den Widerwillen der inzwischen eingetretenen Somnambulen gegen
das unbekannte, Verderben weissagende Maschinchen überwunden, erst dann
sprang die Scene in das Gegentheil um; zu hundert Malen betheuerte Herr
Regazzoni, es sei ja lächerlich, mit einem so elenden Apparate Versuche an¬
stellen zu wollen; wir könnten lange sitzen, bis wir mit dieser Maschine etwas
aufrichteten.
Noch war es zur Vermeidung aller Mißverständnisse nöthig, zu wissen,
was Herr Regazzoni unter Paralysie verstehe. Er- gab an, seine Somnam¬
bulen clans un 6we pÄralMqne zu versetzen. Auf Dr, Schiffs dahinzielende
Anfrage erklärte er: Paralysie sei der Zustand vollkommener Jnsenstbilite; ge¬
gen keinen Reiz von außen her vermöchten seine Somnambulen zu reagiren,
alles ginge spurlos an ihnen vorüber, sie seien im Zustande der vollkommen¬
sten tiefsten Empfindungslosigkeit. Außerdem seien die Muskeln so erstarrt, daß
alle Bewegungen irgend eines Gliedes ohne den Willen des Magnetiseurs un¬
möglich gemacht seien. Das genügte uns für jetzt vollkommen, obwol der wis¬
senschaftliche Begriff der Paralyse bekanntlich etwas ganz Anderes ist.
Herr Regazzoni, im sittsam bis zum Kinn zugeknöpften Fracke, machte
nun seine bekannten magnetischen Striche über eines seiner Mädchen. Es fiel
uns die Nonchalance dieses Herrn auf; denn während er seine abstechenden,
seine circularer und sonstigen Striche zog, unterhielt er sich immer noch über
die erbärmliche Maschine des Or. Schiff mit jener Italienerin und einem sei¬
ner Schüler. Die Operationen waren bald vollendet; auf die Frage des.Mag¬
netiseurs, ob sie wol schliefe, murmelte die Somnambule mit unterdrückter
Stimme ein Ja; zum Zeitvertreib stieß ihr der Grausame eine Nadel durch dk
ganze Hand. Bemerkenswerth war mir nur die kleine Blutung bei dem Her¬
ausziehen der Nadel; sogleich bemerkte Herr Negazzoni, es sei dies ein Irr¬
thum seiner Schüler, wenn sie behauptet hätten, es flösse bei Magnetisirten bei
Einstieben kein Blut, es käme dies je zuweilen vor.
Ein zweiter Umstand, der mir ausfiel, war der, daß die Somnambule
während, ihres magnetischen Schlafes, nachdem sie schon ihr decisives „Ja"
gemurmelt, den etwas unbequem abducirten Kleinfinger der linken Hand bei
ausgestrecktem paralysirten Arm ganz gemüthlich adducirte, als ob das so
auch dazu gehörte, und allmälig seinem Nachbar näherte; nun, ich hatte nichts
dagegen, daß das Mädchen es sich bequemer machte, ich bewunderte den Jn-
stinct der Natur, die auch im Paralysirten ihr Recht behauptet.
Mit einem „Stehen Sie auf" ward die Somnambule von Ihrem im
Hintergrunde deS Zimmers stehenden Stuhle mit anziehenden Tractionöstrichen
des MagnetiseurS',in die Nähe des Tisches geleitet, aus welchem der galva¬
nische Apparat aufgestellt war und auf einen Stuhl placirt. Dr. Schiffs
Vorkehrung, den Tisch nicht vor, sondern neben die Somnambule zu stellen,
wurde theils mit Schütteln des Kopfes, theils mit Gelächter der alten und
jungen Magnetiseure aufgenommen; es wuchs noch die Heiterkeit der Herren,
als I)r. Schiff äußerte, möglicherweise könne die Somnamlmle zu Boden fallen.
„Was? durch die elende Maschine?" „Nun wir werden sehen." Auf Anre¬
gung eines der Schüler mußten wir versprechen, im Falle unsrer Conviction,
an der gar nicht zu zweifeln sei, dem Herrn Regazzoni ein Attest auszustellen.
Auf Dr. Schiffs Frage, ob es möglich sei, das Auge unempfindlich zu
machen, versicherte Herr Negazzoni lebhaft, gegen Kerzenlicht und gegen Ge-
sticulationen reagire die Pupille und die Augenlider nicht, aber wol gegen
Berührungen.
0r. Schiff ersuchte jetzt den Herrn Negazzoni, den Arm der Somnambule
vollkommen unempfindlich zu machen, aber ja vollkommen; nach Wiederho¬
lung einiger Striche versicherte der Meister, der Arm sei vollkommen insen¬
sible; auch die entsprechende Seite des Halses wurde in ganz gleicher Weise
tractirt. Mittlerweile hatte Dr. Schiff aus einer kleinen Blechbüchse in seiner
Rocktasche unvermerkt und ungeahnt für die Gesellschaft das Fröschlein her-
ausgelangt. Herr Negazzoni bemerkte etwas in Dr. Schiffs Hand und frug
darnach. Ihm, aber nur ihm allein, ward es gezeigt; er erklärte sofort
mit Bestimmtheit, das könne man ohne Anstand benutzen, das schade nicht.
Jener Italienerin rief er zu: „um Kestiu, vivente!" Dr. Schiff, das Thier¬
chen an seinen Hinterfüßen haltend und dessen Rücken mit seiner Hand deckend,
ließ den kalten klebngen Frosch mit seinen Vorderbeinen an der in die Höhe
gerichteten Handfläche der Somnambule hinaufkriechen, und o Wunder! mit
einem raschen Ruck zog die empfindungslose Somnambule ihre Hand von dem
unbekannten kalten Körper zurück; Dr. Schiff legte ihr ebenso rasch das
Thierlein an den Hals; doch, an solche Umarmungen nicht gewöhnt, entzog
sich die Spröde den froschlichen Liebkosungen mit einer raschen Kopfbewegung!
Wir lachten der Unart deS Thierchens und der langen Gesichter der Herren,
Schüler. Der Meister, sich ermannend, rief: ,,Ja das beweist nichts, ein
Frosch hebt den Magnetismus auf." Genug, >)r. Schiff hatte durch obigen
Versuch unwiderleglich nachgewiesen, daß die Somnambule des Herrn Ne-
gozzoni ein vollkommen normal empfindendes und normal reagiren-
des Hautnervensystem habe, daß in diesem Theil des Nerven¬
systems eine Jnsensibilitö nicht bestehe.
Nachdem wir uns an der Verlegenheit der Magnetiseure ein wenig ge¬
weidet, schritt Dr. Schiff zu der zweiten Reihe von Versuchen. Es sollte die
Jnsensibilite' sowol der Bewegungs- wie der Empfindungsnerven geprüft werden.
Eine unsrer feinen Akupunktirnadeln ward in die Rückenfläche des linken Vorder¬
armes, der vorher auf Dr. Schiffs besonderes Verlangen total insensibel von
Herrn Negazzoui gemacht worden war, etwa in der oberen Hälfte ganz flach
eingestochen, eine zweite ebenfalls auf der Rückenfläche desselben Armes in der
Nähe der Handwurzel; durch diese Nadeln sollte der lX'krvns meclianus gereizt
werden, welcher die VorderarmmuSkeln mit Nervenästen versorgt. Die Leitungs¬
drähte des MultiplicatorS wurden an die Nadeln gebracht, und siehe, durch
Oeffnen und Schließen der Kette entstanden, wie bei jedem anderen Menschen-
kinde und wie bei jedem Thierlein dieser Erde lebhafte Zuckungen der Vorder¬
armmuskeln, sowie schmerzhafte Bewegungen des Gesichts, die einen hohen Grad
von Ueberwindung ausdrückten und lebhafte Bewegungen der andern Seite;
ebenso lebhaft wurden auch die Gemüther des Meisters und der Schüler be¬
wegt; sie schrien nach ihrer Maschine, sie wollten einen coup kunäroyant.
Ich suchte dem bedrängten Feldherrn aus seiner Noth zu helfen; ich frug ihn,
ob er nicht glaube, daß diese Bewegungen nur durch die Reizungen der Mus¬
keln bewirkt werden; sofort ergriff er diese sublime Idee: „Ja, ja," rief er,
„die Muskeln habe ich nicht paralysirt, nur die Nerven." Ein schallendes
Gelächter von unsrer Seite war die verdiente Antwort.-
Die zunehmende Unruhe der Schüler und der blitzende Blick des Meisters
riechen zur Beschleunigung, daher säumte Dr. Schiff nicht, nachdem Herr
Negazzoni wieder die entsprechende Gesichtshälfte seiner Somnambule total
insensibel gemacht hatte, den Gesichtsnerv (nervus kaeiaUs) zu prüfen; dieser
Nerv, bekanntlich ein Bewegungsnerv, der quer von dem Ohr nach der Nase
z"n verläuft, ward gleichfalls durch den galvanischen Strom angesprochen, indem
eine unsrer Nadeln unterhalb des Ohres, eine andre inmitten der Wange
flach eingesenkt wurden. Gleiche heftige schmerzliche Zuckungen der Gesichts-
anstellt! — Aber auch ein sensibler Nerv mußte befragt werden nach seiner
Jnsensibilitt. or. Schiff wählte rasch den Verbindungszweig des zweiten
Astes des fünften Nervenpaars (ramus ec>mmuniean8 quwU eum tacwli) mit
dem Gesichtsnerv; es ist dies bekanntlich ein kleiner Nervenast, der von der
Lippe aufwärts nach der Wange steigt. Er ist gut geeignet für solche Versuche,
weil er sehr empfindlich ist. Es blieb daher die eine Nadel unterhalb des
Ohres stecken, die andre ward in der Nähe der Lippe eingestochen; der
Mulliplicator arbeitet, die Kette schließt, sie öffnet sich, stumm steht der Kreis
der Zuschauer, die nicht wissen, was vorgeht; einzelne Zuckungen folgen,
einzelne Verzerrungen der Gesichtszüge .der Somnambulen, gleich wie Blitze,
die den Sturm weissagen; man sieht den Kampf des Mädchens, das an
Schmerz gewöhnt ist; man sieht ihr inneres Widerstreben; ^ um so greller
der Schrei, mit welchem die Somnambule von ihrem Stuhl emporfährt. Der
Schmerz hatte gesiegt!
Die Gaukelei lag vor uns. Was Wunder, daß nun eine Scene begann,
die dem Psychologen von höchstem Interesse sein mußte. Ein zweiter Othello,
fuhr dieser Italiener, eine Kerze in der Hand, durch seine Gemächer, schnaubend,
mit wutherstickter Stimme, nach Satisfaction kreischend: Lg.Ast'g.Ltioii, ovup
fenetre^aut., psrr terrs, waren die freundlichen Zurufe des Meisters, dem sich
eine Fluth von Erclamationen gegen uns in verschiedenen Mundarten an¬
schloß, zeitlich mischte sich damit die flötende Stimme der Italienerin. Ein
Theil Schüler stand blaß und betroffen, ein andrer Theil wetteiferte im Toben
mit dem Meister. Auf Dr. Schiffs Anfrage, ob die Somnambulen noch
weitere Versuche wünschten, da das Gesehene nur der schwächste Theil seiner
Künste sei, flohen sie entsetzt von dannen und schlössen sich in ihr Zimmer.
Mit der gemüthlichen Frage, ob man ein Attest wünsche, bereichert in
unsren psychologischen Erfahrungen über die active und passive Menschheit,
zogen wir voll Heiterkeit von dannen."
Bei der diesjährigen Versammlung der Naturforscher zu Göttingen ist
eine Frage, welche schon seit längerer Zeit eine Rolle in der Naturwissenschaft
spielt, öffentlich zur Sprache gekommen, ob nämlich die heutige Naturforschung
dem Menschen noch eine Seele zu besitzen erlaubt oder nicht. Rudolph Wagner,
der berühmte Physiolog, hat sogar einen andern nicht weniger ausgezeichneten
Physiologen Ludwig herausgefordert, mit ihm über dieses Thema zu disputiren.
Indessen, wenn auch der herausgeforderte Feind der immateriellen Seele nicht
ausweichen zu dürfen glaubte, so fand die Sache doch zu allgemeine Mi߬
billigung, als daß nicht Wagner sie wieder hätte fallen lassen. Die Er¬
innerung an die, mittelalterlichen Religionsdisputationen lag zu nahe und die
versammelten Naturforscher waren sich ihrer Aufgabe, der Beobachtung lind
Forschung, und nicht der Wortgefechte, zu bewußt, um irgendein Interesse an
solchem Streite nehmen zu können. Aber für das größere Publicum, welches
den eigentlichen Stand der Frage nicht kennt und deshalb je nach Umständen
entweder in das Zetergeschrei über den Materialismus der Naturforscher ein¬
zustimmen oder durch die jetzt so gebieterisch auftretende Autorität derselben gar
an der Wirklichkeit der eignen Seele zu zweifeln bewogen werden könnte, für
dieses muß es von Wichtigkeit sein zu wissen, was eigentlich verhandelt wird.
Historisch läßt es sich sehr leicht erklären, wie eine Anzahl der Natur¬
forscher und grade diejenigen, welche am lebhaftesten an der neuesten Richtung
der Physiologie sich betheiligten, an dem Dasein einer Seele zu zweifeln be¬
ginnen konnten. Die Art von Naturphilosophie nämlich, welche zu Anfang
dieses Jahrhunderts der Naturwissenschaften sich bemächtigte, hatte allerdings
viel dazu beigetragen, dem rohen Empirismus ein Ziel zu setzen und die Natur¬
forscher an wirkliches Denken zu gewöhnen, dagegen aber namentlich die Phy¬
siologie mit massenhaftem Unsinn angefüllt. Es galt als Regel, nichts un¬
erklärt zu lassen, nie das Nichtwissen zu gestehen, und so stellten sich denn bei
gänzlichem Mangel an Begriffen Wörter genug, aber sehr zur Unzeit ein. Die
Lebenskraft, Dynamik, Polaritäten u. s. w. erklärten alles und merkwürdiger¬
weise ist es erst seit etwa zehn Jahren allgemeine Sitte geworden, solche Wörter
mit „unbekannt" ins Deutliche zu übersetzen und das, was beobachtet und
erforscht ist, von dem, was wir nicht wissen, scharf zu trennen. Seiner Zeit
erregte es eine Art Entsetzen, als das Herz ein Pumpwerk genannt wurde,
es galt als Eingriff in das Heiligthum der Lebenskraft, keine Dynamik, d. h.
keine unbekannte mystische Kraft dabei zu statuiren und Wagner selbst ergötzte
sich über einen nicht witzlosen, aber ganz verfehlten Angriff, in welchem er
seiner angeblich materiellen Gesinnung wegen mit seinem Namensvetter im
Faust verglichen wurde. Indessen die überzeugende Kraft der Wahrheit war
zu groß und die großen Naturforscher, deren Leistungen den besten Beweis
ungebrochener, nationaler, eigenthümlicher Geisteskraft liefern, schritten auf
dem einzig richtigen Wege fort und entdeckten durch Verbindung mühsamer und
sorgfältiger Beobachtungen und Experimente mit der scharfsinnigsten Combi¬
nation ungeahnte Naturgeheimnisfe. Die Lebenskraft sing an, sich in phy¬
sikalische und chemische Gesetze aufzulösen, sie wurde aus der Wissenschaft ver¬
bannt und nur die Seelenthätigkeit zugelassen, als deren Sitz- man allgemein
das Nervensystem im allgemeinen anerkannte. Hier war die Grenze zwischen
Seele und Leib gefunden und diese Vorstellung wurzelte bei den meisten so
fest, daß man die ersten Gerüchte der Entdeckungen von Dubois-Reymond fast
spöttisch und durchaus ungläubig aufnahm. Aber bald darauf traten diese
ans Licht, die Untersuchungen zeigten sich mit solcher Sorgfalt und solchem
Scharfsinn angestellt, daß sich an den Thatsachen nicht zweifeln ließ, und es
war bewiesen, daß (wenigstens in den peripherischen Nerven) die Nerventhätig-
keit mit der Elektricität in naher Beziehung stehe, ja vielleicht oder wahr¬
scheinlich mit ihr identisch sei. In der heutigen Naturforschung herrscht ein
fieberhaftes Treiben, jeder will der erste sein, etwas Neues zu finden, wer etwas
gefunden, eilt, es in den zahlreichen Zeitschriften bekannt zu machen und zehn
andere stehen wieder auf dem Sprunge, jedes Neue weiter zu verfolgen und
auszubeuten. Eine so unerhörte, von der Kritik nicht umzustoßende Entdeckung
mußte daher ein ungeheures Aufsehen und einen ebenso heftigen Impuls geben
und gleich in der e»se"> Begeisterung setzte man über alle fehlenden Mittel¬
glieder zu der Hypothese über, daß die gesammte Nerventhätigkeit, also auch
die des Gehirns oder die Seelenthätigkeiten nur elektrische Processe seien.
Daß eine solche ertreme Idee auftreten mußte, weiß jeder, ver den Entwicklungs¬
gang der menschlichen Bildung, das fortwährende Hin- und Herschwanken
zwischen Extremen kannte, einen ähnlichen Gang haben wir gleichzeitig die
Literatur von der Romantik zu den Dorfgeschichten nehmen sehen, so daß ein
genauerer Kenner der Geschichte, als der Verfasser, einen ähnlichen Denkproceß
wahrscheinlich im ganzen Zeitalter würde nachweisen können.
Die neue Hypothese zu stützen wurde nunmehr alles vorräthige Material
zusammengehäuft. Schon seit Sömmerings Zeit war das Gehirn als Organ
des Denkens anerkannt, Galls Phrenologie, also das Bemühen, durch körper¬
liche Organisation geistige Verschiedenheiten zu erklären, fand nicht im Princip,
sondern wegen der oberflächlichen Durchführung Widerspruch, Erperimente und
Ersahrungen am Krankenbette bewiesen, daß Verletzungen des Gehirns Stö¬
rungen der Seelenthätigkeit zur Folge hatten, kurz Geist und Gehirn hatten
sich in der Vorstellung bereits ineinander verschmolzen. Dazu kam noch der
Vergleich mit ver Thierwelt; die niedersten Thiere'unterscheiden sich kaum oder
gar nicht von Pflanzen, die weitere Entwicklung des Nervensystems geht ziem¬
lich parallel mit der Entwicklung sogenannter Seeleitthätig'leiten, bis denn in
den am meisten entwickelten und vom Menschen erzogenen Thieren sogar Vor-
stellungs- und Unterscheidungsvermögen, also ein Analogon des menschlichen
Verstandes nachgewiesen werden kann. Unbedenklich schrieb man daher mei¬
stens den Thieren eine Seele zu, wenn auch die der niedersten Arten nicht
bedeutender, als die eines enthirnten Frosches schien und daher einigermaßen
in Verlegenheit setzen konnte. So schien eine allmälige Stufenleiter der Seelen¬
entwicklung durch die Thierreiche bis zum Menschen aufzusteigen, und wenn
letzterer auch durch höhere Geistesfähigkeiten sich auszeichnete, so waren doch
die Uebergangsformen in jenen unglücklichen, hirnarmen Cretins und andern
Blödsinnigen zu finden, denen selbst das Hauptunterscheidungsmerkmal, die
Sprache, fehlte; denn es gibt verkümmerte Menschen, welchen ohne Zweifel
weniger Geistesfähigkeiten von Natur zu Theil geworden sind, als manchen
Thieren, Dennoch mußte man sich hier gewaltsam helfen durch die Trennung
von Seele und Geist, letzteren schrieb man lediglich den Menschen zu, selbst
denen, bei welchen man durchaus kemen bemerken konnte, man ertheilte ihm
das Prädicat der Selbstständigkeit, Unsterblichkeit, während dies von der
Thierseele zu behaupten niemandem eingefallen ist. Die Thierseele also galt
für etwas Materielles oder wenigstens in ihrer formellen Erscheinung von der
Materie Untrennbares, ^während dem menschlichen, oft noch geringer erschei¬
nenden Geiste eine selbstständige Existenz meistens zugeschrieben wurde. Es
ergaben sich also Schwierigkeiten und Widersprüche, die wol auch noch ander¬
weitig lösbar sind, die aber jedenfalls schwinden, sobald man annimmt, daß
die materielle Organisation vermöge verschievenartig beschaffener und angeord¬
neter elektrischer Apparate die geistigen Verschiedenheiten bedingt. Zu be¬
dauern ist es nur, daß wir von diesen elektrischen Apparaten, höchstens erst
die ersten Spuren gefunden haben und daß wir also noch sehr, sehr lauge
vermuthlich zu warten haben, bis auch nur die geringste Erklärung der Seelen¬
thätigkeiten daraus hervorgehen könnte. Bis dahin können also Psychologen,
Philosophen und Theologen ihre unrichtigen oder richtigen Ansichten und
Theorien über Seele und Geist behalten und besprechen, ohne Furcht, daß
man ihnen mit der Multiplicatornadel etwas ganz Anderes nachweise. Bei
dem gegenwärtigen Stande der Forschung können die Physiologen, als solche,
über die Existenz einer Seele oder gar über die Selbstständigkeit, d. h. Unsterb¬
lichkeit gar nicht einmal reden und es ist zu bedauern, wenn einzelne durch
voreilige Hypothesen in der einen oder andern Richtung die Fragen verwirren,
unter sich oder mit andern Facultäten unnützen Streit anfangen. Es ist höchst
erfreulich und legt von der Besonnenheit der Naturforscher das günstigste
Zeugniß ab, daß trotz der gegebenen Veranlassung kaum jemand ein Interesse
an der Äusfechtung eines so unfruchtbaren Streites gezeigt hat.
Wir haben gesehen, wie sehr die Naturforscher im Recht waren und wie
sie glänzende Resultate erreichten, während sie aus dem Boden des Materialis¬
mus, der reinen Naturbeobachtung blieben, wir haben erfahren, wie ihre Ver¬
sammlung selbst das Bestreben, wieder mit naturphilosophischen Hypothesen
aufzutreten, mißbilligend zurückgewiesen hat, aber wir versichern, daß sie sich
keineswegs um das Zetergeschrei derjenigen kümmern werden, welche ihnen den
Materialismus ihrer eigentlichen Forschungen zum Verbrechen machen wollen.
Dieser Vorwurf rührte ursprünglich von dem Geschlechte der Naturphilosophen
her, die den Geist der Medicin zu leicht faßlich hielten, um ernste Studien
in derselben zu machen und die nach Durchlesung einer Anthropologie sich fähig
fühlten, aus philosophischer Machtvollkommenheit den ganzen Menschen nachzu-
construiren,, wie ihn Gott geschaffen haben müßte. Diesen war natürlich mit
der mühsamen, bescheidenen Art der neueren Forschung umsoweniger gedient,
da sie derselben weder folgen konnten oder wollten, noch die Resultate abzu¬
leugnen vermochten. Nach ihnen faßten die Theologen den Vorwurf auf, da
sie von jeher der Wunder wegen "mit den Aerzten im Streite lagen und selbst
schon die Schöpfungsgeschichte preisgeben mußten. Von diesen ist die Klage
über Materialismus denn auch in die noch übrigen Kreise der Gesellschaft ge¬
drungen, so daß dieses Wort heutzutage wirklich zum Stichworte geworden ist.
Versteht man darunter die ungerechtfertigte Übertragung naturwissenschaftlicher
Hypothesen auf heterogene Gebiete (um von dem Gebrauche des Worts zur
Bezeichnung von Eigennutz und Geldgier, die jetzt nicht schlimmer sind als sie
immer waren, abzusehen), so hat der Vorwurf Sinn, trifft dann aber nur wenige
Naturforscher; verlangt man aber von diesen, daß sie umkehren und die Du-
don'sche Endeckung nicht weiter verfolgen sollen, weil die weiteren Forschungen
möglicherweise mit den Religionsansichten einiger Religionsparteien in unheil¬
baren Widerspruch gerathen könnten, so hat er keinen Sinn. Der Natur¬
forscher mag glauben was er will, aber als bewiesen darf er, wie der Mathe¬
matiker, nichts ansehen, was nicht bewiesen ist; auf diesem Wege erlangt er
die sicheren Resultate, welche niemand, der sie kennt, leugnet; wenn nun also
jemand vom christlichen Standpunkte aus diese Forschungen verwirft, so beweist
er dadurch nur die Mannhaftigkeit seiner religiösen Ueberzeugung, denn sonst
müßte er wissen, daß früher oder später ein Wendepunkt eintreten und dann
Theorien, die ihm jetzt heidnisch erscheinen, gradezu zum Beweise der Richtig¬
keit christlicher Ueberzeugung ausschlagen müßten. Wir haben also von der
Naturforschung nur zu verlangen, daß sie ausschließlich materiell-bleibe und
nur zu verhüten, daß nicht voreilige Hypothesen in ihr oder in andern Wissen¬
schaften einen unrechtmäßigen Einfluß gewinnen.
Das erstgenannte Werk gehört zu den bedeutendsten Erscheinungen der
neuesten historischen Literatur, und der Uebersetzer hat sich ein bleibendes Ver¬
dienst erworben, indem er dasselbe mit dem Ernst und mit der Gewissenhaftig¬
keit, die eine classische Leistung in Anspruch nehmen darf, die man aber bei
dem industriellen Treiben unsrer Uebersetzer immer seltener antrifft, ins Deutsche
übertragen hat. Das Werk muß uns Deutsche umsomehr interessiren, da es
gewissermaßen unsrer eignen Literatur angehört. Herr Kemble studirte 1829
unter Jakob Grimm in Göttingen und hat die philologisch-kritische Methode,
der wir die erste anschauliche Kenntniß unsrer eignen Vorzeit zu verdanken
haben, aus die Geschichte seines Vaterlandes angewendet. Für sein tiefes
Studium der ältern Literatur zeugt seine Ausgabe des Beowolf, seine Vor¬
lesungen über die angelsächsische Literatur und sein Loäsx cUplom^tiens asvi
8axa>ni<:i. Das vorliegende Werk, welches gewissermaßen den Abschluß seiner
Forschungen darstellt, erschien 4 in London.
Die Art und Weise, wie man früher die Geschichte darstellte, nämlich
eine Zusammenstellung von Kriegen, Anekdoten und Intriguen nach dem Leit¬
faden der Tradition, würden wir in diesem Werk vergebens suchen. Das, was
man bisher angelsächsische Geschichte genannt hat, macht der Verfasser in einem
Einleitungscapitel unter der Ueberschrift: „Sächsische und wallisische Ueber¬
lieferungen" ab. Der gläubige Sinn früherer Perioden sah in diesen Ueber¬
lieferungen unzweifelhafte Wahrheit; „die schärfere Kritik eines weniger leicht¬
gläubigen Zeitalters, welches erfahrener in der Beurtheilung der Glaubwürdigkeit
und bekannt mit den schwankenden Formen mythischen und epischen Denkens
ist, steht darin nur eine ungeordnete Masse von Ueberlieferungen, entlehnt aus
den verschiedenartigsten Quellen, roh und mit geringer Wahrheitsliebe zusammen¬
gehäuft, so daß darin ein möglichst kleiner Theil historischer Wahrheit mit
einer Menge Fabeln vermischt ist." Die Ausbeute, die man für die Erzählung
aus diesen Ueberlieferungen gewinnt, ist nur gering. „Gewiß ist, daß in
Zeiten, welche außerhalb der historischen Erinnerung liegen, beständige Aen¬
derungen in der gegenseitigen Stellung und dem Zustande der verschiedenen
Stämme stattfanden, mit denen die nördlichen Theile von Europa bevölkert
waren. In dieses große Becken ergossen sich die einander folgenden Strömungen
keltischer, germanischer und slawischer Einwanderungen und hier wurden Jahr¬
hunderte hindurch wahrscheinlich Erschütterungen veranlaßt, welche in dem
großen Ausbruche ihr Ende fanden, den die Deutschen die Völkerwanderung
nennen. Mehre Menschenalter hindurch mögen Volksstämme oder Theile davon
von Ort zu Ort gezogen sein, wie die Verhältnisse es erforderten; Namen
mögen aufgetaucht und dann sämmtlich wieder in Vergessenheit gerathen sein;
Kriege, Aufstände, Eroberungen, das Aufblühen und der Sturz von Staaten,
die feierliche Bildung und Wiederauflösung von Bündnissen mögen den Zeit¬
raum gefüllt haben, welcher zwischen der ersten Anstedlung der Germanen in
Deutschland und ihrer für die Ruhe Roms so gefährlichen Erscheinung in der
Geschichte liegt. In den Heldenliedern sind vielleicht einige dunkle Spuren
dieser Ereignisse erhalten; aber von allen diesen Veränderungen wissen wir
nichts Genaues." —
Wer nun aber glauben sollte, daß durch diese Herabsetzung der bisher
als historisch angenommenen Ueberlieferungen in das Gebiet der Mythe das
Feld der Geschichte selbst eingeengt würde, den würde das reich und üppig
hervorquellende Leben, das wir in allen Theilen dieses Geschichtswerks wahr¬
nehmen, bald eines bessern überführen. Die Anekdoten, die Geschichte der
einzelnen Raufereien, die Register von gestaltlosen Namen büßen wir allerdings
ein; dafür werden wir aber in den Stand gesetzt, die Entwicklung der sittlichen
Zustände, des Verkehrs, der Gesetze und staatlichen Einrichtungen in jenem
organischen Wachsthum zu verfolgen, das uns die Einheit der menschlichen
Gesellschaft in dem scheinbaren Wechsel der Geschichte versinnlicht. „Weit
weniger in den fabelhaften Berichten, welche die Historiker aufgenommen haben,
als in den Theilungen des Landes selbst, zusammengestellt mit den daraus
ansässigen Bevölkerungen und dem Range von deren verschiedenen Gliedern,
muß die Wahrheit gesucht werden. Die Namen der Stämme und Familien
haben sich in den von denselben bebauten Orten erhalten, während die einzelnen
Formen ihres Gewohnheitsrechts in ein allgemeines System verschmolzen
worden siud......Was wir von den ursprünglichen Grundsätzen der An¬
stedlung, welche in England oder auf dem europäischen Continent unter den
Nationen germanischer Abstammung zur Anwendung kamen, erfahren, beruht
auf zwei Hauptgrundlagen: dem Grundbesitz und der Nangverschiedenheit; und
das öffentliche Recht jedes germanischen Volksstammes setzt die Abhängigkeit
dieser beiden Grundsätze voneinander in einem höhern oder geringern Maße
voraus. Sowie derjenige, welcher nicht frei ist, zunächst keinen Grundbesitz
innerhalb der Grenzen der Gemeinde haben darf, so ist der, welcher daselbst
keinen Grundbesitz hat, nicht vollkommen frei, mochte sein persönlicher Rang
sein, welcher er wollte."
Die einzelnen Betrachtungen, welche aus der Erwägung dieser Grund¬
sätze in ihrer fortschreitenden Entwicklung hervorgehen, finden in den verschie¬
denen Capiteln dieses Werks ihren Platz: es behandelt den Grundbesitz der
Gemeinden und der einzelnen, das Wesen und die Zufälligkeiten der Besitz¬
arten, die Unterschiede und Privilegien der einzelnen Classen von Staats-
genossen, der gemeinfreien Adligen und Sklaven, und die Einrichtung, durch
welche die Angelsachsen eine gegenseitige Sicherstellung des Lebens, der Ehre
und des friedlichen Besitzes zu begründen versucht hatten. Dies sind die ersten
Grundlagen und rohen Anfänge des englischen Rechts, und darin gleicht das¬
selbe dem System, welches die germanischen Eroberer in jedem Staate ein¬
führten, den sie auf den Ruinen der römischen Macht gründeten.
Nachdem der Verfasser in der hier angegebenen Methode die Ansicdlungs-
verhältnisse der Sachsen und deren Feststellung durch das Gesetz entwickelt,
geht er auf die Darstellung des sächsischen Heidenthums über. „Die Vorsorge
oder die Verachtung der ältesten sächsischen Christen haben nur sparsame Nach¬
richten von dem übrig gelassen, was Augustinus und die übrigen in England
thätig gewesenen Missionare überwanden. Gelegentliche Angaben sind alles,
was davon in irgendeinem Theile des germanischen Europa übrig ist; und
auf dem Festlande sowol, wie in England kam man nur durch die Vergleichung
geringfügiger und einzeln stehender Thatsachen — die uns oft nur im Volks¬
aberglauben, in Sagen und sogar Ammenmärchen erhalten sind, — wahr¬
scheinlich machen , daß ein religiöser Glaube dort heimisch gewesen sei, der in
seinen charakteristischsten Grundzügen mit demjenigen übereingestimmt habe,
welcher, wie wir wissen, in Skandinavien anerkannt war. Doch was wir auf
diesem Wege auch erforschen, beweist, daß in allen wesentlichen Punkten der
Glaube der Jnselsachsen auch der ihrer festländischen Volksgenossen war.
Man wird leicht einsehen, daß der Versuch, das nachzuweisen, nicht ohne
Schwierigkeit ist. Die frühe Zeit, in welcher das Christenthum siegreich in
England eindrang, vermehrt die Schwierigkeiten, welche ohnehin schon den
Gegenstand umgeben. Norwegen, Schweden und Dänemark traten lange vor
dem Sturze ihres alten Glaubens in politische Beziehung zu dem übrigen
Theile von Europa; hier waren der Fall des Heidenthums und der Beginn
der beschichte gleichzeitig; wir hatten außerdem kein Island, welches denen
einen Zufluchtsort bot, die vor der gewaltsamen, mit dem Schwerte in der
Hand, gepredigten und mit dem Verlust politischer Unabhängigkeit verbundenen
Bekehrung flüchteten; doch scheinen die Fortschritte des neuen Glaubens bei
uns im ganzen leicht und ununterbrochen geschehen zu sein; und obgleich Abfall
häufig vorkam, so hat die Geschichte doch entweder von keinem ernsten Kampfe
zu berichten oder hat klüglich davon geschwiegen." —
Nachdem im ersten Band die Grundlage der bürgerlichen Einrichtungen
Englands auseinandergesetzt ist, stellt uns der zweite den Fortschritt der Staats¬
entwicklung dar. Die beiden Punkte, aus denen dieser Theil vorwiegend
beruht, sind die Einführung des Christenthums und die fortschreitende Befestigung
und Ausdehnung der königlichen Gewalt. Für diese Periode macht es die
große Menge historischen Materials möglich, die verschiedenen gesellschaftlichen
Veränderungen sehr in das einzelne zu verfolgen.
Im Verlauf der Jahre hatten beständige Kriege eine Menge kleiner Könige
oder Häuptlinge vernichtet; eine festere Abgrenzung von Ländern hatte statt¬
gefunden; wirkliche Oberherrschaft, gegründet auf das Recht der Gewalt, auf
Besitz und Bundesverträge, hatte eine geringe Zahl der alten Districtsherrn
über den Nang ihrer bisherigen Genossen emporgehoben; die übrigen Adligen
und die Familien von königlicher Herkunft hatten sich grösztentheils dem Ge-
solgschaftsrechte untergeordnet, und hatten dadurch die Truppenmacht, den Glanz
des Hofes und die Herrschergewalt von Fürsten vermehrt, welche, indem sie
die übrigen herabdrückten, emporgekommen waren; und im Anfange des sie¬
benten Jahrhunderts bot England das außerordentliche Schauspiel von min¬
destens acht unabhängig nebeneinander bestehenden Königreichen dar, von
größererer oder geringerer Macht und Bedeutung und, wie wir vernünftiger¬
weise glauben müssen, von sehr verschiedenen Bildungsgraden in staatlicher und
geistiger Beziehung.
Die Annahme, die von den meisten Historikern gemacht wird, daß die ver¬
schiedenen Königreiche einen Bund bildeten, an dessen Spitze durch Wahl- oder
sonstwie einer der Fürsten mit oberherrlicher Gewalt stand, und daß diese Ein¬
richtung in unmittelbarer Nachahmung dem Gebrauch im römischen Reich ent¬
lehnt worden sei, widerlegt der Verfasser. Ebenso tritt er der Vorstellung entge¬
gen, daß die Einführung des Christenthums mit einer mächtigen Priesterschaft zu
kämpfen hatte. „Kaum hatte der neue Glaube unter den Angelsachsen Aufnahme
gefunden, so erfolgte die Errichtung von Bisthümern in allen einzelnen König¬
reichen .......Wäre England einer Centralgewalt unterworfen gewesen, oder
wäre das Aufgeben des Heidenthums gleichzeitig in mehren Districten erfolgt,
so wäre vielleicht allgemein ein System eingeführt worden, dessen leitende
Grundzüge mit den Ideen des Papstes in Uebereinstimmung gewesen wären; aber
dies war nicht der Fall. Das Bekehrungswerk unterlag manchen Schwierig¬
keiten .....Die ersten Bischöfe waren Missionare, Häupter verschiedener Kör¬
perschaften von kühnen Freiwilligen, die mit eigner Lebensgefahr den heidnischen
Bewohnern ferner und entlegener Landstriche die Botschaft der Erlösung brach-
ten. In der That gebot es die Klugheit als zweckmäßig, mit denen anzu¬
fangen, deren Ansehen dazu dienen konnte, ihnen ihre persönliche Sicherheit
zu gewährleisten, und deren Beispiel ein nützliches Bekräftigungsmittel ihrer
Gründe sein mußte. Das Christenthum, das bei seinem Beginn mit den
niedrigsten und ärmsten Ständen der Gesellschaft angefangen und erst allmälig
seinen Kris erweitert hatte, bis eS auch die Höchsten umfaßte, kehrte in Eng¬
land diesen Proceß um und begann mit den Höfen und den Hausgenossen der
Königes Dieser Bekehrungsweise entsprechend folgte der Bekehrung eines Kö¬
nigs gemeiniglich die Gründung eines Bisthums, da die Fürsten gern einen
christlichen Prälaten statt der heidnischen Hohenpriester in ihr Gefolge bekom¬
men wollten. Dies Verhältniß dauerte bis zum Ende des siebenten Jahr¬
hunderts.
Die frühesten Bischöfe unter den Angelsachsen waren nothwendig,
Fremde. . . . Aber als diese Männer nach und nach den Schauplatz ihrer Thä¬
tigkeit verließen, da durch die Schwierigkeit, Völker, die eine fremde Sprache re¬
deten, mit Hilfe von Dolmetschern zu belehren, bedeutend gewachsen sein mußte
und ihre angelsächsischen Zöglinge sich selbst mit musterhaften Eifer und Ernst dem
Bekehrungswerk zuwendeten, so fand sich bald, daß die Insel sich selbst mit so
viel Prälaten versehen konnte, daß sie sür die Pflichten ihrer Stellung voll¬
kommen ausreichten.... Man muß zugeben, daß nirgendwo das Christenthum
einen tieferen und dauernderer Eindruck machte als in England. Wir sehen
nicht nur hochangesehene Männer und nahe Verwandte des Königs unter den
Bischöfen und Erzbischöfen, sondern Könige selbst, kriegerische und siegreiche
Könige, plötzlich aus freiem Entschluß ihren zeitlichen Vortheilen entsagend,
sich in Klöster zurückziehen und ihre Kronen niederlegen, um als Pilger nach
Rom zu wandern. Wir finden, daß Fürstinnen und andre hochgeborne Frauen
sich zum ehelosen Leben herbeiließen, um sich an die Spitze von Nonnenklöstern
zu stellen. Männer von guter Herkunft können nicht rasten, bis sie die Bot¬
schaft der Erlösung in ferne barbarische Länder getragen haben. Reiche und
Vornehme scheinen nach einem Leben von Enthaltsamkeit und Ungemach gebürstet
zu haben, um mit dem Märtyrertod gekrönt zu werden. Gewiß unter einem
der Pracht und den Vergnügungen des weltlichen Lebens nicht ganz abge¬
neigten Volk ein außergewöhnliches Und erbauliches Schauspiel; ein Schau¬
spiel, das uns zwingt, an den tiefen, ernsten, gewissenhaften Geist der Selbst¬
aufopferung und Wahrheitsliebe zu glauben, der das Volk auszeichnete." —
Wir haben bei diesen Andeutungen vorzugsweise den Zweck gehabt, zu
Zeigen, daß trotz der Ueberfülle von Detailforschungen, welche die Methode der
Kritik überall über die Darstellung hervorheben, es dem Verfasser dennoch ge¬
lungen ist, seine vielverzweigte Gelehrsamkeit auch zu anschaubarer Darstellung
zu verknüpfen. Allein der Hauptwerth des Werks liegt allerdings in den ein-
zelnen Forschungen, auf die wir hier nicht eingehen können, die aber der Wis¬
senschaft eine außerordentliche Bereicherung und jedem Freunde der Geschichte,
dem es nicht auf bloße Namen und Zahlen, sondern auf die klare Anschauung
der Zustände ankommt, einen ungewöhnlichen Genuß verschaffen. —
Wir wünschten die Anerkennung, mit der wir dieses Buch begrüßt haben,
auch auf die Geschichte der politischen Parteiungen von Wachsmuth
ausdehnen zu können. Wenn ein um die Wissenschaft so verdienter Gelehrter,
wie Professor Wachsmuth, an ein so umfangreiches Werk geht, so sollte man
wol eine innere Nothwendigkeit desselben voraussetzen dürfen; allein wir haben
bei dem besten Willen für die Stellung, welche dasselbe in der Literatur einneh¬
men soll, keinen rechtfertigenden Gesichtspunkt auffinden können. In das Gebiet
der eigentlichen Forschung gehört es nicht, was auch bei einer Weltgeschichte in
drei Bänden nicht wol möglich ist; einen bestimmten politischen oder ander¬
weitigen Zweck verfolgt es ebensowenig, und wenn die Aufgabe sein sollte, eine
abgerundete, lesbare Darstellung zu geben, so entzieht sich dem schon die Natur
des Gegenstandes. -Eine Geschichte der Parteiungen hat durchaus keinen Sinn,
wenn nicht der Inhalt dieser Parteiungen angegeben wird. Dieser Inhalt .kann
aber nur aus der Darstellung der Zustände, der Bildung, der Verwicklungen
eines Volks oder einer Zeit verstanden werden. Geschichte der politischen Par¬
teiungen wird also mit Geschichte überhaupt zusammenfallen müssen. Halb und
halb sieht auch das vorliegende Buch so aus, als ob es eine allgemeine Ge¬
schichte sein sollte, aber dazu ist die Auseinandersetzung der historischen Zustände
wieder zu dürftig, und die Form der Darstellung wird im höchsten Grade da¬
durch erschwert, da°ß bei jedem Ereigniß im Staate, wo doch nothwendig die
eine Ansicht mit der andern in Widerspruch steht, der Begriff der Parteiung
ausgesucht wird, so daß dies leidige Wort fast auf jeder Seite ein paar Mal
vorkommt. Im Anfange hatten, wir gemeint, der Verfasser wolle über die in¬
nere Natur des Parteiwesens, über seine Organisation und seinen Mechanis¬
mus eine gleichsam naturhistorische oder, wenn man will, philosophische, durch
Beispiele aus der gesammten Geschichte belegte Deduction geben; allein das ist
keineswegs.der Fall., Von der innern Mechanik der Parteien erfahren wir
äußerst wenig, nicht mehr, als was in der allgemeinen Geschichte über¬
haupt vorkommt, und so ist uns der Plan des Werks durchaus räthselhaft
geblieben. —
Die kleine Monographie über die Gracchen ist sehr fleißig und sorgfältig
gearbeitet. Der Versasser bemerkt in der Vorrede, er glaube wol nicht alle
Fehler vermieden zu haben, weiche insgemein das erste Werk eines jungen
Schriftstellers begleiten. Als Hauptfehler dieser Art erscheint uns der wichtige
Ton, der nicht immer im Verhältniß zu der Bedeutung des Gesagten steht;
indeß ist auch das bei einem jungen Schriftsteller, der dem Stoff noch frisch ge-
genübersteht, und der sich daher bei Behandlung desselben einer beständigen
Anstrengung bewußt ist, wol begreiflich. —
Die „Betrachtungen über die französische Revolution" enthalten eine Reihe
eindringlicher und fleißiger Studien, die umsomehr anzuerkennen sind, da sie
sich auf eine bisher vernachlässigte Seite der ersten RevolutionSjahre beziehen,
auf die auswärtige Politik; allein zweierlei hindert den Verfasser, diese Studien
so zu verwerthen, wie es zu einem Geschichtswerk nothwendig ist: einmal hat
er kein eigentlich plastisches Talent, und daher zerfließen die Ereignisse unter
seinen Händen zu verwickelten Wirkungen und Gegenwirkungen, ohne eine
feste Gestalt zu gewinnen; sodann geht er von vorgefaßten Meinungen aus.
Die Revolution entspringt nach ihm aus einer Abschwächung des religiösen
Geistes. Wenn man dergleichen wohlklingende Phrasen auf die innere Ge¬
schichte der Revolution anwendet, so kann der Leser leicht getäuscht werden;
denn wenn auch Eingriffe in die Besitzverhältnisse von Seiten des Staats und
der Parteien zu allen Zeiten vorgekommen sind, so hat sie die Revolution doch
in großartigerem Maßstabe ausgeübt, und wer im Besitz ist, fühlt die Eingriffe
zu Gunsten einer Idee viel eindringlicher und schmerzhafter, als die Eingriffe
einer willkürlichen Gewalt, weil im letzteren Falle doch wenigstens das Princip
des Besitzes nicht durch ein neues Princip aufgehoben wird. Wenn man aber
diesen Grundsatz auch auf die auswärtige Politik ausdehnt, die Eroberungs¬
politik aus der Revolution und diese wiederum aus der Irreligiosität herleitet,
so wird man wol nicht leicht den> Beifall der Verständigen finden; denn das
Bestreben, die Staaten zu arrondiren und die Grenzen nicht nach den Gesetzen
des Staatsrechts, sondern nach Gründen der Zweckmäßigkeit abzustecken, hat
lange vor der Revolution eristirt; eS war die natürliche Folge einer Politik,
die von der Individualität und Lebendigkeit der einzelnen Staatskörper aus¬
ging, und selbst diese Politik des 17. und 18. Jahrhunderts ist keineswegs
eine schlechtere als die frühere, wo lediglich die Willkür und der Ehrgeiz des
einzelnen den Maßstab zu seinen politischen Entwürfen hergab, denn das
Streben ist doch jetzt wenigstens aus etwas Bleibendes und Unvergängliches ge¬
richtet, nicht auf die Laune und das Gelüste des Augenblicks.
Wenn man sich einmal in solche Voraussetzungen vertieft, so wird es
schwer', auch bei den aufrichtigsten Studien sich unparteiisch zu halten, denn
man sieht zuletzt in den Quellen nur, was man darin sehen will. Als ein¬
zelnes, aber schlagendes Beispiel dafür erwähnen wir S. 21 die Behauptung,
der preußische Minister Hertzberg sei vollständig von der neuen Philosophie be¬
herrscht worden. Für diese Behauptung, die man doch nur durch die Gesammt-
auschauung seines Lebens bekräftigen könnte, wird eine einzelne Stelle aus den
Memoiren eines Staatsmannes citirt, und so läßt sich denn auch der Verfasser
in der Untersuchung, wer von den beiden streitenden Parteien in Frankreich den
Kampf herbeigeführt habe, die constitutionelle oder die jacobinische, verleiten,
aus vereinzelte Zeugenaussagen ein Urtheil zu begründen, welches den allgemein
bekannten Thatsachen widerspricht. Er übersteht dabei, daß eine Partei, wenn
sie auch dieselben Symbole beibehält und im wesentlichen aus denselben Ele¬
menten zusammengesetzt ist, doch im Drang der Ereignisse zu einer Politik be¬
stimmt werden kann, die ihrer früheren durchaus widerspricht. —
Die „Geschichte der belgischen Revolution" von Driesen hat den Zweck,
in einem gedrängten Umriß die Hauptsachen jener Trennung, die aus sehr
verschiedenen Motiven erfolgte, zusammenzustellen. Es ist ihm gelungen, ein
anschauliches Bild zusammenzustellen, wobei man freilich nicht übersehen darf,
daß frühere Schriften, namentlich die Geschichte der belgischen Monarchie von
Juste, ihm darin bereits kräftig in die Hände gearbeitet haben. —
Ueber die „Deutsche Geschichtsbibliothek" haben wir uns bereits früher
ausgesprochen. — Was die „Geschichte der Türkei" von Lamartine betrifft,
so will die Verlagshandlung mit dem gegenwärtigen Heft den Versuch machen,
ob es überhaupt zweckmäßig ist, das gleichzeitig erscheinende französische Werk
ins Deutsche zu übersetzen. Wir können zu diesem Versuch nicht anrathen.
Zwar zweifeln wir nicht im geringsten daran, baß es Herr v. Lamartine auch
in diesem Felde verstehen wird, manches Geistreiche und Liebenswürdige zu
sagen, umsomehr, da er bei seinen Beziehungen zum Sultan ein unmittelbares
Interesse an dem Gegenstände hat; aber wir setzen voraus, daß er ebenso
leichtsinnig arbeiten wird, wie in seinen frühern historischen Werken, und dies
Mal gibt sich der Stoff nicht so unbefangen den Einfällen eines geistreichen
Dilettanten hin; er verlangt einen wirklichen Historiker. Was an Lamartines
historischen Werken das Vorzüglichste ist, die Feinheit des Ausdrucks, die Zier¬
lichkeit der Wendungen, der Tonfall u. f. w., geht in der Uebersetzung doch
verloren. Wer also ein subjectives Interesse an dem Verfasser nimmt, wird
sich doch an das Original halten müssen, und an eine objective Erweite¬
rung und Bekräftigung unsrer thatsächlichen Kenntnisse ist nicht zu denken.
Interessant ist in der Einleitung die Notiz, , die Lamartine aus seiner eignen
Geschäftsführung gibt. Als er Minister der auswärtigen Angelegenheiten war,
gab er dem französischen Botschafter in Konstantinopel folgende Verhaltungs¬
maßregel: „Provociren Sie nicht den Krieg zwischen der Türkei und Rußland;
halten Sie die ottomanische Regierung von jedem Angriffe gegen die Russen
ab; aber wenn Nußland wagt, von der allgemeinen Bewegung Europas zu
pvositiren, um das ottomanische Reich anzugreifen oder zu bedrohen, so sagen
Sie dem Sultan, daß Frankreich der treue Bundesgenosse der Türkei ist, und
daß der Sultan zu seiner Vertheidigung nicht allein über dessen Flotte, sondern
auch über die Heere Frankreichs wie über seine eignen verfügen, könne. Im
Falle eines von Rußland gegen die Türkei begonnenen Krieges ist das sicherste,
weil natürlichste Bündniß, eine Tripelallianz von Frankreich, England und von
der Türkei." — Dieser Verhaltungsmaßregel schreibt es Lamartine zu, daß
Rußland damals nicht gesagt hat, die allgemeine Verwirrung in Europa zu
einem Handstreich gegen die Türkei zu benutzen, was allerdings alle Welt in
Verwunderung gesetzt hat. Wir wollen diesen Erfolg dahingestellt sein lassen,
müssen aber doch offen bekennen, daß wir sehr froh darüber sind, nicht in den
Zeiten der französischen Republik den Conflict erlebt zu haben; denn wenn
wir auch fest davon überzeugt sind, daß die französische Nation unter allen
Umständen, wo es einem äußern Feinde gilt, die größte Vaterlandsliebe und
Tapferkeit entwickeln wird, so glauben wir doch, daß diese bestimmte Art der
Kriegführung, die Absenkung so gewaltiger Streitkräfte nach einer so entlegenen
Gegend in einer Zeit nicht möglich gewesen wäre, wo der Fortbestand der
Regierung jeden Augenblick in Frage gestellt werden konnte. — Was die
eigentliche Geschichte betrifft, so beginnt Lamartine mehr als Redner und Phi¬
losoph, als in der Weise eines Geschichtschreibers. Er geht, um die türkische
Geschichte zu begründen, bis auf Abraham und Jsaak zurück und construirt
den Begriff und die Entstehung der Religion im allgemeinen. Er hätte es
lieber in Beziehung auf diesen bestimmten Fall thun sollen. —
Die Mehrzahl Ihrer Leser wird erstaunt gewesen sein, als sie erfuhr, daß
der Angriff gegen Sebastopol von den verbündeten Land- und Seestreitkräften
nicht vor dem 17. dieses Monats eröffnet wurde'. Alles erwogen kann aber
eine-in Mann von Fach der Zeitaufwand eines Monats nach ausgeführter Lan¬
dung, um die Vorbereitungen zur förmlichen Belagerung zu beendigen und die
ungeheure Masse des dazu benöthigten Materials herbeizuschaffen, kaum groß
erscheinen. Im Gegensatz zu der Langsamkeit, mit der man vie Einschiffung
einleitete, hat man dies Mal schnell gehandelt.
Um dies richtig zu würdigen, ist es nothwendig, daß man sich vergegen¬
wärtige, wie der regelrechte Angriff einer Festung eine zusammenhängende und
zeitlich keine Unterbrechung duldende Operation ist, daß die Wahrung der
schnellen Aufeinanderfolge hier ebenso unerläßlich ist, wie bei rein taktischen Ac¬
tionen im offenen Felde, und daß aus diesem Grunde allen Vorkommnissen
etwaiger Verzögerung im Wege der Vorbereitung vorgebeugt werden muß, vor
allem dem Zeitverlust aus Mangel an Material.
Nun erheischt aber eine Belagerung ein großes Material, und die Mög-
lichkeit, dieses zu beschaffen, ist etwa der Landesfläche proportional, welche die
den Platz einschließende Angriffsarmee, behufs der Herbeibringung ihrer Be-
dinfnisse in Contribution zu setzen vermag. Bei .einer Armee, die sich der
Festung landwärts genähert hat, wird diese Uäche groß sein; bei einem Heere
dagegen, welches zur See transportirt worden und nur des Küstensaums Herr
ist, wird sie unter allen Umständen klein sein, und eben in dieser Lage befinden
sich die alliirten Truppen. Des Feindes Land bot ihnen fast nichts dar; was
sie bedurften, mußten sie von rückwärts, über das Meer hinweg kommen lassen,
und so ausnahmslos fand diese Negel Anwendung, daß selbst der Sand für
die Sandsäcke, aus denen man die kleinen Gewehrscharten für die Schützen
aufbaut und die Traverse der doppelten Sappe formirt, zu Schiff herbeigeführt
wurde.
Zu diesem Mangel an localen Ressourcen gesellte sich als ein Uebelstand
die große Ausdehnung des anzugreifenden Platzes, in deren Folge auch die
Angriffsarbeiten größere Dimensionen annehmen und im besonderen die Bat¬
terien weiter auseinandergelegt, mithin die Parallelen in längerer Linie geführt
werden mußten, als unter anderen Umständen erforderlich gewesen sein würde.
Berücksichtigt man dies alles und erwägt man außerdem, wie den Arbeiten
die Aufnahme von Plänen des Terrains, und diesen letzteren wiederum aus¬
gedehnte Necognoscirungen vorangehen mußten, ferner daß Sebastvpols Stadt-
und Arfenalbefestigung dem Angriff sechs Fronten entgegenstellt, und es für den
Jngenieurossizier nicht eben eine Kleinigkeit ist, die Stärke derselben gegenein¬
ander abzuwägen, um herauszufinden, gegen welche von den sechs man sich
mit dem größeren Vortheil wenden, d. l). welche unter ihnen den geringsten
Widerstand sowol direct als indirect durch Beihilfe der Nebenlinien entgegen¬
setzen wird, so wird man das, was vor Sebastvpol von den Verbündeten in
der ersten Hälfte des Octobers geleistet worden ist, um so anerkennenswerther
finden.
Was russischerseits während jener Zeit geschehen, ist selbstredend wenig be¬
kannt geworden. Die eine Thatsache nur ist constatirt, daß Fürst Mcnschikoff
kurz vor Beginn des Bombardements 20,000, nach anderen 30,000 Mann in
die Festung hineinwarf, und die Garnison derselben nach der ersteren Angabe
auf i0,000, nach der zweiten aus 30,000 Mann erhöhte. Diese Maßregel bin
ich nicht im Stande, gut zu heißen. Aus den zu Lande getroffenen Vorbe¬
reitungen, im besonderen ^aber aus dem Umstände, daß man zweihundert Stück
Geschütze des größten Kalibers in den Batterien der ersten Parallele aufgestellt
hatte, und aus der Nähe der Flotte mußte der russische Obergeneral unfehlbar
erkennen, daß der Angriff von der Land- und Wasserseite her geschehen und
daß er mit enormen artilleristischen Mitteln geführt werden würde. In jedem
Falle hatte er auf die concentrische Wirkung von mehr als tausend feindlichen
Kanonen im engen Raume zu rücksichtigen, und eine einfache Ueberlegung hätte
ihm sagen.müssen, daß es nur den eignen Verlust vermehren hieß, wenn man
diesem Feuer neue zwanzig- oder dreißigtausend Mann blosstellte, anstatt diesel¬
ben auf den Hohen von Backtschi Serai und Tschufut- (Juden-) Kate (Festung)
in sicherer und drohender Position zu belassen. Der Ausgang des Kampfes
wird nicht verfehlen, meine Bemerkung über diesen Punkt zu rechtfertigen.
Die von den Verbündeten befolgte Methode, das Feuer ihrer Batterien
zugleich zu eröffnen, ist gewiß anerkennenswert!); übrigens ist sie allgemeine
Regel und die selten ungestraft verabsäumt wird. Ueber das Auffliegen der
beiden Pulvermagazine, zwei Stunden nach Eröffnung des Bombardements, in
den Batterien des Angreifers fehlen noch die näheren Nachrichten. Derartige
Ereignisse sind selten zufällig und werden meist durch Unvorsichtigkeit oder fehler¬
hafte Anlage der betreffenden Baulichkeit herbeigeführt. Die hier ausgeschifften
Verwundeten boten, soweit sie ihre Verletzungen bei dieser Gelegenheit bekommen,
einen haarsträubenden Anblick dar. Denken Sie sich Leute, die im Gesicht wie
Mohren geschwärzt sind, denen Augenlider, Augenbrauen, Bart uno Haupt¬
haar versengt wurde, auf vielfachen Stellen mit Brandwunden bedeckt. . . . ich
male das Bild Ihnen nicht vollständig aus.
Der seewärtige Angriff, welcher um Mittag des ersten Tages (17. Oc-
tobers) eingeleitet wurde, wird viel zu denken geben." Die Erfahrungen, die
schon bei Bvmarsund gemacht wurden, haben sich nun hier im größeren Ma߬
stabe wiederholt, und damit ist der lange unentschieden gewesene Streit, ob
Land- oder Schiffsbatterien überlegen seien, zu Gunsten der letzteren entschieden
worden.
Auf eine härtere Probe konnte kein Geschwader gestellt werden, als das¬
jenige, welches am Nachmittag des 17. October unter den russischen Forts vor
Anker ging. Der Feind beschoß es bis Sonnenuntergang mit nicht weniger
als fünfhundert Feuerschlünden vom schwersten Kaliber, und der andre Tag
brach nur'an, um die Wiederholung, dieses nie dagewesenen Kampfes zu brin¬
gen. Endlich um vier Uhr Nachmittag war das Feuer des Quaräntäneforts
vollständig gedämpft, und Fort Konstantin unfähig gemacht, anders,als mit
einzelnen Schüssen den ihm entgegenspielenden Schiffsbatterien zu erwiedern.
Dagegen wurde nur das französische Admiralschiff, la Ville de Paris, erheblich
beschädigt, und kein Schiff außer ihm verließ, soweit die hier angekommenen
Nachrichten reichen, die Linie.
''
DaS Feuer, von welchem ich Ihnen im Eingange meines letzten Schreibens
berichtete, währte, nachdem es am Spätnachmittag des 18. Octobers ausge¬
brochen war, bis Mitternacht, mindestens sieben Stunden lang, und zerstörte
in diesem Zeitraum den bei weitem größern Theil des ausgedehnten, in einem
gegen den Bospor mündenden Thale sich hinziehenden Dorfes Ortakoj, d. h.
im ganzen nicht weniger als siebenhundert größere und kleinere
Häuser. Man erinnert sich seil Jahren hier nichts Aehnliches erlebt zu haben,
denn die Brände im Jahr 1832 betrafen meistens nur schlechtgebaute Stadt¬
viertel des eigentlichen Stambul, während hier prunkvolle armenische Villen
und große türkische Jalys hin Unterschiede von den Winterhäusern, die man
Konaks nennt), ein Raub der Flammen wurden. Ich war auf der Brand¬
stätte. Sie bietet den Anblick eines weiten Feldes der Zerstörung. Von den
meistens aus Holz, wiewol mehrstöckig aufgebaut gewesenen Häusern stehen
nur noch die Küchenkamine und die hohen, massiven Rauchfänge, aus
Haufen schwarzen Schuttes aufragend, unversehrt da. Mit bewunderungs¬
würdiger Schnelligkeit hat man hier und da schon Breterhütten aufgeschlagen,
um darin ein einstweiliges Unterkommen zu finden, und mit dem Aufräumen
der Trümmer sind viele Menschen beschäftigt. Wenn nur der Wohlstand der
armenischen Handelswelt hier seine Landhäuser verloren hätte, würde das große
Unglück leichter zu verschmerzen sein; aber viele an-s den ärmern Classen haben
durch die Feuersbrunst ihr Alles verloren; denn keine Assecuranzgesellschaft läßt
sich bereitwillig finden, für ein hiesiges Haus Garantie zu übernehmen.
Wir haben letzthin» meistens schöne Tage gehabt, die dazu beitragen
werden, die sogenannte stille Saison in Büjükvere zu verlängern. Die hohe
Diplomatie weilt noch am kühlen, jetzt von Nordwinden aus den Wassergefilden
des Eurin mehr wie jemals bestrichenen Strande der weiten Bai von Thera-
pia, ergeht sich in den Parks, wo zwar die Laubbäume schon im September
ihren gelben Blätterregen ausstreuten, aber nunmehr, nach den letzten Regen¬
güssen und dem warmen Sonnenschein, der auf sie folgte, die Rosen wieder
auf den Beeten zur Blüte treiben, und wie wenn anstatt des Winters der
Frühling im Anzüge wäre, Crocos, Priemeln und Veilchen auf den frischen
Wiesengründen sich entfalten.
Wenn die Entscheidungen jetzt ungleich mehr von den Feldherrn wie von
den Diplomaten zu erwarten sind, und die Entschließungen der erstern das
höhere Interesse beanspruchen, so beschränken sich die Arbeiten eines Stratford
Canning und Brück dennoch nicht auf unwichtige Dinge. Im Gegentheil
hatten die hiesigen Unterhändler kaum jemals festeren Boden unter den Füßen,
und waren der endlichen Erreichung ihres Zieles, dem sie mit sovieler Be¬
harrlichkeit nunmehr seit länger als einem Vierteljahrhundert schon zustrebten,
gewisser, wie eben jetzt. .Dieses Ziel ist kein anderes als eine endliche
Arrangirung der orientalischen Verhältnisse, die Festlegung gewisser Basen für
den großen Nestaurationsbau des osmanischen Reiches, welche unmittelbar nach
dem Friedensschlüsse mit Nußland vor sich gehen muß. Darauf, daß die
Christen innerhalb der neugestalteten Zustände völlige Gewähr finden, sind jetzt
alle Bemühungen hingewendet. Es ist dabei bemerkenswert!), daß Frankreich
seinerseits darauf verzichtet, seine Stimme durch einen Rangdiplomaten erster
Classe abgeben zu lassen, und sich statt dessen, nunmehr seit länger als einem
halben Jahre schon, des Herrn Benedetti bedient, eines Mannes, der äußerst
geschickt "und auf diesem Terrain vollkommen orientirt, der aber dennoch aus
naheliegenden Gründen nicht das ist und auch füglich nicht sein kann, was
Lord Nedcliffe und Baron Brück hier bedeuten. Mir scheint, daß diese Rück¬
Haltung der Napoleonischen Politik, welche sich in der Wahl der Person aus¬
spricht, die sie zu ihrem localen Organ macht, auf einer zwischen Paris und
London getroffenen Verabredung beruht; Frankreich nahm den Oberbefehl zu
Land und Meer und damit die Dirigirung der Operationen in seine Hand,
und überließ dafür England den Vortritt bei den Berathungen.
Wer dabei im Ganzen und Großen den meisten Gewinn ziehen wird, kann
nicht zweifelhaft sein. Der Unistand, daß die nächsten Verbindungslinien
zwischen den britischen Inseln und dem englisch-indischen Reiche ihren Weg
durch osmanische Länder nehmen, muß es für England zur Aufgabe machen,
seinen Einfluß in der Türkei bei der neuen Ordnung, welche hier eingeführt
werden soll, als Hauptpunkt zu berücksichtigen, und ihn für lange Zeiten fest¬
zustellen. Das britische Gouvernement agirt somit hier für rein diplomatische
Interessen, und der heutige Kampf gegen Rußland ist sozusagen nur eine
kräftige Orchesterbegleitung des lange zuvor begonnenen Spieles. Für Na¬
poleon U1. dagegen ist dieser Krieg die Hauptsache. Nicht aus Gründen,-welche
mit dem europäischen Gleichgewicht, in Berührung stehen, sondern weil er ihn
der Gefahr einer etwaigen Jsolirung seiner Politik entreißt und ihm über
manche Schwierigkeiten im Innern hinweghilft. Materielle Interessen für
Frankreich verfolgt er dabei nicht; aber er jagt nach Gloirc, und was könnte
ihm für diesen Zweck dienlicher sein, als daß britischerscits der französischen
Regierung gemachte Zugeständnis?: den Befehlshaber zu Land und zur See
ernennen zu dürfen. England kann das damit gebrachte Opfer verschmerzen, denn
auch bei anderer Bewandtniß der Dinge hätte es schwerlich zu Lande nach der
Führerschaft streben können, und wenn es auch zur See auf dieselbe verzichtete,
so ist dies nur nominell zu nehmen. Der eigentliche Leiter der Flottenoperationcn
ist nämlich Sir Edmund- Lyons. Dieser energische Geist unterzog oft seinem
Willen Hamelin und Dundas, und macht sie zu gefügigen Erecutoren seiner
Entwürfe. In dieser letztern Beziehung ist es von Bedeutung, daß der Contre-
admiral Barbier von der französischen Escadre des Eurin-detaschirt, und mit
einem gesonderten Commando in den griechischen Gewässern betraut wurde.
(Geschah im Frühjahr). Dieser Mann von anerkannter Tüchtigkeit, aber von
herrschsüchtigen Begierde», würde andernfalls als Rivale gegen Sir Edmund
aufgetreten sein, was die thatsächliche Leiterschaft dieses Seemanns, ein Gegen-
zugefländniß Frankreichs an England beeinträchtigt haben würde.
Das sind Blicke hinter den Vorhang, wie man sie nur an Ort und
Stelle, im Mittelpunkt der sich kreuzenden Interessen selbst, zu machen im
Stande ist.
Das Getriebe des türkischen Parteiwesens berührte ich in meinen Briefen
an Sie seit langer Zeit nicht. Es ist von dieser Seite her ziemlich alles still,
indeß geht eine Bewegung unterirdischer Art vor sich, von der man noch nicht
sagen kann, zu welchem Ziele sie hinführen wird. Sie haben hier, um die
Dinge in ihren rundesten Ausdruck zu fassen, zwei Parteien zu unterscheiden,
von denen die eine der Zahl nach gering, aber mit dem Sultan selbst an der
Spitze und unterstützt von . den bedeutendsten Kapacitäten die eigentlich re¬
gierende ist, außerdem den Einfluß der Westmächte und ihre materielle Unter¬
stützung hinter sich weiß, und darum kühn ist, — indeß die andere aus der
überwiegenden Masse des Volks und, es muß zugestanden werden, auch des
Heeres zusammengesetzt, und von den Corporationen der Geistlichen und Rechts-
gelehrten geführt wird. Mehemed Ali Pascha, der Schwager des Sultans,
und Mehemed Ruschdi, vormaliger Kriegsminister (Seriasker), waren ihre
seitherigen Chefs; aber sie sind, wie in Hinsicht auf die öffentlichen Geschäfte, so
auch in Rücksicht auf die Parteileitung letztlich mehr in den Hintergrund ge¬
treten, und so kann man annehmen, daß die eigentliche Führung zur Stunde
in den Händen des Scheik ni Islam (sprich: Schech lJslam) liegt. Dieser
Mann ist jedenfalls ein schlauer Priester, und es spricht für seine Gewandtheit,
daß er mit Tendenzen, welche denen des Gesammtministeriums schnurstracks
entgegenlaufen, auf dem wichtigen Posten eines Chefs der Kirche und Justiz
sich zu erhalten weiß.
Da auch unterdrückte politische Parteien nie ohne Hoffnungen sind, indem
mit diesen letztern selbstredend ihre Existenz aufhören müßte, so darf man an¬
nehmen, daß auch die Alttürken die ihrigen hegen, wie wenig Aussicht zu ihrer
Verwirklichung auch immerhin vorhanden sein mag. Vom Standpunkte
jener großen Fraction' sind die heutigen Vorgänge nur die Symptome einer
großen Krisis, deren Ausgang die Wiederzuehrenbringung und neue Macht-
entfaltung des Islam sein wird. Dieser Gedanke ist allgemein verbreitet; Sie
finden ihn nicht nur in aller Munde, wenn sie vor dem Kaffeehause auf dem
Hoizschemel hockend und den Tschibuck trinkend den Reden der dort Abends
sich ihren „Kees" machenden Kreise lauschen; auch die türkischen Knaben sprechen
ihn in ihren Schimpfreden gegen die Franken auf der Straße als Drohung
aus; Sie finden ihn heimisch in der Hütte und im Konak; und das nicht blos
in Stambul; im Norden und Süden des Balkan, in Anadoli und Cham
(Syrien), in Mise (Aegypten) und Arabistan träumen die Gläubigen davon,
und wiegen sich in der Hoffnung, daß die große Stunde schlagen werde, wenn
dereinst Sultan Abdul Medschid die Augen schließen sollte. Der, auf welchen
alle Erwartungen sich stützen, ist sein Bruder Assis Efendi.
Diese alttürkische Partei, oder richtiger zu sagen das Volk, ist von rein
national muselmanischer Färbung. Im Grunde der Seele wird das Franken-
thum und die Mehrzahl der Neuerungen von ihm gehaßt; nur für die Vortheile,
welche ein geordnetes und auf europäischen Fuß gebrachtes Kriegswesen mit
sich bringt, hat man ein offenes Auge. Als Todfeinde betrachtet man die
Russen; aber das verhindert nicht, daß man beinahe das nämliche, Mißtrauen
gegen die Engländer hegt. Für die Oestreicher, welche man schlechtweg Deutsche
(Nemze) nennt, bewahrt man einen alten Groll, und die Preußen, obwol
Offiziere aus diesem Lande die Artillerie organisirten, sind eb.en auch nur
Giaurs. Am angenehmsten wußten sich der Volkspartei seither, namentlich in
den letzten Monaten, die Franzosen zu machen. Die Wegnahme Algiers und
den vormaligen Krieg in Aegypten vergißt man gern über.dem Umstand, daß
sie die meisten Hilfstruppen und Schiffe sendeten, und deßungeachtet keinen so
stolzen und gebietenden Gesandten, wie Lord Strcttford. Ob sich nicht damit
eine tiefere Beurtheilung der Verhältnisse, insbesondere die Ueberzeugung ver¬
binden sollte, daß Frankreich um Orient keine erobernde Macht ist und seine
Armee nur zu einem Ritterdienst für die Civilisation aussendete, während
England materiellem Gewinn nachstrebt?
Wie sich Ihre Leser erinnern werden, machte ich schon einmal den Kriegs¬
fall zwischen Oestreich und Rußland zum Gegenstand militärischer Erörterung
in diesen Blättern. Wir standen damals am Anfang des Sommers; die Rus¬
sen hatten zwar die kleine Walachei bereits geräumt, aber noch standen sie
mit starker Macht in der großen und ließen ihre Kanonen vor den Vorwerken
von Silistria donnern. Der Zusammenstoß beider Ostmächte war damals eben
nur eine Möglichkeit — heute ist er zur Wahrscheinlichkeit geworden, aber die
Umstände haben sich seitdem bedeutend geändert.
In demselben Maße als der Fortbestand seiner freundlichen Beziehungen
zum Wiener Cabinet fraglicher wurde, ließ Rußland seine Streitkräfte aus den
occupirten Donausürstenthumern zurückgehen. Das Aufgeben der kleinen Wa¬
lachei war der erste Schritt nach rückwärts gewesen; zu Ende Juli verließen
die Russen Bukarest, und am Schluß des folgenden Monats hatten sie nur
noch eine strategische Arrieregarde in der Moldau, bis endlich auch diese ge¬
räumt und der Rest der Donauarmee über den Pruth zurückgenommen wurde.
Damit hat Rußland die umfassende BogenMung aufgegeben, welche es
seit seiner Occupation der Fürstenthümer gegen Oestreich eingenommen hatte,
«in Umstand, der für seine Absicht spricht, auf eine Offensive gegen diese Macht,
mindestens im Süden, zu verzichten. Das Wiener Cabinet seinerseits hat die¬
sen Rückgang benutzt, um, im Einverständniß mit der Pforte, das frei gewor¬
dene Gebiet militärisch in Besitz zu nehmen; es hat. Braila und Galacz be¬
setzen lassen, und schon jetzt kann nicht verkannt werden, daß die militärische
Situation Oestreichs, Nußland gegenüber, dadurch eine wesentlich vortheil¬
haftere geworden ist. Zunächst, (und das muß auch dem Laien im Kriegs¬
wesen sofort in die Augen fallen) ist die strategische Fronte des habsburgischen
Kaiserstaates dadurch bedeutend abgekürzt worden, was unter den obwaltenden
Umständen durchaus als ein Vortheil angesehen werden muß. Sodann ist für
den rechten Flügel, indem derselbe, bei Braila und Galacz, an die Donau
angelehnt wurde, ein Stützpunkt gewonnen worden, der von solcher Stärke
auf der siebenbürgischen Fronte nicht zu finden gewesen sein würde. Was
mehr als das alles wiegt, ist aber der Umstand, daß durch die rechtswärtige
Vorschiebung beide östreichische Flügel sozusagen lauf dieselbe strategische
Höhe gebracht worden sind. Rückgebogen wie er früher war, nahm der Süd¬
flügel zwar jeden russischen Vormarsch gegen den Balkan in die Flanke und
den Rücken, aber et' ermangelte der Fähigkeit, das eigne Centrum zu unter¬
stützen. Die nunmehrige Aufstellung leistet 5ich ziemlich vollständig, wenn
schon sie immer noch eine Fronte mit rückgebogenen Flügeln repräsentirt, und
es strategisch vortheilhafter sein würde, letztere soweit vorzuschieben, daß sie
mit dem Centrum in eine gerade Linie fielen. Denn es ist klar, daß ein
feindlicher Einbruch in die östreichische Fronte von den Flügeln derselben um
so eher in die Flanke genommen sein wird, je weiter-diese vorliegen.
Dieses strategische Höhenverhältniß der Stellung der Flügel zu der des
Centrums ist so wichtig, daß ich nicht umhin kann, dem darüber Gesagten
noch einige Bemerkungen hinzuzufügen. Die gemeinsame Action aller, auf
einer weitgedehnten Angriffslinie versammelten Streitmassen wird erst dann
erreicht, wenn dieselben nach einem Ziele hin, also concentrisch, zu wirken
vermögen. Will Oestreich daher die Offensive und zwar mit Entschiedenheit
gegen Rußland ergreifen, so wird es die Aufgabe seiner ersten Operationen
sein, die Grundform seiner Aufstellung zu verbessern.
Die mit dem jüngsten hier angelangten Dampfschiff eingegangenen Nach¬
richten sind keineswegs durchweg officielle. Sie setzen sich zusammen aus den
Mittheilungen einiger mit dem Schiff angekommenen Offiziere, aus den Aus¬
sagen von Matrosen und aus dem bruchstückweise bekannt gewordenen Inhalt
von Rapporten und Privatbriefen. Was man darin am meisten vermißt, ist
eine Angabe über den leitenden Faden in den seitherigen Operationen, mit einem
Worte über den Plan des ganzen Unternehmens. In dieser Hinsicht kann
man sich immer nnr noch auf Vermuthungen beschränken, und was ich Ihnen
hier mittheile, sind eben nur solche; von der großen Masse des im gegenwär¬
tigen Augenblick über den fraglichen Gegenstand Publicirten unterscheiden sie
sich wol nur dadurch, daß ihnen eine militärische Anschauung zu Grunde liegt.
Für diese Anschauung war es zunächst Hauptsache, sich darüber Gewißheit zu
verschaffen, ob man in dem belagerten Sebastopol einen isolirten oder rückwär¬
tige Verbindungen unterhaltenden Platz vor sich habe. Wie Sie wissen, war
letzteres, infolge der Lage der dctachirten Forts bei Silistria der Fall, und
hierauf vielleicht beruhte der Erfolg der glücklichen Vertheidigung dieser Festung.
Nach aufmerksamer Prüfung aller mir vorliegenden Nachrichten bin ich zu
dem Resultat gekommen, daß Sebastopol, wiewol im Journal de Konstantinople
sich die entgegengesetzte Behauptung vorfindet, von den Verbündeten nicht iso-
lirt worden war, mindestens bis zur Eröffnung des Feuers (-16. October) nicht,
und daß es mit der rückwärtigen Stellung des Fürsten Mcnschikvff Verbin¬
dungen unterhielt, die wahrscheinlich auf dem Wege vom binnenwärtigen End¬
punkte der nördlichen Rhede aus statthatten oder auch von, Nordsort aus
unterhalten wurden. Viele Umstände deuten hierauf hin, am schlagendsten aber
die von mehren militärischen Berichterstattern, welche sich an Ort und Stelle
befanden, als Vermuthung aufgestellte Behauptung, daß der Platz in den
Tagen vom -is. zum 16. eine Verstärkung im Belauf von 26—-30,00,0 Mann
erhalten habe, und zwar von Backlschi Serai,aus. Wenn dies geschehen, so
war es nur infolge -einer nicht ausreichenden Jsolirung möglich — -das ist zu
klar, um hier noch näher -begründet werden zu dürfen. '
Das Factum der freien Communication des Platzes mit rückwärts nimmt
aber den unter Leitung des französischen Generals Bosquet im Rücken der Bela¬
gerungsarmee zu deren Deckung und zur Abwehr eines 'Entsatzversuches aus¬
geführten Befestigungen einen Theil der ihnen zugeschriebenen Bedeutung.
In Ermanglung zuverlässiger Nachrichten -über Kiese Arbei-i-en war ich anfangs
der Meinung, dieselben lägen aus der Mitte der Linie zwischen Balaklava lind
dem Binnenendpunkte der großen Nordrhede; und ich schrieb ihnen die Fähig¬
keit zu, einen Vorgang des Feindes, sowol von ostwärts, gegen die Fronten
der Arsenalbefestigung, als auch von Südoßen über Balaklava zu verhindern,
nahm mithin an: Sebastopol, soweit man barunter nur die Stadt und die
Marineetablissemeuts, nicht aber die Befestigungen im Norden der großen Rhede
begreift, sei wirklich außer alle direkte Verbindung mit rückwärts gesetzt, und
im Äußersten Falle selbst -einem Entsatzcorps nicht zugänglich. Diese Voraus¬
setzung war indeß falsch. Alle Befestigungsarbeiten im Rücken beschränken sich
auf die Verschanzung der beiden Hafenpunkte Balaklava, den man den eng¬
lischen Truppen «sowie den -türkischen, und Chersones, welchen man den sranzö-
fischen Truppen zugewiesen hat, und wiederum sind dieselben nur sozusagen im
Sinne von Brückenköpfen gedacht, welche die gedeckte Einschiffung der Bela¬
gerungsarmee für den Fall einer etwaigen Katastrophe ermöglichen sollen. Man
muß diese Vorsicht loben, wenn man auch nicht die Meinung theilt, daß
Rußland im Stande sein werde, eine solche Katastrophe herbeizuführen.
Durch die erwiesene Thatsache von dem Vorhandensein einer für große
Truppenkörper nutzbaren Verbindung zwischen Sebastopol im engeren Sinne
und der Position von Backtschi Serai gewinnt aber die Belagerung einen ganz
andern Charakter als der ist, welchen man derselben seither zugeschrieben. Sie
ist nicht mehr der Kampf einer eingeschlossenen Mindermacht, deren Streitkräfte
und Material jeder Tag verringert, sondern die ganze Festung will nur als eine
Avantgardenstellung der weiter zurückstehender russischen Armee aufgefaßt sein,
und der Fall gehört dabei nicht zu den Unmöglichkeiten, daß demnächst das
ganze Gros hier Posto fassen wird, um eine endliche Entscheidung zu geben.
Die, bei solcher neuen Anschauung des Kampfes, auf der feindlichen Seite
erkennbaren Chancen sind so bedeutend, daß man besorgt fragen möchte: ob der
Ausgang der großen Unternehmung wirklich so gesichert ist, wie er anfangs
schien, und ob nicht etwa Rußland uns auf ein Schlachtfeld gelockt habe, wo
ihm schließlich der Sieg verbleiben müsse. Diese Meinung gewinnt etwas für
sich, wenn man erwägt, wie die meisten taktischen Siege in der Neuzeit auf
dem Princip der Oekonomie der Kräfte beruhen und daß hier derselbe Gundsatz
von Nußland scheinbar zur Anwendung gebracht wird. Wer Napoleonische
Schlachten studirt hat, wird sich erinnern, wie der Kaiser die Entscheidung erst
dann zu geben pflegte, wenn er den Feind durch eine Mindermacht zuvor lange
Zeit beschäftigt und ihn gezwungen hatte, seine Kräfte an derselben abzunutzen.
Erst wenn er dieses letzteren Resultats gewiß war, brach er, meistens in der
Spätstnnde, mit seinen Reserven vor, und vollendete das Geschick des Tages.
Wie nun, wenn der Zar sich diese Regel zu Nutzen gemacht hätte, wenn er
beabsichtigte, mit den 6 0,000 Mann, die nunmehr in Sebastopol stehen mögen,
unsre 70,000 Mann hinzuhalten, dieselben sich nach und nach abnützen zu
lassen durch vergebliche Stürme und Feuerangriffe, um, wenn sie letztlich mürbe
-geworden, von der hohen Position zu Backtschi Serai herniederzusteigen, um sie
in der Ebene südwärts von Sebastopol zur Schlacht zu bringen!?
Dieses Raisonnement würde etwas für sich säbelt, wenn beide Heere von
demselben moralischen und militärischen Werth wären; 'da sie es nicht sind, ver¬
liert es indeß seinen besten Halt. Außerdem ist es äußerst zweifelhaft, ob
nicht die 40,000 Mann, welche in Sebastopol eingeschlossen sein sollen und
einem concentrischen Feuer preisgegeben sind, einen nicht nur verhältnißmäßig,
sondern absolut größeren Verlust als die verbündeten Truppen erleiden wer¬
den. Wie ich die Dinge aus Grund der mir vorliegenden Pläne anschaue,
ist dieser größere Verlust unvermeidlich, und er dürste einen Hauptfactor in
dem Calcül bilden, der dem Plane der Belagerung zu Grunde liegt.
Ich komme hier auf diesen selbst zu sprechen, d. l). zu dem Kern der mir
im vorliegenden Bries gestellten Aufgabe.
Das Ziel, welchem die Alliirten auf der Krim entgegenstreben, ist ein be¬
dingtes, je nach den Verhältnissen, die im Laufe der nächsten zwei Monate
eintreten. Gehört unter dieselben die Eröffnung der Feindseligkeiten zwischen
Rußland und Oestreich, d. h. tritt diese letztere Macht in das gegenwärtige
englisch-türkisch-französische Bündniß mit ein, so unterliegt es keinem Zweifel,
daß der Zar damit die Möglichkeit verliert, der Krimarmee ausreichende Un¬
terstützung zuzuführen, um diese Halbinsel wirksam vertheidigen zu können.
Für diesen Fall also wird ohne Bedenken von Seiten der Verbündeten die
Eroberung des ganzen Chersones ins Auge gesaßt werden können.
Verzögert sich der Bruch zwischen den beiden Kaiserhöfen, behält aber
Oestreich seine drohende Stellung gegen Rußland bei, so sind allein dadurch
große Kräfte der letzteren Macht gebunden. Es ist meine Ansicht, daß die
übrigbleibenden nicht ausreichen werden, um die Krim zu behaupten; in kei¬
nem Falle genügen sie, um Sebastopol wiederzunehmen, nachdem es gefallen
sein wird. Den Alliirten bleibt demnach bei solcher Bewandtniß der Verhält- ,
nisse der belagerte Platz nicht nur als Operationsobject für den Augenblick, '
sondern auch als bleibendes Besitzthum für die Zukunft.
Endlich ist hier noch des Falls zu gedenken, in welchem eine Verständi¬
gung zwischen Rußland und Oestreich erfolgte. Wiewol wenig wahrschein¬
lich, liegt er dennoch im Bereich der Möglichkeit, und er konnte bei Anord¬
nung der Maßregeln von Sebastopol nicht ohne Berücksichtigung bleiben.
In dem Augenblicke, wo Oestreich die Hand böte, würden mindestens 100,000
Mann russischer Kerntruppen verwendbar werden und damit erhielten alle Ver¬
hältnisse des Kampfes eine neue Gestalt. An eine bleibende Behauptung
Sebastopolö konnte nur unter der Voraussetzung gedacht werden, daß Eng¬
land und Frankreich für diesen Krieg einen ganz neuen Maßstab annähmen.
Man würde sich daher muthmaßlich auf die Vernichtung der russischen Flotte
beschränken, was immerhin ein großes Resultat sein würde.
Hieraus geht nun zwar hervor, daß ein Ziel der Erpedition unwandel¬
bar feststeht: die Zerstörung der russischen Kriegsschiffe. Ohne dies erreicht
zu haben, kann das Unternehmen, welche Wendungen auch eintreten mögen,
nicht als gelungen angesehen werden, und hiermit ist der Punkt angedeutet,
auf welchen die Kriegführung der Alliirten den Hauptaccent zu legen hatte.
Sie verkannte denselben keinen Augenblick. Wenn Fehler begangen
wurden, wie z. B. in Betreff des Mangels einer strategischen Rücksichtsnahme
in den Dispositionen zur Schlacht von Alma, so berührten dieselben doch nur
Nebendinge. In Betreff dieser großen Hauptsache handelte man durchweg con-
sequent. Bei Einleitung der Belagerung verlor man keinen Augenblick, die
Hauptangriffslinien gegenüber dem Hauptobject, dem Kriegshafen, zu ziehen,
und weniger als die Stadt selbst waren die Kriegsschiffe Zielpunkt der eng¬
lischen und französischen Batterien.
Auf Grundlage der eben ausgeführten Entwicklung läßt sich nicht das
aufbauen, was man das Gerüst oder die Grundlinien des Angriffsplanes
nennen könnte. Als nächsten Zweck verfolgen die Verbündeten den, die russische
Flotte zu vernichten. Um so besser, wenn dies geschehen kann, bevor noch die
Festung in ihre Hände gefallen ist. Um letzteren Act aber, und zwar so schnell
als möglich, herbeizuführen, ist darum nicht minder als Zielpunkt, indem er allein
die Garantie verschafft, die Zerstörung der Seemacht von Grund aus durch¬
zuführen. Es würde hierzu auch die Sprengung der sieben trockenen Docks
gehören, die von der Arsenalbefestigung eingeschlossen sind, was selbstredend
von auswärts her nicht auszuführen ist, und außerdem auch solange bean¬
standet werden muß, als es unentschieden ist, ob Sebastopol den Verbündeten
bleibend gehören wird oder nicht. Denn für den ersteren Fall entzöge man
sich mit den Docks eine der Hauptressourcen des Hafens, der grade im Laufe
des Kriegs außerordentliche Dienste leisten würde.
Welche Gestaltung demnach auch die Ereignisse immerhin annehmen
mögen: die Wegnahme deS Platzes bleibt für alle Fälle Aufgabe der Ver¬
bündeten. Nachdem dies festgestellt worden, unterliegt der Hauptpunkt, in
welcher Weise der Angriff diese Wegnahme zu bewirken gedenkt, der Erörterung.
Flete Sebastopol >in die Kategorie der gewöhnlichen Festungen und wal¬
teten hier nicht außerdem noch ganz besondere Umstände ob, so wäre die Ant¬
wort auf die gestellte Frage nicht schwer. Der Angriff würde den Weg ein¬
schlagen, wie ihn die Vaubansche Schule vorschreibt. Nach Ausführung einer
ersten, zweiten und dritten Reihe von Angriffsbattenen (erste, zweite und dritte
Parallele) und der unerläßlichen Vorbauung auf dem etwaigen Glacis würde
man Bresche in die Hauptumfassung legen und stürmen lassen. Dieses unter¬
ließe unter den gemachten Voraussetzungen keinen großen Schwierigkeiten, indem
die Vernichtung der Festungsartillerie durch Ricochett- und Demontirbatterien
dem Feind in der Regel die Möglichkeit entzogen, gegen die Angreifenden ein
wirksames Flankenfeuer (zur Bestreichung des Grabens) spielen zu lassen, und
so niedergeschlagen und ihres moralischen Halts beraubt'pflegen die Besatzungen
zu fein, daß in der großen Kriegsperiode, welche das letzte Jahrhundert schloß
und das unsrige eröffnete, die meisten Plätze sich zur Kapitulation bereitfan.den,
nachdem die Bresche gangbar-geworden war.
Allein diese Umstände werden anders, wenn hinter der Sturmlücke eine
ganze Armee, — und »0,000 Mann verdienen diesen Namen — zur Ver-
theidigung bereit ist. Alsdann wandelt die Bresche sich in ein Defilee um,
welches zu passiren ist, um — definitiv eine Schlacht zu schlagen. Dieses
wird nur wenig anders, wenn man, anstatt einer Lücke für den Sturm,
deren mehre erschossen. Dabei muß erwogen werden, daß die Festungsar¬
tillerie eine unermeßliche Fundgrube für den Ersatz ihrer Geschützrohre und
Lafetten in dem Armement der Flotte besitzt, und daß der Fall undenkbar ist,
in welchem es dem Vertheidiger unmöglich werden sollte: im Augenblick des
Sturmes Batterien auf der Bresche und seitswärts derselben, zu ihrer Flan-
kirung, zu etabliren.
Auf diese Umstände gründe ich meine Ansicht, wonach der Angriff nicht
den geregelten Verlauf nehmen wird, welchen ihm die Vorschriften Vaubans
geben. In jedem Falle wird die Artillerie der Belagernden, bevor man zum
Sturm schreitet, ein größeres Zerstörungswerk zu vollbringen haben.
Bekanntlich besteht die Stock- und Arsenalenceinte aus sechs langen Linien'
in deren Eckpunkten, behufs der Flankirung und um diese stets schwachen
Stellen zu sichern, Thürme mit wie es scheint redvutensörmigem Wallum¬
schluß gelegen sind, die wol nach dem Modell der sogenannten Marimilia-
nischen Thürme bei Linz, aber auf Grundlage eines erweiterten Maßstabes
construirt wurden. Das Geschütz dieser Thürme ist auf ihren Plattformen
placirt, wird aller Wahrscheinlichkeit nach hinter Scharten bedient, und soll
aus je 20 Kanonen von mittlerem Kaliber und fünf großen Haubitzen be¬
stehen. Die Engländer und Franzosen errichteten gegen jeden Thurm eine An¬
griffsbatterie, welche sie mit achtundsechzigpfündigen Schiffscarronaden und je
einem Lancastcrgeschütz bewaffneten. Außerdem sind zahlreiche Mörserbatterien
dazu bestimmt, unablässig die Plattformen zu bewerfen.
Es ist beim sogenannten Südthurm, wo die Hauptanstrengungen der
Belagerer sich vereinigen. Zunächst demselben wird höchst wahrscheinlich eine
ganze Zwischenlinie in Bresche gelegt werden, um den Sturm in breitester
Fronte, mithin unter gleichzeitiger Mitwirkung der größten Kräfte, durchführen
zu können. Die türkische Division auf der Krim hat den Lord Raglan um
die Ehre gebeten,'die ersten Colonnen bei dieser Gelegenheit formiren zu
dürfen.
Der seewärtige Angriff aus die Festung scheint aufgegeben worden zu
sein, wenn auch nur einstweilen. Kommt der Sturm auf die Fronte zunächst
dem Südthurm zur Ausführung, dann wird die Flotte jedenfalls, zur Förde¬
rung des Unternehmens, eine Diversion machen.
Der Kaiser hat, wie vorauszusehen war, sich gedrungen gefühlt, im
Moniteur zu erklären, daß die „limites conseils" im Briefe an die Wittwe
des Marschalls Se. Arnaud unbefugterweise ihre'Adresse in England gesucht
hätten. Wenn aber der langverheißene Fall Sebastopols noch einige Zeit auf
sich warten läßt, werden die furchtsamen Räthe vielleicht Anspruch auf die
Weisheit von Propheten machen. Die politische Situation muß bald einen
andern Schwerpunkt bekommen, die Lage in der Krim mag was immer für
eine Wendung nehmen. Die Leidenschaften und Interessen, welche der Kampf
des Ostens mit dem Westen aufgerüttelt hat, fangen an, sich geltendzuma¬
chen. Um von den deutschen Verhältnissen abzusehen, deren Beurtheilung
Und Würdigung uns in diesem Augenblicke aus vielen Gründen schwer wird,
wollen wir dem keimenden Conflict zwischen Frankreich und Amerika noch ei¬
nige Betrachtungen weihen. Seit meinem letzten Berichte hat der hiesige
amerikanische Gesandte seine Beschwerde gegen die Ausweisung Soulös vor
dem Kaiser selbst angebracht. Herr Mason appellirte von der Erklärung
Drouin de Lhuys und es gab eine lebhaftere Scene, als diplomatische Ver¬
handlungen namentlich mit einem Monarchen zur Folge zu haben pflegen.
Napoleon war in seiner Ausdrucksweise wie im Tone seiner Stimme leben¬
diger als er es bei solchen Gelegenheiten zu sein pflegt, und da der amerika¬
nische Diplomat es für seine Pflicht hielt, nicht weniger entschieden sich zu geber¬
den, wurde das Zwiegespräch so nachdrücklich, als es ohne Verletzung des
Anstandes nur immer möglich ist. Der Kaiser überhörte die Forderung nach
Genugthuung und zeigte sich so erbittert, daß Herr Mason sich zurückzog, in¬
dem er sich die Möglichkeit offen ließ, ohne weiteres jeden diplomatischen
Verkehr mit Frankreich abzubrechen. Wie wir Ihnen schon mitgetheilt haben,
dürfte der amerikanische Geschäftsträger die neuen Verhaltungsbefehle seiner
Regierung abwarten, allein es ist auch möglich, daß man in Washington
auf Schwierigkeiten mit dem Westen Europas bereits gesaßt war. Die Ver¬
treter der amerikanischen Freistaaten in Europa behaupten wenigstens, daß sie
das Wetter kommen sahen und die vielbesprochene Zusammenkunft in Ostende
hatte nicht sowol eine Besprechung der amerikanischen Diplomaten wegen Cuba
zum Gegenstande, als eine Erwägung gewisser von Herrn Buchanan in Lon¬
don gemachter Erfahrungen. Ob die mehrfach behauptete Annäherung Ru߬
lands an Amerika England wirklichen Grund zum Mißtrauen gegeben oder
ob dieses Mißtrauen aus politischer Eifersucht entspringe oder von Berechnung
politischer Wahrscheinlichkeiten herrühre, kann nicht mit Bestimmtheit angege¬
ben werden — aber jenes Mißtrauen ist vorhanden und in Washington ist
man gehörig erbaut davon. Herr Bucharen hatte schon lange vor der Aus¬
weisung dem englischen Cabinet angekündigt, daß er eine Urlaubsreise nach
seinem Vaterlande antreten wolle und er machte auch kein Hehl daraus, daß
es sich hierbei nicht um eine bloße Vergnügungsreise handle. Daß England
wirklich incognito die Hauptrolle in diesem polirischen Zwischendrama spiele,
scheint aus dem Umstände hervorzugehen, daß Frankreich die Beleidigung sei¬
nes Consuls in San Francisco nicht zum Anlaß eines Conflicts genom¬
men hat.
Man hat auch, und vielleicht ebenfalls nicht ohne ,allen Grund, behaup¬
ten wollen, daß England aus den Vorgängen in Spanien und aus der Hal¬
tung Esparteros Anlaß zu Mißvergnügen mit der amerikanischen ebensogut
wie mit der spanischen Negierung geschöpft habe. Espartero scheint in der
That ein unabhängigeres Betragen angenommen zu haben, als in England
gewünscht wird. Die Aussöhnung des Marschall Narvaez mit der Königin
Christine hat die gegenwärtige Regierung in Spanien gestärkt, und, gleichviel
ob mit Recht oder Unrecht, der Königin Jsabella viele Feinde geschaffen, wäh¬
rend Espartero und sein Anhang im Ministerium, um größere Gewalt in die
Hände zu bekommen, den Entschluß gefaßt haben, sich den Cortes anscheinend
ganz unterzuordnen und diesen ihre Aufgabe als Constituante durch keine
Schranke zu vermindern. ÖDonnel ist durch die Freundschaft Narvaez mit
Christinen dem Herzog von Vittoria natürlich näher gebracht, und man fragt
sich mit Recht, ob uns nicht wieder eine neue Ueberraschung bevorstehe. Es
ist auch nfcht unwahrscheinlich, daß das Lager im Süden Frankreichs, welches
nun als ein permanentes organisirt werden soll, in Voraussicht gewisser Even¬
tualitäten über den Winter beisammcnbkibt. Der Zusammenhang der spani¬
schen Zustände, des amerikanisch-europäischen Conflictes mit der großen eu¬
ropäischen Krise mag vorderhand noch nicht eristiien, allein es kann kaum
bezweifelt werden, daß ein solcher leicht herzustellen wäre. , '
Als eine Ironie auf alles, was sich jetzt in der Welt zuträgt, als ein
rührendes Idyll mitten im blutigen Drama erscheint uns das nach Rom be¬
rufene Concilium zur Feststellung des Dogmas von der unbefleckten Con¬
ception der Jungfrau Maria. Welche Grundsätze den päpstlichen Stuhl
leiten, konnten wir dabei aus dem.Umstände erkennen, daß der Erzoischvf von
Paris keine Einladung zu dieser Bischofsversammlung erhallen halte. Die
Partei des Univers, die katholische Kreuzzeitungspartei, halt dort die Zügel
fest in ihrer Hand, und selbst die sranzösiiche Regierung konnte unter den
großen politischen Vorgängen, die im Vorgrunde stehen, nicht ganz das Be¬
deutsame dieser Verhältnisse, übersehen.
Unsre nichtpolitischen Zustande werden von den politischen stark beeinflußt,
weil sich .die Minister in allen nichtpolitischen Beziehungen so ziemlich selbst
überlassen sind. Wie der Staatsminister die Theaterverwaltung handhabt,
wurde schon mitgetheilt, nun ein anderes Beispiel. . Es besteht bei der Fa¬
cultät der Wissenschaften einen Lehrstuhl für fremde Literaturen, welcher schon seit
mehren Jahren vacant ist. Die Facultät hat beim Unterrichtsminister schon
mehre Male auf Besetzung desselben gedrungen. Herr Fortoul bleibt taub,
weil er weiß, daß der Kandidat für diesen Lehrstuhl Herr Se. Neue Taillan-
dier ist. Herr Fortoul kann es dem jungen Gelehrten nicht verzeihen, daß er
in der Revue des deur mondes einen glücklichen Nebenbuhler gefunden hat.
Er versuchte den Lehrstuhl verschiedenen bekannten Persönlichkeiten anzubieten,
gegen deren Bevorzugung die Facultät nichts einzuwenden hätte. Er wandte
sich an Merimee, und da er bei diesem wie bei anderen mit seinem Antrage
nicht durchdrang, beschloß er den Lehrstuhl unbesetzt zu lassen. Amüsant aber
wird es in Deutschland klingen, daß der französische Unterrichtsminister Herrn
Taillandier den Bvrwurf macht, die deutschen Revolutionäre und die atheisti¬
sche Philosophie <! <»atro Mrw in seinen Artikeln der Revue des deur Mondes
zu beschützen.
George Sands neues Stück hat einen sehr großen Erfolg erhalten. Die
Oompsssnon» alö la tiovllv mögen noch soviel gegen die fehlerhafte Structur
des Gerüstes (der edarpenle) predigen, das Publikum und zwar die Elite des
französischen Publicums hat die Schwache, sich von phantasievollen, poetischen
Gebilden entzücken, sich von ihren feinen Bemerkungen, von ihren überraschenden
Reflexionen elektristren zu lassen. Der Kritiker findet wol vieles gegen un-
motivirte Ausgänge, gegen unvorbereitete, nicht genug nothwendige Wendungen
in der Handlung, gegen zu viel Innerlichkeit der handelnden Leidenschaft aus¬
zustellen; aber mau fühlt sich so erwärmt, so wohlthätig berührt von der noblen
Weise, wie der Dialog behandelt wird, und von der zarten, echt weiblichen
Art, die Charaktere zu zeichnen. Die Handlung bei George Sand ist oft
monoton 'und bewegen sich die geschilderten Leidenschaften auch nicht selten in
demselben Kreise, aber George Sands Figuren bleiben immer lebendig, und
wenn man sie auch nicht grade als gute Bekannte begrüßen kann, ihre Eristenz
im Reiche der Phantasie scheint mir doch ihre Möglichkeit im wirklichen Leben
nicht auszuschließen. Flaminio ist Tcverino, Wer kennt nicht den genialen
Schwarzen, den Komödianten und Jmprovisator, mit einem Worte, den lie¬
benswürdigen Boheme, der zugleich das Herz der Engländerin und die Liebe
der kleinen Vogelbezwingerin zu gewinnen weiß. Die Bekanntschaft geschieht
im Prologe, welcher ganz dem genannten Romane nachgebildet ist, und gewiß
zu den schönsten, geistvollsten Scenen gehört, welche auf der französischen Bühne
dargestellt wurden. Flaminio heirathet endlich die Lady Sarahs der ihre
Schwester als beruhigendes Element zur Seite steht. Die kleine Vogelbe¬
zwingerin des Romans hat sich auch getröstet und findet in einer passenden
Verbindung ihr Glück, Die Schwester von Lady Sarah, eine alte Jungfrau,
welche unter ihrer eckigen, komischen Gestalt ein großes einfaches Herz birgt,
ist vortrefflich gezeichnet. Die Prinzessin, welche im Interesse der Kunst Reisen
macht, um gute, Tenore zu engagiren und deren Leidenschaft zu Flaminio die
Entwicklung des Stückes herbeiführt, ist eine von den verführerischen koketten
Schöpfungen/ wie sie George Stand nur zuweilen gelingen. Sie fühlt sich
unbcengter, wenn es gilt große Leidenschaften zu zeichnen oder ein naives
unschuldiges Gemüth. Die schwachen Episodenfiguren werden vorzüglich durch
das gute Spiel der Schauspieler gehoben. Am wenigsten gelungen dürfte der
dritte Act (der zweite nach dem .Prologe) sein. Da übersteigt sich der Dichter
ein wenig. — Im ganzen genommen ist doch ein merklicher Fortschritt in
der Conception dieser dramatischen Phantasie nachzuweisen. George Sand
läßt in diesem Augenblicke ein neues Stück im Ambigu comique von sich ein-
studiren und das Lustspiel für die Comedie frau^aise soll beinahe fertig sein.
Die Thätigkeit dieser Frau ist erstaunlich und bei ihrer Leichtigkeit zu produ-
ciren, erklärt sich ihre außerordentliche Fruchtbarkeit von selbst.
Heinrich Heine, der arme Leidende, gibt uns von Zeit zu Zeit einen Be¬
weis, was ein Mensch auszuhalten im Stande ist. Seine humoristischen Aus¬
fälle auf die Krankheit und leider mehr noch die Frivolität des kranken Poeten
müssen den Leser in der Ferne an der Wirklichkeit des Leidens von Heinrich
Heine zweifeln lassen. Und doch übersteigt es trotz der Besserung, die infolge
der vortrefflichen Behandlung seines genialen Arztes Gruby eingetreten, jeden
Begriff. Aber der Witz, die Ironie, der Humor haben den deutschen Dichter
noch keinen Augenblick verlassen, er handhabt die scharfe Waffe gegen sich und
gegen andre wie in der besten Zeit seiner späßereichen ^Thätigkeit. Selbst zur
Zeit, als er noch ganz gelähmt war, kaum seine karge Speise hinabschlürfen
konnte, hatte das schwere Leiden seinen Witz nicht zu bändigen vermocht. Gruby
untersuchte bei der ersten Consiliumsvisite, welche Muskeln noch Thätigkeit be¬
säßen und fragte Heine unter andern:: „kourries vous siMer?" „?as asino la
mvillsure piöoe as Sorids" war die Antwort des Patienten, der zusammengezogen
wie ein Knäuel aus seinem Lager hingestreckt war. Ein Mann, der solche Leiden
mit soviel Heldenmut!) erträgt, hätte auch in seinem politischen Wirken mehr
Kraft zeigen müssen. Die Pariser Artikel aber zeigen besser als alles, was
Heine geschrieben, wie haltlos er in seinen Ueberzeugungen gewesen und wie
sich seine politischen, philosophischen und ästhetischen Meinungen stets uach
der witzigen Pointe bildeten, die er eben herbeiführen wollte. Die Pointe hat
ihn von jeher beherrscht, — aber Heine vergißt sich glücklicherweise oft genug:
der Poet reißt seinem Witze aus und dann ist er ebenso beredt als scharfsichtig.
Selbst in feinen musikalischen Urtheilen findet sich Vortreffliches. Es ist z.B.
verdienstlich, zu einer Zeit, wo Mendelssohns Verehrer nicht die geringste Rüge
gegen den mit Recht bewunderten Componisten gelten lassen wollten, den Aus-
spnich gethan zu haben, daß dem Schöpfer des Elias denn doch meist die Naivetät
gefehlt habe. Interessant bei Heine ist der persönliche Haß gegen England.
Dieser Haß und seine Begeisterung für den Glanz des Bonapartismus sind
die einzigen consequenten Züge, die sich in Heines politischer Ueberzeugung
nachweisen lassen. Hier werden diese Pariser Artikel gewiß großen Beifall
finden, sie sind ganz mit dieser Vorliebe für die Form und die Pointe geschrie¬
ben, wie man es hier liebt. Unbegreiflich aber ist es mir, daß sich daS poe¬
tische Gefühl Hein'es nicht gegen den prosaischen Abklatsch sträubte, welchen die
Revue des deur Mondes als Uebersetzung seiner versificirten Beigabe dieser ver¬
mischten Schriften gegeben hat.
Es kann nicht fehlen, daß die Ereignisse ihre rückwirkende Kraft auf die
Gesinnung ausüben, und daß der gute oder schlechte Erfolg den Eifer für die
Sache, die man als Recht erkannt, anfeuert oder lahmt. So tst es im ge¬
genwärtigen Augenblick. Auf die sinnlose Furcht, die man früher vor Ru߬
land gehegt, war plötzlich eine grenzenlose Geringschätzung gefolgt. Schon
die verunglückte Belagerung von Silistria verbreitete allgemein den Glauben,
die Macht Rußlands beruhe lediglich in der Einbildung, und als nun durch
jene unglückselige Tartarenbotschaft das Wunder von der Einnahme Sebasto-
pols der erstaunten, aber doch gläubigen Welt verkündet wurde, da wurde die
Stimmung so unendlich sanguinisch, daß man es ganz natürlich gefunden
hätte, wenn die allirrten Armeen von der Krim aus in Eilmärschen nach
Se. Petersburg oder nach Moskau eingerückt wären. Es zeigt sich jetzt, daß
man in der Verachtung ebenso zu weit gegangen ist, wie früher in der Furcht,
Die Mauern Sebastopols fallen nicht wie die von Jericho vor dem bloßen
Schall der Posaunen; die Russen schlagen sich so tapfer, wie sie sich immer
geschlagen haben, ihre Generale operiren nicht ungeschickter als andere, und
aus dem unermeßlichen Reich entwickeln sich Heerscharen, die wenigstens
einigermaßen die vorher angenommene Ziffer übersteigen. Ein jeder Rausch
ist gefährlich, denn in der Ernüchterung sieht man die Dinge immer schwärzer,
als sie sind. So hat sich jetzt über die liberale Presse eine Niedergeschlagenheit
ausgebreitet, der man nicht ernst genug entgegenarbeiten kann. Daß die Be¬
lagerung jener furchtbaren Festung sehr schwere Opfer kosten würde, hat sich
ja niemand verhehlt, und daß den.Feldherrn der Alliirten einmal auch etwas
Menschliches begegnen kann, entscheidet noch nichts für den Fortgang der
Belagerung. — Aber nehmen wir selbst den schlimmsten Fall an, einen Fall,
der beiläufig in diesem Augenblick um kein Haar breit wahrscheinlicher ist, als
vor zwei Monaten, nehmen wir an, daß die Erpedition trotz jener großen
Opfer ihren Zweck verfehlt, so ist das zwar eine empfindliche Niederlage, die
aber auf den Fortgang des Krieges kaum entscheidenden Einfluß ausüben
wird. Ja, jemehr die Nationalehre der Engländer und Franzosen durch die
militärischen Ereignisse an diesen K^leg gebunden ist, desto energischer wird er
geführt werden. Der Kampf des folgenden Jahres wird ein sehr schwerer
sein; aber solange jene beiden Völker einig bleiben, solange Oestreich auf der
ruhmvollen Bahn, die eS eingeschlagen hat, verharrt, solange ist auch noch
immer die Macht auf Seite deS Rechts, und wir können dem Ausgang mit
Zuversicht entgegensehn.
Ja sür uns Deutsche können die Schwierigkeiten, denen die Verbündeten
auf der Ostsee und dem schwarzen Meere begegnen, von großem Gewinn sein.
So gewaltig auch die Rüstungen sind, die für das kommende Frühjahr angestellt
werden, die Verbündeten werden doch mehr und mehr zu der Einsicht kommen,
daß durch diese Operationen zur See der Friede ebensowenig herbeigeführt
werden kann, als durch diplomatische Unterhandlungen; sie werden sich also
genöthigt sehen, die Hilfe der deutschen Mächte um jeden Preis zu erkaufen,
und das kann nur geschehen, wenn sie ihre Interessen mit in den Kampf ver¬
flechten, wenn sie ihnen für ihre Opfer einen Gewinn verheißen, kurz, wenn
sie den Weltkrieg in großem Maßstabe auffassen. Schon jetzt kündigt sich in
der englischen und französischen Presse eine große Wendung an. Bis jetzt hat
sie alle Versuche des deutschen Volks, sich eine politische Selbstständigkeit zu
erringen, mit gemeinem Hohn begeifert. Sie hat hin und wieder das liebe
Volk der Philosophen und Träumer wegen' seiner kindlichen Unschuld gelobt,
aber sich dabei immer schadenfroh die Hände gerieben, daß in dem Herzen/
Europas nicht ein mächtiger Staat, sondern eine gestaltlose geographische
Masse lag, die sich jedem Erperiment der Nachbarstaaten preisgab. Jetzt
kommt sie plötzlich zu der Einsicht, daß dieser Zustand niemand zugute kommt,
.als Rußland, daß die Unselbständigkeit Deutschlands das größte Unglück
auch für die Westmächte ist. Von dieser Einsicht bis zu dem Entschluß, der
Kräftigung Deutschlands wenigstens kein Hinderniß in den Weg zu legen, ist
nur ein kleiner Schritt. Nun werden aber die Staatsmänner Englands und
Frankreichs soviel Einsicht haben, daß man ein mächtiges Deutschland keines¬
wegs dadurch herstellt, daß man nach Frankfurt ein Parlament beruft, oder'
einen Kaiser kürt, oder anderweitige bnrschenschaftliche Erperimente anstellt.
Die Macht Deutschlands heißt soviel als Oestreich und Preußen. Oestreich
muß als Vormauer Deutschlands gegen Nußland an der Donau und am
schwarzen Meer stark gerüstet dastehen, Preußen muß in Kiel eine Warte
gegen Kronstäbe errichten. Wenn die Westmächte auf die Nothwendigkeit dieser
Neugestaltung eingehen, so ist die Demüthigung Rußlands gewiß, und sie ist
auf keine andere Weise zu erzielen.
Revision des Londoner Protokolls über die dänische Erbfolge! Das ist
das Feldgeschrei, unter welchem ganz Deutschland sich auf die Seite der Wcst-
mächte stellen wird. Sie ist für Deutschland nicht nur eine Frage der poli¬
tischen Nothwendigkeit, sondern eine Pflicht gegen die unglücklichen stammver-
> wandten Provinzen, die sür Deutschland soviel gelitten haben und denen so
schlecht gelohnt worden ist. Wer sich davon überzeugen will, wie es unsern
deutschen Brüdern unter dem dänischen Regiment ergeht, der studire die Schrift:
Mit ergreifender Wahrheit wird in derselben dargestellt, was wir gut zu
machen haben und was uns noch für Verluste in Aussicht stehen, wenn wir
länger säumen.
Aus jener Verstimmung der Presse läßt sich erklären, daß man auf ein
Ereigniß, welches nach unsrer Ansicht sehr unerheblich'ist, eine ganz unge¬
bührliche Wichtigkeit legt. Wir meinen die Ausweisung Svulvs aus Frank¬
reich, die auch unser Pariser Korrespondent für ein sehr ernstes Ereigniß hält.
Wir sind über die Details des Falls nicht genau genug unterrichtet, um zu
entscheiden, was auf beiden Seiten gefehlt sein mag; aber soviel muß für
jeden unbefangenen Beobachter klar sein; daß die regierende Demokratie
Amerikas dergleichen Ereignisse mit Gewalt provocirt. Einen offenen Be¬
günstiger des Raubzuges nach Cuba als Bevollmächtigten nach Spanien zu
schicken, war von Seiten der amerikanischen Regierung gelinde gesagt eine
Taktlosigkeit, sür die sie hätte büßen müssen, wenn die Beleidigung nicht einem
so sehr geschwächten Staat widerfahren wäre. Daß aber dieser halbtolle De¬
mokrat durch seine officielle Stellung in Madrid den Freibrief haben soll,
mit den Revolutionärs aller europäischen Länder Verbindungen anzuknüpfen
und Unruhen hervorzurufen, die nur Rußland zugute kommen können, das
ist eine Naivetät, die allenfalls in den „Eisenfresser" von Neuyork gehört,
wie ihn uns Dickens geschildert hat, aber nicht in das europäische Völker¬
recht. Wenn die Regierung von Washington in der That niedrig genug
denkt, die gegenwärtige Verwirrung zu einer Verbindung mit Rußland zu
benutzen, so werden diese Sklavenzüchter wol bald empfinden, daß ihr Staats¬
wesen auch noch lange nicht sest genug ist, um ohne Gefahr darin rühren
zu können.
Wir wenden uns zu einem erfreulichem Umstand. Der gegenwärtige
Krieg, so schreckliche Dinge er auch hervorrufen wird, spricht doch sür den
Fortschritt der Civilisation und Humanität, Soviel wir bis jetzt Kunde
erhalten haben, werden die Gefangenen auf beiden Seiten mit großer Mensch¬
lichkeit behandelt; man hat bis jetzt jeder Versuchung widerstanden, friedliche
Städte zu bombardiren und so die Achäer unter dem Zorn ihrer Herren leiden
ZU lassen, und was nicht weniger bemerkenswert!) ist, man hat das alte Lü¬
gensystem wenigstens soweit aufgegeben, als es ohne Nachtheil für !?en un¬
mittelbaren Erfolg geschehen kann. Die Erfindungen der Tartaren und der
Börsenspeculanten stehen in einem andern Register, aber die offtciellen Berichte
zeichnen sich durch eine ganz ungewöhnliche Zuverlässigkeit aus. Wenn die
Friedenscongresse darauf ausgehen , den Krieg überhaupt abzuschaffen, so wird
dieses Beginnen wol so lange scheitern, als es Leidenschaften unter den
Menschen gibt; aber daß auch im Kriege die Menschlichkeit geltendgemacht
wird, daß man auch im Feinde den Menschen ehrt, den man eines Tages
wieder als Bruder begrüßen kann — wenn der gegenwärtige Krieg diese
Probe aushält, so wird jeder Zweifel an dem - Fortschritt der Menschheit
verstummen.
Schließlich zeigen wir für die Zeitungsleser das jetzt vollendete Werk an:
z-IHi-"'"'..i/r,.>,-..',,-.,».
Die Sammlung besteht aus folgenden Heften: Der Sund und die Belte;
die schwedische Ostsee; der finnische Meerbusen; das schwarze Meer und die
Krim; die türkische Donau und der Balkan; die kaukasischen Länder. — Die
Ausstattung ist glänzend.
— Nach den neueste» Zeitungsnachrichten, ti-e auch unser Korre¬
spondent in einem nachträglichen Schreiben bestätigt, wäre die Sonlvdiffereiiz aus¬
geglichen. Wenn der Kaiser seinen Entschluß in Anbetracht anderweitiger, uns un¬
bekannter Umstände abgeändert hat, so wäre nichts dagegen zu erinnern; sollte»
ihn aber die Drohungen des amerikanischen Gesandten dazu bestimmt haben, so
würde uns das in dem Bilde, das wir uns bisher von seinem Charakter entworfen
haben, irre machen und uns als ein sehr bedenkliches Symptom erscheine».
Beiläufig, man übertreibt auch die Schwierigkeiten der spanischen Verwicklung. Bis
jetz^t fmoen wir, daß die Sache el»e» durchaus normalen Verlauf hat. In der »en¬
gewählten Constituante sind die gemäßigten Progrcssisten, die Partei Esparteros,
in überwiegender Mehrheit gegen die Radicale» und Mvdcrados, »»d wenn auch
jede constituirende Versammlung etwas Verkehrtes an sich hat, so liegt in der bis¬
herigen Haltung des spanischen Volks nichts, was uns grade von dieser Versamm¬
lung Schlimmes erwarten ließe. Ins Blaue hinein wird aber weder Napoleon für
die Schwiegermutter des Herzogs von Montpenfieur interveniren, noch viel weniger
die Engländer. —
Charakterbilder deutschen Landes und Lebens für Schule und Haus,
bearbeitet und gruppirt vou A. W> Grube. Zugleich als dritter Theil der geo¬
graphischen Charakterbilder vou demselben Verfasser. Leipzig, Brandstetter. -—
Sehen wir bei diesem Buch uur aus den Inhalt, der uns geboten wird, ohne
die Art und Weise seines Entstehens ins Auge zu fassen, so können wir nicht
leugnen, daß es einen sehr angenehmen Eindruck macht. Die verschiedenen Ländcr-
uud Culturformen Deutschlands werden nach allen Richtungen hin von kundigen
und talentvollen Beobachtern anschaulich und interessant beschrieben; es spricht sich
in den meisten Fällen ein schöner Sinn sür Natur und eine wahre patriotische Ge¬
sinnung aus. Die Anordnung ist verständig und verbindet im gauzeu Einheit der
Stimmung mit Mannigfaltigkeit der Anschauung. — Aber dieser gut? Eindruck
wird wesentlich verkümmert, wenn wir aus die Entstehung des Buchs eingehen.
Der Versasser hat nämlich mit der größten Unbefangenheit theils ans Zeitschriften,
theils aus Büchern lange Abhandlungen abgedruckt, ohne das geringste Bedenken
darüber zu haben, ob auch die Verfasser derselben damit einverstanden sein werden.
Es liegt uns hier am nächsten, unser eignes Eigenthum zu reclamtren. Aus den
Grenzboten sind abgedruckt erstens: Oldenburger Zustände S. 31—32, (21 Seiten)
zweitens: Streifzüge durch Pommern, S. 92—101, (9 Seiten); drittens: der
Harz, S. 102 u. s. w. (theilweise, wir haben nicht genau verglichen, wieviel davon
uus angehört); viertens: Nürnberg, S. 260 — 69, (9 Seiten). Nun ist aber hier
nicht von gewöhnlichen Seiten die Rede, sondern vou Seiten, wie sie sich etwa in
der Brvckhausschcn Gegenwart wiederfinden, die also in der gewöhnlichen Art, wie
man Neisebücher druckt, zwei bis drei Seiten ausfüllen würden. — Der Heraus¬
geber scheint sich gar nicht klar gemacht zu haben, wie es mit dem Eigenthumsrecht
solcher Aufsätze beschaffen ist. Der Verfasser derselben verkauft sein Eigenthum an
das Journal bis zu einer gewissen Zeit, gewöhnlich sür ein Jahr. Nach Ablauf
derselben steht ihm die freie Benutzung zu. Wenn er nun z. B. eine Sammlung
anzustellen gedenkt, so wird er durch die freie Verfügung darüber von Seiten eines
andern in seinem Erwerb gekränkt und dadurch unter Umständen veranlaßt, die
Hilfe des Gesetzes in Anspruch zu nehmen. So gut wie der Herausgeber aus den
Grenzboten vier größere Artikel entlehnt hat, die übrigen aus dem Morgenblatt
und andern Zeitschriften, ebenso gut hätte er auch seine sämmtlichen 'Artikel aus
den Grenzboten entlehnen können, denn es finden sich darin noch viele von derselben
Art. Nun haben wir zwar unsrerseits kein Interesse dabei, gegen eine solche Ver¬
werthung unsrer Aufsätze zu protestiren, weil ein Journal die Aufmerksamkeit deS
Publicums nnr sür eine gewisse Zeit in Anspruch nehmen kann. Aber es ist unsre
Pflicht, die Eigenthumsrechte unsrer Mitarbeiter zu wahren und falls diese es für
nöthig halten, werden wir gegen den Verfasser des vorliegenden Werks die Klage
wegen Nachdruck erheben. —
^ Die Antwort der östreichischen Negierung ans die preußische Note hält zwar
den Standpunkt der früheren Eröffnungen sehr entschieden fest, sie ist aber in
einer versöhnlichen Form geschrieben und zeigt, daß es dem Wiener Cabinet
ernstlich auf die Allianz mit Preußen ankommt. Das innige Einverständniß
zwischen Oestreich und Preußen ist in der That für beide Monarchien und
namentlich für Deutschland eine dringende Nothwendigkeit, und diese Noth¬
wendigkeit hat den großen Vorzug, auch möglich zu sein. Wir wollen einen
Augenblick bei dieser Möglichkeit verweilen, da sich seit dem Jahre 1848 bei
einem großen Theil der Presse die Ansicht festgesetzt zu haben scheint, die Er¬
neuerung Deutschlands sei nur durch einen Kampf zwischen Oestreich und Preu¬
ßen zu erreichen.
Diese Ansicht schreibt sich von zwei Umständen her: einmal von der Idee,
der Territorialumfang des früheren heiligen römischen Reiches deutscher Nation
müsse zu einem Einheitsstaat in moderner Form verschmolzen werden. Dieser
Zweck ist freilich nur zu erreichen, wenn von den beiden deutschen Großmächten
die eine untergeht, da sich freiwillig die eine der andern nicht unterordnen
wird, ja nicht unterordnen kann, denn bei Staaten, die einen Inhalt, ein
geistiges Lebensmotiv haben, hängt der Selbstmord keineswegs vom bloßen
Entschluß ab. In der ersten Zeit der Revolution war also die öffentliche
Meinung, die, soweit sie sich laut aussprach, fast ausschließlich der Demokratie
angehörte, für eine Vernichtung Preußens, oder wie es damals hieß, für ein
Aufgehen Preußens in Deutschland. Oestreich schien seinen Uebergang vom
Absolutismus zur constituonellen Staatsform auf eine fast ganz friedliche Weise
zu bewerkstelligen, während in Preußen durch eine wunderliche Verwicklung von
Umständen die Demokratie >ich schmeicheln konnte, sie habe die Freiheit auf den
Barrikaden erobert, und wenn sie nicht die Monarchie überhaupt über den
Hausen geworfen, so sei dies aus ganz besondern Rücksichten geschehen. Wer
also nicht gradezu die deutsche Republik wollte, und das wollte auch unter der
Demokratie nur der kleinere Theil, der war für ein östreichisch-deutsches Kaiser-
thum. Man wählte einen östreichischen Prinzen zum Reichsverweser, man
schickte von Frankfurt aus Decrete an das preußische Militär, kurz man behan¬
delte Preußen.so ziemlich als eroberte Provinz, bis plötzlich die öffentliche Mei¬
nung in das Gegentheil umschlug.
Der Grund davon war, daß bei der allmäligen Beruhigung der Gemüther
die Enthusiasten den sogenannten Dvclrinärs weichen mußten, daß man sich
mehr und mehr von der Unmöglichkeit überzeugte, den preußischen Staat durch
Decrete von Frankfurt aus in Bewegung zu setzen, daß man sich 'wieder daran
erinnerte, wie seit 1813 unter Metternichs Leitung die östreichische Hegemonie
das mächtigste Hinderniß für die freie deutsche Entwicklung gewesen sei, wäh¬
rend sich in Preußen trotz aller einzelnen Schlechtigkeiten doch das wirklich
deutsche Leben krhstallisirte. Es kam hinzu, daß der vermeintliche Untergang
der preußischen Monarchie sich nicht bestätigte, während die östreichische Ne¬
gierung in immer größere Noth geriet!). So hoffte man nun mit Preußens
Hilfe Oestreich zu unterdrücken und auf diese Weise die Einheit Deutschlands
herzustellen.
Wenn man die vielen Widersprüche in der endlich in Frankfurt beschlossenen
Verfassung einigermaßen erklären will, so'muß man sich daran erinnern, daß
der Schlußstein dieser Verfassung ein ganz andrer war, als den man ursprünglich
beabsichtigt hatte. Es lag in der Idee der Nationalversammlung, auf demokra¬
tisch constitutioneller Grundlage zu Frankfurt ein neues Kaiserthum zu errichten,
welches die bestehenden Staaten zertrümmern oder sie wenigstens zu der Ab¬
hängigkeit von Provinzen herabdrücken sollte. Die Demokraten hätten gern
dieses Geschäft einem der ihrigen übertragen, die Politiker des Centrums aber
sahen ein, daß man es nur mit der Hilfe von Bajonetten durchsetzen könne,
daß also die Kaiserwahl nur dann einen Sinn habe, wenn sie jemand träfe,
der Bajonette zu seiner Verfügung hätte. Aus diesem Grunde wählten sie den
König von Preußen, indem sie dabei aber dieselbe Vorstellung hatten, wie die
Demokraten. Der vom Parlament gewählte Kaiser sollte demselben die preu¬
ßischen Staatskräfte zur Verfügung stellen und mit ihrer Hilfe auch Oestreich
erobern.
Dies Project wurde durch das Gagernsche Programm ganz und gar ver¬
ändert. Die Politiker des rechten Centrums begriffen das Unheilvolle eines
Bürgerkrieges, sie begriffen auch die Nothwendigkeit des östreichischen Gesammt-
staates für Deutschland und für die Civilisation im allgemeinen; sie faßten
daher die Idee einer Trennung Deutschlands von Oestreich unter preußischer
Hegemonie. Aber diese Idee, die an sich fruchtbar hätte sein können, wurde.da¬
durch verkümmert, daß man sie auf einer ganz falschen Basis aufführen mußte.
Dem Plan der ganzen Reichsverfassung lag einerseits die Volkssouveränetät,
andrerseits die Territorialintcgrität Deutschlands zu Grunde; beides wurde ent¬
kräftigt, wenn man einem Fürsten die Krone übertrug, weil er über Bajonette
verfügte, und wenn man Oestreich ausschloß.
Diese nachträgliche Ueberlegung soll keineswegs die Handlungsweise der
würdigen Männer verurtheilen, die von der unerbittlichen Logik der Ereignisse
bestimmt wurden, wenn auch diese Logik zuletzt zu einer dirrationellen Größe
führte' sie soll uns nur jetzt, wo wir Zeit haben, ruhig zu überlegen, vor
ähnlichen, widerspruchsvollen Entwürfen warnen.
Sehen wir nun zu, wie sich diesen Ereignissen gegenüber' die östreichische
und preußische Negierung verhielten.
Zunächst ist festzustellen, daß von einem aufrichtigen Eingehen in die Ideen
der Paulskirche auf beiden Seiten keine Rede war. Von Oestreich verstand
sich das von selbst, da diese Pläne zu seinem Nachtheil gereichten; aber auch
der preußische Hof zeigte schon damals deutlich genug, daß, wenn die Regierung
jene Entwürfe überhaupt in Betracht zog, das nur in dem Sinne geschah, sie
nach eignem Ermessen zu benutzen, aber nicht, sich ihnen zu unterwerfen.
Unter diesen Umständen wäre von beiden Regierungen > unzweifelhaft der
sicherste und geradeste Weg gewesen, sich untereinander zu einigen und das
Werk der Erneuerung Deutschlands in ihre Hand zu nehmen. Daß dies nicht
' geschah, lag daran, daß beide Staaten die Frankfurter Ereignisse für ihr Zwecke
auszubeuten wünschten. Von Preußen liegt das auf der Hand; daß aber
anch Oestreich darauf speculirte, zeigt die erste Note an Preußen. Denn wenn
auch scheinbar die neue Wendung der Dinge für Preußen günstiger war, so
hatte Oestreich doch immer noch das Reichsregiment'in Händen, es konnte auf
den Beistand aller durch Preußen beeinträchtigten Fürsten rechnen, und selbst
für die Benutzung anderweitiger Elemente gab ihm die vorübergehende Ver¬
bindung der östreichischen und demokratischen Partei eine Handhabe.
An Oestreich war es damals, Preußen offen entgegenzukommen. Man
muß aber gestehen, daß die Vorschläge, die es Preußen machte, ganz dazu
geeignet waren, dieses zu einer Verbindung mit der parlamentarischen Partei
zu drängen.
Oestreich ging keineswegs von dem Grundsatz aus, daß in dem Besitzstand
der deutschen Fürstentümer, wie er im Pariser Frieden geordnet war, keine
Veränderung eintreten dürfe; im Gegentheil halte es die Uebel der Kleinstaa¬
terei wohl erkannt und war nicht abgeneigt, denselben durch Aufstellung neuer
Territorialgrenzen abzuhelfen. Allein es stellte die Meinung auf, daß die bei¬
den Großmächte von diesen Veränderungen keinen Vortheil ziehen, daß viel¬
mehr nur die Mittelstaaten dadurch vergrößert werden sollten. In diesen Vor¬
schlägen verkannten die östreichischen Staatsmänner durchaus die eigenthümliche
Lage Preußens. Oestreich war aus dem Pariser Frieden als ein vollkommen
arrondirter Staat hervorgegangen, Preußen dagegen als ein zerstückelter, so
daß das Streben, sich zu arrondiren, bei jeder günstigen Gelegenheit hervor¬
treten mußte. Die Nothwendigkeit, in die es sich einige Monate darauf ver¬
setzt sah, die Truppen des Großherzogthums Baden, das es unter seinen Schutz
genommen, auf Feldwegen in sein Gebiet zu schmuggeln, sowie die große
Frage wegen der Etappenstraße mußte alle Welt davon überzeugen. Es war
also unbillig von Oestreich, wenn überhaupt Territorialveränderungen eintreten
sollten, von Preußen zu verlangen, es solle keinen Nutzen daraus ziehen.
Aber Oestreich ging noch weiter. Jede Vergrößerung der Mittelstaaten mußte
dazu führen, Preußen von seiner Stellung herabzudrücken, es immermehr zu
dem Niveau der übrigen Staaten zu führen. Wenn man jene Vorschläge
also unparteiisch erwägt, so muthete Oestreich der preußischen Regierung in ei¬
nem Augenblick, wo anscheinend der Stern derselben im Steigen war, eine
Machtverkleinerung zu. Auf diese Vorschläge konnte Preußen nicht eingehen,
es konnte sie nicht einmal als einen Ausgangspunkt der Unterhandlungen be¬
trachten; und wenn es nun seinerseits den Fehler beging, die Unterhandlungen
mit Oestreich nur zum Schein fortzusetzen und statt dessen mit der parlamenta¬
rischen Partei eine Verständigung zu versuchen, um die es ihm doch nicht
aufrichtig zu thun war, so war dieser Fehler wenigstens menschlich. LlMallend
ist es, daß man damals beiderseits nicht auf einen Gedanken kam, der vielleicht
zu einer Verständigung hätte führen können, nämlich zu untersuchen, ob nicht
auch eine Vergrößerung Oestreichs im deutschen Interesse liege, ob nicht zur
Abwendung aller Nheinbundgelüste eine östreichische Grenze gegen Frankreich
ebenso wichtig wäre, als e.i»e preußische.
Genug, die Frage wurde nicht in Erwägung gezogen, und da bald darauf
die Auflösung des Parlaments erfolgte, so begann von Seiten der beiden
Großmächte jenes Jntriguenspicl an den kleinen Höfen, das zuerst zum Drei-
königsbündniß, schließlich zum Bregenzer Vertrag führte. In diesem Spiel
war Oestreich in einem ungeheuern Vortheil. Es forderte nichts für sich, es
trat als Hort des Bestehenden auf, während Preußen seinen Bundesgenossen
schwere Opfer zumuthete, ohne ihnen etwas dafür bieten zu können: Außer¬
dem hatte sich Oestreich sein Ziel sehr klar vorgesteckt, während man nicht
übertreibt, wenn man von der damaligen preußischen Regierung behauptet, sie
wußte nicht, was sie wollte. Ihre projectirte Unionsvcrfassung, die nicht auf
den Beistand des Volks, sondern auf den Beistand der Fürsten berechnet war,
verlor.gleich zu Anfang durch die Weigerung Baierns und Würtembergs die
nöthige Basis, und daß unter solchen Umständen Hannover und Sachsen bald
folgen würden, konnte man schon damals voraussehen. Aber selbst wenn alle
Fürsten willig gewesen wären, und wenn Oestreich keinen Einspruch erhoben
hätte, so'gab die Unionsverfassung, wirklich durchgeführt, Preußen in dem
neuen Bundesstaate der Union eine machtlosere Stellung, als es in Gesammt-
deutschland gehabt.
Wenn sich daher die parlamentarische Partei an diese Unionsbestrebungen
anschloß, so konnte sie das nur in der Voraussetzung thun, die Hitze des
Streits werde Preußen aus seiner antiparlamentarischen Haltung heraustreiben
und es dazu veranlassen, über den Buchstaben der Verfassung hinauszugehen;
abgesehen davon, daß in der Union doch noch der letzte Rest der Frankfurter
Entwürfe enthalten war. Die Partei mußte sehr bald erkennen, daß sie sich
in diesen Voraussetzungen getäuscht habe, schon im Januar 1830, noch mehr
während deö Erfurter Reichstags. Wenn sie dennoch, an der Union fest¬
hielt, so geschah das nur, wie man auch im Felde bei einer Fahne bleibt trotz
der bestimmten Voraussicht der Niederlage.
Wir wollen die Lage, in welche sich Preußen damals versetzt, nicht
weiter erörtern. Der Tod des Schimmels von Bronzcll ist vielfach genug in
komischen Heldengedichten besungen worden, bis endlich die wissenschaftliche
Kritik zu dem Resultat kam, daß er noch lebe. Statt dessen wollen wir die
Art und Weise ins Auge fassen, wie Oestreich seinen Sieg benutzte.
Gegen die Wiederherstellung des Bundestages wird man nicht viele Ein¬
wendungen machen können; es war im Grunde das einzige, was übrigblieb.
Außerdem war auch die öffentliche Meinung ganz im Unrecht, wenn sie sich
gegen die Existenz des Bundestages auflehnte, da es doch nur aus die Macht¬
befugnisse desselben und die Art und Weise seiner Abstimmung ankam. Allein
in drei Punkten, die Oestreich Preußen aufzwang, hatte es sich schwer an
Deutschland versündigt: in der Bundes erecution gegen die Herzogtümer, in
der Aufhebung^ der kurhessischen Verfassung und in, der Unterzeichnung deö
Londoner Protokolls.
Was das erste betrifft, so findet in formeller Beziehung Oestreichs Ver¬
fahren freilich viele Entschuldigungsgründe. Preußen hatte in dem Friede»
mit Dänemark die Sache der Herzogthümer aufgegeben, und so konnte man
den Zustand in denselben nnr als eine Jnsurrection qualificiren. So schlimm
also auch die Bundeserecution für Deutschlands Ehre war, so konnte man sich
ihr nach diesen Antecedentien auf die Länge nicht entziehen, wenn man
nicht eine ausländische Intervention nach einem, deutschen Bundeslande herbei¬
führen wollte. Allein Oestreich darf dabei nicht vergessen, daß auch der Friedens¬
schluß Preußens mit Dänemark vorzugsweise eine Folge der östreichischen
Haltung war.
Viel schlimmer stand die Sache in Hessen. Um den Minister, welcher im
Interesse Oestreichs in der Unionssache gehandelt hatte, zu schützen, wurde der
Rechtszustand des Landes durch ein Mittel aufgehoben,' das in Deutschland
bisher unbekannt gewesen war, das unsres, Wissens in der Geschichte überhaupt
bisher nur bei Gelegenheit der Dragonaden vorgekommen ist. Freilich wer
wollte einen Stein gegen die östreichischen Staatsmänner aufheben, da in der¬
selben Zeit von Seiten der preußischen Regierung der verfassungsmäßige
Widerstand des kurhessischcn Volks als eine Revolution in Schlafrock und
Pantoffeln bezeichnet wurde.
Allein den größten Fehler hat Oestreich durch Unterzeichnung des Lon¬
doner Protokolls begangen. Zwar hatte es damals alle Ursache, gegen Ru߬
land dankbar zu sein, allein soweit ist die Dankbarkeit doch noch in keinem
Staate gegangen. Oestreich konnte ganz von den Ereignissen des Jahres 18i8
absehen, an denen sich betheiligt zu haben ihm vielleicht eine unbequeme Er¬
innerung war; es konnte ganz einfach, auf die Bundesbeschlüsse des Jahres -I8i>6
zurückkommen. Wie schön wäre alsdann seine Stellung in Deutschland ge¬
wesen, wenn es nach der Beilegung seines Nebenbuhlers die Wahrung der
deutschen Ehre, die diesem zugekommen wäre, selbst in die Hand genommen
und so kräftig durchgeführt hätte, wie es seine eignen Interessen bisher verfochten.
Statt dessen unterzeichnete es einen Vertrag, der keineswegs auf Rechtsgründe,
sondern auf Gründe der sogenannten europäischen Convenienz basirt war und
der die Zukunft Deutschlands aufs verhängnißvollste aufs Spiel stellte. Daß
Preußen seine Rolle bis zum Ende spielte und auch diesem Vertrag nach¬
träglich seine Zustimmung gab, kann Oestreich nicht rechtfertigen.
Dies sind die Punkte, aus welche die letzte preußische Note anspielt.
Oestreich hat mit vollem Recht daraus erwidert, man könne daraus nur sehen,
wie verhängnisvoll eine jede Uneinigkeit zwischen den deutschen Großmächten
sei. Viel wichtiger ist eS ' aber, daß die östreichischen Staatsmänner diese
Einigkeit nicht blos ganz abstract auffassen, daß sie vielmehr auch den Inhalt
in Erwägung ziehen und die Eventualität überlegen, im Verein mit Preußen
auch diese Interessen Deutschlands, für die zu wirken jetzt wieder eine Gelegen¬
heit ist, bei den übrigen europäischen Mächten zu befürworten. In' der Bro¬
schüre, die wir vor vierzehn Tagen besprachen, und die nach glaubwürdigen
Nachrichten, wer auch der Verfasser sein mag, von der östreichischen Negierung
gebilligt wird, ist dies deutlich zwischen den Zeilen zu lesen.
So wäre denn jetzt, für die beiden deutschen Großmächte der glückliche
Fall eingetreten, alles gut zu machen, was früher an Deutschland gesündigt
ist. Das Londoner Protokoll ist noch nicht in Ausführung gekommen; die
Rechte der Dynastie, welche die Gesammtmonarchie erben soll, sind bisher nur
auf das Belieben der Großmächte und auf die sogenannte europäische Con¬
venienz basirt, und es hat sich deutlich herausgestellt, daß diese Convenienz
weiter nichts ist, als das Interesse Rußlands. Durch das Fortbestehen der
dänischen Gesammtmonarchie wird die lEntwicklung Deutschlands, sür welche
einzutreten Oestreich und Preußen gleichmäßig berufen sind, unmöglich gemacht,
die beiden Herzogthümer werden in dem Zustand beständiger Unzufriedenheit
gehalten, und, was charakteristisch ist, das dänische Volk leidet dabei die meiste
Einbuße, denn es verliert dadurch seine Verfassung; und dieser ganze uner¬
trägliche Zustand der Dinge beruht auf weiter nichts, als auf einem Feder¬
strich. Die Sache steht also so:
Oestreich und Preußen müssen zu der Einsicht gekommen sein, daß eine
vollkommene Einigkeit zwischen ihnen für ihr beiderseitiges Bestehen und für
das Wohl Deutschlands eine unerläßliche Nothwendigkeit ist.
Sollte sich Preußen isoliren, während der allgemeine Weltkrieg entbrennt,
so wird es entweder, wenn man seine Neutralität gelten läßt, seine Stellung
als Großmacht verlieren, oder, wenn es wirklich zu Nußland hält, aller Wahr¬
scheinlichkeit nach zertrümmert werden.
Aber Oestreich hat ein ebenso großes Interesse daran, Preußen für sich
zu gewinnen. Wir wollen von den Chancen des unmittelbaren Erfolgs ganz
absehen und nur eins feststellen. Sollte Preußen in Bund mit Nußland
treten, so nimmt der Krieg einen ganz andern Charakter an. Man wird
Polen insurgirm, und man wird sich wieder der Nheingrenze erinnern. Ob
Oestreich dieser revolutionären Wendung ruhig entgegensehen darf, wird es
selbst am besten wissen. Ferner wird es zu der Einsicht gekommen sein, daß
die Rivalität Preußens dadurch am einfachsten beschwichtigt wird, daß
dieser Staat eine eigne Sphäre seiner Wirksamkeit gewinnt. Preußen wird
allgemein als eine Großmacht angesehen, aber es würde schwer zu entscheiden
sein, wo es irgend in der Lage wäre, diese Function auszuüben. Da es doch
irgendwo seine Stellung geltendmachen will, so sucht es in Deutschland Er¬
weiterungen; wenn ihm aber Oestreich mit seinem ganzen Einfluß in seinem
natürlichen Bestreben zu Hilfe kommt, sich zur Seemacht in der Nordsee und
Ostsee zu erheben, so werden diese beiden Arme Deutschlands das gemeinsame
Vaterland kräftig im Süden und Norden vertheidigen können, ohne sich je in
den Weg zu kommen, vielmehr mit gegenseitiger Förderung ihrer Kräfte; und
es, wird alsdann eine Veränderung in den innern Zuständen Deutschlands
kein so dringendes Bedürfniß sein. Denn die Mittelstaaten können zwar der
Einheit Deutschlands nachtheilig werden, wenn Oestreich und Preußen uneinig
sind, bei dem Einverständnis) derselben dagegen und bei der Beherrschung der
russischen und französischen Grenze, sowie der deutschen Küsten tuend östreichische
und preußische Heere und Flotten wird der Bundestag nichts Anderes sein,
als ein Organ für die wirkliche Macht Deutschlands, und man kann der
weitern Entwicklung ruhig entgegensehen.
Die Westmächte haben gegenwärtig keinen Grund, wie zur Zeit des
Londoner Protokolls, für das russische Interesse zu arbeiten. Sie werden
ferner bei der Einsicht, daß der Krieg, an den sie mit ihrer Ehre gebunden
sind, nur mit Hilfe Deutschlands zu einer glücklichen Entscheidung gebracht
werden kann, auch zu Opfern bereit sein, und die gegenwärtige Stimmung
des dänischen Volks wird ihnen diese Opfer nicht gar zu schwer machen.
Möchten also die Staatsmänner Oestreichs und Preußens sich dahin ent¬
scheiden, die Revision des Londoner Protokolls zum Preis ihres Beitritts im
Kampf gegen Rußland zu machen und durch ihre Einigkeit das wieder zu ge¬
winnen, was ihre Zwietracht für Deutschland verloren hat.
Aber noch eins sind sie Deutschland schuldig. Noch menner bestehen in
Kurhessen die Ausnahmezustände fort. Auf Grund eines Bundesbeschlusses
ist der bestehende Rechtszustand unterbrochen worden; durch einen Bundesbe¬
schluß darf an denselben wieder angeknüpft werden. Noch unendlich viele
Dinge sind es, welche die Einigkeit der beiden Großmächte für Deutschland
gewinnen kann; wir erinnern nur an die kirchliche Frage. Beide Staaten
werden sich bald überzeugen, daß eine großherzige und aufrichtige Politik auch
stets erfolgreicher ist, als das kleinliche Spiel wechselnder Intriguen.
Sollte diese Einigkeit nicht zu Stande kommen, sollten wir das schreckliche
Schauspiel eines deutschen Bruderkrieges noch einmal, und zwar in größerer
Ausdehnung erleben, so würde Deutschland und mit ihm seine Großmächte
zu Boden getreten werden, wie nach dem dreißigjährigen Kriege, und dies Mal
würde das Wiederauferstehen schwerer sein, da wir es mit viel gefährlichern
Gegnern zu thun haben.
Thüringen, das sich früher durch seine Betheiligung an der wirklichen
Literatur vor den übrigen deutschen Landschaften so vortheilhaft ausgezeichnet
hat, scheint jetzt zu wetteifern, auch die Geschichte der Literatur so sehr als
möglich zu fördern. Es sind erst einige Wochen her, daß wir das Erscheinen des
Weimarischen Jahrbuches für Literatur anzeigten; das vorliegende Werk tritt ihm
würdig an die Seite. Der Herausgeber geht von dem Grundsatz aus, daß sür
die allgemeine Geschichte der deutschen Literatur jetzt vorläufig genug geschehen
ist, daß die Gesichtspunkte von allen Seiten genügend erörtert sind, und daß
sür ein Gesammtbild der literarischen Entwicklung vorläufig nicht viel mehr
geschehen kann. Es sei daher jetzt an der Zeit, durch monographische Arbeiten
allmälig soviel neues Material zu sammeln, bis dann eine neue Ueberarbeitung
nothwendig geworden sein wird. Wir treten dieser Ansicht vollkommen bei und
glauben dem Unternehmen einen günstigen Erfolg verheißen zu können. Die
einzelnen Beiträge haben einen durchaus wissenschaftlichen Charakter und sind
dabei so lesbar geschrieben, daß sie auch das größere Publicum interessiren müssen.
Als einen sehr zweckmäßigen Beitrag zu den eigentlichen Abhandlungen er¬
wähnen wir zunächst die Bibliographie der deutschen Literaturgeschichte für das
Jahr -1833 von Passow. Es sind darin alle Schriften aufgezählt, die in Be¬
ziehung auf die deutsche Literatur im laufenden Jahre erschienen sind, nach der
Folge der Zeiten, die sie behandelt, geordnet und durch eine kurze Recension
eingeführt, die weiter keinen Zweck hat, als den Leser über den Werth der
einzelnen Bücher ganz im allgemeinen zu orientiren. — Außerdem begegnen wir
folgenden Abhandlungen: zur Literatur des Volksdramas, von Wilhelm von
Plönnies (das Manuscript.eines sehr interessanten, von dem Volke selbst ge¬
dichteten und gespielten Dramas von vorwiegend weltlichem Charakter); die
geschichtliche Grundlage der Dieterichssage, von Wilhelm Müller (sucht das
Verhältniß der Ueberlieferung zu den factischen Verhältnissen der Völkerwan¬
derung festzustellen); ferner drei Monographien deutscher Dichter, Jacob Ayrer,
Simon Dach und Friedrich von Hagedorn, von Held'ig, Kahlert und Karl
Schmitt; endlich zwei Commentare zum Julius von Tarent und zum Goethe-
scher Satyros, von Henneberger und Dünzer. Beide suchen vorzugsweise die
äußere Geschichte des Dramas festzustellen. — Wie man sieht, ist der Inhalt
des Jahrbuchs sehr mannigfaltig und hat dabei doch einen vorwiegenden Grund¬
charakter. Wir wünschen ihm eine' recht ausgedehnte Theilnahme im Publicum,
damit die Kenntniß unsrer geschichtlichen Zustände, die sich doch immer am
deutlichsten in der Literatur abspiegeln, sich immer gründlicher über unsre Ge¬
genwart ausbreite.
Wenn uns schon der Titel dieser Schrift überraschte, so war dies noch
weit mehr der Fall, als wir den Inhalt näher ansahen.' Wir hatten im An¬
fang geglaubt, entweder nach Anleitung eines Tagebuchs ausgearbeitete Me¬
moiren darin zu finden, oder kleine literarische Analekten, die in einer losen Form
zusammengestellt wären, weil sie sich nicht grade zur Verarbeitung für ein grö¬
ßeres Ganze eigneten, die aber, abgesehen davon, ebenso zur Literatur gehörten,
wie ein größeres Werk. In dieser letzteren Ansicht bestätigte uns auch die
Vorrede, in welcher sich der Verfasser auf die Fragmentsammlungen von
Lichtenberg, Novalis, Goethe u. s. w. bezieht. Nun glauben wir zwar nicht,
daß die aphoristische Form für Wissenschaft oder für Kunst etwas Ersprießliches
sei, da sie fast immer zur Paradorie verleitet und die epigrammatische Wendung
auf Kosten des objectiven Urtheils begünstigt. Aber die hier angeführten
Sammlungen haben doch einen wesentlich literarischen Charakter. Es sind
kurze fragmentarische Abhandlungen, die von vornherein für den Druck bestimmt
waren, weil die Verfasser in dieser Form ihre Gedanken am eindringlichsten
vorzutragen glaubten.
In der vorliegenden Schrift dagegen sind die literarischen, ausgearbeiteten
Fragmente bei weitem der kleinste Theil; das meiste besteht aus wirklichen
Tagebuchblättern, aus Eindrücken, Die der Verfasser in der Hast niedergeschrie¬
ben hat und worin er seine Erinnerungen an Gelesenes, Gehörtes, an Unter¬
haltungen und Ereignisse firirt. Das geht soweit, daß er sich mehrmals über
den Eindruck, den die eine oder die andre Recension seiner Schriften auf ihn
gemacht hat und über die Empfindungen gegen den Recensenten ausführlich
ausspricht.
Das Interesse an dem Buch wird also vorzugsweise ein subjectives sein,
und gewiß kein geringes; denn der Name des Verfassers hat einen guten Klang
im deutschen Publicum, und sehr viele, die sich aus seinen eigentlichen Schriften
kein vollständiges Bild von seiner Persönlichkeit zu machen wissen, werden sehr
erfreut darüber sein, daß ihnen hier Gelegenheit geboten wird, die Operationen
seines Geistes ganz aus der Nähe zu beobachten. Aber wir müssen offen ge¬
stehen, daß eine nicht geringe Kühnheit dazu gehört, dem Publicum diese Ge¬
legenheit zu bieten. Wenn man seine Memoiren herausgibt, so mag man noch
so aufrichtig zu Werke gehen, man redigirt doch immer das Geschehene nach
einem gewissen Zweck und hat also eine klare Vorstellung von dem Eindruck,
den man durch seine Persönlichkeit hervorrufen will. Bei der Veröffentlichung
von Tagebuchblättern dagegen, wenn man ehrlich zu Werke geht (und davon
sind wir bei Rosenkranz fest überzeugt; wir glauben nicht, daß er auch nur
eine Zeile an dem, was er im Lauf jener Jahre geschrieben, geändert hat) gibt
man sich vollkommen wehrlos der Neugier, vielleicht dem Uebelwollen des Pu-
blicums preis, man deckt seine ganze Rüstung und seine Waffen auf, während
der Gegner von den seinigen nur zeigt, was er zeigen will.
Es gehört zu einem solchen Unternehmen also noch etwas Andres als
Kühnheit, nämlich Unbefangenheit und ein gutes Gewissen. Und das wird selten
bei einem, der sich an der Literatur der neuesten Zeit betheiligt hat, in so
hohem Grade der Fall sein, als bei Rosenkranz. Die jetzige Literatur ist ein
beständiger Kampf, und im Kampf greift man auch bei dem redlichsten Wollen
in der Hast zuweilen zu Waffen, die man bei ruhiger Ueberlegung vermeiden
würde. Es kommt zuweilen vor, daß man im Eifer für die Sache den Per¬
sonen härter zu Leibe geht, als man es selbst wünschte, und ebenso, daß man
zuweilen im gerechten Eifer gegen die Person für den Augenblick die Sache
vergißt. Wer wollte in dieser schnell lebenden Zeit von sich behaupten, daß er
wünschen könne, jede einzelne Empfindung seines Lebens aller Welt bloßgelegt
zu sehen!
Nun gehört Rosenkranz doch, wenigstens in der Wissenschaft, zu einer be¬
stimmten Partei: er hat also sachliche Gegner; er hat serner vielfältig Urtheile über
Personen in billigenden und mißbilligenden Sinn veröffentlicht: er steht also
auch zu Personen in bestimmten Beziehungen. Seine wissenschaftlichen Arbeiten
sind nicht in der strengen Methode abgefaßt, daß sie auch den Gegner zur Ue¬
bereinstimmung zwängen. Wenn er sich also trotzdem nicht scheut, uns in die
geheimste Werkstätte seines Geistes einzuführen, so liegt das eben darin, daß
er mit seiner ganzen liebenswürdigen Persönlichkeit in seiner literarischen Thätig¬
keit aufgeht, daß er die eine von der andern nicht zu trennen vermag, und
daß er die Möglichkeit einer solchen Scheidung auch nicht bei andern vor¬
aussetzt.
„Ich gehöre," sagt er Seite 308, „zu den intuitiver Menschen. Durch
Gedankenrechnerei werde ich nichts herausbringen; bei mir geht die blitzartige
Anschauung des Ganzen der Hingabe an die Einzelnheiten voran. Ich bin
aber deshalb auch von Stimmungen abhängig und kann ohne ein gewisses
lyrisches, wiewol sachliches Pathos nichts arbeiten." — Im allgemeinsten Sinn
aufgefaßt, würde diese Erklärung wol auf jeden Denker, der sich nicht grade
mit bloßen Rechnungen beschäftigt, angewandt werden können; sie gilt aber für
Rosenkranz in ganz specifischem Sinn und ist ein offenherziges und durchaus
richtiges Geständniß.
In der ästhetischen Bildung des vorigen Jahrhunderts trug man sich viel
mit dem Ausdruck: schöne Seele. Der Ausdruck ist jetzt durch häufigen Mi߬
brauch in Verruf gekommen, da man Personen darunter versteht, die ihre Em¬
pfindungen zur Schau stellen, wie Herr von Florencourt und andre Koketten.
Fassen wir aber den Begriff im alten Sinne auf, wie ihn Schiller und Goethe
gebrauchten, so wird er ungefähr auf jene Erklärung herauskommen, die Rosen¬
kranz mit Recht von seinem eignen Wesen gibt. Die Betheiligung des Ge¬
müths ist allerdings auch für jede größere wissenschaftliche Arbeit nothwendig,
aber nur einer speciellen Seite deö Gemüths, während die schöne Seele sich
überall mit der Totalität ihres Gemüths betheiligt.
Für die wissenschaftliche Forschung, für die Kritik und für die praktische
Lebenöbcobachtung ist diese Stimmung nicht durchweg förderlich. Was das letztere
betrifft, so mögen diejenigen, die mit den Königsberger Universitätsverhältnissen
in den Jahren 1837—18i0 bekannt waren, die Geschichte Seite 27i nach¬
schlagen. Eine solche Täuschung über Persönlichkeiten, mit denen man in be¬
ständigem Verkehr steht, von Seiten eines geistvollen und feingebildeten Mannes
wäre gradezu unerklärlich, wenn man nicht eben aus jener Stimmung die Nei¬
gung herleiten müßte, zur Befriedigung des Gemüths in die Menschen hinein-
zusehen, was man nicht aus ihnen heraussehen kann. Mit der literarischett
Kritik wird es häusig nicht anders aussehen.
Aber was das letztere betrifft, so erfahren wir aus diesen Tagebuchblät¬
tern, daß, wenn die sittliche Empfindung seines Gemüths verletzt wurde, und
so sein allgemeines Wohlwollen der bestimmten Ueberzeugung weichen mußte,
sein Urtheil auch recht ernst und herbe sein kann. So werden z. B. die Mit¬
glieder des jungen Deutschland durch diese Blätter nicht sehr erbaut werden.
Wir wollen hier nur eine Bemerkung aus dem Jahre 1839 anführen, S. 171.
„Ich fürchte, daß die Anhänger des jungen Deutschland doch keine classischen
Schriftsteller werden, weil sie die Literatur aus Rücksicht auf Geldgewinn zu
sehr als Metier behandeln. Der Ruhm gilt ihnen nicht sowol von Seiten sei¬
ner begeisternden Idealität, als von der Seite, für Buchhändlerunternehmungen
ein Capital zu sein. Selbst bei der Kritik lassen sie eine mercantilische Riva¬
lität merken. Sie beobachten einander, ob nicht der eine dem andren mit
einem glücklichen Erfolg den Markt verdirbt. Sie beobachten auch die Strö¬
mungen der Zeit nur, um ein „zeitgemäßes" Fabricae aufzufinden, das sofort
„eines großes Anklanges" sicher sein könne. Sie haben ihren Lohn dahin."
Ueber die meisten literarischen Erscheinungen, die in jenen Jahren irgend¬
wie Aufsehen gemacht haben, finden wir Bemerkungen in diesen Blättern, zum
Theil sehr scharfsinnig und treffend, überwiegend aber von blos persönlichem
Interesse und zuweilen überaus flüchtig. - Am interessantesten sind die
Betrachtungen des Verfassers über seine eigne Stellung zur Literatur.
Bei der großen Empfänglichkeit und Irritabilität seines Wesens ist es be¬
greiflich, daß er auch in dieser Beziehung beim Suchen bleibt, daß er sich bei
jedem neuen überwältigenden Eindruck sanguinisch in eine neue Richtung wirft,
und daß er vielleicht grade dann am meisten vom natürlichen Pfade abirre,
wenn er den letzten' Schluß seines Denkens gezogen zu haben glaubt. Aber
überall müssen wir uns über die Ehrlichkeit und Offenherzigkeit freuen, mit
der er die Selbstkritik ausübt, umsomehr, da er bei andern ihm gegenüber¬
stehenden Erscheinungen, auch wo er verletzt ist, die guten Seiten aufzufinden
sich bemüht. Am befremdendsten sind einzelne lyrische Stoßseufzer, von denen
wir den einen, der mit der Jahrzahl 18is bezeichnet ist, seiner Seltsamkeit
wegen mittheilen.
„Die zerschmetterndste Vorstellung, die ich kaum auszudenken wage und
kaum auszudrücken vermag, ist die, daß überhaupt etwas ist. Es gähnt mich
aus diesem Gedanken der absolute, der gestaltenleere Abgrund der Welt an.
Es wispert mir zu, wie der Verrath des Gottes. Es ergreift mich ein Bangen,
wie in meiner Kindheit, wenn ich die Offenbarung Johannis las und Himmel
und Erde darin zusammenbrachen. Da um mich herum dehnt sich die Welt
in aller Breite, mit allem Trotz sinnlicher Virtualität und scheint meiner
Vorstellung zu spotten. Sie zwingt mich in ihre Kreise, zwingt mich, ihren
Ordnungen zu gehorchen, lacht meines Gedankens ihres Nichts als eines Hirn-
gespinnstes. Und doch ist dieser Gedanke, .dieser widersinnig scheinende Ge¬
danke, was nun sein würde, wenn diese Welt nicht wäre , ein Riese, der mit
dem ganzen empirischen Dasein spielt."
Wir vermuthen zwar, daß in diesem philosophischen Dithyrambus irgend¬
ein Sinn sein wird, aber wir vermögen nicht, ihn zu entdecken. Goethe macht
einmal die Bemerkung, in vielen von Byrons Gedichten finde er nichts, als
verhaltene Parlamentsreden. So sehen wir auch in diesen Aeußerungen der
speculativen Trunkenheit (etwas Aehnliches ist z. B. die Apotheose des absoluten
Nichts in Werders Logik) nichts als verhaltene lyrische Gedichte. — Um aber
diesen wunderlichen Einfällen eine recht feine Bemerkung entgegenzustellen,
theilen wir das folgende Fragment mit S. 263: „Der ekle Götzendienst, den
unsre Zeit im sogenannten Cultus des Genius treibt, wie sie Strauß, Feuer¬
bach, Herwegh, Liszt, Ronge u. s. w. vergöttert, ist nur die ihr selbst un¬
bewußte ironische Kehrseite ihres Atheismus, die-sich doch aufdrängende Noth¬
wendigkeit, das Absolute auch als ein Subject, als eine Persönlichkeit zu
besitzen." —
In einer sehr gut geschriebenen Einleitung setzt der Verfasser die Methode
seiner Bearbeitung auseinander. Wenn er nicht daraus ausgegangen ist, eine
bloße Uebersetzung zu geben, so lag das in der Natur des ihm vorliegenden
Originals. Die beiden großen epischen Gedichte der Jndier, Mahabharata
und Ramajana, sind wie die meisten Dichtungen aus der Jugendzeit der
Völker, nicht aus einem Guß geschaffen, sondern sie sind durch sehr verschiedene
Hände gegangen, und die Ueberarbeitungen späterer Zeitalter, die zum Theil
von einer höchst abweichenden sittlichen Weltanschauung ausgingen, sind noch
leicht -zu erkennen. Der Mahabharata füllt vier dicke Quartbände, in denen
der ursprünglich sagenhafte Theil durch die Ueberfülle des später hinzugefügten
Materials fast erstickt wird. Diese Zusätze und Veränderungen gingen thuts
aus der veränderten Geschmacksrichtung hervor, theils aus dem Bedürfniß, in
einem großen Werk alles zusammenzustellen, was die indische Poesie überhaupt
geschaffen hatte, und so alle andere poetischen Werke gewissermaßen entbehrlich
zu machen, hauptsächlich aber aus dogmatischen Zwecken. In dem indischen
., Religionssystem war eine gewaltige Umwandlung vorgegangen. Auf das
Heldenzeitalter der Nation war ein dumpfes Priesterthum gefolgt, und, die
lebendigen Göttergestalten wurden durch Abstractionen und Natursymbole ver¬
drängt. Diese Umwandlung wurde nun auch mit dem Gedicht vorgenommen
und dadurch die ursprüngliche kräftig jugendliche Färbung in ein düstres
Grau verwandelt.
Der Verfasser hat sich nun die Aufgabe gesetzt, soviel es durch Divination,
durch Gefühl des Zweckmäßiger und Unzweckmäßigen möglich ist, die ursprüng¬
liche Gestalt des Gedichts wiederherzustellen. Er ist sich sehr wohl bewußt,
daß eine spätere wissenschaftliche Kritik vielleicht zu ganz andern Resultaten
kommen wird, wenn er auch hofft, daß sie ihm in vielen Punkten Recht geben
wird. Ihm kam es vor allem aber darauf an, dem deutscheu Publicum ein
Gedicht herzustellen, welches in Beziehung auf die Begebenheiten wie auf die
zu Grunde gelegte Weltanschauung ein harmonisches Ganze bilden sollte. Er
hat nichts von eigner Erfindung hinzugethan, sondern sich so getreu als möglich
an die indischen Vorstellungen zu halten gesucht, und auch wo er der Ver¬
knüpfung .wegen einen Nebenumstand erfinden mußte, überall eine bestimmte
indische Ueberlieferung zu Rathe gezogen.
Diese Aufgabe ist ihm vollkommen gelungen. Das Gedicht, „die Kuruinge",
in welchem die Hauptbegebenheil der Mahabharata behandelt wird, ist ein in
sich zusammenhängendes, geschlossenes Gedicht, welches uns in den blühendsten
und kräftigsten Farben ein wildbewegtes Heldcnzeitalter darstellt und in vieler
Beziehung mit uusern Nibelungen verglichen werden kann. Ein ruhmvolles
Königsgeschlecht fällt durch eigne Schuld in schmählichen Untergang. Die
einzelnen Helden sind in sehr bestimmten und leicht erkennbaren Umrissen ge¬
zeichnet; die Bewegung ist frei und eigenthümlich, und eine lebendige Spannung
fesselt uns vom Anfang bis zum Ende. Die Schlachtengemälde sind mit einer
großen sinnlichen Wahrheit wiedergegeben, und so, daß sie trotz der Ver¬
schiedenartigkeit der indischen Cultur von der unsngen uns grade so lebendig
werden, wie die griechischen Heldensagen vom Trojanerkrieg und die deutschen
von der Völkerwanderung. Freilich hat bei der Darstellung von Heldenthaten
jedes Volk eine eigne Weise zu übertreiben, und die eine Kunstfertigkeit im
Kriegshandwerk, die unzählige Male vorkommt, wird alle deutschen Leser vor
den Kopf stoßen. Wenn nämlich ein Held aus einen geschickten Bogenschützen
eine Lanze wirft, so schießt sie dieser im Fluge mit einer Reihe von Pfeilen
in Stücke, einmal sogar in elf Stücke. Alle Achtung vor den indischen
Jongleurs, aber diese Kunstfertigkeit tritt doch aus dem Bereich der sinnlichen
Wahrheit heraus. — Dies ist. aber auch der einzige fremdartige Zug; im
übrigen handeln, empfinden und denken die Helden der indischen Sage grade
wie die Helden aller übrigen Völker von primitiver Rücksichtslosigkeit, und das
Sittengesetz, das selbst den Bösen als Regel vorschwebt, steht uns sogar viel
näher, als das Homerische. So können wir dieses Gedicht als eine wirkliche
und bedeutende Bereicherung der auch für uns gewonnenen Weltliteratur
begrüßen.
Nur sind wir doch der Ansicht, daß der Herausgeber im Wegschneiden
der Episoden zu grausam gewesen ist. Eine Probe sind schon die beiden zunächst
folgenden Episoden, die er selbst mittheilt: „Fischaas Geburt" und „Umba".
Beide gehören wesentlich in den Zusammenhang des Epos, und namentlich
das Wegfallen der letztern lahmt eins der Hauptmotive der Handlung. So
vermissen wir auch bei dem Schlußgesang eine innere Verbindung mit dem
Vorhergehenden. Von den beiden feindlichen Familien aus dem Hause der
Kuruinge ist der bessere Theil unterlegen; die Feinde haben überall durch
böse Künste gesiegt, bis nun zuletzt ein Held auftritt, der sich bis dahin noch
gar nicht bemerklich gemacht hatte, und sie sämmtlich umbringt. In unsren
Nibelungen wird zwar das Auftreten des Dietrich von Bern auch ziemlich
verspätet, aber doch nicht solange, daß wir uns nicht von ihm und seiner
Stellung eine lebendige Vorstellung bilden könnten. Aswatthaman dagegen
ist für uus eine ganz farblose Gestalt, und dadurch wird das Interesse, das
wir an der letzten Entscheidung nehmen, etwas abgestumpft.
Unter den übrigen Episoden aus dem Mahabharata tritt die schon aus
frühern Bearbeitungen bekannte, außerordentlich liebliche Geschichte vom König
Nal hervor. Der Verfasser hat sie dem Indischen getreuer nachzubilden gesucht,
als bisher der Fall war. Die andern Episoden haben einen wesentlich ver¬
schiedenen Charakter. Sie treten aus dem rein Heroischen heraus und deuten
schon hin und wieder auf dogmatische, vielleicht naturphilosophische Speku¬
lationen. Die Erfindungen gehen ins Ungeheure und Abenteuerliche, und der
epische Charakter geht in dem mythologischen unter. In einrr dieser Episoden,
„Usinar", findet der Verfasser, und nicht mit Unrecht, eine höchst merkwürdige
Anticipation des christlichen Geistes.
Aus dem Ramajan ist das zweite Buch bearbeitet, und dieses schöne
Gedicht, dessen sittliche Erhabenheit wir ebenso bewundern müssen, wie die
lebendige Farbe, schließt sich würdig an die Kuruinge an.
Es bleibt uns noch übrig, unsre Ansicht über die äußern Formen aus¬
zusprechen, die der Bearbeiter angewendet hat. Daß er das Versmaß der
indischen Epen nicht in seiner Reinheit wiederzugeben versucht hat, finden wir
ganz in der Ordnung. Ein Rhythmus hat nur dann einen Sinn, wenn er
mit dem natürlichen Fluß der Sprache in Uebereinstimmung steht; das indische
Versmaß dagegen, welches aus zwei achtsilbigen Halbzeilen besteht, von denen
jedes Mal dje vier ersten Silben gleichgiltig sind, während die vier letzten
Silben in der ersten Halbzeile das Schema ^__^ , in der zweiten das
Schema ^ _ ^ . annehmen, widerspricht allen unsren Begriffen von Rhythmus,
es läßt unser Ohr unberührt und setzt dem natürlichen Fluß unsrer Rede un-
übersteigliche Schranken. Der Verfasser hat zuerst versucht, dieses Versmaß
durch reine Doppeljamben zu ersetzen, so in der Episode des Ramajana; er
hat mit Recht gefunden, daß dadurch das Epos zu eintönig wird, und hat sich
dann einen eignen Rhythmus gebildet, der nicht schlecht klingt, der Mannig¬
faltigkeit und Gesetz vereinigt und mit der natürlichen Bewegung der deutschen
Sprache in Uebereinstimmung ist: er behält nämlich für die zweite Halbzeile
im wesentlichen den jambischen Rhythmus bei, wenn er auch an der zweiten
und dritten Stelle zuweilen Anapäste anwendet, in der ersten dagegen macht
er an der vierten Stelle den Anapäst zur Regel und fügt meistens noch eine
kurze Schlußsilbe hinzu. Das Versmaß sieht also so aus:
Nun hast du alle Güter verloren
und deine Brüder allzumal;
nun wirst du wohl vom Spiele zu lassen
genöthigt sein Juzischthira.Noch bin ich, o Dum'zana, frei;
für meine Brüder setz' ich mich.
Wenn dn gewinnst, so werd ich selbst
dir dienen wie ein andrer Knecht.
Ob nun die ungebundene Rede nicht dasselbe geleistet haben würde, das
wollen wir dahingestellt sein lassen. Auf alle Fälle bewegt sich der Verfasser
in seinem selbsterfundenen Versmaß mit soviel Freiheit, Sicherheit und Geschmack,
daß wir über die Wahl desselben mit ihm nicht rechten wollen. — Aber einige
andere Ausstellungen müssen wir machen. Zunächst in Beziehung auf die
Namen. Die indischen Namen klingen unsrem Ohr an und für sich schon
wunderlich genug, der Uebelstand wird aber noch dadurch erschwert, daß jeder
der Helden fünf bis sechs verschiedene Namen führt, die beliebig durcheinander¬
geworfen werden. Da es nun dem Verfasser nicht auf philologische Genauig¬
keit ankam, so hätte er diese Vielnamigkeit dem deutschen Leser ersparen
sollen, denn die Rücksicht auf sein Versmaß konnte doch wol nicht maßgebend
sein; ja, es wäre vielleicht ganz in der Ordnung gewesen, die Namen ein
wenig zu germanisiren, denn was nutzt ein Name, wenn man ihn nicht aus¬
sprechen kaun? — Ferner hat er ebenfalls in Rücksicht auf das Versmaß zu¬
weilen auch die sachlichen Bezeichnungen indisch gegeben. So kommt z. B.
der Elephant sast auf jeder Seite vor, ein allerdings sehr unbequemes Wort,
was aber den Dichter noch nicht dazu berechtigt, dafür das indische Wort
„Ils" einzuführen. Es wird zwar erlaubt sein, bei Naturgegenständen, für die
es im Deutschen noch' keine Bezeichnung gibt, den fremden Namen aufzu¬
nehmen, aber wo es im Deutschen bereits ein Wort dafür gibt, ist dies durchaus
unstatthaft. In den meisten Fällen hätte hier übrigens die allgemeine Be¬
zeichnung „Thier" dieselben Dienste gethan. Ferner halten wir auch die End¬
silbe „ing" für die Bezeichnung der Abkunft, da sie einmal im neuhochdeutschen
abgekommen ist, nicht für empfehlenswerth.
Indessen sind das alles nur kleine Ausstellungen, die den poetischen Werth
deS Ganzen nicht im geringsten verkürzen. Jeder Freund echter Poesie wird
dem Verfasser für die schöne Gabe dankbar sein.
Wer in der Wissenschaft an reinliche Arbeit gewöhnt ist, wird in den
Werken von Carriere nur mit großer Ueberwindung weiter vorschreiten können.
Die Unfähigkeit, einen bestimmten Gedanken in der Form, die ihm zukommt,
festzuhalten und nach allen Seiten zu verarbeiten, ist so groß, daß wir zuweilen
an Mrö. Nickleby erinnert werden. Nach dem Titel uno nach der Jnhalts-
anzeige sollte man vermuthen, das Werk habe die Aufgabe eines Lehrbuchs.
Darüber wird man nun freilich gleich auf den ersten Seiren enttäuscht, da der
Stil durchaus blumenreich und rhetorisch, aber keineswegs wissenschaftlich ist;
allein wenn man uns nach der eigentlichen Tendenz fragt, so finden wir keine
Antwort. Der Verfasser scheint sich ruhig seinen Inspirationen und äußern
Eindrücken überlassen zu haben. Er macht einige Bemerkungen über die Kunst,
dabei fällt ihm irgendein Citat aus einem Dichter ein, das gibt ihm Gelegen¬
heit, über das Citat und über den Dichter selbst sich in Erörterungen einzu¬
lassen, dann kommt wieder ein neues Citat, neue Bemerkungen darüber, und
so spinnt sich die Rede unbefangen weiter fort, ohne daß man auch nur den
geringsten Begriff davon hätte, was eigentlich bewiesen oder dargestellt werden
soll. Um,den Stil zu charakterisieren, greifen wir ein ganz beliebiges Beispiel,
S. 9, heraus, wo über das Schöne geredet wird. „So ist es thatvoll lebendige
Einheit, das volle mangellose Sein, wie Platon und Schelling sagen, die
Idee, welche ganz in der Erscheinung gegenwärtig, die Erscheinung, welche
ganz von der Idee gebildet und durchleuchtet ist. So haben wir im Schönen
einen Mikrokosmos, der den Sinn des ganzen Weltalls beseligend enthüllt;
ein Mysterium, das im sinnlichen Zeichen uns eine himmlische Gnadengabe
vermittelt, das als ein leuchtender Punkt uns den Blick in das ewige Wesen
eröffnet, die Natur in Gott und Gott in der Natur kennen lehrt und die
Energie der Liebe und Freiheit als Grund, Band und Ziel der Welt
offenbart."
In diesem Stil ist das ganze Buch geschrieben, vom ersten Wort bis
zum letzten, i59 Seiten lang. Daß aus diese Weise nicht der geringste neue
Begriff festgestellt, daß auch sür bekannte Begriffe nicht das geringste neue
Merkmal aufgesunden werden kann, liegt auf der Hand. Der wissenschaftliche
Werth des ganzen Werks ist gleich Null.
Allein wir müssen bei der Kritik des Werks eine andere Seite in
Betracht ziehen. Es gibt einen sehr großen Theil des Publicums, der in der
Literatur alle Arbeit und Anstrengung verabscheut, dem wissenschaftlicher Ernst
und wissenschaftliche Strenge unerträglich sind. Auf dieses Publicum wird in
neuerer Zeit durch Bücher, die unter einer gleißenden Hülle einen, giftigen
Inhalt verbergen, sehr schädlich eingewirkt, und wir haben daher zu unter¬
suchen, ob dieses Werk auch zu dieser Classe gehört.
Mit großer Befriedigung sprechen wir aus, daß das Gegentheil der Fall
ist. Abgesehen davon, daß ein empfindsam verschwommener Stil indirect einen
schädlichen Einfluß auf die Leser ausübt, und daß Unbestimmtheit der Begriffe
die Lust am Denken verkümmert, ist der Inhalt nur zu loben. Der Verfasser
hat ein warmes und empfängliches Gefühl für das Schöne und ein durchaus
redliches Wollen. Seine Abneigung gegen das Schlechte wird zwar nicht zur
Leidenschaft, aber sie ist vorhanden, und stark genug, um ihn vor jenen
sophistischen Trugschlüssen zu bewahren, mit denen heutzutage das Gute
und Böse durcheinandergeworfen wird. Dabei hat er eine ziemlich reiche Be¬
lesenheit und weiß dieselbe zum Besten seines Publicums zu verwerthen. Er
führt eine Masse schöner Stellen an, die der flüchtige Leser leicht übersieht,
und macht auf ihre Vorzüge aufmerksam, nicht immer geschickt, aber doch immer
mit dem besten Willen. Er hat ein lebhaftes Pietätsgefühl, und weiß dem¬
selben zuweilen innige Worte zu leihen.
Betrachten wir das Buch also als ein erbauliches (erbaulich im weitem
Sinne), dazu bestimmt, dem Publicum, welches das Schöne nicht unmittelbar
zu genießen versteht, dasselbe durch rhetorische Vermittlung einzuschmeicheln,
so hat es seine volle Berechtigung; denn bei dieser rein subjectiven Bestimmung
hört auch die objective wissenschaftliche Kritik auf: ein Publicum, welches eine
derartige Lectüre liebt, ist thatsächlich vorhanden, und für dieses Publicum ist
die vorliegende Unterhaltung viel nützlicher und heilsamer, als vieles andere,
was in derselben Art geschrieben ist.
Die eigentliche Deduction ist natürlich das Schwächste am Werk. Die
„literarhistorischen Erläuterungen" sind besser. So würde namentlich die Ver-
gleichung des indischen, persischen, griechischen und germanischen Volksepos recht
interessant sein, da es bei solchen Vergleichungen weniger auf Schärfe und
Strenge ankommt, als auf einen gewissen Znstinct, wenn sich der Verfasser
nicht zuweilen auf Betrachtungen eingelassen hätte, die außerhalb seines Kreises
liegen; einmal sogar auf etymologische Erörterungen. Dergleichen ist immer
eine nutzlose Spielerei, wenn es nicht aus der innersten und umfassendsten
Kenntniß der Sprache heraus geschieht. Auch die Abhandlung über Schiller
ist infofern zu loben, als sie mit großer Wärme die Vorzüge dieses Dichters
hervorhebt, was heutzutage sehr nöthig ist, da bereits eine Generation bei uns
eristirt, die Schillern nur auf der Schulbank gelesen hat, also in einer Zeit,
wo man noch nicht im geringsten befähigt ist, sich über das wirklich Große
und Erhabene dieses Dichters ein Urtheil zu bilden. —
Die Arbeit ist gut gemeint, und der Verfasser hat das, was die Gegen¬
wart bedruckt, lebhaft empfunden; aber das Buch nicht von der Art, daß es
in der unendlichen Flut von Universalmitteln, die für das Elend der Mensch¬
heit erfunden sind, irgendeine bemerkenswerthe Stellung einnehmen könnte.
Der Verfasser hat seine Vorlesungen vor Damen und'Herrn gehalten,
vorzugsweise, wie es scheint, für die ersteren. „In der That," ruft er in der
Vorrede aus, „es ist hohe Zeit, den crasser Despotismus einer überall blos
berechnenden Intelligenz zu beseitigen! Durch das Zusammenwirken des
Denkens und Fühlens aber ist auch das weibliche Wesen fähig einer wahrhaft
geistigen Ausbildung, nicht blos in der Kunst, sondern auch in der Wissenschaft
und selbst in der Philosophie; und wer darf es sich anmaßen, vom Schöpfer
des menschlichen Geschlechts zu behaupten, er habe dem Weibe hierin eine un¬
überwindliche Schranke gesetzt!" Wir haben nicht das Geringste dagegen, daß
sich auch die Damen mit Wissenschaft und Philosophie beschäftigen; aber wenn
sie das thun wollen, so bleibt ihnen nichts Anderes übrig, als es auf die
Weise der Männer zu thun. Die Wissenschaft darf nicht galant sein; es gibt
in ihr ebensowenig einen besondern Weg für die Damen, als für die Könige.
Die Spielereien mit einem Triangel, durch welche der Verfasser seinen Begriff
der Philosophie zu versinnlichen sucht, werden die Damen ebensowenig fördern
als die Herren.
Daß es mit dem Begriff einer Uebersetzung hier nicht immer ganz genau
genommen ist, möge die folgende Probe lehreru Es ist die erste Strophe eines
Gedichts, welches I. W. von Goethe zugeschrieben wird.
RxIiA-UnA vsrnat t'r»ZiÄnlls, grovs,
>Vittün s, wooÄ, A Ku6Al.ug ross,
Lrigd^.As Aurora's Alowiiiz; skj,<-s:
^. Lbilci xeroeivss ddo Kovoret
^n<1 i'iiiuünA, vnd Asti^Kteil s,ir,
ils Siutli, vieil svoents sui'xriss-
,,Lveet ross-dra, rose-buä, ross-unä rsä,
Lrigdt ross-buä ot' tlo vovdl"
Der größte Kenner der Goetheliteratur wird sich wol einen Augenblick be¬
sinnen müssen, ehe er sich daran erinnert, daß diese Strophe im Original fol¬
gendermaßen lautet: ,
Sah' ein Knab' ein Röslein stehn,
Röslein auf der Haiden,
War so jung und mvrgeuschön,
Lief er schnell, es nah zu seh»,
Sah'S mit vielen Freuden.
Röslein, Röslein, Röslein roth,
Röslein auf der Haiden.
Es ist interessant genug, die weitere Entwicklung dieser Exposition zu
verfolgen.
LIiilÄ tzxelaims, in ^o^önö Illvoä!
„I'II xluolc tdss, Noso-dra ok tus -wooäl"
l'Jo VIovsr, inüiiziuulti/, rexlies i
?rssullixtuolls litdls vns, bsv^rsl
Vor an s-vengiiig tdorn I dviu-,
vinäillÄts wirf ii^urios!"
OI>> ross-du6, ross-tua, ross-duÄ rs6,
Lrigut ross-but ot' tds vooÄI —
^'Ks vol^eilf, untliinlcing VKild
Kalk^vrs tds do^uteous Ross-dela plin,
Lud soau Ks ^osls s, poi^aut Suard:
Loo phim ti» kgoiusiiiF ory l
Nov lonA Iio t'vsls tus Ägonx,
Inületsä tdz? tinx äart, ,
OU. ross-but, ross-bunt, ross-buck rsä,
Lwsot Iloss-tut tus vvoü! — —Und der wilde Knabe brach
's Röslein auf der Haiden;
Röslein wehrte sich und stach,
Half ihr doch kein Weh nud Ach,
Mußt' es eben leiden.
Vielleicht steht in einer frühern Ausgabe ihm, daher das lächerliche Mi߬
verständniß. — Wer übrigens ein so reizendes, duftiges frisches Waldliebchen
in einen so prosaischen Schwulst übersetzen kann, der zeigt sich schon durch diese
eine Probe unfähig, Goethes Poesie zu verstehn.
Um gegen die Uebersetzerin nicht ungerecht zu sein/ müssen wir hinzu¬
fügen, daß dieses Gedicht unzweifelhaft das schlechteste in der ganzen Samm¬
lung ist; allein es fehlt viel, daß in den andern, wo wir wenigstens eine
Verwandtschaft mit dem Original wahrnehmen, die Nachbildung in Form und
Inhalt fo genau wäre, wie wir es bei dem jetzigen Stande der Technik be¬
anspruchen können. Am auffallendsten zeigt fiel^ das bei den Gedichten von
Goethe, Schiller und Uhland, in denen Form und Inhalt sich auf eine so
bewunderungswürdige Weise decken. In den meisten dieser Gedichte hat die
Uebersetzerin gar nicht versucht, das Versmaß des Originals wiederzugeben, ja
sie hat häufig ein Versmaß gewählt, welches einen ganz entgegengesetzten
Charakter hat. Noch weniger versucht sie es, den Tonfall, die Stimmung, den
Fluß der Bilder nachzuahmen; wenn sie den Sinn ungefähr wiedergibt, so,
glaubt sie ihrer Aufgabe vollkommen genügt zu haben. Das Unternehmen
wäre immerhin dankenswert!), wenn es noch erst nöthig wäre, die Engländer
mit unsrer Poesie bekannt zu machen; allein das ist bereits durch soviele
getreue und glänzende Nachbildungen geschehen, daß man den Abstich nur um
so greller empfindet. Selbst in den leichtern Uhlandschen Balladen, die wie für-
bas Englische geschrieben erscheinen, und wo sich die Verfasserin auch bemüht,
getreu dem Original zu folgen, gelingt es ihr doch nicht die charakteristischen
Töne deutlich hervorzuheben. So z. B. der Schluß vom Harald:
Hs gi'asxs dir svorä — stiU dro-of soul,
MA troudleä ^ii^--al-sans —
Das klingt ganz anders als das Original: „Da greift er träumend nach
dem Schwert, der alte Held Harald." — Wir haben vor einiger Zeit die
Uebersetzung von Baskerville angeführt; man darf nur die beiden Uebersetzungen
des bekannten Mignonlieds miteinander vergleichen, um den Abstand des
Talents und des Geschmacks zu empfinden.
Besser sind der Uebersetzerin die Gedichte von Anastasius Grün, Salis,
Freiligrath und andern gelungen, bei denen es auf Stimmung und Ton nicht
so genau ankommt. Bei einigen Gedichten haben wir keine Vergleichung an¬
stellen können, weil uns das Original unbekannt ist. — Die Auswahl ist nicht
sehr glücklich; weder von Goethe noch von Schiller sind die charakteristischen
Gedichte ausgesucht. Bei Bürger hat sie den wunderlichen Einfall gehabt,
ein paar der größern Balladen, die der Dichter nach dem Englischen bearbeitet
hat, wieder ins Englische zurückzuübersetzen, wodurch die ZGedichte keineswegs
verbessert werden. Vielleicht war dieser Umstand der, Uebersetzerin unbekannt.
— Bei jedem Dichter gibt sie eine literarhistorische kurze Einleitung. Bei
den bekanntern Dichtern haben wir nichts Bemerkenswertes gesunden; da¬
gegen verdanken wir ihr die Bekanntschaft mit einigen weniger gewürdigten
Größen. So sagt sie z. B. von German Maurer S. 229 : „Wir können mit
Recht sagen, daß in ihm sich alle die Pulsschläge vereinigen, die das gegen¬
wärtige Zeitalter bewegen. Wenn trotzdem seine Werke noch nicht vollkommen
gewürdigt sind, außer bei demjenigen Theil des Publicums, der sich durch seine
höhere literarische Begabung auszeichnet, so liegt der Grund darin, daß Per¬
sonen, die von der Natur mit höhern Geistern ausgestattet sind, nur selten
kundige Richter finden, während Schriftsteller von geringern und oberflächlichen
Talenten überall Anhänger finden, die aus ihrer eignen Höhe stehen." Ob
dieser wunderliche und in der bisherigen Theorie unerhörte Grundsatz auf
Herrn German Maurer seine Anwendung findet, können wir nicht beurtheilen,
da wir seine Werke nicht kennen, und da uns die mitgetheilten Proben auch
keine Vorstellung davon geben. Die größte Begeisterung spricht die Ver¬
fasserin für Hermann Marggraf aus, von dem sie sagt, er habe sich als
lyrischer und dramatischer Dichter, als Novellist und Kritiker gleichmäßig
ausgezeichnet, und bei seinem außerordentlichen Talent und Geschmack seine
Mission vollkommen begriffen. Sie scheint diesen Dichter ziemlich genau studirt
zu haben; sie weiß sogar, was er als Student sür Empfindungen bei den
, Vorlesungen von Steffens gehabt hat/ „Er war mit Fähigkeiten von einer zu
erhabenen Natur begabt, um von einer Philosophie angezogen zu werden,
welche u, s. w." —
Unter den neuen literarhistorischen Erscheinungen des Auslandes führen
wir an: Ilistolis alö8 I>ivres ?opulairss, orr <Z<z 1a LMveaturö du Oolporta^e,
cZsMis 1s XVe Lie-Lif jusqu/a 1'KtabIiss<zu<zue 1a Oommlssion ä'IZxamon
clös l.ivres ein LolporlaAc:. macle-s Msarä. 2 Vol. ?aris. —
Das Wetter ist rauh und trübe, alles so winterlich und doch noch kein
Schnee auf den Dächern und keine rechte Ofenwärme in den Stuben; im Ge¬
müth entblätterte Herbstfreuden und im Unterleib flüsternde Choleragedanken;
der Kopf von russischen Sicgesdepeschen durchschwirrt, Sebastopol müde, Krim
beladen, Valuta zitternd, groß-klein-mittelstaatliche Einigung suchend, West-
mächtlich bedrängt, russischen Garden bedroht, Preußisch neutralisirt, Spanisch
getanzt, Chinesisch jongleurt, Vater Ebersberg, unser Großrusse, todt und
Maler Nanftel an einer Wurst gestorben! — Hier haben sie unsre ganze Tages-
misere. Wie vieles und gewiß sehr gescheidtes hätte man mitzutheilen, wie
gern möchte man ein Stündchen gemüthlich verplaudern -— wenn nur die rechte
Stimmung dazu wäre! Aber ein solcher Winter, der ohne Rücksicht von An¬
stand den Herbst zur Treppe herabwirft und unangemeldet in jedermanns
Stube hereinstürzt, und am Arme noch eine so widerliche Maitresse, wie Frau
Cholera u'mherführt, ein solch ungeschlachter Winter, der sich weder durch Marie
,Taglionis süßes Mienenspiel noch durch der Sennoras Pepas und DoloreS
warme Gelenksprache erweichen läßt, ein Winter voll kosackischer Tücke und
orientalischer Verwesung, ein Protector der Leichenbitter und Todtengräber, ein
erklärter Feind aller weltlichen Lust, ein Kriegsschürer und diplomatischer
Knotenschürzer; ein solch erbärmlicher Winter ist noch nicht dagewesen. Gehen
Sie durch unsre Staßen — wenn es der scharfe Wind oder der Regenschauer
erlaubt — und Sie werden die Menschen theilnamlos, ja mit gewisser Scheu
aneinander vorüberrenncn sehen; keiner bleibt stehen und bewundert des andern
Rock oder des andern Bartschnitt, wie sonst in guten Zeiten; keiner wiegt sich
stolz und selbstbewußt in den langen Schößen eines neuen Paletot, niemand
verweilt mit dem frühern Behagen vor den großen Schaufenstern unsrer
Modisten, wo neben bunten Caschemirs die modernsten Trauerstoffe hangen und
die wächsernen Puppen, trotz allen Flitters und Putzes, mit dem sie angethan
sind, eine so unheimliche Erinnerung wecken. Gehen sie ins Caso, so steckt
ihnen der Marqueur -1000 getödtete Russen mit dem Abendblatt in die Hand;
ein Freund der Alliirten wirft ihnen einige zerstörte Forts nebst 300 Bomben,
Haubizen und anderem Schlußbedarf ins Gesicht; aus einer andern Ecke seufzt
ein Speculant: die Pariser Rente höher gekommen? und wieder aus einer
andern wird Preußen als Großmacht feierlichst herausgeworfen. Das ist nun
freilich öffentliche Meinung und kann für die Physiognomie der höhern Ge¬
sellschaft, der eingeweihten Kreise nicht maßgebend sein. «Indeß auch in den
kleinern Privatcirkeln ist jetzt keine Ruhe und kein Seelencomsort zu finden.
Die Dame vom Hause empfängt Sie zuweilen mit einem schmerzlichen Lächeln,
das auf innere Gemüthszustände weist, die nur durch eine Tasse Kamillenthee
oder durch einen der neu erfundenen „eeinwres as santo" beschwichtigt werden
können; Papa kauert tiefsinnig in der Sophaecke und lauscht gewissen Tönen,
die nicht vom Pianoforte, nicht aus dem Salon, nicht aus einem Nebenzimmer,
auch nicht von einer andern Person herrühren, sondern melodramatisch aus
des Körpers eignem Innern hörbar werden, ein geisterhaftes Kollern und
Räuspern. Und dort sitzt- ein junger Mann, bleich und angegriffen, die Blicke
stets der Thür zugewandt, als wollte er jeden Augenblick den schleunigsten
Rückzug gesichert haben, seine Hand ruht in der Hand seiner Braut, aber
sein Geist ist anderwärts. Und auch die sämmtlichen PepiS und Reddis und
Kalis und Tonis, welche die Anlichambres bevölkern, nicht minder die Heiminen,
Aurelien, Sigismunde, Cäsaren und Thusnelden, welche den auf-und ab¬
laufenden Stammbaum der Familie bilden. Alle befinden sich in so zerrütteter
Stimmung, daß ein Hausfreund allen moralischen Muth zusammenfassen muß,
um dem allgemeinen Paria unversehrt entgehen zu können.
Kein Wunder, daß bei solchen Zuständen der Gesellschaft alle höheren In¬
teressen schweigen, daß der Doctor allein den Salon und die Boudoirs beherrscht,
daß.!Heines Selbstbiographie von Dowerschen Pulverchen überstreut auf dem
Tische liegt und George Sands Memoiren hin und wieder von einem sanften
Lindenblütenthee Übergossen werden. Höchstens sucht man sich durch donnernde
Kriegsnachrichten zu übertäuben, man möchte dem heimtückischen Tode otra
murvs entrinnen und sich lieber dem Menschikoff mit seinen. Langröcken und
Langbärten entgegenstürzen, wenigstens auf den Parallelen der Zeitungs¬
spalten. Wetten auf die Einnahme von Sebastopol werden zu hohen Einsalzen
gemacht, auf der Börse und in der Coulisse suchte man die Flausen des Ge¬
schäftes durch Spekulationen auf den Ultimo oder längsten Frist, die man den
Belagerern stellte, zu beleben — Vergebens! Der Ultimo kam und der Tartar
kam nicht, Sebastobol blieb ä w dcmsss und die Wetter ir in, balgss fielen
wie die Fliegen im November, wenn der erste kalte Reis eintritt. Also auch
hier kein Amüsement, kein bischen Aufregung ohne Verlust, keine rechte
Stimmung für Austern und Champagner!
Was bleibt uns noch übrig als das Theater? Der „Fechter von Ravenna."
— „Ein Einheimischer" ist der Dichter des „Fechters", das steht nun einmal fest.
AustriciSmen in der Diction. und in der Orthographie lassen keinen Zweifel
darüber. Ebendeshalb ist unsre ganze literarische Welt so ausnehmend pikirt
über die Anonymität des Dichters. Man greift jeden Namen auf, der nur
irgendeinmal auf einem östreichischen Theaterzettel gestanden, oder dessen Träger
einst einige dramatische Verse gelallt hat. Und da noch immer kein „hier!"
beim Ablesen des langen Registers erschallt, sucht man in den Höhen der
glänzenden Hofcirkel und in den Tiefen der schmuzigsten Kneipen, um den
großen Unbekannten, den neuen Hort des deutschen Dramas, zu entdecken. Sie
sehen aus dieser einen Geschichte, wie kritisch unsre Kritiker einem literarischen
Producte gegenüber zu Werke gehen. Ich fürchte nur, das Ausland-, ich
meine das deutsche Ausland, wird sich durch den gewaltigen Lärm unsrer
Einheimischen in seinen Erwartungen überspannt sehen und dann dem „Fechter"
einen minder günstigen Empfang zu Theil werden lassen, als er vielleicht ver¬
diente. Das Stück ist allerdings eines der bessern Producte unsrer neuern
dramatischen Literatur. Es ist klar und einfach in den Motiven der Handlung,
mit vielem scenischen Takt ausgearbeitet, in der Sprache edel und pointirt.
Die Charaktere scheinen richtig; ob sie es sind, weiß man nicht, denn es
kommt keiner zu einer wirklichen menschlichen Entwicklung. Sie ragen episodisch
ineinander hinein, stehen sich äußerlich gegenüber. Die Idee des Deutsch-
thums kämpft gegen die Fleischmasse eines naivbrutalen Knechtes und der
entnervte Cäsar hat sein launisches Spiel mit beiden. Von' einem eigentlichen
Kampf, von einer wirklichen Action dieser drei sich fremdartigen Mächte ist in
dem Stücke nichts zu sehen, oder zu fühlen, höchstens zu hören. Die dressirte
Metzgernatur des Fechters will nichts vom einigen Deutschland wissen, und
dieses klagt, daß es von dieser rohen Masse nicht verstanden wird. Caligula,
der blinde Zufall eines Sinnenkitzels, treibt endlich alles auf die tragische
Spitze; statt einer Komödie, in der Germania und ihr Sohn in der Original¬
maske erscheinen sollen, erlebt zuletzt der wüthende Cäsar den schmerzlichen
Spaß, daß die Germania erst ihren Sohn und dann sich selbst ersticht, um
nicht — in der Nationalkleidung im Circus erscheinen zu müssen. — Von
einem warmen Interesse an der Handlung und von den ernsthaften An-
fordcrungen einer Tragödie muß man also bei diesem „Fechter von Ravenna"
absehen. Die Piöce nimmt jeden Augenblick einen Anflug ins Erhabene,
aber es kommt nicht dazu, weil der Dichter sich darin getäuscht hat, daß die
erhabenen Ideen, die er in die Dichtung und in den Mund seiner Heldin
hineinzulegen suchte, alle zusammen genommen keine einheitliche tragische
Idee erzeugen. Interessant ist wol die beste Bezeichnung für den Werth dieses
Dramas und hiermit sei es allen Bühnen und Zuschauern in Deutschland
aufs freundlichste empfohlen. —
Als ich die Vorstellung des „Fechters" im Burgtheater besuchte (es war
die dritte oder vierte Reprise des Stücks) fand ich das erste Parterre (das
dem Parket andrer Hofbühnen entspricht) von der Elite der gebildeten Welt
besetzt. Neben bekannten literarischen Köpfen ragten besonders die seinen
Coiffüren unsrer Häute finance hervor. Das Esbouquet echtester Sorte
konnte nicht ganz den orientalischen Duft verdrängen, der über diesen Theil
der Gesellschaft sich verbreitete. ES ist bekannt, daß die Damen, welche
Abraham und Jsaak und Jacob zu ihren Stammvätern zählen, die geistvoll¬
sten Augen und die feinsten kritischen Näschen' besitzen. Wo irgend ein Er-
eigniß von besonderem literarischen Interesse in einer deutschen Großstadt ein¬
tritt, kann man gewiß sein, daß es vorerst von diesen durchdringenden Augen
und Näschen aufgestöbert wird. In den Salons unsrer jüdischen Damen
werden alle bedeutenden Erscheinungen des Büchermarktes discutirt, dort
bildet sich das Urtheil unsrer jugendlichen Kritiker, kleine Notabilitäten errin¬
gen die Unsterblichkeit von wenigen Tagen, die niedlichen Skandale, welche
hinter den Coulissen der Bühne und der Tagespresse passiren, werden hier
ausgeplaudert und gelangen dann geläutert, verzuckert und verbittert, je nach
den persönlichen Beziehungen, ins große Publicum. Die bürgerliche Mittel¬
classe hat bekanntlich in dem Capua der Geister einen Grundton der Konver¬
sation, der wenig Bildung verras und es sind wirklich nur einige gewählte
Kreise der höhern Beamtenwelt und die feinern Damencirkel der eigentlichen
Aristokratie, in welchen die geistigen Interessen der Zeit einen Nachhall und
einen gesellschaftlichen Ausdruck finden. Ueberall aber sprüht aus den lebhaf¬
ten Köpfchen der weiblichen Financiers die witzige Pointe des Gesprächs, sie
bilden das geistige Ferment in der großen Masse unsrer sinnlich'trägen Ge¬
sellschaft.
Es ist gut, daß Freund Ebersberg, der Wiener Russophile und Erbfeind
des Judenthums, nicht mehr unter den Lebenden ist. Wären ihm die vor¬
stehenden Zeilen noch zu Gesicht gekommen, er hätte den armen Grenzboten
eine ganze Nummer seines „Zuschauers" gewidmet. Der edle, unverzagte und
einzige offene Alliirte des Zaren in Oestreich ist todt, seit wenigen Tagen. Ob
man die Abonnentenliste des „Zusch«nerf" mit ins Grab gelegt hat? Wir
wollen nicht hoffen; denn auf ihr standen die Namen aller jener verzeichnet,
welche mit dem russisch-östreichischen Patrioten in „guter Gesinnung" sym-
pathisirten. Freilich waren auch manche räudige Schafe in der Herde, die
nur, entweder um den öffentlichen Denunciationen des biedern Verewigten
zu entgehen, oder um sich eine heitre Lectüre zu bereiten, ihren Namen dem „Zu¬
schauer" preisgegeben hatten.
Ein sonderbarer Zufall wollte es, daß hinter dem Sarge des ehrbaren
Jugendschriftstellers, des würdigen Moralisten und hyperconservativen Publi¬
zisten, den wir eben genannt hatten, ein Mann von leichtem Blute und hei¬
terem Lebenswandel einherging, der auch wenige Tage darauf dem Tode in
die kalten Arme fiel. Auch er war ein Mann der Feder, aber harmlos in
seinen lyrischen Ergüssen wie in seinen gründlichen Bierstndien. Er nannte
sich E. Samier und war ein wildes Kneipgenie von sanftem poetischen Ge¬
müth. Die Tradition der verliedcrlichten Poeten, wie sie in Heines Zeiten
im Schwunge waren, hatte sich in ihm auf localen Wiener Boden fortge¬
pflanzt. In einem vormärzlichen Cultus begriffen, widmen ihm nun einige
hiesige Schriftsteller rührende Nekrologe, suchen in der selbstgefälligen Schwäche
eines liebenswürdigen Saufbruders den Wiederschein eines tiefen sittlichen Ge¬
müthes und wollen wieder eine literarische Berühmtheit aus einem todten
Mann machen, der sich selbst mit bescheidener Offenheit bei Lebzeiten folgender¬
maßen charakterisirt hat:
Immer fröhlich ist der Sander,
Sein Gemüth ist rein und lauter,
Tausend lustge Schlösser baut er,
Und auf Gott und Welt vertraut er,
Alle Madchen keck an schaut er,
sehnsuchtsvoll wünscht eine Braut er,
Wie ein Kater drum inland er;
Gern verzehrt Wurst mit Kraut er,
Wie ein Russe drein einHaut er.
Wie ein Vogel Strauß verdaut er,
Wie ein Ochse widcrkaut er,
In der Dummheit so ergraut er
Endlich stirbt das Vieh, der Sander.
Die orientalische Frage ist so alt, daß man füglich annehmen darf, eS
habe sich jeder der dabei betheiligten Staaten nach und nach ein festes System
für seine auf sie Bezug nehmende Politik aufgebaut. Von Oestreich nicht
minder wie von den beiden Seemächten setzen wir voraus, daß es längst
darüber einig sei, was es hier will, was seinem Vortheil entsprechen wurde,
und was nicht.
Es ist schwer zu leugnen, daß die dereinstige Lösung der großen Frage
des Ostens ein doppeltes östreichisches Interesse berühren wird: ein commer-
cielles Und ein territoriales. Oestreich — und das unterscheidet diesen Staat
von allen andern, die, auf nationaler Basis aufgebaut, keinen Beruf haben
über dieselbe hinauszugreifen, weil sie ihre innere Einheit dadurch brechen
würden — ist ein Reich von großer Expansionsfähigkeit. Aus heterogenen
Bestandtheilen zusammengesetzt, wird es durch kein StaalSprincip verhindert,
andere, neue, ebenso heterogene Ländermassen in sich aufzunehmen. Wo dem¬
nach an Oestreichs Grenzen ein Gebiet streitig wird, empsinvel die Politik
dieser Monarchie ein Verlangen, sich einzumischen und den Versuch zu ma¬
chen, seinen Antheil davon sich zuzueignen. Das ist, wie gesagt, eine innere
Nothwendigkeit dieses Staats, die aus seinem Princip, aus dem Grundgesetz
ihrer Formation resultirt und darin nicht ihre rechtliche, wol aber ihre
politische Rechtfertigung findet. Was die türkischen Länder angeht, so liegen
sie zum Theil an Oestreichs Grenzen, und bei der Politik, welche das Kaiser¬
reich befolgt, ist es klar, daß eine Erweiterung seines Gebiets nach dieser Seite
hin nur eine Handlung der Konsequenz sein würde, welche außerdem umsomehr
von ihrem wagnißvollen Charakter, welchen Eroberungen immer haben, an sich
trägt, als die Schwächung Rußlands den einzigen Gegner hinter die Scene
werfen wird, welcher im Stande gewesen wäre, Oestreich eine etwaige Gebiets¬
erweiterung an der untersten Donau streitig zu machen.
Außer dem territorialen hat Oestreich bei der orientalischen Frage noch
ein stark ausgesprochenes Handelsinteresse. Obwol seither seinem Grundcharakter
nach ein Binnennaal, wiesen dennoch von jeher zwei Deboücheen seine cvm-
mercjelle Thätigkeit auf das Meer und, darüber hinaus, auf die orientalischen,
im besonderen türkischen Lande hin, der Lauf der Donau Und die Häfen am
Adriameere, vor allem Trieft. Allein von diesen Deboücheen war bis jetzt nur
das eine und zwar das unvortheilhaft gelegene, der rückwärtigen Verbindung
mit dem Staarskörper wenig theilhaftige und der fremden Coiicurrenz am
meisten dloßgegebene, nämlich Trieft, ein beständig offenes; die Donaumündung
dagegen würde durch russische Mißgunst zu einem äußerst schwierigen Passage¬
punkt gemacht, auf dem die Schiffahrt nicht selten absolute Hindernisse fand.
Dieses letztere Debouchee ist aber, wie gesagt, das richtigere; denn nicht nur
ist es dasjenige, durch welches seewärts die Verkehrslinien Jnnerasiens, die in
Trapezunt und an der abbasstschen Küste auslaufen, am ehesten erreicht werden
können: auch Kleinasien liegt auf diesem Wege Mitteleuropa am nächsten und
Stambul, ja selbst Smyrna sind davon nicht ausgeschlossen. Mir will scheinen,
als . habe Nußland große Vortheile an kleine daran gesetzt, als es Oestreich
seinen danubisch-orientalischen Handel verleidete. Es mußte im voraus ahnen,
daß der deutsche Kaiserstaat sich diese commercielle Hauptader nicht werde
unterbinden lassen, ohne die Gelegenheit wahrzunehmen, um sie wieder frei zu
machen, und daß dieses unfreundschaftliche Benehmen eine aufrichtige östreichisch¬
russische Allianz für immer unmöglich machte. Wir kennen die Denkschriften,
in denen der Zar dem Wiener Cabinet den Bissen Bosnien-Albanien als
Aequivalent für die Donaufürstenthümer und Bulgarien mundrecht zu machen
suchte. (Allgemeine Zeitung, Februar 1833.) Nie sind Staatsschriften von
ungeschickterer Hand geschrieben worden, und nie zugleich hatte Nußland die
Stimmung und Ansichten seines Alliirten und gehofften Contrahenten so falsch
und durchaus irrig beurtheilt, wie bei Gelegenheit dieser denkwürdigen Unter¬
handlung. Oestreich benahm sich, wie es scheint, sehr fein; nicht abweisend,
aber ausweichend, ließ den Zaren eine Zeitlang vollkommen im Dunkeln und
verwickelte ihn damit höchst' wahrscheinlich nur um so tiefer in die -von seiner
eignen Hand ausgeworfenen Netze. Denn in dem, was man jedenfalls
hyperbolisch die Diplomatie des Kaisers Nikolaus seit dem Jahre -1849 nennt,
hat man offenbar nicht sowol ein berechnetes, auf soliden Grundlagen auf¬
gerichtetes und in sich consequentes System, als vielmehr ein bloßes Aggregat
von Auskunstsmitteln des Augenblicks zu erkennen, die letztlich von immer
zweifelhafterer Zweckmäßigkeit wurden, jemehr die Lage des Se. Petersburger
Cabinets sich infolge der begangenen Fehler verschlimmerte und ausweg¬
loser wurde.
Abgesehen von jenen beiden großen Deboucheen seines maritimen Han¬
dels, beherrscht Oestreich, und zumal wenn Rußland auf die Dauer zurück¬
gedrängt werden sollte, eine Position, welcher sonst kein andrer Staat etwas
Vergleichbares entgegenzusetzen hat. Der Habsburgische Kaiserstaat ist nämlich
das einzige eristirende Bindeglied zwichen dem mittleren und westlichen, Eu¬
ropa einerseits und den osmanischen Landen auf der anderen Seite, und eben
dieses Verhältniß mußte das Protectorat über die Donaufürstenthümer für
Rußland , auch wenn es dieselben nicht als Basis weiter südwärts vorschrei¬
tender Eroberungen angesehen hätte, von höchstem Werthe erscheinen lassen.
Sie waren seither der Keil, den der Zar, geschickt genug, zwischen einem
Theil dxr östreichischen und türkischen Monarchie mitteneingeschoben hatte, und
der weit genug reichte, um für die beiderseitige Verbindung nur die verhält¬
nißmäßig unwegsamen Provinzen Serbien, Kroatien, Bosnien, Albanien und
Dalmatien in gegenseitigem Contact zu belassen. Zum Ueberfluß errichtete
Rußland aus dem moldau-walachischen Ufer noch eine Quarantänelinie, welche
den Abschluß nach dieser Seite hin hermetisch herstellte.
Es setzte wenig Scharfblick von der anderen Seite voraus, um zuerken¬
nen, daß Oestreich früher oder später, ein Mal aber sicherlich und am wahr¬
scheinlichsten bei der nächsten sich bietenden günstigen Gelegenheit, diese Bar¬
riere brechen werde. Aber, seltsam zu sagen, das Cabinet des Zaren scheint
in Betreff dieses wichtigen Punktes nicht nur alles Scharfblicks, sondern selbst
des gesunden Menschenverstandes ermangelt zu haben. Wäre dies nicht der
Fall gewesen, so würde es, als das Gewitter sich thürmte, nichts Eiligeres zu
thun gehabt haben, als an Oestreich Concessionen im weiten Umfange zu ma¬
chen, um sich, wenn auch nicht den Beistand, denn der konnte ihm nicht wer¬
den, so doch mindestens die Neutralität dieser Großmacht in dem bevorstehenden
Kampfe zu sichern. Aber Nußland widerstrebte in den letzten Jahren allen
Mahnungen der Vernunft und wir wünschen uns Glück dazu!
Die Erfolge Oestreichs während seiner letztjährigen Unterhandlungen mit
den Westmächten, mit Rußland und der Türkei sind darum so staunenswerth,
weil ihnen kein Schwertschlag vorangegangen ist. Jedenfalls sind die Vor¬
theile, welche sie bedingen, die Kosten der Mobilmachung einer großen Armee
von mehr als 300,000 Mann werth. Mit seinem rechten Flügel an Galacz
und Braila lehnend, hat der Kaiser Franz Joseph seiner türkischen Grenze die
dreifache Ausdehnung verliehen; noch ist, das muß allerdings eingeräumt
werden, Oestreichs Verhältniß zu den beiden Fürstentümern nicht geregelt,
aber alles spricht dafür, daß es ein directes werden und der Kaiserstaat,
wenn auch nur unter dem Namen eines Protectors, das behalten wird, was
er heute als Pfand übernommen.
Mir scheinen hieraus zwei Umstände, zwei Nothwendigkeiten besser gesagt,
zu erhellen. Der eine ist der Bruch Oestreichs mit Rußland und zwar für
immer; der andere der erhöhte Werth, den ein gutes Einverständniß zwischen
Wien und Konstantinopel von nun ab erhält.
Ersterer Punkt spielt auf das Feld der europäischen Politik im engeren
Sinne, letzterer mehr aus das der asiatischen, wenn dieser Ausdruck gestattet
ist, hinüber, und die Veränderungen, welche hier wie dort durch sie hervor¬
gerufen werden, sind von gleich schwerer Bedeutung. Wien und Petersburg
verfeinden heißt nämlich zugleich jenen unheilvollen Dreibund sprengen, den
einst Friedrich Wilhelm III. in seinem Testament den Schlußstein der großen
europäischen. Allianz nannte. Für alle Zeiten sind wir hoffentlich damit von
jenen Tagen geschieden, in welchen an der Newa über Deutschlands Geschicke
mitberathen wurde und sie werden nie wiederkehren.
Der andere Punkt, die Nothwendigkeit eines guten Einvernehmens mit
dem osmanischen Reich, wenn anders die neugewonnene Grenzausdehnung
ihren vollen Werth nicht einbüßen soll, wirft Oestreich auf die vorher noch
unbeschrittene Bahn einer außereuropäischen Staatskunst und Machtentwicklung.
Der Augenblick scheint nahe, wo der deutsche Kaiserstaat als Seemacht auf dem
Pontus auftreten, und gleichwie heute zu Lande, so dann auch zur See, den
Flankenschutz der türkischen Lande gegen Rußland allein auf sich nehmen wird.
Ich hatte zu früh über den mit so heiteren, sonnigen Tagen beginnenden
Spätherbst triumphirt; seit gestern Abend ist ein plötzlicher Wechsel in der
Witterung eingetreten; aus dem Bospor stiegen dichte, feuchte Nebel auf und
hüllten nicht nur das enge Thal der Meerenge, was nicht selten zu geschehen
pflegt, sondern auch die höher gelegenen Flächen und Hügelketten in ihre
Schleier ein. Endlich, beim Beginn der Nacht, brach ein heftiger Sturm aus;
der Wind stand aus Südost, und in meiner mehre tausend Schritt vom
Strande gelegenen Landwohnung hörte ich deutlich die Brandung brausen.
Jetzt ist die Sonne wieder aufgegangen, aber hinter einem schwarzen Wolken¬
vorhang, der nicht einem einzigen der glänzenden Strahlen den freien Durch¬
bruch gestattet. Die Phrase von dem ewig lächelnden Himmel über Stambul
wird heute zur Ironie; und kaum würde in solcher Stunde Zar Nikolaus,
wenn der Marsch seiner Heere bis hierher gelangt wäre, wie er kühn geträumt,
sich behaglicher fühlen als im nordischen Se. Petersburg, zumal wenn er, wie
hier mit wenigen Ausnahmen die gesammte Bevölkerung es ist, auf den Auf¬
enthalt zwischen hölzernen Wänden angewiesen wäre und den großen Stein¬
palast in der grande Rue de Pein (Russisches Gesandtschastspalais) nicht zur
Verfügung hätte.
Außer dem Mangel an Sonnenschein leiden wir am heutigen Sonntage
den noch viel empfindlicheren an frischen Neuigkeiten, ttavaclis M (es giebt
nichts Neues) sagte schon gestern die Mehrzahl der alten graubärtigen Türken
vor den Kaffeehäusern, und ließ bedenklich den Kopf hängen; aber selbst
die im großen historischen Drama mitspielende hohe Diplomatie von Pera war
gestern nicht besser daran, als jenes Puvlicum aus dem tiefsten weit hinterwärts
situirter Parterre, und ich zweifle, daß inzwischen ein Krimdampser angekom-
men ist; geschah es wider Erwarten am Morgen, so werde ich Ihnen die ein¬
gelaufenen Kunden noch in Form einer Nachschrift am Schluß meines Briefes
mittheilen.
Sobald die positiven Nachrichten fehlen, haben die falschen und übelwol¬
lenden Gerüchte freien Spielraum, und zwar hat dieser Erfahrungssatz aus
die hiesige Capitale mehr Anwendung, als auf irgendeine andere. Um das
zu verstehen, wollen Sie sich neben der hier wohnenden türkischen Bevölkerung
die ebenso starke, nach Hunderttausenden zählende griechische mit ihrer blinden
Wuth gegen die Westmächte und das Osmanenthum, und ihrem Feuereifer
für die Interessen des Zars vergegenwärtigen. Jeden Schlag, der gegen
Rußland fällt, fühlen sie tausendfach mit; aber dafür fliegt auch keine Kugel
aus einem russischen Feuerrohr, in der sie nicht- einen Sendling ihres eignen
Haß- und Rachegcfühlö erkennen. Kein Wunder, wenn ein momentanes Un¬
behagen aus unsrer Seite infolge ausbleibender cracker Nachrichten ihrer¬
seits hundert Hoffnungen Raum gibt, und die immer redefcrtigen Zungen in
solchen Pausen'nicht müde werden, die, unheimlichsten Vorkommnisse zu ver¬
künden oder als nahe bevorstehend anzuzeigen. Dürfte die Stimmung der
griechischen Bevölkerung Stambuls sich ungehindert in einem Preßorgane Lust
machen, so würde man darin aller Wahrscheinlichkeit nach das schroffste Ge¬
genstück zu dem halbofficiellen Journal de Constantinople erhalten, das immer
nur gedacht werden könnte, und es müßte ein nicht reizloser Zeitvertreib sein,
zu gewissen Zeiten beide Blätter in Bezug auf die gemeldeten Thatsachen und
sich daran knüpfenden Betrachtungen zu vergleichen.
Die Stimmung der Rajahs im türkischen Reiche wird selten richtig dar¬
gestellt oder in folgerechter Weise auf die ihr näherliegenden Motive zurückge¬
führt. Die einen unter denen, welche sich über diese wichtige Frage äußerten,
unterscheiden zu wenig zwischen Griechen, Armeniern und Slawen und zwi¬
schen den verschiedenen Principien, welche diesen Nationalitäten als Kern ein¬
geboren sind; die anderen verkennen ganz, daß sie bei aller Verschiedenheit
dennoch manchen gemeinsamen Zug bewahre», manche Eigenschaft, die allen
gleichmäßig zukommt und die unter dem Zwang und Druck der gleichartigen
Verhältnisse entstanden sein mag, in welchen sie seit Jahrhunderten sich befinden.
Die Abneigung gegen die Türken, ihre vormaligen Unterjocher und der¬
zeitigen Herrn — denn die Aenderung dieses Verhältnisses ist erst im Werden
begriffen — ist allen gemeinsam, nur daß sie bei dem Griechen eine andere'
Form annimmt, wie bei dem. Armenier und Slawen. Alle sind außerdem
durch den lcmgdau-enden Druck demoralisier, zu unterwürfigen Sklaven gemacht,
deren Zorn sich im Inneren verbergen muss und die sich in die Umstände schi¬
cken, weil sie dazu gezwungen sind; wenn ihnen nach und nach mehr Freiheits¬
zugeständnisse zu Theil wurden, und im besonderen die Lage der Griechen im
osmanischen Reich mit der vor dreißig Jahren kaum mehr verglichen werden
kann, so steigerte sich damit auch zugleich das Bewußtsein ihrer Menschen¬
rechte und infolge dessen -das Majz ihrer Ansprüche und Erwartungen.
Diese Steigerung hat beim slawischen Bulgaren so gut stattgefunden wie beim
rumelischen Griechen und beim Armenier. Daher die verhältnißmäßig ge¬
ringe Anerkennung, ,welche die segensvollen Reformen der Regierungszeit
Abdul Medschids, grade bei denen gefunden, deren Interessen am meisten da¬
durch gefördert wurden. ES wäre ebenso falsch zu sagen, daß seither das Tan-
simat ein leeres Wort geblieben sei, als wenn man behaupten wollte, es sei
bis ins kleinste Detail zur Ausführung gekommen. Aber jene erstere Abur-
theilung ist gleichwol die allgemein verbreitete, und alle drei Nationalitäten
gehen dabei in der Anerkennungslosigkeit und Ungerechtigkeit gleich weit. Man
glaube auch nicht, daß ihren Anforderungen innerhalb deö osmanischen Rei¬
ches jemals Genüge geleistet werden Sonne, mindestens wird dies mit Be¬
ziehung auf die Griechen und Slawen nicht geschehen. Die ersteren werden
unzufrieden bleiben, auch wenn man ihnen eine volle Gleichberechtigung neben
den Muselmännern einräumt, denn ihr Bestreben ist nicht auf diese gerichtet,
sondern auf Herrschaft. Sie sind ein Element, welches das Osmanenthum -
nie im Stande sein wird, politisch mit sich zu verschmelzen, und so stark er¬
scheint mir der Gegensatz zwischen diesen von allem Anfang an einander feind¬
lich gegenüberstehenden Racen, daß selbst der Untergang des Islam, den mög¬
licherweise das nächste Jahrhundert bringen wird, unzureichend sein dürfte,
um zu einer osmanisch-griechischen Volkslegirung zu führen.
Der Gegensatz zwischen Türken und Bulgaren ist andrer Art, aber im Grunde
genommen trennt sie eine gleich weite und tiefe Kluft. Jener erkennt in dem
Volke, nordwärts zwischen Donau und Balkan, im Grunde genommen nur die
Stammesgenossen seines Nationalfeindes, des Russen, und dieser wiederum ist,
wenn auch nur dunkel und ohne weitere Nachgedanken, sich des Beistandes be¬
wußt, den der Beherrscher des großen Zarenreiches, der mächtige Zar ihm der¬
einst angedeihen lassen wird, „wenn er es für gut erachten sollte, seine Hand
ernstlich gen Stambul auszustrecken." Politische Agenten einerseits, Priester
andrerseits, sorgen für die Erhaltung und Fortpflanzung derartiger Gesinnun¬
gen. Wenn es die Entscheidung der Frage gälte, aus welcher Nationalität
Rußland die nutzbringendsten und rückhaltlosesten Werkzeuge sich wählen konnte,
welche überhaupt am bereitwilligsten ist, sich seinem Interesse hinzugeben, würde
ich mich ohne weiteres für die Bulgaren entscheiden — dieser Stamm denkt
nicht sowol wie die Griechen und ungleich weniger als die Serben an eine der-
einstige Nationalunabhängigkeit, sondern träumt sich vielmehr als dereinst in
die Gesammtheit des großen nordischen Slawenreiches einbegriffen, als ein
Bruchstück der russischen Nationalität. Obwol bescheidener in seinen Wünschen,
ist, wie diese nun einmal zu den Verhältnissen liegen, der Bulgar deßungeachtet,
wenn er sich auf Verschwörung einläßt, ein weit gefährlicherer'Demagoge wie
der Grieche, und das weiß man hier in Konstantinopel wohl zu würdigen.
Sollte die Pforte jemals darein willigen müssen, daß Oestreich festen Fuß
an den Donaumündungen faßt, und wenn auch noch nicht gewiß, ist solcher
Fall heute ziemlich wahrscheinlich, so wird sie, abgesehen von der Rückwerfung
Rußlands, die ein derartiges Arrangement mit sich bringen würde, auch den
andren Vortheil daraus ziehen, daß sie im Norden des Balkans dispositions¬
fähiger würde. Der Bulgar fände bei seinen Hoffnungen nicht mehr den
Rückhalt von ehedem; ohne Ehrgeiz wie er ist, würde er ein williger Unterthan
der Pforte sein, was er jetzt nur aus Furcht vor der Gewalt ist, und als nicht
unwahrscheinlich erscheint eS, daß deutsche Colonisation alsdann in sein Land
Eingang finden würde, ungeachtet aller seither mißlungenen Versuche.
Das Verhältniß der einheimischen Rajahö zu der von außen her ins os-
manische Reich eingewanderten Frankenbevölkerung ist nicht so unwichtig, als
es manchem scheinen mag. Man denkt sich im Auslande beide Classen mit¬
einander befreundet, indeß beruht diese Ansicht von Grund aus auf Irrthümern.
Die Najahs sind griechischer Religion mit wenigen Ausnahmen oder gehören der
armenischen Kirche an; die Franken dagegen sind entweder römische Katholiken
oder Protestanten. Schon dieser religiöse Unterschied bezeichnet eine Kluft; aber
diejenige, welche durch die Rivalität der materiellen Interessen entsteht, trennt
noch weit entschiedener. Die hier ansässig gewordenen Franken sind, der über¬
wiegenden Mehrzahl nach, Negocianten; keiner versteht sich aber auf den hie¬
sigen Handel, wie überhaupt auf commerciellen Verkehr und Gewinn, besser wie
der Armenier und Grieche. Kein Wunder, wenn der eine den andern als einen
Nebenbuhler ansieht, und die auf ein und dasselbe Ziel hingewendeten Bestre¬
bungen häufig zum Conflict führen. Hätten Armenier und Griechen Gesetze
für das osmanische Reich zu ertheilen, so würden sie als ersten Artikel derselben
das Verbot der freien Einwanderung hinstellen, wie sie jetzt unter der Protek¬
tion der verschiedenen Gesandtschaften und Konsulate stattfindet, und mehr und
mehr an Umfang gewinnen wird, je nachdem die vom Reformwerk gebote¬
nen Garantien geordneter Zustände sicherer werden. Darum ist es durchaus
kein Paradoxon, wenn man behauptet, die Armenier und Griechen seien den
meisten der türkischen Reformen feindlich. Sie sind es in der That, und zwar
aus dem doppelten Grunde, weil sie darin ein Erstarken der türkischen Macht
und die Vermehrung zu einer noch ausgedehnteren fränkischen Einwanderung
erkennen. In einem der nächsten Briefe ein Weiteres über diese Verhältnisse,
welche von größerer Bedeutung sind, als man gemeiniglich ahnet.
Nachschrift.
Wie ich nachträglich erst in Erfahrung brachte, sind gestern^ dennoch Nach¬
richten und zwar, wie es scheint, höchst bedeutungsvolle, wenn auch nicht eben
erfreuliche, aus der Krim hier eingetroffen. Seitdem ist der Depeschendienst
äußerst lebhast gewesen. Gestern Abend, ungeachtet des orkanartiger Sturmes,
wurde noch ein Dampfer für Marseille abgefertigt, und heute um Mittag ging
eine Dampfcorvette nach dem schwarzen Meere ab, wahrscheinlich mit der Be¬
stimmung, eine Rückantwort auf die gestern hier eingelaufenen Mittheilungen
nach dem Lager vor Sewastopol zu überbringen.
Die letzten Vorkommnisse auf der taurischen Halbinsel lassen sich in drei
Thatsachen zusammenfassen:
---Die -Verbindung zwischen hier und der dänischen Halbinsel
ist übrigens weit lebhafter, als man aus der Spärlichkeit, mit welcher uns
die Nachrichten von den dortigen Operationen zufließen, schließen möchte.
Außer den Depeschenschiffen und den zahlreichen Fahrzeugen, welche mit Ver¬
wundeten und Kranken beinahe täglich von dort hier anlangen, besteht noch
ein regulärer Postdienst zwischen Balaklava und Konstantinopel, der von den
Dampfern der Messageries Jmperiales besorgt wird. Dieses Institut hat in
neuerer Zeit die Zahl seiner Boote bedeutend vermehrt, und dürfte, da seine
Preise sich mehr und Mehr ermäßigen, außerdem die Schiffe elegant einge¬
richtet sind, eine vortreffliche Küche am Bord führen und sich durch Schnellig¬
keit auszeichnen, dem östreichischen Lloyd im Orient völlig den Rang ablaufen.
Diese letztere Gesellschaft hat allerdings das Verdienst für sich, in früheren
Jahren, als die Dampfer im Mittelmeer noch wenig verwendet wurden, eine
schnelle, Verbindung zwischen den Haupthafen des türkischen Reiches und
Trieft vermittelt zu haben; aber in der letzten Zeit ist sie sowol in Hinsicht
aus Schnelligkeit an sich, als auch namentlich was die Pünktlichkeit des
Dienstes anlangt, von den meisten anderen Unternehmungen der Art über¬
troffen worden. Außerdem sind die Preise für die Ueberfahrt und Zehrung,
in Anbetracht dessen, daß die Einrichtung der Kajüten keineswegs sehr elegant
ist, und der Tisch erster Classe vieles zu wünschen übrig läßt, etwas hoch ge¬
griffen und außer Verhältniß. Lobend anerkannt muß dagegen werden, daß
während der Lloyd besteht noch nicht ein einziges Menschenleben infolge
von Fahrlässigkeit seiner Beamten zu Grunde gegangen ist. Die Capitäne
scheinen beinahe ausschließlich Dalmatiner zu sein, aber sie verstehen ihr
Handwerk.
Die Witterung war in den letzten Tagen ohne Beispiel schlecht, und,
wie ich nachträglich erfahren, soll in der Nacht vom letzten Sonnabend zum
Sonntag (28. zum 29. v. Mes.) ein abermaliges unbedeutendes Erdbeben
stattgefunden haben. Seit jenem Tage regnet und stürmt es fast ohne Unter¬
brechung, die abschüssigen, Straßen gleichen dann und wann Sturzbächen und
es hat nicht unwesentliche Schwierigkeiten innerhalb der Stadt, die, wie
weltbekannt, eines ausreichenden Pflasters entbehrt, auch nur kurze Wege zu
machen.
Der Gegenstand des allgemeinen Bedauerns sind unter diesen Witte-
rungsverhältnissen ganz besonders die, meistens französischen, Verwundeten und
Kranken, welche ungeachtet der weit vorgeschrittenen Jahreszeit und der wol-
kenbruchartigen Herbstregen, immer noch unter Zelten lagern, die ohnedies
ziemlich undicht sind und im Sturmwind dann und wann umstürzen. Was
ich zu bemerken bereits Gelegenheit genommen, ist der Mangel an geeigneten
Localen für die Unterbringung keineswegs der Grund dieses Verfahrens,
sondern es liegt demselben die Ansicht zu Grunde, daß die Heilung dadurch
eher befördert werde.
Bei solchen Witterungszuständen hat das Landleben für die Peroten
und türkischen Großen keinen Reiz mehr und nachdem Reschib Pascha und
dessen mit der Sultanstochter vermählter Sohn Ali Galib Pascha das Signal
dazu gegeben, ist eine kleine Völkerwanderung oder.besser zu sagen eine Emi¬
gration von Kisten und Kasten in der Richtung von den Ufern des oberen
Bosporus von Stambul und Pera entstanden. Der Minister der auswär¬
tigen Angelegenheiten (Reschid Pascha) hat indeß nicht seinen Konak im
eigentlichen Konstantinopel, sondern sozusagen eine Zwischenresidenz bezogen,
indem er den Thau von Bojadi Koje räumte und das Palais von Kuru
Tschesme bezog. Wie man hier wissen will, vermeidet er, seit dem Aufstands¬
versuch der Sofias im vergangenen Winter das Innere der Hauptstadt, Die
wirklichen Motive für die getroffene Wahl sind muthmaßlich andre. Kuru
Tschesme ist nämlich nur ein paar tausend Schritte von Tschiraghcm, dem
Winterpalast des Großherrn entfernt; außerdem ist der Weg von Pera (für
die Gesandten) dorthin kaum beschwerlicher, als der nach Stambul, wozu noch
kommt, daß Lord Stratford nach wie vor in Therapia wohnt, welches von
der nunmehrigen Residenz Reschidö in einer halben Stunde und eher erreicht
werden kann.
Ob es ein günstiges Zeichen für die neuerwachte Frömmigkeit des deut¬
schen Volks ist, daß man sie wie eine Modesache behandelt, daß man in den
christlichen Werken das Nützliche mit dem Angenehmen, das belletristische In¬
teresse mit der Erbauung verbindet, wollen wir dahingestellt sein lassen. In
jedem Fall ist das Factum zu constatiren. Unter den belletristischen Erscheinun¬
gen der neuesten Zeit mach enteilte soviel Glück als diejenigen, die durch Fröm¬
migkeit gewürzt sind; und so läßt sich denn auch den vorliegenden Schriften
ein großer Erfolg versprechen, da sie innerhalb dieser belletristisch-religiösen
Literatur eine sehr ehrenvolle Stelle einnehmen.
Die „Trösteinsamkeit" enthält eine Sammlung religiöser Lieder, von den
verschiedensten Verfassern, Protestanten und Katholiken, darunter zum Theil die
bedeutendsten Namen unsrer Literatur. Die Biographien von Hermann Francke
und Elisabeth Fry werden auch diejenigen interessiren, die nicht grade der pie¬
tistischen Richtung angehören; denn diese beiden Personen haben, abgesehen von
ihrem Pietismus, in der That ein christliches Leben im edelsten Sinne des
Worts geführt, und ihr Andenken kann in einer Zeit, die sich allzusehr in den
Materialismus verstrickt, darauf hinweisen, daß Aufopferungsfähigkeit und
Bruderliebe in den bessern Gemüthern sich doch noch immer geltendmachen.
Die Erzählung ist im allgemeinen gut und verständig, wenn sie auch nicht ganz
den süßlichen Beischmack verleugnet, ohne den der Pietismus einmal nicht ge¬
dacht werden kann.
Unter den Holzschnitten sind einzelne ganz vortrefflich, namentlich das
Porträt der Elisabeth Fry im Alter; aber auch unter den freien Conipositionen
sind einzelne mit Gemüthlichkeit und künstlerischem Geschmack ausgeführt.
Leider ist der beste Schriftsteller dieser Richtung, Jeremias Gotthelf, soeben
gestorben. Er war vielleicht der einzige, in dem das Christenthum und die
Poesie zu einem gleichmäßig kräftigen Ausdruck kamen, der einzige, der die
Tendenz der Erbauung mit den höheren künstlerischen Zwecken auf das glück¬
lichste vereinigt hat.
Volkskalender für von Carl Steffens. Berlin, Simion. —
Trewendts Volkskalender für Breslau, Trewendt. — Beide
Kalender sind zweckmäßig und geschmackvoll ausgestattet. In dem ersten ist unter
anderem die bekannte allerliebste plattdeutsche Geschichte abgedruckt: De Wettloop
twischen den Hasen un den Swinegel up de Buxdehuder Haide. Die Geschichte
— wir kennen den Verfasser nicht — ist schon mehrmals abgedruckt,, und gewisser¬
maßen herrenlos; wir glauben daher, sie auch unsrem Publicum mittheilen zu dürfen.
Disse Geschieht is lügenhaft to vctellcn,, Jungens, swer wvhr is se doch, denn
mien Grootvader, van den ick se dew, pleggte ümmer, wenn he se mie vörtünte,
babi to Seggen: „wohr noth se doch hier, mien Sohn, anners kürr man se jo nich
vetcllcn." Dec ^ Geschicht hell stak swer so todragcn. Et wier an eenen Sündag-
morgen to Harvsttied, just as de Bookwceten bloihd: de Surr »vier heilig upgahn
an'n Hewen, de Morgenwind gnug parer över de Stoppeln, de Lewarken jungen
inn'r. Lundt, de Immen fünften in den Bookweeten, un de Lust gnügen in ehren
Sündagsstaht uahr Karl, un alle Creatur wier vergnögt, un de Swinegel ook.
De Swinegel vwer stund vor hier Döhr, har de Arm ünnersiagcn, keck babi
in den Morgenwind sinnt un qniekelicrde en tutt Leedkeu vor sick den, so good
un so sticht, as un com am lewen Sündagmorgen er Swinegel to singen Pleggt.
Indem he nu uoch so half liefe vor sick Heu sung, soll em up eenmal in, he kürr
ook wol, niitticwiel hier Fru de Kiuner wusch un antröck, am decken in't Feld spa¬
zieren, un tosehn, wie hier Stähkröwen stünden. De Stähkrowen wicren vwer de
nechsten bi steilen Huus, Lin he pleggte mit hier Familie davon to ater, darum
habg he se as de sinnigen an. Geseggt gebahr. De Swinegel malte de Huus-
döor achter sick to, un flog den Weg nah'n Feld in. He wier noch nich
gaus wind von Huus' un wull just üm den Slähbnsch, de doar vör'in Feld
liggt, nah den Stähkröwcnacker hinup dreien, as em de Haas bemött, de
in ähnlichen Geschäften uutgahn wier, nämlich um hielten Kohl to besehn. As
de Swinegel den Haasen ansichtig our, so dost he em en srnndlichen go'n
Morgen. Da Haas swer, de up hielte Wies en vornehmer Herr was, un grau¬
sahm hvchfartig babi, antwovrde nickS up den Swinegel hielten Gruß, sondern
Seggen ton Swinegel, wohl he en gewaltig höhnische Micr anreden: „wie kümmt
et denn, dat du hier all bi so frühem Morgen im Feld rnmmlöppst?" „Ick gab
spazieren/' seggt de Swinegel. „Spazieren?" lacht de Haas, „mi ducht, du kunst
de Bahn ook wol to betern Dingen gcbruuken!" Disse Antwurd vcrdröt den
Swinegel ungeheuer, denn alius kürr he vcrdreegcn, swer up sinne Been tact he
rieth kamen, eben wiel se von Natuhr scheef wieren. „Dn bildst ti wol in," seggt
un de Swinegel ton n Haasen, „as wenn du mit dire Been mihr utrichtcn kannst?"
„Dat denk ick," seggt de Haas. „Dat kümmt up'n Vershok an," meent de Swin¬
egel, „ick parler, wenn wie in de Welt lvopen, ick loop ti vvrbi!" „Dat is tum
Lachen, du mit diene scheefen Been," seggt de Haas, „swer mientwegcn mach't hier,
wenn du so öwcrgrvote Lust hest. Wat gelt de Welt?" „En golden Lujedour
un'n Buttel Branwien," seggt de Swinegel. „Angenahmcn," spröock de Haas,
„sia in, un denn kannst gliek losgahn." „Nä, so grvote Ist hell et nich," meent
de Swinegel, „ick dünn noch gaus nüchtern; ierst will ick to Huus gahn un en
decken frühstücken; inner halvcn Stund dünn ick wedder hier upp'n Platz."
Damit gnug de Swinegel, denn de Haas wier't tofreeden, Unnerweges dachte
de Swinegel bi sick: „de Haas perlen fiel up hielte langen Been, swer ick will em
wol kriegen. He is zwoar en sörnehm Herr, swer doch man'n dummer Kierl un
betasten fall he doch!" As nu de Swinegel to Huus ankövm, spröck de-to hier Fru: „Fru,
treck ti glick an, du möst mit mi nah'n Feld hinuut." „Wat givt et denn?" seggt sieu
Fru. „Ick hev mit'n Haasen wett't um'ne gülden Lnjcdour un^n Buttel Bran-
wien, ick will mit em inn Welt loopen un da fast du mit babi hier." „O mien
Gott, Mann," frug nu den Swinegel hier Fru an to schrien, „dust du nich klook,
hest du denn ganz den Verstand verloaren? Wie kannst du mit den Haasen i» de.
Welt loopen willen!" „Holt dat Munk, Wies," seggt de Swiucgel, „dat is mien
Saal. Resonicr nich in Männergcschäfte. Marsch, treck ti an, un denn kumm
mit." Wat soll den Swinegel hier Fru malen? se müßt wol folgen, se mügg nu
wollen oder nich. As se nu mit cnanner ünncrwegs wicren, spröck de Swinegel
to hier Fru: nu pass up, wat ick Seggen will. süsst du, up den langen Acker
doa will wi uuscu Wettloop maken. De Haas löppt nemlich in de een Föhr un
ick in de armer, un von baben sang'n wi an to loopen. Nu hest du wieder uicks
to dohn, as du stellst ti hier unum in de Föhr, un wenn de Haas up de är-
mere Siel ankümmt, so röppst du ein entgegen: „ick bün all hier!" Damit wiren
se bi den Acker anlangt, de Swinegel wiesde siner Fru ehren Platz an, un- gnug
nu den Acker hinnp. As he baben anköm, wier de Haas all da. Kann et los-
gahn? seggt de Haas. ,,Ja wol," seggt de Swinegel. „Denn man to!" Un
damit stellte jeder sick in fiere Föhr. De Haas teilte: „hast een, hast twee,
hast dree," un los gnug he wie en Stormwind den Acker hendahl. De Swin¬
egel swer'top ungcsihr man dree Schritt, dorn buhlte he sik bahl in de Föhr, um
blecv ruhig Sitten.' As nu de Haas in vullen Loopen unrer an'n Acker anköm,
roy em den Swinegel hier Fru entgegen: „ick bün all hier!" De Haas stutzte un
verwunderte sick nich wenig: he meent nich anders, als et wier de Swinegel
sülvst, de em dat tvröp, denn bekanntlich fühl den Swinegel sieu Fru just so uut,
wie ehr Mann. De Haas swer nennt: „bald geiht nich to mit rechten Dingen."
He roy: „nochmal gelvopcn, wedder üm!" Un furt gnug he wedder wie en
Stormwind, bald ein de Uhren am Kopp flögen. Den Swinegel hier Fru swer
bleev ruhig up ehren Platz. As un de Haas baben anköm, roy ein de Swin¬
egel entgegen: „ick bün all hier." Da Haas ganz unter sick vor Jhwer schriegte:
„noch mal gcloopen, wedder üm!" „Mi nich to stimm", antwurt de Swinegel,
„Micntwegcn so oft, as du Lust hest." So top de Haas noch dree un söbeutig
mal, um de Swinegel hol et ümmer mit em uut. Jedesmal, wenn de Haas unum
oder baben anköm, scggten de Swinegel oder hier Fru: „ick bün all hier."
Tom'n vier un söbentigsten mal üwer kom de Haas nich mihr to ende. Midder
am Acker stört he to Jhrd, bald Blohd flog em unter Hals, un he blew dove
up'n Platz. Da Swinegcl swer rohen sinen gewunnene Lujcdour un den Buttel
Branwien, roy hielte Fru uut der Föhr ass, un beid gnügen vergnögt mit cnan¬
ner nah Huus, un wenn se nich storben sunt, lcwt se noch. So/bcgcw et sick,
bald up de Buxdchuder Haid de Swinegel deu Ha as dove loopen hett, un Sieb je-
ner Tieb hett et sick keen Haas wedder infallen laden, mit 'n Buxdehnder Swin¬
egel in de Welt to lovpen. De Lihr swer unt bisse Geschieht is ierstcus: bald
keener, un wenn he fiel vo? noch so föhruehm ducht, sick fall bikamen laden,
sperr geringen Mann sick lustig to maken, un wier't ook man'u Swinegel. Un
tweetens, bald et gcrahdeu is, wenn eener seine, bald he sick 'ne Fru uut hielten
Stand nimmt, un de just so uutsüht as he sülwst. Wer also en Swinegel is,
de noth tvschn, bald hielte Fru ook en Swinegel is, un so wieder. —
Ferner ist zu nennen: Der schweizerische Hausbote. Kalender auf
das Jahr Von Theodor Meyer Merlan. Dritter Jahrgang. Mit
47 Holzschnitten. Basel, Schweighäuser. — Der Kalender gehört unbedingt zu
den vorzüglichsten dieser Gattung. Das größte Lob verdienen die Holzschnitte.
Wenn man diese gemüthlichen, charakteristischen, mit großem Humor gedachten und
doch correct ausgeführten Bilder sieht, so wird man um so aufgebrachter gegen die
Sudeleien, denen man bei der großen Verbreitung des Stahlstichs in allen möglichen
Taschenbüchern und illustrirten Werken begegnet. Die Verbreitung des Stahlstichs
beeinträchtigt die Entwicklung unsrer Kunst auf eine ganz unerhörte Weise. Auf
das gewöhnliche Publicum macht er stets den Eindruck von etwas Zierlichem und
Elegantem, und doch wird nur das Unbestimmte, Charakterlose und Verwaschene
dadurch gefördert. Die gegenwärtigen Holzschnitte sind in der guten alte» Weise
ausgeführt, und werden jedem gefallen, der Sinn für Natur und Originalität hat.
-— Der Text ist anspruchslos und dem Zweck entsprechend. —
— Timoleon. Tragödie von Arthur Müller. — Der
Conflict zwischen der brüderlichen Liebe und der politischen Idee in de^u Ge¬
müth des Timoleon hat schou manchen Dramatiker, der um einen Seelcncouflict
verlegen ist, verleitet, dies Problem, das eigentlich -schon der reflectirten griechischen
Bildung angehört, für die moderne Bühne zu verwerthen. Die Wahl ist eine
ungeschickte; denn welcher Partei wir anch angehören mögen, wir betrachten alle den
Meuchelmord, noch dazu den Mord eines Bruders, als etwas so Unnatürliches, daß
er bei einer edlen Seele gar nicht in Frage kommen kann. Will uns der Dichter
die Zeit schildern, in der.eine solche That dennoch möglich war, so wird er wieder
einen so großen Apparat gebrauche», daß der Raum eines Dramas überschritten
wird, und trotzdem wird er seinen Zweck immer uur halb erreichen. Schon Schiller
ist in seinem „Tell" mit dem Versuch, einen Meuchelmord dnrch mildernde Umstände
gerechtfertigt erscheinen zu lassen, gescheitert, wie am deutlichsten die Scene mit
dem Parricida beweist, die aus dem dunkeln Gefühl einer ungenügenden Motivirung
eingeschoben ist; und hier war doch im Grunde nur ein Kampf der Gewalt gegen
die Gewalt, und wenn Schiller nicht selbst so gewissenhaft über die sittlichen Motive
nachgedacht, wenn er das Publicum nicht gewaltsam an seine Gewisscnsscruvel
erinnert hätte, so würde dieses über dem Reichthum und der Fülle seiner Lebens¬
anschauungen das Bedenkliche der Sache vicleicht ganz übcrsehey haben. In einem
Fall aber, wo der Conflict zweier sittlichen Pflichten nothwendig in den Vorder¬
grund tritt', ist eine solche Unbefangenheit nicht möglich , und unser eignes sittliches
Bewußtsein spricht zu laut, um unserm Gemüth jene Freih-eit zu lassen, aus der
allein ein ästhetisches Wohlgefallen hervorgeht. Einen Brudermord, der in der
Leidenschaft, aus Eisersucht oder sonst einem Grunde begangen wird, wie in der
Braut von Messina, kann man sich gefallen lassen, denn hier verleugnet sich die Natur
des Verbrechens nicht, und das erregende Motiv macht keinen Anspruch, als all¬
gemein gültige Maxime anerkannt zu werden, Mit dem politischen Fanatismus
aber ist es viel schlimmer; denn dieser soll sich nicht durch die unmittelbare Leiden¬
schaft, sondern dnrch das Nachdenken rechtfertigen, und das Nachdenken treibt uns
dazu, die That zu verabscheuen. Wollte der Dichter aber die Wendung nehmen,
seinen Helden an dem falschen Idealismus sittlich untergehen zu lassen, und so
gleichsam eine poetische Widerlegung desselben zu geben, (die Wendung, die Shak-
speare seinem Cäsar gegeben hat) so träte er damit gegen die Ueberlieferungen des,
Alterthums in Widerspruch und höbe dadurch den eigentlichen Sinn jener Geschichte
aus. -— Dies siud die Betrachtungen, welche der vorliegende Versuch in uus
erregte. Der Verfasser ist deu Schwierigkeiten seiner Aufgabe durch Rhetorik aus
dem Wege gegangen; aber dies ist grade nicht das rechte Mittel, eine dramatische
Wirkung hervorzubringen. —
,Freie Gaben für Geist und Gemüth. Zur Erweiterung des Unterstützungs-
fonds für arme erwachsene Taubstumme, herausgegeben von I. Fr. Jancke,
Director der Taubstummen-Anstalt zu Dresden. Zweiter Jahrgang, Hest 1 — 6.
Leipzig, Fritzsche. — Ein Büchlein, das sowol seines wohlthätigen Zwecks als
seines Inhalts wegen die theilnehmende Unterstützung des Publicums verdient.
Die tüchtigsten Schriftsteller, z. B. Berthold Auerbach, arbeiten daran mit. —
— Es tauchten seit
einigen Tagen in den Zeitungen die unheimlichsten Gerüchte auf: dem berühmten
Staatsmann, der seine gouvernementalen Talente uuter mannigfachen Metamorphose»
bereits mehren deutschen Staaten gewidmet, sei es glücklich gelungen, das ans
den Fugen gerückte Verhältniß zwischen Oestreich und Preußen wieder einzurenken.
Oestreich habe nämlich die Verpflichtung übernommen, sür alle Eventualitäten des
Krieges nicht über die bekannten vier Garautiepunkte hinauszugehen (!!), und dafür
habe Preußen seine weitere Mitwirkung zugesichert. Zu unsrer äußersten Genug-
thuung haben diese Gerüchte, die zwar unmöglich klangen, die uns aber doch in
Besorgniß setzten, weil wir in der deutschen Politik schon gewohnt sind, das Un-
. möglichste sür das Wahrscheinlichste zu halten, in der Instruction des Wiener
Cabinets an den k. k. Bundespräsidialgesandten eine glänzende Widerlegung ge¬
funden. Wir halten dieses Actenstück für entscheidend sür die östreichische Politik
und siud davon überzeugt, daß das gesammte deutsche Volk mit der höchsten An¬
erkennung den Ernst und die Energie aufnehmen wird, welche der Kaiserstaat dies
Mal in der wichtigsten Angelegenheit, die überhaupt jemals dem Bundestag vorgelegt
worden, entwickelt hat. Möchte diese Stimmung auch auf dem Bundestag ihren
angemessenen Ausdruck finden! Deutschland träte damit in der That in die Reihe
der europäischen Mächte ein. — Eine ausführliche Besprechung dieser neuen Wendung
behalten wir uns sür das nächste Heft vor. —
Bei Gelegenheit der Geschichte Englands von Lord Mahon, die jetzt voll¬
ständig in der Tauchnitzschen Ausgabe erschienen ist, sprechen wir noch einmal
den Wunsch aus, die geehrte Buchhandlung möchte sich überhaupt häufiger
mit ihrer Ausgabe an die historischen Schriften der Engländer halten. Sie
hat sich durch diese Stereotypausgabe der englischen Schriftsteller, die nebenbei
noch den Vorzug hat, eine rechtmäßige zu sein, und die an Zweckmäßigkeit der
Ausstattung nichts zu wünschen übrigläßt, ein großes Verdienst für die Ver¬
breitung der englischen Literatur im deutschen Publicum erworben, und wir
hegen den lebhaften Wunsch, daß diese Verbreitung immer größer werden
möge. Denn von dort her kommt uns meistens gesunde Kost, während bei der
französischen Literatur auch in ihren besten Leistungen in der Regel etwas Be¬
denkliches mit unterläuft; und unsre eigne Literatur ist gegenwärtig nicht von
der Art, um uns nicht zuweilen sehr lebhaft den Wunsch nach heilsamerer
Nahrung einzuflößen. Aber man hält sich zu ausschließlich an die belletristi¬
schen Schriftsteller der Engländer, und wenn diese zum Theil auch sehr an-
erkennenswerth sind, so scheint uns doch die eigentlich wissenschaftliche Literatur,
namentlich die historische, viel mehr Beachtung zu verdienen. Zwar ist es ganz
in der Ordnung, den Geschmack des lesenden Publicums mit in Rechnung
zu ziehen, aber wir glauben, daß auch dieser nicht immer aus Seite der
Belletristik sein wird. Wir sind fest davon überzeugt, daß das vorliegende
Werk, blos als Unterhaltungslectüre betrachtet, einen viel größern .Leser¬
kreis finden wird, als z. B. der neueste Roman von Bulwer, der gleich¬
falls in dieser Ausgabe mitgetheilt wird, und der uns wenigstens auf das
tödlichste gelangweilt hat. Es wird gar nicht immer nöthig sein, sich auf die
neueste Literatur zu beschränken. So gut in der Tauchnitzschen Ausgabe die
Schriften von Fielding, Milton, Smollet, Sterne und anderen ausgenommen
sind, kann es z. B. auch mit Gibbon geschehen. Vor allen möchten wir aber
diejenigen Schriftsteller empfehlen, die sich mit der neuern Geschichte be¬
schäftigen und die in mancher Beziehung unsren eignen Geschichtschreibern als
Muster dienen könnten. Denn wir gehen zwar in Bezug auf Forschung und
Neflerion den andern Nationen voran, aber in der Darstellung hat sich bei
uns noch kein classischer Stil gebildet.
Die Wahl des vorliegenden Werks können wir als eine sehr glückliche
bezeichnen. Zunächst wegen des Stoffs. Die siebzig Jahre der englischen Ge¬
schichte, welche es umfaßt, sind diejenigen, in welchen die Größe Englands,
zu der durch frühere, entschlossenere Thaten der Grund gelegt war, sich im
einzelnen auf eine organische und naturgemäße Weise entwickelte. Für uns
Deutsche kommt dabei noch ein anderer Umstand in Betracht. Die Große
Englands hat sich entwickelt, ohne daß große Männer dabei betheiligt gewesen
wären. Diese ganze Zeit enthält nur einen Charakter von größerem Zuschnitt,
den ältern Pitt, und man kann nicht eigentlich behaupten, daß die Einwirkung
desselben auf die Entwicklung des Reichs eine durchgreifende gewesen sei. Im
übrigen sehen wir in den Höhen des Staatslebens Menschen grade wie bei
uns, Talente ohne Charakter und Charaktere ohne Talent. Wir können daraus
zweierlei lernen. Einmal, daß die Institutionen eines Landes, wenn das Volk
. sich ernsthaft und aufrichtig daran betheiligt, doch wichtiger für das Gedeihen
desselben sind, als der moderne Absolutismus und die moderne Demokratie es
sich einbilden. Es ist gar nicht nöthig, daß diese Institutionen im einzelnen
allen Anforderungen entsprechen. Das Wahlsystem der Engländer war gewiß
in jener Zeit viel schlechter, als das jetzige preußische Wahlsystem, und ein
echter Demokrat würde darin nichts Anderes gesehen haben ^ als eine Ver¬
fälschung des Volkswillens. Aber die Hauptsache war, das gesammte 'Publi-
cum wurde durch diese Vermittlung an den öffentlichen Angelegenheiten be¬
theiligt, und dadurch verwandelte sich im Laufe der Zeit mit Nothwendigkeit
die Cabinetspolitik in eine Volkspolitik. Sodann lernen wir daraus, daß die
bürgerlichen Zustände, Gewerbe, Handel und was damit zusammenhängt, bei
der Berechnung des politischen Werths eines Landes sehr in Anschlag kommen.
Auch von dieser Seite werden wir Staaten wie Preußen und Sachsen besser
würdigen, wenn wir überlegen, daß trotz aller Verirrungen in der großen
Politik die eigentliche Productionskraft deS Landes in einem beständigen Fort¬
schritt begriffen ist, und daß diese innern Culturverhältnisse dann mit zwingender
Nothwendigkeit auf den Willen selbst übelgesinnter Machthaber einwirken. So
könnten wir z. B. aus den letzten Jahren der preußischen Geschichte Beispiele
genug dafür anführen, daß die Logik der natürlichen Bedingungen mächtiger
ist, als die Willkür der einzelnen.
Was nun die Behandlung jenes reichen, interessanten Stoffs betrifft, so
müssen wir zuerst die politische Gesinnung ins Auge -fassen. Lord Mahon hat
die umgekehrte Entwicklung durchgemacht, als sein berühmter Nebenbuhler
Macaulay. Die Gesinnung, die sich in den- frühesten Schriften des letztern
ausspricht, könnten wir fast als Radicalismus bezeichnen, wobei freilich hinzu¬
zusetzen wäre, daß der Radicalismus eines gebildeten Engländers nie so ins
Unbestimmte und Grenzenlose geht, als bei uns Deutschen. In seinem Ge¬
schichtswerk dagegen vertritt er sehr gemäßigte, liberale Grundsätze, und wenn
wir seine frühern Versuche damit vergleichen, die sich auf dieselbe Zeit beziehen,
so werden wir finden, daß auch sein Urtheil über einzelne Personen sich dem¬
nach mannigfaltig modificirt hat. Lord Mahon dagegen trat als bitterer Tory
ins öffentliche Leben; er wurde in seinem 25. Jahr für einen von seiner Fa¬
milie abhängigen Flecken ins Parlament gewählt und nahm vier Jahre darauf
an dem torvstischen Ministerium theil. Aber in den folgenden zwölf Jahren
erfolgte die allmälige Umgestaltung der Torypartei durch Robert Peel. Lord
Mahon nahm an derselben einen entschiedenen Antheil, und so stehen jetzt die
beiden Männer ungefähr auf der nämlichen Stufe politischer Gesinnung, wie
auch ihre Parteien im gegenwärtigen Ministerium gleichmäßig betheiligt sind.
In der Färbung ihrer Auffassungen bleibt trotzdem immer noch ein merklicher
Unterschied, da die alten Traditionen sich wenigstens noch in den Motiven
gellendmachen, wenn sie aus den Resultaten bereits verschwunden sind; aber
auf das Wesen der Sache hat diese verschiedene Färbung keinen Einfluß mehr,
und mit der Zeit, wenn Macaulay den Wünschen des gesammten Europa
soweit entsprochen haben wird, um sein Geschichtswerk wenigstens bis zu der
Zeit zu vollenden, wo Lord Mahon beginnt, so wird man die beiden Bücher
vielleicht hintereinander weg lesen können, ohne in der Gesinnung einen merk¬
lichen Unterschied wahrzunehmen. — Das Ist freilich nur durch den Hinzutritt
zweier Umstände möglich. Einmal ist Lord Mahon trotz seines conservativen
Princips, das ihn gegen alle Neuerungen in der Verfassung bedenklich macht,
dennoch auf das lebhafteste von der Idee der Rechte und Freiheiten des Volkes
durchdrungen; er ist conservativ gegen oben wie gegen unten, und sein System
ist das der rechtlichen Freiheit. Vor allen Dingen ist er ein redlicher Mann,
der bei der Beurtheilung keines einzelnen Factums, bei der Zeichnung keines
einzelnen Charakters sich von den vorgefaßten Meinungen seiner Partei be¬
stimmen läßt, sondern der überall mit gewissenhafter Unparteilichkeit die That¬
sachen von allen Seiten erörtert und überall ebenso auf die Lichtseiten wie auf
die Schatten aufmerksam macht. Sodann kommt seine gegenwärtige Partei¬
stellung für die Zeit, die er schildert, nicht in Betracht. Nach seiner eignen
Erklärung muß man zu verschiedenen Zeiten der Geschichte bald Whig, bald
Tory sein, jenachdem die rechtliche Freiheit des Landes von oben oder von
unten bedroht wird. Für den Anfang des -18. Jahrhunderts ist er ganz entschieden
auf Seiten der Whigs und verurtheilt die Tones als Vaterlandsfeinde und
Landesverräther. Ferner zieht er bei jedem einzelnen Fall, wie es der redliche
Mann thun soll, alle einzelnen mitwirkenden Umstände in Betracht und hat
überall Bildung genug, um in den sich kreuzenden Interessen des Landes die
richtige Mitte zu finden. So werden wir also, was die politische Gesinnung
betrifft, im wesentlichen die Urtheile dieses Werks als die unsrigen adoptiren
können.
In dem Glanz der Darstellung steht er freilich Macaulay bei weitem nach.
Macaulay ist in einem gewissen Sinne eine poetische Natur und macht in
seinen Darstellungen durch die Lebhaftigkeit seiner Farben, durch die Kraft und
den Rhythmus seiner Rhetorik zuweilen den Eindruck eines dichterischen Werks.
Dies ists auch vorzugsweise, was seinen Ruhm begründet hat; freilich daneben
auch der scharfe, zersetzende Verstand, der das Innere des Menschen mit einer
fast erschreckenden Wahrheit bloßlegt. Es ist aber nicht zu leugnen, daß ihn
hin und wieder diese poetische Kraft weiter fortreißt, als es für einen be¬
sonnenen Geschichtschreiber wünschenswert!) ist. Bei dem gründlichsten Studium
und bei der aufrichtigsten Wahrheitsliebe wird zuweilen, freilich nur in seltnen
Fällen, bei ihm der Stil über den Inhalt Herr. — Die Darstellung des Lord
Mahon dagegen ist durchaus prosaisch, fast trocken, aber sie ist deutlich und
correct. In der Art, wie er die Ereignisse gruppirt, die Charaktere an den
entsprechenden Stellen hervortreten läßt und mit einigen Worten ihr Porträt
entwirft, bevor er sie handelnd einführt, stimmt er ganz mit Macaulay überein,
denn diese Methode ist nicht eine Erfindung des letztern, sondern die altenglische
Tradition der Geschichtschreibung. Der Engländer scheut sich vor allen
Sprüngen, er geht seinen ruhigen, geordneten Weg an der Hand der Chrono¬
logie; aber er läßt sich nicht von der Zeitordnung blind beherrschen, wie der
eigentliche Chronist, sondern wo eine zusammenhängende Darstellung von Ver¬
hältnissen, die außerhalb der Zeitfolge liegen, erforderlich ist, macht er sich von
diesen äußern Formen frei. — Was Lord Mahon von den industriellen und
merkantilischen Entwicklungen sagt, zeigt in der Regel ein reifes Urtheil und
ist soweit ausgeführt, um den gebildeten Leser vollständig zu orientiren, obgleich
die politische Geschichte sich bedeutend in den Vordergrund drängt. Weniger
bedeutend sind seine Fragmente aus der Literaturgeschichte. In solchen Dingen
kommt es auf Spontaneität an, auf kühne, durchschlagende und überraschende
Perspektiven. Diese finden sich bei Lord Mensor fast gar nicht, während sie
bei Macaulay in so reicher Fülle hervorsprudeln. Dagegen ist das Urtheil
des ersteren in manchen Fällen ruhiger und besonnener. Namentlich hat uns
die große Pietät für Walter Scott erfreut, die fast überall hervortritt, wo er
in seiner Geschichte auf einen von diesem Dichter behandelten Zeitabschnitt
kommt, was ziemlich häufig geschieht. Auch dürften die vermischten Schriften
Walter Scotts für sein literarisches Urtheil in vielen Fällen maßgebend ge¬
wesen sein. — Die Porträts von den Figuren, die er zeichnet, sind nicht mit
jenen kühnen Strichen ausgeführt, die uns bei Macaulay oft so wunderbar
überraschen, aber sie sind fleißig und gründlich gearbeitet; ebenso seine eigent¬
lichen Schilderungen, von denen einzelne, z. B. die Geschichte der Jnsurrection
von 17i5, außerordentlich gelungen sind; freilich zum Theil, weil ihm auch
hier W. Scott als Vorbild vorschwebte.
DaS deutsche Publicum wird das Werk als "die correcte und erschöpfende
Darstellung eines Zeitalters, das an sich merkwürdig und bedeutend ist und
noch interessanter wird durch die leicht sich darbietenden Analogien in der
Gegenwart, mit Befriedigung aufnehmen und seine politische Einsicht und Er¬
kenntniß dadurch erweitern. Möchte für dieselbe Periode der deutschen Ge¬
schichte, die ungleich wichtiger und folgenreicher ist, für die aber unsre Ge¬
schichtschreiber, bis auf einzelne Monographien, nicht dick geleistet haben, sich
bald eine ebenbürtige Darstellung finden. Denn die allgemeine Geschichte wird
am meisten dadurch gewinnen, wenn jeder Geschichtschreiber zunächst auf die
Begebenheiten seines eignen Volks, die er besser versteht und die ihm auch
gemüthlich näher liegen, sein Augenmerk wendet, und die Darstellung der aus¬
ländischen Geschichte dem Ausländer überläßt. —
Zu diesem Sinn sind die historischen Gesellschaften, die sich in neuerer
Zeit in den verschiedenen Theilen unsres Vaterlandes gebildet haben, von so
außerordentlicher Wichtigkeit. Es liegt ihnen ein Werk ob, das auch der eisernste
Fleiß eines einzelnen Geschichtsforschers nicht bewältigen kann; ein Werk, wel¬
ches für die deutsche Geschichtschreibung noch viel wesentlicher ist, als für die
irgendeines andern Landes, da unsre Geschichte sich in so unzählig viele kleine
Theile zersplittert: nämlich die Feststellung der provinziellen Basis für die Dar¬
stellung unsrer allgemeinen Verhältnisse. Nur aus dieser Durchforschung des
Einzelnen kann das hervorgehen, was allein das Studium der Geschichte
fruchtbar'macht: die Vorstellung von der stillen, unscheinbaren Entwicklung des
wirklichen Volks, welches sich an den großen Haupt- und Staatsactionen nicht
beteiligen kann. Freilich werden solche Studien nur dann von unmittelbarem
Gewinn sein, wenn sie von Männern geleitet werden, die vermöge ihrer
sonstigen Bildung'zugleich das Verständniß für die großen Züge der Geschichte
haben, und denen überall die für die richtige Würdigung VeS Einzelnen so
nothwendigen Vergleiche und Regeln zugebotestehen. —
Ein sehr schönes Zeugniß für diesen überall aufkeimenden historischen Sinn
geben die Baseler Beiträge. Fast alle Abhandlungen des letzten Jahrbuchs
beruhen aus provinzieller Grundlage; aber in allen lebt zugleich ein Verständniß
der allgemeinen Beziehungen, durch welche diese Grundlage erst ihr richtiges
Licht gewinnt. Am vorzüglichsten ist, die erste Abhandlung von Jacob Burk-
hard über einen der letzten Versuche-, die Kirche durch ein Concil zu reformiren,
gelungen. Er hat nicht blos den Stoff, über den er Herr werden konnte, auf
eine musterhafte Weise dargestellt, sondern er hat nach einer sichern kritischen
Methode, die zum Theil aus einem sorgfältigen Studium Rankes hervorge¬
gangen zu sein scheint, die noch zurückbleibenden Bedenken hervorgehoben, und
so seiner Untersuchung einen bestimmten Platz in der allgemeinen Forschung
gegeben. Jacob Burkhard gehört zu den hoffnungsvollsten Kräften unsrer
Geschichtschreibung. Sein Leben Konstantins ist eine seltene Verbindung von
geistvollen Anschauungen und besonnener Kritik, wenn wir uns auch mit der
Form, die er seiner Darstellung gegeben hat, nicht ganz einverstanden erklären
konnten, und wir begrüßen seinen Uebergang zur vaterländischen Geschichte mit
großer Genugthuung.
Wenn von allen Seiten sür das große Werk der vaterländischen Geschichte
so rüstig und einsichtsvoll gearbeitet wird, wie es zu Basel geschieht, so werden
sich bald sehr erfreuliche Fortschritte bemerklich machen. —
Die Schrift des preußischen Hauptmannes gehört, nur uneigentlich zur
historischen Literatur; er hat sein Augenmerk vorzugsweise auf die untern
Schichten des preußischen Volks geworfen und sucht diesen eine allgemeine
Kenntniß von den vaterländischen Zuständen und eine patriotische Gesinnung
einzuflößen. Die gute Absicht wird einzelne Mängel der Bearbeitung wol
decken." j ,„ ! , - ^u^-.l'K^' ni ii',?.',
Das „Grafenbuch" ist freilich zunächst für einen Zweck zusammengestellt,
der mit der Wissenschaft nicht zusammenhängt; allein durch die höchst sorg¬
fältige Bearbeitung verdient es auch eine Beachtung von Seiten der Geschicht¬
schreiber. Es ist mit der Familiengeschichte ähnlich wie mit der Provinzial-
geschichte; sie gibt den allgemeinen Umrissen Farbe und Inhalt. Die Abnei¬
gung gegen den Adel, die aus sehr begreiflichen Gründen noch vor wenigen
Jahren auf eine maßlose Weise hervortrat, hat jetzt einer ruhigen Ueberlegung
Platz gemacht, und wie man auch über die Ausgleichung der Standesunter-
schiebe denken mag, man wird doch mit einem gewissen Interesse diese Stamm-
bäume verfolgen, in denen sich unsre Geschichte gewissermaßen individualisirt.
Daß der Familienstolz mit dem Nationalstolz eine gewisse Verwandtschaft hat,
daß er gleich diesem leicht zu Thorheiten verführt, und sogar der Verirrung
vielmehr ausgesetzt ist, weil er unmittelbar ins rechtliche und politische Leben
eingreift, ist eine bekannte Sache. Auf der andern Seite ist es aber gewiß
von Werth, durch geschlechtliche Traditionen mit der Vergangenheit in Verbin¬
dung zu stehen und so das historische Leben der Nation in sinnlicher Unmit¬
telbarkeit mitzuempfinden. —
Ein äußerst fleißiges und dankenswerthes Werk ist die „Geschichte der
amerikanischen Urreligionen" von Müller. Das Material, welches der Ver¬
fasser dazu benutzen mußte, ist ein außerordentlich umfangreiches, und die Voll-,
Ständigkeit, die er darin erreicht, ist daher nicht gering anzuschlagen. Noch
lobenswerther ist die Ordnung, mit der er diese wüste Masse dem Leser zugäng¬
lich gemacht, und die scharfe Kritik, mit der er, soweit es in solchen dunklen
Verhältnissen möglich ist, die naheliegenden Mißverständnisse zu entfernen ge¬
sucht hat. Indeß würde bei dem vorliegenden Gegenstand der größte Fleiß
immer nur von einem geringen Werth sein, wenn er nicht von einer richtigen
Einsicht in das wahre Wesen der Religion getragen wäre. Zwar wird man sich
bei einem so schwierigen Gegenstand, der mit den heiligsten und heimlichsten
Bewegungen der menschlichen Seele zusammenhängt, niemals ganz der Voraus¬
setzungen entschlagen können, auf denen die eigne Stellung zur Religion be¬
ruht; allein es ist doch ein sehr großer Unterschied, ob man diese Voraus¬
setzungen unbewußt aus sich einwirken läßt, oder sie sich durch eingehende
Kritik klar zu machen sucht. Wir wollen in Beziehung aus das, vorliegende
Buch nur auf einen Umstand aufmerksam machen.
- In der Zeit der Entdeckung Amerikas und der Wiederauffindung Indiens
war das specifische Christenthum noch mächtig genug, um in den Götterbildun-
gen aller heidnischen Völker nichts Anderes zu finden, als teuflische Einflüsse;
und wenn einmal irgendein Symbol auffallend an die christliche Dogmatik er¬
innerte, so war man aufs tiefste betroffen und verfehlte nicht, eine directe Ue¬
berlieferung des Christenthums darin zu suchen. In den nächstfolgenden Jahr¬
hunderten haben namentlich die Jesuiten eine große Geschicklichkeit entwickelt,
diese scheinbare Uebereinstimmung für ihr Missionswerk zu benutzen, und dix
gewaltige Kluft, die in der That zwischen der heidnischen und christlichen Re¬
ligion bestand, durch die Verwandtschaft der symbolischen Formen zu verdecken.
In dieser Beziehung waren die Jesuiten, so wunderlich es klingt, die Vor¬
läufer des Rationalismus. Die rationalistische Denkart, die seit dem vorigen
Jahrhunderte die herrschende war, verfuhr umgekehrt, als das Christenthum
"n 16. Jahrhundert. Auch wo sie in der Feindschaft gegen die bestimmte Re-
ligion nicht soweit ging, gradezu die heidnischen Vorstellungen als die besseren,
natürlicheren und menschlicherer zu präconistren, suchte sie doch wenigstens so¬
viel nachzuweisen, daß die vernünftige Grundlage aller Religionen dieselbe sei,
und daß, wenn man die barocken Erfindungen, mit welchen der ehrgeizige Be¬
trug der Priester die ursprüngliche Physiognomie der Religion übermalt, weg¬
wischte, überall das gleiche, reine Antlitz der Menschheit hervortrete. Solche
Vorstellungen wurden nicht blos durch die eigentlich theologischen Schriften,
nicht blos durch Raisonnement verbreitet, sondern namentlich auch durch die
Erfindungen der Romanschreiber. Wir erinnern nur an die Romane von
Cooper, aus denen vor noch nicht ganz einer Generation das ganze Publicum
seine Kenntnisse von den amerikanischen Zuständen geschöpft hat. In diesen
Romanen wurde der große Geist der Indianer mit dem lieben Gott der Christen
gradezu identificirt, ja er wurde als ein reinerer und vollendeterer Ausdruck des
im Christenthum nur unvollkommen entwickelten Gottesbegriffs dargestellt; we¬
der der Dichter noch das Publicum fanden ein Arg daran, daß so wüste, greu¬
liche Begriffe von der Sittlichkeit, wie sie die Indianer an den Tag legten,
mit einer reinen Neligionsform vereinbar gedacht werden sollten.
Es ist daher ein großes Verdienst von dem Verfasser der vorliegenden
Schrift, den ungeheuren Unterschied zwischen dem großen Geist der Indianer
und dem Gott der Christen an den Tag gelegt zu haben. Der große Geist
ist ein Natursymbol, also seinem Begriff nach der directe Gegensatz zum christ¬
lichen Gott. Der Verfasser fügt zu dieser vollkommen richtigen Auseinander¬
setzung hinzu, daß aus dem Heidenthum, dem Polytheismus, den Naturreli¬
gionen in natürlicher Entwicklung sich niemals jener spiritualistische Begriff
Gottes bilden könne, der mit dem Begriff einer geoffenbarten Religion unzer¬
trennlich verknüpft sei. Wir geben ihm insofern recht, als diese ungeheure Re¬
volution wenigstens immer eines äußeren Anstoßes, der Berührung mit einem
fremden Element bedarf, wodurch der elektrische Funke des neuen Glaubens
erweckt wird.
Es ist sehr wichtig, daß man diesen Gegensatz des Pantheismus und des
Spiritualismus, der im wesentlichen darin besteht, daß der erste die Welt und
das Leben auf das Naturgesetz, der zweite auf das Sittengesetz gründet, auch
in den concreten Erscheinungen der Geschichte überall festhält. Die Formen,
in denen das Naturgesetz und in denen das Sittengesetz sich dem Glauben und
der Vorstellung deutlich macht, mögen wechseln, soviel sie wollen, das Princip
bleibt immer dasselbe; und noch in der durch Kant und Fichte vollzogenen ra¬
tionalistischen Auflösung des Christenthums ist das Princip des kategorischen
Imperativs aus das strengste gewahrt: die Welt ist geschaffen, damit in der¬
selben das Recht zur Erscheinung komme. Dieses Princip unterscheidet die
Kantische Religion, obgleich sie alle Wunder, Dogmen und Symbole von sich
geworfen hat, himmelweit von allen Entwicklungen der heidnischen Weltan¬
schauung.
Das Buch verlangt ein sorgfältiges Studium und wird von keinem, der
sich überhaupt mit der Geschichte der Religion beschäftigt, zu umgehen sein.—
Die kleine Schrift über Sevilla ist der Grundlage nach ein interessantes,
sehr fein gearbeitetes, mit historischen Ercurfen verziertes Neisetagebuch, welches
in den anmuthigsten Formen viel nützliche Belehrungen gibt. —
Kurhessen hatte in neuester Zeit nicht mehr die Aufmerksamkeit auf isles
gezogen, welche früher selbst den unbedeutenderen Begebenheiten dieses Landes
geschenkt wurde. Eine gewisse Abspannung trat auf frühere Erregung ein,
und da einmal so ungewöhnliche Dinge in diesem Lande hatten geschehen
können, erregte alles Folgende, mochte es auch noch unerhörter sein, kein
Erstaunen mehr. Die europäischen Angelegenheiten haben die kurhessischen
vollends in Vergessenheit gebracht.
Neuerdings scheint jedoch Kurhessen ein neues Interesse zu erwecken.
Vielfach war bisher in Deutschland der Glaube verbreitet, daß das Mini¬
sterium Hassenpflug mit Einwilligung des deutschen Bundes verfahre. Unver¬
mutet tritt nun in diesen Tagen eine kleine Broschüre an das Licht, in
welcher die geheimen Bundesprotokolle in der kurhessischen Verfassungsangele¬
genheit ihrem wesentlichen Inhalte nach veröffentlicht werden.*) Wir sind er¬
staunt, diese Aufschlüsse zu erhalten. Herr Hassenpflug handelt darnach nicht
mit Einwilligung des Bundes, sondern gegen die bestimmt ausgesprochenen
Befehle desselben. Wir wissen nun, daß Herr Hassenpflug es unternommen
hat, die nach Anleitung des Bundestages berufenen Stände in der bekannten
Weise zu maßregeln, obgleich oder weil sie sich den Bun des pr otoko l l en
gemäß verhalten haben, und das arme Land gegen den bestimmt
ausgesprochenen Willen des deutschen Bundes und der deutschen
Großmächte in einem Zustande zu erhalten, welcher seines Gleichen in
Deutschland nicht findet.
Wir können es nicht glauben, daß der deutsche Bund, daß die deutschen
Großmächte von dieser Handlungsweise bisher vollständig unterrichtet waren.
Man könnte fragen, weshalb von den Ständen keine Beschwerde erhoben sei?
Und daran die Behauptung knüpfen, daß der Bundestag eben nicht abhelfen
könne, weil wo kein Kläger auch kein Richter sei. Daraus wird auch von
dem Verfasser der uns vorliegenden Broschüre der ständischen Commission ein
Vorwurf gemacht. Es ist dabei aber außer Acht gelassen, daß durch den noch
immer verhängten Kriegszustand und durch ein proviforisches Staatsdicnstgesetz
es einzelnen Mitgliedern der Commission fast zur Unmöglichkeit wird, sich
gegen die Regierung selbst beim Bunde zu beschweren. Auch dies haben die
Bundescommissare nach Ausweis der jetzt^ kundgewordenen Acten freilich nicht
gewollt, Herr Hassenpflug legt ihre Anordnungen nur in seiner Weise ans,
und leider gibt die zweideutige Fassung so mancher Bestimmung der proviso¬
rischen Verfassungsgesetze seinem bekannten Jnterpretationstalente den weitesten
Spielraum.
Indessen ist unsrer Ansicht nach eine Beschwerde des Ausschusses gar
nicht nöthig, um den Bundestag zum Einsehn und zum Einschreiten zu 'ver¬
anlassen. Denn die kurhessische Verfassungsangelegenheit befindet sich ja be¬
kanntlich im Erecutionsverfahren. Ist der Bund auch nicht officiell durch
Hie Stände des Landes in Kenntniß gesetzt worden von dem, was im Lande
geschieht, so genügen die auf Notorictät beruhenden, durch die Presse bekannt
gewordenen Thatsachen vollkommen, um diejenige Kenntniß beim Bunde
voraussetzen zu lassen, welche dessen Einschreiten rechtfertigt, ja fordert. Der
deutsche Bundestag hat zum öfteren sich bestimmen lassen, Beschlüsse zu fassen
und in die inneren Angelegenheiten eines Bundeslandes, auch ohne daß sich
eine solche Angelegenheit im Erecutionsverfahren befand, sehr stark
einzugreifen. Es ist zu hoffen, daß er es auch in diesem Falle thun werde,
wo das Erecutionsverfahren noch schwebt und in jedem Augenblick ein unmit¬
telbares Einschreiten zuläßt; in einem Falle, wo die Männer aller Parteien
und die conservativsten am meisten danken würden für die Beseitigung eines
Systems, welches inmitten der ruhigsten Zustände ohne Ende und Absehen des
Kriegszustandes zu seiner Existenz bedarf.
Bekanntlich wurde durch Bundesbeschluß sür Kurhessen eine provisorische
Verfassung et. 6. 13. April 1832 gegeben, jedoch mit der Auslage an die kur¬
hessische Regierung „diese Verfassung nebst Wahlgesetz und landständischer Ge¬
schäftsordnung der in Gemäßheit der Verfassung und des Wahlgesetzes einzu¬
berufenden Ständeversammlung zur Erklärung vorzulegen und von dem Resultate
dieser Erklärung eventuell der etwaigen weiteren Verhandlung bei der demnäch-
stigen Nachsuchung der Garantie des deutschen Bundes für die revidirte Ver¬
fassung des Kurfürstenthums der Bundesversammlung Mittheilung zu machen."
Eine Ende 18S3 erschienene anonyme Broschüre*), wie es scheint aus den
Mittheilungen der Abgeordneten entstanden, hatte das serner stehende Publicum
von dem gewaltthätigen Verfahren gegen die auf Grund der Bundesvorschrist
zusammengerufene Ständeversammlung unterrichtet. Selbst den Nicepräsidenten
der zweiten Kammer, zugleich Referenten für die Verfassung, das Wahlgesetz
und die Geschäftsordnung — (er war einer von den wenigen Männern, welche
bis dahin mit Hassenpflug gegangen waren, und von ihm selbst zur Pro¬
fessur der Staatswissenschaft einberufen) — hatte man erst mit Drohungen,
dann mit Gewalt wieder entfernt; drei andre Abgeordnete wurden unter den
nichtigsten Nonvänden ausgeschlossen und die durch diese vier Abgeordneten
vertretenen Wahlbezirke, wozu insbesondere die drei Provinzialhauptstädte Fulda,
Hanau und Marburg gehörten, ließ man nicht wieder wählen. Durch Scheffer,
den zum Präsidenten der zweiten Kammer gemachten, bekannten vormärzlichen
Staatsrath ließ hierauf Hassenpflug der ihrer Intelligenzen beraubten, führer¬
losen, aus kleinen Land- und Stadtbürgermeistern zusammengesetzten Kammer
mit den ärgsten Drohungen zusetzen, um sie einzuschüchtern. Scheffer hatte mit
dem preußischen Commissär Herrn Uhden und Herrn Hassenpflug gemeinschaftlich
die provisorische Verfassung ausgearbeitet, und man setzte von vielen Seiten des¬
halb voraus, daß er in die Intentionen des Bundestags eingeweiht sei. Herr
Scheffer bedrohte gleichsam im Namen deS Bundes die zweite Kammer mit
einer neuen Erecution, wenn sie nicht der intendirten Gewaltthätigkeit der
Ausschließung von vier Deputirten unter den frivolsten Vvrwändeiv beistimmen
würde. Hassenpflug selbst erklärte zu verschiedenen Malen in der Kammer, daß
die Zustimmung auch der neuen Kammern zu der provisorischen Verfassung ihm
ganz gleichgiltig sei: sie würde auch ohne Zustimmung der Stände durch
Verordnung aufrechterhalten werden. Man hielt es für eine Unmöglichkeit,
daß er dergleichen Erklärungen abgeben würde, ohne einen bestimmten Rückhalt
am deutschen Bundestage zu haben. Daher ließen sich viele einschüchtern. Nur
einzelne wagten zu zweifeln, und die jetzt kundgewordenen Protokolle beweisen,
daß sie recht hatten, und daß Hassenpflug und Scheffer, indem sie durch eine
bevorstehende neue Vundeserecution das arme Land erschreckten, grade das
Gegentheil von dem behaupteten, was ihnen der Bund vorgeschrieben hatte.
Dieses Factum ist so unerhört, daß es auch jetzt uoch schwerfallen wird, daran
zu glauben. Doch kaun es durch die unverdächtigsten Zeugen beglaubigt wer¬
den, und wenn der hohe Bundestag die einzelnen Mitglieder auf Eid und Ge¬
wissen vernehmen lassen will, so mag er die Wahrheit leicht erkunden. Doch
reden die notorischen Verhältnisse laut genug. Der Bund gibt Herrn Hassen¬
pflug auf, die Erklärung der Stände in Bezug auf die provisorische Verfassung
in geschäftsordnungsmäßiger Weise zu vernehmen und ihm dann mitzutheilen.
Hassenpflug thut weder das eine noch das andre. Er decimirt die Kammer,
welche durch Bundesanvrdnung zur Erklärung über die Verfassung bestimmt
wurde. Als aber auch dieses nicht zum Ziele führt, ändert er Gesetze, die er
nach Vorschrift des Bundes den Ständen zur Beistimmung vorlegen soll, durch
Verordnung eigenmächtig ab, ja, er erläßt diese Verordnung noch während des
Beisammenseins der Stände. Als endlich die zweite Kammer sich im November
ermannt, als die Erklärungen von jeder der beiden Kammern in verschiedener
Weise erfolgen, um die ständischen Rechte zu wahren, schließt er plötzlich die
Ständeversammlung, ohne beiden Kammern nur die Zeit zu lassen, sich wenig¬
stens über die in ihren respectiven Erklärungen liegenden Differenzen zu ver¬
ständigen. Die beiden Kammern hatten aber nach der provisorischen Geschäfts¬
ordnung, welche auf Anordnung und unter, Beistimmung des Bundes erlassen
ist, ein vollkommenes Recht, über ihre übriggebliebenen Differenzpunkte in einem
Conferenzausschusse eine Einigung anzustreben. Indem sie hierauf ihren An¬
trag stellten, thaten sie nur, was ihnen der Bund vorgeschrieben, und was
sich der Natur der Sache nach von selbst versteht. Nach der Schließung der
Ständeversammlung wird sodann ein Landtagsabschied erlassen, als ob die
Stände ihre Ausgabe erfüllt und alles berathen und beschlossen hätten, was
ihnen von Bundeswegen vorgelegt war. Aber von allem war doch nichts er¬
ledigt; nicht Verfassung, nicht Wahlgesetz, nicht Geschäftsordnung; letztere beide
waren noch gar nicht zur Berathung gekommen; kein einziges jener provisori¬
schen Gesetze, welche angeblich auf Veranlassung von Buudescommissarien, unter
Vorbehalt der Zustimmung der Stände, und wie es in dem Bericht der
Commissarien an den Bund sogar heißt, der demnächst zusammentreten¬
der Stände, erschienen waren.
Mit diesem Gewaltschritte war aber der Minister noch immer nicht am
Ende. In dem Landtagsabschiede will er schon mit der bloßen Vorlage der
provisorischen Gesetze an die Stände die Giltigkeit derselben, auch ohne Bei¬
stimmung der letzteren, erlangt haben. Das Budget stellt er ohne weiteres,
ohne es mit den Ständen zu vereinbaren,. durch Verordnung im Gesetzblatt
fest. Durch Verordnung ändert er die Gemeindeordnung und entzieht einer
großen Anzahl von Personen das ihnen nach dem Gesetze von zukom¬
mende Bürgerrecht; — entzieht ihnen damit das ihnen vom Bunde zu-
ertheilte active, beziehungsweise passive Wahlrecht zur Stände¬
versammlung.
Der Bundesbeschluß, durch welchen der kurhessischen Negierung die
Vorlage der provisorischen Verfassung an die Stände, zu deren Erklärung auf¬
gegeben wurde, enthält zugleich die Auflage „sie der in Gemäßheit dieser pro¬
visorischen Verfassung und des provisorischen Wahlgesetzes einzuberufenden
Ständeversammlung vorzulegen." Der Bundesbeschluß sagt aber nicht, daß
Hassenpflug mit irgendeiner, vielleicht nach zehnmaliger Auflösung gebil¬
deten Ständeversammlung die Sache etwa nach zwanzig Jahren erledigen,
fondern daß er der auf Grund des unter Bundesautorität erlassenen Wahl-
gesetzes zusammenberufenen Ständeversammlung die provisorische Verfassung
zur Erklärung vorlegen und von dieser Erklärung, eventuell den etwaigen
weiteren Verhandlungen dem Bunde Nachricht geben solle. Könnte Herr Hassen¬
pflug gegen den, Sinn des angezogenen Bundesbeschlusses die Ständever-
sammlung berufen und schließen, so oft es ihm beliebt, und ehe sie über die
Bundesvorlagen sich erklärt, so könnte er damit die provisorischen Zustände
des Landes beliebig verlängern und das Land noch zwanzig Jahre in Kriegs-
zustand erhalten. Der Bund hat aber unzweifelhaft das Recht und die
Pflicht, auf die endliche Befolgung seiner Beschlüsse zu dringen und Herrn
Hassenpflug zu nöthigen, daß er die auf Grund des unter Bundesautorität
erlassenen Wahlgesetzes zusammenberufene Ständeversammlung wieder einberufe,
und ihr die Zeit gönne, deren sie bedarf, um sich über die zwischen beiden
Kammern hervorgetretenen Differenzpunkte zu einigen und Wahlgesetz, Ge¬
schäftsordnung, sowie die sonstigen provisorischen Gesetze zu berathen. Der
Bundesbeschluß ist deutlich und klar; die weitere Beschlußnahme des Bundes
kann unseres Bedünkens rechtlich keinem Zweifel unterliegen. Politische Be¬
denken können nicht entgegenstehen, weil Deutschland wol noch nie eine so
loyale und konservative Ständeversammlung beisammen sah, als die kurhessische
vom Jahr -I8S2.
Indem nun aber Herr Hassenpflug diese Ständeversammlung auflöst,
mit welcher er doch nach Bundesbeschluß die Verfassungsfrage erledigen sollte,
will er nicht etwa blos mit einer neuen Ständeversammlung dasselbe Spiel
nochmals versuchen, sondern er ändert zugleich das Wahlgesetz, und damit eine
Bundesvorschrift, durch Verordnung. Das provisorische Wahlgesetz
von 1852 setzte nämlich fest, daß -16 Abgeordnete von den Grundbesitzern,
welche über 200 Acker Land besitzen, -16 von den Städten und -16 von den
Landgemeinden in die zweite Kammer gewählt werden sollen. Die 32 Ab¬
geordneten der Stadt- und Landgemeinden sollen durch Wahlmänner gewählt
werden und diese bestehen aus dem Bürgermeister, dem Gemelnderatl), Ge-
meindeausschuß und aus einer den Vorgenannten gleichstehenden Anzahl von
Zunft- und Gildemeistern, Zunft- und Gildegenossen, sowie unzünftigen Fa¬
brikbesitzern und Großhändlern, wo solche vorhanden sind. Die Körperschaft
der Wahlmänner wählt den Abgeordneten aus ihrer Mitte. Indem der
deutsche Bund diesem Einwurf seine Autorität verlieh, -gab er damit zu er¬
kennen, daß eine Veränderung der Grundlagen desselben nicht einseitig durch
die kurhessische Regierung geschehen könne. Der Gemeinderath und Gemeinde¬
ausschuß wurde nach dem Gesetze von -I83L erwählt, und aus die Voraus¬
setzung dieser Wahlmethode der genannten Körperschaften hatten die Bundes-
commissarien, hatte der Deutsche Bund das neue provisorische Wahlgesetz
gegründet. Daß aber diese Wahlmethode einseitig von der Regierung durch
Verordnung abgeändert werden könne und daß hierdurch nach Belieben eine
ganz andere Wahlart von 32 Abgeordneten, also von zwei Dritteln der zweiten
Kammer erzielt werden dürfe, als der Bund festsetzte; daran hat wahrscheinlich
der Bund nicht gedacht. Ja Herr Hassenpflug selbst hat früher nicht daran
gedacht, sondern die Nichtigkeit des von uns ausgesprochenen Grundsatzes
anerkannt. Denn er sagt in den Motiven zu der Gesetzesvorlage, die Ab¬
änderung der Gemeindeordnung betreffend: „bestimmen die Elemente, aus
welchen die Körperschaft der Gemeinde besteht, wenn die Bildung der Ge¬
meindebehörden ihnen anvertraut ist, mit Nothwendigkeit das Ergebniß der
Auswahl,der zu letzteren zu berufenden Personen, und mußte andererseits bei
der Wiederbelebung ständischer Verhältnisse die Verfassungsurkunde Landstände
zu sehr erheblichem Theile aus den Gemeindebehörden hervorgehen lassen, so
konnte es wegen dieses Zusammenhanges nicht zweifelhaft sein, daß Anord¬
nungen, welche den Bereich der Mitgliedschaft der Gemeinden und die Be¬
schaffenheit der Gemeindeobrigkeit festzustellen bezwecken, in das die landständische
Mitwirkung erfordernde Gebiet der Gesetzgebung gehören" (vgl. Beilage Li- der
Verhandlungen der zweiten kurhessischen Ständekammer 1853). Der Minister
besinnt sich jedoch bald wieder eines Anderen. Er ändert die Gemeindeordnung
einseitig auch in den Punkten ab, welche unmittelbar mit dem Rechte der
landständischen Wahl und Vertretung in Verbindung stehen — und behauptet
dann, daß er dies nach ez. 75 der provisorischen Verfassung dürfe, weil der
Ausdruck: „Organisation" auch die Gemeindeordnung in sich fasse, mithin
auch durch Verordnung zu derselben Aenderungen getroffen werden könnten.
Weil er sich nicht getraut, unmittelbar das provisorische Wahlgesetz selbst an¬
zugreifen, welches der Bund vorläufig sanctionirte, so versucht er es indirect
umzuändern, indem er die Voraussetzung, auf der es beruhte, ändert. Und
in welcher Weise ändert! Daß er mehren Personen durch Verordnung das
Wahlrecht genommen, ist schon gesagt. Aber er hat auch den Wahlmodus
zur Erwählung des Gemeindeausschufseö und Gemeinderathes dadurch abge¬
ändert, daß er in den mittleren und größeren Städten statt von der gesammten
Bürgerschaft von einzelnen willkürlich herausgesuchten Abtheilungen nur eine
bestimmte Anzahl der Gemeindebehörden Mitglieder wählen läßt. Ferner schreibt
er in dieser Verordnung vor, daß nur absolute Stimmenmehrheit sämmtlicher
zur Wahl berechtigter (also auch der nicht wählenden oder abwesenden) Bürger
sür jeden in die Gemeindebehörden Gewählten erforderlich sei» solle. Hiermit
wird eine Wahl der Gemeindebehörden in den mittleren und größeren Städten
zur Unmöglichkeit; selbst die kleinsten wählen nach diesem Modus schon seit
sechs Monaten vergeblich. Es ist daher die sichere Aussicht vorhanden, daß
in den bei weitem meisten Städten eine Wahl vor Ablauf von Jahren gar
nicht zu Stande kommen kann und daß diese Städte daher in der nächsten
Ständeversammlung gar nicht vertreten sein können. Dieses scheint über¬
haupt der Zweck der ganzen Verordnung zu sein. Man will versuchen, mit
den Abgeordneten des platten Landes, welche aus 32 Personen bestehen, die
neue Verfassung dem Lande aufzubürden. Denn es bedarf ja nur 33 Ab¬
geordneter, um die zweite Kammer beschlußfähig zumachen, einige Abgeordnete
aus den Städten würden sich wol noch finden. Aber auch hiermit noch nicht
genug. Herr Hassenpflug trifft noch weitere Vorkehrungen zur Durchsetzung sei¬
nes Willens. Er gibt in der Verordnung vom 22. December 1853 ez. 8 die
Vorschrift, daß den zu Gemeindeausschuß- und Gemeinderathsmitgliedern er¬
wählten Personen die Bestätigung (die Gesetzmäßigkeitserklärung) versagt werden
soll, wenn bei ihnen eine feindselige Parteinahme gegen die Staatsordnung
oder gegen die Staatsregierung auf irgendeine Weise vorgetreten sei. Diese
„Gesetzmäßigkeitserklärung" geben Verwaltungsbehörden und in letzter Instanz
das Ministerium ab. Die Negierung kann also für 32 Abgeordnete (Stadt-
und Landgemeinden) sich die Wahlmänner selbst zusammensetzen, beziehungs¬
weise jeden ihr mißliebigen Wahlmann beseitigen. ^
Selbst in dem nicht ganz unwahrscheinlichen Falle, daß Hassenpflug ge¬
nöthigt würde, binnen kurzem die Stände, also die bereits geschlossene Stände-
versammlung wieder einzuberufen, weil die dringenden finanziellen Bedürfnisse
des Landes keinen Aufschub mehr erlauben, sind durch die bereits geschehenen
Gewaltthätigkeiten die Stände kaum noch zum Widerstand fähig. Eine Reihe
von Bürgermeistern, welche Mitglieder der zweiten Kammer sind, sollen unter
allen Umständen auf Grund der Verordnung vom 23. December 1853 aus¬
geschieden werden. Herr Hassenpflug beruft nämlich diese Personen gar nicht
ein, die zweite Kammer bleibt beschlußfähig, aber die bisherige Majorität der
Kammer wird zur Minorität und damit ist dann auch die Einberufung jenes
Deputirten durch die Kammer unmöglich geworden. Herr Hassenpflug wird
dann vielleicht selbst die Wahl in die unvertretenen Wahlbezirke anordnen, aber
bevor diese geschehen kann, hat er in der zweiten Kammer alles durchgesetzt,
was er will. Für beide Fälle, nämlich für den Fall einer Neuwahl oder
für den Fall der Wiedereinberufung der alten Ständeversammlung hat er
Fürsorge getroffen, daß von den größern Grundbesitzern mehre Personen, die
bisher mitwählten, ausgeschieden werden, indem er bei den vorschriftsmäßigen
200 Ackern die Waldungen nicht mit einrechnen will. Nach dieser Inter¬
pretation würden nämlich zwei Deputirte der Opposition ausfallen und die
künstlich hervorgebrachte Minorität hätte kein Mittel, dieser ungesetzlichen Aus¬
scheidung entgegenzutreten. Kann es, fragen wir, die Absicht der Bundes¬
versammlung sein, solchen Zuständen noch ferner ruhig zuzuschauen?
Nach unsrer Ansicht gibt es nur einen Weg für die Bundesversammlung:
dieselbe muß dem Minister befehlen, den Bundesbeschluß vom 27. März 18S2
sofort zu vollziehen, die Stände, von welchen die Erklärung über die
provisorische Verfassung zu geben ist, wieder einzuberufen, und zwar voll¬
ständig, und nicht zu dulden, daß man mit willkürlich decimirten Stände¬
kammern versandete. Herr Hasscnpflug hat vor kurzem eine Denkschrift an
den Bund gerichtet, worin er sein Verfahren zu vertheidigen sucht. Der be¬
kannte Herr v. Strauß, lippescher Bundestagsgesandter, hofft viel davon und
hat sogar eine Mitwirkung des Bundestagsrcferenten in der kurhessischen
Verfassungsangelegenheit am Bunde des Gesandten für Mecklenburg, Herrn
v. Oertzen, in Kassel in Aussicht gestellt. Nach der Broschüre ist aber grade
Herr v. Oertzen derjenige, der den obenerwähnten Bericht verfaßt und ver¬
theidigt hat. Und darin findet man eben keinen Grund für jene kühne Hassen-
pflugische Hoffnung. Die kurhessische Vcrsassungsangelegenheit ist jetzt auf einem
Standpunkte angelangt, wo der Bund einschreiten muß. schenkt er der
Presse keinen Glauben, so überzeuge er sich durch die Absendung eines Com-
missars, welcher beide Theile, Regierung und Stände, aber auch die Opposition
zu hören hat. Es kann nicht im Interesse des Bundestags liegen, wenn das
Land Hessen in einem Zustande erhalten wird, bei welchem es zu Grunde geht.
— Wir haben bereits in den früheren
Heften darauf aufmerksam gemacht, daß bei der ehrenvollen Haltung, die
Oestreich in der auswärtigen Politik eingenommen hat, von ihm zu hoffen
und zu wünschen ist, es werde auch in den innern Angelegenheiten sich der
nationalen Sache annehmen, umsomehr, da es in manchen Punkten frühere
Irrthümer gut zu machen hat. Als einen derselben haben wir die kurhessische
Frage bezeichnet, und so kam uns die vorstehende Darstellung, die uns aus
glaubwürdiger und sehr konservativer Quelle zugegangen ist, sehr gelegen,
wenn wir auch mit der politischen Auffassung des Einsenders nicht ganz über¬
einstimmen, und wenn wir auch offen gestehen müssen, daß der factische In¬
halt uns selbst überrascht hat.
Durch die Eilfertigkeit, mit der man 1848 neue Verfassungen einrichtete,
kamen mehre deutsche Staaten in die Lage, die Hoffnung einer gesetzlichen
Modification aufzugeben, und ohne Rücksicht auf das formale Recht durch
thatsächliches Eingreifen die alten Verhältnisse wiederherzustellen. Rechtfertigen
kann die Geschichte ein solches Verfahren niemals. eine Entschuldigung findet
es durch den Erfolg. Fast in allen deutschen Staaten hat der Erfolg für die
Regierungen gesprochen, und es kann nicht in unsrer Absicht liegen, alte
Wunden wieder aufzureißen.
Kurhessen macht eine Ausnahme. Die Eingriffe des Ministeriums Hassen-
pflug haben ihren Zweck nicht erreicht, das Land ist nicht beruhigt, die ge¬
setzlichen Zustände sind nicht geordnet, die nothwendige Uebereinstimmung
zwischen der Autorität und der Masse der Bevölkerung nicht hergestellt. Ab¬
gesehen von dem moralischen Urtheil muß man daher behaupten, daß das
Verfahren des Ministeriums Hassenpflug ungeschickt gewesen ist.
Das dürfen seine Verehrer in dem übrigen Deutschland nicht aus den
Augen setzen. Daß sich in der strengconservativen Partei solche finden, nimmt
uns nicht Wunder. Einmal war der Name Hassenpflug die bete noirs der
gesammten Opposition geworden, und wie das bei Volksstimmungen zu ge¬
schehen pflegt, man fand kein Maß und Ziel, ihn mit jeder Art von Schmä¬
hung zu überhäufen. Grund genug für die Gegner, sich seiner anzunehmen.
Sodann hatte seine Handlungsweise den Anschein von Kraft und Entschlossen¬
heit, und dieses besticht, auch wo man sie nicht ganz billigt. Mußte doch
selbst Herr von Bismark-Schönhausen öffentlich erklären, er stimme mit den
übereilten Schritten seines politischen Freundes nicht überein.
Jener Anschein widerlegt sich, wenn man den Aufwand von Mitteln mit
dem Resultat im Vergleich stellt. In Staatsverhältnissen ist Kraft ohne rich¬
tige Rechnung uicht denkbar.
Was nun die Einmischung des Bundes betrifft, so finden wir diese aller¬
dings nur in ganz abnormen Verhältnissen gerechtfertigt. Wenn aber die
vorige Darstellung vollkommen begründet ist, — und das muß sich doch leicht
ermitteln lassen — so ist diese Abnormität in der That vorhanden. Es muß
dem Bunde darauf ankommen, daß die Ausnahmezustände in Deutschland
überhaupt aufhören, und er'muß sich davon überzeugt haben, daß auf dem
bisherigen Wege in Kurhessen dies Ziel nicht zu erreichen ist; es muß ihm
ferner darauf ankommen, das Ansetzn seiner Autorität nicht durch falsche Wege
vergeuden zu lassen. Hätte der Bund 1838 in der hannöverschen Angelegen¬
heit gezeigt, daß er den Rechtszustand ebenso gegen Eingriffe von oben als
von unten zu vertheidigen gedenke, so wäre von der Mißstimmung gegen dies
Institut, die sich 1848 auf eine so eclatante Weise herausstellte, keine Rede
gewesen. Die kurhessischcn Verhältnisse sind also die beste Gelegenheit für ihn,
auch im Volke sein Ansehn zu befestigen, umsomehr, da es in seiner Macht
steht, so schonende Formen anzuwenden, als er irgend für geeignet hält. —
Was die große Angelegenheit betrifft, so machen wir auf die dritte Auflage
der von uns bereits besprochenen Schrift: „Kann Preußen fernerhin neutral
bleiben?" (Leipzig, Geibel) aufmerksam. Nach der neuerdings publicirten In¬
struktion für den Bundespräsitialgesandten kann es keinem Zweifel unterliegen,
das, diese Schrift in der That die Ansichten der östreichischen Regierung aus¬
spricht. Es ist daher zu hoffen, daß die preußischen Staatsmänner ihre Lage,
die ihnen hier sehr ernst auseinandergesetzt wird, auch ernst auffassen werden.
— Einer meiner Bekannten, dem ich einige Gulden ge¬
borgt, hatte das Unglück, mir einige Zeit darauf in einer engen Gasse zu be¬
gegnen. Entschlüpfen war nicht möglich und so drückten wir uns recht freund¬
schaftlich die Hand, wobei ich eine leise Erinnerung an jenes kleine Darlehn fallen
ließ. Der gute Bekannte räusperte sich erst gewaltig und sagte dann mit der
naivsten Miene: Hin, hin, bin heute sehr verschleimt, verdammter Schnupfen!
Natürlich konnte ich nur mein tiefstes Beileid ausdrücken und mit einem noch
herzlicheren Händedruck mich entfernen. Unsre Börse ist auch sehr verschleimt. Der
Schnupfen von der Krimerpedition geht ihr nicht aus den Gliedern. Die rus¬
sischen Depeschen, obwol sie fast täglich die Widerholung dessen bringen, was
sie gestern gebracht haben, schlagen doch, wie ein Novemberregen, alle gute
Laune nieder. Auch in unsren diplomatischen Kreisen begegnet man nicht mehr
den heiteren Gesichtern wie vor wenig Wochen. Die Zuversicht in den baldigen
Fall der taurischen Festung ist sehr erschüttert. Man spricht nur noch, wie der
Moniteur, avec onde rssorve von dem möglichen Gelingen der ganzen Erpedition
für dieses Kriegsjahr. Am besten ist noch bei der Chance dieses heißblütigen Feld-
zuges unser Cabinet gestellt. Es hatte vom Anfang an offen erklärt, daß seine
Politik von der Entscheidung betreff Sebastopols ganz unabhängig sei. Auch
Herrn von der Pfordten, dem neuen Hort unsrer Friedensfreunde, wurde dies
unumwunden erklärt. So wird der baierische Premier den Eindruck von hier
mitnehmen, daß das Programm der östreichischen Stellung in der jetzigen Krisis
klar und fest vorgezeichnet ist. Ob es ihm nun gelingen wird, auf diese Ueber¬
zeugung hin weiter zu vermitteln? Wer noch die deutschen Geschichten deS
jüngsten Jahrzehnts im Kopfe hat, kann sich bei dem Namen von der Pfordten
nickt der Erinnerung entschlagen, wie der ehemalige Professor und Rector der
Leipziger Universität es so gut verstand, die ungeberdigen Markomanen und
Cherusker (ter Studentenschaft) im Zaume zu halten und manchen ernsten
Zwiespalt zwischen diesen deutschen Stammesgenossen und den Nachtwandlern
in der humanster Weise zu' vermitteln. Wenn es ihm schon damals, ehe er
noch in die eigentlich diplomatische Carriere eingetreten, so gut gelungen war,
die Uneinigkeit jener entschieden deutschen Mächte beizulegen, warum sollte ihm
heute, wo er sich im Bereiche der diplomatischen Thätigkeit bewegt, nicht um so ge¬
wisser das schwierige Vermittlungswerk gelingen?— Ich will nicht gradezu behaup¬
ten, daß die Staatsmänner, welche am Wiener Hofe die orientalische Frage im
Interesse der verschiedenen deutschen und auswärtigen Mächte handhaben, sich diese
Reminiscenz aus dem Leben des deutschen Friedensstifters jetzt zu Nutze gemacht
haben. Gewiß ist aber, daß Herr von der Pfordten in allen politischen Kreisen
hier die freundlichste Aufnahme gefunden, ja daß das gehäbige Auftreten, das
liebenswürdige Wohlwollen, wodurch seine Persönlichkeit so sehr zu gewinnen
weiß, besonders bei den Diners der westmächtlichen Gesandten ein sichtliches
Behagen über die ganze Gesellschaft verbreitet hat. Die verschlossensten Herzen,
die zugeknöpftesten Geister unter den Diplomaten konnten nicht lange wider¬
stehen; Herrn von der Pfordten war es gegönnt, einen Blick in die geheimsten
Falten der orientalischen Wäsche zu werfen (für einen Mann von reinlichen
Grundsätzen gewiß keine angenehme Aufgabe), und es hing nur noch an einem
Faden, baß die entenw eoiäiul« zwischen Baiern und den westlichen Mächten
eine vollständige und herzliche geworden wäre — aber aveo onde rsssrve. —
Herr von der Pfordten erinnerte sich noch zu rechter Zeit dieses Stichworts
der jetzigen Situation, dankte verbindlichst für die gefällige Auskunft und trat
— wie ein junger Diplomat meiner Bekanntschaft bemerkte — mit einem ver¬
klärten staatsmännischen Lächeln seine Rückreise nach München an. An der
Börse, auf deren andauernde Verschleimung die Anwesenheit des baierischen
Ministers so lindernd wie Eibischthec gewirkt hat, cursirte heute jenes Ab¬
schiedslächeln in photographischem Abdruck, la dausse und 1a Kaisss blickte
darnach wie ein Kranker nach dem Pülverchen des Homöopathen; aber die er¬
leichternde Wirkung blieb aus, es wirkte eben nur wie — Milchzucker; Stock¬
schnupfen' und flaue Stimmung kehrten unaufhaltsam wieder. Hoffen wir, daß
eine aufregende Krimdepesche ein kräftiges Niesen hervorbringen werde. Zur
Genesung! wollen wir dann im echten Wiener Ton zurufen. —
Das Geschäft, welches der Pariser Credit mobilier betreffs der Verpachtung
der Staatsbahnen mit unsrer Regierung abgeschlossen, bildet natürlich jetzt das
Hauptthema der Unterhaltung in unsren Finanzkreisen. Zwei unsrer ersten
Banquiers, Sina und Eskeles, sind bekanntlich bei dem Geschäft betheiligt.
Ihnen allein dürfte vielleicht der ganze Umfang deö Staatseigenthums an
Eisenbahnen, Waldungen, Bergwerken, Fabriken u. s. f., welche der Gesellschaft
theils in Pacht, theils als Eigenthum überlassen wirb, ziffermäßig bekannt
sein. Für welchen Theil das Geschäft ein rentableres ist, wird sich solange
nicht bestimmen lassen, als nicht die genauen Schätzungen jener Immobilien be¬
kannt sind. Im allgemeinen ist man aber der Ansicht, daß selbst bei augenblick¬
lichen Opfern der Staatsverwaltung dennoch der Abschluß dieses Vertrages für
die materielle Zukunft des Landes von großem, wirklich unberechenbarem Nutzen ist.
Der Mangel an flüssiger Baarschaft hat sich bisher nicht nur in dem schlechten
Stande der Valuta und in den Stockungen der Finanzoperationen im Großen
kundgegeben, er machte sich auch in allen industriellen Unternehmungen, in
allen kleinsten Verhältnissen unsrer Landwirthschaft und unsres Gewerbebetriebs
fühlbar. Oestreich besitzt alles, was zur reichsten Blüte des materiellen Wohl¬
standes führen kann, eine reiche Urproduction, günstige klimatische Verhältnisse,
tüchtige Arbeitskräfte, natürliche Verkehrsmittel, industrielle Bildung und ein
reges Streben in allen Fächern der materiellen Entwicklung, kurz alles, was
Natur und Menschenverstand zum Gedeihen eines großen Staates anfrieren
kann, alles — nur kein Geld; Geld in der nackten klingenden Bedeutung des
Wortes. Wir sind Crösusse an productiven Ideen, das Gold in tausendfach
roher Gestalt fließt wie in vielen unsrer Flüsse an uns vorüber, wohin wir auch
im großen Reiche blicken, und wir können es nicht schöpfen und zu edler Münze
verarbeiten, weil uns die ersten Mittel und Werkzeuge dazu fehlen. Geld,
wirkliches silbernes und güldenes Geld muß vor allem wieder ins Land kom¬
men, Geld, möchte man sagen, um jeden Preis. In dieser Weise betrachtet,
muß der Abschluß jenes Eisenbahnvertrages in jeder Beziehung vortheilhaft
erscheinen. Die Spekulation, von fremden Capitalien getragen und unterstützt,
wird sich auf die Ausbeute der reellen Grundlagen des Nationalwohlstandes
werfen, durch die Eisenbahnen, welche rasch in Angriff genommen und vollendet
werden, wird der Weg in die bisher unbebauten Ebenen Ungarns und in die
überreichen Kornkammern der untern Donaugegend ebenso wie in die erz- und
kohlenreichen Schachten und Muthungen unsrer Gebirgsländer gebahnt werden;
tausend Hände werden zu neuen Industrien in Bewegung gesetzt, ein rascher
Austausch und Verkehr zwischen den Erzeugern der Rohstoffe und der veredeln¬
den Gewerbe wird die Emulation der Waaren erhöhen, neue Werthe ins
Leben rufen. Dann erst können die Zvllreformen und andre administrative
Maßregeln, welche seit einigen Jahren in mancher Beziehung deu wirklichen
materiellen Zuständen vorangeeilt sind, ihre belebende Wirkung äußern und
dann erst können wir auch darauf rechnen, daß die Valutaverhältnisse auf einen
gesunden, dauernden Stand zurückkehren werden. Alle kleinen Finanzmittel,
welche hie und da zur Wiederherstellung unsrer Landeswährung empfohlen
werden, würden höchstens als Palliative von einem Börsentage zum andern
nützen; gründlich und für alle Zukunft aber wird nur dann geholfen sein, wenn
das ganze Land durch Aufbietung seiner eignen innern Kräfte das vom Aus¬
land geborgte Capital tausendfach sich selbst verzinst und aus den Zinseszinsen
ein neues großes Capital an productiven und industriellem Werthe gesammelt
haben wird.
In den journalistischen Kreisen sieht man mit Spannung dem Erscheinen
eines neuen großen Blattes entgegen, das unter dem Titel: „die Donau" unter
der Leitung Schwarzers, des bisherigen Redacteurs des „Wanderer", von
Neujahr ab erscheinen wird. Das Blatt soll mit großen Mitteln ins Werk
gesetzt werden und durch Aequirirnng bedeutender geistiger Kräfte zu einer gedie¬
genen Concurrenz mit den andern Großblättern in unsrer Presse bestimmt sein.
Vecleremo l Herr von Schwarzer, ein ergrauter Journalist, im Jahre 1848
einige Monate Arbeitsminister, dürfte wol das Zeug zu einem geschickte« Re-
dacteur haben. Ob aber unter den jetzigen schwierigen Verhältnissen das neuig¬
keitsüchtige Publicum überhaupt für eine ausgiebigere Kost empfänglich,sein wird,
steht noch in Frage. — Von kleinerem literarischen Klatsch will ich noch eines
Zweikampfes erwähnen, der natürlich auf dem Papier zwischen dem Herausgeber
der kleinen „Morgenpost", Namens Landsteiner und dem Altmeister des Wiener
Witzes — wie empfehlenswert!) dieser Titri, mögen Sie selbst entscheiden —
M. G. Saphir, seit einiger Zeit das große Publicum amüsirt. Ueber den
Thatbestand kann Ihr Corresondent nichts melden; aus dem einfachen Grunde,
weil er nie einen Blick in die „Morgenpost" oder in den „Humoristen" wirft.
Die Nachwelt wird mir diese Unterlassungssünde wol verzeihen. Daß es an
Schimpfworten und breitgeschlagenem Wiener Witz bei diesem illustren Kampfe
nicht fehlen wird, läßt sich erwarten, da M. G. Saphir in dieser Art literari¬
scher Thätigkeit sich einen wohlverdienten Namen erworben hat. Wie ich höre,
wird nun die Sache den Weg alles Fleisches vor die gewöhnlichen Gerichte
einschlagen und der alte Humorist seine letzten Fechtstückchen dem Actuar des
Bezirksgerichts ins Protokoll dictiren. Was die deutsche Leserwelt aber mehr
als diese literarische Klopffechtern interessiren dürfte, ist die sonderbare Nach¬
richt, welche ich auch nur avec toute rsservE mittheilen möchte, daß M. G. Sa¬
phir von einer hiesigen hohen Stelle, welche die Handels- und Finanzinteressen
des Landes zu leiten hat, nach Paris gesendet wird, um daselbst — Berichte
über die Pariser Industrieausstellung abzufassen! Sie Werdensich erinnern, daß
der Humorist hu-rud wöms schon einmal eine officiöse.Mission bei Gelegenheit
der Vermählung einer kaiserlichen Prinzessin mit dem Kronprinzen von Belgien
übernommen und dieselbe auch in seiner Weise recht befriedigend gelöst hat.
Ob nun ein königliches Beilager mit einer Weltindustrieausstellung soviel Gleich¬
artiges in der Idee und Ausführung haben, daß ein und derselbe Mann, ein
Mann wie M. G. Saphir, zur Beurtheilung und Verherrlichung der beiden
Ereignisse gleich befähigt sein sollte? .... Wie man sagt, beabsichtigt auch der
Allerweltshumorist ein deutsches Journal für die Zeit der Ausstellung in Paris
herauszugeben- Ein deutsches Journal in Paris! Auch kein schlechter Geoanke,
zwar nicht neu, aber schon oft dagewesen, stets mit gleichem, trostlosen Erfolg
zu Grabe gegangen. —
(Die Fortsetzung im Feuilleton.)
Spanische Blätter behaupten, daß bei den Unruhen, welche in Madrid
nach der Abreise der Königin Christine ausbrachen, der nordamerikanische Ge¬
sandte nicht ganz unbetheiligt gewesen wäre, und seine plötzliche Abreise aus
der Hauptstadt Spaniens, sowie sein früheres politisches Verhalten in seiner
Heimat, geben dieser Behauptung viel Wahrscheinlichkeit, Herr Pierre sont«,
der amerikanische Gesandte in Madrid, ist von Geburt ein Franzose, der bereits
vor 1830 wegen Preßvergehen sein Vaterland meiden mußte. In Amerika
practicirte er mit Glück als Advocat und hat sich überall als ein sehr energischer,
gescheidter und schlauer Mann gezeigt. Am bekanntesten hat er sich gemacht als
Führer der Partei, welche schon seit Jahren im Süden der Vereinigten Staaten
für die Anneration von Cuba agitirt, und als Förderer und Lobredner der
verschiedenen Raubzüge, welche von Neuorleans nach Cuba abgegangen sind.
Daß Präsident Pierce einen solchen Mann zum Gesandten in Spanien er¬
nannte, bewieß große Taktlosigkeit, oder den Vorsatz, die Diplomatie nicht zur
Ausgleichung, sondern zur Hervorrufung von Differenzen zu benutzen, und daß
das damalige spanische Ministerium sich einen solchen Gesandten gefallen ließ,
zeigt nur wie wenig es geeignet war, die Ehre der Nation, die es regieren
sollte, zu wahren. Die erste That in Spanien, durch welche sich Herr sont«;
bei dem europäischen Publicum einführte, war ein Zank mit dem französischen
Gesandten, Marquis de Turgot, wegen einer Aeußerung über Herr Soulvs
Gattin, welche Aeußerung ein dritter in Turgots Hause gethan hatte, und
diesem Zanke folgten zwei Zweikämpfe, in deren einem Herr Soulv Vater den
Marquis Turgot in das Bein schoß, und in deren anderem Herr Soule Sohn,
von dem Degen seines Gegners an einen Baum gedrängt,, vorzog sich für
überwunden zu erklären. Seit jener Zeit blieb Herrn Svulv die Madrider
Gesellschaft verschlossen.
Als Diplomat verdiente sich Herr Soulv seine Sporen bei der Zwistigkeit
wegen des Black Warrior, den die Negierung der Vereinigten Staaten für ihre
Eroberungspolitik ausbeuten zu wollen scheint, und der deshalb unsrer Er¬
wähnung verdient, so unbedeutend er an und für sich ist. Am 28. Februar
d. I. traf das Black Warriordampsschiff, das für gewöhnlich zwischen Mohne
und Neuyork fährt, aus Mohne in Havanna ein, angeblich mit Ballast, aber,
wie sich bei näherer Untersuchung fand, mit Baumwolle beladen, und die Be¬
hörde von Havanna war nach den klarsten gesetzlichen Bestimmungen vollkommen
berechtigt, wenn sie Schiff und Ladung confiscirte. Der Generalcapitän
de Pezuela, aus Rücksicht auf die Unbekanntschaft des Capitäns des Schiffs
mit den spanischen Gesetzen, wollte sich jedoch mit einer Geldbuße von 6000 Dollars
begnügen, welche schließlich das spanische Ministerium auf eine biltschriftliche
Eingabe der Schiffseigenthümer ganz erließ.
Die spanischen Behörden waren daher hier in ihrem vollen Recht,, von
dem sie noch dazu einen äußerst mäßigen Gebrauch machten, und die Eigen¬
thümer des Black Warrior können höchstens für sich anführen, das mehrjährige
Pflichtversäumniß der spanischen Behörden sie das Gesetz hat vergessen machen,
denn sie behaupten, daß der Black Warrior auf jeder seiner Reisen zwischen
Mohne und Neuyork, um Kohlen einzunehmen, in Havanna eingelaufen sei,
und stets, mehr um zeitkostende Formalitäten zu vermeiden, als um die spani¬
schen Staatskassen zu benachtheiligen, erklärt habe, in Ballast zu gehen, wenn
er auch volle Ladung gehabt hätte. Wenn dies wahr ist, so konnten die Eigen¬
thümer des Black Warrior eine vorherige Anzeige, daß solcher Mißbrauch nicht
länger geduldet werden würde, doch gewiß nicht von Rechtswegen, sondern
höchstens als eine Maßregel der Billigkeit verlangen.
Ganz anders faßte Präsident Pierce und die Annerationspartei in den
Vereinigten Staaten den Vorfall auf, der ihnen als eine vortheilhafte Ge¬
legenheit zur Förderung ihrer Eroberungspläne erschien. Ersterer schickte eine
sehr heftige Botschaft an das Repräsentantenhaus, in welcher er die Beschlag¬
nahme des Black Warrior als ein offenbares Unrecht bezeichnete, die Behörden
von Cuba gewöhnlichen Amtsmißbrauchs zieh und anzeigte, daß er bereits
Jnstructionen ertheilt habe, sofortige Entschädigung zu verlangen. Würde ihm
diese verweigert, so erklärte er in drohenden Ausdrücken seinen festen Entschluß
„die Ehre der amerikanischen Flagge aufrechterhalten zu wollen". Mit der
Geltendmachung der Forderungen des Präsidenten Pierce wurde natürlich Herr
South beauftragt. Er forderte nichts Geringeres als eine Entschädigung von
300,000 Piastern, die Entlassung sämmtlicher bei der Angelegenheit des Black
Warrior betheiligten spanischen Beamten, (natürlich mit Einschluß des General-
capitäns Pezuela) und Ermächtigung sür den Statthalter von Cuba, in Zukunft
Streitigkeiten mit den Vereinigten Staaten ohne vorherige Anfrage bei der
spanischen Negierung abzumachen. Wie sich leicht denken läßt, wies die spani¬
sche Regierung diese übertriebenen Forderungen zurück, und der übermüthige
Ton, in dem Herr Sonis von vornherein sprach, war durchaus nicht geeignet,
eine Annäherung zu erleichtern. Die spanische Regierung zog daher vor, die
Angelegenheit in Washington durch ihren Geschäftsträger daselbst, SeNor Cueto
verhandeln zu lassen, und schickte ihm durch Seiior Galiano die nöthigen Jn¬
structionen zu. Seitdem ist Herr Soulv zu seinem großen Verdruß der ganzen
Angelegenheit vollkommen fremd geblieben.
Der nächste offenkundig gewordene Schritt in dieser Sache ging von der
Vereinigten Staaten Regierung aus. Am 1. August d. I. schickte auf den
Antrag des Senats, Auskunft über den Stand der Verhältnisse mit Spanien
zu geben, Präsident Pierce eine Botschaft an denselben. Ueber die Black
Warrivrangelegenheit war darin gesagt, daß Spanien, anstatt Entschädigung zu
gewähren, das Benehmen der cubanischen Behörde gebilligt, und dadurch die
Verantwortlichkeit für ihre Handlungen aus sich genommen habe. Der Ton
der ganzen Botschaft war drohend gegen Spanien und die Wahrscheinlichkeit
eines Kriegs in nächster Zukunft war offen angedeutet. In Spanien brachte
die Botschaft keine große Wirkung hervor, umsoweniger, als man damals noch
in der vollen Aufregung der eben vollbrachten Revolution war. Selbst die¬
jenigen, welche über die Erscheinungen des Tages hinauszublicken gewohnt
waren, fühlten sich von der polternden Sprache des Präsidenten wenig beängstigt.
Sie sahen darin mehr ein Bestreben des Präsidenten, sich die Volksgunst wieder¬
zugewinnen, indem er den Annerationsgelüsten des Südens schmeichelte, und
Spanien durch die beständige Aussicht auf einen Krieg sozusagen mürbe und
geneigt zu machen, Cuba'friedlich gegen eine gute runde Summe abzutreten.
Diesem letzten Plan ist Herr Sonis selbst nun abhold, und er hat im Congreß
sich laut dagegen erklärt, da Cuba in nicht allzuferner Zeit ohne einen Dollar
aufzuwenden der Union von selbst in den Schoß fallen müsse, d. h. daß eine
günstige Gelegenheit kommen müsse, wo die Vereinigten Staaten das mit
Gewalt nehmen könnten, was sie nicht mit Geld bezahlen wollen. Dennoch
mag der amerikanische Gesandte wegen der friedlichen Abtretung Cubas in
Madrid unterhandelt haben, und wir trauen dem Ministerium San Luis schon
die Kühnheit zu, dem Stolze der spanischen Nation diese Demüthigung
zu bieten.
In Madrid wird in der That behauptet, Soulv habe, um den Zweck
seines Lebens zu erreichen, seine republikanischen Gesinnungen soweit ver¬
leugnet, daß er in den intimsten Beziehungen mit den politischen Kreisen ge¬
standen, welche sich um die Königin Mutter zu versammeln pflegten, da er hier
allein habe hoffen dürfen, daß seine Vorschläge Gehör finden würden. Aus
diesem Grunde habe er auch, als die Revolution an die Stelle der frühern
corrupten Regierung Männer wie Espartero und ODonnell ans Ruder gebracht
habe, deren Charakter ein unübersteigliches Hinderniß der Erreichung seines
Lieblingsplans wurde, die extreme Partei unterstützt, welche auf den Sturz
dieser beiden Männer hinarbeitete. Die Niederlage der Barrikadenpartei und
die Entdeckung 'von Soulvs Betheiligung an ihren Wühlereien hätte als¬
dann die rasche Abreise desselben aus Madrid veranlaßt. Dies deutete ziemlich
unverholen das Diario Espaüol, eine sür ODonnells Organ geltende Zei¬
tung an.
Die Gefahr wegen Cuba ist deshalb noch nicht vorüber. Zwar hat der
amerikanische Senat die zehn Millionen Dollars, die Pierce fordert, um die
Kosten eines möglichen Kriegs mit Spanien zu decken, nicht bewilligt, und der
Präsident hat erklärt, daß er jede Verletzung der Verträge durch Privatpersonen
verhindern werde. Aber bei der Schwäche der Centralregierung in den Ver¬
einigten Staaten sichert selbst der beste Wille nicht die Ausführung derartiger
Drohungen, und bei dem lebhaften Interesse, welches die südlichen Sklaven¬
staaten an der Eroberung Cubas nehmen, können wir jeden Tag die Aus¬
rüstung eines neuen Flibustierzugs erleben. Welchen Erfolg es haben würde,
ist schwer vorauszusetzen, da uns die Hilfsmittel der einfallenden Partei und
die Stimmung der Bewohner der Insel nur wenig bekannt sind. Haben sich
die Amerikaner erst glücklich auf der Insel festgesetzt, so wird es ihnen an
Nachzug nicht fehlen, denn für ein solches Unternehmen finden sich immer
Abenteurer genug in den Vereinigten Staaten, und amerikanische Büchsen¬
schützen sind keine zu verachtenden Gegner. Die Spanier dagegen verlassen
sich auf die 20—23,000 guten Truppen, die sie auf der Insel haben, und auf
ihr Uebergewicht an Reiterei und Artillerie, in welchen beiden Waffen die Ein¬
dringlinge jedenfalls sehr schwach sein werden. Der spanische Soldat ficht,
wenn er gut geführt wird, mit großer Tapferkeit, und gutdisciplinirte Truppen
werden auf freier Ebene und wo es gilt sich in größerer Masse zu bewegen,
immer mehr Aussicht auf den Sieg haben, als Freischärler, mögen diese auch
so tapfer und kaltblütig wie die Amerikaner sein. Was die einheimische Be¬
völkerung betrifft, so werden die verweichlichten Creolen weder dem Angreifer
noch dem Vertheidiger von besonderem Nutzen sein; der Theil, der wirklich
die amerikanische Herrschaft herbeiwünscht, soll ein kleiner sein. Was von
Angloamerikanern auf der Insel eristirt, würde sich selbstverständlich um das
Sternenbanner scharen. Unbedingte Anhänger der spanischen Regierung da¬
gegen sind die europäischen Spanier, meistens Basken und Katalanen, 30,000
an der Zahl, die eine sehr tüchtige Miliz abgeben würden. Die zahlreiche
Negerbevölkerung endlich, die ihre spanischen Herrn durchaus nicht mit ameri¬
kanischen zu vertauschen wünscht, und die recht gut weiß, wie schlimmer gestellt
sogar die freien Farbigen in socialer Hinsicht in den Vereinigten Staaten
sind, würde wie ein Mann aufstehen, wenn man den Versuch wagt, sie zu be¬
waffnen. Die eigenthümliche Art des Negers zu fechten macht ihn zu einem
äußerst gefährlichen Gegner. Die Neger geben eine Salve, warten das feind¬
liche Feuer ab, werfen die Musketen weg, und stürzen dann wie Verzweifelte
mit dem Messer zum Handgemenge.
In der Wahl General Conchas zum Generalcapitän ist die spanische Re¬
gierung sehr glücklich gewesen. Er ist ein gescheidter und entschlossener Mann,
reich an Hilfsmitteln und besitzt das Vertrauen der Truppen im höchsten
Grade. Außerdem erfreut er sich einer großen Popularität bei der Mehrzahl
der Bewohner Cubas, und die Spanier daselbst schwärmen für ihn und sind
bereit, alles für ihn zu opfern. Demnach dürften also die Amerikaner auf
schnelle Erfolge nicht rechnen können, solange die gegenwärtigen Verhältnisse
bleiben. Aber wie lange wird das altersschwache Spanien eine solche Fort¬
dauer der Anstrengung gegen seinen jugendkräftigen und umsichgreifenden
Nachbqr aushalten, ohne von einer der europäischen Seemächte unterstützt zu
werden? Allerdings livgt es nicht im Interesse Englands oder Frankreichs,
daß sich die Vereinigten Staaten Cubas und damit der unbedingten Herrschaft
über den mexikanischen Meerbusen bemächtigen; jedoch es können leicht Zeiten
kommen, wo noch wichtigere Interessen diese Staaten nöthigen, mehr Werth
auf die Freundschaft mit Nordamerika, als auf die Erhaltung des Kolonial¬
besitzes Spaniens und des Statusquo im mexikanischen Meerbusen zu legen.
Weiter in die Zukunft blickende Spanier verhehlen sich auch nicht, was das
endliche Loos Cubas sein wird, und daß es jedenfalls klüger wäre, es jetzt zu
verkaufen, als später in einer Zeit der Schwäche und der innern Zerrüttung
es durch Gewalt zu verlieren; aber es gehört großer politischer Muth oder die
Abwesenheit alles nationalen Ehrgefühls dazu, um diesen Vorschlag zu machen,
und eine sehr befestigte politische Stellung, um ihn durchzusetzen.
Die gegenwärtige finanzielle Lage der spanischen Regierung macht aller¬
dings einen Zuschuß, wie ihn der Verkauf Cubas verschaffen würde, äußerst
wünschenswert!). Das Ministerium Sartorius hat sie in der beklagenswertesten
Verwirrung hinterlassen. Das gegenwärtige Ministerium fand bei seinem Amts¬
antritt leere Kasten; selbst von dem Zwangsanlehn, das ungefähr Mill.
Realen eingetragen hatte, waren nicht mehr als 13,000 Realen übrig. Be¬
sondere Commissarien mußten ernannt werden, um die in der größten Ver¬
wirrung befindlichen Rechnungen in Ordnung zu bringen und Einsicht in die
wirkliche Lage der Finanzen zu gewinnen. Mit jedem Schritt stieß man auf
die gröblichsten Mißbräuche. Zu gewissen Zahlungen bestimmte Summen, die
gesetzlich nicht anders verwendet werden konnten, waren ihrer Bestimmung ent¬
fremdet worden; ungeheure Summen waren für den geheimen Dienst voraus¬
gezahlt, ohne daß sich Rechnung darüber vorfand; alles was die Negierung
zu zahlen hatte, war im Rückstand, alles was sie zu fordern hatte, im Vorschuß.
Beim Abschluß der Rechnungen zeigte sich ein Deficit von 630 Mill. Realen,
wovon 132 sogleich bezahlt werden mußten. Um dieses Deficit zu decken, hatte
die Regierung absolut keine Mittel in den Händen. Die Provinzialkassen waren
bereits theils von den abgetretenen Ministern, theils von den Junten während
der allgemeinen Anarchie geleert worden, und während derselben Zeit blühte die
Schmuggelei so sehr, daß die Zollcinnahme des Monats Juli eine Vermin¬
derung um ein Fünftel zeigte. Diese verzweifelte Lage des Schatzes wurde
noch erhöht durch die übermäßigen Forderungen, mit denen sich das Ministerium
von Seiten derer, welche die Revolution unterstützt hatten, bestürmt sah,
denn politisches Märtvrerthum leiden, heißt in Spanien, keinen Regierungsgehalt
haben, und jeder Patriot verlangt für seine Anstrengungen ein Aemtchen, sei
es auch noch so klein. So eingewurzelt ist diese Aemtersucht in Spanien, daß
kein Ministerium, und wenn es den ehrlichsten Willen hat, sich auf keine un¬
rechtmäßige Weise Einfluß zu verschaffen, wagen darf, sie unbefriedigt zu lassen.
Daher rührt die ungeheure Last von Pensionen, Halbsolden, Nuhgehalten, denn
bei jedem Ministerwechsel muß eine Anzahl Beamter den Anhängern des neuen
Cabinets Platz machen und bei einer Revolution findet fast ein vollständiger
Beamtenwechsel statt.
Vorderhand hat das Ministerium seiner dringendsten Verlegenheit durch
eine Vorausnahme der Grund-, Gewerbs- und Handelssteuern des nächsten
halben Jahres abgeholfen; was aber alsdann werden soll, ist nicht abzusehen,
wenn nicht der verzweifelte Schritt eines Verkaufs Cubas die Staatskasse füllt,
und durch Reduction der Armee und der Marine eine erhebliche Verminderung
der Ausgaben möglich macht.
Kritische Blätter, besonders über das neuere Bauwesen.. Von Ernst
Kopp. Zweites und drittes Hest. Weimar, Bostan. —
Die gegenwärtigen Hefte enthalten die Beurtheilung der architektonischen
Werke von Schinkel und von Leo von Klenze. Die einzelnen Werke werden
mit sorgfältigem Eingehen sowol auf die technische als auf die rein ästhetische
Seite erörtert und dann der Versuch gemacht, ein Gesammtresultat daraus zu
gewinnen. Was Schinkel betrifft, so wird ihm vorgeworfen, daß er sich keinen
eigenthümlichen, aus nähere Grundsätze, Formen oder Verhältnisse basirten und
consequent durchgeführten Stil gebildet, daß er überhaupt nicht darnach gestrebt
hat. Sein tiefes Studium des griechischen Stils wird nach Gebühr gewürdigt;
seine Nachbildung desselben aber ohne Rücksicht auf die Voraussetzungen der
Oertlichkeit als eine höchst bedenkliche Richtung der neueren Kunst beklagt.
„Schinkel war bei seinem Streben, den griechischen Stil zur Geltung zu brin¬
gen, zu dem Versuch genöthigt, das Unpassende desselben'sür unsre baulichen
Verhältnisse durch Abänderung oder Weiterbildung zu beseitigen. Zu diesem
Versuch war er bei seinen tiefen Studien und bei seinem ausgezeichneten Talent
vor allen andern befähigt. In seinen Entwürfen ergibt sich sowol in der
Formbildung der Glieder als in ihrer Zusammenstellung und Verzierung ein
Reichthum, der nicht allein die schönsten griechischen Vorbilder enthält, sondern
auch durch Musterbilder, die in echt griechischem Geist geschaffen sind, vermehrt
worden ist." Dagegen wird ihm eine organische Weiterbildung des Stils ab¬
gesprochen. „Am wenigsten dürften dazu jene Formbildungen zu rechnen sein,
wie z. B. die Einschachtelung von Pilasterstellungen in größere, bereits or¬
ganisch sür sich abgeschlossene Theile, wie unter andern an den Fenstern der
Hauptwache in Dresden; die Vereinigung von Karyatidensäulen mit jonischen
Säulen, die theilweise Einmauerung von jonischen Säulen an den Fenstervor¬
sprüngen, die unorganische Anlage von Gebälkearchitektur, die Verbindung
achteckiger buntverzicrter Pfeiler bei vorherrschenden griechischen Formen, am
Palast Orianda ; dorische Säulen mit Aufsätzen und Stichbögen, wie am Schau¬
spielhaus in Hamburg; Treppenanlagen wie im Peristil des Museums in
Berlin. Solche Anlagen Harmoniren jedenfalls nicht zu dem Geiste und dem
Wesen der griechischen Kunst, die E. Curtius in seiner Festrede am Geburts¬
tage Schinkels ebenso schön als treffend im folgenden charakrerisirt: „Darum
verschmähte sie täuschenden Sinnenreiz; sie war enthaltsam und keusch, wie die
Natur, bestrebt, mit den geringsten Mitteln den Zweck zu verwirklichen, vom
inwohnenden Gesetze ganz erfüllt und darum durch und durch wahr und echt."
— „In Hinsicht des Zwecks und der ausdrucksvollen Charakterisirung desselben
ist Schinkel am wenigsten glücklich gewesen. Während im Aeußern wie im
Innern der Hülle oder der Außenseite des baulichen Gegenstandes in der
decorativer Anordnung oder sonstigen malerischen Zugabe gewöhnlich die größte
Sorgfalt und Umsicht gewidmet ward, ist dagegen nur zu häufig dem eigentlichen
zwecklichen Bedürfnisse desselben umsoweniger ein genauer Ueberblick und eine
gehörige Würdigung zu Theil geworden. Dadurch wird aber diesen Entwürfen
gleichsam das Ansehen verliehen, als wenn dabei die Verzierung die Haupt¬
sache, die eigentliche bauliche Bestimmung hingegen nur Nebensache wäre.
Besonders sind in letzterer Beziehung Schinkels monumentale Entwürfe als nicht
gelungen anzusehen. Sein architektonischer Nuhm hat daher unbezweifelt auch
nichts verloren, daß, soviel ich weiß, von diesen Entwürfen keiner zur Aus¬
führung gekommen ist. Ebenso hat derselbe auch mit seinen Entwürfen zu
Kirchen, so zahlreich diese auch sind, wenig Empfehlensrverthes geliefert. Es
ist gleichsam, als hätte Schütteln hier das nähere Verständniß von der Bedeu¬
tung und Würde des Zweckes, sowie von der dabei für den Architekten zu¬
nächst mit vorliegenden Anforderung und Pflicht, diesem Zwecke durch an¬
gemessene Formbildungen, wie solches unleugbar zur Beförderung der kirchlichen
Andacht geschehen kann, möglichst zu befördern, ganz gefehlt. Es kommen in
dieser Beziehung selbst Kirchenentwürse vor, wo namentlich auch die Placirung
der Kirchengänger so gedrängt und überhaupt in einer Weise gehalten ist, die
man selbst für Schauspielhäuser nicht sür geeignet finden würde. Zu dieser
Ansicht liefern auch noch andere Beweise jene — soviel mir bekannt — zu
Dorfkirchen ausgegebenen Musterblätter, die aber namentlich mit den äußern
Fanden eher Grundzüge zu Gartenhäusern als zu kirchlichen Gebäuden zeigen.
Seine Vorliebe für den griechischen Stil hatte ihn freilich mit den hieraus sich
ergebenden Formbildungen, bei deren Anwendung zu unsern kirchlichen Be¬
dürfnissen nicht zu beseitigende Hindernisse in den Weg gelegt. Dagegen ge¬
währen Schinkels Entwürfe zu Wohngebäuden einen größern Werth. Diese
zeichnen sich gewöhnlich durch Einfachheit in der Anlage ihrer Architektur aus.
Auch wird dabei nur in wenigen Fällen jene gleichsam gesuchte Gruppirung
in der Verschiedenheit der Formbildung und Zusammenstellung von einzelnen
Gebäudetheilen sichtbar, der jetzt gewöhnlich, um der bestechlichen malerischen
Haltung zu stöhnen, besonders zum Nachtheil der innern Einrichtung, sowie
auf Kosten des Baues und dessen Unterhaltung selbst, von den heutigen
Architekten gehuldigt wird." — Die Begründung dieser Ansichten im einzelnen
muß in den frühern Kritiken gesucht werden, unter denen wir namentlich auf
die Kritik des neuen Schauspielhauses in Berlin und des neuen Museums
aufmerksam machen. — Ueber Klenze, der in vieler Beziehung als daS Gegen¬
bild Schinkels anzusehen ist, kommt der Verfasser zu folgendem Resultat: Der
Versuch, den griechischen Stil sür unsre baulichen Bedürfnisse angemessen zu.
gestalten, ist ihm nicht gelungen, ja er hat>bei seinen Entwürfen den griechischen
Stil mit Formen und Verhältnissen verbunden, die sich wie die Wölbungen,
Säulenverkuppelungen in. ganz unorganisch dazu stellen. Sein Beispiel hat
also der Reinheit des Stils geschadet; um so mehr, als er, um den Effect für
die Ansicht zu vermehren, sich von seinem malerischen Talent hat verleiten
lassen, Formen und Constructionen anzuwenden, die, wie namentlich die
Karyatidensäulen und die Hermenpilaster, in der getroffenen Anordnung in
statischer wie in ästhetischer Hinsicht gleich verwerflich sind. Dieses strenge
Urtheil sucht der Verfasser durch eine Analyse der Glyptothek und der übrigen
Bauwerke in München, die Klenzes Ruhm begründet haben, nachzuweisen.
Das Dekamcron, oder zehn Darstellungen vorzüglicher Formen und Charakter¬
verbindungen aus dem Gebiet der Landschaftsgartenkunst, mit ausführlichen
Erklärungen von Rudolph Sieb cet, früher kais. russ. Hofgärtner und
gegenw. Rathsgärtncr zu Leipzig, Verfasser der „Bittenden Gartenkunst in
ihren modernen Formen". Leipzig, Arnold. —
Wir haben in früherer Zeit mehre ausführliche Abhandlungen über die
Verschönerung der Landschaft durch deu Menschen mitgetheilt. Auf diese be¬
ziehen wir uns jetzt zurück, indem wir eins der vorzüglichsten Werke anzeigen,
durch welches dem Besitzer eines bedeutenden Gutes möglich gemacht wird, was
er zur Verschönerung der Natur thun will, mit Geschmack und Methode
zu thun.
Das Werk erscheint in zehn Lieferungen, von denen eine jede vier Tafeln
in Imperial-Folio und einen Bogen Tert enthält; auf diesen vier Tafeln ist
der Plan zu einem größern Park dargestellt; der Tert enthält die ausführ¬
liche Erklärung derselben, sowie die Angabe der bei der Ausführung zu ver¬
wendenden Gehölze und Blumen.
Die zehn Pläne werden sich voneinander unterscheiden durch verschiedene
Bestimmungen, mannigfaltige Formbildungen, so daß durch das Ganze das
vollständige System zweckmäßiger Formen im größern Maßstabe veranschaulicht
wird, durch effectvolle Charakteristik und Scenirung und die Verwendung der
verschiedenen natürlichen und künstlichen Mittel zu einem harmonischen Ganzen.
Die Bestimmung des ersten Plans ist der, Sommeraufenthalt eines be¬
güterten Mannes mit Aussicht auf ein Kirchdorf am Ufer eines Flusses in der
Nähe einer mit Pappeln bepflanzten Landstraße. Die Erfindungen zur Ver¬
werthung dieser gegebenen Voraussetzungen sind so sinnreich, wie man es von
dem bekannten Talent und Geschmack des Verfassers erwarten kann. Die
Verlagshandlung hat alles aufgeboten, um dem Werk durch elegante artistische
Ausstattung einen höhern Kunstwerth zu verleihen. Der Subscriptionspreis
für eine jede Lieferung beträgt 2 Thlr. 20 Ngr. Von drei zu drei Monaten
wird eine Lieferung ausgegeben werden. Nach vollständigem Erscheinen des
Werks tritt ein erhöhter Ladenpreis ein.
— Die Einberufung der Kammern ist
auch dieses Mal bis zum letzten Termine hinausgeschoben worden, obgleich die Er¬
fahrung hinlänglich gelehrt hat, daß die Nähe der' dnrch das Weihnachtsfest ver¬
ursachten Unterbrechung eine nachdrückliche Ausnahme der Geschäfte in den Dccember-
wochen unthunlich macht und daß die Festfericn selbst den Commissionsarbeiten nicht
förderlich sind. Der Grund dieser Verzögerung, dnrch welche den parlamentarischen
Verhandlungen von vornherein der Stempel der Zerrissenheit und Langsamkeit
ausgedrückt wird, liegt wiederum darin, daß die Vorarbeiten für die Legislatur
innerhalb des Ministeriums zu spät aufgenommen und noch nicht beendigt sind:
aus dem Ministerium des Innern gelangen selbst jetzt noch Gesetze an das Staats-
ministerium, die, wenn sie hier genehmigt und festgestellt sind, noch der Discussion
des Staatsraths unterbreitet werden müssen. Auch die zur Bildung des neuen
Herrenhauses erforderlichen Verordnungen sind noch nicht vollständig erlassen: es
fehlt noch eine Ordre darüber, welche Prinzen des königlichen Hauses an den
Berathungen der ersten Kammer theilnehmen sollen; eine andere mit dem Ver-
zeichniß derjenigen Personen, welchen das Recht der Theilnahme für ihre Person
und Descendenz oder für jene allein verliehen werden soll; endlich eine Verordnung
über die Bildung der Geschlechtsverbände, die mit dem Präscntationsrecht ausge¬
stattet werden sollen. Das Ausbleiben dieser Verordnungen würde zwar dem Zu¬
sammentreten der bereits berufenen Personen kein Hinderniß in den Weg legen;
" allein es fehlt bis jetzt jede Andeutung, daß die erwähnten Kategorien vorläufig
in der ersten Kammer noch nicht vertreten sein werden.
Daß die Neugierde in den ersten Wochen sich mehr dem neuen Institute zu-
wenden wird, als der zweiten Kammer, darf nicht verwundern; und man erwartet
sogar von dem Zusammentreffen sovieler Magnaten und befestigten Grundbesitzer
eine ungewöhnlich glänzende Wintersaison. Eine angenehme Rückwirkung ans das
hiesige Gewerbe wird der längere Aufenthalt sovieler und wohlhabender Fremden
allerdings äußern; aber daß sich ein Glanz entwickeln wird, etwa wie zur Zeit des
ersten vereinigten Landtages, habe ich Grund zu bezweifeln. In einer wenig zahl¬
reichen Versammlung, deren Mitglieder fast sämmtlich die Mittel zu einem ihrer
Stellung einigermaßen entsprechenden Aufwande besitzen, ist ein gewisser Wetteifer
natürlich, der. auch den weniger Wohlhabenden anspornt, sich seiner Genossen äußerlich
würdig zu zeigen; aber dem Kerne des vereinigten Landtages ist in der neuen
Versammlung ein zahlreiches und zum großen Theil ungeachtet des befestigten
Grundbesitzes unbemitteltes Gefolge beigegeben, welches den Durchbruch der Idee
des standesmäßigen verhindern wird. Ich darf es kaum bemerken, daß die Art,
wie diese Pairie gebildet ist, den Wünschen derjenigen Personen, die sich am
meisten dafür interessirten, nicht entspricht; sie erwarteten, daß das Herrenhaus die
Elite desjenigen, was sich durch glänzenden Reichthum oder eine vorzügliche In¬
telligenz weit über das Mittelmäßige erhob, in sich vereinigen würde, und erblicken
nun mit Verstimmung an Stelle eines zwar nicht umfangreichen, aber desto statt¬
lichem Hochwaldes auf der Höhe unseres Verfassungslebens ein weit in das Land
sich erstreckendes unansehnliches Unterholz und verdrießliches Gestrüpp, über welches
hin und wieder einige einsame Stämme hervorragen.
Dieser Umstand hat eine sehr ernste Seite. Ich habe schon bei den Kammer-
berathungcn über die Pairie mehrmals meine Ueberzeugung ausgesprochen, daß, da
uns das Material zu einer tüchtigen, unabhängigen Pairie fehlt, jedes derartige,
wie immer zusammengesetzte Institut die Tendenz haben würde, in einen dotirter
Senat umzuschlagen, in dem ich die schlechteste Art parlamentarischer Versammlungen
erkenne. Die Präsentationen, die bisher von den Grafenverbänden und den Ver¬
bänden des befestigten Grundbesitzes erfolgt sind, haben meine Befürchtung — ich
kann wol sagen, zu meinem Schrecken bestätigt; denn obwol ich jetzt noch anßer
Stande bin, und es auch nicht für angemessen erachte, genauere statistische Angaben
über die Zahl solcher Präsentirten zu liefern, denen ihre Vermögensverhältnisse es
nicht gestatten werden, sich dauernd in ihrer Stellung zu behaupten, so kann ich
doch sagen, daß mir unter den bekannten Personen eine ziemlich erhebliche Anzahl
solcher ausgestoßen ist, die sich zwar einen oder zwei Winter in Berlin mit
empfindlichen Opfern aushalten werden, aber unmöglich eine alljährlich wiederkehrende
längere Abwesenheit von ihren kleinen Besitzungen ertragen können. Bei der
außerordentlich geringen Zahl wirklich reicher Leute in Preußen war es eine un¬
glückliche Idee, dem großen Grundbesitz den „alten und befestigten" zu substituiren;
der „alte" wenigstens ist oft höchst unbedeutend. Wir werden also das — wie
mir scheint, klägliche Schauspiel erleben, daß eine Anzahl der neuen Pairs, statt
den Winter hindurch mit ihren Familien in der Residenz zu leben und hier ein
Haus zu machen, in irgendeinem entfernten Stadttheil zwei Treppen hoch eine
bescheidene ekiunln-iz xurme miethen werden, Pairs des Königreichs Preußen, —
und daß sie in den folgenden Sessionen 'ganz ausbleiben werden. Und daraus
folgt, daß sich das Bedürfniß einer Dotation, d. h. der Umwandlung der Pairie
in einen französischen Senat, geltend machen wird. Aber hat das Land an der
Vertretung dieser Grafenverbände und Verbände des befestigten Grundbesitzes ein
Interesse, »in den unzulänglichen Besitz dieser Herren, deren Vorrecht eben lediglich
durch ihren angeblich hervorragenden Besitz motivirr ist, durch eigne Opfer zu
ergänze»? Ich glaube nicht.
Dazu kommt, daß es hier in unterrichteten Kreisen noch als zweifelhaft betrach¬
tet wird, ob die eigentlichen Standesherrn von dem ihnen zustehenden Recht sämmt¬
lich Gebrauch machen werden. Einige sind nämlich, wie mir versichert wird , mit
dieser Art von Pairie sehr unzufrieden, da ihre Stimmen inmitten einer so zahlreichen
Versammlung, deren Mitglieder überdies in socialer Hinsicht größtentheils durch eine
weite Kluft von ihnen geschieden sind, vollständig verschwinden; andere nehmen
wieder an dem Eide auf die Verfassung Anstoß, die ihnen den ungeschmälerten Be¬
sitz ihrer Vorrechte nicht sichert. Doch selbst wenn diese Bedenken eine Erledigung
finden sollten, liegt in solchen Verhältnissen für diese wirklich „hervorragenden
Existenzen" ein Sporn, ihre glänzende Lebensstellung zu Gunsten des Ansehens
der neuen Körperschaft in die Wagschale zu legen? Und doch wäre es im conser-
vativen Interesse, welches die Befestigung unserer Institutionen verlangt, höchst
wünschenswerth. Die neue Pairie ist nicht populär, und die Uebereinstimmung
der politischen Gesinnungen der meisten ihrer Mitglieder mit denen der Regierung
erlaubt ihnen nicht, ihre politische Selbstständigkeit in einer dem Volke merkbaren
Weise zu documentiren; um so nothwendiger dürfte es scheinen, die sociale Selbst¬
ständigkeit in ein Helles Licht zu stellen und dadurch zu beweisen, daß in der ersten
Kammer wirklich diejenigen Personen vereinigt sind, welche von der Versuchung,
um Gunst und Gnade ihre Ansichten zu beugen, uicht berührt werden.
Die Frage über die Vereidigung aus die Verfassung bildet übrigens — so
sonderbar es klingt — in den maßgebenden Kreisen noch immer den Gegenstand
von Verhandlungen. Es lag in der Absicht des Ministers des Innern, den Eid
auf die Verfassung durch einen andern ersetzen zu lassen, der allgemein auf Beob¬
achtung der Gesetze lautete, — wodurch die oft wiederholte Doctrin des Herrn
v. Gerlach, daß die Verfassung weit davon entfernt sei, einen Vorzug vor andern Ge¬
setzen zu besitzen, in die Wirklichkeit hinübergeführt werden sollte. Allein dieser
^Gesetzentwurf stieß im Staatsministerium aus Widerstand, und wurde beseitigt.
Gleichwol ist der Minister des Innern neuerdings angewiesen worden, die Frage
nochmals in Ueberlegung zu ziehen; eine Vereidigung der Prinzen und Standes-
herrn würde wol nicht vonnöthen sein. Und ich zweifle nicht daran, daß der
Minister bei seinem großen Interesse für diesen Pnnkr und bei seinem an derar¬
tigen Ressourcen nicht unfruchtbaren Geist einen Ausweg finden wird, dem wir mit
Neugierde entgegensehen.
Was die politische Stellung der neuen Pairs betrifft, so befinden sich sowol
nnter den Standesherrn, wie unter den frühern Mitgliedern des vereinigten Land¬
tages und. unter den von Städten und Universitäten Präsentirten einige Personen,
die mit dem gegenwärtigen Regierungssystem uicht einverstanden sind und den Kern
einer Opposition bilden werden. Zu jenen gehören die Fürsten Solms-Lied und
Neuwied, die Grasen York und Dyhrn; zu diesen die Professoren Baumstark und
Tellkampf, mehre Oberbürgermeister, und vor allen der ehrwürdige Brünneck,
Dit !IV KNUÄkIlli?> Sj>!i'l'et^)iA ZAZ)-i>.-l'-'.'l.^.Üps.-Il''..'et?z?/kiII'-ijII1»!Izk
den wir mit Freude auch auf dieser Arena erblicken. Aber was aus den Grafen¬
verbänden und den Verbänden des befestigten Grundbesitzes hervorgegangen ist, ist
eitel Kreuzzeitungspartei, mit sehr spärlichen Ausnahmen, die einer weniger de¬
structiven Sorte des modernen Konservatismus angehören.
Eine höchst verdrießliche Introduction ist den Debatten dadurch bereitet,
daß das von den Kammern genehmigte Gesetz über die Pairie uur erbliche
und lebenslängliche Mitglieder kennt, während die königliche Verordnung einige
Kategorien einführt, deren O.ualification an die Dauer gewisser amtlicher Ver¬
hältnisse gebunden ist. Soweit ich die Meinungen hierüber habe vernehmen
können, herrscht der Wunsch vor, eine Debatte über diese beklagenswerthe Differenz
der Gesetze, die einen höchst unerfreulichen Blick in unsere Zustände eröffnet, wo¬
möglich zu vermeiden, und eine einfache Erklärung über die Divergenz zu Protokoll
zu geben. Ein solches Verfahren würde mir auch als das angemessenste er¬
scheinen; denn eine Debatte, die sich hier überdies auf der schmalen Scheide
des parlamentarisch Zulässigen bewegen müßte, würde praktisch ohne Erfolg sein
und auch zur Aufklärung der öffentlichen Meinung nichts beitragen können, da die
Sache selbst sehr klar ist. Unter so bedauerlichen Umständen bleibt nur übrig,
das eigne Gewissen durch eine sinnliche Erklärung zu salviren, zu welcher die Adrcss-
dcbattc, wenn eine solche in diesem Jahre wirklich beliebt werden sollte, den schick¬
lichsten Anlaß bieten dürste.
— Daß unsre Politik schwankend wäre, liest
man wol in den ausländischen Zeitungen, hier aber ist jedermann überzeugt, daß
sie fest und unwandelbar ist, und ihr Ziel, einen für Oestreich und Deutschland
ehrenvollen und nützlichen, festen Frieden herbeizuführen, wenn nöthig zu erzwingen,
sicher in das Auge gefaßt hat. Die Regierung wünscht allerdings, daß Deutschland
mit vereinter Kraft in der orientalischen Angelegenheit auftrete, aber länger Hin¬
halten wird sie sich ganz gewiß nicht lassen. Oestreich besteht ans den drei Bcschluß-
anträgcn im Jnstructionsentwurfe sür den Bundcspräsidialgcsandten, die Sie aus
den Zeitungen kennen werden. Nur das gesteht Oestreich zu, daß im dritten Be¬
schlusse statt einer Anerkennung der Gefahr eines Angriffs ans das östreichische Ge¬
biet, etwa aus die drohende Gestalt der Dinge überhaupt Bezug genommen werde,
wie denn auch sonst Herr von Prokesch angewiesen ist, ans die Wortfassung jener
drei Anträge in den Verhandlungen mit Herrn von Bismark-Schönhausen kein grö¬
ßeres Gewicht zu legen, als es der Inhalt derselben erheischt; aber aus diesem be¬
steht Oestreich mit Festigkeit. So hat das preußische Cabinet statt des östreichi¬
schen zweiten Artikels (in Betreff der vier Präliminarpnnkte) eine Fassung vorge¬
schlagen, wonach der Vuud diese Punkte ihrem wesentlichen Zuhalte nach als eine
geeignete, nach allen Seiten hin festzuhaltende Grundlage zur Anbahnung
eiues gesicherten Rechts- und Friedenszustandes anerkenne. Gegen eine solche Fas¬
sung mußte natürlich Oestreich die wohlbegründete Einwendung machen, daß es mit
seinen aus dem Notenaustausche vom 8. August resultircnden Verpflichtungen nicht
vereinbar sei, wenn durch die unterstrichenen Worte ausgesprochen werden wollte,
daß der deutsche Bund und somit auch Oestreich uach keiner Seite hin Forderun¬
gen, die über die vier Punkte hinausgehen, zugeben werde. Preußen hat feinem
Bcschlußcntwurfc zwei Artikel beigefügt, wonach eine wiederholte Einladung an den
kaiserlich russischen Hof, sich zur Annahme der vier Punkte bereit zu erklären, ge¬
richtet werde, und im Fall der Annahme die Mitglieder des Bündnisses vom 20. April
ohne einen vorgängigen gemeinschaftlichen Beschluß weitere Forderungen an Ru߬
land weder stellen noch unterstützen, sich also auch nicht bei deren Ausführung be-
theiligen würden. Oestreich vermag solche Verpflichtungen gegen die Mitglieder des
Bündnisses nicht einzugehen und will, daß diese beiden Artikel aus dem Beschlusse
wegbleiben. Zu einer gemeinsamen wiederholten Einladung an Rußland, die Oest¬
reich nach der kategorischen Ablehnung der vier Punkte und Weigerung Rußlands,
sich in ihre Erörterung einzulassen, nicht für sich an diese Macht richten kann,
würde es sich verstehen, aber vor den Bund könnte diese Angelegenheit nicht eher
gebracht werden, als bis die Regierungen sich vertraulich über Form und Trag¬
weite eines solchen Schrittes zuvor verständigt hätten. Dies sei um so nothwen¬
diger, da Oestreich nur dann bei einem solchen Schritte sich betheiligen könne, wenn
er sehr ernst gemeint ist, und man daher für den Fall der abermaligen Verwer¬
fung der vier Punkte alle Verabredungen treffen müsse und davon selbst die Noth¬
wendigkeit der Ergr eifnng der Offensive nicht ausschließen dürfe. End¬
lich vermag Oestreich nicht zuzugeben, daß ihm nach dem preußischen Entwürfe erst
nach nochmaliger Verwerfung jener Punkte von Seiten Rußlands die Hilfe des
Bundes gegen jeden Augriff aus die östreichischen Truppen in den Fürstenthümern
oder auf östreichisches Gebiet zugesichert werde. In diesem Falle würde es ja in
die Entscheidung Rußlands gelegt werden, ob Oestreich vom Bunde Hilfe zu ge¬
wärtigen habe oder nicht. Es steht nun zu erwarten, welche Entschlüsse Preußen
infolge der östreichischen Einwendungen fassen wird. Zuverlässig aber ist,
daß Oestreich in keinem Falle sich die Rolle der Neutralität, die es
schon so oft zurückgewiesen hat, aufdrängen lassen wird. —
Gott sei
Dank, wir leben wieder etwas auf. Der Sturm vor Sebastovol am 3. hat die verzwei¬
felten Gemüther ein wenig aufgerichtet und auch die von ungewohnter Mäßigung
geschwächten Leiber können sich nun restauriren, da die Cholera, zwar langsam
aber entschieden, im Abnehmen begriffen ist. Was „unsere" Kämpfe vor Se¬
bastovol betrifft, herrscht hier allgemein die wärmste Theilnahme für „unsere"
tapfern, hartgeprüften Alliirten. Der scharfe Nordwester, der mit stürmischer Ge¬
walt in den ersten Tagen dieser Woche durch unsere Straßen fuhr, hat recht
lebhast die Gedanken „unsern" braven Hochländern und Znaven zugewendet. Wenn
so ein heftiger Windstoß alle Fenster der warmen Familienstube klirren machte,
während eben der Haussohn oder ein guter Freund die neuesten Abendberichte vom
Kriegsschauplatz las, da wurde manches Mutterherz weich und manche Thräne
perlte aus schönen Wiener Augen um „unsere" armen Soldaten, die in dieser
grimmigen Kälte in den Laufgräben liegen und viele Wochen keinen Löffel warmer
Suppe zu kosten bekommen. Gewiß, es bedürfte nur eines geringen Anlasses, um
unseren weiblichen Patrioten die wärmsten Spenden an Wäsche, Kleidern, Charpie
und andern Utensilien für „unsere" Truppen in der Krim zu entlocken. Die
Wiener Gemüthlichkeit ist dem Verstände der Diplomaten vorangeeilt, die Allianz
»»'Mez«Ak>.s,ttittZ>i»>',-..
mit den Wcstmächten, welche ganz Europa soviel Kvpfbrechcns macht, ist bei uns
schon eine reine Herzenssache geworden. Russische Verluste werden gezählt und
vom allgemein menschlichen Standpunkte bedauert, die Verluste der Alliirten werden
Mann für Mann mitempfunden. Auch in dieser Kriegszeit zeigt sich der wohl¬
thätige Einfluß der Presse auf die Stimmung der vielen einzelnen, welcher, bewußt
oder unbewußt, die Gesammtstimmuug eines Volkes und dessen politische Haltung
beherrscht. In den russischen Berichten ist nur eine Uebersicht der taktischen
Manövers, mitunter ein Belohnuugsukas oder eine mit berechnender Vorsicht
abgefaßte Depesche vom Kriegsschauplatze enthalten. Hingegen pulsirt selbst in
den officiellen Berichten der Alliirten ein warmes menschliches Interesse, da ist
Fleisch und Blut und jeder einzelne Mann steht im richtigen Heldenmaß vor unsern
Angen. Dazu komme» noch die vielen Briefe und' Briefchen der englischen und
französischen Soldaten an die Verwandten in der Heimat, durch welche das ge¬
heimste Familienleben so innig in die große kriegerische Welt mit verwebt wird
und die kleinste Beschwerde des letzten Füseliers zum Gegenstände eines Kriegs¬
rathes im Hotel der Minister werden kann. Da ist es kein Wunder, wenn jeder
aus den höchsten und niedersten Ständen mit gleicher Aufopferung für die Bedürf¬
nisse des Kricgsschatzes sorgt; denn während jeder zunächst nur sür den Vater,
Bruder oder Geliebten etwas beizutragen glaubt, sammelt sich aus diesen vereinzelten
Herzensspenden eine ganz ordentliche außerordentliche Steuer. Jene Mittheilungen
von Privatbrieseu in den englischen und französischen Blättern haben aber nicht
nur in den dortigen heimatlichen Kreisen patriotisch gewirkt; in die fernsten
Winkel andrer Länder ist die einfache Sprache der tapfern Söhne der Alliirten ge¬
drungen und haben Propaganda in den Herzen der Mütter und Kinder für die
orientalische Frage gemacht. Und so kam es anch, daß bei uns die Sympathien
sür die Westmachte, welche anfänglich nur aus den nüchternen Interessen und
diplomatischen Erwägungen hervorgingen, allmälig so in die Gefühlswelt überge¬
gangen sind, daß unsere Frauen und Töchter — in aller Unschuld — jetzt schon
nicht anders als von „unsern" Soldaten sprechen, wenn von den Alliirten in der
Krim die Rede ist. —
Indeß ist trotz dieser Theilnahme an den auswärtigen Angelegenheiten das
Hauskreuz unserer Damen noch immer überwiegend. Die Theurung, die Theu-
rung! Treten Sie früh in das Boudoir einer gute» Bekannten, Sie finden sie
vor der Toilette, an ihrem Kopfputz sind die niedlichen Hände des Kammermädchens
und der Scharfsinn einer redigirendcn Friseurin beschäftigt, das ganze Gemach
und was darin sich befindet, athmet üppigen Wohlstand, ausgesuchte Eleganz, voll¬
endeten Geschmack — durch ein sonderbares — vielleicht nicht neues — Mißver¬
ständniß treten Sie unangemeldet ein und die Dame, Ihren zarten Tritt mit je»em
der böhmischen Köchin verwechselnd, ruft Ihnen im verzwcislungsvollstcn Tone
entgegen: Ach Gott, was werden wir heute kochen?! Werden Sie darüber nicht
empfindlich. Diese Frage ist ebenso wichtig als die orientalische Frage, über
welche Sie vielleicht eben der Dame eine geistreiche Idee mittheilen wollten. Die
Frage, was werden wir heute kochen? tönt uns ebenso dringend und unabweislich
aus allen Haushaltungen Wiens, ja ganz Europas entgegen, wie die Frage, was
werden wir im nächsten Frühjahr beginnen? aus allen Cabineten der diplomatischen
Welt. Ich will mich hier nicht in eine gründliche Erörterung der „ Lebensmittel¬
frage" einlassen, will Ihnen nicht einmal anzeigen, was heute ans unserm Grün¬
markt ein Scheffel Kartoffel», ein Bund Petersilie, ein halbes Pfund Butter kostet.
Vielleicht finden Sie in Wiener Modebcrichtcn anderer Zeitungen hierüber genü¬
genden Aufschluß. Aber die eine Thatsache muß ich, als gewissenhafter Reporter
des Wiener Lebens, constatirc», daß man nirgend aus dein Kontinent in diesem
Augenblicke theurer lebt, als hier. Man kann mit dem besten Appetite von der
Welt in den Speiscsal eines hiesigen Gasthauses treten, beim Anblick der endlosen
Zissernrcihe, welche die Tagcsstatistik des Küchenzettels illustrirt, schnürt sich unwill¬
kürlich Herz und Magen zusammen. Man wäre oft versucht, jenem ökonomischen
Reisenden nachzuahmen, der nnr ans die niedrigsten Preise, nicht aus die Speise¬
titel, deutend zum Kellner sagte: bringen Sie erst dies, dann das u. s. f. und so
nacheinander ein Stückchen Käse, eine Portion Salat, einiges'Zuckerwerk und eine»
halben Häring als Mittagtisch servirt bekam. Was aber die Noth unsrer Haus-
frauen heute noch vermehrt, das ist die strenge Diät, welche im Angesicht der
epidemischen Krankheit vorgeschrieben ist.
Nicht nur physisch, noch mehr moralisch und geistig werden wir ja von den
Theuernngsvcrhältnissen berührt. Unsre Saison morte, die sonst mit dem Sommer
endet und dieses Jahr in eine wahre Saison des mores übergegangen ist, will
noch immer nicht weichen. Auch daran sind zum Theil die theuren Zeiten schuld.
Die Geschäfte Stocke», die Verdienste reichen kaum von einem Tag zum andern, das
Geld ist rar »»d die Aussichten in die nächste Zukunft bleibe» trübe. Nun schränkt
sich jeder ein, soviel er kaun. Die Unternehmer der verschiedenen Vergnügungsorte^
der öffentlichen Produktionen verliere» den Muth. Einige wenige Tanzlocale von
altem Nus werden noch vom Sonntagspublicnm besticht. Aber selbst die alljährlich
festgesetzte Redoute, welche in: Beginn der Wintersaison zum Beste» des Künstlcr-
peusioussouds stattfindet, wurde in dieser Woche „wegen der ungünstigen Zeitum-
stände" abgesagt. Auch die Coucertsäle, welche sonst um diese Zeit von eine»: Heer
berühmter Künstler umlagert sind, stehe» »och leer, die größeren musikalischen Pro¬
duktionen werden erst im nächsten Monat beginne». So bleibt für eine höhere
Anregung des Gemüths nur noch das Theater übrig. Ob „Rose und Röschen"
der Madame Birchpfeiffcr oder das neue Ballet „die Seeräuber" von Taglioni i»
Beziehung auf geistigen Genuß mehr befriedigen werden, wollen wir nicht weiter
untersuchen. Die Oper fristet steh vou der Reprise älterer Werke und von den we¬
nigen Gastrollen, zu welche» sich Frcuilci» La Grua, bisher eugagirtes Mitglied,
für diese» Monat bereitfinden ließ. Meyerbeers „Nordster»" sowie eine neue einactige
Oper von Hoven, unsrem einheimischen Componisten, harren noch der Wiedergenesung
des Fräulein Wildauer, der liebenswürdige» Künstlcri», welche an beiden Hvfbnh-
ncn, im Lustspiel und in der Oper, sür manche Partien ganz unentbehrlich gewor¬
den ist. A»f de» Vvrstadtbühncn sucht mau vergebens dnrch neue Machwerke die
alten Localpossen aus einer besseren, lcbenssrischeren Zeit zu ersetzen. Das Carl¬
theater, seit einige» Woche» unter Nestroys Leitung, hat sich rasch eines noter»er
Stoffes bemächtigt und den Fechter von Ravenna i» einen „Fechter in der Arena"
travestirt. Die Hauptrolle der Thusnelda befindet sich als Verkörperung der deut¬
schen dramatische» Poesie in den Händen des Karl Treumann, des vielseitigsten
Komikers, den überhaupt die Localbühne in Deutschland jetzt besitzen mag. Da
auch die alten Lieblinge unsres Publicums, Nestrvy und Scholz, als Fechter und
Caligula mitwirken, so wird wol der Fechter in der Arena ebenso häufig über die
Breter gehen als der Originalfcchter. Was die Travestie selbst betrifft, welche sich
beinahe Scene für Scene an die Tragödie hält, so bewährt sich anch hier wie
überall das ein fühllos un riclicule. Nicht ohne bleibende Wirkung dürfte übrigens
diese Gelcgenheitsposse sür die ernstere Bildung unsres Kunstgeschmacks dadurch sein,
daß Karl Treumann mit seinem trefflichen Nachahmungstalent unsre erste tragische
Heldin — von ehedem, Madame Rettich, die Darstellerin der Thusnelda im Burg-
theater, vollständig und sehr richtig persistirt. Es hat sich grade in der letzten
Zeit in der hiesigen Presse über den Werth der alten und neuen Schule an unsrer
Hofbühne eine kleine Discussion entwickelt. Von einer neuen Schule kaun freilich
nicht die Rede sein, dazu fehlt bisher noch der Meister und eine feststehende Rich¬
tung. Aber die alte ist eine wirklich bestehende Kunstrichtung, die grade in Wien
ihre vorzüglichsten Repräsentanten hat. Madame Rettich gehört ganz und gar zu
den traditionellen Größen dieser Schule, welche durch reiche Sentimentalität in der
Auffassung und gespreizte Manicrirtheit in der Durchführung die Haupteffecte her-
vorzubringen sucht und so selbst die guten, echten Seiten des durchgebildeten Künst¬
lers, welche man so gern an unsren älteren Schauspielern bewundert, nicht hervor¬
treten läßt. Der persistirenden Darstellung des Vorstadtkomikers dürste es vielleicht
gelingen, was aller noch so weise raisonnirenden Kritik schwer gelingen wird, näm¬
lich das verwöhnte Publicum selbst sehr greifbar von der Unnatur jener hergebrach¬
ten Tragik zu überzeugen.
— — Es ist bemerkenswerth,
daß die Russen bei Sebastopvl sich zum ersten Mal im Vertheidigen einer großen
Festung versuchen, und die Engländer ebenfalls einen Platz von mehr als mittlerem
Umfang und großer Gcschützmacht zum ersten Mal angreifen (die Festungen, welche
sie im spanischen Kriege belagerten, standen weit hinter Sebastopol zurück). Beiden,
den Russen wie den Briten, muß man das Kompliment machen, daß sie sich tüchtig
benehmen, und im besonderen es an ausdauernder Tapferkeit nicht mangeln lassen.
Die Franzosen sind alte und vollendete Meister in der Belagerungskunst, und es
versteht sich von selbst, daß sie sich auch hier als solche bewähren.
Bei der Auswahl der anzugreifenden Fronten benahmen sich die Franzosen
schlau genug. Sie wählten sür sich den linken Flügel, auf welchem das Terrain
geringere Schwierigkeiten bietet, und überließen den britischen Bundesgenossen das
felsigere zur Rechten. Hieraus wird es später erklärlich werden, wenn die eng¬
lischen Sappeurarbeiten hinter den französischen zurückgeblieben sein sollten.
Was die Leistungsfähigkeit der verschiedenen Truppen sür einen Gewaltact,
wie der Sturm einer ist, anlangt, so war im ganzen Lager nnr eine Stimme
darüber, daß den englischen Bullenbeißern darin der Vorzug zukomme. Tapferkeit
überhaupt ist der Grundzug der britischen Truppen. Bei der Erstürmung ver¬
schiedener Batterien in der Schlacht an der Alma, neuerdings wieder im Tressen
von Balaklava, und bei mehren anderen Gelegenheiten, trat dieselbe cclatant hervor.
In seiner ausgestreckten Haltung, rüstig vorwärts schreitend, erschien der Engländer
größer als alle Wesen neben ihm, nicht Physisch allein, sondern zugleich moralisch,
wenn die Kugeln ganze Reihen niederrissen und dennoch die Bewegung darum
nicht eine Secunde lang stockte, und die Reihen sich mit derselben Präcision wieder
schlössen, als wenn es ein Manöver aus dem Exerzierplatz im Hvdepark gegolten
hätte.
Dagegen sind die Franzosen den Briten ohne alle Frage in der militärischen
Praxis überlegen. Man kann, ohne der englischen Armee Unrecht damit zu thun,
behaupten, daß sie vor dreißig, mehr noch vor vierzig Jahren, höher stand wie jetzt,
nämlich was den Dienst an sich angeht.
Man scheint mit der Verpflegung in beiden Armeen eine lange Zeit nach der
Landung äußerst unzufrieden gewesen zu sein. In den jüngsten Tagen indeß
minderten sich die Klagen, und Anfang dies Monats litt man keinen Mangel mehr
an Brot und Fleisch, dagegen drohete ein anderer einzubrechen: der an Munition.
Dieser Umstand allein redet sür die enormen Massen an Eisen und Pulver, welche
in dieser Belagerung verbraucht worden sind. Ohne Zweifel hat sie in dieser Hin¬
sicht nicht ihresgleichen in der Geschichte. Man wird die geschehenen Schüsse nicht
nach tausenden, sondern nach hnnderttanscnden zu berechnen haben. Und nicht
allein die Batterien der Angreifer arbeiteten Tag und Nacht, auch die Vertheidiger
waren nnr ausnahmsweise während der ganzen Zeit außer Thätigkeit.
Interessant wird es sür manchen Ihrer Leser sein zu hören, daß die Russen
anch einen äußerst geschickten Gebrauch von ihren Schiffen machten; sechs ihrer
Linienschiffe ankerten dermaßen in der Hafenbucht/daß sie die Thäler, welche nach
diesen einmünden mit ihrem schweren Geschütz bestreichen, und den darüber hin¬
laufenden Belagernngsarbeiten bedeutenden Abbruch thun konnte». Es waren die
Engländer, welche besonders von ihnen zu leiden hatten. Um sie von ihrem Posten
zu vertreiben, planirte man zwei Lancasterkanoncn in erhöhter Batterie. Die
120 pfündiger Geschosse schlugen oft genug in die Rumpfe ein; zu senken war aber
keins der Linienschiffe. Die Russen werden schließlich selbst dazu schreiten und zwar
aus dem doppelten Grund: um den Feind das reiche Material zu entziehen, und
sodann um den Hafen unbrauchbar zu machen. Auch hat man euglischerseits be¬
reits hierauf Rücksicht genommen' und eine Anzahl Sappeurs, die als Taucher ein¬
geübt sind, aus Wolwich kommen lassen. Wenn man nur erst in Scbastopol Herr
ist, wird man den Hasen bald mittelst der galvanischen Mine aufräumen.
Für die hiesige diplomatische Welt ist der Uebergang
aus dem Herbst in den Winter, der sich in diesem Jahre früher wie sonst, schon
jetzt vorbereitet, von einer besondern Bedeutung. Die Sommerpalais liegen ohne
Ausnahme an dem Bvsporgcstade, aber weil dieses sich zwischen hier und Bujukdere
beinahe drei Meilen weit ausdehnt, so werden sie zumeist von mehr oder weniger
großen Zwischenräumen geschieden. Kaum in einer andern Hauptstadt der Welt
bringt daher die Societü die gute Jahreszeit so unter sich isolirt und abgeschieden
hin wie hier. Auch sucht mau keine Vereinigungspunkte, wie reizend auch immer¬
hin das User an der Bai von Bujukdere sich als solcher empfiehlt Sobald dage¬
gen die großen winterlichen StcinhotelS in Pera mit dem sonnigen Aauh vertauscht
worden sind, wird das alles anders. Man wohnt alsdann nicht mehr getrennt,
sondern im Gegentheil so nahe beieinander, daß es nicht übertreiben heißt, wenn
man behauptet: der östreichische Jnternuntius könne aus seinem Arbcitscabinct zur
Noth mit dem Sprachrohre sich mit dem französischen Geschäftsträger. dieser wie¬
derum mit dem sardinischen Gesandten und alle drei mit dem russischen sich un¬
terreden — wenn letzterer zur Zeit hier anwesend wäre. Auch Preußens Vertreter
gehörte früher in diese enge Nachbarschaft hinein, aber er hat vor Jahren schon
das am Kreuzungspunkt der großen Pera- und einer nach Toppaua ('I>i->i<>»<;, zu
deutsch Artilleriearsenal, ein türkisches Stadtviertel) führenden Querstraße gelegene,
weit auf deu Hafen ausschauende Hotel nicht mehr bewohnt und zwei nebeneinander¬
stehenden kleinen Häusern in Arnaud-Koj am Bosporus den Vorzug gegeben, wo
er Sommer und Winter zubringt. So war das Ausscheiden Preußens aus dem
über die Geschicke des Orients berathenden Cirkel der Großmächte hier sozusagen
schou local durch seinen Gesandten vorbereitet.
Die vorerwähnten Palais liegen sämmtlich auf der linken Seite der grande
Nile oder auf dem gen Südosten sich abdachenden Hange des sogenannten Pera«
Hügels. Man überschaut von ihren Fenstern aus und im weitern Umkreise von den
Plattformen ihrer Dächer zunächst den äußern Hafen, auf dessen Fluten die fünf¬
zig Dampfer, welche hier stets liegen und kommen und gehen, ihren Tummelplatz
haben; rückwärts grenzt die Rhede die Spitze des Serails ein und gradeaus liegt
Skutari und ragen in der Ferne die Gipfel des Kaisch Dagh, und näher, zwischen
diesen und der Stadt, der hohe Bulgurlu.
Lord Stratfords Palais ist das einzige größere, welches auf der entgegenge¬
setzten Seite der Perastraße am andern Hügelhange gelegen ist. Es stellt sich als
ein gewaltiger Steincoloß dar und sein Bau soll uicht weniger als 1i>2,000 Pfd.
Sterling gekostet haben. Wie ein Riese über eine Schar von Zwergen, ragt es
aus dem Häusermeer von Pera aus, uach vier Seiten hin seine Fronten dehnend,
aber die eigentliche Autlitzseite des stolzen Baues ist dem goldnen Horn zugewendet.
Aus den hohen Bogenfenstern sieht man das Becken dieses Hafens nach rechts und
links, dort bis zu den Hohen von Ejub und hier zum Bosporus sich breite»; vor¬
wärts hat man das eigentliche Stambul seiner ganzen Ausdehnung nach, vor sich
und darüber hinaus schaut mau auf die Fläche des Marmorameeres und sieht die
Schiffe mit ausgebreiteten Segeln scheinbar dicht neben den Minarets hinsteuern,
welche die Höhen der Siebenhügelstadt krönen.
Mylord hat seinen Sommerpalast in Therapia verlassen, wie denn überhaupt
die ganze hohe Diplomatie noch, vielleicht mit einziger Ausnahme des sardinischen
Gesandten, Baron Tello, am Bosporus weilt, aber der Umzug bereitet sich vor.'
Ju vier Wochen, darauf kann man rechnen, werden sich die Vertreter Europas,
welche berechtigt sind, an hiesiger Stelle ein gewichtiges Wort zu reden, wiederum
ans dem beschränkten Raume von ein paar Hufen Landes dicht beieinander befin¬
den, und dnrch diese Ncihcrrückung allem schon wird der Verkehr uuter ihnen eine
ganz andere Gestalt annehmen. Es ist Thatsache, daß hier während des Winters
ungleich mehr diplomatische Angelegenheiten ihre Erledigung zu finden pflegen, als
während des Sommers; der bevorstehende aber verspricht noch aus ganz andern
und zwar aus ausnahmsweise» Gründen, ein sehr geschästsreicher zu werden.
Wie allbekannt ist die kriegerische Action keine ununterbrochene. Napoleon
selbst hat nur zweimal eigentliche Winterfeldzuge geführt: nämlich in den Jahren
1807 und 181^), und beide Male weil der Feind ihn dazu nöthigte. Man kann
darum mit einiger Wahrscheinlichkeit voraussetzen, daß nach Beginn der rauhesten
Monate auf längere Zeit anch dies Mal nichts unternommen werden wird und viel¬
leicht selbst aus der Krim ein Stillstand eintritt. Dergleichen Pausen hat aber
immer noch die Diplomatie mit ihren Negociationen auszufüllen gewußt, und sür
den bevorstehenden Winter muß man sich auf solche umsomehr gefaßt machen, da
zahlreiche Fragen, welche das Schwert nicht schlichten kann, im Wege der Unter¬
handlungen zu losen sind, und auch in Betreff der andern das diplomatische Corps
seiner alten Gewohnheit gemäß dem Generalstab gern Concurrenz macht.
Man ist hier nicht wenig gespannt darauf, wie sich bei diesen Negociationen
das Verhältniß zwischen den beiden Häuptern der hiesigen diplomatischen Welt,
Lord Stratford und Baron Brück, gestalten wird. Sie wissen aus meinen frü¬
hern Mittheilungen, daß beide Größen, von denen die eine in Stambul eines auf
jahrelange Geschäftsleitung am hiesigen Orte^ gegründeten Ansehens genießt, die
andere verhältnißmäßig neu ist, aber von einem großen Ruf der persönlichen Be¬
fähigung unterstützt wird — ich sage, Sie wissen, daß beide Größen, der Brite
und Deutsche, einander früher abstießen, mindestens sich gegenseitig unbequem er¬
schienen und daß während der Lord im vergangenen Winter sich sozusagen isolirte,
der Freiherr mit einer gewissen Angelegentlichkeit den Umgang des Generals (jetzt
Marschalls) Baragnay dHilliers suchte und umgekehrt von diesem gesucht wurde.
Wenn ich recht unterrichtet bin, fand vor einigen Wochen eine Annäherung statt,
und man kann sich der Hoffnung hingeben, daß in der diesjährigen Saison die
Vertreter Englands und Oestreichs einander weniger schroff gegenüberstehen werden. —
— Erinnerungen an England und Schottland. Ein Bei¬
trag zur Reiseliteratur über jene Länder und zum praktischen Gebrauch sür Besucher
derselben von Moritz von Kalkstein. Berlin, Schneider und Comp. 185L. — Der
Plan des Verfassers weicht von dem der gewöhnlichen Reisebücher wesentlich ab. In
der Regel haben die Reisebeschreiber keinen andern Zweck, als das Publicum dnrch die
Erzählung ihrer Erlebnisse zu unterhalten. Sie streben daher vor allem nach Mannig¬
faltigkeit der Eindrücke und nach Eleganz des Stils. Herr von Kalkstein dagegen
will ein wirkliches Reisehandbuch liefern, welches von späteren Reisenden als prak¬
tischer Leitfaden benutzt werden kann. Er geht von der ganz richtigen Voraus-
setzung aus, daß sich ein solcher Plan mit einer belebten und warmen Darstellung
gar wohl verträgt. Indem er es vermeidet, sich seinen subjectiven Eindrücken zu
überlassen, und überall auf die klare Darstellung des Factischen ausgeht, kommt er
den Bedürfnissen des Rcisepublicums entgegen, und dabei ist es ihm doch gelungen,
in einzelnen Theilen seines Werks, namentlich bei der Betrachtung der Knnstgegen-
stcindc, ein zugleich anziehendes und belehrendes Lesebuch zu Stande zu bringen.-"
Kein Punkt auf dem weiten Erdenrund fesselt in diesem Augenblick in
höheren Maße die allgemeine Aufmerksamkeit, wie die Krim; zu dem Haupt¬
interesse, welches sich an die Operationen der beiden kriegführenden Parteien
knüpft, tritt dort aber noch ein bedeutendes Nebeninteresse hinzu, das seine
Grundlage in der Zusammenstellung dreier so verschiedener Heere, wie das
türkische, französische und englische behufs gemeinsamer Action gegen ein viertes
hat, welches wiederum im schroffsten Gegensatz zu jedem einzelnen der vor¬
genannten steht. Die Aufforderung zum Vergleichen liegt unter solchen Um¬
ständen sehr nahe. Aber man findet sich nicht nur veranlaßt, die Russen gegen
ihre Gegner, sondern auch diese unter sich abzuwägen.
Ich versuchte, Ihnen in einem meiner letzten Briefe einen flüchtigen
Schattenriß von den Heeren der beiden Westmächte auf dem diesseitigen
Operationstheater hinzuwerfen. Eine Charakteristik gab ich damit noch nicht,
und eben dies ist die Aufgabe, welche ich mir hier zunächst stellen will. Die
Frage selbst ist nicht so unbedeutend, als sie manchem scheinen mag. Das
Heer, zumal einer Großmacht, muß stets als ein Werkzeug ihrer Politik be¬
trachtet werden. Was die letztere vermag, wird den präcisesten Ausdruck stets
in der Leistungsfähigkeit der Armee finden, welche ihr zur Verfügung steht.
Wer aber sollte nicht das lebhafteste Interesse an einer Erörterung finden,
welche die Feststellung des politischen Vermögens zweier Mächte wie Frankreich
und England zum Gegenstand hat. Für dieselbe einiges Material zu liefern,
ist es freilich, woraus ich meinerseits mich hier beschränken muß.
Bis jetzt ! hat sich das unparteiische Urtheil über die französischen und
englischen Truppen auf der Krim dahin ausgesprochen, daß die ersteren
den andern militärisch, die letzteren aber jenen physisch und mo¬
ralisch überlegen sind.
Diesen Unterschied leren man nur aus den Erzählungen von Augenzeugen,
und zwar von militärischgebildeten, kennen. Dieselben stellen es außer Frage,
daß die englische Armee auf einer ziemlich niederen Stufe in der taktischen
Ausbildung steht, daß ihre Infanterie des Geschicks entbehrt, um ein Gefecht
gehörig einzuleiten, dem Feind seine Stärke abzufragen, ihn hinzuhalten, zu
ermüden und die eignen Kräfte bis zur Stunde, in welcher die Haupt-
entscheidung fallen soll, aufzusparen; daß man den Tirailleurdienst ihr nur
schlecht gelehrt hat,, und sie ziemlich unfähig dazu ist, in der Form des mo¬
dernen Feuergefechts <zu äöban«Zk einzutreten. Ihre Vorzüge dagegen sind,
daß sie in der Fronte, beim Vormarsch kein lebendiges Hinderniß kennt und in
Linie wie in Colonne fechtend beim Fall des Zusammenstoßes nur die eine
Alternative gelten laß: entweder den Feind zu werfen oder aufgerieben zu
werden. Diese UnVerzagtheit bis zum Ertrem, diese opferfreudige Tapferkeit
wohnt kaum einer andern Truppe in der Welt inne, und sie hat sicherlich ihren
hohen Preis. Aber der Fehler klebt ihr an, daß infolge derselben eine eng¬
lische Armee sich eher abnutzen wird, wie jede andere, was hier um so schlimmer
ist, weil England unter den europäischen Großmächten diejenige ist, deren Heer
sich am schwersten ergänzen läßt.
Die französische Infanterie hat den Ruf einer hohen Bravheit von jeher
besessen; nur in den Jahren 1813 und 14 gab sie einen dann und wann sich
lächerlich ausnehmenden Respect vor den Kosacken kund, der indeß jetzt nicht
wiedergekehrt ist. Sie ist außerdem von gleichem Geschick für alle taktischen
Formen und im Tirailleurgefecht unbestritten von keinem andern Fußvolk der
Welt erreicht, geschweige denn übertroffen. , Aber den Bulldoggenstnn der
Briten, welcher sie bei jedem Gefecht sich in den Gegner sozusagen verbeißen
läßt, besitzt sie nicht. Man wird deßungeachtet in den meisten Fällen mehr
mit ihr auszurichten vermögen, wie mit der englischen Infanterie. Nur wenn
es darauf ankommt, mit ruhigem Blut eine Bresche zu ersteigen oder einer
Batterie in geschlossener Fronte entgegenzurücken, im hohlen Carre und unter
dem reihenlichtenden Kreuzfeuer wird unbestritten dieser der Preis gehören. Das
französische Fußvolk umtastet und befühlt den Feind, bevor es mit ihm ernstlich
zu ringen beginnt. Es vergewissert sich von der Stärke und Lage seiner
Muskeln und Sehnen und der Wucht seiner Kraft. Mit dem, welchen es für
zu stark erachtet, wird es schwerlich anzubinden versuchen. Die Einleitung des
Gefechts ist dann meisterhaft. Wolken von Tirailleurs, die jedes Bodenhinderniß
benutzen und hinter jedem Baum, jedem Strauch ihre Deckung suchen und
finden, weil sie mit dem größten Geschick die Vortheile auszunutzen wissen, wie
mager sie sich ihnen auch bieten mögen; — sodann leichte souliers, hinter
ihnen mobile, von einem Punkt zum andern eilende Colonnen; — im Hinter¬
grunde erst die großen Heersäulen der Schlacht und auf dem rückgelegenstcn
Hügel, der noch eine Ueberschau gestattet, der Feldherr selbst, dem Feuer der
widereinanderringenden Vordertreffen entzogen, ganz in der Lage zu erkennen,
zu urtheilen, zu lenken und zu leiten.
Wie ganz anders ist dagegen der britische Aufmarsch, das Antreten der
Engländer und Schotten zur Schlacht. Langsam genug gehen sie dem Feind
entgegen, um für längere Zeit die Zielscheibe seiner Batterien zu sein und
außerdem in geschlossenen Linien; aufgelöst, um das Terrain zu recognosciren,
wird nicht eine Compagnie. Aber in dieser gemessenen und nirgends Eile,
auch nicht im heftigsten Feuer, bekundenden Bewegung wird keine Stockung
fühlbar. Die feindlichen Kugeln sausen durch die Linien und Massen, welche
sich wie am Draht bewegen, hindurch und werfen ganze Reihen mit einem
einzigen Schlage nieder: es erschüttert sie nicht und bringt sie nicht zum Stehen.
Mag fallen wer fällt. Mit solchen Soldaten vermag man jeden Feind an¬
zugreifen, aber bei jeder Action wird die bedenkliche Frage sich aufdrängen:,
wieviel übrigbleiben werden?
Um den relativen Werth der französischen und englischen Fechtart richtig
abschätzen zu können, muß man wissen, daß der moderne taktische Calcül eben-
sowol auf die Erlangung eines numerischen Uebergewichts über den Gegner
durch eine größere Oekonomie im Ausgeben und Verbrauchen der Streitmittel,
wie auf die Delogirung desselben aus seinen Positionen hinausläuft. In dieser
Hinsicht war Napoleon der größte Taktiker nicht nur seiner, sondern aller
Zeiten; was nicht behauptet werden darf, insofern man unter Taktik lediglich
das Ineinandergreifen der militärischen Kräfte für den Zweck der Action ver¬
steht. Der Kaiser pflegte nie eine Entscheidung auf dem Schlachtfelde unvor¬
bereitet und bevor der Gegner mürbe geworden war, zu geben. Das erste,
worum es sich bei ihm im Treffen handelte, war die Deplacirung des Gleich¬
gewichts der entgegenstehenden Kräfte zu Gunsten der seinigen, und erst nach¬
dem er dieses Ziel erreicht hatte, ging er daran, den Hauptschlag zu führen,
welcher den Feind zermalmen sollte. In diesem System liegt ein hohes Ver¬
ständniß der Schlacht im allgemeinen und die neueste Zeit ist bei ihm stehen
geblieben, weil sie kein besseres zu finden wußte. Preußen und Oestreicher,
überhaupt alle gebildeten Armeen nahmen es von den Franzosen an, und zwar
noch während der gegen Napoleon geführten Kriege — die es störrig von der
Hand wiesen, waren allein die Engländer.
Die Russen hatten den Willen, sich alle modernen Künste im Kriegswesen
anzueignen; aber es gebrach ihnen für vieles an der Befähigung, es aufzufassen
und zu lernen. Ihr Fußvolk hatte zur Zeit der Napoleonischen Kämpfe den
Ruf, solid, und im besonderen in der Colonne äußerst tauglich zu sein.. Gute
Tirailleure hatten sie nie, mit Ausnahme der finnischen Jäger. Das ist wol
so geblieben, nur mit dem Unterschiede, daß Kaiser Nikolaus, durch seine über¬
triebene Vorliebe für Gamaschendienst, auf Kleinigkeiten ein Gewicht zu legen
nöthigte, welches der Ausbildung der soldatischen Kerntugenden nothwendig Ab-
' bruns thun mußte. Unter dem Einfluß von oben her ist der russische Infan¬
terist daher mehr und mehr zur Paradepuppe als zum für das Feld geschulten
Kriegsmann geworden. Das russische Fußvolk trägt, namentlich was die
Garde- und Linienregimentcr angeht, das Gewehr wie kein andrer senkrecht
und gleich einer aufgesteckten Kerze im Arm, und die Richtung beim Desilircn
(Parademarsch) ist unübertroffen — aber dabei geht ihm die Fähigkeit ab, die
allereinfachsten Ausmarsche ohne Hilfe der kleinen Lehrsähnchen und die Di-
stancen markirenden Offiziere zu machen. Ihre Evolutionen haben daher etwas
Langsames und Schwerfälliges und sie verkündigen sich dem Feind im voraus,
ehe ihre Ausführung noch begonnen hat, durch die angewendeten Erleichterungs¬
mittel.
Man wird für eine Infanterie stets sicher das Maß ihres Werthes finden,
wenn man zu ermitteln weiß, was sie den beiden anderen Waffen gegenüber
zu leisten vermag. Das russische Fußvolk ist wegen seiner Solidität im Stande,
den Anprall der Cavalerie auszuhalten, aber Artillerie hat es zu fürchten, weil
ihm, etwa in ähnlicher Weise wie den Engländern, das Geschick mangelt, en
«Zod!M<Za sich der Batterie zu nähern und dennoch der Muth sür ein geschlos¬
senes Darauflosgchen, wie es von den Briten beliebt wird, nicht der Mehr¬
zahl der Russen eigen ist. Ihre Bravour bewährt sich in der Passivität und
diese ist es durchschnittlich, welche sie den Wirkungen des vernichtenden Feuers
mit einer Art von heroischen Stumpfsinn entgegensetzen.
Schwarze, eherne Massen, scharfkantig wie aus Granit gehauen standen
in der Almaschlacht die russischen Colonnen da. Sie rührten sich zumeist nicht,
und harrten festen Fußes auf den nahenden Feind. Aber im Shrapnellfeuer
der englischen Batterien lichteten sich die dunklen Schlachtsäulen schnell auf, sie
hatten Fassung genug, um den Platz nicht zu verlassen, aber fast mangelte ih¬
nen die kühle Umsicht, ihre Reihen wieder zu schließen, in welche endlich die
Schotten mit gefälltem Bajonett einbrachen — das Bild ist verbraucht und seine
Anwendbarkeit mag Zweifel erregen, aber es wird von Augenzeugen gebraucht
— wie der Wolf unter die Lämmer.
Damit stimmt das, was mir oft von den Türken in Betreff des Wider¬
standes, welchen sie im Handgemenge mit den Russen gefunden hätten, gesagt
worden ist, sowie die Erzählungen des Oberst Graah (des Vertheidigers von
Silistria) mir ebenfalls ein Beleg dafür waren. Die Russen, wird von den
osmanischen Offizieren behauptet, trugen nur etwa solange das krystallinische
Gefüge, welches sie zu taktischen Formen einigt, solange der Gliederbau des
Aufmarsches nicht gebrochen ist. Es i"it nicht die Individuen, die wir vor
uns haben, sondern Massen. Nur dem Ganzen, nicht dem Einzelnen, nur dem
Bataillonskörper als solchen, nicht den 800 bis -1000 Mann, aus denen er
sich zusammensetzt, wohnt Geist und Willenskraft inne. Hat man die Forma¬
tion gesprengt, so ist man Herr der Herde, gleich dem Wolf, der die Hürde
durchbrochen.
Damit ist zugleich die ganze Schroffheit des Gegensatzes gezeichnet, der
zwischen dem russischen und türkischen Soldaten obwaltet. Der letztere ist jenem
an und für sich unendlich überlegen, und Sie dürfen sich darauf verlassen, daß,
indem ich dies ausspreche, ich mich durch keine Rücksicht der Parteinahme be¬
stechen lasse. Wer möchte ableugnen, daß der Osman fähig ist, sich in jede
taktische Form zu finden. Auch der gemeine Mann hat dafür ganz außeror¬
dentlich viel Fassungsvermögen. Wenn er deßungeachtet noch nicht mit den
Soldaten der besseren europäischen Armeen taktisch auf ein und derselben Stufe
steht, so liegt dies an der zur Zeit noch sehr mangelhaften Anleitung. Man
hat nämlich die preußischen Jnstructeure in ihrer Wirksamkeit nur auf die Ar¬
tillerie und auf Festungsbauten beschränkt, und glaubte Infanterie und Ca-
valerie lediglich mittelst türkischer, im Auslande erzogener Offiziere organisiren
zu können, eine Erwartung, in der man sich getäuscht gesehen hat, waS nichts¬
destoweniger zu keiner Aenderung der Methode führte. Der Nutzen, welchen
das Rcnegatenthum der türkischen Armee gewährt, ist, im Vergleich mit dem
Jnstructeurwesen nur als gering zu achten. Der erste Renegat, Omer Pascha,
hat selbst erwiesenermaßen nur wenig organisatorisch gewirkt; indeß gehört eine
Besprechung dieser Verhältnisse nicht zu der mir hier vorschwebenden Aufgabe.
Wie gern auch der gemeine Mann hier zu Lande sich in die taktische
Form cinschmiegt, und wie gefügig und anstellig er auch immerhin ist, mit
anderen ein Ganzes auszumachen, handelt er dennoch am liebsten selbstständig
und ist in dieser Hinsicht mehr Individuum als Maschine, was beim Russen
grade umgekehrt ist. Eben hierauf beruht aber die Befähigung des Osmanen
für das Einzelgefecht und für die Vertheidigung von Fortisicalionen. Man
wird heute uoch Anstand nehmen müssen, eine türkische Armee im offenen
Felde einer russischen gegenüberzustellen; aber man wird nicht zaudern dürfen,
dieselbe Armee, ja die Hälfte, den vierten Theil sogar, in eine verschanzte Po¬
sition zu führen, damit sie dort dem Feinde standhalte. Damit ist ein Thema
berührt, dessen gewissenhafte Behandlung eine analytische, zerlegende Erörterung
verlangt; ich spare mir dieselbe für eine andre Gelegenheit auf, indem sie mich
hier, ohne Frage, zu weit führen und vom Hauptgegenstand ablenken würde.
Die vier auf der Krim engagirten Heere dürfen sich sämmtlich nicht rüh¬
men, eine ausgezeichnete Cavalerie zu besitzen. Deutschlands Armeen sind ih¬
nen darin unbestritten überlegen, und unter ihnen gebührt wiederum der östrei¬
chischen der Vorrang. Außerdem ist 'auf dem betreffenden Kriegstheater der
Raum zu Neiterthaten beschränkt, weil das Terrain der freien Bewegung wenig
günstig ist, und es bei den Actionen sich meistens um den Besitz von Schanzen
und Stellungen handelt, endlich ein Theil der Operationen in dem Festungs¬
krieg aufging.
Die Franzosen haben von den Verbündeten die meiste Cavalerie überge¬
schifft, indeß kaum mehr als, 4000 Pferde. Was Lord Raglan anfangs unter
den Händen hatte, mochte sich auf 2000 Pferde belaufen, es ist aber jetzt auf
höchstens 1200 reducirt. Die Türken resigniren völlig darauf, Reiterei zur
Verwendung zu bringen. Demnach haben wir die Cavalerie der Alliirten auf
nicht höher als 5000 Pferde anzuschlagen, was auf etwa 8S,000 Mann zu
wenig ist, um in Betracht gestellt zu werden.
Die einzige brillante Neiterthat, welche seither vorkam und mit Erfolg
gekrönt war, wurde von den englischen rothen Garden bei Balaklava ausge¬
führt. Sie kennen jenes prächtige Regiment aus mehrfachen Schilderungen.
Alle Pferde sind Schimmel; die Reiter hochgewachsen, wahre Athleten, gleich
ihren Rossen; funkelnde Kürasse, blitzende Helme und hohe Federbüsche ver¬
mehren die Macht des Eindrucks, und, seltsam zu sagen: dieser Effect war es
im besonderen, welcher in der bezeichneten Affaire den Ausschlag gegeben hat.
Die Russen standen in zwei Colonnen, eine jede zu acht Schwadronen. Auf
diese drittehalbtausend Pferde stürzen sich die Rothen im vollen Rosseslauf mit
verhängtem Zügel. Der Angriff ist fürchterlich und die Russen, kaum in Be¬
wegung gesetzt, werden ihrerseits dermaßen überrascht, daß ihre sechzehnfachen
Glieder auseinanderstieben und das Feld mit abgeworfenen Reitern und führer¬
losen Pferden sich bedeckt.
In derselben Schlacht kam ein zweiter englischer Neiterangriff aus eine
große, russische Batterie vor. Die Leichter waren es, welche ihn ausführten,
aber sie reussirten nicht und gingen zu Grunde, weil sie nicht ablassen wollten.
Zum Aufklären des Terrains ist die englische Cavalerie ebensowenig zu
verwenden wie das britische Fußvolk und es bildet einen Hauptvorzug der
französischen, daß sie damit Bescheid weiß. Man rühmt in dieser Hinsicht hier
am meisten die eingeborenen algierischen Reiter und die Chasseurs dAfrique.
Die Leistungen der Kosacken aus diesem Gebiet sind über alles Lob erhaben,
wie sich von selbst versteht.
Ich redete zuletzt von der Cavalerie; aber da ich den ersten Theil deS
Aussatzes erpedirte, ohne mir anzumerken, womit ich ihn geschlossen, bin ich
einigermaßen in Verlegenheit darüber, waS ich schon gesagt, und was ich
nicht gesagt habe.
Allerdings hat sie im Augenblick, wo der Krieg wesentlich im coupirten
Terrain geführt wird, keine große Bedeutung; aber als nützliche Hilfswasse
vermag sie auch jetzt schon aufzutreten, und zwar ziehen die Russen und Fran¬
zosen erhebliche Vortheile von der ihrigen. Ich redete schon von den Diensten,
welche die Reiterei beim Aufklären des Gefechts- und Marschfeldes leistet, und
daß die französischen Chasseurs dAfrique und die Beduinen aus Algier in
dieser Kunst ercelliren. Diese letzteren befinden sich in der Regel um die Person
des Höchstcommandircnden geschart. Auf ein Zeichen sieht man sie, wenn
der Chef zum Recognosciren vorgeritten ist, nach allen Windrichtungen strah¬
lenförmig auseinanderjagen. Sie reiten eine englische Meile und weiter. Am
Horizont erkennt man die einzelnen, wie sie Völker sprengen, bis sie nach
kurzer Abwesenheit zurückkehren und ihren Rapport über das Gesehene in
größter Ordnung abgeben, dergestalt, daß der Oberbefehlshaber sich eine klare
Vorstellung von dem bilden kann, was innerhalb eines bedeckten Terrains
auf einer Fläche von mehren Meilen Durchmesser sich zuträgt.
Die Kosacken scheinen nach einem complicirteren Kundschaftssysteme zu agiren.
Man sieht ihrer immer zwei zugleich auf den verschiedenen Hängen erscheinen.
Sie kommen vorsichtig, den Kopf nach allen Richtungen ausreckend heran,
aber ziemlich nahe, und ohne sehr die weittragenden Miniibüchsen zu fürchten.
In den Thälern schreiten etwas rückwärts haltend ähnliche Posten vor. Sind
sie auf den rechten Punkt gelangt, von dem aus sie die erwünschte Uebersicht
haben, so machen sie halt, blicken genau nach allen Seiten aus, geben Zeichen
mit ihren Lanzen, schwingen die Mützen und conespondiren so nach rückwärts
wie ein Telegraph. Endlich werfen sie ihre Pferde herum und sind verschwunden,
bevor man es ahnet.
Die englische Cavalerie ist zu diesem Dienst, wie bemerkt, nicht zu ver¬
wenden, und, seltsam zu sagen, hat Lord Raglan zum Ersatz sich damit begnügt,
einen einzigen Offizier in seinem Gefolge zu haben, der, begleitet von einigen
Tartaren und bis an die Zähne bewaffnet, in vorkommenden Fällen auf
Kundschaft ausgesendet wird.
Allenthalben wo die Cavalerie zurücktritt, hat die Artillerie eine um so
größere Aufgabe zu erfüllen; im besondern hier, wo sie in der doppelten Ge¬
stalt als Belagcrungs- und Feldartillcrie auftritt.
Man kann die Zahl der gegenwärtig in der Krim verwendeten bespannten
Feldgeschütze auf 200 Stück annehmen, wovon -110 allein auf die französische
Armee kommen. Ich will hier von der englischen Artillerie zuerst sprechen.
Sie hat etwa sechzig Stück zur Stelle.und zwar lassen dieselben, was Ma¬
terial und Bedienung angeht, nichts zu wünschen übrig. In Hinsicht auf
die Ausbildung kommt es der Waffe in England sehr zu Statten, daß sie in
Woolwich einen Centralort besitzt, der nicht nur Mittelpunkt für das Geschütz-
Wesen der Landarmee, sondern auch sür das der Flotte ist. Dadurch werden
alle Verbesserungen erleichtert, der Dienst erhält gleichsam ein centrales Leben
und es wird Möglich, denselben mit allgemeinen Maßregeln zu umfassen.
Diesen glücklichen Verhältnissen entspricht die taktische Ausbildung der
britischen Artillerie. Sie steht in dieser Hinsicht auf einer hohen Stufe und
besitzt namentlich ein vortreffliches Interpersonal. Den Offizieren macht man,
wie allen englischen, zum Vorwurf, etwas zu sehr Gentlemen zu sein, zu
wenig mit dem Dienste und seinen Anforderungen verwachsene Soldaten.
Kommt eine englische Batterie von rückwärtsher in die Schlachtlinie und hat
sie abgeprotzt, so wird eine, uns Continentalmilitärö erschrecklich lang dünkende
Zeit folgen, bevor sie dazu gelangt, den ersten Schuß abzugeben. Dieser erste
Schuß aber weicht dann auch nur wenig vom Ziele ab, und die nächstfol¬
genden werden dasselbe schwerlich verfehlen.
Die französische Artillerie hat gleich der Infanterie, lange Zeit den Ruf
für sich gehabt, die erste in der Welt zu sein. Vielleicht ist sie dies in Wahrheit
noch. Aber nach dem zu urtheilen, was ich höre, schießt sie weder besser wie
die englische, noch wie die türkische. Das französische Material ist vortrefflich,
ob indeß die neuen Granatkanonen besonderes leisten und der Plan des
Kaisers Ludwig Napoleon, sie zum Normalgeschütz zu erheben, Beifall verdient,
lasse ich dahingestellt sein. Da General Canrobert über hundertundzehn
Geschütze zu verfügen hat, so wird er im Stande sein, einen Massengebrauch
von seiner Artillerie zu machen, und sich in dieser großen Kunst des ersten
Napoleon zu versuchen. Wir müssen abwarten, ob der Detailbericht über das
Treffen von Jnkerman einen derartigen Versuch schon nachweiset, und wie er
ausgefallen ist.
Die (russische) Artillerie ist lange Zeit für die schlechteste Waffe unseres
Gegners gehalten worden. Insofern man es jetzt noch thut, begeht man einen
Irrthum. In der Schlacht an der Alma schoß sie durchaus nicht schlecht,
und beim jüngsten Kampf vor Balaklava (23. und 26. October) bewahrte sie
den dort errungenen Ruf. Was sie bei Jnkerman geleistet, bedarf noch einer
näheren Feststellung. Die große Zahl der Getesteten aus Seite der Verbün¬
deten spricht aber für ihre Wirksamkeit vorläufig zur Genüge.
Vielleicht sind die Russen in der Gegenwart diejenigen, welche die oben
erwähnte Kunst Napoleons, die Artillerie massenweise ins Gefecht zu bringen,
am besten anzuwenden verstehen. Aber ihre Geschützlinien wissen nicht durch
rasche Offensivbewegungen den entscheidenden Punkt zu erreichen, wie dies die
ehemalig kaiserlich französischen bei Wagram.(Aderklaa) und Friedland (am
Sortlaker Wald) verstanden, sondern sie harren hinter maskirenden Jnsante-
rielinien, bis der Feind in ihren Bereich gekommen, und wirken auf diese
Weise zwar überraschend aber immerhin doch mehr als Positions- wie als
Manöverartillerie.
Diese Hinterhältigkeit der Schläge entspricht dem slawischen Charakter.
ES ist derselbe Zug, der sich in der Ermordung des englischen Offiziers auf
dem Schlachtfeld von Alma von Seiten eines russischen Verwundeten darstellt,
welchem jener eben zuvor aus seiner Feldflasche einen Trunk gereicht hatte.
Die Leistungen der türkischen Artillerie sind in jüngster Zeit zu vielfach
besprochen worden, als daß es nicht wie überflüssig erscheinen müßte, hier
noch ein weiteres über sie zu bemerken. Wie man weiß, wurde sie durch den
Preußischen Oberstlieutenant von Kuczkowski (Muchklis Pascha) nach preußischem
Vorbild organisirt, wie denn derselbe Offizier noch jetzt die obere Leitung der
Waffe in Händen hat. Ohne Frage zielt der osmanische Artillerist besser
wie der russische. In der Affaire vor Balaklava waren die fünf Redouien
vor der englischen Fronte mit je zwei Geschützen besetzt; die türkischen > Ka¬
noniere dabei hielten damit mehre Stunden, lang gegen hundert russische
Kanonen Stand, von denen viele demontirt wurden.
Zum Schluß noch ein Wort über die höheren Befehlshaber. Lord Raglan
scheint in seiner Person die doppelte Natur eines tapferen und wackeren Sol¬
daten mit der eines Äußerst gewandten Diplomaten zu verbinden, eine Com-
position, die sich nicht selten findet, und für welche Wellington selbst als ein
andres Beispiel angeführt werden kann. Feldherrntalente hat Se. Herrlichkeit
nicht, und kaum kann man von ihm behaupten, daß er es verstehe, eine Armee
regelrecht ins Treffen zu führen, oder einen Marsch zu ordnen, oder endlich
die Vorpostenkette um ein Lager her zu etabliren.
In der Schlacht an der Alm« war Lord NaglanS Benehmen der Art, daß
es beinahe der Voraussetzung Raum gab, er habe eine recht in die Augen
fallende Bmvour entfalten wollen. Als nämlich eine englische Batterie ab¬
protzte, um eine russische Geschützreihe zum Schweigen zu bringen, nahm er,
mit seiner Suite dicht hinter den britischen Kanonen Stellung. Die russischen
Kugeln hagelten; der Dampf verhinderte ihn, irgendetwas zu sehen, aber —
er blieb. Er änderte auch seinen Posten nicht, als ein Adjutant dicht neben
ihm niedergeschlagen wurde. „Mein Gott! was macht denn aber Se. Herr¬
lichkeit!" rief ein beigeordneter französischer Offizier ein über das andre Mal
zu einem deutschen gewendet aus; — „was will er denn hier? — Haben Sie
jemals so etwas gesehen?"
Bei dem berühmten Umgehungsmarsch, mittelst welchem die englische Armee
von der Nordseite der Sebastopoler Bai nach Balaklava gelangte, ritt Lord
Raglan mitten im Walde, vor der Tete der vordersten Colonne. Hinter ihm
folgte Artillerie, sodann Infanterie, endlich Cavalerie. Das Ganze war der¬
maßen arrangirt, daß ein Pult Kosacken eine sehr in Verlegenheit Setzende Be¬
gegnung veranlaßt und den Oberfeldherrn dicht vor seiner Armee mit leichter
Mühe gefangen haben würde.
Die französischen Generale kennen das Handwerk genau; sie lassen sich
keinen Verstoß zu Schulden kommen, sind meistens da, wo sie hingehören, und
wenn sie etwas fortreißt, ist es allein der Ungestüm.
Ueber General Canrobert im besonderen vermochte ich mir noch keine Mei>
mung zu bilden. Er ist fünfundvierzig Jahre alt.und verhältnißmäßl'g noch
jung, namentlich wenn man ihn mit seiner Herrlichkeit vergleicht. Ob er ein
großer Strateg ist, d. h. ein Kopf, welcher die großen, namentlich räum¬
lichen Verhältnisse des Krieges zu erfassen weiß, muß ich dahingestellt sein
lassen. Seine Fähigkeit, Massen zu bewegen, steht außer Zweifel. Er ist au¬
ßerdem im Besitz der höheren Kunst, sie zu elektrisiren. Und bei dem allen
tauchen leise Zweifel in mir auf — ob er sich aus der Höhe der Krisis befinde,
die mit der Schlacht von Jnkermau ihren Anfang genommen zu haben scheint.
Man kann aus Princip ein Gegner Oestreichs sein, wie die Italiener,
Polen und Ungarn von ihrem nationalen Standpunkte aus es sind und es sein
müssen, sobald sie denselben nicht verlassen wollen: aber d i e Anerkennung darf
man heute dem Kaiserstaate nicht versagen, daß seine Regierung es verstanden
hat, die großen Verhältnisse zu erfassen, in deren Mitte die Monarchie hinein¬
gestellt worden ist, und daß sie beim Erkennen der ihrer harrenden Aufgaben
der Klarheit, und beim Einschlagen der zu ihrer Lösung hinführenden Wege
deS richtigen Urtheils und der logischen Schärfe, insbesondere gepaart mit der
Fähigkeit, Entschließungen zu treffen, nicht ermangelte, wie selten dies alles
auch im sonstigen Deutschland ist. Nachdem die italienische und ungarische
Jnsmrection dem Wiener Cabinet die Nothwendigkeit dargelegt hatten, seine
innere Politik auf eine durchaus neue Basis zu stellen, und, um ähnliche
Ereignisse wie die in der Lombardei und im Magyarenlande für die Zukunft
zu vermeiden, fortan den homogenen Einheitsstaat als oberstes, höchstes Strebe¬
ziel hinzustellen, wirft plötzlich die orientalische Frage durch den Conflict zwischen
dem westlichen und östlichen Europa auch alle Stützen der seitherigen äußern
Politik Oestreichs darnieder, sprengt den großen, die Continentalvorgänge
bis dahin beherrschenden Dreibund der beiden deutschen Großmächte mit Ru߬
land, und führt es hart auf die Grenze des Bruchs mit dem letzteren Staate.
Von welchem anderen Reiche könnte man sagen, daß seine innere und
äußere Politik in derselben kurzen Zeit einen derartigen Umschwung erlitten
hätten! Frankreich, als es aus der Monarchie zur Republik sich umwandelte,
wechselte damit allerdings einen Theil seiner innern, aber sowenig seine äußern
Interessen, oder vielmehr die Grundsätze, nach welchen dieselben ihre Vertretung
sanden, daß man behaupten kann, König Ludwig Philipp und seine Minister
würden den Staat durch die vier ersten Jahre nach der Februarrevolution kaum
anders geführt haben, als General Cavaignac und der Präsident Ludwig
Napoleon.
Auf Grund dieser doppelten Inanspruchnahme Oestreichs durch eine un¬
geheure Aufgabe nach innen und eine nicht minder großartige nach außen,
muß man seine politische Action auf dem einen Gebiet in diesem Augenblick
nie anders als unter der billigen Rücksichtnahme der Verhältnisse auf dem
andern zu würdigen versuchen. Es scheint dies eine Forderung der Gerechtig¬
keit zu sein, die man am mindesten grandiosen Bestrebungen gegenüber ver¬
leugnen darf. Ich bemerke dies, weil ich glaube, daß Oestreich in solcher
Hinsicht neuerdings oft unrecht geschehen ist.
Ein Schritt, welcher hier letzthin wiederum die ganze alte Erbitterung gegen
den Kaiserstaat wachgerufen hat, die mau in den Jahren der Bewegung und
unmittelbar nach deren Unterdrückung gegen ihn hegte, ist die durch seinen
Einfluß bewirkte Ausweisung der in türkischen Diensten stehenden ungarischen
und italienischen Emigranten aus den Donaufürsteuthümeru und den an¬
grenzenden Districten Bulgariens. Djese Maßregel war für die Betheiligten
hart, und der Pforte selbst war sie wenig genehm; auch gab dieselbe wol uur
den besonders drängenden Umständen nach, als sie sich entschloß, sie auszu¬
führen; aber vom Standpunkte der innern östreichischen Politik aus war sie
ganz sicher consequent, und insofern logisch gerechtfertigt.
Mit dieser Ausweisung scheint nun aber Oestreich auch alles erlangt zu
haben, was es billigerweise nach der bezeichneten Richtung hin von der Psorte
verlangen konnte. Hoffen wir, daß es mit derselben Schärfe, mit welcher eS
seither das was ihm unerläßlich war zu unterscheiden wußte, auch die Grenze
erkennen werde, welche seine Forderungen nicht überschreiten dürfen, wenn
anders sie nicht als Prätensionen betrachtet werden sollen, die ihren Ausfluß
in der Ueberzeugung von der Bedrängnis) und Schwäche des Nachbars finden.
In diesen Tagen muß der Türkei und gleichzeitig den beiden Seemächten
alles daran gelegen sein, ein gutes EinVerständniß mit Oestreich zu bewahren.
Deshalb traf wol noch zu keiner Zeit die Politik des Wiener Cabinets bei
England, Frankreich und der Pforte auf eine in so hohem Maße geneigte
Stimmung. Dieselbe hat umgekehrt für den Kaiserstaat einen hohen Wcrll),
indem auf ihre Dauer die Möglichkeit der Ausführung seiner orientalischen
Pläne sich gründet, wie überhaupt seine internationale Position darin ihre
neue Grundlage findet. Aber es wäre ein großer Irrthum, wenn der k. k. Hof
annehmen wollte, diese günstige Stimmung wäre eine bedingungslose und der
Orient wie die Westmächte befänden sich in der Lage, Oestreich um seben Preis
sich zum Freunde erhalten zu müssen.
--Seit Abgang meines letzten Briefes sind wiederum kleinere fran¬
zösische Verstärkungscorps zu Schiffe hier nach der Krim durchgegangen. Die¬
selben werden im Hasen von Chersones ausgeschifft. Der Verlust, welchen die
verbündeten Heere durch Krankheiten erleiden, ist immer noch groß. Von den
Genesenen wird aus den hiesigen Spitälern nur ein Theil nach dem Kriegs¬
schauplatz zurückgesendet; ein andrer kehrt zu den Depots der betreffenden
Truppentheile in der Heimat zurück.
Von der Donau verlautet, daß die Stellung Omer Paschas mehr und
mehr unsicher werde. Man bezeichnet den östreichischen Einfluß als denjenigen,
welcher dem Feldherrn nicht wohlwollte; außerdem arbeiten hier mehre höchste
Würdenträger von ehemals und jetzt an seinem Sturz. Am meisten Feind
scheint ihm Mehemed Ruschdi Pascha zu sein, derselbe, welcher lange Zeit hin¬
durch dem Kriegsministerium vorstand und hernach Minister ohne Portefeuille
im Ministerium Mustafa Paschas (einer Null, hinter der die doppelte In¬
spiration Mehemed Alis und Neschid Paschas stand), wurde. Möglich, daß
Mehemed Ruschdi nach der Würde eines Serdar Ekrem trachtet; daß er sie
erhält, ist deßungeachtet sehr unwahrscheinlich. Wenn Sie mir gestatten wollen,
eine Vermuthung auszusprechen, die noch wenig Halt in sich hat und vorerst
lediglich auf der Combination einiger Umstände beruht, so möchte ich dem Ach-
med Pascha, welcher zur Zeit das Gardecorps commandirt, eintretendenfalls
Omer Paschas Nachfolge prophezeihen. Er ist zwar noch nicht Muschir, steht
aber im Begriff, es zu werden; seine Erziehung erhielt er in Wien und erstand
sich allezeit gut mit den Vertretern Oestreichs, mochten sie Konsuln oder Jnter-
nuntien sein. Behalten Sie diesen Mann im Auge; über seine Eigenschaften
erlaube ich mir noch kein Urtheil; aber er scheint mir aus dem Punkte zu stehen,
in die Bahn einer großen Rolle einzutreten.
Es ist schwer, schon jetzt zu sagen, welche Folgen ein Wechsel im Oberbefehl
der osmanischen Donauarmee mit sich bringen würde. Wenn einige behaupten
wollen, daß dieselbe sodann eine Gesammtverwendung in der Krim finden werde,
so halte ich solche Ansicht sür mindestens noch etwas frühreif. Meine Argu¬
mentation für ihr Verbleiben in der Walachei steht aber sozusagen auf zwei
Beinen: tritt Oestreich dem Bündniß der Westmächte mit der Türkei bei und
bricht es definitiv mit Nußland, so wird es sich nicht gern einer Hilfsmacht,
wie die türkische Donauarmee sie ist, beraubt wissen wollen, die ihm manche
nützliche Dienste erweisen kann; geschieht das dagegen nicht, so würde es un-
rathsam sein, die osmanische Waffenmacht im Norden des Balkan noch mehr
zu schwächen oder gar in gesammter Stärke nach einem entlegenen Kriegsschau¬
platz zu führen.
Seit Ausbruch des Krieges haben England und Frankreich beständig Com-
missäre im Hauptquartier Omer Paschas gehabt, und neuerdings hat auch
Oestreich einen solchen in der Person des Oberstlieutenants Kalik gesendet.
Sie kennen den Colonel Dien, welcher an der besagten Stelle Frankreich
zu vertreten hat, aus vielfachen biographischen Notizen, die zur Zeit der falschen
Nachricht von seinem Tode (April 183i) in den französischen Journalen abge¬
druckt waren. Es ist ein kleiner Mann, von nicht eben einnehmenden Zügen,
aber eher gewinnend in seinem Benehmen, wie abstoßend, spricht ruhig und
überlegsam, scheint ein guter Zeichner zu sein und besitzt jedenfalls schätzens-
werthe militärische Kenntnisse. Seine beiden Adjutanten sind Capitains vom
französischen Generalstab und liebenswürdige Offiziere.
Eine wesentlich andere Persönlichkeit ist der, in gleicher Eigenschaft wie
Oberst Dien bei Omer Pascha commandirte Bevollmächtigte Englands, der
frühere Hauptmann (Capitain) und jetzige Oberstlieutenant Siemers. Er ist
eine hohe Gestalt, mit offenem, aber sehr klugem Gesicht, im Auftreten von ge¬
ringerer Zurückhaltung, als der Franzose, fast lebhafter als dieser, der Waffe
nach Ingenieur, aber erst seit Ausbruch des Krieges wieder reactivirt, nach¬
dem er vorher den Abschied genommen und sich viele Jahre hindurch dem Eisen¬
bahnwesen gewidmet hatte. Er steht in directer Correnspondenz mit dem eng¬
lischen Ministerium und dem Lord Stratford zu Konstantinopel, hat aber kein
gutes Einvernehmen zwischen sich und dem Chef der britischen Operalivnöarmee,
Lord Raglan, zu vermitteln gewußt.
,, Oberstlieutenant Siemers ist im allgemeinen wenig beliebt, und wenn
Omer Pascha eine gewisse Affection für ihn kundgibt, handelt er dabei wol
lediglich politisch und nicht aufrichtig. Ueberhaupt ist es ihm wol nur lästig,
in solcher Gesellschaft zubringen zu müssen, und er wünscht die Rathgeber und
Berichterstatter, welche ihm officiell zur Seite gestellt worden sind, über alle
Berge.
Oberstlieutenant Kalik hat letztlich ein Trio voll gemacht, in welches man
als dritten nicht füglich einen mit den beiden ersten weniger stimmenden
Mann hineinstellen konnte. Wie ich höre, ist er nicht beständig im os-
manischen Hauptquartier, sondern macht dann und wann Reisen. Ich kenne
ihn persönlich nur flüchtig vom Ansehen her, und mein Urtheil, soweit es
hierauf beruhen könnte, wäre darum äußerst begrenzt; allein mir ist vieles
von unterrichteter Seite her über ihn mitgetheilt worden, was mir zu einer
gewissen Anschauung über seine Carriere, .seinen Charakter, und seine Fähig¬
keiten verholfen hat. Die letzteren wurden mir von mehren Seiten als ganz
bedeutend geschildert, und man bemerkte dabei übereinstimmend: Kalik sei die
rechte Hand des Feldzeugmeisters Heß im Bereich der Fürstenthümer. Was
eine directe und beschleunigte Ausführung erheische, gehe durch ihn. Er ist
'übrigens noch jung und mag mit Siemers in einem Alter stehen, d. h. etwa
sechsunddreißig Jahre zählen.
Kalik war bis zu Beginn der orientalischen Wirren im östreichischen Ge¬
neralstab angestellt, und darnach Chef derjenigen Abtheilung der Wiener Ope¬
rationskanzlei, welche alle auf die Türkei Bezug nehmenden militärischen An¬
gelegenheiten zu bearbeiten hat. Das Feld, auf welches er sich jetzt hingewiesen
findet, war ihm mithin bereits durch längere Arbeiten bekannt.
Wie es heißt, will Omer Pascha auf zehn Tage hierher kommen. Wenn
es geschieht, ist es ein letzter Versuch, den der Serdar Ekrem macht, um seinem
Ansehen, welches seit dem Donauübergang der Russen unbestritten gelitten hat
und durch das Verhalten, welches er dem bedrängten Silistria gegenüber inne¬
hielt, mindestens Abbruch erlitt, wieder aufzuhelfen und dem drohenden Sturze
vorzubeugen. Natürlich betrachtet er die ganze Frage nur von dem Stand¬
punkte der Ehre, die er als angetastet erachten würde, wenn es seinen Feinden
gelingen sollte, seine förmliche Absetzung zu bewirken. Das hohe Gehalt eines
Oberfeldherrn hat kein Gewicht in seinen Augen, und auch seine Gegner wissen
sehr wohl, daß Gewinnsucht nie das Motiv irgend seiner Handlungen gewesen
ist. Er gilt für keinen guten Wirth, und nach türkischer Großen Weise mögen
manche Forderungen, welche Handwerker, Kaufleute und Lieferanten an seine
Privalkasse zu machen hatten, längere Zeit hindurch unberichtigt geblieben sein;
aber im allgemeinen sind seine finanziellen Verhältnisse regulirt, und wenn ich
recht unterrichtet bin, hat er den Anfang zur Begründung eines unabhängigen
Vermögens gemacht, dessen Belauf man auf die, für die in Rede stehenden
Verhältnisse nur geringfügige Summe von dreimalhunderttausend Gulden Con¬
ventionsmünze veranschlagen kann.
Die hier herrschende Witterung ist erschrecklich schlecht und hat die meisten
Straßen in breite Kothrinnen verwandelt. Seit etwa vierzehn Tagen regnet
es fast ununterbrochen, und nur dann und wann blickt auf die Dauer einer
Viertel- oder halben Stunde die Sonne durch die finsteren Wolkenschleier. Das
sind äußerst üble Verhältnisse sür die. Fußgänger, und zu diesen gehören die
bei weitem meisten auch der bemittelten Classen, denn Wagen sind nur von
wenigen Reichen gehalten und können in den meisten Stadtgegenden nicht be-
nutzt werden, weil die Straßen theils zu steil, theils zu eng und winklig sind
— aber der Vegetation wird mächtig durch den starken Zufluß von Feuchtigkeit
Vorschub geleistet. Die Abhänge aller Berge sind aufs neue mit dem frische¬
sten Grün bedeckt, und nachdem in den jüngsten Tagen der Wind, welcher
lange Zeit beständig aus Norden wehte und es so rauh machte, daß die Kohlen¬
pfanne, welche man hier Mangal nennt, in allen Zimmern, auch der Aermsten,
nicht mehr entbehrt werden konnte, plötzlich nach Süden umgeschlagen ist, kommen
auch allenthalben, wo sie Boden und Schutz zum Emporkommen finden, Blumen
hervor, und treibe,» rasch zur Blüte. Als ich gestern und vorgestern über ver¬
schiedene Kirchhöfe ging, bemerkte ich unter den Cypressen junge Rosen, die
eben im Knospen waren, und des ersten Sonnenkusseö zu harren schienen, um
sich zu entfalten.
,,,
Wenn ich die während meines hiesigen Aufenthaltes gemachten Witterungs¬
erfahrungen überschaue, so muß ich eingestehen, daß die vielgerühmten Klima¬
vorzüge der Lande, am Bosporus nicht so groß sind, als man in der Regel
wol, namentlich auswärts, annimmt; daß der Sommer von Stambul allerdings
heiß genug ist, um mit dem von Neapel und Lissabon in eine Linie gestellt zu
werden, und die Nächte in jener Jahreszeit nicht selten die Schwüle der Tage
nachempfinden lassen; daß aber schön im September, und namentlich zu An¬
fang Octobers, die Wage sich sichtlich nach der andern Seite hinüberneigt.
Ausnahmen wie z. B. der Herbst im heißen Jahre 1831, wo die warme Wit¬
terung bis in den December hinein fortdauerte, kommen vor; aber sie sind sehr
selten und der Fall, wo der Frühling im Januar schon beginnt, der ebenfalls
vorkommt, wurde von mir noch nicht erlebt. Der diesjährige Herbst ist unge¬
wöhnlich früh eingetreten, und nachdem eine Reihe von Stürmen aus Nord
und Süd die Blätter von den Bäumen geschüttelt, strömt nun seit beinahe zwei
Wochen unaufhörlicher Regen darnieder und nur dann und wann lüften sich
die grauen Wolkenvorhänge, um einen Sonnenblick hindurchzulassen. Im en¬
geren Sinne ist die Jahreszeit, in welcher wir nun stehen, der Spätherbst, mit
allem Vorgeschmack vom Winter.
Gleichwie Heine in Paris sich wehmüthig der deutschen Nachtwächter und
des Rolands uuter dem Rathhaus und der veilchenblauen Augen vaterländi¬
scher Mädchen erinnerte, gedenkt ein Deutscher beim Anschlagen des Regens
an die lecken und undichten Fenster Stambuler Wohnungen und beim Sausen
des eisigen Nordwindes, der großen, bunten Kachelofen, in der heimlichsten
Ecke des vaterländischen Gemachs und der, dicken Steinwand des Hauses mit
den tiefen Fensternischen. Wie vieles lassen doch hier Fußboden und Dächer
zu wünschen übrig! Wie fühlt man erst recht in der türkischen Hauptstadt, daß
der Mensch ein sich zwischen Nothwendigkeiten und Bedürfnissen bewegendes
Wesen ist, und es sich in der Zone europäischer Cultur ohne Frage am besten
leben läßt.
Dabei kann man nicht in Abrede stellen, daß Stambul, und insbesondere
Pera, von Jahr zu Jahr Fortschritte macht, in Hinsicht auf äußeren und in¬
neren Comfort. Am schnellsten wußten sich die Moden in Bezug auf den An-
zug hier Geltung zu verschaffen und ich bin überzeugt, daß in dieser Hinsicht
der letztere Stadttheil mit Wien und Berlin wetteifern kann. Wie sich von
selbst versteht, ist es der französische Geschmack, welcher hier dominirt. Das
bekunden schon die Schnitthandlungen in der grande Rue de Pera, die sich
auf ihren Aushängeschildern als „aus Paris" zu empfehlen suchen. Das
Geschäft geht gut, denn kaum wird in einer andren Stadt von den mittleren
Classen ein größerer Lurus entfaltet. Seinen eigentlichen Ausdruck findet aber
der letztere erst in den Boutiken und Läden der hiesigen Juweliere. Man kann
davon zwei Classen unterscheiden: die türkischen und fränkischen. Erstere haben
ihren Sitz im Bazar von Stambul und nehmen ausschließlich eine ganze Ab¬
theilung desselben Mu. Die andren wohnen zumeist in Pera und auch in
Galata. Sie sind wol der Mehrzahl nach Jsraeliten, wie denn überhaupt das
hiesige kaufmännische Geschäft hauptsächlich sich in jüdischen Händen befindet.
Wie aber die Unterscheidung zwischen Morgenländischen und Abendländischem
hier überall hindurchbricht, sondern sich auch die hiesigen Juden in fränkische
,und orientalische. Man kann nicht mit Bestimmtheit sagen , welche Classe die
besseren und ausgedehnteren Geschäfte macht; vielleicht sind es die letzteren.
Sie haben außerdem die Majorität. Aber auch das' zahlreiche israelitische
Proletariat gehört ihnen an. Dasselbe concentrirte sich seither in zwei Haupt¬
punkten: in der Vorstadt Haskoj und in einer andern, Namens Ortakoj, welche
letztere (am 18. October) abbrannte und nun die Stätte eines noch weit grö¬
ßeren Elends geworden ist. Dort herrschten bereits vor der Feuersbrunst wahre
Ghettozustände. Es war nicht selten, daß drei Familien ein einziges, nicht gar
zu großes Zimmer zur Wohnung hatten und gezwungen waren, daselbst an
ein und demselben Feuer zu kochen. Jetzt lagern die meisten unter Zelten und
Breterbuden, während die Cholera entsetzliche Verheerungen unter ihnen an¬
richtet. Borgestern Nacht starben stebenundzwanzig Menschen in Ortakoj an
der Epidemie, die sonst hier nicht herrscht.
In Pera und Galata hat, wie bekannt, der hiesige Großhandel seinen
Sitz; aber auch die kleineren Gewerbe halten hier ihre Boutiken und Werk¬
stätten. Durchschnittlich wohnen in beiden Stadttheilen nur wohlhabende und
reiche Leute. Die Wohnungen bestehen zum Theil aus Steinhäusern, sind im
fränkischen Geschmack, mit türkischer Beimischung, eingerichtet und bieten von
Jahr zu Jahr mehr Comfort dar. Dieses erhellt schon aus dem Aufkommen
großer Möbelhandlungen in den jüngsten Zeiten, während vordem nur grie¬
chische und einige deutsche Tischler für den Bedarf sorgten. Nur feinste Lurus-
möbeln scheinen noch nicht ausreichenden Absatz zu finden. ^ .
Was einigermaßen befremden muß, ist der Mangel einer permanenten
Truppe von Bühnenkünstlern. Die hiesige Oper stellte ihre Vorstellungen im
Winter von 18S2/33 ein, und Sänger wie Sängerinnen, Direktor und Capelle
verschwanden seitdem. Man sagte mir, daß die Gesellschaft nicht ihre Rechnung
gefunden habe, was ganz unbegreiflich erscheint, da das Haus meistens sehr
besucht gewesen sein soll.
Es ist höchst ergötzlich, ein hiesiges Parterre zu beobachten. Bunter ge¬
mischt mag sich kaum ein andres auf dem Erdenrund finden. Die Orien¬
talen lieben das Schauspiel wie Musik und Gesang ungemein, und nehmen
mit jener ungebrochenen Naivetät Antheil an der scenischen Entwicklung, welche
nur die Halbcultivirten bewahrt zu haben scheinen. Von künstlerischem Ver-
ständniß ist natürlich keine Spur bei ihnen vorhanden, und ihr Begriffsver¬
mögen von der Sache reducirt sich beim Drama auf die Auffassung der in der
Handlung zur Darstellung gebrachten Charaktere; um den Dialog gründlich
zu bessern, ermangeln sie meistens der sprachlichen Kenntnisse.
Man schiffte heute Nachmittag wieder Verwundete aus, die vom Schlacht¬
feld von Jnkerman ausgenommen und hierher gesendet wurden: Engländer,
Franzosen und Russen. Die Schlacht selbst (gekämpft am ü. November) wird
Ihnen längst bekannt sein und auch ein Bericht über ihre Hauptzüge dürfte
Ihnen beim Anlangen dieser Zeilen (über Paris und London) nicht mehr
fehlen. Sie war eine der blutigsten nicht nur unsrer Tage, sondern des Jahr¬
hunderts, und man kann sie dreist den gewaltigen Kämpfen des ersten französischen
Kaiserreichs zur Seite stellen. Engländer und Franzosen scheinen gleich zahl¬
reich am Ende des Tages dabei engagirt gewesen zu sein; aber am Vormittag
wurde das Terrain mehre Stunden hindurch von 4000 Mann britischer Truppen
allein vertheidigt, die während dieser Zeit, unter des tapfern Cathcart Führung,
Wunder des Heldenmuthes verrichteten. Leider gehörte er zu denen, die mit
ihrem Leichnam die Wahlstatt decken sollten. Die Franzosen kamen, wie schon
einmal, nicht ganz zur rechten Zeit, sondern etwas verspätet. Uebrigens befand
sich letztlich General Canrobert, der Höchstcommandirende, selbst im Treffen.
Ihm wurde ein Pferd unter dem Leibe erschossen; eine Kugel zerriß ihm die
Epaulette; mehre andre durchlöcherten den Sürtout. Dieser brillante Soldat
war allenthalben, wo die höchste Gefahr seine Gegenwart erheischte, indeß
weiß ich nicht, ob seine taktischen Dispositionen in dieser Schlacht besser ge¬
troffen waren als die des weiland Marschall Se. Arnaud an der Alma.
Gefangene scheint man nur wenige gemacht zu haben; auch wurde der Feind
nicht verfolgt, sondern man gestattete ihm, beinahe unangefochten in seine
Positionen zurückzukehren. Sein Verlust wird auf achttausend Mann an
Todten und Verwundeten geschätzt.
Der Zweck des russischen Angriffs auf den englischen äußersten Flügel¬
punkt bei Jnkerman wird von einigen daraus gedeutet, daß man damit das
Observations- und Belagerungscorps momentan hätte trennen wollen, um
Vortheile aus einer derartigen Eventualität zu ziehen, vielleicht darnach sogar
einen der beiden Heertheile mit gesammelter Macht zu überwältigen. Andere
sind der Meinung, es habe sich dabei nur um eine Diversion zu Gunsten eines
großen Ausfalls aus der Festung gehandelt, welcher auch wirklich stattfand
und infolge dessen drei Batterien der Belagerer beinahe völlig zerstört wurden.
Wie dem nun auch sein möge, die Russen haben gezeigt, daß sie zu einer
äußerst activen Kriegführung befähigt sind, und zugleich die Kräfte besitzen,
um derselben, gegenüber dem Heere der Verbündeten, einen offensiven Charak¬
ter zu geben.
Hier in Konstantinopel hatte man sich in den ersten Tagen der ver¬
gangenen Woche mit ganz anderen Erwartungen, als auf die Nachricht von
einer derartigen Schlacht geschmeichelt und, wie auch ich Ihnen dies damals
schrieb, die Wegnahme von Sebastopol in nächster Aussicht vermuthet. Neuer¬
dings ist kaum noch die Rede von einem Sturm auf die Festung und es tritt
dagegen eine andere Frage in den Vordergrund: die nämlich, ob die Russen
im Stande sein werden, ähnliche Angriffe, wie der jüngste bei Jnkerman,
demnächst zu wiederholen. Geschieht dies, dann wird man dem Platz gegen¬
über eine defensiv-beobachtende Stellung einnehmen und sich darauf beschränken
müssen, die seither ausgeführten Arbeiten zu wahren, ohne im Stande zu sein,
den gedeckten Vorgang weiterzuführen. Der Hauptaccent der Kriegführung
wird in diesem Falle nach der Ebene zwischen Jnkerman und Balaklava ver¬
legt werden, wo es gilt, zwei Drittel der ganzen Armee zu vereinigen, um
dem erneuerten Andrange zu widerstehen.
Natürlich wird dies nur ein Provisorium sein, aber ein solches, dessen
Dauer erst mit der Ankunft der von Marseille her in Aussicht gestellten Re¬
servearmee enden dürfte. Was man auf der Krim vor allen Dingen nöthig
hat, ist, um es rund herauszusagen, die doppelte Zahl der bis dahin dort
vereinigt gewesenen Truppen. Dieselben werden in diesem Augenblick nicht
ganz 80,000 Mann ausmachen — man wird demnach neuer 80,000 Mann
bedürfen, um die Dinge schnell zu Ende zu führen, Sebastopol zu nehmen,
und über Backtschi Serai und Siinpheropol vorrückend, den Angriff aus die
Linie von Perekop zu verlegen.
Es scheint, daß man in Paris und London, namentlich am ersteren Orte,
die Lage nicht als so schwierig sich vorgestellt hat, wie sie es ohne Frage seit
zwei oder drei Wochen wirklich ist. Die Mittel, welche man bis heute in
Anwendung gebracht hat, sind mindestens wenig noch den großen Dimensionen
deS vorgesetzten Zweckes proportional. Zur Zeit langen auf einzelnen Dam¬
pfern nur erst ganze und halbe Bataillone an. Allerdings kann man die
Zahl der wöchentlich eintreffenden Verstärkungen aus mehre tausend Mann
annehmen, aber ebensoviele und mehr werden durch eine einzige Schlacht wie
die von Jnkerman mit einem Schlage aus der Rechnung gestrichen, so daß
man kaum annehmen darf, die Armee sei wirklich stärker geworden, als sie bei
Eröffnung der Belagerung war.
Die Witterung war, im schroffen Gegensatz zu hier, bis zum Anfang der
letzten Woche in der Krim sehr zufriedenstellend; nachher traten trübe Tage
und Regengüsse ein, die indeß nicht lange andauerten. Der Herbst nimmt
demnach in Taurien einen durchaus anderen Verlauf, als im Bosporus, wie-
wol vorauszusehen ist, daß der furchtbare Sturm, welcher, während ich Ihnen
dieses schreibe, eben über Stambul dahinbraust, auch eine Witterungsän-
derung für die Nordgestade des Pontus herbeiführen und die rauhe Jahres¬
zeit eröffnen wird.
Man bangt hier sehr davor, daß die tosenden Windstöße den Flotten
bedeutende Verluste zufügen werden. Die egyptische Marine büßte bereits in
dem Orkane, welcher während der Nacht vom 30. zum 31. October wüthete,
zwei größere Kriegsschiffe, nämlich einen Dreidecker und eine Fregatte ein,
und das türkische Linienschiff Mahmudieh von 132 Kanonen gewann nur mit
Mühe den Eingang der Meerenge, nachdem es viele Gefahren uns dem schwar¬
zen Meere ausgestanden hatte.
In den letzten Tagen langten hier vier Linienschiffe des französischen Ge¬
schwaders von Sebastopol an; sie gehören der Abtheilung an, welche Hei
Gelegenheit des Angriffs aus die Forts am Eingang der Rhede sich im Feuer
befanden, und gehen nach Touloy, um sich ausbessern zu lassen. Man ver¬
mißt unter ihnen mit Befremden die „Ville de Paris", welche bekanntlich bei
jener Gelegenheit am meisten gelitten hatte. Möglich, daß man sie vorerst
nach Sinope sendete, um im dortigen Arsenal die allerdrohlichsten Schäden zu
repariren, bevor sie sich der Bevölkerung von Stambul zeigt.
Man kann nicht leugnen, daß dies alles Vorkommnisse sind, die zu manchen
dunklen Besorgnissen Anlaß, zu geben vermögen. Umsomehr ist es nothwen¬
dig, alle Sehnen und Muskeln anzuspannen, um Verluste auszugleichen,
die schon groß sind, und wie die Dinge nun einmal liegen, mit jedem Tage
durch andere vermehrt werden können. Um keinen Preis gebe man die Unter¬
nehmung auf. England liegt zu fern und seine Hilfsmittel für die Land¬
kriegführung sind nicht schnell genug auszubeuten, als daß man heute an
seine Thätigkeit und seinen Großhirn appelliren dürfte; aber Frankreich ist wol
füglich im Stande, den vier französischen Divisionen in der Krim schnellstens
drei oder vier weitere nachzusenden.
In der Nacht von gestern zu heute wüthete hier ein Sturm, wie man ihn
seit lange nicht erlebte. Die Wogen im Bosporus gingen hoch, und hätte
das Unwetter am heutigen Vormittag angedauert, so würden selbst die Dampfer
es für unräthlich erachtet haben, zur Herstellung der Vermittlung zwischen den
Schwesterstädten verschiedener Welttheile, Konstantinopel und Skutari, sich aus
dem goldenen Horn hinauszuwagen.
Man ist hier in banger Erwartung in Hinsicht auf das mögliche Unheil, wel¬
ches der Sturm auf dem Pontus in den Reihen der verbündeten Flotten ange¬
richtet haben mag, zumal der Untergang des egyptischen Dreideckers und der ihm
beigegeben gewesenen Fregatte, an der Küste von Rumelien, bei Jntäda und Kara
Bann, noch im frischen Angedenken ist. Gegen tausend Menschen fanden bei
diesem Doppelschiffbruch ihren Tod; unter ihnen der Admiral Hassan Pascha,
dem man in den höheren türkischen Beamtenkreisen, wo er bekannt und beliebt
war, ein allgemeines Bedauern zuwendet.
Die Cholera wüthet nach wie vor in dem meiner Wohnung benachbarten
Ortakoj; man rechnet, daß gegenwärtig täglich über dreißig Menschen sterben.
Nichtsdestoweniger geschieht viel für die in ihren leichten Holzbuden lange Zeit
den Nachtfrösten und den durchschlagenden Regengüssen preisgegebenen Abge¬
brannten, für die es, neben ihren Leiden, ein glücklicher Umstand ist, daß der
Sultan diesen Winter in Tschiraghan residirt und von dem Elend in seiner
Nähe unmittelbare Kenntniß nehmen kann.
Noch größere Scenen des Jammers als jenes Dorf sollen die französischen
und englischen Lazarethe zur Zeit darbieten. Man wird nicht zu hoch greifen,
wenn man annimmt, daß zur Zeit über zehntausend Mann darin aufgenommen
sind. Die meisten davon sind Verwundete, die aus den drei Schlachten an
der Alma, bei Balaklava und Jnkerman herrühren, und zwar hat man auch
viele hundert Russen neben Franzosen und Engländern in Pflege genommen.
Wie es immer zu geschehen pflegt, wird die genaue Verlustliste bei den Treffen
erst spät ermittelt; die an der Alma verwundeten und getödteten englischen
Soldaten belaufen sich genau auf 2-196 Mann. Ich könnte rund 2200 schrei¬
ben — allein ich will mich aufs strengste an die amtlichen Ermittlungen
halten.
Wie Sie wissen, sehlte es eine Zeitlang im englischen Spital an so man¬
chem. Man hat jetzt weniger Klagen, aber es wird die Besorgniß laut, daß
die vorhandenen Räumlichkeiten nicht mehr ausreichen dürften, um demnächst
die doppelte Zahl an Kranken und Verwundeten zu fassen, aus die man noch
im Laufe des Winters rechnen muß. Bereits wurde die französische Armee¬
intendanz in die Räume der russischen Kanzlei verlegt, welche man vordem ge¬
sonnen war, gleich dem Gesandtschaftspalais selbst, unberührt stehen zu lassen.
Vielleicht daß man sich später auch veranlaßt sehen wird, letzteres zu belegen.
Soviel ich weiß würde damit gegen keinen Artikel des internationalen Rechts
verstoßen werden, denn wenn zwei Staaten, wie Rußland und das osmanische
Reich, untereinander gebrochen haben, und so entschieden gebrochen, wie es
hier der Fall ist, kann im Bereich des einen für den andern kein neutrales
Gebiet respectirt werden.
Die Nachricht von der seitens des Kaisers von Rußland beschlossenen
Wiederherstellung Polens mußte hier nothwendig einen diesen Eindruck machen.
Es ist das ein politischer Fcchterstreich, der nicht minder gegen die beiden deut¬
schen wie gegen die Westmächte zielt und nicht verfehlen wird, allen zugleich
bedeutende, jetzt noch unberechenbar erscheinende Verlegenheiten zu bereiten.
Wenn auch ein Theil der Polen sich damit nicht zufrieden geben wird, die Zu¬
stände des „Congreßkönigreichö" retablirt zu sehen — und soviel man weiß,
beabsichtigt der Zar bis dahin noch nichts Weiteres — so haben doch hiesige
Emigranten, wie man wissen will, der Diplomatie erklärt, daß die Maßregel
ihres Wissens nicht alles Anklanges unter dem polnischen Rolle entbehren
werde, und eine nationale Fraction jedenfalls sich bereirsinden lassen werde,
auf diese Bedingungen hin mit Nußland zu gehen.
Die meisten Gesandten sind nun endlich aus dem Bosporus, wo sie
während des Sommers residirten, in ihre Winterpalais zu Pera zurückgekehrt.
DaS Signal dazu gaben die Herren von Brück (östreichischer Jnternuntius)
und Monsieur Benedetti (französischer Geschäftsträger). Nur Lord Nedcliffe
weilt nach wie vor noch in Therapia, und bewahrt aufs neue den obigen
gegenüber eine Nückhaltung und Jsolirungssucht, die er nur eben in den
letzten Tagen des September, mitten im Jubel über die Schlacht an der
Alma, auf einige Tage hatte fallen lassen, und welche ihm seit Anbeginn der
orientalischen Differenzen zur Regel geworden zu sein scheint. In den letzten
Tagen hatte er wol Ursache mürrisch zu sein, denn die Dinge gehen nicht so
wie man es erwarten durfte und im besondern wie man im Interesse der
guten Sache wünschen muß.
Der Weg zum Seriaskerat oder dem osmanischen Kriegsministerium ist,
obwol durch die winkligen Gassen Stambuls hindurchführend, darum nicht zu
verfehlen, weil der hoch aufragende Ganginkulle (Brandthurm) oder Seriasker-
thurm, welcher im Hofe dicht vor dem Haupteingange steht, und von nller-
wärts her gesehen werden kann, ihn für jedermann weiset. Nachdem man eine
der beiden Brücken passtrt hat, nimmt man die Richtung auf den schlanken
Bau, und kann nach zwölf bis fünfzehn Minuten an Ort und Stelle sein.
Eine Mauer schließt die verschiedenen Gebäude ein, welche das Seriaskerat
ausmachen und läßt außerdem einen weiten Platz, den Hof, frei, auf welchem
der Thurm steht, und wo mindestens S000 Mann Raum zum Manövriren fin¬
den würden. Am Ganginkulle vorüber, schreitet man dem Haupteingange zu,
und, nachdem man unten einem Kapudschi (Thorhüter) seine Ueberschuhe über¬
geben, und dieser dieselben mit anderen hundert Paar Schuhen von ähnlicher
Art in Reih und Glied gestellt hat, gelangt man auf einen geräumigen Vorsaal,
dessen Fußboden mit einfachen Wandsbecker belegt ist. Eine große Anzahl auf
Audienz oder in sonstigen Angelegenheiten Wartender findet sich hier versammelt;
die meisten sind Türken, aber man findet auch Engländer, Franzosen und eine
Menge militärischer Abenteurer, Italiener, Ungarn und Polen, welche hier ihre
Anstellung im türkischen Heere auszuwirken suchen. Das Ganze hat den An¬
strich des Langweiligen, wie alle Vorzimmer. Ich bedaure jeden, der lange
warten muß, aber auf diesem Flur zu harren ist doppelt unangenehm, da sich
nicht ausreichende Plätze zum Niedersetzen finden. Doch da kommt ein türkischer
Offizier aus der sich öffnenden Thür rechts, und sagt uns, daß der Seriaöker
uns zu empfangen wünscht. Durch ein schmales Gemach schreitend, treten wir in
einen geräumigen länglichen Saal. Die Einrichtung ist halb türkisch, halb mo¬
dern europäisch. Am Boden die unvermeidliche Strohmatte, aber von ausgezeich¬
neter Qualität, die Wände sind weiß und mit breiten, broncerahmigen Spie¬
geln verziert, ein Kamin mit Marmorgesims befindet sich im Hintergrunde, zu
dem das Licht aus sechs oder sieben breiten Fenstern fällt; ich suchte in dem
weiten Raume einen Augenblick den Seriasker umsonst, und erblickte ihn end¬
lich in der Nähe eines der Fenster sitzend, und damit beschäftigt, Briefe zu
unterschreiben oder vielmehr zu untersiegeln, indeß ein Diener vor ihm kniete
und ihm ein losgegangenes Schuhband wieder festzuknüpfen schien. Es war
Risa Pascha (in französischer Schreibweise Niza), den ich vor mir hatte. Seine
Figur ist klein und erreicht kaum die mittlere Grüße; aber das Gesicht ver¬
kündet einen Mann von Geist und Energie; mindestens vermuthet man einen
klaren Verstand hinter diesen unvergleichlich hellen, beinahe glühenden Augen
und der breiten Stirn. Um die letztere her, unter dem Fez hervorquellend,
liegen schwarze Locken. Der Bart ist von derselben Farbe und üppig; der
Teint etwas stark gebräunt; von Alter schätze ich den Kriegsminister für einen
mittleren oder angehenden Vierziger. Seine Carriere war schnell und brillant,
denn er bekleidete dies hohe Amt bereits vor zehn Jahren auf längere Zeit,
und gelangte damals unmittelbar vom vortragenden Rath des Kaisers da»u.
Wenn der Seriasker redet, so geschieht es in einem gemessenen Tone. In
seiner ganzen Erscheinung liegt eine unbegrenzte Würde und Anmuth. Da ich
länger verweilte, hatte ich Muße, ihn in seinen Gewohnheiten zu beobachten.
Nachdem er die Unterschriften beseitigt hatte, wurde ihm ein Tschibuck gereicht,
und nach zehn Minuten mit einem andern vertauscht. So sah ich ihn vier
oder fünf rauchen. Es ist diese Art zu rauchen vielleicht auf das feinste Ver¬
ständniß des dabei stattfindenden Genusses begründet, und beruht daraus, daß
der obere Tabak nur einen vollkommen reinen Geschmack hat, denselben aber
weiter unten hin verliert. Uebrigens war das Rauchrohr nur ein Spielzeug
sozusagen in seiner Hand, die fortwährend gesticulirte. Gesticulationen sind im
Orient bei allen Nationen ein äußerst wesentliches Unterstützungsmittel der
Rede, und man wird erst dann türkisch oder Persisch oder neugriechisch zu spre¬
chen sich rühmen können, wenn man auch Meister in den Hand- und Arm-
ausreckungcn zur gehörigen Zeit, im Geberdenspiel und in dem namentlich un¬
erläßlichen Schnalzen mit der Zunge ist.
Als ich den Rückweg antrat, wurden im Hofe des Seriaökerats eben tune¬
sische Truppen gemustert, von denen es hieß, daß sie nach der Krim gesendet
werden sollten. Sie unterscheiden sich von den türkischen Soldaten namentlich
durch das höhere Fez und die krepprothen, französischen Beinkleider. Der Ge¬
sichtsausdruck schien mir weniger intelligent zu sein, als man ihn bei den os-
manischen Nisams antrifft. Uebrigens machten Leute und Ausrüstung sich nicht
übel, und das 'Ganze hatte einen militärischen Anstrich, welchen, manche Trup¬
pengattungen größerer Armeen entbehren.
Die Franzosen werden erst jetzt in ihrer Theilnahme an den Ereignissen
in der Krim lebendig. Diese Theilnahme äußert sich nicht mehr allein in den
gebildeten Kreisen, nicht nur in der officiellen Welt, in den Handelskreisen,
die Massen beginnen die Erpedition in das Bereich ihrer Unterhaltungen zu
ziehen und wie gewöhnlich ist das Interesse mit einem Sprunge so groß ge¬
worden, daß es jedes andere verschlungen hat. Das Volk, der Ouvrier und
der Taglöhner^ der Concierge und die dienende Welt, der Auvergnat, der
das Monopol über Wasser und Feuer in Paris ausübt: sie alle leben und
weben in dem Drama, das sich vor Sebastopol zwischen den drei mächtigsten
Staaten Europas abspielt. Wehe dem Inwohner, der es seinem Portier in
diesem Augenblick zuzumuthen versucht, sein Journal abzuliefern, ehe er von
dem traditionellen ^us primae 1<zetiom8 nach Belieben Gebrauch gemacht hat.
Der Portier vergißt eher die Stiefeln seiner unehelichen Clienten zu wichsen,
er denkt nicht an unsre sklavische Gewohnheit, des Morgens Kaffee, Thee oder
Chocolade zu uns zu nehmen — er vergißt alles, nur sein Journal nicht.
Wenn er nicht in Gemeinschaft mit Krämern oder College» aus der Nachbar¬
schaft beim Marchand de vin über einem Glase Wein (dessen Theuerung bei-
tausig auch dem Kriege zugeschrieben wird) Kriegs- und politische Zukunfts¬
pläne macht, sitzt er daheim im Lehnstuhl und studirt emsig den Siscle oder
die Patrie. Die Frau schmollt in einem Winkel und verwünscht die Männer
mit ihrer Knegsleidenschaft und seufzt über Sebastopol, daß aus dem Selbst¬
beherrscher aller fünf Stockwerke auch noch einen Autokraten des kleinen Haus¬
wesens in der heimlichen finstern Loge macht, in welcher sonst gemüthlich
Canaans über die sämmtlichen Bewohner der Straße erzählt, nach Umständen
erdichtet wurden. Die gute Frau muß sich wie ein Dramenheid mit Monologen
behelfen, während sie über den Suppentopf wacht. Der Mann bleibt mit
imponirender Würde an seinem Staatsgeschäfte und paukt sich gewissenhaft die
Argumente ein, welche ihm die Egeria seiner politischen Weisheit in so reichem
Maße darbietet. Seit die Presse nicht mehr frei ist, wird mit großem Ernst
nicht nur das discutirt, was gesagt wird, unsre pfiffigen Haushunde, welche
mit ihrer Glockenschnur an die Loge gebunden sind, schnüffeln mit lobenswerthem
Eifer zwischen den Zeilen herum, ob nicht irgendwo ein inedirter Knochen auf¬
zuschnappen wäre, an dem der Gegner in der Schenke sich einen Zahn aus-
brechen könnte. Der Inwohner ist gewiß, die Loge offen zu finden, so spät er
auch heimkommen mag — der Concierge wacht gegen seine Gewohnheit, er
reicht uns ebenfalls gegen seine Gewohnheit mit freundlicher Zuvorkommenheit
das Licht und sucht unter allerlei Vorwänden ein Gespräch über die Zustände
und Vorgänge des Moments mit uns anzuknüpfen. Cerbera dehnt sich mit
ungern errungener Bequemlichkeit in dem breiten Himmelbette aus. Sie schläft
den Schlaf der Gerechten, nachdem sie mit vergeblicher Beredtsamkeit das Un¬
nütze und Schädliche der nächtlichen Journallectüre und Kannegießerei ihrem
verstockten Politikus zu schildern versucht hatte. Alles was sie gewinnt, ist,
sich selbst in den Schlaf zu demonstriren. Abermals wehe dem Bewohner,
welcher ohne sich von dem eil, Kien, monsisur, 11 parat «zus esta va mal angeln
zu lassen in sein Bette zu kommen sucht. Er wird in den Bann gethan —
für ihn vergißt der Auvergnat den Wassertag, ihm geht das Holz aus, er
wird wie ein Stiefkind behandelt, er muß Hiobsleidcn ausstehen. Schreiber
dieser Zeilen zollt mit bewunderungswürdiger Geduld den unvermeidlichen Zoll
der häuslichen Ruhe, diese Holz- und Wasserstcuer. Er liest ohne Murren
sein fettes oder rußiges Journal, er hat die Feigheit soweit getrieben, sich
bei seiner Hauspolizei zu entschuldigen, daß er zuweilen Journale in englischer
oder deutscher Sprache zugeschickt bekommt, die leider dem wißbegierigen Portier
(ich hoffe, er liest es nicht, daß ich vergessen habe, Concierge zu schreiben)
nicht zugänglich sind. Es ließe sich eine interessante Abhandlung schreiben
über den Zusammenhang der hiesigen Conciergeeinrichtung mit dem politischen
Absolutismus, der sich unter den Regierungen aller Parteien und jeder Form
in Paris, also in Frankreich, geltendmacht.
Wir wollten längst schon eine Monographie der Pariser Portiers schreiben,
allein wir schreckten jedes Mal vor der Schwierigkeit dieser Aufgabe zurück.
Die deutschen Touristen, die über Paris geschrieben haben, liefern fast alle
Beiträge zur Geschichte dieser naturhistorisch-etnographischen Merkwürdigkeit, aber
sie schildern meist einzelne Exemplare, wie sie selbe sozusagen im Fluge studirt
haben. Die Concierges in einem Hotel meublv, in dem Touristen gewöhnlich
ihren Sitz aufschlagen, sind nämlich blos eine Abart, welche keinen richtigen
Blick in die wahre Natur dieser Herrscher von Paris gestattet. Der Concierge
eines Hotel meuble ist ein mediatisirter Fürst, der blos seinen Gehalt bezieht
und den leeren Titel einer erträumten Macht führt. Er ist ein Diener der
Vermietherin und nicht die Leibgarde des Hauseigenthümers. Die Vermietherin
aber hängt von den Launen der Fremden ab, sie muß diese zu gewinnen, allen
ihren Gewohnheiten und Phantasien zu schmeicheln wissen und der Concierge
ist ein serviler Abklatsch dieser interessirten Dienstbereitwilligkeit, dieser lackirten
Gutmüthigkeit, hinter welche sich der schmuzigste Eigennutz verbirgt. Der
Concierge des Hotel meubls kann mit keiner Aufkündigung drohen, nachdem
man sich die Wände mit neuen Tapeten bekleben ließ, nachdem man sich in
einem Hause warm eingenistet hat. Der Concierge der Maisons garnies ist
eine kosmopolitische Sparbüchse, in welche Trinkgelder aus allen Weltgegenden
fallen, und sie klingt munter jedem Groschen entgegen, der zu ihrer Füllung
beiträgt. Der Concierge der Maisons garnies ist wie der Beichtvater von
Gefangenen, wie eine' Krankenwärterin, er ist darauf angewiesen, schnell Ver¬
trauen zu gewinnen und innige Freundschaft zu schließen, um sie ebenso schnell
zu vergessen. Der Fremde wird dupirt und der gemüthliche Deutsche entwirft
gerührt ein reizendes Bild von der theilnehmenden und wohlthuenden Gestalt
des Herrn und Madame Jacotot. Wieweit aber ist von diesem zu dem Cherub
mit der Klingelschnur, der uns vor dem Thore unsres Paradieses im Winter
zappeln und im Sommer die Sterne bewundern läßt!
Daß aber der Concierge auch der möblirten Häuser die Aufmerksamkeit
des Fremden auf sich zieht, ist natürlich, denn er theilt mit dem Genus der
Portiers die Eigenschaft des Parisers. Der Concierge ist Pariser par exosUsnos.
Die Minister, Künstler, Journalisten, Bankiers, Magistrate, hohe Offiziere,
Wechselagcnten und Loretten recrutiren sich auch und zum größern Theile aus
der Provinz oder aus der Fremde. Der Portier ist gebürtiger und geborner
Pariser. Man erzählt sich Beispiele von staatsmüden Concierges, die sich in
die Heimlichkeit des Landlebens zurückgezogen haben, aber es gibt keinen Fall
von einem Concierge, der aus der Provinz nach Paris gekommen wäre.
Ein anderer Grund, warum die Conciergefamilie selten verfehlt, einen ge¬
wissen Eindruck auf den Fremden zu machen, ist der, daß der Concierge
gewöhnlich eine gefallene Größe ist, ein zugrundegerichteter Kaufmann, ein
unglücklicher Jndustriemann, und daß er nicht verfehlt, dies an den Tag zu
legen.
0n neue rütisssur on pvöts ums vn no und pas ecineier^s. Das
egyptische Kastensystem ist diesem Geschlechte noch fremd. Die Portierloge ist
eine Klosterzelle, in die man sich zurückzieht, um über die Vergänglichkeit der
menschlichen Größe — erbauliches Nachdenken zu pflegen und statt des üblichen
c>n pari« an LonoierKe könnte die Aufschrift über den Logen ebensogut vamtus
vanittttum vanita8 lauten.
Der Concierge haßt die menschliche Gesellschaft, die sich in irgendeiner
Weise gegen ihn vergangen hat und darum flicht er einen Bund mit dem
Racheengel der heutigen Societät, er gesellt sich der providentiellen Sendung
des modernen Attilas bei, er ist der Tristan jenes Louis XI., der Proprietaire
de Paris heißt. Der Pariser Concierge zeigt sich noch auf andere Weise: er
schickt seine Töchter ins Konservatorium und läßt sie Klavierkünstlerinnen
werden oder wenn die Mutter das Genie einer ouvrsuse se loxs hat, macht
sie aus ihrer Tochter eine Tänzerinn, eine Statistin oder sie bildet sie ohne
diesen künstlerischen Uebergang gleich zur Lorette aus. Der Sohn geht seinen
eignen Weg, erwählt eine bürgerliche Carriere, er wird Handlungsbeflissener,
GarcM de bureau bei einer Eisenbahnverwaltung oder bei irgendeinem öffentlichen
Amte, er wird Pompier, Clerc de.notnire oder auch Commis voyageur.
Der Concierge tritt in seiner ganzen Eigenthümlichkeit erst dann auf, wenn
er mit dem Proprietaire sich gepaart fühlt — er will also in einer Maison
bourgeoise studirt sein. Weder im Hotel garni, wo er seine innerste Natur
abstreift, noch im Hotel eines Finanzkönigs oder eines Aristokraten, wo er
eine kümmerliche Nachäffung des stattlichen Suisse von ehemals geworden —
ist der Concierge er selbst.
Der Concierge in Paris hat folgende Attribute, welche sofort die ganze
Wichtigkeit seiner Person in das klarste Licht stellen werden. Er vermiethet die
Wohnungen und stattet dem Eigenthümer Bericht über seine Inwohner ab.
Wem er ein schlechtes Zeugniß ablegt, der wird durch die Folter einer fort¬
schreitenden Steigerung zum Geständnis) seiner Schuld gebracht oder durch eine
Aufkündigung mit kurzem Processe aus der Welt geschafft. Der Concierge ist
legitimer Eigenthümer sämmtlicher Cölibataire, er schafft mit ihnen wie mit seinem
Gute, die kühnsten Emancipationsversuche haben höchstens dahin geführt, daß
das patriarchalische Eigenthumsverhältniß der Familie in einfache Bevormundung
gemildert wurde. Dieses Recht gibt der Pariser Concierge nie auf: als Vor¬
mund mengt er sich in alle Angelegenheiten seiner Mündel, er liest ihre Jour¬
nale, er guckt in ihre Briefe, er empfängt oder weist ihre Besuche zurück —
nach Gutdünken ist er der Wächter ihrer Tugend und verbietet jeder ver¬
führerischen Gelegenheit, die in Gestalt einer Soubrette, Grisette oder Lorette
oder wie die Pariser Nettigkeiten sonst heißen mögen, fragend den Kopf'in
seine Loge steckt. Er durchstöbert alle Schubladen und Taschen, er raucht die
Cigarren sämmtlicher unverheiratheter Stockwerke, er erleuchtet sich geistig durch
die Bücher und materiell durch die Kerzen seiner Schutzbefohlenen. Er ist
Zahlmeister und Meister im Zählen — er erhält seinen doppelten Tribut von
allem, was im Hause und durch das Haus gekauft wird, einmal als Remise
vom Händler und dann in Natura vom Käufer. Der Concierge ist Com-
missionär der Häuser und sein Tarif ist ein willkürlicher, aber nach den Mitteln
des Senders berechneter, während der Commisstonar in der Gasse seine durch
das Herkommen gestempelte Tare hat. Der Concierge ist ferner könne als
mengte, Bedienter, maltrs ac eeröirionie und Factotum der unverheiratheten Welt.
Seine Frau kocht das Frühstück und läßt sich von den Malern des Hauses
porträtiren, von den Künstlern Cvncertbillete, von den Schriftstellern Theater¬
karten geben oder ihre Töchter protegiren. Der Concierge ist der unbeschränkte
Gebieter über den Rauch der Kamine, über die Luftfestigkeit von Thüre und
Fenster. Von seiner freundlichen Bevorwortung hängt die kleinste Reparatur
ab und Ihr Correspondent hat es z. B. trotz aller Bassessen, deren er
sich schuldig gemacht, bis zur Stunde noch nicht zu bewirken gewußt, daß dem
ungebetenen Besuche des Regens in seiner Salle ü, manger das Handwerk
gelegt werde. Dafür hat er die Bequemlichkeit, nicht erst die Hand zum Fenster
hinausstecken zu müssen, wenn er des Morgens wissen will, ob es regnet oder
nicht. Bei verheirateten Personen, bei den Familien der untern Stockwerke
beschränkt sich seine Macht aus den Einfluß, dessen er beim Eigenthümer sich
erfreut und aus die Gewalt, die er über die Dienstboten übt. Das ist nur
eine factische, nicht vertragsmäßig stipulirte Emancipation, aber die Botmäßig¬
keit findet ihren Ausdruck in dem jährlichen Tribute, der unter dem Namen
von Etrennes ihm gezollt wird, und der oft ganz beträchtlich ist. Die Controle
der Besuche behält er sich ebenfalls vor, das Vorleserecht aus Journale besteht
auch in seinem ganzen Umfange und die Polizei der Familien und Finanz-
verhältnisfe wird dnrch vertraute Beziehungen zu dem weiblichen und männlichen
Gesinde des Hauses wie zu den Domestiken der Bekannten und Verwandten
der betreffenden Familie ebenfalls gesichert.
Diese Polizeithätigkeit ist aber nicht immer eine blos dilettcmtenhafte, sie
äußert sich oft aus solidere staatsdienftliche Weise. Ihrer politischen Meinung
nach zerfallen nämlich die Concierges in Republikaner oder in Bonapartisten,
Legitimisten und Orleanisten sind nur unter den modernen Nachahmungen der
vvrrevolutionszeitlichen Suisseö zu finden. Zwischen diesen beiden politischen
Contrasten bewegt sich die große Mehrzahl der kleinbürgerlich Gesinnten, die
jedem bestehenden Regimente huldigen und in der Rue de Jerusalem ihr
Losungswort holen und noch mehr Worte dort abgeben. Die Bonapartisten
sind zuweilen Polizeiagenten xar 2öls. während der unpolitische Theil (also
im diplomatischen Sinne der politischere) sich seine Dienste gut bezahlen läßt.
Wenn der Concierge eine politische Meinung hat, so ist er Fanatiker und haßt
alle Inwohner, von denen er voraussetzt, daß sie einer andern Partei an¬
gehören. Er beurtheilt sie nach den Journalen, die sie lesen, und häusiger
noch die Journale nach den Leuten, von denen sie gelesen werden. Ein Jn¬
sasse, der Journale von den verschiedensten Farben sich kommen läßt, macht ihn
vollends mißtrauisch, weil er keinen Schlüssel zu diesem Widerspruche findet,
während er doch selbst alle Journale ohne Unterschied der Meinung liest. Der
Concierge, der einen Etat hat, und dem die Loge nur Nebensache ist, macht
eine Ausnahme von der Regel, welche dem salischen Gesetze huldigt. Die In¬
wohner sind emancipirt und haben nur zeitweise unter der sporadisch wirkenden
Laune der Logegebieterin zu leiden. Die Frau ist dann nämlich eifersüchtig
und zu sehr mit der'Controle des eignen Hausglücks beschäftigt, als daß sie
noch Muße hätte, die Inwohner mit Ausdauer zu quälen. In einem Hause, in
dem der Concierge sich nicht ausschließlich dem Logendienste widmet, sind die Fa-
milienpartien in der Mehrzahl. Das Cölibctt wird spärlich durch Commis
und Ouvriers vertreten, die in Dachstübchen oder zu ebener Erde eine Schlas-
statt errichten. Die Frau empfängt vor Heimkehr ihres Mannes zwischen -10
und 11 Uhr Nachts, sie läßt sich Geschichten und Neuigkeiten erzählen, aber
nie den Hof machen. Die eheliche Treue ist ein unverletzbares Attribut der
Loge. Die künstliche Orangenblüte, welche aus dem Kasten in einem großen
prachtvollen cristal as lZollöms Prange, ist ein Symbol, das nicht immer eine
vorhochzeitliche, aber in der Regel eine nachhochzeitliche Bedeutung hat. Die
Concierge ist eine schlechte Mutter, der Concierge ein sorgloser Vater. Die
Liebe zu den Kindern beginnt erst von dem Augenblicke an, wo ihre Nutzbar¬
keit sich geltendmacht. Bis dahin werden Katzen und Hunde vorgezogen. Eine
Katze fehlt übrigens selten in der Loge, sie ist der einzige Bewohner des Hauses,
der von der Loge aus keine Quälerei zu ertragen hat. Diese Verehrung für
Katzen hat etwas Egyptisches und gradezu Unerklärliches. Die Hunde stehen
im zweiten Range und die Neigung zu Papageien, welche u,s-w cleMne von.o>.w
rufen, hält zwischen beiden die Mitte. Concierge sind selten Trunkenbolde,
sie haben sich an das Ueberwachen anderer zu sehr gewöhnt, um nicht auch
sich selbst zu bewachen.
Die Abarten sind zahlreich und in einem einzigen Artikel kaum zu be¬
wältigen. Darum mögen diese allgemeinen leider nicht erschöpfenden Grund¬
züge zur Berichtigung der falschen Typen beitragen, welche von guten und
schlechten Sittenmalern von Paris geliefert werden. Auf einen Zug aber,
der allen Arten gemein ist, muß ganz besonders Nachdruck gelegt werden. Der
Concierge, der alle Härten, alle Mängel des Hauöeigenthümerö zu seinen eignen
macht, haßt diesen. Er drückt sich mit Verachtung über ihn aus, er schildert
mit der Virtuosität eines Tacitus, mit der Eleganz eines Julius Cäsar den
Charakter des Proprietairs, aber jemehr er ihn haßt, um so wärmer vertritt
er seine Ansprüche — das ist ein ungelöster psychologischer Widerspruch, der sich in
jeder Loge wiederfindet. Es gibt in Paris kein Haus ohne Concierge mehr,
oder keines ohne Concierge noch. Das letzte bewohnte Alphonse Karr. Dieser
haßt und fürchtet die Race der Portiers aus angebornem Jnstincte und es ist
zugleich eine Idiosynkrasie, die ihn infolge mehrer Indigestionen und unverdau-
baren Concierges mit unbezwinglicher Gewalt erfaßt hat. Der witzige Verfasser
der Wespen, der soviele Leute jeder Classe gestochen, fürchtet , die täglichen
Nadelstiche dieses Hauskreuzes über jede Vorstellung. Er suchte 'Jahrelang
nach einem Hause ohne Portier, bis er es endlich in irgendeinem entlegenen
Viertel der Stadt auffand. Alle Bedingungen des Hausherrn sofort annehmend
bezog er triumphirend diese idealste aller Wohnungen. In der Angst, feinen
Abschied zu erhalten, bestrebte er sich, das Muster eines Miethwohners zu
werden. Er bezahlte seinen Zins regelmäßig, verhielt sich ruhig wie ein Trappist,
machte sich den Pudel des Hausherrn zum Freunde, hatte für dessen Kinder
stets die Taschen voll Süßigkeiten und den Mund voll Schmeichelworte. Der
Hausherr mit seiner ganzen Familie vernarrte sich in den lieben Inwohner
und als dieser nach Verlauf eines Jahres zum vierten Mal seinen zins-
bringcnden Besuch abstattete, hieß ihn der Hausherr mit Feierlichkeit niedersetzen
und erklärte ihm, sich schmunzelnd die Hände reibend, daß er, um die beispielhafte
Aufführung seines lieben Locatairö zu belohnen, zu dessen Erleichterung
und Bequemlichkeit einen Concierge gedungen habe, der morgen seine Loge be¬
ziehen solle. Sprachlos vor Entsetzen ergriff Karr seinen Hut, lief auf den
ersten besten Bahnhof und erholte sich erst in ,Ville daveny von seinem Schreck.
Der erboste Dichter kündigte seinem Hausherrn brieflich und Freunde mußten
für ihn seine Möbel und sonstige Habschaft holen.
Der Concierge und der Proprietaire theilen sich übrigens in den Haß
sämmtlicher Bewohner in Paris, das Plus hängt nur von dem Standpunkte
ab, aus dem sich viese befinden. Vergangenes Jahr weideten wir uns an
einem Sommerabend in Gesellschaft einer geliebten Freundin und ihrer Ge¬
fährtin aus der sogenannten Terrasse von Se. Germain aus an dem herrlichen
Anblicke, den die reizende Landschaft bietet. Die kokette Seine schlängelt sich
in den eigensinnigsten Krümmungen und Wendungen wie eine Cancan tanzende
Lorette die niedlichen Felder hindurch, während über dem Walde von Boulogne
sich Paris mit seinen Häusermassen imposant ausnimmt, wie von keinem
andern Punkte — zur Linken dehnt sich der Wald von Se. Germain und
rechts die herrlichen Umgebungen von Versailles und Se. Cloud aus. Wir
waren versunken in Betrachtung dieses einzigen Schauspiels, als wir durch
folgendes Gespräch, das zwei Arbeiter hart neben uns führten, aus unsrer
dreifältigen Träumerei geweckt wurden. „Siehst du diese zwei Häuser jenseits
des Flusses, welche an beiden Seiten der Landstraße stehen?" fragte der eine.
„„Ja wol sehe ich sie und was hat es mit ihnen?"" erwiderte der andere.
„M bien" hub der erste wieder an, „,jo äannsrais «Zix ans <Zs la vis <Zk nur
pr-oxriLtairs et amo. ans <Ze la ol<z 6o nur coriLierg-z si ellss etaient a moi."
Es ist wahr geworden, was man zu Anfang des Jahres so oft wieder¬
holen hörte, daß wenn erst der Krieg recht im Zuge ist, wir von diplomati¬
schen Depeschen verschont bleiben werden. Diese Langeweilsplage sind wir
losgeworden, wenigstens wir hier in England. Freilich lesen wir in deutschen
Blättern noch täglich von Noten, die zwischen Berlin, Wien und Petersburg
ab- und zugehen oder gegangen sind, oder gehen sollen; aber das macht dies¬
seits des Kanals keinen Eindruck mehr. Wir haben jetzt andere Depeschen,
thatsächliche, pragmatische, blutige. Was diese enthalten: Listen von Todten
und Verwundeten — das steht fest, das ist keiner Mißdeutung fähig. Die
abgeschossenen Köpfe und zerfleischten Glieder lassen sich nicht mehr wegdiplo-
matisiren, wie stilistische Ausdrücke; da gibts kein Deuteln und kein Commen¬
tiren mehr. Die Wogen eines blutigen Krieges schlagen über unsern Köpfen
zusammen, daß unsre Augen überall roth und wieder roth sehen. Dieser Krieg
hat gleich bei seinem Allfange eine reichere Bluttaufe aufzuweisen, als die
beiden par sxoLllvnLe langen des -17. und -18. Jahrhunderts bei ihrem Beginn
hatten. Als am 29. März dieses Jahres die Kriegserklärung Frau Britannias
in der Gazette erschien, da hieß es scherzweise: Das ist der Anfang des sieben¬
jährigen Krieges. Mit dem Scherzen hats ein Ende. Dieser Krieg muß
nicht grade so lang wie der siebenjährige werden. Vielleicht wird er länger.
An einen baldigen Frieden, an eine Versöhnung im schönen Monat Mai
glaubt hier keine Pastorenmagd mehr. Glaubt man etwa daran noch in
irgendeinem gesunden Flecken Deutschlands, der außerhalb dem sandigen Weich¬
bild von Charlottenburg liegt? Ich kanns nicht glauben, daß mans glaubt.
Es wäre zu absurd.
Man hat in Deutschland kaum eine Ahnung davon, wie wir hier leben.
Von Thee und Zeitungen. Die Aufregung läßt keinen gesunden Appetit auf¬
kommen. Solide Fleischkost können nur verstockte Bösewichter und Griechen
verdauen. Die Angst um die braven Jungen an der Tschernaja schnürt uns
hier an der Themse die Kehle zu. Wir müssen täglich von Morgen bis Abend
lesen, was die armen Leute im Lager vor dem Feinde zu ertragen haben:
Frost und Durst, Nachtarbeiten in thandurchtränkten Kleidern, Nachtwachen
unter freiem Himmel, Krankheiten aller Art, Feindesangriffe von allen Seiten.
Und wenn, wie ich heute in einem Provinzblatte las, ein Offizier an seine
Frau scherzend schreibt, sie möge seinetwegen ganz unbesorgt sein, er habe so
ein Stück Zelt und befinde sich höchst comfortabel in einem Erdloche 400 Yards
vor der ersten Linie der feindlichen Batterien; er habe es zu Hause nie besser
gehabt--glauben Sie, daß dieser brave Humor einem das Herz erleich¬
tern kann? — Mir gegenüber wohnt eine Majvrsfrau, eine blonde, schlanke,
durchsichtige Dame. Ihr Mann ist offenbar in der Krim. Seit vierzehn Tagen
sitzt sie mit ihrer Arbeit oder einem Buche von früh bis Abend am Fenster,
und liest nicht und strickt nicht, sondern stiert vor sich hin. Gefallen ist ihr
Mann nicht, denn sie trägt keine Trauer; aber schaurige Ahnungen mögen
vielleicht durch ihr Gemüth ziehen. Einmal, vorgestern, als ich aus meiner
Hausthür sah, klopfte an der ihrigen grade der Briefträger. Unwillkürlich
sah ich zum Fenster hinauf. Sie fuhr wie ein getroffenes Reh vom Sitze auf.
Der Postbotenthürschlag muß ihr durchs Herz gegangen sein. Arme Frau!
Ihr Mann lebt, denn sie saß gestern wieder am Fenster und arbeitete wirklich.
Aber die vielen andern Mütter, Väter, Töchter — — Das Menschengewühl
auf den Straßen, das größer ist, als sonst um diese Jahreszeit, wird gewisser¬
maßen unheimlich. Unwillkürlich mahnts einen an das kleine zusammenge¬
schmolzene Häuflein, das sich dort aus dem kahlen Gestein vor Sebastopol in
übermenschlicher Arbeit aufreibt, um nicht vom Feinde aufgerieben zu werden.
Diese Londoner Atmosphäre drückt wie Blei auf allen Köpfen. Alles
strömt vom Lande herein, um an der Quelle der Neuigkeiten zu sitzen. Häu¬
ser, die es sonst für eine Sünde gegen die gute Lebensart gehalten hätten,
im Monat November eine bewohnte Physiognomie zur Schau zu tragen, sind
jetzt bevölkert. Es ist ein Zauberbann in diesem London. Man kann nicht
hinaus. Es ist beengend hier. Und draußen auf dem Lande muß es uner¬
träglich sein. Man freut sich und leidet am besten mit wenigen Herzensfreun¬
den; aber die Folterqual des Wartens erträgt sich vielleicht noch am leichteste»
inmitten von anderthalb Millionen Menschen, die mit uns warten- In
Deutschland, ich glaub es gern, horcht man gleichfalls mit Spannung auf
Berichte vom Kriegsschauplatz hin. Es ist kein Geheimniß, welcher Partei
die heißen Siegeswünsche der Besseren im Volke gelten, aber ihr habt noch
immer diplomatische Noten zu lesen, ihr habt noch keine blasse Majorin gegen¬
über, die aus den Briefträger wartet. Das Schicksal scheint nicht gelaunt,
euch diese unmittelbaren Aufregungen zu erlassen. Früher- oder später. Da
es schon ein siebenjähriger Krieg werden soll, müßt ihr mit dabei sein. Ein
siebenjähriger Krieg ohne Deutschland wäre schon im dritten Jahre zu Ende.
Bei all der Aufregung, die hier herrscht und der sich kein Mensch, wenn
er nicht grade ein Vieh ist, entziehen kann, verzweifelt kein eingeborner Brite
bis zur Stunde an dem endlichen Fall Sebastopols, an dem Sieg der Ver¬
bündeten. Wir andern, die wir unter diesem mit wunderbarer Zuversicht be¬
gabten Volke leben, werden von dieser Tugend nur allmälig angesteckt. Des
Deutschen Unglück wars ja seit lange, daß er seine Kraft zu bescheiden ab¬
schätzte. Und da stehen wir' hier mitten in einem Volke, das eine Niederlage
seiner Kinder sür eine baare Unmöglichkeit hält. An diesen Sprung gewöhnt
man sich nur langsam. Manchmal kommt uns dieses kolossale Selbstvertrauen
wie eine Fanfaronade vor. Aber der Engländer ist kein Fanfaron. Er ist
ein gläubiger Anbeter feiner Macht ohne Spur von Heuchelei dabei. In den
letzten Tagen freilich hat sich auch sein arithmetischer Verstand Geltung ver¬
schafft. Wenn jeder glorreiche Sieg S000 Menschen kostet, so folgt daraus,
daß von 30,000 nach sechs Siegen keiner übrigbleibt, um Hurrah zu rufen.
Dieses Ncchcnerempel ist zu einfach, als daß der große Allerweltsrechner John
Bull es nicht fassen sollte. Schade nur, daß seine zweite Vorsehung, die ihn
so viel Geld kostet, daß seine Negierung es nicht früher begriff. Sie hätte
viele brave Leute von der vorzeitigen Unsterblichkeit gerettet. Ich möchte eben
so wenig jetzt Herzog von Newcastle als — — — heißen. Sie haben beide
ein paar tausend Seelen auf ihrem Gewissen. Der eine verfolgt wenigstens
eine großartige Idee, die sich ohne Menschenhekatomben nicht gut ausführen
ließ. Beim edlen Herzog aber ist Kleinlichkeit, Knauserei oder, was das
wahrscheinlichste ist, Unkenntniß der Verhältnisse zu Hause. Jetzt in der vor¬
letzten Stunde schickt er Verstärkungen, aber auch jetzt noch mit einer Spar¬
samkeit, die dem Drange der Lage nicht angemessen ist. Für jede Stunde,
die .vertrödelt wird, zahlen in der Krim Dutzende mit ihrem Leben- das ist
unverantwortlich. Man sage ja nicht, die Negierung könne im Augenblick
nicht mehr thun als sie nothgedrungen thut. Das ist nicht wahr. England
kann alles was es will; kann in 8 Tagen hundert Dampfer wegschicken, und
auf diesen 30,000 Mann, die im Lande stehen. Wer braucht sie? Was sollen sie
hier? Man lasse soviele zurück, um die neuausgehobenen Rekruten einzuerer-
ciren. Die Anderen mögen ihren Brüdern zu Hilfe ziehen. Es gibt hier
keine Spießbürgerfurcht, die Soldaten sehen muß, um sich ruhig zu Bette zu
legen; und wenn vor Buckinghampalace ein paar Schildwachen weniger Paradiren,
so wird Frau Victoria es nicht übel nehmen.
Frau Victoria ist eine kluge liebe Königin. Lesen Sie den sogenannten
Armeebefehl, den sie den Truppen nach der Almaschlacht zugeschickt hat. Er
ist musterhaft geschrieben. Von einem Befehl ist darin freilich keine Rede-
Nur vom Dank und Anerkennung für die Leistungen jenes Tages. Und wie
zart, wie liebenswürdig ist jedes Wort! Der Armeebefehl eines behosten Königs
kann unmöglich so weich, einschmeichelnd und dabei doch so würdig gehalten
sein. Jedes Wort athmet Weiblichkeit und Grazie. Hat aber die Königin
wirklich dieses Actenstück verfaßt? Ich würde darauf schwören in den Eides¬
formeln aller positiven Religionen, wenn nicht Eines verdächtig wäre. Dieses
eine Verdächtige ist ein Etwas, das nicht da ist--es fehlt das unver¬
meidliche Postscriptum femininum. Und da ich trotzdem Sulche glauben kann,
daß der Brief aus plumpen Männcrhänden hervorgegangen ist, bin ich zu der
Ansicht gelangt, daß das Postscript eristirte, aber vom Prinzen Albert lächelnd
gestrichen wurde. Das ist freilich blos meine höchst individuelle Vermuthung,
aber ich halte sie so hoch, wie die Geologen nur imm?r ihren Neptunismus,
Vulcanismus :c. — Bedeutsam ist dieses königliche Actenstück nicht nur für
die Kulturgeschichte des Weibes, weil damit der Beweis geliefert wird, daß
ein Postscriptum nicht immer weibliche Nothwendigkeit ist, sondern wichtig ist
es auch in politischer Beziehung durch eine andere Omission — durch die
Weglassung des Namens von Admiral Dundas. Kein Wort von ihm, wäh¬
rend sein Lieutenant, der tapfere Sir Edmund Lyons, mit großen Ehren
erwähnt wird! Das ist stark. Das ist eine Hinwegsetzung über die Etikette,
die absichtlich und vernichtend ist. Den hat Prinz Albert nicht allein, den
hat die Königin und mit ihr das ganze Land gestrichen. Dem greisen Dundas
wird diese offenbare Herabsetzung wehe thun. Aber es ist ihm nicht mehr zu
helfen. Der Volks'witz, um Ihnen nichts zu verschweigen, heißt ihn seit lange
schon Damned Aß, das sich so ziemlich wie Dundas aussprechen läßt. Er
hat sich überlebt, und man kann, wie von Lord Derby, auch von ihm sagen:
da er gestorben ist, darf die Mitwelt sichs erlauben über ihn ein Urtheil zu
fällen, was bei lebendigen Größen nicht immer statthaft sein soll. Wirklich
todt ist leider der tapfere Sir H. Cathcart, der sich solange mit den Kaffern
herumgebalgt hat, bis ihn die Russen fraßen. Ehre seinem Andenken! Und
Sir George Brown, einer unsrer talentvollsten Generale, die rechte Hand
Raglans, ist um einen Arm kürzer geworden! Er und Raglan haben jetzt
zusammen nur zwei Hände. Ein würdiges Paar diese Beiden. Wir Werdens
erleben, wenn sich erleben, daß sie den zweiarmigen Menschikoff aus seinem
sebastopolischen Marterloch hinausjagen. Das deutsche Puvlicum aber wird
gemüthlich entschuldigen, wenn das große Opernhaus in der Krim, das seit
Wochen eine so heidnische Kanonenmusik macht, aus Kräftemangel der neuen
Impresarios um ein paar Wochen später eröffnet wird.
Es ist neblig, feucht, schaurig, kalt. Der Himmel ist mit sich uneinig, ob
er regnen oder schneien lassen soll, oder obs an dem Nebel genug ist, um der
getreuen Stadt London den Schnupfen und den Spleen an den Hals zu
schmeißen. Der Himmel ist seit heute Morgen offenbar in übler Laune, er
hat Vapeurs, die in Nebelgestalt bis auss Pflaster herabreichen. Um drei Uhr
Nachmittag ward er plötzlich heiterer gestimmt, und ließ zwischen City und
Strand zwei große blaue Augen aus den Wolren durchsehen. Er lächelte, wie
man zu sagen pflegt (beiläufig gesagt eine sehr ungeschickte Metapher). Warum?
weiß ich nicht. Um drei Uhr schließt die Börse. Die neue türkische Anleihe
hatte eben mit zwei Procent niedriger geschlossen, Consols waren um ^ Pro¬
cent gefallen und Wiener Wechselcurse um 2 Procent schlechter geworden. Was
gabs da für einen westmächtlichen Himmel zu lächeln? Aber so wars und ich
nahm meinen Regenschirm, um einen Spaziergang zu machen.
Zufall oder Jnstinct führte mich durch Se. Martinslane. Dort ist die
Druckerei und Erpedition der officiellen London Gazette, dort ist auch ihre
Redaction, die insofern merkwürdig ist, daß sie nie eine Lüge für die Welt ge¬
macht hat, weil ihr der Stoff vollkommen fertig von der Regierung zugeschickt
wird, und daß sie trotz des fertig eingesandten Stoffes doch einen Redacteur
hat, der für die kleine Mühe, das Manuscript aus der Hand des Boten in
die Hand des Setzers zu legen, jährlich 600 Pfund Gehalt bezieht. Vor der
Druckerei stand ein dichter Menschenknäuel. Drängen, Stoßen und Schieben,
um bis zur kleinen Eingangsthür des Erpeditionsbureaus zu gelangen. Hollah!
Die angekündigte Gazette mit der Naglanschen Depesche über die Schlacht von
Inkerman war heraus. Ein Junge, der wol schon ein paar Stunden an der
Thür gelauert hat, läuft mir mit ein paar Eremplaren unter dem Arm über
den Weg. Ich halte ihn an, erbeute eines von ihm für einen Schilling und
renne damit wieder nach Hause. Der Regenschirm muß sich in die Ecke trollen;
das Schwert hat jetzt den Vortritt.
Herr Mars und Fräulein Minerva seien den Engländern gnädig und mögen
sich ihrer erbarmen! Sie haben wieder einen Sieg erfochten. 38 Offiziere
todt, über 2000 Mann kampfunfähig. Diese Depesche Raglans ist schauerlich
und glorreich wie nur irgendeine je gewesen. Wenn man sich das beengte
Terrain vorstellt, auf dem von Morgens bis Abends geschlagen wurde, und
da liest, daß die Russen allein an 3000 Mann todt zurückließen — von den
Verwundeten gar nicht zu reden — so ists ja kaum anders denkbar, als daß
die Leichen an gewissen Punkten, wo das Morden am heftigsten war, zu Hau¬
fen aufgeschichtet sein mußten. Der Bericht klingt fabelhaft in seiner Einfach¬
heit, sechzigtausend Russen gegen blos vierzehntausend Franzosen und Eng¬
länder! Und von diesen sechzigtausend durch diese vierzehntausend an fünf-
zehntausend kampfunfähig gemacht! Die einzelnen eingegangenen Rapporte
mögen vielleicht übertrieben haben. Lord Raglan lügt nicht. Er hat geschrie¬
ben, was ihm berichtet wurde, was er sah, was er glaubt. Es sollte mich
nicht wundern, wenn mein Nachbar, Mr. Jones, seiner Frau, der ehrenwer-
then Mrs. Jones, und den zahllosen kleinen Joneses, die sich jeden Abend
um seinen Theetisch gruppiren, heute triumphirend mit dem Bleistift in der
Hand nachweist, daß jeder Soldat von den Aliirten — „(-06 Klsss tlrsm" —
einen und einen vierzehntel Russen todt gemacht haben muß. Das schwere
Geschütz und mehr als dieses die Miuiebüchse muß furchtbar gewirthschaftet
haben, aber den Ausschlag gab das Bajonett. Man denkt unwillkürlich an
Waterloo, obwol weder in den verwendeten Truppenkörpern noch im Ter¬
rain beider Schlachten die geringste Aehnlichkeit herrscht. Aber im Geiste sehe
ich die englischen Garden hier wie dort stehen und vordringen und fallen, und
die Russen wie sie colonnenweise anbringen und weichen und neuen Colonnen
Platz machen, die wieder weichen müssen, bis Blücher-Bosquet mit seinen
Zuaven auf dem Hügelkamin erscheint, und den Tag gegen die Russen ent¬
scheidet. Was da alles dazwischen liegt! Stoff zum Nachdenken in solcher
Fülle, daß er auf jedes Menschengehirn in Europa zu gleichen Theilen ver¬
theilt, noch immer hinreichen würde, ganz Europa toll zu machen.
England hat ein neues Unrecht auf seine Truppen stolz zu sein, und diese
haben ein verdoppeltes Recht von der Negierung zu fordern, daß sie ihre Schul¬
digkeit thue und mit den Verstärkungen nicht geize. Stärker als je ist nach
diesem Schlachtenbericht meine Ueberzeugung, daß es dem Fürsten Menschikoff
nicht gelingen wird, das kleine Häuflein in die See zu werfen. Nicht bis zum
13. November, nicht bis zum Januar. Nein niemals. Sebastopol ist geliefert,
trotz seiner tausend Geschütze und der fallenden Wiener Wechselcurse.
Eines fürchte ich — daß man Lord Raglan tadeln wird, und wie mir
scheint, leider mit Recht. Am 3. schon und früher — das weiß man hier
aus Privatberichten — wurde er vom tapfern Sir De Lacy Evans darauf auf¬
merksam gemacht, daß die Position auf der rechten Flanke durch ein paar Bat¬
terien besser gedeckt werden sollte. Raglans Berichte nach zu schließen war
diese Vorsichtsmaßregel vernachlässigt worden. Bewährt sich dieser Verdacht,
so lastet eine große Verantwortlichkeit auf ihm. Doch grade heute wäre es
doppelte Sünde vorschnell zu urtheilen. Drum weg mit diesen kritischen Gedanken.
Sir De Lacy Evans, der Bravste der Braven, schlich aus dem Bette, wo
er schwer krank lag, aufs Schlachtfeld, als der Kanonendonner in seine Kajüte
drang. Er konnte zwar nicht zu Pferde sitzen, nicht commandiren, aber er
wollte den Deutschen zeigen, daß man im Unterhause sehr radical sprechen, die
Regierung einmal übers andere aufs heftigste angreifen und dabei doch ein
wackerer General sein kann. Als die Schlacht vorbei war, ließ er sich wieder
in sein Bett hinab, in den Hafen von Balaklava tragen, und wenn der Krieg
vorbei ist, wird er hoffentlich wieder sehr radical gegen die Mißbräuche in den
Regierungsbureaus sprechen. — Strangways, der „clarlwx c>la in-rum", wie
er im Lager allgemein hieß, starb als freundlicher Gentleman, wie er gelebt
hat. Eine Kugel riß ihm das Bein ab, nachdem sie den Bauch eines vor
ihm stehenden Pferdes aufgeschlitzt hatte. Will jemand von den Herren so
freundlich sein, sprach er zu seiner Umgebung, mich aus dem Sattel zu heben?
Der alte Herr sprachs mit einem Tone, mit einer Miene, wie unsereins den
Nachbar um eine Zeitung bittet. Zwei Stunden später war er todt. Dieser
äailinx via man wird sehr von der Armee betrauert, und wenn die Kaffern
nur erst, aus den Grenzboten erfahren, daß ihr Erzfeind Cathcart todt ist, wer¬
den sie endlose Freudenburzelbäume schlagen am romantischen Fischfluß.
Seine letzten Worte waren: Gott sei Dank, so sterbe ich doch wenigstens
einen Soldatentod. — Wenn man solche Dinge liest, kommt einem das
Sterben auf dem Schlachtfelde allerdings sehr „genteel" vor, jedenfalls weni¬
ger langweilig als der gepriesene Tod im Bett, mitten unter Medizinflaschen
und heulenden Mägden.
— Meine Absicht war, die wichtigsten Gegenstände namhaft
zu machen, mit denen sich die Kammern in der bevorstehenden Session beschäftigen
werden. Sie würden ohne Zweifel ein lebhaftes Interesse erregen, wenn jetzt nicht
an andren und entscheidenderen Stellen anch über das Schicksal Preußens die Würfel
fielen: aber da Preußen bei der europäischen Krisis immer ein bedeutendes Object
bildet, wenn nicht activ, so doch passiv, — scheint mir jeder Lichtreflex ans die
eigenthümliche Stellung unsrer Regierung auch für einen NichtPreußen ein gewisses
Interesse zu besitzen, und ich wüßte nicht, was in die Regierungsansichten über den
Ernst der großen europäischen Frage einen so tiefen Blick eröffnete, als das En¬
semble der Projecte, für welche sie jetzt die Zustimmung der Kammern einzuholen
sich bemüßigt sieht. Daß die Gcmeindcgesetzgcbung von neuem eine bedeutende
Rolle spielen wird, erwähne ich nur beiläufig: wenn unsere Zeit überhaupt keinen
Beruf zur Gesetzgebung hat, so lehrt die Erfahrung der letzten Jahre, daß sie auf
dem Gebiete des Communallebens gradezu das Talent des Zerstörens besitzt, und
es ist mein aufrichtiger Wunsch, daß auch in dieser Session keine ländliche Ge-
meindeordnung zustandekommen möge, damit die rohen und primitiven Zustände
communalcr Selbstständigkeit, die durch gesetzliche Regelung Schwung und Kraft zu
erhalten verdienten, wenigstens so wie sie sind, erhalten, nicht aber durch den Geist
des Polizciregiments für alle Zukunft zerstört werden; um wirkliche Communal-
ordnungen zu schaffen, sehlt hüben und drüben der Muth zur Freiheit.
Unter den neuen Gegenständen, welche die Aufmerksamkeit der Kammern in
Anspruch nehmen werden, steht in erster Linie das Wahlgesetz für die zweite Kam¬
mer. Vei Berathung des Pairie-Gesetzes wurde, wie es Ihren Lesern erinnerlich
sein wird, von der Opposition gegen die Behauptung, daß unsre Vcrsassuugskrisis
durch die Genehmigung eines solchen Gesetzes einen Abschluß finden werde, die
triftige Einwendung erhoben, daß nach Bildung einer Pairie die zweite Kammer
das Ziel concentrirter not um so lebhafterer Angriffe bilden würde, daß der Ver¬
fassungskampf dann erst mit der größten Erbitterung entbrennen würde. Ich habe
nicht bemerkt, daß die thatsächliche Bestätigung dieser Bemerkung diejenigen Per¬
sonen, welche sich ans dem angeführten Grunde für die Pairie interessirten, erheblich
dccontenancirt hat, und es scheint demnach, daß sie an die Wahrheit ihrer Friedens-
Prophezeiungen selbst nicht recht geglaubt, haben. Im Ministerium des Innern
war nun schon vor längerer Zeit der Entwurf eines neuen Wahlgesetzes ausgear¬
beitet worden; er fand aber im Staatsministerunn keinen besondern Anklang, wurde
zurückgelegt und es schien, daß die Regierung in dieser Session von ihrem Projecte
abstehen oder ihren Freunden in der Kammer die Initiative in der schwierigen An¬
gelegenheit überlassen werde. Ganz neuerdings ist aber aus dem Ministerium des
Innern — ich weiß nicht, auf wessen Veranlassung — ein zweiter Entwurf hervor¬
gegangen, der jetzt bei den einzelnen Ministern circulirt, im Staatsministerunn
selbst aber noch nicht discutirt ist. Da die Pairie in ihrer gegenwärtigen Gestalt
die Standesherrn, die Ritterschaft mehrmals nnter verschiedenen Titeln und eine
nicht unerhebliche Zahl von Vertretern der Städte in sich schließt; scheint ein Fest¬
halten an dem ständischen Princip für die zweite Kammer nur eine schwächliche Re-
production der gegenwärtigen Pairie herbeiführen zu können, — und es wird mir
in der That die sonst unglaubliche Mittheilung gemacht, daß nicht das ständische
Princip dem neuen Gesetzentwurf zum Grunde gelegt ist, sondern daß das seiner
Zeit so sehr getadelte Wahlgesetz sür die bisherige erste Kammer als Muster vor¬
geschwebt hat. Personen, welche den neuen Entwurf zum Theil kennen, finden
seine Bestimmungen so extravagant, daß sie an eine Billigung desselben selbst von
Seiten des Staatsministeriums nicht glauben.
Vielleicht noch wichtiger als das Wahlgesetz ist das Armengesetz, welches bereits
im Staatsrathe festgestellt ist. Ich räume ihm nicht deswegen eine hohe Bedeu¬
tung ein, weil es sich , wie man aus dem Titel zu schließen berechtigt zu sein glaubt,
mit einer wichtigen Aufgabe der Humanität, mit einem Theile der socialen Frage
beschäftigt: diese Seite erscheint vielmehr in unserer Gesetzgebung sehr unbedeutend,
und da die Armenpflege vorläufig noch als Commnnalsache behandelt werden muß,
wird fie erst dann in einer dem Gebot echter Humanität entsprechenden Weise be¬
rücksichtigt werden können, wenn man Gemeinden geschaffen hat, in welchen sich
materielle Mittel und Intelligenz mit wahrem Gemeinsinn, der nur aus der Frei¬
heit entspringt, vereinigt vorfinden. Aber dnrch den zur Zeit noch nicht lösbaren
Zusammenhang der Armenpflege mit dem Communalwescn wird die Frage über
die Heimathsberechtigung zum Angelpunkt der Armengesetze gemacht? wie
denn auch die bisher giltigen Gesetze über die Armenpflege und die Heimatsbe¬
rechtigung zusammen berathen und an demselben Tage, am 31. December 184-2,
publicirt wurden. Daraus wird Ihren Lesern sofort klar werden, daß sich hier
ein schlimmes Dilemma herausstellt!; je strenger nämlich die Gemeinden angehalten
werden, ihrer Pflicht gegen die Ortsarmen nachzukommen, mit desto größerer Macht
muß mau sie billig hinsichtlich der Entscheidung über die Aufnahme nenanziehcnder
Personen ausrüsten. Nun hat aber die Gemeindeverwaltung nicht blos im allge¬
meinen eine mehr oder weniger polizeiliche oder büreaukratische Färbung erhalten,
sondern die Polizei hat factisch speciell die Entscheidung über die Aufnahme
neuanziehcudcr Personen an vielen Orten an sich gezogen; jeder Machtzuwachs in
dieser Beziehung kommt also der Polizei zustatten, d. h. der große Grundsatz
der Freizügigkeit wird mehr und mehr der discretionären Gewalt dieser Behörde
anheimgestellt; und wie sie ihn anzuwenden gedenkt, dafür liegen leider zahlreiche
Beispiele vor. Unglücklicherweise ist aber die Freizügigkeit ein so zartes Wesen,
daß sie unter der Disposition der Polizei sofort in ihr Gegentheil, in eine Art
iiclüeripun, umschlägt, von welcher man beliebig entbindet. Ich glaube des¬
halb mit Grund dem Armengesetz eine hervorragende Wichtigkeit eingeräumt zu
haben: hier werden die Freunde politischer Zwangsjacken den Grundsatz der Frei¬
zügigkeit in sein Gegentheil zu verkehren trachten, aber die Einsichtigen werden
mir darin beistimmen, daß das Recht, sich da niederlassen zu dürfen, wo man seine
Kräfte am besten verwerthen zu können glaubt, einen der kräftigsten Hebel des
Nationalwohlstandes, eine der sichersten Grundlagen nicht blos materieller Wohl¬
fahrt bildet.
In eine andere Sphäre wird das neue Ehegesetz mit — wie ich fürchte —
bedauerlichen Wirkungen eingreifen. Es soll für die Trennung der Ehe sehr strenge
Bedingungen aufstellen, als deren weltliches Motiv die Nothwendigkeit, leichtsin¬
nigen Abschluß von Ehebündnissen zu verhindern, angegeben wird. Mit diesem
Zweck kann man immerhin einverstanden sein; aber es erscheint mir — aufrichtig
gesagt — als eine Einbildung, daß der Gedanke an die Leichtigkeit der Eheschei¬
dung bisher den Leichtsinn bei dem Abschluß der Ehen befördert hat; und ist dieses
der Fall, so wächst eine Saat des Verderbens ans der gesetzlichen Strenge hervor,
und weder das Christenthum, noch die Sittlichkeit, noch der Staat gewinnen da¬
durch. Es wird kaum einen Gegenstand geben, welcher einer weisen gesetzgeberischen
Thätigkeit größere Schwierigkeiten in den Weg legt und ich möchte fast sagen, für
sie so ungeeignet ist: jede Bestimmung wird hier zweischneidig und kann in dem
einen Falle ebenso großen Schaden, wie in dem andern Nutzen stiften.
Ich muß noch einen Punkt erwähnen. Nachdem die preußische Presse soweit
gebildet ist, daß sie kaum den Namen eines Ministers in ein ungünstiges Urtheil
zu verflechten, geschweige denn ihn offen anzugreifen wagt, hat es wünschenswert!)
geschienen, auch den Reden der Abgeordneten durch eine ähnliche Procedur diese
angenehme Schonung einzuimpfen. Es war demnach zuerst der Vorschlag gemacht
worden, sie für Beleidigungen der Minister u. tgi. unter das Strafgesetz zu
stellen, da der Ordnungsruf des Präsidenten nicht als eine befriedigende Satisfaction
erschien. Dieser Vorschlag fand aber großen Anstoß und wurde beseitigt; jetzt hat
nun der Herr Minister des Innern seine Wünsche dahin gerichtet, die Zeitungs¬
referate über Kammerverhandlungen, selbst wenn sie tren sind, erforderlichenfalls
vor Gericht zu stellen und die Redactionen für die Aeußerungen der Herren Ab¬
geordneten büßen zu lassen, — ein Verfahren, welches die Zeitungen bald be¬
denklich machen würde, Reden der Opposition mitzutheilen. Aber es zeigt sich,
daß man bei Ausführung dieses Plans in sehr komische Widersprüche gerathen
würde. Denn die Kammerverhandlungen sind öffentlich, und die Zeitungen dürfen
nur ein paar Mal einige Reden als nicht untheilbar bezeichnet haben, um zu be-
wirkey, daß die jetzt sehr verlassenen Tribunen sich allmälig füllen und die Aeuße¬
rungen der Abgeordneten, die jetzt oft unbeachtet verhallen, von der Fama ver-
größere, von Mund zu Mund getragen werden. Sodann erscheinen stenographische
Berichte: soll man nun eine Zeitung für Mittheilung dessen verurtheilen, was unter
staatlicher Autorität ebenfalls zum Behufe der Veröffentlichung gedruckt wird? Aus
diesem Labyrinth führt uur ein Ausweg: Ausschluß der Oeffentlichkeit und Besci-
gnng der stenographischen Berichte; stille Kammern.
Sie sehen den Geist, der alle die Projecte dictirt hat. Halten Sie es für
möglich, daß dieser Geist mit einer wirklich selbstständigen, auf thatkräftigen Beifall
des Volkes sich stützenden auswärtigen Politik vereinbar ist? Es wird Ihnen als
ein bezeichnendes Factum erscheinen, daß die Regierung sich bemüht, schleunigst ein
Anlehn von neuen 13 Millionen abzuschließen; von der ersten gleichgroßen Summe
sind bisher freilich nur 3 Millionen verausgabt, hauptsächlich für die Armiruug
der Ostsccfestungcn und den bekannten Pferdeankaus; uach einer zwingenden Noth¬
wendigkeit, in diesem Moment die Staatsschuld zu vermehren, sehe ich mich ver¬
gebens um; — aber am 30. November, wenn die Kammern zusammentreten,
erlischt der dem Ministerium eröffnete Credit von 30 Millionen, und für eine An¬
leihe nach jenem Termine wäre eine neue Bewilligung der Volksvertretung von-
nöthen gewesen.
So gewiß ich mit Ihrer Befürchtung ein¬
verstanden war, daß im Falle des Beharrens Preußens auf allen seinen in der
Note v. 30. v. M. gestellten Bedingungen ein EinVerständniß desselben mit Oest¬
reich unmöglich wäre und daß wir dann bei weitrer Entwicklung der orientalischen
Angelegenheit eine förmliche Spaltung Deutschlands erleben könnten, ebenso
sehr theilte ich auch Ihre Ueberzeugung, daß Preußen um der Wiederherstellung
des allgemeinen Friedens näher zu rücken und jenes Unglück nicht eintreten zu
lassen, auf seinen Forderungen nicht bestehen und seine besondrer Wünsche opfern
werde. Und diese Ueberzeugung, sie hat sich als wohlbegründet erwiesen. In
den Erlassen des Freiherr» von Mcmnteuffel an den Grafen Arnim in Wien vom
13. November hat Preußens Cabinet der Auseinandersetzung der Gründe in der
östreichischen Note vom 9. November, weswegen der kaiserliche Hof durch seine
europäische Stellung und die mit ihr verbundenen Pflichten in der Unmöglichkeit
sich befinde, die ihm zugemutheten bindenden Verpflichtungen zu übernehmen, sowie
den mit großer Wärme ausgesprochenen freundschaftlichen und conciliantcu Gesin¬
nungen des kaiserlichen Cabinets, vollständig Rechnung getragen. Es hat sonach
das preußische Cabinet sowol aus dem Entwürfe des Znsatzartikcls, wie ans
jenem des BuudcSbeschlusscs, alle jene Punkte ausgemerzt, welche Oestreich in
seiner Note vom 9. d. M. beanstandet hatte. Insofern Oestreich in derselben er¬
klärte, daß es wegen einer bloßen Form sicherlich nicht Anstände erheben würde,
ist, nachdem Preußen die das Wesen betreffenden Anstände gehoben hat, der Zusatz¬
artikel wirklich zu einer Sache der Form geworden und Oestreich sonach in den
Stand gesetzt, in den Zusatzartikel zu willigen. Der preußische Entwurf desselben
bezieht sich aus die vier Präliminargrundlagcn, verpflichtet die Souveräne von
Oestreich und Preußen, sich zu bestreben, denselben' als FricdenSgrnndlagen Geltung
zu verschaffen; erkennt in Anbetracht der gestimmten Lage Europas und der Noth¬
wendigkeit, das Ziel des Friedens mit allem Nachdrucke zu verfolgen, das Erfor-
derniß des engsten gemeinsamen Auftretens von ganz Deutschland und sagt in
Würdigung der Gefahren, die ein Angriff aus die östreichischen Truppen in den
Fürstenthümern für Deutschland herbeiführen kann, für diesen Fall den Schutz
Preußens zu, zugleich die Zuversicht aussprechcud, daß auch die übrigen deutschen
Verbündeten den Zusatzartikel annehmen werden. Auf diesen Zusatzartikel soll der
Ausschuß zu Frankfurt den Antrag aus den entsprechenden Bundcsbeschluß grün-
den, und die Annahme des Znsatzartikels durch die Bundesversammlung und der
weitre auf ihn gegründete Beschluß sollen zwei gleichzeitige Acte sein. Was nun
den preußischen Entwurf des letzteren betrifft, fo schließt sich derselbe auf das
engste, zum Theil wörtlich an den in der vielbesprochenen Instruction an den kaiser¬
lichen Bnndcspräsidialgcsandten an, und enthält uur deu Zusatz, daß die Friedens-
bcstrebnngcn ans Grundlage der vier Präliminarpnnkte nachdrücklich zu verfolgen
seien. Da im wesentlichen also Preußen mit Oestreich übereinstimmt, und die
Einigkeit der deutschen Großmächte unter so wichtigen politischen und kriegerischen
Conjuncturen, wie die jetzigen, von unermeßlich wohlthätigen Folgen für das
Heil von Gcsammtdcutschland ist, hat das kaiserliche Cabinet die beiden Ent¬
würfe des preußischen angenommen und nnr einige wenige, ihren Inhalt durchaus
uicht, fondern nur die Redaction betreffende Abänderungen vorgeschlagen. Ohne
Zweifel hat die preußische Negierung bereits in diese Aenderungen gewilligt und
so wird in kürzester Zeit der Zusatzartikel von deu Grafen Brot und Arnim Hier¬
selbst unterzeichnet und werden dann sofort die nöthigen Weisungen an Baron
Prokesch zu Frankfurt abgesendet werden.
— Indem wir über diesen vorläufigen
Ausgang unsre Befriedigung aussprechen, können wir doch uicht umhin, mit eini¬
gem Bedenken auf die Auslegung zu blicken, die dem Zusatzartikel, wenige Tage
vor seiner Unterzeichnung, von preußischen officiellen Blättern gegeben wurde. Es
wurde darin der Glaube, oder die Ueberzeugung, oder die sichere Aussicht ausge¬
sprochen, daß Oestreich uuter keinen Umständen, Nußland gegenüber, über die viel¬
besprochenen vier Garanticpunkte hinausgehn werde. In einem Augenblick, wo Ruß
land in dieser Beziehung formelle Concessionen macht, in der festen Ueberzeugung,
daß diese auf sein Verhältniß zu den Westmächten keinen Einfluß ausüben werden;
wo Frankreich erklärt, in den Schlachten vor Sebastopol sei jede Idee jener Garantie-
Punkte untergegangen: in diesem Augenblick wäre eine vorgefaßte Meinung von einer
wenn auch nnr stillschweigenden Verpflichtung, die Oestreich in dieser Hinsicht ein¬
gegangen sein sollte, verhängnißvoll für den Lauf der Ereignisse. Wir würden
es zwar für eine Prahlerei halten, die eines großen Staats unwürdig wäre, schon
jetzt laut mit weitergehenden Anforderungen hervorzutreten: aber sich die Hände
zu binden, hieße, sich den Westmächten gegenüber in eine ganz falsche und unhalt¬
bare Position setzen. Je fester wir davon überzeugt send, daß Oestreich eine solche
Verpflichtung weder laut noch stillschweigend eingegangen ist, Um so lebhafter
wünschen wir, daß solchen Gerüchten so schnell und nachdrücklich als möglich
widersprochen werde.
--Zum Schluß des Hefts geht uns der Wortlaut der östreichischen Note
vom 9.. November zu, der unsre Mittheilungen vom vorigen Heft bestätigt, und die
vorhin erwähnten Gerüchte niederschlägt. Möchten doch die Zeitungen, die der guten
Sache anhängen, sich vor der Ansnahme ähnlicher Jnsinuationen hüten. Oestreich
hat sich in keiner Weise die Hände gebunden, und sich auch nicht den Schein davon
gegeben.
Mehre Korrespondenzen haben aus Mangel an Raum zurückbleiben müssen, wir
liefern sie im nächsten Heft nach. Leider lautet die eine derselben über die Lage
in der Krim sehr niederschlagend. —>
Der neueste Roman von Dickens, der in der Lvrckschen Sammlung den
21. Band ausmacht, gehört nicht eigentlich in die sonstigen Romane des be¬
rühmten Verfassers; er schließt sich mehr an seine Weihnachtsgcschichtcn an.
Die Tendenz ist durchaus überwiegend, die novellistische Behandlung skizzenhaft.
Mit großer Freude haben wir das Werk nicht gelesen. Zwar ist eS an
und für sich kein Unglück, wenn ein Dichter, welcher der Welt so vieles Schöne
und Herrliche geschenkt, auch einmal eine schwächere Leistung zu Markte bringt;
aber einerseits hätten wir sehr gewünscht, daß die Erinnsrung an Bleakhouse,
welcher Roman trotz vieler glänzenden und hochpolitischen Stellen dennoch im
ganzen als ein verfehlter zu bezeichnen war, recht bald durch ein neues, frisches
Werk nach der alten Art verwischt werden möge, sodann fürchten wir, daß die
eigenthümliche Popularität, deren Dickens sich in England erfreut, seinem
Talent eine schiefe Richtung giebt.
Wie jeder echte Dichter, ist auch Dickens ein Kämpfer für das Gute gegen
daS Böse. Die Dichtkunst hat die Aufgabe, uns in dem Guten auch daS
Schöne, in dem Bösen daS Häßliche zu zeigen. Dickens hat diesen Beruf auf
eine glänzendere Weise erfüllt als irgendein Dichter der jüngsten Generation.
Sein reiches und schönes Gemüth hat in den unscheinbarsten Erscheinungen
der menschlichen Güte eine solche Fülle lebensvoller Beziehungen ausgespürt,
daß auch eine verhärtete Seele davon berührt werden muß, und wo das ab¬
solut Schlechte ihm entgegentritt, hat er edlen Zorn genug entwickelt, um auch
weiche Menschen zu überzeugen. Bon dieser Seite werden wir, ganz abgesehen
von seinem wunderbaren Talent, Dickens immer hoch über seine Nebenbuhler
stellen, die, aufgewachsen in der alten Idee, als ob das Aesthetische vom Sitt¬
lichen getrennt werden könne, zuletzt allen Unterschied des Guten und Bösen
aus den Augen verloren haben.
Aber ein Mißgriff ist es, wenn man diese Aufgabe so versteht, als ob sich der
Dichter in den wirklichen, aus sehr verwickelten Beziehungen beruhenden Partei¬
kampf der Zeit einlassen müsse. Einmal gibt ein solcher Versuch stets ein unge¬
nügendes Resultat, denn nationalökonomische oder politische Fragen können nicht
durch das Gefühl oder die Einbildungskraft ausgemacht werden ; sie unterliegen der
Kritik des ruhigen Verstandes, und jemehr der Dichter sich bemüht, seine Ueber¬
zeugung für die Menge recht anschaulich und faßlich herauszuarbeiten ^ desto
leichter wird er die Eingebungen seiner Phantasie an die Stelle der Wirklichkeit
setzen. Sodann wird durch die steten Beziehungen auf die Tagesinteressen das
Gemüth des Dichters verstimmt und verliert seine Freiheit. Soviel Vortreff¬
liches Dickens in seiner Zeitschrift dem Volk bekannt gemacht hat, so glauben
wir doch nicht, daß der Einfluß derselben seinem dichterischen Schaffen förder¬
lich gewesen ist. Er hat sich zuviel mit den Schattenseiten der administra¬
tiven und juristischen Einrichtungen Englands beschäftigen müssen, um nicht
bei der Reizbarkeit seiner Phantasie in eine höchst bedenkliche Mißstimmung
versetzt zu werden. Nur daraus können wir die einzelnen Züge erklären, die
in seinem letzten Roman trotz der allgemeinen Liebe und Bewunderung, die dem
Dichter zutheilgeworden ist, eine gewisse Verstimmung gegen sein eignes Volk
verrathen.
Die „harten Zeiten" bemühen sich, nachzuweisen, daß die Lage der arbei¬
tenden Classen nicht von ,dem kalten, berechnenden Verstand, nicht von der na¬
tionalökonomischen Wissenschaft eine Verbesserung hoffen darf, sondern nur von
dem menschlichen Gefühl; daß nichts für den Fortschritt so nachtheilig sein
kann als das allgemein geglaubte System des Egoismus, welches Kraft der
Kraft entgegenstellt und den Schwachen mitleidslos den zermalmenden Rädern
des Geschicks überläßt. An sich ist dieses Vorhaben sehr lobenswerth. Zwar
ist jener Egoismus im höchsten Grade berechtigt, denn ohne ihn würde die
Menschheit in ein weichliches, zweckloses Vegetiren versinken; auch ist die Wis¬
senschaft der Nationalökonomie nicht so inhaltlos, wie es dem unruhigen Dichter
erscheinen mag. Denn kein Haushalt wird ohne Rechnung geführt, und wenn
man rechnen will, so muß man die Zahlen verstehen. Ja wenn sie weiter
keinen andern Zweck hätte, so wäre schon ein unermeßlicher Gewinn, daß durch
sie die socialistischen Träumereien abgewehrt werden. Aber die Welt würde
allerdings sehr unglücklich sein, wenn die Arithmetik sich zum alleinigen Herrn
über das Leben machte. Sie kann die Regel und das Gesetz feststellen, aber
jeder individuelle Fall soll das Gefühl beschäftigen; und wenn es wirklich ein¬
mal gelingen sollte, was aber glücklicherweise dem Begriff des menschlichen
Geistes widerspricht, das Gefühl ganz von den Bestimmungen des Willens
auszuschließen, so würden die Menschen unter die Thiere hinabsinken.
Allein die Aufgabe konnte nur dann würdig durchgeführt werden, wenn
der Dichter sie an lebendigen Gestalten entwickelte. Die bloße Satire und
Rhetorik ist weder künstlerisch, noch erreicht sie ihren Zweck. Die, Figuren der
engherzigen Egoisten, die Dickens schildert, sind bloße Fratzen, die keiner realen
Anschauung entsprechen, und seinen Gemüthsmenschen fehlt aller Halt. Die
Erzählung ist unklar und verwaschen und voll von Widersprüchen, und die
Sünden gegen das Gesetz der Wahrheit sind dies Mal so zahlreich und werden
so wenig durch jene glänzenden Schilderungen, deren man sich sonst bei dem
Dichter erfreut, aufgewogen, daß wol nicht leicht jemand das Buch befriedigt
aus der Hand legen wird. Daß einzelne feine und geistvolle Züge auch hier
vorkommen, versteht sich von selbst; aber sie werden durch die Masse deS Un¬
bedeutenden und Verdrießlichen unterdückt. — Möchte der Dichter recht bald
durch einen neuen Aufschwung seine Freunde und Verehrer erfreuen. —
Wir haben uns mit dieser Sammlung bereits so vielfältig und ausführlich -
beschäftigt, daß wir uns dies Mal beim Schluß derselben damit begnügen, noch
einmal auf die literarhistorische Bedeutung dieser Novellen hinzuweisen, und zu
wünschen, das man sie mit der Unbefangenheit des Urtheils, die eine un¬
zweifelhaft falsche Richtung nothwendig macht, aber auch mit jener Aufmerksam¬
keit lesen möge, die das ernste Streben eines bedeutenden und auch in seinen
Verirrungen interessanten Talents verdient. —
Eine recht schöne und anziehende Sammlung, die unter allen Dichtungen
Heyses auf uns den reinsten Eindruck gemacht hat. In den Hermen kämpft
er zu sehr mit der Form, und ist auch in der Auswahl seiner Stoffe nicht
immer glücklich; in diesen vier Novellen dagegen waltet ein warmes und inniges
Gemüth, die Stimmung ist durchaus poetisch, die Farbe ist nicht äußerlich
aufgelegt, sondern drückt den innern Charakter der Gegenstände aus, und die
seltene Zartheit der Empfindung wird nicht durch Weichlichkeit getrübt. Die
gemüthvolle Erzählung vom blinden Mädchen, die komische von der Dichter-
srau, die ernste und nachdenkliche vom Tiberuser sind sämmtlich ansprechend
und charakteristisch. Den Preis aber geben wir dem heitern und frischen Ge¬
mälde: La Rabbiata.^ —
Der jüdische Sittenroman „Schief-Levinche", als dessen Verfasser sich
Herr Schiff zu erkennen gibt, erschien im Jahre 1848 und wurde wenig
beachtet, bis Heine die Aufmerksamkeit auf ihn lenkte. „Dieser dumme Kerl,"
sagt er, „ist ein wahres Genie. Er hat mehr plastische Darstellungsgabe, als
alle neuern Poeten zusammen, die jetzt in Deutschland leben. Es ist kaum
zu begreifen, daß er sowenig Anerkennung gefunden hat. Sein Buch ist tief¬
sinnig, voll sprudelnden Witzes, wahrhaft künstlerisch, und was die Hauptsache
ist, es hat das Verdienst, mich unendlich amüsirt zu haben." — Was die
gegenwärtigen Phantasiestücke betrifft, so ist ein plastisches Talent, sowie leb¬
haftes Gefühl für das Originelle und Komische nicht zu verkennen; aber gegen
die Art des Humors, wie er seit den Zeiten der Romantik in Deutschland ge¬
trieben wird, daß man nämlich nie weiß, ob der Verfasser Ernst oder Scherz
treibt, hätten wir vieles einzuwenden. Will man sich im phantastischen Gebiet
bewegen, so muß man sich nicht auf ausführliche Schilderungen einlassen, und
will man das wirkliche Leben darstellen, so muß man auf dem Erdboden fest¬
stehen. Die Vermischung der phantastischen und der realen Welt kann nur
eine ganz ungewöhnliche Dichternatur rechtfertigen, und diese ist hier doch nicht
in so hohem Grade vorhanden. Am gelungensten scheint uns die Skizze:
Helden des dreißigjährigen Friedens. „Napoleons Kanonendonner war ver¬
hallt. In der Welt war es still geworden. Die Zeit der Helden und Männer
war vorüber, die Weltgeschichte hatte sich in Niescngeburten erschöpft, verfiel
in Schwäche und förderte eine ganze Zeitlang nur Frühgeburten zu Tage.
Dies war die Zeit der Wunderkinder. Es gab deren von jeglicher Art. Die
einen musicirten vom Blatte weg, was man ihnen vorlegte, die andern sprachen
alle todten und lebenden Sprachen; wieder andere waren zu zwölf Jahren
Doctoren und noch andere zu dreizehn Jahren akademische Professoren. , Mit
einem Worte, Künste und Wissenschaften hatten nicht Werth und Reiz mehr,
wenn nicht Kinder sie übten und lehrten. Und diese Frühreife ward so epi¬
demisch, die Wunderkinder'entstanden aller Arten so zahlreich, daß es fast in
jeder Familie ein Wunderkind gab und die Menschen beteten: „O Herr, be¬
wahre uns vor Wunderkindern! .... Ich war kein Wunderkind, aber ich,
blies Flöte und war von Kindesbeinen an verliebt in meine niedliche kleine
Cousine .... Auf Bällen tanzten wir gewöhnlich nur miteinander, und bis¬
weilen geschah es denn, daß wir uns ewige Liebe schwuren und uns diesseits
uno jenseits des Grabes einander anzugehören versprachen. Die Zeit brachte
das so mit sich. Die Romantik stand in ihrer höchsten Blüte. Liebe galt
für die höchste Aufgabe des Lebens und man liebelte gewissenhaft. Nach der
Julirevolution ward es anders. Die Freiheit ward als Religion proclamirt
und Gesinnung für den vernünftigen Daseinszweck gehalten. Um jene Zeit
zählte ich vierzehn und meine Cousine zwölf Jahre; wären wir nach der Juli¬
revolution ebenso jung gewesen, wir hätten nicht uns, sondern der guten Sache
Treue geschworen und hätten uns nicht aus Zärtlichkeit, sondern aus Frei-
Sinnigkeit geküßt u. f. w." Den weitem Verlauf lese man in der liebens¬
würdigen kleinen Burleske selbst nach. —
Eine Episode eins dem Frankfurter Attentat. Ein junger Bürgersmann,
Namens Franz Müller, rettet -1834 einen hochadligen Verschwörer aus der
Todesgefahr. Zum Dank läßt ihn dieser, der im Jahre -1849 als Gesandter
in Paris fungirt, durch die Polizei verfolgen. Franz Müller hat bei seiner
ersten That Gelegenheit, die Theilnahme einer schönen Gräfin zu gewinnen;
aber Madame Müller kann sie nicht werden, das sehen beide ein, und gehen
deshalb auseinander. Was wir auch ganz verständig finden, denn warum
sollte Gräfin Leomine grade Franz Müller heirathen? Wenn die Aristokratie
keine schlimmeren Eigenschaften hätte, als daß sie Mesalliancen, erschwert, so
wollten wir sie uns allenfalls schon gefallen lassen. Eine gewisse Convenienz
in diesen Dingen findet ja auch in den verschiedenen Schichten der bürgerlichen
Gesellschaft statt. Aber warum läßt sich Herr Franz Müller, der sich im Jahre
-1834 so verständig benimmt, -1849, wo er bereits in den Vierziger ist, unnütz
in Verschwörungen ein? Blos um seine»! alten Freunde Gelegenheit zu geben,
einen Act nichtswürdiger Undankbarkeit auszuüben! Und dazu ohne alle Ver¬
mittlung? Wenn Graf Sternberg ein Schuft sein soll, so muß er als ein sol¬
cher doch specisicirt werden; denn daß alle Diplomaten Schufte sein sollen, das
kann man doch ohne einen gründlichen Beweis nicht voraussetzen. — Die
sonstige Art und Weise des Verfassers ist bekannt. Im ganzen glauben wir,
daß es zweckmäßiger von ihm wäre, wieder zu seiner Jurisprudenz zurückzu¬
kehren; einen eigentlichen Beruf für den Roman hat er nicht. —
Der Versasser hat als Motto seines Romans einen interessanten Ausspruch
des Philosophen Arthur Schopenhauer, den wir unsern Lesern nicht vorent¬
halten wollen: „Wenn man, soweit es annäherungsweise möglich ist, die
Summe von Noth, Schmerz, Leiden und Uebeln jeder Art sich vorstellt, welche
die Sonne in ihrem Laufe bescheint, so wird man einräumen, daß es viel besser
wäre, wenn sie auf der Erde sowenig wie auf.dem Monde hätte das Phä¬
nomen des Lebens hervorrufen können, sondern, wie auf diesem, so auch auf
jener die Oberfläche sich noch im krystallinischen Zustande befände. Man kann
auch unser Leben auffassen als eine unnützerweise störende Episode in der
seligen Ruhe des Nichts. Jedenfalls wird selbst der, dem eS darin erträglich
ergangen, je länger er lebt, desto deutlicher inne, daß es im ganzen a (>(-!8->i,-
poilüement, na^, » eus-re ist, oder, deutsch zu reden, den Charakter einer großen
Mystifikation, nicht zu sagen einer Prellerei, trägt." —
Es sind wunderliche Leute, die Philosophen. Die Schwärmerei für das
absolute Nichts fängt an, einen unheimlichen Charakter anzunehmen, und dabei
dehnt sie sich immer weiter aus über die besonnensten und verständigsten
Leute. Wenn ein Mann wie Rosenkranz über den Gedanken, daß überhaupt
etwas eristirt, in Entsetzen geräth, so könnte man selbst verwirrt werden, wenn
man nicht bedächte, daß Zungen und Federn manches hinnehmen, was mit der
Centralkraft des Denkens nicht viel zu thun hat. Wäre indessen die ganze
Welt so mit Greueln überfüllt, wie sie uns der Dichter des vorliegenden Ro¬
mans schildert, so könnte man sich jene Stimmung wol erklären.
Daß ein schlechtgesinnter Graf eine Masse tugendhafter Mädchen verführt
ihnen ein schriftliches Eheversprechen gibt und es dann durch Helfershelfer
stehlen läßt, mag oft vorkommen. Daß er die Folgen der Liebe durch medici¬
nische Mittel beseitigt, ist schon schlimmer, namentlich wenn man sie sich aus¬
führlich erzählen lassen muß. Indessen auch hier muß man die factischen Ver¬
hältnisse in Rechnung bringen. Daß er den Erben seines Bruders, der ihm
seine Güter vorenthält, zu beseitigen sucht, liegt nur in der Natur der Sache;
aber daß er aus den raffinirten Einfall kommt, ihn nicht umzubringen, sondern
ihm jene Unfähigkeit zur Vaterschaft, die Heine als eine angeborne Gabe der
Natur von sich selbst aussagt, künstlich beibringen läßt, das geht denn doch
noch über die Mysterien von Paris. Bei diesen Voraussetzungen wird man
es leicht begreifen, daß selbst die edelste und tugendhafteste aller Gräfinnen zum
Giftmord schreitet, und daß zum Schluß alle betheiligten Personen ohne Unter¬
schied des Standes aus eine greuliche Weise umgebracht werden.
Sehen wir von diesem Inhalt ab, so können wir dem Roman das Lob
ertheilen, das er mit vielem Geschick erzählt und sehr lesbar geschrieben ist. —
Bei der licberschrift dieses Romans, der in dieselbe Sammlung gehört
(Album deutscher Originalromane, herausgegeben von Kober), glaubten wir.uns
von den Schrecken des vorigen erholen zu können. Gibt es ein süßeres und
unschuldigeres Motto, als das bekannte: Zwei Seelen und ein Gedanke :c.?
Aber wir wurden bitter enttäuscht. Zwar ist die Eigenschaft der Treue in
diesem Roman in ganz unerhörtem Maße vorhanden, aber leider wird sie durch¬
aus übel angewendet, denn sämmtliche Personen dieses Romans capriciren sich
darauf, ihre Liebe und Treue jemand zuzuwenden, der nichts von ihnen wissen
will. Das ist gewiß ein trauriges Schicksal, und so können wir uns denn
nicht verwundern, daß die Tugend und Treue hier denselben Ausgang nimmt,
wie im vorigen Roman das Laster, daß zum Schluß alles niedergemetzelt
wird. Da dies Mal das Genre deö Giftmordes nicht in der Natur der handelnden
Personen liegt, so wird die Cholera zu Hilfe gerufen, um der Geschichte ein
Ende zu machen. —
Der Jahrgang enthält, wie die früheren, allerlei mehr oder minder gelungene
kleine Sachen, Lieder, Gedichte und Beschreibungen. Die meiste Aufmerksam¬
keit haben wir der Biographie deö Dichters Alfred Meißner geschenkt, die zwar
von einem andern bearbeitet ist, aber dem Material nach jedenfalls von ihm
selbst herrührt. Das soll kein Tadel sein, denn die Darstellung ist keineswegs
unbescheiden. Wir erfahren daraus, daß der Dichter sich durch den zweifel¬
haften Erfolg seiner beiden ersten Stücke nicht hat abschrecken lassen, daß er
vielmehr zwei neue fertig hat und mit denselben im Laus dieses Winters her¬
vortreten will. Das ist verständig, denn wenn der deutschen Bühne auf¬
geholfen werden soll, so müssen vor allen Dingen neue Stücke geschrieben
werden; und auch mißlungene Versuche sind kein Unglück, wenn sie nur von
einem fleißigen Studium des menschlichen Herzens ausgehen. In dieser Be¬
ziehung möchten wir dem Dichter, für dessen Talent wir uns lebhaft inter-
essiren, einen Rath geben. Er hat das Unglück gehabt, in ziemlich früher Jugend
durch lyrische Gedichte zu einer gewissen Berühmtheit zu kommen. Seit der
Zeit ist ihm, wie so manchem-andern modernen Poeten, das Prädicat „junger
Dichter" geblieben, das jetzt, da er 32 Jahr alt ist, doch nicht mehr so ganz
unbedingt angewandt werden kann. Diese jungen Dichter unsrer Tage haben
nun eine Reihe liebedienerischer Freunde, welche das Prädicat der Jugend gern
recht lange erhalten möchten. Sie rufen bei jedem neuen Versuch: hier ist
zwar noch nicht völlige Vollendung, aber welch kühne, gewaltige, großartige
Gährung :c. Vor solchen Lobsprüchen kann der junge Dichter nicht genug
auf seiner Hut sein. Wenn man unter Jugend nichts Anderes versteht, als
frischen Muth und Wärme des Herzens, so soll nicht blos jeder Dichter, son¬
dern jeder Mensch sich bemühen, soweit es geht, ewig jung zu bleiben. Aber
man versteht unter- Jugend meistens Unreife und Unfertigst der Bildung, und
diese Jugend soll man so zeitig als möglich loswerden. Es ist in der That
soweit gekommen, daß man Unreife für ein besonderes Kennzeichen des Genius
ansieht. Wir haben in Deutschland einzelne unglückliche Dichter gehabt, die
sich dem Trunk ergaben und in Liederlichkeit untergingen, andere, die im
Irrenhaus endeten. Daraus hat man die weitere Siegel abstrahirt, daß der
Genius sich vor allen Dingen durch Neigung zur Liederlichkeit und zum Wahn-
Sinn offenbare. Einer unsrer größten Dichter, Schiller, .hat mit scheußlichen
Gedichten und mit Trauerspielen debutirt, in denen unzweifelhaft das scheußliche
bei weitem das Poetische überwog; und daraus hat man das Gesetz herzu¬
leiten geglaubt, daß in jedem Dichter, der mit scheußlichen Liedern und Trauer¬
spielen debutirt, ein zweiter Schiller verborgen sei, und daß daher jeder Kritiker,
der diese verborgene Göttlichkeit nicht herauswitterte, eine Sünde gegen den
heiligen Geist der Poesie begehe. Wir wollen nicht erst darauf zurückgehen,
daß nicht jeder deutsche Dichter die Kinderkrankheiten hat durchmachen müssen,
daß z. B. Goethe in seinen beiden Erstlingsstückcn: „Götz" und „Werther"
zwei Dichtungen geschaffen hat, die in classischer Vollendung seinen besten
Werken zur Seite stehen. Jedenfalls beweisen die Kinderkrankheiten, wenn sie
auch bei starken Naturen vorkommen, doch an sich noch nicht die Stärke der
Natur. -— Wenn Alfred Meißner mit seiner heutigen Bildung einmal un¬
befangen seine früheren Gedichte ansieht, so wird er sich selbst sagen müssen, daß
ihr innerer Werth lange nicht dem. Ruf entspricht, den ihnen die damalige
Mode und Stimmung zutheilte. Wenn seine spätern dramatischen Versuche
das umgekehrte Schicksal hatten, wenn man das sehr bedeutende Talent, das
sich in ihnen aussprach, verkannte, so muß er das als eine natürliche Reaction
annehmen, die bei seinem natürlichen, lebhaften Trieb, sich immer weiter fort¬
zubilden, nur heilsam auf ihn wirken tanti. Doch wäre es zweckmäßig, wenn
er diese Fortbildung noch nach einer andern Seite hin versuchte, als bisher.
Zwar wird er auch in technischer Beziehung noch sehr viel lernen können, indeß
darin hat er in seinen beiden Dramen bereits recht viel geleistet; er weiß voll¬
kommen, wie man eine Begebenheit dramatisch erponiren, wie man das
Publicum zum Verständniß bringen und in Spannung erhalten soll, aber es
fehlt ihm noch an einem wirklichen Inhalt. Er kennt die Menschen, er kennt
den sittlichen Ernst der Gesellschaft noch nicht. Leider fällt die Jugend Meißners
in eine Zeit, wo die sogenannte Genialität über Dichter wie Schiller und
Goethe, namentlich über den erstem, weit hinaus gekommen zu sein glaubte.
Möge er jetzt einmal die Schillerschen Dramen nur von dieser Seite betrachten:
eine wie tiefe. Intuition des wirklichen Lebens sich in ihnen offenbart, mit
wie großen Zügen er den sittlichen Inhalt desselben auffaßt. Man hat von
Schiller immer nur einzelne gereimte Stichwörter im Kopf, die uns jetzt trivial
klingen, weil sämmtliche Spatzen deS deutschen Dichterwaldes ihm nachgesungen
haben. Aber man lasse einmal diese wohlklingenden Phrasen beiseite und
gehe auf seinen wirklichen Inhalt ein, und man wird von immer größerer Be¬
wunderung durchdrungen werden. Noch weit mehr ist das bei Goethe der
Fall. Der Grund davon liegt nicht blos in der Genialität dieser beiden
Männer, sondern in dem Ernst und in der Gründlichkeit ihrer Arbeit. Die
heutigen Dichter, die darin Jean Paul ähneln, halten jede Arbeit für ver-
schwendet, die ihnen nicht augenblicklich Gelegenheit zu einem neuen Epigramm,
zu einem neuen pathetischen Nein gibt, die sie nicht zu einem augenblicklichen
Eindruck auf das Publicum verwerthen können. Was haben nicht dagegen Goethe
und Schiller an sich selbst gearbeitet, ohne vorher daran zu denken, an welcher
Stelle sie jede einzelne Frucht ihrer Lectüre anbringen sollten! Man hat über
Schillers historische Arbeiten gespottet; wer aber bei Wallenstein oder bei
Wilhelm Teil daran zweifeln kann, daß Schillers historische Anschauung weit
reicher und voller war, als die der meisten Historiker, für den ist Poesie über¬
haupt nicht geschrieben. Man hat über Schillers philosophische Studien ge¬
spottet, und gewiß haben sie seine Technik nicht grade unterstützt; aber durch
, sie hat er jene Reife erlangt, die seine Werke den spätern Jahrhunderten werth
machen wird, während die modernen Dichter, welche Philosophie und Geschichte
nicht studiren, sondern einige Phrasen daraus auswendig lernen, um der un¬
wissenden Menge zu imponiren (z. B. „Der Mensch ist Gott :c."), in zehn
Jahren vergessen sein werden, weil ihr ganzer Neiz im Reiz der Neuheit liegt.
Goethe hat, wenn auch nach einer andern Seite hin, ebenso tiefe philosophische
Studien gemacht, als Schiller, und wenn ihm dabei die Geschichte fremder
blieb, so hat er dafür an der Naturwissenschaft und der plastischen Kunst seinen
Geist gebildet, nicht, wie es wol heutzutage geschieht, daß man die Dresdner
Galerie durchläuft und sich merkt, daß die Sirtinische.Madonna seelenvolle
Augen habe, daß Rembrandt am braunen Colorit zu erkennen sei, Rubens an
seinem gesunden Fleisch u. s. w., sondern wie der Schüler studirt, der Meister
werden will.
Die Dichtkunst wird nicht eher wieder bei uns aufblühen, bis es unsre
jungen Talente ebenso machen, wie Goethe und Schiller. Die Formgeschicklich-
keit an sich hilft noch nichts, wenn man nicht einen positiven Inhalt zu bieten
hat. Es ist mit der Kunst grade wie mit der Wissenschaft. Sowie der Ge¬
lehrte nur denjenigen Stoff zur Befriedigung der Kenner bearbeiten wird, den
er vollkommen beherrscht, so wird der Künstler nur dasjenige darstellen können,
was er nach allen Seiten hin durchfühlt und durchdacht hat. Wenn sich der
Dichter ein Problem setzt, von dem er nichts weiß, als einige Stichwörter, so
wird er vielleicht für den Augenblick die unwissende Menge täuschen, aber eine
schnelle Vergessenheit wird sein verdienter Lohn sein.
. Eine zweite nothwendige Vorbildung des Dichters ist, daß er lebt. Die
meisten unsrer Dichter führen nur ein Scheinleben. Abgesehn von kleinen
Liebesintriguen, bei denen meistens die Reminiscenz maßgebend ist, und, etwa
einer Reise nach Paris, wo sie an jedem Ort, vom Hotel de ville bis zum
Pere la Chaise, die hergebrachten Empfindungen haben, die im Reisehandbuch
verzeichnet sind, zeigen sie sich der Gesellschaft nur in der Dichterpositur. Sie
empfangen für die Declammion ihrer Verse bei der Theegesellschaft das ge-
bührende Lob und sie ärgern sich über übelwollende Recensionen. Für sie
besteht die Menschheit nur aus zwei Clnssm: aus denen, die ihre Verse be¬
wundern, und denen, die sie nicht bewundern. Wenn sie einmal sich weiter
in ein Verhältniß einlassen, als es grade die bloße Betrachtung eines Objects
mit sich bringt, so geschieht es doch mit dem bestimmten . Vorgefühl, daraus
ein Gedicht machen zu wollen, und daraus entspringt eine falsche Beobachtung
seiner selbst und der andern. Goethe hat freilich seine Verhältnisse meistens
mit einer poetischen Recapitulation geschlossen; aber wie tief, wahr und hin¬
gebend er sich in sie versenkte, das zeigen nicht nur seine Bekenntnisse, das
zeigt jede Zeile im Werther, in Hermann und Dorothea, in den vier großen
Elegien. Eine heftige, schnell vorübergehende Glut kann man künstlich er¬
zeugen, aber diese alle Adern gewaltig durchströmende Wärme quillt nur aus
dem wirklichen Leben hervor.
Nun wird zwar nicht jeder, der aufrichtig studirt und der sich mit Innig¬
keit in die Wahrheit des Lebens vertieft, deshalb ein großer Dichter werden,
aber was er gibt, wird wenigstens das Gepräge der Wahrheit an sich tragen,
und das ist die einzige echte Quelle der Poesie. Sie ist es zugleich, die den
Dichter beseligt, und wenn bei unsern modernsten Dichtern der sogenannte
Weltschmerz die übliche Stimmung ausmacht, so liegt darin nur das still¬
schweigende .Eingeständniß, daß sie nicht wissen, ob der Gott in ihnen spricht;
mit andern Worten, ob das, was sie geben, Wahrheit oder Lüge ist. —
Beide Taschenbücher sind sehr geschmackvoll ausgestattet; der Einband
und was sonst dazu gehört, läßt nichts zu wünschen übrig; die Bilder von
hübschen Damen sind nach der neuesten Mode, und was den Inhalt betrifft,
so hat es sich der Herausgeber angelegen sein lassen, der Form keine Schande
zu machen. Wir haben darin Gedichte, Erzählungen, Novellen, Silhouetten
aus dem Künstlerleben, Geschichten von Somnambulen, dramatische Fragmente,
Balladen in der niederöstreichischen Mundart u. s. w. —
Die Tendenz der Sammlung ist eine fromme und tugendhafte, leider aber
müssen wir hinzusetzen, daß das Talent und namentlich der Geschmack des
Verfassers mit seiner Tugend und Frömmigkeit keineswegs auf gleicher Höhe
steht. -
Die Novellen sind nicht ohne Geschick erzählt, aber es sehlt ihnen etwas,
was bei der Schilderung socialer Zustände doch die Hauptsache ist, die Natur-
Wahrheit. Es ist merkwürdig, daß die deutschen Novellisten um so eifriger die
Aristokratie zum Gegenstand ihrer Erfindungen machen, je weniger sie mit der¬
selben bekannt sind. Wir wollen nur auf die erste dieser Novellen aufmerksam
machen. Ein junger Diplomat soll soeben die Tochter eines östreichischen
Gesandten heirathen, welcher der höchsten Aristokratie angehört; er geht
vorher noch in die Restauration, um zu Mittag zu speisen, da erhalte er einen
Zettel von seiner Braut: „Wer vor einer so wichtigen Handlung essen kann,
der soll nicht mein Man werden." Er hat nichts Eiligeres zu thun, als diesen
Zettel einem jungen bürgerlichen Arzt zu geben, der mit ihm zusammen studirt
hat, mit dem er aber sonst nicht im 'geringsten vertraulichen Verhältniß steht.
Dieser junge Arzt, der früher zu den gemischten Cirkeln des Gesandten Zutritt
hatte, wird von dem gnädigen Fräulein gerufen. Er eröffnet die Unterhaltung
gleich damit, daß er ihr erklärt, sie wäre nicht krank am Leibe, sondern an der
Seele, gibt ihr dann ein Erpos-z von ihrem Charakter und überreicht ihr zum
Schluß, um sie von ihrem Verhältniß völlig zu lösen, den ihm anvertrauten
Brief. Diese einzige Scene genügt, um in der stolzen aristokratischen Schönheit
den Entschluß reifen zu lassen, den bürgerlichen Doctor zu heirathen, was
endlich ihr Vater, nachdem er vorher einige unpassende Worte von Vergiftung
und dergleichen gemurmelt, auch zugibt. Um diese Ausgleichung der Stände
vollständig zu machen, heirathet ein anderer bürgerlicher Doctor, und zwar ein
Doctor der Naturwissenschaften, die Tochter eines englischen Lords, und zwar
ohne irgendeinen Widerstand. — In diesem Gemälde ist jeder einzelne Zug
mit den wirklichen Zuständen des Lebens völlig unvereinbar; und das ist für
eine sociale Novelle doch wol ein entscheidender Fehler. —
Die Märchen sind gut erzählt, die Stoffe bei aller Phantastik doch nicht
überschwenglich, und die Ausstattung sehr zierlich, was bei derartigen Weih¬
nachtsbüchlein doch auch zur Sache gehört. — Bei dieser Gelegenheit führen
wir ein ähnliches kleineres Product an: „De Swienegcl als Wettrenner."
Ein plattdeutsches Märchen. Neu illustrirt und mit einem Nachwort versehen
von I. P. T. Lyser. Hamburg, Hoffmann u. Campe. — Der Verfasser
dieser liebenswürdigen Geschichte, deren Text wir vor einiger Zeit selbst mit¬
getheilt haben, ist j?obbe. —.'-
Kleine Dorfgeschichten, in der durch Auerbach festgestellten Weise, im ganzen
gut erzählt und von einem sittlichen Inhalt. —
Kein eigentliches Märchen von volksthümlich phantastischem Inhalt, son¬
dern eine ans Allegorische streifende humanitäre Erfindung, sehr zart und
duftig, aber etwas zu farblos. —
Kleine anspruchslose Geschichten in der Weise Andersens mit viel Gemüth
und einigem Humor erzählt, die ihren bescheidenen Platz in der Literatur wol
ausfüllen mögen. —
Die Verfasserin erklärt in der Vorrede, die französische Sprache und Ge¬
sinnung sei ihr eigentlich fremd, und sie müsse daher um Nachsicht bitten, denn
sie sei mit voller Seele Russin. Wir können dieser Versicherung nicht ganz
Glauben schenken, denn wie russisch auch die Stoffe aussehen, die sie behandelt,
die Form, in der sie dieselben auffaßt, ist doch durchaus französisch, und man
erkennt, daß sie sich früh daran gewöhnt hat, in der Weise der französischen
Romantiker zu denken und zu empfinden, wenn auch einzelne fremdartige Ein¬
flüsse, z. B. die Hegelsche Philosophie, soweit dieselbe mit einer Dame und noch
dazu mit einer Russin in Verbindung gedacht werden kann, sich darin einge¬
mischt haben. Selbst die Art und Weise, wie sie die nationalen Gewohnheiten
der frommen Pilgerschaften auffaßt, erinnert sehr stark an Chateaubriand und
Lamartine. Diese Reflexionen der höheren Frömmigkeit hätten wir gern ver¬
mißt. Es ist manches darin recht fein und zart ausgedrückt, aber der Reich¬
thum der Gedanken ist nicht groß; auf keinen Fall entspricht er der Zahl der
Worte. Dagegen ist die Liebesepisode mit großer Wärme und Innigkeit, sogar
mit einigem Talent zum Charakterisieren dargestellt; aber auch in dieser sehen
wir nichts specifisch Russisches, sondern jene Mischung von Dumas und George
Sand, die sich in der ganzen modernen Romantik geltcndmacht. Selbst der
Inhalt dieser Episode, die Geschichte der herzlosen Kokette Wera, hat eine
ausfallende Aehnlichkeit mit einer Episode in den „Mohikanern von Paris"; sie
ist aber viel ansprechender und bedeutender dargestellt. Wenn die Verfasserin
es verstanden hätte, sich mehr zusammenzudrängen, so würde ihr Roman unter
die besseren Erscheinungen der letzten Jahre zu rechnen sein. —
Dieser Band bewegt sich wiederum ausschließlich in den Lanzknecht¬
geschichten, die wir bereits aus den „drei Musketieren" kennen. Wir haben
wieder eine Bande verwegener Abenteurer von riesenhafter Stärke und unbe¬
zähmbarer Kampflust, die in jedem Augenblick das Unmögliche möglich machen,
grade wie Artagnan und seine Freunde. Munter genug sind auch diese Aben¬
teuer wieder erzählt, aber man merkt doch, daß man es mit einer zweiten Auf¬
lage zu thun hat. —
Der Roman hat in dieser Form sast das Ansehn eines französischen
Originalwerks; wir wissen nicht, ob mit oder ohne Zuthun der Uebersetzung.
Die Erinnerung an die schwedischen Zustände fehlen zwar nicht, aber sie sind
sehr gering und üben auf das Wesentliche der Handlung keinen Einfluß aus.
In den beiden Ehegeschichten, auf denen das ausschließliche Interesse des
Romans beruht, macht sich eine sehr bestimmte Tendenz geltend, daß nämlich
eine Ehe nur dann glücklich sein kann, wenn sie auf gegenseitiger Achtung
beruht, daß die Liebe allein nicht ausreicht, ja daß sie ursprünglich fehlen kann,
wenn nur die übrigen sittlichen Grundlagen für ein vertrauliches Verhältniß
vorhanden sind. Diese Idee ist im einzelnen recht geschickt ausgeführt, nur,
hat es sich die Verfasserin dadurch leichter gemacht, daß sie einige Hauptmomente
der Entwicklung ganz flüchtig skizzirt und statt einer bestimmten Verkettung
von Ursache und Wirkung einen Sprung aus einem Zustand in den andern
anwendet. Die Schilderung des verliebten Pärchens, wo der Mann durch zu
große Nachsicht seine launenhafte, kokette und übermüthige Frau endlich zu den
schlimmsten Verirrungen veranlaßt, ist am besten gelungen. —
Der jetzt geschlossene erste Band enthält nur die Geschichte der Eltern;
die Dichterin selbst ist noch nicht geboren. Wir behalten uns einen aus¬
führlichen Bericht für die nächsten Lieferungen vor. —
Ueber die „Mohikaner" haben wir bereits gesprochen. Der andere Roman
ist eine Fortsetzung jener unendlichen Reihe von Novellen, die mit der Ge¬
schichte Cagliostros begin-nen und den Lauf der Revolution wahrscheinlich bis
zu ihrem letzten Abschluß verfolgen sollen. Der gegenwärtige Band beschäftigt
sich mit dem Jahre 1788 und führt uns die berühmtesten Personen jener
Periode in lebhaftester Conversation vor. Vor allem sind es Danton und
Maral, die das Interesse des Lesers in Anspruch nehmen, und wenn man
hier auch nicht so unbillig sein wird, historische Wahrheit zu erwarten, so muß
man doch gestehen, daß der fruchtbare Novellist über die Art und Weise, wie'
jene blutigen Menschen sich im Privatleben entwickelt haben, bevor der Sturm
der Revolution sie an das Licht der Oeffentlichkeit riß, sich allerlei nicht un-
originelle Vorstellungen gebildet hat, die wenigstens ein flüchtiges Interesse
hervorrufen können. —
Der Roman, der mit dem dritten Band vollendet ist, enthält eine Mischung
der naiven Weise des ältern Paul de Kock mit der durch George Sand und
andere eingeführten idealistischen Romantik. Es sind uns einige recht zarte
und einige recht derbe Stellen vorgekommen, die beide ihre Wirkung thun
werden; im allgemeinen aber sind wir für die Trennung der Gattungen. Cy¬
nismus und Sentimentalität stimmen nicht gut zusammen, wie man auch über
die Berechtigung der einzelnen denken mag, And darum war uns die alte Form
lieber, wo man von vornherein wußte, nach welcher Richtung hin man an¬
geregt werden winde, wo der Freund liederlicher Geschichten nicht in Gefahr
war, in seinen Thränendrüsen afficirt zu werden, und wo der stille Schwärmer
nicht fürchten durfte, durch cynische Erfindungen beleidigt zu werden. —
Wir haben schon mehrfach auf einen Kritiker der Revue des deur mondes
aufmerksam gemacht, der nicht nur wegen seines Geistes eine gwßere Aufmerk¬
samkeit verdient, sondern auch wegen seiner Gesinnung, mit der er in Frankreich
fast ganz allein steht, auf Emile Montegut. Wir wissen nicht, ob dieser Schrift¬
steller auch seiner Confession nach Protestant ist (vielleicht wird uns unser
Corespondent gelegentlich davon unterrichten), was aber das Princip des
Protestantismus betrifft, so kennen wir in neuester Zeit wenig Schriftsteller, die
es mit soviel Wärme und Einsicht vertreten. Das Novemberheft jener Revue
bringt einen neuen Aufsatz von ihm „über den Wilden der Civilisation", der
wieder einige sehr interessante Streiflichter auf das Verhältniß der Religion zu
den socialen Einrichtungen wirft. Nachdem er das schreckliche Anwachsen einer
durch und durch entsittlichten Pöbelmasse geschildert und nachgewiesen hat, wie
wenig gegen dieses Uebel die kleinen Mittel der innern Mission helfen, die
man bisher angewendet hat, fährt er folgendermaßen fort: „Nur die Arbeit,
die gezwungene, ununterbrochene Arbeit, mit einem bestimmten, nicht sehr
wechselnden Lohn kann diese unglückselige Bevölkerung wieder zur Sittlichkeit
zurückführen. Die Religion hat keinen, Einfluß auf sie, am wenigsten der
Protestantismus. Der Protestantismus ist seiner Natur nach für das-Volk,
aber nicht für den Pöbel. Zwar läßt er eine ziemlich große Verschiedenheit
der Meinungen, des Glaubens und des Charakters zu, aber es gibt auch sehr
umfassende Kategorien, die er unbedingt ausschließt. Sein Rechtsgefühl ist
lebhafter als seine Barmherzigkeit, und wie sein Katechismus die Prädestination
enthält, so gibt es auch im Leben für ihn Parias, die er von sich stoßt, selbst
wenn er ihnen Worte des Friedens entgegenbringt. Der Protestantismus ist
wesentlich die' Religion des ehrlichen Mannes, des soliden Pächters, des
naturkräftigen Neoman, des tugendhaften Squire, die Religion des Familien¬
vaters und des Bürgers, vortrefflich für alle diejenigen, welche eine gesell¬
schaftliche Pflicht zu erfüllen haben, die im Schwurgericht, in den Wahlen, in
der Gemeinde sich am Staatsleben betheiligen; aber er hat keinen Trost für
diejenigen, welche die Beute des Bösen und der Spielball Satans geworden
sind. Wenn sie sich nicht bekehren wollen, oder es nicht können, so mögen sie
in ihrer zeitlichen Verdammung verharren, indem sie die ewige Verdammniß
erwarten, die ihnen vorbehalten ist. Der Katholicismus handelt auf eine ganz
entgegengesetzte Art, und es ist merkwürdig, daß er die einzige Religion ist, die
den Pöbel zu benutzen verstanden hat. Der Pöbel wird durch sie nicht be¬
kehrt, nicht bereichert, nicht arbeitsamer, nicht tugendhafter gemacht; aber er wird
getröstet und unschädlich, man reißt ihm die giftigen Zähne aus und beschneidet
ihm seine schrecklichen Klauen. Der Katholicismus hat sür den Bettler eine
unerschöpfliche Fundgrube von Hoffnungen; er hat Heiligenbilder, Rosenkränze,
Kreuze, Amulete: ein süßes Opium, den Schmerz einzuschläfern und das Leben
der Elenden mit schönen Träumen zu bevölkern. Darum wird der Katholicis¬
mus zu allen Zeiten die Lieblingsreligion sür die beiden elendesten Classen der
menschlichen Gesellschaft sein: in den Tiefen der Gesellschaft die Religion der
Armen, deren Loos unwiderruflich und denen jede zeitliche Hoffnung ver¬
schlossen ist; auf den glänzenden Höhen der Welt die Religion der Menschen,
die zu viel gelebt haben und^die kein irdisches Gefühl mehr elektrisirt." Nach
einigen weitern Auseinandersetzungen fährt er fort: „Eine andere merkwürdige
Erscheinung des Katholicismus ist die folgende. Der katholische Pöbel ist so
verdorben als möglich, aber er hat den Vorzug einer großen Anhänglichkeit an
seine Religion. Diese Anhänglichkeit hat gewiß nichts sittliches und nichts
Erhabenes; sie ist augenscheinlich ein rein physischer Jnstinct, ähnlich dem
Jnstinct der Bestie; aber genug, sie eristirt. Der Katholik kann ein Schurke
sein und darum nicht minder fromm; der Italiener kann stehlen, der Spanier
morden, der Jrländer sich vom Morgen bis zum Abend betrinken und sich im
unflätigsten Schmuz wälzen, ohne daß er darüber vergißt, sein Kreuz zu
schlagen, vor der Mutter Gottes das Knie zu beugen und in der Kapelle sein
Gebet herzusagen. Das Gegentheil.findet im Protestantismus statt. Sobald
ein Protestant dem Laster verfällt, hört er auf Protestant zu sein; seine ganze
innerliche und sittliche Religion eristirt nicht mehr für ihn, und das Leben, das
er frei gewählt, ist nicht dazu gemacht, sie ihm wieder in Erinnerung zu rufen.
Die Gewohnheiten eines Diebes z. B. und die damit zusammenhängenden
innern Gedanken haben mit dem sittlichen Glauben an das Evangelium und
an Jesus Christus nichts gemein. Die protestantische Religion ist in England
bis zu den untersten Schichten des wirklichen Volks vorgedrungen; aber im
Gegensatz zum Katholicismus hört sie da auf, wo die Gewohnheit des Lasters
und des Verbrechens anfängt. Der Wilde der Civilisation gehört in pro¬
testantischen Ländern, nicht mehr dem Christenthum an." —
In der Einkleidung dieser Gedanken wird manches paradox erscheinen,
aber das Wesen des Glaubens, nicht wie er im Katechismus steht, sondern wie
er in der Geschichte sich entfaltet hat, ist damit auf das treffendste charakterisirt.
Dieselbe Nummer der französischen Zeitschrift enthält außerdem eine auch
für uns interessante Abhandlung von Alfred Maury über die Wahngebilde der
christlichen Mystik, namentlich über die Stigmatisation. Wir wünschten, daß
unsre Neugläubigen einmal diese Seite des Gegenstandes ernsthaft ins Auge
fassen möchten.
In der Politik fährt das Journal fort, Deutschland so roh und plump,
als es nur in der Napoleonischen Zeit möglich war, zu beleidigen, und verräth
dadurch aufs deutlichste, daß trotz der Interessen, welche die so-genannte gute
Gesellschaft in Frankreich an der deutschen romantischen Literatur genommen hat,
im wesentlichen noch die alten sinnlosen Vorurtheile herrschen. Eine Ab¬
handlung des nämlichen Hefts über die dänische Frage sucht an Unwissenheit
und Unverschämtheit ihresgleichen.
Die „Chemie der Gegenwart" ist vorher in einzelnen Abhandlungen in
der Brockhausschen Encyklopädie: „die Gegenwart" erschienen. Wir haben
schon bei der Besprechung dieser Sammlung darauf aufmerksam gemacht. DaS
Buch nimmt sich nun als Ganzes noch stattlicher aus und verdient eine all¬
gemeine Verbreitung. Um sich bei dem größern Publicum einzuschmeicheln hat
der Verfasser seiner Form etwas novellistisches gegeben, vielleicht in einer
größern Ausdehnung, als es wünschenswert!) wäre; denn die wahre Popula¬
rität geht nicht daraus hervor, daß man seinen Gegenstand durch allerlei Flitter
ausputzt, sondern daß man ihn in seiner einfachsten und anschaulichsten Form,
in seinem innern organischen Zusammenhang, von allen störenden Nebengedanken
entfernt, der sinnlichen Anschauung und dem Gedanken vorstellt. Allein diese
belletristische Form ist hier doch etwas ganz Aeußerliches und hat auf den
kernhaften, gesunden Inhalt durchaus keinen nachtheiligen Einfluß ausgeübt.
Der Verfasser, der den neuesten großen Entdeckungen auf dem Gebiet der Chemie
mit der lebendigen Theilnahme einer gründlichen wissenschaftlichen Bildung selbst¬
thätig gefolgt ist, stellt die Wissenschaft in jenen großen Zügen dar, zu denen man
nur durch einen tiefern Einblick in das Wesen der Sache befähigt wird. Er
sucht, soviel es dem Laien gegenüber möglich ist, auf das innere Leben der
Wissenschaft hinzudeuten und seinen durchgreifenden Zusammenhang mit dem
Leben im Großen und Ganzen hinzuweisen. Dieses letztere ist namentlich in
der letzten Abhandlung: „die Chemie in ihrem Einflüsse aus Kunst, Gewerbe
und Ackerbau" geschehen. Diese Mittheilungen haben um so größern Werth,
da grade auf das Naheliegende die Aufmerksamkeit sich am wenigsten richtet.
Möchte durch eine recht weite Verbreitung dieses inhaltreichen Buchs die Ein¬
sicht in den Zusammenhang des Lebens und damit das Gefühl für Wahrheit
überhaupt immer mehr entwickelt werden. —
Gewissermaßen ein Seitenstück zu dieser populären Darstellung der Chemie
ist das Werk des Professor Bock. Die strengen Ansichten des Verfassers über
die moderne Medicin als Kunst betrachtet sind bekannt. Desto größere Achtung
hegt er vor der Medicin als Wissenschaft. Nach seiner Ansicht hat die Heil¬
kunst vor allen Dingen dahin zu trachten, die Menschen aus das natürliche und
der Beschaffenheit des Leibes angemessene Leben aufmerksam zu machen, um
dadurch die Krankheit zu vermeiden, die durch ein Eingreifen Äußerlicher Mittel
nur in den seltensten Fällen gehoben werden kann. Was Krankheit ist (die
Unterbrechung des regelmäßigen Stoffwechsels im menschlichen Körper), kann
nur dann richtig erkannt werden, wenn man sich vorher den normalen Zustand
des Lebens klar gemacht hat. Da sich aber auch die Gesetze des menschlichen
Organismus zum großen Theil auf Gesetze zurückführen lassen, die in der ganzen
Natur gelten, so muß die Erläuterung dieser allgemeinen Gesetze dem eigentlich
physiologischen Theil vorausgehen. Der Verfasser entwickelt zuerst die Grund¬
begriffe der anorganischen Chemie und geht dann aus die höhere Form der Stoff¬
verbindungen ein, die man Organismus oder Leben nennt. Er stellt in ein¬
fachen, leicht übersichtlichen Zügen den innern Zusammenhang des menschlichen
Körpers dar, die Gesetze seiner Fortbildung und die Bedingungen, unter denen
dieselben zweckmäßig von Statten geht, um aus jedem Naturgesetz zu¬
gleich eine Regel für das zweckmäßige Verhalten herzuleiten. Allen äußern
Ausputz hat er sorgfältig vermieden und sich dagegen bemüht, durch künst¬
lerische Ordnung und Gestaltung seines Stoffs einen eindringenden und über¬
zeugenden Eindruck zu machen. Dies ist die einzig richtige - Form der
Popularität für wissenschaftliche Werke, und wenn auch der Hauptzweck des
Verfassers ein pädagogischer ist, wenn die Regeln des Verhaltens, die er aus
den Naturgesetzen herleitet, ihm für diesen Fall wichtiger sind, als die Gesetze
selbst, so wir ddas Buch doch auch ein ganz objectives Interesse erregen. Denn
jeder gebildete Mensch hat die Pflicht, sich über seine eigne Natur klar zu
machen, und sein Interesse wird dieser Pflicht vollkommen entsprechen,
wenn man ihm uur eine lebendige Gelegenheit dazu gibt. Man wird von
manchen Seiten dieser Schrift den Vorwurf des Materialismus machen;
waS davon zu halten ist, hat in einem unsrer frühern Hefte die Abhandlung
über den Materialismus der Naturwissenschaft auseinandergesetzt. Materielle
Dinge kann man eben nicht anders behandeln, als materialistisch; im Gegen¬
theil wird der Geist am meisten dabei gewinnen, wenn man sich über seine
materielle Grundlage vollkommen klar macht; denn daß ein gesunder Geist auch
einen gesunden Körper verlangt, ist schon ein altes Sprichwort, und jedes Be¬
streben, die Gesundheit der Menschen zu verbessern, arbeitet auch für die Ver¬
besserung der Wissenschaft, —
Die Sammlung „Aus der Natur" haben wir bereits in ihren frühern
Lieferungen angezeigt. Auch das gegenwärtige Hest entspricht vollkommen der
würdigen Stellung, die das ganze Werk einnimmt, und ist ebenso gründlich in
seiner wissenschaftlichen Haltung, als ansprechend in seinem Inhalt. —
Die Schrift von Neimann ist vorzugsweise zum Lesebuch für Schulen be¬
stimmt. Sie enthält eine Beschreibung der> sämmtlichen Naturerscheinungen,
welche uns in unmittelbarster Gegenwart berühren, in einer sehr anschaulichen
Darstellung, an der wir nur das eine auszusetzen haben, daß sie nicht immer
einfach genug ist. Nach unsrer Ansicht hat der Lehrer nichts weiter zu thun,
als die Wunder der Schöpfung in ihrer Mannigfaltigkeit und ihrem Zusammen¬
hang dem Schüler klar und deutlich vorzulegen; die Gemüthsbewegungen, die
daraus entspringen sollen, kann man füglich dem natürlichen Eindruck überlassen.
Im übrigen ist das Buch aber sehr empfehlenswert!), und wenn wir es mit
Schriften ähnlicher Art vergleichen, die vor 20 bis 23 Jahren in den Schulen
gäng und gebe waren, so wird uns recht deutlich, wie sehr sich der Sinn und
das Verständniß für das wirkliche Leben in dieser Zeit geschärft und ent¬
wickelt hat. —
Ein sehr geistvolles kleines Werk ist die Schrift, die wir zuletzt angeführt
haben. Es ist noch nicht lange her, daß wir auf eine ähnliche Schrift von
Herrn Goldschmidt aufmerksam machten, über die Volksmedicin im Großherzog-
thum Oldenburg. Die gegenwärtige Schrift, die ihr würdig zur Seite steht,
bemüht sich, nachzuweisen, wie die gegenwärtigen Fortschritte in der Natur¬
kunde und in der Aufklärung überhaupt auf die gesellschaftliche Stellung des¬
jenigen Standes, in dessen Lebensweise, Beschäftigung und Ansicht sie am un¬
mittelbarsten eingreifen mußten, keinen ganz vortheilhaften Einfluß ausgeübt
haben. Früher standen die Aerzte dem Publicum mit der Würde deS Priester-
thums gegenüber. Diese Unnahbarkeit machte sie bald zu komischen Personen,
sobald die Ehrfurcht vor dem Dunklen und Mystischen sich überhaupt verlor,
und indem bei dem Fortschritt der Wissenschaft die verschiedenen Schulen und
Sekten der Medicin sich an das Publicum wendeten» es gleichsam zum Richter
in einer wissenschaftlichen Streitfrage machen mußten, ging es dem Stande der
Aerzte wie dem Staude der protestantischen Geistlichen:' ein jeder Laie gab seine
Kritik über ihn ab, und das drückende Gefühl der Concurrenz trieb wieder zu
einer neuen Methode der Marktschreierei. Als besonders schädlich stellt der
Verfasser den Einfluß der Homöopathie dar. „Hier wurde die Charlatanerie,
die Unwissenheit in ein System gebracht und als eine besondere Heilkunde ge¬
lehrt und weitcrgetragen, und die ganze Wissenschaft der Heilkunde geleugnet
oder für überflüssig erklärt; denn auch die studirten homöopathischen Aerzte haben
fast alle ihre medicinischen Kenntnisse nicht zum Heilgeschäft nöthig, sondern
nur, damit sie prästanda prästiren, d. h. den Anforderungen des Staats zur
Erlaubniß der Praris genügen." ^ Bei der feinen Beobachtungsgabe und
dem leichten, eleganten Stil deS Verfassers wird das kleine Buch nicht ver¬
fehlen, auch außerhalb der eigentlich medicinischen Kreise Aufmerksamkeit und
Interesse zu erregen. —
Man hat Brüssel und das Brüsseler Leben oft einen Abklatsch des Pariser
genannt; aber es gibt in der Natur zwar sehr große Aehnlichkeiten, jedoch
niemals vollkommene Gleichheiten. Ein Gang durch die Straßen von Brüssel
und Paris wird uns so manchen Unterschied in dem Charakter der beiden
Städte zeigen. In Paris trifft man zu jeder Stunde des Tags, mag man
nun in den vornehmen Quatieren oder in den engen schmuzjgen Gäßchen der
Cleo (die abscheulichsten fanden wir in der Nähe des Palais de justice) in der
prächtigen Rue Rivoli und dem Boulevard des Italiens oder in dem Straßen¬
gewirr des Quartier Temple mit seinen Trödelbuden und Unmassen von Ge¬
würzkrämerladen oder unter den hohen schattigen Kastanienbäumen des Garten
im Palais royal spazierengehen, eine Menge vornehmer und nicht vornehmer
Müßiggänger, die wenn sie deS Morgens ausstehen nicht wissen, was sie mit
dein langen, lieben Tag anfangen sollen, die von einem Cafe in das andere
schlendern, vor jedem Schaufenster in den Passagen, wo ein neues Bild oder
Statue ausgestellt ist, stehen bleiben, jede Prügelei zweier Chissonniers (Lumpen¬
sammler) als ein willkommenes Schauspiel betrachten, jeder hübschen Frau,
die eine feine Taille oder einen kleinen Fuß hat, straßenlang nachlaufen und
wenn sie gar nichts Anderes wissen: im Garten des Palais royal warten bis
die Sonne im Zenith steht und das Brennglas den kleinen dort aufgestellten
Böller abfeuert. Wir stießen eines Morgens in der Rue Trevise auf einen
dichten Menschenknäul, der irgendetwas, was sich inmitten des Kreises er¬
eignete, zu betrachten schien; anfänglich glaubten wir, es hätte sich eine tragische
Scene hier ereignet und blieben auch stehen, waren aber nicht wenig erstaunt, als
wir auf unser Befragen erfuhren, daß einem Savoyardenknaben eine kleine
weiße Maus, die er Kunststücke machen ließ, aus seinem Kasten entflohen und
daß alle diese Menschen nun stehen geblieben wären, um zu sehen, wie der
kleine Savoyarde seine Maus wieder einfangen würde. — In Brüssel hin-
gegen findet man diese Gattung von Menschen entweder gar nicht oder doch
nur in sehr kleiner Anzahl. Die Straßen von Brüssel sind auch sehr lebhaft,
aber es ist eine andere Lebendigkeit als die der Pariser. Man .sieht eS allen
den Leuten in den Brüsseler Straßen an, daß sie nicht aus Müßiggang, aus
Langweile oder des Vergnügens halber auf dem Pflaster herumlaufen, son¬
dern daß sie in Geschäften sind und eilig haben. Selbst in der prächtigen
Passage Saint-Hubert mit der Galerie du Roi und de la Reine, vielleicht
der schönsten und herrlichsten, die es gibt und welche die berühmten Pariser
Passagen weit übertrifft, sieht man, so lebhaft und voll von Menschen die
Passage auch von früh bis spät am Abend, wo sie im Lichterglanze funkelt,
ist, nur wenig Leute vor den hohen Fenstern, hinter welchen die Kunst und
Industrie ihre Schätze aufgebaut, stehen bleiben — sie werfen einen flüchtigen
Blick hinein und eilen vorüber, dem Geschäft, der Arbeit nach. Wenn man
Paris die Stadt des Vergnügens nennt , so möchten wir Brüssel die Stadt der
Arbeit, der Industrie nennen . . . Aber man findet in Brüssel auf den
Straßen auch nicht jene so herabgekommenen Gestalten und Erscheinungen, wie
sie sonst gewöhnlich in großen Städten auftauchen. Solche zerlumpte, ab¬
gerissene Vagabondenfiguren, denen man ansieht, daß sie die Nacht unter der
Vorhalle einer Kirche oder Schauspielhauses zugebracht haben, wie man sie so
häufig in Paris, vorzüglich aber an den Brücken und den Quais sehen kann,
solche wüste Eckenstehergestalten, wie man sie in den Straßen Berlins erblickt,
muß man in Brüssel such en, um sie zu finden, während sie sich dort fortwährend
vor unsre Blicke schieben . . . Ebenso ist es auch mit den Straßenbettlern.
Wir waren zu einer Zeit in Brüssel, wo die Theuerung der nothwendigsten
Lebensbedürfnisse, des Brotes und der Kartoffeln, auf eine für die Armen ent¬
setzliche Höhe gestiegen und Brvdkrawalle vor dem Hotel de Ville an der Tages¬
ordnung waren, aber wir müßten lügen, wenn wir behaupteten, außer von ein
paar kleinen Gassenbuben, von irgendeinem Armen nur um ein paar Centimes
oder Sous angesprochen worden zu sein, während man in andern großen Städten
die Hand nicht aus der Tasche bringen kann. —,
Eine andere Annehmlichkeit, welche Brüssel vor vielen Städten gleichen
Ranges und gleicher Größe voraushat und die jeden Fremden bei dem ersten
Eintritt und Gang durch die Stadt angenehm überrascht, ist die Sauberkeit in
allen Straßen und in den mit Mosaik ausgelegten äußern Hausfluren. Wie
angenehm wird der Fremde überrascht, wenn er von dem alten Köln mit seinen
hohen Häusern, engen, dunklen Gassen und dem in den Gossen fließenden, oft
übelriechenden Wasser, in die hellen, breiten Straßen Brüssels'mit ihren
eleganten Häusern und prächtigen Hotels kommt. Und dann diese weiten freien
Plätze, von welchen wir nur den Place de Monnaie mit seiner Menge
brillanter Cafvs und dem Theater royal, dann den Place des Martyrs mit dem
Denkmal der Septembergefallcnen der belgischen Revolution, dann den Platz
vor dem Hotel de Ville, auf welchem Herzog Alba die Grasen Egmont und
Hoorn nebst den andern brabantischen und flandrischen Edlen enthaupten ließ
und auf welchem man jetzt noch das große prächtige Palais zeigt, aus welchem
Alba der Hinrichtung zuschaute, und endlich den Place royal mit seinen herrlichen
Monumenten erwähnen wollen. Da wir einmal beim Place royal sind, so
können wir, zumal es in den Nachmittagstunden zwischen 2—i Uhr ist, es
nicht versäumen, den dicht am Place royal und den Boulevards gelegenen
Park, den Versammlungsort der vornehmen und diplomatischen Welt Brüssels
zu besuchen . . . Hier sieht man die elegantesten, geschmakvollsten und frischesten
Damentoiletten, die Männer der hohen Finanz und des diplomatischen Corps;
insbesondere ist es unter letzterem die russische Colonie, welche hier zahlreich
vertreten ist und durch Pracht und Eleganz glänzt. Diese sogenannte russische
Colonie Brüssels besteht aus einer Menge Diplomaten verschiedenen Ranges
und Geschlechts, die sich nach Abberufung der Gesandten aus Paris und London
hier zusammengefunden haben. Baron Kiselcff, der frühere Vertreter des
Zaren am Tuileriencabinet, die Fürstin Lieven, Guizots langjährige Freundin,
die schöne Gemahlin des Herrn von Brünnow, früheren russischen Gesandten
in England, das sind die Mittelpunkte, um welche sich die übrigen Moskoviter
gruppiren. Indessen die höheren Gesellschaftskreise ähneln sich überall mehr
oder minder und bieten selten Originalitäten dar, wir durchstreifen daher nur
flüchtig den Park, steigen wieder aus den oberen Quatieren der Stadt
herab und lenken, indem wir die Rue Madelaine passiren, unsre Schritte nach
der großen Frucht- und Blumenhalle Brüssels. Man denke sich eine ungeheure
ovale, mit Glasfenstern überdeckte Halle, deren Umfang vielleicht größer ist,
wie der Markt mancher kleinen Stadt, und in dem inneren Raum dieser
Rundung Hunderte von Verkäufern und Verkäuferinnen vor ihren großen Obst-
und Gemüsekörben sitzend und in französischer, flamländischer und holländischer
Zunge durcheinanderrufen, schreien und kreischen. Hier sieht man zwischen
Bergen von Melonen und Pfirsichen den phlegmatischen holländischen Bauer
mit seinem lange» blauen Rock, der rothen Weste mit den großen runden, stark¬
versilberten Knöpfen und dem dreieckigen Hut, die beliebte nationale Thonpfeife
im Munde, beschaulich umherwandeln, wartend bis die Käufer zu ihm kommen;
dort preiset eine runde, derbe Flamländerin in ihrer eigenthümlichen, viel Ähn¬
lichkeit mit dem Plattdeutschen habenden Sprache, einer flamländischen Köchin
— die Flamländerinnen sind in Brüssel als Dienstboten grade so gesucht
wie in Paris die Mädchen aus der Normandie und Picardie oder in Leipzig
die thüringischen Mädchen — ihren Blumenkohl und Artischocken an; hier
rufen uns brabantische Landmädchen mit den kleinen, weißen Mützchen, welche
kaum die dichten schwarzen Flechten bedecken, in ihrem französischen, etwas breit
klingenden Patois an und bieten uns Nüsse und ungeheuer große dunkelrothe
und braungelbe Trauben an, während sich links und rechts die Unmasse der
Einkäuferinnen durch die Körbe und das Gedränge schiebt, überall angehalten
durch den sprudelnden Redefluß der französischen Bäuerinnen aus den an
Belgien grenzenden Departements, welche durch die Beweglichkeit ihrer Zunge
und höflichen Redensarten, mit welchen sie die Vorübergehenden zu animiren
suchen, alle andern übertreffen. Nachdem wir all die Herrlichkeiten, insbesondere
aber die Massen der herrlichsten Südfrüchte, welche von Holländern in
Rotterdam, wohin sie zur See gebracht werden, aufgekauft und per Eisenbahn
nach dem nur wenige Stunden entfernten Brüssel gebracht werden, bewundert,
winden wir uns durchs Gedränge und gelangen glücklich an eine helle, breite
gußeiserne Treppe, welche uns hinauf auf die obere Galerie, aus den Blumen¬
markt von Brüssel führt. Hier ist der Tumult weniger groß und der Total-
. eindruck zwar ein nicht so großartiger, aber lieblicherer als unten in der weiten
Halle. Die Einkäufer sind hier keine flamländischen Dienstmädchen, sondern
meistens junge, hübsche, elegante Frauen von der vornehmen Dame bis zur
Grisette herab, die Camelien, Rosenstöcke, junge Stutzer, die elegante Bvuquets
für ti^ Angebetete ihres Herzens kaufen. Wie sein, wie zart und duftig sind
alle diese Hunderte von Bvuquets geordnet; man traut es kaum diesen sonn¬
verbrannter wallonischen und holländischen Verkäuferinnen mit den festen, stark-
markirten Gesichtern unter dem breiten runden Strohhut, zu, daß sie soviel
Geschmack, soviel Feinheit des Gefühls haben und so ein duftiges Bouquet
aus ein paar bunten Blumen und grünen Blättern zusammenbinden könnten!
Wir sahen blos noch einen mareliö <Zeh lleurs, der den Brüsseler übertrifft, wo
die Blumensträuße mit noch liebenswürdigerer Koketterie uns einladen sie zu
lausen, wo der Anblick noch reizender, die Blumen noch duftiger uns erschienen
es war das auf dem maroliö <Zeg InnoceMs, dem BlUmenmarkt von
HiMW/B.»Aiikm^i-i'k.'iiiivi-y-'N-A et,:i/,!j^<mi'i im-kM
Aber das Herumstreifen hat uns müd und hungrig gemacht, es wäre auch
zuviel, wenn wir unsern Lesern zumuthen wollten, auf einem einzigen Gang
die ganze Stadt zu durchwandern, wir sagen daher dem Blumenmarkt für heute
ein Lebewohl und schlendern in das grand Cas-z des Boulevards, unweit der
Rue neuve, wo man außer einem guten Diner für 30 Sous auch noch den
Kladderadatsch beim Desert haben kann. Und wir müssen gestehen, wir haben
niemals mit größerem Behagen die cchtgermanische Physiognomie des alten
Herrn betrachtet, als hier in dieser Umgebung von französischen und steifen
englischen Gesichtern; wobei wir nicht leugnen wollen, daß sich auch etwas
nationaler Stolz in das Gefühl mischte, denn wenn wir auch niemals in
französischen und belgischen Blättern Leitartikel aus deutschen Zeitungen ab¬
gedruckt fanden, wie wir es mit der „Times" oder dem „Constitutionel" machen,
so fanden wir doch die Bilderwitze des Kladderadatsch und — nicht zu vergessen
— die des Leipziger Dorfbarbiers — über die orientalische Frage in belgischen,
und soweit es das französische Preßgesetz erlaubte, auch in französischen Chari-
varis treulich abgeklatscht. —^
-..
Von der Meisterhand Kniehubers wurde in diesen Tagen das trefflich
gelungene Porträt des Grafen Buol-Schauenstein nach der Natur gezeichnet
und durch den Steindruck der Oeffentlichkeit übergeben. Man kann mit berech¬
tigter Anwendung einer oft mißbrauchten Phrase behaupten, daß durch dieses
Kunstblatt einem lange gefühlten Bedürfniß begegnet wurde. Graf Buol ge¬
hört heute im besten Sinne des Wortes zu den populärsten Männern Europas.
Er ist populär in Kreisen, welche sonst mit Geringschätzung von Popularität
sprechen, populär in den Cabineten der Fürsten und Diplomaten. Aber ebenso
populär in allen Volksclassen, soweit dieselben den größeren politischen Inter¬
essen zugänglich und einer Theilnahme an der Zeitgeschichte fähig sind. Das
Porträt zeigt uns einen Mann in den Funfziger, von edler, freier Haltung,
in dem üblichen staatsmännischen, einfachen Gewand. Nur ein Orden schmückt
die Brust des Ministers, es ist das Großkreuz des östreichischen Se. Leo¬
poldsordens. Hiermit allein sollte der leitende Gedanke, der Stolz und das
Selbstgefühl des Mannes ausgedrückt werden, in dessen Händen factisch seit
Beginn der jetzigen europäischen Verwicklung die diplomatische, Entscheidung
ruht. Der feingeformte Kopf und der helle Blick sind, der, künstlerischen wie
der politischen Auffassung angemessen, vom Körper abgewendet hinaus ins Freie
gerichtet, ruhig die Welt überblickend, deren stürmisches Treiben jetzt die ganze
Seele des Staatsmannes in Spannung hält. Die schöngewölbte Stirn, die
Nase von classischem Schnitt, der Mund fest geschlossen, aber von einem Zuge
selbstzufriedenen Wohlwollens belebt, das Kinn hervorragend, weich gerundet,
Kopf- und Barthaar in schlichter Eleganz — so gibt das Bild den ganzen
Eindruck wieder, den der Geist nach den Aeußerungen und Thaten des Mannes,
von dessen Wesen empfangen hat. Es ist eins von jenen wahrhaft aristokra¬
tischen Gesichtern, an welchen der, Continent fast täglich ärmer wird, wäh¬
rend sich im britischen Inselreiche dieser Typus noch ziemlich rein erhalten
hat. Wer dem Grafen näher steht, kann auch in dessen Sprache u„v
Benehmen die humane Bildung, den gereiften Verstands den weltmännischen
Ton erkennen, wodurch die alte Schule des englischen Staatsadels bis auf den
heutigen Tag sich den vollen Einfluß auf ihre Landsleute und auf die Geschicke
des Auslandes zu erhalten gewußt hat, Graf Buol hatte es während seiner
langjährigen diplomatischen Thätigkeit an fremden Höfen verstanden, mit un¬
befangenem Blick die eigenthümlichen Zustände der verschiedenen Völker aufzu¬
fassen und sich selbst von den Vorurtheilen freizuhalten, durch welche von vorn¬
herein soviele seiner Standes- und Berufsgenossen an einer gerechten Würdigung
ausländischer Verhältnisse behindert werden. Im unmittelbaren Verkehr mit
den politischen Celebritäten unsrer Zeit bildete sich das feste Urtheil und - der
ebenso feste Charakter des Grafen heran, die Milde, welche seinem Herzen na¬
türlich ist, ward durch die Ueberzeugungen des Verstandes geleitet und beherrscht;
dieser edle Kampf macht sich in kleinen und großen Dingen bemerkbar und
charakteristrt daher auch seine politische Handlungsweise. Ueberall mit Offenheit
und Wärme entgegenkommend, leiht er andern Meinungen und Wünschen seine
volle Aufmerksamkeit und Theilnahme, theilt dann ebenso offen und warm die
Ansicht mit, die ihm von seinem Standpunkt aus die richtige scheint, stellt endlich
nach reiflicher Ueberlegung sein Urtheil und seinen Entschluß fest und weicht
dann nur soweit davon ab, als Pflicht und Ehre es gestatten. Transactionen,
wie sie besonders während der letzten Jahre in der diplomatischen Welt wieder
beliebt waren, sind Gras Buol zuwider, t^iz. ,'se der Grundzug und das
Stichwort seiner staatsmännischen Thätigkeit.
Als Oestreich im April 18S2 den Mann so plötzlich verlor, dem es binnen
wenigen Jahren seine Rettung aus der größten Gefahr, in der eS je geschwebt,
und seine rasche Erhebung zu neuem Ruhm zu danken hatte, als einen Augen¬
blick der ganze Staat von dem unerwarteten Schlage gelähmt erschien und
der junge Monarch, gewohnt an die kühne und sichere Hand des Fürsten Felix
Schwarzenberg, sich mitten in den schwierigsten Verhältnissen der festen Stütze
beraubt sah, auf die er unbedingt vertraute, als kaum die trüben Tage von
Dresden und Olmütz glücklich überstanden waren und Oestreich sich berufen
fühlte, eine neue übermächtige Stellung im Rathe Europas zu erringen —
da war der bange Moment eingetreten, wo das Geschick des Reiches abermals
zu schwanken schien, wo das geistige Leben des todten Mannes erst in seiner
ganzen Größe und Bedeutung anerkannt wurde, da die Lücke, welche sein
Ausscheiden im ganzen Staatsorganismus zurückließ, so schwer ersetzbar schien.
Aber selbst über das Grab hinaus hatte Fürst Schwarzenberg die Situation
beherrscht. Indem-er die Augen seines Souveräns und der politischen Welt
schon während der letzten Jahre auf den Staatsmann gerichtet hatte, den er
zunächst berufen glaubte, als Erbe seiner Ideen in den Rath des Kaisers ein¬
zutreten, zeigte der erste und letzte Premierminister des restcuirirten Oestreichs,
daß er seine eigne Aufgabe ebenso scharf und selbstbewußt aufgefaßt hatte, im
Sinne seines eventuellen Nachfolgers. Fürst Schwarzenberg war Soldat in
seinem Denken und Handeln, Soldat in der höhern chevaleresken Bedeutung.
Als Soldat hatte er die Gefahr erfaßt, in welcher sein Vaterland und sein
Kaiser schwebte. Ohne Zögern und ohne jene Rücksichtsnahme, welche dem
Bureaukraten von Geblüt eigen ist, stürzte er sich persönlich in den Kampf,
zuerst aus den blutigen Schlachtfeldern in Italien und Ungarn, bann auf dem
politischen Wahlplatz der heimischen Parteien und der auswärtigen Diplomatie.
Nachdem es ihm gelungen war, die Staatseinheit mit dem Schwerte herzu¬
stellen, proclamirte er dieselbe offen als das Fundament des neuen Reiches,
als das Ziel der neuen Reaction. Dem Auslande gegenüber suchte er, gehoben
von dem Gefühl des rasch errungenen Sieges und von dem Stolz des neu¬
belebten Patriotismus, die frühere Stellung Oestreichs als europäische Gro߬
macht wieder zur Geltung zu bringen. Auch hier wirkte er mit soldatischem
Geist. Unbeirrt von ältern Traditionen, von den Separatgelüsten früherer
Bundesgenossen, belästigt.durch den schwerfälligen Mechanismus des deutschen
Bundeswesens, stürmte er bald mit gewaffneter Hand ins fremde Land hinein,
das politische Terrain des Augenblicks und jede falsche Stellung des Gegners
zum Vortheil seiner Operationen benutzend. Daß es ihm hierbei nicht darauf
ankam, Recht und Unrecht — wir erinnern an Hessen und Holstein — mit
der historischen Goldwage abzuwägen, lag eben auch in dem eigenthümlichen
soldatischen Wesen seines Auftretens und in dem sichtbaren Bestreben, die Gunst
des Momentes, gleichsam das Lächeln des Schicksals, durch rasches Handeln
der wiedererstandenen Mix ^ustria, dauernd zuzuwenden. Der politische Feld¬
zug endete mit Ehren für Oestreich. Aber er ließ viele Wunden in Deutsch¬
land zurück, welche, wie wir bis heute sehen, bei der leisesten Berührung
wieder schmerzhaft werden und einer gründlichen Heilung bedürfen. Ueberall
im eignen Lande und in den angrenzenden Staaten war das Restaurations¬
werk begonnen, die Erbauung des aufgewühlten Bodens vorbereitet, neue Or¬
ganisationen sollten ins Leben treten, alte und junge Leidenschaften, provincielle
und reaktionäre Gelüste, radicale Erinnerungen sollten gedämmt und dem all¬
gemeinen Staatswohl untergeordnet werden, die materiellen Interessen stürzten
mit einem Male in voller Naturwüchsigkeit über den hohlen Doktrinarismus
der Bewegungsjahre hinweg und die Finanznoth, die knurrende Sprache des
Geldsacks wurde lauter vernehmbar, als das leise Flüstern der konstitutionellen
Epigonen. Die Zolleinigung mit Deutschland war kaum zum Abschluß gebracht,
noch schwebten die Verhandlungen zwischen dem Steuerverein und dem Zoll¬
verein und die Klagen des bedrohten Industriellen diesseits und jenseits der
östreichischen Grenze setzten die Handelswelt in Unruhe. Auch die Beziehungen
zum Auslande hatten durch den Staatsstreich des napoleoniden vom 3. Dec.
eine unerwartete Wendung genommen. Schon der Name des neuen Dynasten
setzte ganz Europa in Bewegung. Athemlos verfolgte man jeden Schritt des
glücklichen Emporkömmlings, und seine stumme Verschlossenheit gab Raum zu
den schlimmsten Befürchtungen für die Ruhe Europas. Das ganze mühevolle
und blutige Werk der letzten Jahre schien abermals in Frage gestellt. Und
kaum hatte das Londoner Protokoll mindestens dem Scheine nach eine Quelle
der schwierigsten Verwicklungen im Norden unsres Welttheils verstopft, als
am andern Ende desselben, im Südosten, Verhältnisse und Zustände zur Sprache
kamen, welche, anfangs wenig beachtet, bald als die wichtigsten Factoren der
gemeinsamen europäischen Politik erkannt werden mußten. Eine unsichtbare
Hand ragte aus dem Norden in die slawisch-türkische Welt hinein, knüpfte und
löste die seit Jahrzehnten gesponnenen Fäden, und trat endlich mit einem un¬
geschlachten Faustschlag ans Tageslicht. In den serbischen Ländern, in den
Fürstentümern führte das stehende Capitel der „Christenverfolgungen" bald
zum offenen Kampf zwischen den Orthodoxen und den Muselmännern, das
kleine Montenegro begann eine selbstständige Rolle zu spielen, in Griechen¬
land und auf den Inseln des Archipelagus regte sich ein ununterscheidbareS
Gestndel von Piraten und orthodoren Fanatikern. Endlich trat auch die lange
verschollene Frage wegen der heiligen Grabstätte mit neuer Macht in den Vor¬
dergrund und daS ganze Treiben erhielt nun das offene Gepräge eines allgemeinen
Kampfes zwischen der orientalischen und occidentalischen Kirche und ihrer Po¬
litik. So sah Oestreich mit einem Male seine südöstlichen Länder von einem
Kreise aufflackernder Brände umzingelt, welche gar bald in die helle Lohe eines
großen orientalischen Weltkrieges zwischen den Großmächten Europas zusam¬
menzuschlagen drohten.
In diesem kritischen Moment übernahm Graf Buol die Leitung der aus¬
wärtigen Angelegenheiten. Was sein Vorgänger im Amte durch soldatischen
Muth, durch geistvolle Apercus und kühne Entschlüsse in und für Oestreich
erkämpft und geschaffen, sollte nun durch entschiedenes Festhalten an der Staats¬
einheitsidee geordnet und erhalten, mir weiser Mäßigung in Fleisch und Blut
der Nation übertragen, durch eine geschickte Verknüpfung mit den Interessen des
Auslandes auch zur allgemeinen europäischen Geltung gebracht werden. Zu¬
gleich erforderte die eigenthümliche Lage des Reiches inmitten der bedrohlichen
Situation, welche der Sturm im Orient heraufbeschwor, einen freien und festen
Blick in die verwickelten Fragen des Jahrhunderts, eine sichere, unbeugsame
Hand am Staatsruder der in ihrem Lebensnerv berührten Großmacht. Fürst
Schwarzenberg war durch eine höhere Fügung in dem Augenblicke vom Schau¬
platz seiner Thaten abberufen worden, als er im Siegesjubel das Panier Oest¬
reichs hoch emporhielt, dem eignen Lande zum Richtzeichen seiner Zukunft, den
vielen Gegnern daheim und auswärts ,um Trotz. Das Schlachtfeld nach dem
plötzlichen Falle des siegreichen Führers zu behaupten, das Panier für immer
daselbst aufzupflanzen und gegen jeden innern und äußern Feind zu wahren,
dies war die Aufgabe des Mannes, den der Scharfblick des Fürsten schon frü¬
her dazu ausersehen hatte.
Wie hat Graf Buol die Erwartungen seines Vorgängers bisher erfüllt?
Hierauf antworten zu wollen, würde in andern Zeiten fast unmöglich, ge¬
wiß aber anmaßend sein. Es sind noch nicht drei Jahre abgelaufen, seit der
jetzige Minister des Auswärtigen sein Portefeuille übernommen hat. Und was
sind drei Jahre im gewöhnlichen Laufe der Dinge? Was sind drei Jahre im
Leben eines Staatsmannes, der seit seiner frühesten Jugend sich in den poli¬
tischen Geschäften bewegt und in denselben ergraut ist? — Aber unsre Zeit
entzieht sich der gewöhnlichen Schätzung, die Jahre wollen jetzt nicht gezählt,
sondern nach dem Maße ihrer Weltbedeutung gewogen werden. Besonders wir
Oestreicher, sonst gewohnt, in stiller Behaglichkeit dem regelmäßigen Pendelschlag
der mechanischen Staatsuhr zu lauschen, müssen nun die Versäumnisse von Jahr¬
hunderten und Jahrzehnten unsres politischen Kalenders in wenigen Schalt¬
jahren einzubringen suchen und ein Ueberblick der großen Ereignisse, durch welche
in dem jüngsten Zeitraum unser Reich aus der langen Erstarrung Herausgrissen
und in die erste Reihe der weltbcstimmenden Mächte gedrängt wurde, muß uns¬
rem Ideengang und unsrem patriotischen Gefühl eine verdoppelte Spannkraft
geben. So ist denn auch die Anforderung, welche die Zeitgeschichte an unsre
leitenden Staatsmänner stellt, die höchste; in möglichst kurzer Zeit soll das Beste
und das Dauerndste geleistet werden. Dem Diplomaten fällt es am schwersten,
eine solche Anforderung zu erfüllen. Jeder Moment erheischt einen neuen, aber
vollen Entschluß, dieser Entschluß soll organisch in die Reihe von Entschlüssen
eingreifen, welche diesem Moment vorhergegangen sind und ihm nachfolgen
werden. Aber wo ist da die Norm, nach welcher der einzelne Entschluß, sowie
die Reihe derselben gefaßt werden kann? Jeder nächste Moment kann die Botschaft
eines unerwarteten Ereignisses bringen. Die Berechnung, welche der politische
Verstand eben anstellte, findet eine ganz neue Vorlage. Welche Umstellung
der bestimmenden Faktoren, welche vielgcarteten Combinationen sind da mög¬
lich! Hier hilft kein Rechenschlüssel, kein Buch voll der triftigsten Für und Wi¬
der, kein witziger Einfall, kein guter Rath, wie ihn eben ein Freund in der Noth
zu geben pflegt, hier hilft nur der Mann selbst, aber der ganze Mann.
Und ein solcher, meinen wir, ist Graf Buol. Wie verschieden auch die Urtheile
über die Richtung seiner politischen Thätigkeit lauten mögen, diese Anerkennung
werden ihm selbst die erbittertsten Feinde — und deren zählt er, zu seiner Ehre,
jetzt nur unter den offenen Feinden Oestreichs und Deutschlands — nicht versagen
können, daß er, „jeder Zoll ein Mann", die großen Fragen unsrer Zeit erfaßt
und dieselben nach jeder Seite mit ganzer, ungetheilter Kraft im Interesse Oese-
reichs, Deutschlands und der mitteleuropäischen Machtstellung vertreten hat.
Diese männliche Haltung ist es aber, wodurch ihm die Sympathien des östrei¬
chischen Volkes für jede Eventualität gesichert sind und wodurch alle bei dem
jetzigen Weltkampfe betheiligten Mächte, sowol Rußland als die Alliirten und
die Neutralen, sich berechtigt fühlen, mit gleichem Vertrauen in die Offenheit
^ der östreichischen Politik den kommenden Ereignissen entgegenzusehen. Oestreichs
Mittelstellung, so vielseitig verketzert, war bisher durch die Zeit und durch die
geographische Lage nothwendig bedungen. Nur in voller Rüstung und in
voller Klarheit über die letzten Zwecke des Kampfes konnte der Krieg gegen
den bisher befreundeten Nachbarstaat begonnen werden, und nur im wirklichen
Verein, oder mindestens in fester Ideeneinheit mit den übrigen Mächten Mittel¬
europas kann ein solcher Kampf, der den ganzen Continent so gewaltig erschüt-
tern würde, mit dem Anspruch auf richtigen Erfolg zu Ende geführt werden.
Von diesem Standpunkte aus möge man, nach unsrer Ansicht, die bisherige
Politik des östreichischen Ministers beurtheilen und darnach ermessen, ob Graf
Buol der ganze Mann sei, wie ihn Oestreichs Lage in den schweren Jahren,
welche seit Schwarzenbcrgs Tod verflossen sind, dringend erheischt hat.
— Die orientalische Frage, die voraussichtlich
mit vielem Bestehenden reinen Tisch machen wird, muß auch auf die Ordnung der
deutschen bundesstaatlichen Verhältnisse einwirken, und es wird das in um so heil¬
samerer Weise geschehen, je sorgfältiger man sein Augenmerk immer auf das Zu-
nächstliegcnde richtet, je weniger man es versucht, der Zukunft vorzuarbeiten. Eine
soeben erschienene Broschüre: Ein Krieg des östreichischen Kaiserstaates
ein deutscher Krieg (Leipzig, Nennnclmann), behandelt die Frage, die für die
Haltung Deutschlands jetzt die entscheidende ist: ob nämlich der deutsche Bund als
ein politisches Ganze nur zu einem Verthcidigungskricg berechtigt sei, oder ob er
auch gleich den übrigen Staaten zu einem gemeinsamen Angriffskriege vorschreiten
könne. Mit unwiderleglicher Gründen weist der Versasser nach, daß in ersterem
Falle Deutschland allmälig seinem Untergänge entgegengehen müsse, weil die voll¬
ständige Entfremdung von den großen weltbewegenden Fragen unmittelbar zu einer
Stagnation des ganzen politischen Lebens führt. Er sucht «ferner nachzuweisen,
durch Interpretation und Analogie, daß auch aus dem gesetzlich festgestellten Bundes-
recht die Nothwendigkeit einer solchen Beschränkung keineswegs hergeleitet werden
kann. Aus alle Fälle bleibt bei der unbestimmten Fassung der Bundesacte darin
etwas Zweifelhaftes, und es wäre im höchsten Grade wünschenswert!), die Gelegen¬
heit zur Feststellung einer staatsrechtlichen Norm zu benutzen, die für Deutschland
eine Lebensfrage ist. Was man von den Verhandlungen Hannovers, Braun-
schweigs und Würtembergs mit Rußland über specifisch deutsche Angelegenheiten
erzählt, ist auf keinen Fall ganz ohne Begründung und muß alle Staatsmänner
Deutschlands zu der Ueberzeugung bringen, daß eine Modification der Bundesacte
in Beziehung auf die diplomatischen Verhältnisse der einzelnen deutschen Staaten
zum Ausland dringend nothwendig ist. Was die Kriegserklärung des Bundes
betrifft, so kaun dieselbe nur in Frage kommen, wenn die beiden Großmächte einig
sind. Ist das nicht der Fall, stehen sich vielmehr beide in einer wichtigen An¬
gelegenheit feindlich gegenüber, so wird von der Bundesacte überhaupt nicht viel
mehr die Rede sein, sondern es wird ein unheilvoller, ganz elementarer Kampf
daraus hervorgehe», der allen Berechnungen der Weisen spottet. Das sollten
übrigens diejenigen bedenken, welche sich über das Zaudern Oestreichs so sehr be¬
schweren. Oestreich hätte allerdings schneller und entscheidender hervorgehen können,
aber nur ans Kosten des Einverständnisses mit Preußen; und wenn wir anch von
den östreichischen Staatsmännern fest überzeugt sind, daß sie die Eventualität, den
Krieg ohne die Mitwirkung Deutschlands zu beginnen, ins Auge gefaßt haben, so
geben wir ihnen doch vollkommen Recht, wenn sie diese schreckliche Eventualität so¬
lange, als noch irgendeine Hoffnung da ist, vermeiden. — Wenn aber Oestreich
und Preußen einig sind, so darf die weitere Haltung Deutschlands nicht von dem
Belieben sämmtlicher Fürsten abhängen. Für diesen Fall muß also festgestellt
werden, daß die einfache Majorität des engern Bundestages genügt, Deutschland
als ein politisches Ganze zu verpflichten, und für die Feststellung einer solchen Norm,
die nur dasjenige zur Regel erhebt, was factisch bereits vorhanden ist, dürste kein
Zeitpunkt geeigneter sein, als der gegenwärtige, wo nach der glücklich wiederher¬
gestellten Einigkeit zwischen den beiden Großmächten das ganze Volk mit seinen
Regierungen Hand in Hand geht.
Denselben Gegenstand beleuchtet die Broschüre: Begehren nach Unabhängig¬
keit von russischer und britischer Politik. Berlin, Julius Springer. —
Der Verfasser gliedert seine Abhandlungen in zwei Fragen, erstens: Was haben
Deutsche von Russen zu fordern? zweitens: Was haben Deutsche von England zu
fordern? Nur der erste Theil ist bisher erschienen, und mau sollte nach der Fassung
der Frage erwarten, daß sie hier zunächst vom antirussischen Standpunkt beleuchtet
würde. Das ist aber keineswegs der Fall. Der Verfasser bemüht sich vielmehr
nachzuweisen, daß Rußland eigentlich ein deutscher Staat ist, und daß uur einzelne
Mißverständnisse diesen deutschen Staat veranlaßt haben, nicht so, wie er gewünscht,
sür das Wohl und die Ehre Deutschlands zu wirken. Deutschland habe von Ru߬
land zu verlangen, daß allen Deutschen der freie Verkehr durch das russische Reich
eröffnet würde. Dies ist eigentlich der einzige Gedanke der Schrift; man kann
aber nicht sagen, daß durch die ziemlich weitläufige Auseinandersetzung die Mittel
zu diesem Zweck kia? ans Licht gestellt werden. So heißt es z. B. S. 18: „Ganz
besonders aber in dem gegenwärtigen Falle, wo von fremdem Volke die Sohne des
deutschen Muttcrvolkes hineingezogen zum Throne, und um den Thron zu schützen,
hineinberusen, und nie als bloße Söldner oder Miethlinge abgefunden worden;
ganz besonders in diesem Falle darf das Mutterland ohne seine Würde zu ver¬
gebe» nicht leiden, daß solche edle und edelste Vorkämpfer seines Ansehns nach
außen, jetzt vom fremden Volk gefangen gehalten, ihres Ansehens, ihrer Betriebs¬
mittel beraubt, ausschließlich fremdem Dienst und Zwecken, dann fremder Sprache
und Sitten, zuletzt fremdem Gesetz und Glauben sollen untergeordnet werden, und
daß das edle Kaiserhaus sich seines Deutschthums zu schämen habe! Ist dies der
Dank, den der auserlesene Nachfolger aus Ruriks Throne sür seine weise Nachsicht
mit der Eisersucht verletzter Russeneitelkeit ertragen soll? Spott der deutschen
Würde?" — Was das heißen soll, das mag Gott wissen. Ferner S. 19: „Dem
schleunigsten Rettungsmittel aus solcher Noth hat jedoch jetzt die russische Eifersucht
selbst bedeutend vorgearbeitet; sie ist unfähig dnrch die Niederlagen, die ihre Häupter
vom Feinde erlitten haben, ganz unvorbereitet die Wiedereröffnung des freien Ver¬
kehrs mit Deutschland dnrch irgendeine Art von Bedenklichkeit zu behindern, sobald
das Recht vom Mutterlande erklärt, nicht als Parteisache von Deutschen in Ru߬
land in Gegenwart seiner Feinde gefordert, oder vom Kaiser befohlen wird. Sollten
aber die Russen dennoch weiter gehn und dem Kaiser zumuthen, ans solche An¬
forderung von außen deutsche Rechte gradeaus zu verleugnen, und zu unterdrücken
— nun dann Hälse doch anch sogar des Kaisers eigne Weigerung den Russen
nichts. — Anstatt, wie von den erklärten Feinden verlangt wird/Länder zu be¬
setzen und Festungen zu belagern, ist es ja sehr viel leichter, nur friedlichen Handel
mit allen Grenzbewohnern zu eröffnen und mit deutschen Heeren an seiner Grenze
zu beschützen, als erklärtes deutsches Recht, — die Russen dann in die gehässige
Stellung zu bringen, mit Kriegsgewalt gegen das gemeinsame und natürliche Recht
der Deutschen zu Felde zu ziehen, von ihrer Seite Parteiung im Reich zu stiften
in Gegenwart selner mächtigen Feinde u. f. w." Wir glauben nicht, daß die rus¬
sische Partei aus diesen confusen Deductionen irgendeinen Gewinn ziehen wird.
Eine andre Frage, die leider in Deutschland noch immer nicht abgethan ist,
ist die kirchliche. Wir führen hier einige kleine Streitschriften vom protestantischen
Standpunkte an, die empfehlenswert!) sind, da sie kurz und gedrängt die Hauptpunkte
hervorheben. „Grundzüge der Geschichte und der Unterschcidungslehren
der evangelisch-protestantischen und römisch-katholischen Kirche von
EriF) Stiller, erstem Pfarrer zu Harburg (Königreich Baiern). Dreizehnte
Auflage. Hamburg, N. Kittler. — Franz Joseph Niederhuber, der rechte
Katholik. Eine Dorfgeschichte aus neuerer Zeit von Erichson. Hamburg,
R. Kittler. — Meister Niederhuber, der rechte Katholik. Eine Stadt¬
geschichte aus neuester Zeit, zugleich als Fortsetzung des Franz Joseph Niederhuber,
eine Dorfgeschichte von Erichson. Hamburg, N. Kittler. — Möchten sich mir die
protestantischen Schriftsteller durch die Provocationen ihrer Gegner nicht verführen
lassen, ihrerseits auf Angrisse einzugehen, die doch keinen Zweck haben.
Der Angriff gegen die philosophischen Bestrebungen der Gegenwart in der Vor¬
rede zur dritten Auflage der Stahlschen Rechtsphilosophie hat den Professor
Braniß in Breslau veranlaßt, in seiner Rede beim Antritt des Rectvrats einen
Protest auszusprechen, der unter dem Titel: „Ueber die Würde der Philosophie und
ihr Recht im Leben der Zeit" in Berlin bei Trautwein erschienen ist. Der Ver¬
fasser kämpft mit großem Geschick nach zwei Seiten hin gegen den Glaubensdruck
und gegen den Materialismus, und wir wünschen der kleinen Schrift eine recht all¬
gemeine Aufmerksamkeit. — Was eine andre Schrift soll „Ein Feldzug gegen
das Heidenthum der jetzigen Zeit", Herzberg, bei Mohr, ist uns trotz zahlloser
Bibelstellen nicht deutlich geworden. —
Eine Reihe von Broschüren, welche die Aufmerksamkeit des gesammten deutschen
Publicums verdiene», sind die aus Veranstaltung des evangelischen Vereins für kirch¬
liche Zwecke gehaltenen Vorträge (Berlin, Wilhelm Schnitze). Am meisten greift
darunter in die gegenwärtigen Verhältnisse ein die Bcglcitnngsschrift des Conststorial-
raths Stahl zur vierten Auflage seiner Vorträge über den Protestantismus als
politisches Princip. Sie beschäftigt sich mit den katholischen Widerlegungen und
schlägt zuweilen einen ziemlich starken Ton an. „Wenn ich," sagt der Verfasser,
„in diesen Widerlcgungsschriften doch nur eine Spur von Wahrhaftigkeit und Ge¬
rechtigkeit gegen unsre Kirche, von Willigkeit, auf einen Gedanken, wäre es selbst
nur polemisch, einzugehen, gesunden hätte; wenn mir in ihnen doch nur etwas ent¬
gegengetreten wäre, außer der unbedingten Selbstgenügsamkeit der katholischen Welt,
der .souveränen Verachtung alles Protestantischen und zum Theil dem berechneten
Parteimanöver, einen unbequemen Gegner aus dem Wege zu räumen." — Frei¬
lich setzt er unmittelbar darauf hinzu: „Es wird mich dennoch nicht irre machen in
meinem Glauben an eine heilige allgemeine Kirche, in welcher auch die römisch-ka¬
tholische Kirche ihre große Mission hat, und in meiner Betrachtungsweise, daß die bei¬
den Kirchen dennoch keine abgeschlossenen Staaten, sondern die streitenden Parteien in
der einen untheilbaren Christenheit sind, und Gnadengaben wie Verirrungen der
katholischen Kirche dem Leib angehören, dessen Glieder wir selbst sind, dessen
Wohlsein unser Wohlsein, dessen Krankheit unsre Krankheit ist." — Aber wenn da¬
mit etwas Anderes gesagt sein soll, als das Princip der Religionsfreiheit, dem wir
alle huldigen, so liegt darin wol ein handgreifliches Mißverständniß über das Wesen
der Kirche überhaupt. Der Philosoph kann so denken, wie Stahl, und der Staats¬
mann so handeln: die Kirche kann es nicht. Die Kirche kann nie und unter keinen
Umständen tolerant sein, nicht die katholische, auch nicht die protestantische. Für
die katholische Kirche muß jeder Protestant ein Ketzer sein,, der die Pflicht und das
Recht hat, bekehrt zu werden, n»d sür die protestantische Kirche ist und bleibt der
Papst der Antichrist. Stahls Deductionen entspringen nicht aus dem Protestantis¬
mus, nicht aus der Religion, sondern aus der Philosophie, so sehr er sich dagegen
sträubt. Als speculativer Philosoph kann ich >s mir vollkommen begreiflich machen,
daß die Spaltung des Christenthums in zwei Kirchen, deren jede eine bestimmte
Function des Geistes vorzugsweise ausbildet, zum Gedeihen der Menschheit heilsam
sei; als Protestant kann ich es nicht. Als Protestant muß ich es wünschen und ich
muß alle meine Kräfte an die Erreichung dieses Wunsches setzen, daß alle Katho¬
liken zu meiner Kirche bekehrt werden. Als Staatsmann kann ich es einsehen, daß
man dieses protestantische Bestreben zügeln muß, wenn man nicht schlimme Folgen
heraufbeschwören will. Da nun in unsrer Zeit, wie das Beispiel Stahls am evi¬
dentesten zeigt, niemand blos Protestant oder blos Katholik, sondern daneben auch
etwas Philosoph und etwas Staatsmann ist, so wird ein aufrichtiger und den Gegner
anerkennender Neligionssriede allerdings möglich, aber uicht aus dem Boden der Kirche,
sondern ans dem Boden der Wissenschaft und des Staats, und in dieser Beziehung
treten wir im gegenwärtigen Augenblick, obgleich wir ebenso gute Protestanten sind,
als Herr Stahl, auf Seite seiner Gegner. Die Kirchen mögen intolerant bleiben,
wie es bei ihrem Wesen nicht anders denkbar ist; aber der Staat soll ihnen den neu¬
tralen Boden verschaffen, auf dem sie einander in den bestimmten vorgesteckten Schran-
ken bekämpfen mögen. Diese Art Parität fordern wir von allen deutschen Staaten,
ohne daß damit der individuelle Religionscharakter der einzelnen aufgehoben wäre;
Preußen bleibt nach wie vor ein protestantischer Staat, so gut wie England, wenn
es auch den Katholiken völlig gleiche Rechte einräumt. Es vermag das letztere
eben nicht in seiner kirchlichen, sondern in seiner rechtlich-politischen Function. —
Auch über den eigentlichen Kern der Frage, ob nämlich der Protestantismus revo¬
lutionär oder conservativ sei, können wir Herrn Stahl nur theilweise beipflichten.
Zwar hat er insofern mit seinen Gegnern leichtes Spiel, da diese mit mehr Be¬
hagen als Witz ihren Absehen gegen den Protestantismus an den Tag legen, ohne
irgendwie nach den historischen Thatsachen zu fragen. Die Revolution und den
Absolutismus aus der Reformation herzuleiten, ist schon insofern eine Thorheit,
als das Princip der Revolution sich vorzugsweise bei den katholischen Völkern ent¬
wickelt hat; als ferner die Reformation im strengen Gegensatz gegen den Jesuitis¬
mus eine bestehende göttliche Rechtsordnung neben der kirchlichen anerkennt. Aber
wenn Herr Stahl weiter geht und es als ein charakteristisches Kennzeichen der evan¬
gelischen Kirche ausstellt, daß sie die Gewalt der Obrigkeit überhaupt aus ein un¬
mittelbares Gebot Gottes gründe, so müssen wir uns auf Seite seiner Gegner
stellen. Diese haben vollkommen recht, wenn sie die Feststellung jenes Grundsatzes
innerhalb der lutherischen Kirche aus der Mitwirkung der Unistände herleiten, und
Herr Stahl hätte seine Entrüstung über diese Herleitung wol sparen können, da
er wissen muß, daß auch dle göttlichste Thatsache unter endlichen Bedingungen
in die Erscheinung tritt und von ihnen modificirt wird, und daß die Protestanten
in Schottland, in Frankreich ze., bei denen andere Umstände obwalteten, jenen
Grundsatz nicht ausgestellt haben. In unsern Tagen, wo das Princip der Legi¬
timität thatsächlich nnr in äußerst wenigen Fällen durchzuführen sein dürfte, darf
man Gott nicht mehr bei einer Einrichtung ins Spiel bringen, die, wie alles Ir¬
dische, dem Wechsel der Zeiten unterworfen ist. — Eine interessante Monographie
ist der Vortrag des Prof. Hirsch: Das Handwerk und die Zünfte in der christ¬
lichen Gesellschaft, vornämlich in Deutschland. Der Verfasser benutzt seine um¬
fassende Kenntniß von der innern Geschichte Deutschlands zu geistvollen und an¬
ziehenden Combinationen, die aber alle an dem Fehler leiden,, daß mit Gewalt
alle bürgerlichen Einrichtungen aus die Religion bezogen werden. Das Christen¬
thum hat im römischen Reich nicht vermocht, jene rechtliche Rehabilitation des
Handwerks, deren sich Deutschland in so hohem Grade erfreute, anzubahnen; es
ist also augenscheinlich, daß das eine ans dem andern nicht herzuleiten ist, und
daß man eine Causalverbindung nnr durch sophistische Trugschlüsse herstellen kann.
— — Ein dritter Vortrag: über das religiöse Leben im Islam, von Abeken
zeichnet sich durch unparteiische Würdigung dieser eingreifenden religiösen Erschei¬
nung aus. — Die übrigen Abhandlungen, die uns zu keiner Bemerkung Veranlas¬
sung geben , führen wir einfach an l Die göttliche Stuseuordnung im alten Testa¬
ment, vom Generalsuperiutendent Hoffman n in Berlin; Jerusalem, seine Vor¬
zeit, Gegenwart und Zukunft in der Zeit und nach der Zeit und des evangelischen
Christen Stellung zu ihr, von Dr. Friedrich Liebetrut; über die Stellung der
Frauen im Alterthum und in der christlichen Zeit, von Dr. Wiese; und die Be¬
wohner der Ostküste Südafrikas, vom Missionar Schultheis. —
Die politische Lage hat sich end¬
lich in den letzten Tagen geklärt. Durch die „östreichische Korrespondenz" wurde
gestern officiell die Einigung Preußens und Oestreichs in den schwebenden Fragen
der deutsch-orientalischen Verwicklung angekündigt und der Telegraph wird durch
diese bedeutsame Botschaft gewiß eine freudige Stimmung in allen deutschen Kreisen
hervorgebracht haben. Hier wenigstens äußert sich allgemein eine große Befrie¬
digung. Man ist überzeugt, daß die moralische Wirkung der neuen Vereinbarung,
sobald dieselbe durch die' Bundesversammlung eine feste Form gewonnen haben
wird, auf die Entwicklung der nächsten Ereignisse von großem Einfluß sein wird.
Rußland gegenüber ist die Haltung Deutschlands nun eine unzweideutige geworden,
und die Westmächte wissen mindestens genau, wieweit sie ferner auf die Mithilfe
der großen Continentalmächte rechnen können. Aber ebenso wichtig wie die östrei¬
chisch-preußische Verständigung erscheint in diesem Augenblick die Nachricht von der
Absenkung zweier französischen Divisionen nach den Donaufürstenthümern, während
Omer Pascha gegen 20,000 Mann seiner Armee an die Krimexpedition abgeben
soll. Es wird hierdurch das seit Wochen umlaufende Geschwätz niedergeschlagen,
daß Oestreich den Operationen des Scrdars gegen Bessarabien ein Veto entgegen¬
stelle. Mit der wirklichen Sachlage vertraute Männer hatten längst den Grund
der Unthätigkeit Omers erkannt. Abgesehen davon, daß es nicht im Kriegsplane
der Alliirten gelegen war, bevor sie bei Scbastvpol zur Offensive im offnen Felde
übergehen müßten, eine Diversion gegen Bessarabien vornehmen zu lassen, konnte
der vorsichtige türkische Feldherr nicht aus die Brauchbarkeit seiner einheimischen
Truppen im großen Kriege zählen, und während er ohne irgend hinreichende Re¬
serve die Festungen an der Donau und an der Meeresküste entblöste, etwa den
ganzen Erfolg seiner diesjährigen Operationen und seinen Feldherrnrnhm durch
einen gewagten Handstreich gegen die russischen Stellungen riskiren. Die beiden
Divisionen, welche nun gegen 22,000 geschulter Soldaten als Stamm der Donan-
armee stellen werden, geben einen guten Ersatz für'die nach Balaklava verschifften
türkischen Truppen.
Es ist nun die Frage, ob die östreichische Negierung infolge der neuen Con¬
vention mit den deutschen Staaten sich vielleicht veranlaßt sehen wird, seine vor¬
geschobenen Posten in den Fürstentümern den Alliirten zu räumen und dadurch
jede Eventualität eines Zusammenstoßes mit russischen Truppen zu vermeiden.
Eine solche Maßregel steht jedoch nach der ganzen Stellung, welche Oestreich bis¬
her eingenommen, kaum zu erwarten. Der Unterschied der Verpflichtungen, welche
unser Staat als europäische Großmacht und als deutsche Buudesmacht
übernommen oder innerhalb seines Berufes fühlt, ist auch in den neuesten Schrift¬
stücken überall aufrechterhalten. Die Rüstungen und Fortificationen, welche mit
unverändertem Eiser im ganzen Lande vorgenommen werden, lassen keinen Zweifel
darüber, daß unsre Staatsmänner für alle Fälle bedacht sind und die Möglichkeit
eines großen Continentalkrieges ans den Berathungen und Entschlüssen der Regie¬
rung nicht ausgeschlossen ist.
Auch die Finanzoperationen weisen in jeder Beziehung daraus hin, daß große
pecuniäre Anstrengungen für die nächsten Jahre nöthig erachtet werden. Der Ab¬
schluß' mit dem Credit mobilier wird aufs eifrigste betrieben. Derselbe bildet nur
das erste Glied einer größeren Reihe von Verträgen, welche in ähnlicher Weise und
zu gleichem Zweck mit andern Gesellschaften abgeschlossen werden dürften. Es be¬
dürfte nur des ersten Impulses seitens der Regi'erung, um die Privatspeculation in
einer wirklich ungeahnten Weise wachzurufen. Von allen Seiten laufen Anträge
zur Uebernahme ärarischcr Betriebswerke ein und es zeigt sich nun, welch großer Fonds
an industriellen Mitteln bisher durch die so oft getadelte unmittelbare Staatsregie nicht
gehörig benutzt werden konnte. Besonders im Eisenbahnwesen wird sich bald, trotz
der Kriegszeiten, ein sehr reges Leben kundgeben. Die nothwendige Discretion ver¬
bietet es, hierüber jetzt schon weitere Andeutungen zu geben. Nur soviel will ich be¬
merken, daß bei den neueren Abschlüssen, welche, außer jenem mit der französischen
Gesellschaft, in Aussicht gestellt sind, ebenfalls die Vermehrung der Silberbaarschast
im Auge behalten ist. —
Der Ernst der politischen Fragen nimmt das Interesse jedes Einzelnen so in
Anspruch, daß es sast an Lust und Zeit fehlt, über andre Dinge zu plaudern. Bei
uus ist dies freilich von heilsamer Wirkung, da, einer alten Gewohnheit zufolge,
das Theater, die Concerte und kleinen Sccmdale noch immer den ersten Rang des
Tagesgesprächs einnehmen und das politische Kannegießern höchstens erst Abends zum
Bierglas oder zum Theetisch losgeht. Eine „brennende" Frage sür die Lions der
guten Gesellschaft gibt es in diesem Augenblicke nicht, man müßte denn voraussetzen
wollen, daß unsre Lions mit den Herren unsres Gcmcindcraths in die Kloaken der
lieben Wiener Stadt hinabsteigen mögen, um dort die Frage der inneren Selbstreinigung
dieser Abzugswcge »usrer geheimsten Privatinteressen zu discutiren. Herr Zang, der
rührige Prcsseredactcur reibt dieses unliebsame Kapitel den Vätern unsrer Stadt
tagtäglich unter die Nase. Aber unsre Herren Gemeinderäthe, welche sonst eine so
feine Nase sür alle Dinge haben, die vou oben kommen, scheinen sehr unempfind¬
lich sür die Dinge, die die ewigen Götter bedeckt mit nächtlichem Grauen. — Ue¬
ber die Concertsaison, die nun im vollen Anzüge ist, und über andre Knnstzn-
stände das nächste Mal. — Für heute noch eine interessante politisch-literarische
Nachricht. Franz Schuselka, dessen östreichisch-deutsche Irr- und Kreuzfahrten
wohl bekannt sind, ist nun in den sichern Hafen einer Staatsanstellung eingefahren.
Wie es heißt, wird der fruchtbare Publicist als Hofsecrctär im Ministerium des
Innern verwendet werden. Schuselka gehört bekanntlich den liberalen Romantikern
von 1848 an, welche sich durch einen phrasenrcichcn Dilettantismus in allen Ge¬
bieten menschlichen Denkens und Wissens Geltung zu schaffen suchten. Von dem
Rongeschcn Enthusiasmus sür eine deutschkatholische Kirche und für Emancipation
der Frauen wird wol der schnell erregte und sanstbcsaitcte Mitresormator längst ab¬
gekommen sein. Was er später im Jahre der Bewegung als Deputirter geleistet,
gehört der Geschichte an. Jedenfalls muß man zugestehen, daß Schuselka stets einen
warmen östreichischen Patriotismus an den Tag gelegt hat. Der nunmehrige Hof¬
secrctär, im ganzen eine gemüthliche und harmlose Natur, wußte auch seinem Pri¬
vatleben dadurch eine gewisse Berühmtheit zu erringen, daß er Madame Brüning, die
geschickteste Repräsentantin der Vaudevilles in Deutschland, zur Frau nahm.--
Sonst ist daS Wetter hier sehr constant und freundlich. —
Ich hatte mir fest vorgenommen, Ihnen dies Mal über
Theater, Kunst, sociales Leben, und andre wichtige Dinge zu schreiben. Aber es
geht nicht. Ich schäme mich vor mir selbst, wenn ich die Feder jetzt dazu ansetzen
soll, Ihnen zu berichten, wie Hinz gestern den Helden in einem Birchpfeifferschcn
Schauspiel gespielt oder Kunz die große Arie in Hernaui gesungen hat. Wer
heute noch ein Herz im Leibe hat, das nicht gradezu mit seinem Magen oder
andern Sinnesorganen verwachsen ist, kann sich von dem Interesse an den großen
Tagesfragen nicht losmachen, und zögen ihn auch hundert schöne Balletbeine in die
Höhe oder rissen ihn die bezauberndsten Glockentöne einer Primadonna mit sich
fort. Die Politik hält nun einmal unser ganzes Sinnen und Treiben gefangen.
Wir haben keine Zeit mehr für die Lectüre geistreicher Recensionen über dies, das
und jenes, was vor oder hinter den leinenen Coulissen vorgeht, wir lieben und
putzen uns nicht mehr mit dem Raffinement von ehedem, wir genießen alles, was
dem Gaumen, dem Ohr und dem Ange frommt, nur mit halber Theilnahme, nur
so eben, damit man nicht ganz der reizenden Wirklichkeit enthoben wird. Aber
im Grunde der Seele lauert stets ein verkappter Russe und zwischen den Zeilen
eines Billetdoux voll der innigsten Liebesschwnre ist auch für den ungeschicktesten
Diplomaten ganz deutlich der Wortlaut irgendeiner welterschütternden Note zu
lesen. So würde auch mir heute irgendein politischer Kobold gewiß einen bösen
Streich spielen, wollte ich Ihnen von andern menschlichen Dingen als von Con-
ferenzen und Kriegsrüstungen schreiben. Also lieber gleich zur ernsten Sache. Was
verschiedene Zeitungen von nächst zu eröffnenden Konferenzen in Wien schreiben,
ist eitel Trug und Lüge. Worüber sollte man hier conferiren und wer wollte jetzt
conferiren? Doch nicht über die vier Garantiepunkte, über welche die Wcstmächte
und Oestreich schon solange einig sind, daß die Konferenzen darüber bereits der
Vergessenheit angehören? Oder über die nunmehrige Zustimmung der deutschen
Mächte? Nun, diese wird von den Alliirten als eine abgemachte Sache hingenommen,
welche recht angenehm ist, aber man macht kein zu großes Aufhebens davon. Also
wol über Rußlands Geneigtheit zu Friedenspräliminarien? Aber kann man im
Ernste daran denken, daß die kriegführenden Mächte nach soviel Blutvergießen es
der Mühe werth halten werden, auch nur den leisesten Gedanken an eine Konferenz
zu verschwenden, welche auf nichts basiren könnte als ans die Geneigtheit des
Feindes, im allgemeinen über einen möglichen Frieden zu unterhandeln? Und mehr
als diese allgemeine Versicherung hat das Petersburger Cabinet bisher,
deß können Sie versichert sein, nicht abgegeben. Alles, was sonst von einer
Note oder blendenden Erklärungen in dieser Beziehung mit Absicht ausposaunt wird,
beruht auf der nackten Absicht, dem deutschen Publicum' Saud in die
Augen zu streuen. Man hat in den kleinern bürgerlichen Kreisen Deutschlands,
wo man so liebreich und gemüthlich zusammensitzt und über die Türken, Kosacken
und Zuaven kannegießert, nicht den leisesten Begriff davon, von welchen Intriguen
und großen und kleinen Machinationen gerade diese Kreise, nicht minder als die
Kabinete und Boudoirs der feinen Herren und Damen, umsponnen sind. Ueberall
träufelt der russische Balsam in die Ohren, überall tuller unsichtbare Stimmen aus
dem Norden das friedfertige Gemüth in sanften Schlummer. Glauben Sie mir,
daß ich dies heute nicht ohne gewichtige Gründe erwähne. Man ist hier in guten
Kreisen vollständig im Besitze eines Materials, betreffend die russischen Einflüsse in
den deutschen Ländern, dessen Veröffentlichung, wenn es die Umstände erlaubten,
gewiß unglaubliche Dinge glaublich machen würden. Indeß bleibt es in dieser
schwierigen Lage, wo man, wie bei einem Gefecht in dunkler Nacht, nicht Feind
und Freund unterscheiden kann, die Pflicht der Presse, ein lautes viviz in alle
Ohren, die hören wollen, zu rufen und so größerem Uebel vorzubeugen.
Was Oestreich betrifft, so kann man in Deutschland versichert sein, daß unser
Cabinet keinen Augenblick seine bekannte Vorsicht und sein Pflichtgefühl verläßt.
Nur noch wenige Tage und die Welt wird erfahren, daß die Allianz Oestreichs
mit den Westmächten mit oder trotz dem deutschen Zusatzartikel zum Ab¬
schlüsse kommt. Soviel für heute. Die Post drängt.
— Man mag Kossuth zum größten Verbre-
cher des Jahrhunderts stempeln, man mag es ihm zum Vorwurf-machen, daß er
aus Mangel an Ueberlegung sein Vaterland der Freiheit beraubte und sich aus
Ueberfluß an Ueberlegung frühzeitig der Unannehmlichkeit des Gehenktwerdens ent¬
zog, aber selbst seine größten Feinde werden billigerweise kaum in Abrede stellen
können, daß er das größte oratorische Genie unsrer Zeit ist. Die Rede, welche
er vor wenigen Tagen zur Jahresfeier der polnischen Revolution hielt, war meister¬
haft stylisirt und vorgetragen. Der Eindruck, den sie hervorgebracht hat, war ein
überaus gewaltiger, und als am folgenden Tage ein besonderer Abdruck derselben
angekündigt wurde, waren in den ersten Stunden gleich mehre tausend Exemplare
vergriffen. Lobenswert!) in politischer Beziehung war diese Rede des berühmten
Magyaren ebensowenig, wie fast alle seine Schritte, die er nach seiner Befreiung
gethan, hat; aber von einer Kritik des Inhalts soll hier keine Rede sein.
Wozu auch? Ihnen kanns höchstens darum zu thun sein, zu erfahren, was
mau von dieser Rede in England denkt. Das ist nicht allzuschwer zu sagen. Mau
findet sie vortrefflich, weil sie dem Ministerium den Text liest, und weil jeder Klotz,
der Lord Aberdeen jetzt an den Kops geworfen wird, den Engländern überaus ge¬
fällt. Man findet sie schlecht, weil darin gesagt ist, daß die Engländer sehr
tapfere Leute, aber ausnehmend ungeschickte Strategen sind. Den Aberdeen darf
jeder Straßenjunge vcrschimpfiren, er bekommt dafür einen Penny Honorar; den
Raglan dagegen dürfte selbst der selige Napoleon oder Cäsar nicht schlecht machen,
ohne Püffe zu bekommen. Das ist die jetzige Stimmung. Und da man von den
Massen, wenn man billig und vernünftig ist, jederzeit und allenthalben mehr Ge¬
müth und Hingebung, als Verstand und Urtheil erwarten soll, so ist dies eine
Stimmung, die dem englischen Volke alle Ehre macht. Es stände ihm als Masse
wahrlich schlecht a», die Flankenbewegungen eines Generals zu kritisiren, während
er die Truppen zum Siege führt und ihre Gefahren redlich theilt. Mit den Polen
oder Ungarn gegen die Russen zu fechten, wäre den Engländern auch ganz recht.
Dieses Volk schlägt sich mit und gegen jeden, Wenns sein muß. Wären die Türken
am 23. nicht ausgerissen, sie würden noch hente als Bono Johnies caresflrt. Wo
es zum Prügeln kommt, ist der Engländer bei Leibe nicht so, aristokratisch wie andrer
Länder Leute. Das kommt daher, weil hier mehr geboxt als gestochen wird, weil
die Faust viel demokratischer als das Rapier ist.
Die regierenden Classen und ihre Organe in der Presse dagegen werden von kal¬
ten Schauern ergriffen, wenn sie die revolutionären Feldzüge, die sich Kossuth ausge-
dacht hat, lesen. Wer wollte es ihnen verdenken! Sie Haben recht. Man zündet nicht
aus Bosheit des Nachbars Haus an, wenn man fürchten muß, mit zu verbrennen.
Man hat auch, wenn man verantwortlicher Minister ist, lieber einen Staat mit
einer halben Million gut cincxercirter Bösewichter, als zwei Länder voll unbewaff¬
neter moralischer Patrioten zum Bundesgenossen. Man bringt materielle und sogar
principielle Opfer, um solche Bundesgenossenschaft zu erlangen, und es muß schon
zum Alleräußersten gekommen sein, wenn ein englischer Staatsmann — heiße er
Aberdeen oder Palmerston — den andern Weg einschlägt. Kossuth vergißt zweier¬
lei: daß England noch nicht bei diesem Aeußersten angelangt ist, und daß das bri¬
tische Ministerium — aus was immer für Männern es zusammengesetzt sein möge
— die Interessen der Krone nicht minder als die des Volkes zu vertreten hat.
Jeder Calcül, der es unterläßt, dieser Doppelverpflichtung Rechnung zu tragen, muß
nothwendig falsch sein. Times reißt, wie zu erwarten war, die Rede Kossuths scho¬
nungslos herunter. Doch nein, nicht die Rede, blos den Redner. Das ist ihre
beliebte Taktik, wenn Argumente rar werden. Als das deutsche Volk für ein einiges
Deutschland begeistert war, bestand ihre Gegenargumentation darin, daß sie sich über
den Teutoburger Hermann und über die Species Gervinus lustig machte. Wenn
die Rede von geheimer Abstimmung, ihrem Werth oder Unwerth ist, erzählt sie ihren
Lesern spaßige Dinge über Sir Joshua Walmslcys schiefe Nase. Und wenn es sich
um eine Kritik' der Peelschen Baulande handelt, macht sie sichs leicht und schimpft
alle Vertheidiger der Papierwährung Blockhcads. Freilich beharrt sie nicht ewig
bei ihren Irrthümern. Sir Joshua ist wieder ein Ehrenmann geworden, weil er
den Ministern Geld geben will, soviel sie verlangen. Seit Mittwoch vor acht Tagen
erkennt sie die Existenz eines „deutschen Volkes" an. Und wenn der Krieg noch
ein Jahr dauert, wird sie den verstorbenen Sir Robert Peel einen Esel heißen
und' frischweg erklären, den Russen könne man nur mit Papiergeld beikommen. Mit
einem solchen Blatt läßt sich nicht gut argumcntiren. ' Kein deutsches Blatt, auch
nicht das kleinste, darf die Times beneiden um ihre politische Haltung, um ihren
guten Ruf, um ihre Beliebtheit. Ein andres freilich ists mit ihrem Einfluß und
ihren — Annoncen. —
In zwölf Tagen haben wir das Parlament beisammen. Die Nation erwartet
dieses Mal Großes von seinen Vertretern, obwol sie sehr wohl weiß, daß unter
diesen leider nicht viel Größen sind. Daß England trotz dieses traurigen Bewußt¬
seins mit großen Erwartungen der parlamentarischen Session entgegensieht, ist ein
Beweis von der Lebensfähigkeit des konstitutionellen Princips. Es wird vieles sein
wie im vorigen Jahre. Ueber militärische Dispositionen zu fragen, verbieten Rück¬
sichten für deren" Erfolg. Und aus Interpellationen über diplomatische Beziehungen
können Minister jederzeit ausweichend antworten. Enthüllungen in der Diplomatie
können in England immer bis ans den letzten Augenblick aufgespart werden, wo
die Kritik nichts mehr nützt. Solange in diesem Punkte England nicht einige
Principien von seiner abgefallenen Tochter jenseits des atlantischen Oceans borgt,
wird es in seinen Beziehungen zu auswärtigen Staaten seiner Regierung gegen¬
über immer- unmündig bleiben. Aber trotz diesem und jenem fühlt man sich be¬
ruhigter, wenns im Westminster wieder lebendig wird. Sollte es mit der Krieg¬
führung schief gehn, dann kanns zu harten Kämpfen kommen, und Lord Aberdeen
im Bunde mit dem Herzog v. Newcastle wird dem Aufschrei des Landes nicht
widerstehen können. Solange es in der Krim nicht zum Aeußersten kommt, ists
immerhin möglich, daß sich das Cabinet in seiner jetzigen Gestaltung behauptet.
Das Zustandekommen eines Bündnisses mit Oestreich, von dem seit gestern aller¬
hand Gerüchte aufgetaucht sind, würde ihm Festigkeit geben. Fällt Aberdeen, so
hat das Land nur Sinn für einen Mann, der seine Stelle einnehmen soll. Aller
Augen sehen auf Palmerston. Er ist gestern aus Paris zurückgekommen und über¬
raschte seine College», die ihn schon vorgestern erwartet hatten, inmitten ihrer Be¬
rathung. Alle sprangen von ihren Sitzen auf und liefen ihm entgegen. „Nun
Palmerston, was bringen Sie neues aus Paris? Wie stehts? Wie gehts? Was
sagt der Kaiser?" — Meine Herren, antwortete der edle Lord, Paris ist aus
einer argen Täuschung erwacht. Es sieht jetzt ein, daß — die Cruvelli des Lärms
nicht werth war, den man von ihrem Verschwinden gemacht hat. Und dann er¬
zählte der edle Lord viel Schönes von der Oper und Chateau rouge und der Kai¬
serin Eugenie. Das dauerte zwei Stunden und die Sitzung war zu Ende. So
erzählt einer der aristokratischen Eingeweihten der „Preß", Lord Maidstone oder
sonst ein disraelitischer Spaßmacher. —
Nachtrag der Redaction. — Man kann alle Achtung vor dem Talent und
dem — wenn auch etwas theatralisch ausgeputzten — Idealismus des ungarischen
Agitators haben, und doch wünschen, er möchte in diesem Augenblick seine Rhetorik
lieber in einem andern Welttheil ausüben.
--Die Verständigung zwischen Oestreich und
Preußen über Zusatzartikel und Bundesbeschluß in der orientalischen Angelegenheit
dürste wahrscheinlich auch dazu führen, daß das vollständige Einverständniß der
vier Großmächte der Wiener Conserenz bald neuerdings hergestellt sein wird.
Bekanntlich war es die Ausstellung der vier Präliminarpunkte, welche nicht sowol
eine Sonderung Preußens von den drei andern Großmächten, als ein minder ge¬
naues Anschließen desselben an sie veranlaßt hat. Jetzt ist diese Veranlassung dadurch
gehoben, daß Preußen nicht mehr sich darauf beschränkt, die vier Punkte blos
moralisch zu unterstützen, sondern sich dieselben angeeignet und eingewilligt hat,
daß auch der deutsche Bund sie sich aneigne. Es wird also zur Wiederaufnahme
der Wiener Konferenzen wol nur erforderlich fein, daß die Westmächte noch bereit
sind zu Friedensverhandlungen aus Grundlage der vier Pnnkte, wenn Nußland sie
ganz und wahrhaft annimmt. Und wie wir hören haben die Westmächte ihre
Bereitwilligkeit dazu erklärt, ja es soll eine solche Erklärung in den Allianztractat
zwischen ihnen und Oestreich aufgenommen sein, der demnächst unterzeichnet wird,
und in welchem sich ein Artikel befindet, der Preußen ausdrücklich den Beitritt
offen hält. Allerdings sollen die Westmächte keineswegs gegen Oestreich die Ver¬
pflichtung eingegangen sein, gar keine neuen Bedingungen aufzustellen, aber sie
haben dem mäßigenden Einfluß Oestreichs Raum gelassen, indem dje drei Mächte
sich gegeneinander verbindlich machen, neue Bedingungen nur infolge gemeinsamer
Berathung zu stellen. Hieraus ergibt sich auch das Verhältniß der Allianz —
von der wir aus das innigste wünschen, daß sie bald eine Quadrupelallianz sein
möge — zu dem zu erwartenden Bnndesbcschlusse. Sie tritt den in demselben
namhaft gemachten Friedcnsbestrebuugcn nicht nur nicht hemmend entgegen, sondern
bezweckt vielmehr ihre glückliche und günstige Förderung, und schiebt überhaupt den
Zeitpunkt des Friedens nicht weiter hinaus, sondern rückt ihm näher, und nur von
Rußland hängt es ab, daß derselbe ganz nahe sei. —
Nachschrift der Redaction. — Der wirkliche Abschluß des Vertrags
zwischen Oestreich und den Wcstmcichten ist durch die telegraphischen Depeschen seit¬
dem bereits bekannt geworden. — Einige Korrespondenzen haben wieder für
das nächste Heft zurückbleiben müssen; wir geben hier wenigstens ein Fragment: —
— Vor der wichtigen Nachricht, daß Oestreich
mit den Westmächten einen Vertrag abgeschlossen habe, verschwinden alle andern
Fragen. Das hiesige Cabinet hatte geglaubt, durch die Verabredung des bekannten
Zusatzartikels zu der preußisch-östreichischen Convention den Gang der Entwicklung
vorläufig fixirt und für einige Zeit Ruhe gewonnen zu haben; es ahnte nicht, daß
-inzwischen ein andres, viel gewichtigeres Ereigniß von ihm unbemerkt zur Reise ge¬
dieh, und noch in der Thronrede spiegelt sich die volle Befriedigung über das
glückliche Werk, dessen reale Bedeutung in hiesigen gouvernementalen Kreisen wie
in der Presse weit überschätzt wurde. Am Tage nach der Kammcreröffnung erhielt
der Herr Ministerpräsident von den Vertretern der Seemächte die erste Nachricht da¬
von, daß der Abschluß eines Vertrages mit Oestreich nahe bevorstehe, vielleicht schon
vollzogen sei; zur Beruhigung wurde hinzugefügt, daß in einer Klausel d?r preu¬
ßischen Regierung der Beitritt zu dem Vertrage offen gehalten sei und daß man ihm
mit Vergnügen entgegensehe.
Was nun den Inhalt des Vertrages betrifft, so höre ich, daß er in der That
auf den vier Garantiepnnkten beruht, aber eine genauere Specialisirung derselben
und eine Entwicklung der aus ihnen hervorgehenden sachlichen Konsequenzen enthält.
In dieser präcisen Form sollen die Forderungen der drei Verbündeten an das Pe¬
tersburger Cabinet gerichtet werden, nicht um Verhandlungen über dieselben zu
provociren, sondern um angenommen oder abgelehnt zu werden. Das Wichtigste
aber ist, daß, falls Rußland sich nicht innerhalb dieses Monats zur Annahme der
ihm gestellten Bedingungen bereit erklärt, der Vertrag mit dem I.Januar kommen¬
den Jahres die Bedeutung eines Offensiv- und Desensivträctats erhalten soll. —
Die Verhältnisse der ersten Kammer haben sich noch trostloser gestaltet als ich dachte.
Von den Standesherren hat sich niemand eingefunden, und man erzählt sich, daß
von diesen Herren nächstens ein Schreiben eingehen wird, welches ihre Forderungen
präcisere und ihr Nichterscheinen motiviren soll. Charakteristisch sür die hier lager¬
ten Mitglieder ist es, daß sie, obgleich der frühere Präsident, Graf von Rittbcrg,
ein höchst conservativer und in parlamentarischen Geschäften erfahrener Mann, an-
. wehend war, doch den Fürsten Pleß zum Präsidenten wählte, — denselben, der in
der Session von 1849 — 18S0 als Gras Hochberg Mitglied der zweiten Kammer
war und sein Mandat niederlegte, als die Verfassung beschworen werden sollte! —
Der Umschwung in der öffentlichen Meinung, der durch die auswärtige
Politik der beiden deutschen Großmächte herbeigeführt ist, erscheint so außer¬
ordentlich, daß er wol einmal eine zusammenhängende Besprechung verdient,
die sich nicht grade unmittelbar aus die Tagesfragen bezieht. Die Stellung,
welche Oestreich Rußland gegenüber eingenommen hat, muß auch auf die in¬
nere Politik des Kaiserstaats einen wesentlichen Einfluß ausüben, und je
deutlicher die östreichischen Staatsmänner bisher gezeigt haben, daß sie ihre
Stellung nach außen vollkommen begreisen, um so sicherer läßt sich anneh¬
men, daß sie auch vor diesem nothwendigen Zusammenhang ihr Auge nicht
werden verschlossen haben. Unter diesen Umständen könnte es überflüssig'er¬
scheinen, daß die Presse auf die Schritte aufmerksam macht, die noch zu thun
übrigbleiben, um dem Kaiserstaat die Stellung in Europa und in Deutschland,
die seinen Kräften zukommt, anzuweisen. Ja mancher Aengstliche könnte wol
meinen, daß dadurch der Sache eher geschadet würde, da eine Regierung es
in der Regel nicht liebt, gedrängt zu werden. Allein wir haben eben von
den östreichischen Staatsmännern eine bessere Meinung, und außerdem halten
wir es für sehr wichtig, die öffentliche Aufmerksamkeit aus die Richtung hin¬
zulenken, die für die weitere Entwicklung nothwendig erscheint, und so den
Ereignissen in der öffentlichen Meinung den Weg zu bahnen. Wir halten
uns dazu umsomehr sür berechtigt, da wir im wesentlichen nur aus dasselbe
zurückkommen dürfen, was wir in der Krisis von 18i8 über Oestreich gesagt
haben.
Das große Werk, dem die gegenwärtige Staatsregierung Oestreichs ihre
Kräfte gewidmet hat, ist die Umwandlung der Ländermasse, die dem Habsbur¬
gischen Scepter Unterthan ist, in einen Einheitsstaat. Diese Umwandlung
war nothwendig für das Fortbestehen Oestreichs; sie war aber auch im höch¬
sten Grade segensreich für Deutschland, denn der neu zu schaffende Einheits¬
staat kann nur ein deutscher sein. Der erste Schritt zu diesem Zweck war die
gewaltsame Unterdrückung der Sonderverfassungen, welche den Aufbau eines
Einheitsstaats unmöglich machren. Die Anwendung von Gewalt hat immer
etwas Gehässiges, und so sind auch von der östreichischen Negierung in diesem
Umwandlungsproceß manche Dinge geschehen, die wir gern wegwünschen
möchten. Allein einerseits fand die Negierung den Bürgerkrieg schon vor,
andrerseits müssen wir ihr der altconservativen Partei gegenüber vollkommen
rechtgeben, wenn sie nach Besiegung des Aufstandes nicht wieder zu den alten,
morschen Zuständen zurückkehrte, deren Unmöglichkeit sich erwiesen hatte, son¬
dern mit eiserner Energie die Durchführung ihrer Neubildung in Angriff nahm.
Der mit Gewalt durchgeführte Einheitsstaat konnte selbstverständlich zuerst
nur einen rein militärischen Charakter haben, dem sich die einzelnen Länder
und Stämme nicht freiwillig, sondern gezwungen fügten. Die nationalen
Sympathien der meisten östreichischen Länder waren ursprünglich nicht für,
fondern gegen den Einheitsstaat gerichtet, und den Träger desselben, das Mi¬
litär, sah man gewissermaßen als ein fremdes Element an, welches nicht aus
dem Volke hervorgegangen, sondern künstlich in dasselbe eingeführt sei. In
dieser Beziehung ist durch die neuesten Ereignisse ein sehr bedeutsamer Schritt
vorwärts geschehen. Indem sich Oestreich in die Reihe der civilisirten Machte
gegen Rußland stellt und diese Stellung mit Ernst und Würde behauptet, hat
es dadurch die Sympathien eines großen Theils der Bevölkerung gewonnen,
und diese Sympathien werben sich zum Enthusiasmus steigern, sobald sie sich
an eine bestimmte Action anschließen können; sobald die kaiserlichen Heere in
siegreichen Schlachten gefochten haben werden, wird der Deutsche, der Ungar
und der Czeche nicht mehr an seine besondere Volkstümlichkeit denken, deren
historische Symbole aufhören, ihm in lebendiger Gegenwart zu erscheinen: sei¬
ner Einbildungskraft wird vielmehr nur das schwarzgelbe Banner vorschweben,
unter dem seine Brüder für die gute Sache fechten. Dieser Kampf wird auf
den Patriotismus einen ganz andern Eindruck machen, als die Kämpfe, die
in dem Jahre 49 vorfielen, denn hier gehn die Wünsche mit der Einbildungs¬
kraft Hand in Hand.
So hätte denn der Einheitsstaat schon einen sichern Boden in der Gesin¬
nung gewonnen; es kommt nur daraus an, dieser Gesinnung eine freie und
angemessene Organisation zu geben, den Patriotismus gewissermaßen zu con-
stituire». Zu diesem Zweck, der den Schlußstein am Gebäude des Einheits¬
staats bildet, halten wir dreierlei für nothwendig:
Der Gedanke einer Verfassung ist durch eine Mitwirkung ganz eigenthüm¬
licher Umstände in Oestreich nach allen Seiten hin unpopulär geworden: in
den Regierungskreisen, weil man bei einer Verfassung sofort an Jacobiner
denkt; unter den Liberalen einerseits, weil die Charte vom 4. März mit sehr
schlimmen Erinnerungen zusammenhängt, andrerseits, weil die schwarzroth-
goldenen Ideen des Jahres -1848 mit der verfassungsmäßigen Constituirung
Gesammtöstreichs unvereinbar waren.
Allein seit der Zeit haben sich die Umstände so verändert, daß man nach
beiden Seiten hin diese Vorurtheile wol aufgeben sollte.
Die erste conftituirende Versammlung Oestreichs, die gewaltsam ausgelöst
werden mußte, war, wie alle Versammlungen jener Zeit, im wesentlichen nichts
Anderes, als eine Constituirung der Opposition oder vielmehr der verschiedenen
Oppositionen, denn die Wünsche und Forderungen derselben waren zum großen
Theil widersprechend; sie beruhte auf einem falschen Prineip, auf dem allge¬
meinen Wahlrecht und schloß die höchsten Staatskräste des Kaiserstaats aus.
Sie war von den Ideen der Volkssouveränetät inficirt, das heißt, sie strebte
nicht blos nach dem ihr gebührenden Antheil an der Gesetzgebung, sondern
auch nach einem Antheil an der Regierung. Sie wirkte endlich nicht für die
Einheit Oestreichs, sondern für die Trennung, denn die wichtigsten Kronlän¬
der waren in ihr nicht vertreten. Daß eine Verfassung, die sich auf solche
Voraussetzungen bezog, fallen gelassen wurde, hat niemanden beeinträchtigt,
und niemand hat sich darum gegrämt. >
Von dem allen ist gegenwärtig nicht mehr die Rede. An eine auf Volks¬
souveränetät basirte conftituirende Versammlung, die den Staat gewissermaßen
erst neu einrichten sollte, denkt niemand mehr, der Staat ist eingerichtet und
kann die ständischen Institutionen aus sich heraus organisch entwickeln. Die
breiteste Grundlage der Demokratie ist völlig in Verruf gekommen, und es
fällt niemand mehr ein, das Volk in den Massen zu sehen. Die Regie¬
rung ist von keiner Seite her gedrängt, sie kann also ihr Werk mit Ruhe
und Ueberlegung in Angriff nehmen und ihm eine solche Form geben, die alle
schädlichen Einflüsse ausschließt, und was das Wichtigste ist, Oestreich besitzt
die Elemente einer ständischen Verfassung, die andere Staaten erst mühsam suchen
müssen, in hinreichendem Maße.
Oestreich besitzt zunächst eine Aristokratie, die mächtiger ist, als die irgend¬
eines andern Landes, selbst England nicht ausgenommen. Während andere
Staaten, z. B. Preußen, eine erste Kammer nur durch die allerkünstlichsten
Berechnungen zusammenfinden können, darf Oestreich nur einfach nehmen, was
es hat, um ein Oberhaus zu besitzen, welches die wirkliche Kraft des Staats
repräsentirt. Nimmt man zur Aristokratie noch die kirchlichen Würdenträger und
die Notabilitäten des Landes, die zunächst freilich vorzugsweise nur im Militär¬
stande zu suchen sein werden, so erhält man eine Kammer, die Macht und
Intelligenz, Unabhängigkeit und Loyalität in sich vereinigt. Mehr Schwie-
rigkeiten würde die zweite Kammer machen, da wenigstens in einem Theil des
Landes, in Ungarn, die bisher constituirten Gemeinde- und Kreisverbände
aufgehoben sind. Wenn man aber nur nicht von dem falschen Princip aus¬
geht, daß jedes einzelne Individuum des Staats an den Wahlen betheiligt
sein müsse, so werden sich noch natürliche Gliederungen genug vorfinden, aus
denen eine Repräsentation nicht künstlich, sondern natürlich hervorgehen kann.
Eine Landesvertretung Oestreichs muß sich aus dieselbe Weise entwickeln, wie es
in England geschehen ist. Sie muß nichts Anderes vertreten wollen, als was
zu vertreten ist, d. h. was eine Organisation hat, mit dem Vorbehalt, daß
auf eine jede Erweiterung des Gemeindelebens in Stadt und Land auch eine
Modification der Vertretung erfolgt.
Der Hauptgewinn einer solchen Vertretung wird zunächst nicht der sein,
daß bessere Gesetze gemacht, daß Uebelstände aus der Verwaltung entfernt wer¬
den u. s. w., obgleich sich auch hier ein segensreicher Einfluß gewiß fühlbar
machen wird, namentlich wenn die Negierung in Erwägung zieht, daß ihre
Staatszwecke auch noch andren Feinden begegnen, als den Jacobinern, und
daß sie gegen die ersteren keine kräftigere Stütze finden kann> als eine gesund
organisirte Landesvertretung. Aber man muß in dieser Beziehung von den
Anfängen einer parlamentarischen Verfassung nicht zu viel erwarten. Es wer¬
den sich die zahlreichsten Mißgriffe herausstellen, und die bisherige anorganische
Zusammenfügung der verschiedenen Elemente Oestreichs wird sich geltendmachen.
— Allein die Hauptaufgabe der neuen Landesvertretung soll sein, in Oestreich
ein wirkliches Nationalgifühl hervorzurufen, was auf militärische Weise allein
nie vollständig geschehen wird. Die gebildeten Classen des Volks sollen sich
mit ihren Hoffnungen, Wünschen und Anforderungen nicht mehr, wie früher,
an eine geheimnißvolle, unbekannte Macht richten, die von oben oder von unten
alles Bestehende über den Haufen wirst, nicht mehr an die chimärische Befreiung
von Sondernationalitäten und Nationalitätchen, die zu ihrer staatlichen Existenz
kein historisches und kein natürliches Recht haben, sondern an ein wirklich na¬
tionales Institut, das zuerst bei den Wahlen alle Interessen beschäftigt und
dann bei der Oeffentlichkeit seiner Verhandlungen jedem einzelnen das Gefühl
gibt, als wirke er selbst dabei. Nebenbei wird der Vortheil nicht gering an¬
zuschlagen sein, daß dieses Institut nothwendig ein deutsches sein wird. Wer
nicht Deutsch versteht, dem wird der Eintritt in dasselbe verschlossen bleiben. —
Man verbindet mit dem Begriff der Germanisirung in der Regel viel zu weit¬
gehende Vorstellungen. Die wirkliche Landessprache der einzelnen Völkerschaften
durch die deutsche zu ersetzen, ist ein thörichtes Vorhaben, welches niemals durch¬
zuführen ist und nur eine Reaction hervorruft; aber das Deutsche zur Bildungs¬
sprache zu machen, wie es bis jetzt leider die sanzösische war, ist nicht nur
möglich, sondern es ist nothwendig. Aus diese Weise wird sich die deutsche
Sprache durch das Gesetz der Attraction immer weiter ausbreiten, und ohne
gewaltsame Mittel wird der Kaiserstaat in seinen wirklich politischen Elementen
ein deutscher werden.
Mit diesem Punkt hängt die zweite Reform zusammen, die wir als noth¬
wendig bezeichnet haben, nämlich die Reform der Erziehung. Wir meinen da¬
mit, da wir hier nur einen ganz bestimmten Zweck im Auge haben, nicht die
eigentliche Volkserziehung, die in mancher Beziehung freilich viel wichtiger ist,
als das Schulwesen der gebildeten Classen, sondern wir meinen die höheren
Lehranstalten, die Gymnasien und Universitäten. Daß Oestreich in diesen Be¬
ziehungen soweit hinter dem übrigen Deutschland zurückgeblieben ist, hat einen
unheilvollen Einfluß auch auf seine politische Entwicklung ausgeübt. In Preu¬
ßen geht aus den Gymnasien und Universitäten jeder, der sich die ihm ge¬
botene Bildung wirklich aneignet, als preußischer Patriot und als Eiferer für
den Protestantismus hervor (was freilich nicht soviel heißen soll, als Begei-
sterung für den Herrn von Manteuffel und den Herrn Professor Hengstenberg);
in Oestreich dagegen, wo die Erziehung in den Händen der Geistlichen ist, wird
derjenige Theil der Mittelclassen, der sich nicht knechten läßt (in welchem Falle
er wieder für die höheren Staatszwecke unbrauchbar wäre), als ein Gegner der
bestehenden Staats- und Religionsansichten hervorgehen. Die Aristokratie trifft
dies weniger, weil sie in der Regel eine Privaterziehung genießt; aber grade
dieser Widerspruch in der aristokratischen und bürgerlichen Bildung ist sehr ge¬
fährlich für die nationale Entwicklung. Daneben hat der gebildete Oestreicher,
der mit dem deutschen Ausländer zusammenkommt, in dieser Beziehung in der
Regel das Gefühl der Inferiorität, wozu sonst durchaus keine Veranlassung
wäre; und das treibt ihn zuweilen zu Sprüngen in der Entwicklung, die nichts
Gesundes haben. Mit einiger Verwunderung haben wir bemerkt, daß der Ein¬
fluß der jüngeren radicalen Hegelschen Philosophie in diesem Augenblick in
manchen Kreisen Oestreichs wirksamer ist, als anderwärts in Deutschland, ob¬
gleich, oder vielmehr, weil er durch gar keine verbindenden Mittelglieder herbei¬
geführt ist. Eine gesunde historisch-philologische Bildung, wie sie auf den deut¬
schen Gymnasien besteht, würde viel nützlicher sein, als diese verstreuten Brocken
einer halbverstandenen Philosophie.
Wenn nun der Staat eine Reform des Erziehungswesens ernstlich wollte,
so müßte er sich zu einem Mittel entscheiden, das vielen Anstoß erregen würde,
das aber unvermeidlich ist, nämlich zu einem massenhaften Hereinziehen fremder
Kräfte. Preußen hat dadurch einen großen Theil seiner besten Männer gewon¬
nen, ja noch mehr, einen großen Theil seiner wärmsten und leidenschaftlichsten
Patrioten. Warum sollte es mit Oestreich nicht derselbe Fall sein? Nur muß
es sein Augenmerk nicht auf die sogenannten Geistreichen richten, auf die Rene¬
gaten, die durch sophistische Ueberbildung zuletzt dahin gekommen sind, sich kopf-
über in die Nacht der Phantastik zu stürzen, sondern aufkläre, durchgebildete und
einsichtsvolle Schulmänner, wie sie für die mittlere Schicht der Bildung noth¬
wendig sind. Die Negierung darf deshalb keineswegs in die bisherigen geist¬
lichen Schulen eingreifen, sie darf nur Concurrenzschulen errichten und der
Concurrenz erprobter Schulmänner freien Spielraum eröffnen; alles Andre
wird sich von selbst machen.
Der schwierigste Punkt dabei ist immer die Religion. Wenn der Staat
sich nicht entschließt, protestantische Lehrer anzustellen, so ist jeder Versuch einer
Schulreform für den Augenblick unmöglich, weil sich die nöthige Anzahl katho¬
lischer Lehrer für ein Gymnasium im norddeutschen Sinn nicht vorfindet. Man
mag die Gründe dafür suchen, wo man will, vor der evidenten Thatsache kann
man sein Auge nicht verschließen. Sobald eine neue Generation gebildet sein
wird, kann das Verhältniß sich ändern; aber vorläufig darf man die Prote¬
stanten nicht umgehen.
Dies führt uns auf den dritten Punkt unsrer Anforderungen an Oestreich.
Es liegt in den Händen dieses Staats mehr noch, als eine Reform seiner eig¬
nen Einrichtungen. Oestreich kann für ganz Deutschland die Religionsfreiheit,
oder vielmehr die gleiche Berechtigung der beiden historisch beglaubigten Kon¬
fessionen zur Wahrheit machen. Nach den Bestimmungen des westphälischen
Friedens, die ohnehin aus ganz andren Voraussetzungen beruhen, als die
Gegenwart, ist sie eine Illusion. Solange Oestreich ein specifisch katholischer
Staat bleibt, wird Preußen, sein natürlicher Rival, sich als ein specifisch pro¬
testantischer erhalten müssen. Wenn aber Oestreich die Rechtsgleichheit bei sich
einführt, so wird sich diese ohne weiteres über ganz Deutschland ausbreiten.
Es wird dadurch die Möglichkeit gegeben, für die gesammten Staaten des
deutschen Bundes ein einheitliches, von allen Regierungen anerkanntes und
vertheidigtes Kirchenrecht zu geben, ebenso unabhängig von dem Belieben der rö¬
mischen Kirche, als von den Agitationen unruhiger Gemeinden. Jahr für Jahr
machen sich die unklaren Verhältnisse in dieser Beziehung nach allen Seiten
hin fühlbar, und weil das Volk empfindet, daß die einzelnen Regierungen der
kirchlichen Macht nicht gewachsen sind, fühlt es sich nur zu oft gedrungen, die
kirchliche Frage selbst in die Hand zu nehmen und dadurch die allgemeine Ver¬
wirrung noch zu steigern. Die unreifen Versuche der Deutschkatholiken, der
Lichtfreunde und freien Gemeinden, der Gustav-Adolphs- und Bibelvereine
gehen nicht aus einem positiven, religiösen Gefühl hervor, sondern aus dem
Unbehagen über die Unbestimmtheit der wirklichen Zustände, die dem Volk noch
ebenso fremd stehen, als zu den Zeiten Luthers. Die Constituirung der beiden
Kirchen durch eine folgerichtige Ausführung der Principien, aus denen die wi¬
dersprechenden Bestimmungen des westphälischen Friedens hervorgegangen sind,
würde trotz der Spaltung der beiden Kirchen das nationale Leben mit dem
kirchlichen in Verbindung setzen und jenen Zustand herbeiführen, in dem jeder
aufgeklärte Denker im Interesse seiner eignen Kirche auch das Gedeihen der
andern wünscht; ein Zustand, den im gegenwärtigen Augenblick, wo die Gegen¬
sätze noch durch keinen allgemein anerkannten Vertrag ausgeglichen sind, der
Consistorialrath Stahl zu früh empfiehlt.---
----Nachdem wir das Vorstehende niedergeschrieben, kommt uns eine
Schrift zu Händen, die das angeregte Thema mit speciellerem Eingehen auf
die Sache behandelt: Was hat Oestreich infolge der Jahre 18i8 und
1849 durch seine Regierung errungen? Ein Beitrag zur Politik und
Staatskunde von Dr. I. Dede, kaiserlich russischem Hofrath und Docenten
an der Universität Dorpat. Leipzig, C. Geibel. Die Schrift ist sehr beach¬
tungswerth, da der Versasser ohne Zweifel aus officiellen Quellen geschöpft hat.
Die Verdienste des gegenwärtigen Ministeriums um die Hebung des Staats
sind in der That sehr bedeutend, und wenn man die Kürze der Zeit und iM
Drang der Umstände in Rechnung zieht, erstaunenswert!). Die Grundentlastung
und Selbstständigkeit des Bauernstandes ist mit einer Entschiedenheit und Folge¬
richtigkeit durchgeführt, in welcher die Grundsätze des Rechts und der nationalen
Wohlfahrt gleichmäßig beachtet worden sind. In allen Zweigen der Staats¬
verwaltung sind wesentliche Verbesserungen eingeführt, und an die Stelle der
früheren gemüthlichen Unbefangenheit, durch welche die geschriebenen Bestim¬
mungen von dem wirklichen Zustand der Dinge wesentlich abwichen, sind recht¬
lich normirte Ordnungen getreten. In der Finanzverwaltung ist durch zweck¬
mäßigere Vertheilung der Steuern ein Fortschritt wenigstens angebahnt; für
die volkswirthschaftlichen Interessen ist durch Erleichterung des Verkehrs, durch
Vermehrung der Verkehrsmittel und durch Verträge mit den benachbarten
Staaten soviel als thunlich gesorgt. Die Wehrkraft, die stets die beste Seite
des östreichischen Staatslebens war, ist in guter Ordnung erhalten, und die
Fortschritte der Kriegswissenschaft sind auf sie in Anwendung gebracht. Das alles
sind sehr wesentliche und eingreifende Verbesserungen, für welche die östreichische
Negierung volle Anerkennung verdient; aber als die Hauptsache stellt der Ver¬
fasser gleich uns die Einheit des politischen Grundgedankens dar. „Die östrei¬
chische Regierung hat in ihrer legislatorischen Thätigkeit diejenigen Maßregeln
theils angebahnt, theils durchgeführt, welche es bezwecken, die Einheit des Reichs
zu verwirklichen und durch die Gemeinsamkeit der Interessen zu vermitteln. Auf
diese Weise wird zugleich der Begriff einer politischen, östreichischen Na¬
tionalität wieder ausgebildet, welche in eigenthümlicher Sprache und Sitte
keine abschließenden Schranken erblickt, und aus dem erhebenden Bewußtsein,
einem großen, durch die politische und sociale Vereinigung gekräftigten, starken
und dauerhaften Staatsorganismus anzugehören, hervorgeht. Denn die an¬
genommene Form der vereinten Kraft wird bei zunehmender sittlicher und in-
tellectueller Cultur und bei der sich stets mehr verbreitenden Entwicklung der
physischen und technischen, wie bei der Vervielfältigung der verschiedenen Zweige
des Verkehrs die natürliche ethnographische Verschiedenheit zu einer politischen
Einheit verbinden, — Oestreichs Ausgabe hinsichtlich der die Centralisation
durchführenden Maßregeln mag immerhin schwierig sein, ein Großes ist
es schon, sie als hervorragendes Staatsprincip aufgestellt zu haben, und in
Hinblick auf die politische Bedeutung desselben bei der Durchführung zu be¬
harren."
Bei dieser Uebereinstimmung in dem leitenden Grundgedanken muß es auf¬
fallen, daß der Verfasser zu einem dem unsrigen ganz entgegengesetzten Resultat
kommt. Er hält eine constitutionelle Verfassung Oestreichs für schädlich, ja sür
unmöglich, und glaubt die Einheit des Staatsprincips durch die Kräftigung der
monarchischen Gewalt genügend durchgeführt. Als einzigen Grund jener Un¬
möglichkeit hebt er die Verschiedenheit der Volksstämme hervor, wobei er bei¬
läufig nicht sehr glücklich ist. Er classificirt die Einwohner Oestreichs nach den
vier Hauptstämmen in 16 Millionen Slawen, 8 Millionen Deutsche, 8 Millionen
Romanen und 6 Millionen „Individuen ursprünglich astatischer Stämme"; unter
die' letztgenannten Individuen rechnet er unter andern die Ungarn und--die
Juden!! Unter den Romanen begreift er die Walachen und die Italiener! — Eine
solche Gliederung nach sprachlichen Verwandtschaften ist verkehrt und schädlich,
weil sie ein ganz falsches Bild von der politischen Lage des Reichs gibt. Nach
dieser Gruppirung müßte man glauben, Oestreich wäre ein slawischer Staat,
in welchem die Deutschen eine untergeordnete Rolle spielten, ungefähr wie die
Italiener. Daß aber diese Auffassung eine vollkommen falsche ist, daß keine
einzige dieser Völkerschaften, am wenigsten diese massenhaften Collectivbegriffe,
irgendeine politische Berechtigung haben kann, und daß Oestreich daher als
ein deutscher Staat angesehen werden muß, der die Ausgabe hat, sich die fremd¬
artigen Elemente allmälig zu assimiliren, darüber wird das gegenwärtige Mini¬
sterium am wenigsten in Zweifel sein. In der vormärzlichen Zeit, wo man
von oben her die nationalen und politischen Sonderungen begünstigte, konnte
man sich in solchen Illusionen wiegen; jetzt aber, wo das Panier der Gesammt-
monarchie aufgestellt/ist, wären sie verhängnißvoll.
Allerdings wird die constitutionelle Verfassung, wie die Idee des Einheits¬
staates überhaupt, durch die Verschiedenheit der Elemente, aus denen Oestreich
zrrsammengesetzt ist, erschwert: aber um so dringender ist es geboten,
das nothwendige Werk schnell in Angriff zu nehmen und den
günstigen Moment entschlossen zu ergreifen. Es kann aber kein gün¬
stigerer Moment gedacht werden, als der gegenwärtige. Die Allianz mit den
Westmächten ist geschlossen, das deutsche Volk sieht dem Vorgehen Oestreichs
mit Theilnahme zu, und das östreichische Volk ist durch die Größe des Augen-
blicks zu einer vollständigen Einheit mit der Negierung fortgerissen. In diesem
Augenblick ist die östreichische Regierung im Stande, eine durchaus konser¬
vative und doch populäre Verfassung zu geben, die seine Stellung den euro¬
päischen Mächten gegenüber und namentlich der noch immer grollenden Revo¬
lution gegenüber auf das erfolgreichste ändern würde.
Wir wiederholen noch einmal, daß wir von den Ständen kein unmittelbares,
wohlthätiges Eingreifen in die Gesetzgebung erwarten, ja wir wollen soviel zu¬
geben, daß sie der Regierug in manchen Punkten ihr Werk erschweren würden;
aber wir halten sie für nothwendig: einmal weil die Regierung ihren Völkern
schuldig ist, für das, was sie ihnen genommen hat, Ersatz zu gewähren; sodann
um die Fortdauer des Staatsprincips über die Dauer der gegenwärtigen Re¬
gierung hinaus zu garantiren.
Daß die Negierung die bestehenden Sonderverfassungen in Ungarn u. s. w.
gebrochen hat, war für die Durchführung ihres Princips nothwendig, und eben¬
darum kann es zu den alten Zuständen nicht wieder zurückkehren. Aber so
schädlich jene Einrichtungen für den Gesammstaat waren, so waren sie doch sür
die Betheiligten ein wirkliches oder eingebildetes Gut, dessen Verlust nicht ver¬
schmerzt werden dürste, wenn dafür nicht etwas Andres geboten wird. Durch
die Hebung des Gemeindclebens, auch durch die Einrichtung von Landesver¬
tretungen nach dem Entwürfe vom Juli 18Se- und durch die Verbesserung der
Bureaukratie kann sehr viel geschehen; aber nicht die Hauptsache. Ganz un¬
genügend ist, was der Verfasser über die Bureaukratie sagt. Daß diese für
das politische Leben nicht allein ausreicht, zeigt der preußische Staat, obgleich
dieser doch im unendlichen Vortheil ist. Denn daß der preußische Beamtenstand
im ganzen genommen, wenn man von den höchsten Stellen absieht, an Bildung,
Gewandtheit dem östreichischen überlegen ist, und außerdem von seinem Amt ein
klareres und festeres Bewußtsein hat, das werden die Oestreicher gewiß selbst
nicht leugnen wollen. Außerdem stehen die preußischen Beamten dem Volk
viel näher, denn sie gehen ja aus demselben hervor und treten aus seinem
Kreise eigentlich nie heraus, während sie in dem bei weitem größeren Theil
der östreichischen Monarchie dem Volk nothwendig fremd sein müssen. Darum
wird auch die Opposition der Landesvertretungen gegen den Beamtenstand,
grade weil beide denselben Gegenstand haben und doch von verschiedenen Stand¬
punkten ausgehen, in Oestreich viel lebhafter sein, sobald die Landesvertretungen
nur einigermaßen das Gefühl von Kraft erlangt haben; und die gedeihliche
Wirksamkeit der Staatsgewalt viel mehr hemmen, als in Preußen. Der Ver¬
fasser stellt es als einen Vorzug auf, daß diese Landesvertretungcn sich nicht
mit politischen Dingen zu befassen haben werden; asiein grade deshalb werden
sie auch kein politisches, kein östreichisches, patriotisches Gefühl im Volk erwe¬
cken, sondern sie werden dasselbe immermehr in kleinstädtische 'Interessen zurück-
drängen und die Unzufriedenheit immermehr nähren, jeweiliger ihnen Spiel¬
raum für eigne productive Thätigkeit gegeben ist.
Weit entfernt, daß die östreichische Regierung das Erwachen eines poli¬
tischen, patriotischen, östreichischen Lebens im Volk zu fürchten hätte, sollte
sie dasselbe vielmehr aus allen Kräften befördern, denn es ist die einzige Ga¬
rantie, die sie für die Fortdauer ihres Princips gewinnen kann. Sie soll ein
Volk nicht voraussetzen, sondern sie soll es gewissermaßen schaffen, indem sie
es constituirt und ihm die Richtung gibt. Man erinnere sich, doch nur an die
Geschichte der frühern Zeit. Oestreichs politische Haltung war in den Jahren
1795—1812 gewiß viel anerkennenswerther, als die Haltung Preußens. Der
Patriotismus seiner Staatsbürger war nicht minder groß, und in der Zeit
der Freiheitskriege blieb es wenigstens hinter seinen Stammverwandten nicht
zurück. Nun folgte unter der Regierung des Fürsten Metternich eine Reihe
von Friedensjahren, die sich über eine ganze Generation hinzogen und in
denen man eine gedeihliche Entwicklung umsveher hätte erwarten mögen, da
Fürst Metternich zu den talentvollsten Staatsmännern gehörte und auch per¬
sönlich nicht ohne Wohlwollen war. Statt dessen mußte man im Jahr 1848
erkennen, daß die Fundamente des Staatsgebäudes unterwühlt waren. Eine
Hand erhob sich gegen die andere, die wahnsinnigsten Entwürfe durchkreuzten
sich und niemand konnte mit Gewißheit behaupten, daß er nach Ablauf eines
Monats noch bei den nämlichen Ueberzeugungen bleiben würde. In einer so
aufgeregten, völlig haltlosen Periode eine organische Verfassung feststellen zu
wollen, ist freilich eine Thorheit, und es war vollkommen richtig, ,daß man
sich zuletzt darauf resignirte, den Staat militärisch herzustellen und die Ver-
fassungsprojecte, mit denen doch nichts anzufangen war, über den Haufen zu
werfen. Aber dabei, darf es nicht stehen bleiben, sonst kehren in einem drang¬
vollen Augenblick die alten bösen Zustände zurück, nur noch dadurch verschlim¬
mert, daß alsdann alle constituirten Gewalten gebrochen, alle Mittel der
Selbsthilfe aus dem Volke gewichen sein werden. In diesem Augenblick übt
die glänzende Persönlichkeit des jungen Kaisers, übt die feste Haltung der
Regierung, übt die nationale Richtung der Politik einen mächtigen Einfluß
aus. Aber diese Einflüsse sind doch ihrer Natur nach nur momentan, und will
die Regierung ihrem großen Werk, der Umwandlung der östreichischen Länder¬
masse in einen östreichischen Staat, Dauer zusichern, so muß sie das Volk
dabei betheiligen, sie muß das Volk zu einer Nation umwandeln. Sie hat
bisher, was für jede reformirende Regierung nothwendig ist, ein starkes Ver¬
trauen zu sich selbst entwickelt; möge sie jetzt auch Vertrauen zu ihrem Volke
zeigen, das dieses Vertrauen wahrlich verdient; dann wird Oestreich auch in
Deutschland eine ganz andere Rolle spielen können, und der nothwendige und
natürliche Wetteifer mit Preußen um den Einfluß in Deutschland, der sich
bisher in kleinlichen, mit dem wahren Wohle Deutschlands unvereinbarer
Intriguen ausgab, wird dann auf eine segensreiche Weise fortgesetzt werden
können, indem jeder der beiden organisirten Großstaaten seine natürliche
Attractionskrast auf die verwandten Elemente ruhig walten läßt.
Kaum hat irgendeine Nachricht die öffentliche Aufmerksamkeit schmerzlicher
in Anspruch genommen, als jene der Franks. Postzeitung, wonach Würtemberg
eine Rechtfertigung seines Verfahrens im Streite mit seinen Standesherrn,
also eine rein innere, rein deutsche, zu Rußland ganz beziehungslose Ange¬
legenheit, dem Petersburger Cabinet unaufgefordert vorgelegt haben soll. Die
Nachricht war zu bestimmt gegeben, die damit bezeichnete Thatsache wäre im
gegenwärtigen Momente von zu charakteristischer Bedeutung, als daß die Ne¬
gierung eine so schwere Anklage ihres nationalen wie souveränen Bewußtseins
ignoriren könnte. Leider harrt man trotzdem his heute (6. Dec.) umsonst aus
ein entschiedenes, officielles Dementi jener Nachricht, oder doch auf eine Er¬
läuterung des jedenfalls auffallenden Schrittes; auffallend selbst dann, wenn
etwa von Seite der Standesherrn gewissermaßen die Initiative und Veran¬
lassung dadurch gegeben gewesen sein sollte, daß sie ihre Beschwerden gegen
den modernen Rechtsbestand im Königreich Würtemberg dem Petersburger
Hofe mittheilten.
Soviel bekannt, haben ihre Differenzen mit dem Staat und ihre speciel¬
len Beschwerden in der Journalistik noch nirgends eine eingänglichere Dar¬
stellung gefunden. Es dürfte also nicht uninteressant sein, sie kennen zu
lernen.
Bekanntlich trat der Fürst Karl v. Oettingen-Wallerstein im Innern der
Standesherrlichen Häuser „wegen ihres durch die Landesgesetzgebung seit -18^8
verletzten Rechtszustandes" mit einer Beschwerde gegen die würtenbergische
Negierung bei dem Bundestag aus; vorher waren mannigfache directe Ver¬
handlungen zwischen ihm und der Regierung in derselben Angelegenheit ge¬
pflogen worden. In dieser Eingabe (vom 22. Febr. 1854) waren aber die
Namen seiner Vollmachtgeber nicht genannt, auch die Vollmacht selbst nicht
constatirt. Letzteres erfolgte nachträglich; und die Namensnennung der Voll¬
machtgeber erschien um so wichtiger, als in der Beschwerde zwar ein allge¬
meines gleiches Interesse vorhanden ist, dagegen aber hinsichtlich der einzel¬
nen Punkte, soweit es sich um Wiederherstellung des frühern Rechtszustandes
handelt, sehr verschiedene Verhältnisse der Betheiligten in Frage kommen.
Auch hätte eine Beschwerde sämmlicher Standesherrlichen Häuser natürlich
eine ganz andere staatsrechtliche Bedeutung, als die einzelner Standes¬
herrn. Es sind aber nur 23 einzelne Standesherrn, welche die sehr vagen
Beschwerden und die daraus hervorgehenden Anträge stellten. Nämlich die
Fürsten Hohenlohe-Langenburg, Hoh.-Kirchberg, Hoh.-Oehringen, Hoh.-
Waldenburg, Hoh.-Bartenstein, Höh.-Jartberg, v. Solms, v. Windisch-
Grätz, v. Thurn und Tarif, v. Oettingen-Wallerstein, v. Oettingen-Spiel-
berg, v. Waldburg-Wvlffegg-Waldsee, v. Waldb.-Wurzach, v. Löwenstein-
Wertheim-Freudenberg, v. Löw.-Werth.-Rosenberg; ferner die Grafen v.
Königsegg-Aulendorf, v. Schafberg-Tannheim, v. Quadt-Jsni, v. Waldbott-
Vassenheim, v. Rechberg, v. Pückler-Limburg, v. Neipperg und v. Törring-
Guterzell.
Jene Eingabe des Fürsten Karl v. Oettingen-Wallerstein schildert nun
die Umgestaltung der politischen Verhältnisse Deutschlands seit 1848 bis zu dem
bekannten Bundesbeschtusse vom 23. Aug. 1831, welcher die Geltung der
Grundrechte in den einzelnen Staaten aufhob und die Wiederabschaffung der
daraus hervorgegangenen Gesetzgebungen verordnete. Der Bundesbeschluß
war bekanntlich auf östreich-preußischen Antrag gefaßt, von Würtemberg und
Baiern dagegen nur mit gewissen Vorbehalten angenommen worden/ Anstatt
nun die historischen Zusammenhänge der Dinge in den Jahren 18i8 zu wür¬
digen, stellt die Beschwerdeschrift des Fürsten die gleichzeitige! würtenbergische
Gesetzgebung wie etwas ganz Jsolirtes hin, wie eine prämeditirte, fortgesetzte
Reihe von tendenziösen Verletzungen des alten Rechtszustandes der Standes¬
herrn. Natürlich ebenso ohne alle Rücksicht auf den Beschluß des restaurirten
Bundestags, welcher eine Revision der Bundesverfassung, also auch der
Bundesgrundgesetze, als Nothwendigkeit anerkannt hatte. Vielmehr schließt
die Darstellung nach einer Uebersicht der zwischen der würtembergischen Regie¬
rung und den Fürsten gepflogenen Verhandlungen, mit der Bitte an den
Bund um vollkommene Wiederherstellung des angeblich verletzten Rechts-
zustandes der Standesherrn auf Grund der bundesgrundgesetzlichen Bestim¬
mungen, beziehentlich um vollständige Entschädigung für die eingetrete¬
nen Verletzungen.
Der Bund sollte also nach dem Standesherrlichen Wunsche im Jahre 18Si
für die obengenannten Fürsten und Grafen die Zustände von 181S restau-
riren und zunächst dem würtembergischen Lande die pecuniäre Vergütung aller
etwaigen Einbußen auferlegen, welche jene 23 Kläger innerhalb 39 Jahren
der modernen Geschichte erlitten zu haben vermeinten. — Wäre dies in
Würtemberg gelungen, so würde selbstverständlich gleicher Antrag, mit Berufung
auf dies Präjudiz, gegen alle Staaten des deutschen Bundes gestellt worden
sein. Der Bundestag würde zu einer Octroyirung- und Erecutionsbehörde
der deutschen Standesherrn geworden sein.
Diese Forderung erschiene noch weniger grell, wenn die würtenbergische
Regierung jede Berechtigung der Standesherrlichen Beschwerden abgewiesen und
sich nicht bereits bemüht hätte, dem von der Landesgesetzgebung von 1848/9
altcrirten Rechtszustande der Standesherrn, soviel es möglich ohne andere
Rechte und Interessen zu verletzen und ohne eine directe Nechtsverwirrung her¬
beizuführen, auf legislatorischen Wege Rechnung zu tragen; daß sie dafür
keine Octroiyrungen verwandte, hätte sollen gerade die Vertreter „conservativer
Interessen" zu abwartender Mäßigung führen. Besonders da weder der
Bundeöbeschluß vom 23. August 18S1 derartiges verlangte oder überhaupt
einen Termin für die Erfüllung seiner Forderungen ansetzte, noch auch eine
derartige Contrerevolution im praktisch gewordenen Nechtsbestcmde des König¬
reichs vom Standpunkte der höhern Politik irgendwie hätte gebilligt werden
können.
Die Standesherrn hatten nun vornämlich gegen 8 Gesetze aus den
Jahren 1848/9 ihre Angriffe gerichtet. Diese waren 1) Geh. vom 14. April
4848 über vollständige Beseitigung der auf Grund und Boden ruhenden
Lasten; 2) Zehntablösungsges. vom 17. Juni 49; 3) Geh. über Beseitigung
der Ueberreste älterer Abgaben vom 24. Aug. 49; 4) Geh. von gleichem Da¬
tum über Erläuterung und theilweise Abänderung einiger Bestimmungen des
Geh. vom 14. Apr. 48; 3) Geh. über Ausdehnung des Amts- und Gemeinde¬
verbands auf sämmtliche Theile des Staatsgebiets, vom 18. Juni 49; 6) Geh.
über Aufhebung der Patrimonialgerichtsbarkeit und Polizeiverwaltung, vom
4. Juli 49; 7) Geh. über das Jagdwesen, vom 17. August 49; 8) Geh. von
gleichem Datum über Aushebung des erimirten Gerichtsstandes.
Von diesen Gesetzen bezeichnet die standesherrliche Klage die unter 3—8
aufgeführten als „Grundrechtsgesetze", gegen welche ihr hauptsächlichster Zorn
vielleicht auch darum gerichtet ist, weil sie mit dieser Bezeichnung den Oc-
troyirungseifer des Bundestags am leichtesten werben zu können vermeint. Nur
vergißt sie leider anzuführen, daß die erste Kammer, also eben die dort klagenden
Standesherrn, den allermeisten dieser Gesetze selbst ihre Beistimmung ertheilt
hat. Und wenn auch mehre dieser Standesherrn bei der Abstimmung fehlten,
so ist es sicherlich blos ihre eigne Schuld, nicht 'die ver andern Gesetzgebungs-
factvren, daß die Opposition gegen das Zustandekommen jener Gesetze in der ersten
Kammer sowenig pflichttreue Mitglieder hatte. Nur die unter 3 und 4 ge¬
nannten Gesetze kamen zustande, als die erste Kammer nicht mehr versam¬
melt war. Aber konnte dies einen Zweifel gegen ihre Anwendung auf die
davon Betroffenen erschaffen? Wahrlich, nur die wunderbarste Begriffsver¬
wirrung und Nechtsunkenntniß kann Gesetze angreifen, die man selbst geschaf-
fen ober solche, deren parlamentarischer Behandlung man sich freiwillig und
eigenmächtig überhob.
Trotzdem reichte Fürst Karl von Oettingen-Wallerstein Namens seiner 22
Mandanten jene wunderbare Beschwerde vom 2. Febr. 18SL beim Bundes¬
tag ein.
Der Bundestag beschloß unterm -16. Juni 1864 die würtenbergische Ne¬
gierung zu näheren Erläuterungen aufzufordern. Diese erfolgten unterm 2.
November in einer sehr ausführlichen Auseinandersetzung des würtembergischen
Bundestagsgesandter Hrn. v. Reinhardt.
Der erste Theil der Schrift wiederholt die Anerkennung, daß allerdings
die persönlichen Rechte mancher Standesherrn durch die Gesetzgebung von
1848/9 einige Einbuße erlitten. Sie entwickelt zugleich die Geneigtheit der Re¬
gierung, die Folgen dieser Gesetzgebung, soweit es irgend mit dem lebendig
gewordenen Nechtsbestande vereinbar, auf gesetzlichem Wege zu vermitteln. Da¬
bei erfährt man aber zugleich, was davon bereits durch die directen Verhand¬
lungen zwischen der Negierung und dem Fürsten Karl Oettingen-Wallerstein
festgestellt wurde.
Ueber die Wiederherstellung der politischen und besonders persönlichen
Rechte der Standesherrn erzielte man nämlich ein beinahe vollständiges Ein-
verständniß. Dafür gestanden die Standesherrn zu, daß anstatt einer vollen
Aufhebung der Ablösungsgesetze vom 14. Apr. 48, vom 17, und vom 18. Juni
49 (s. o. 1, 2, S) nur eine Abänderung der die Standesherrn beschwerenden
Bestimmungen eintreten solle. — Wo es also politische Principien galt, ge¬
lang eine Verständigung, wenigstens scheinbar. Dagegen gestalteten die
Standesherrn ihre pecuniären Entschädigungssorderungen so exorbitant, daß
hier die Regierung nur mit dem materiellen Ruin des Landes den Ansprüchen
zu genügen vermocht haben würde. Sie forderten nämlich als Ablösung den
zwanzig fachen Werthbetrag nach der Abschätzung der letzten fünfzig Jahre,
serner eine 4V2procentige Verzinsung und überdies die Uebernahme dieser Schuld
durch den Staat. Und nun kam auch die politisch principielle Differenz. Die
Standesherrn hielten nämlich den Grundsatz sest, daß zwischen ihnen und der
Regierung allen hierher bezüglichen legislativen Maßnahmen stets eine be¬
stimmte Vereinbarung vorausgehen müsse, ehe die Gesetze dem Landtag vorge¬
legt würden. Die Regierung' dagegen konnte natürlich die Durchführung der
legislatorischen Vorlagen nur im Wege der Vereinbarung mit dem Landtage
zusichern.
So mißlang also einerseits die exorbitante finanzielle Speculation, ande¬
rerseits die versuchte Cludirung des Landtags, die angestrebte Octroyirung der
Gesetze, die offen geforderte Mediatisirung des Staates zu Gunsten der Allein¬
macht einer bevorzugten Kaste. Und grade diese Niederlagen scheint der Bun-
destag — wol ebenfalls mit Octroyirungen — in Siege umwandeln zu sollen.
Denn erst nach diesen Vorgängen wendeten sich die Standesherrn beschwerend
an ihn.
Die Erläuterungen der Würtembergschcn Regierung stellen nun weiter
dar, wie die Negierung bereits mehrfache Gesetzentwürfe eingebracht habe, um
den Verletzungen des Standesherrlichen Rechtszustandes gerecht zu werden. Unter
den für den soeben versammelten Landtag vorbereiteten Entwürfen bezeichnen
sie abermals sieben als auf dieses Ziel gerichtet. Es sind dies die Vorlagen
1) über den erimirten Gerichtsstand, 2) über die Verhältnisse des vormals
exemten Grundeigenthums und der Theilgemeinden, 3) über Abänderungen und
Ergänzungen der Gemeindeordnung, i>) über Ergänzung der Bestimmungen
über Gefälle und Zehntablösungen, 3) über privatrechtliche Leistungen für
öffentliche Zwecke, welche auf den Zehnten und Gefallen in Verbindung mit
andern Vermögensgegenständen haften, 6) über das Jagdwesen, 7) über die
besondern Rechte, welche den Standesherrn in Bezug aus Bewirthschaftung
und Polizei in ihren Waldungen und die Stellung der von ihnen angestellten
Forstbeamten gewährt werden sollen. — Infolge dessen culminirt nun die Nück-
äußerung der würtembergischen Negierung in dem Antrage, daß der Bundestag,
nachdem sein Beschluß vom 10. Nov. 48S3 selbst anerkannt habe, wie den ein¬
zelnen Regierungen Zeit gelassen werden müsse, um die seit -I8i8 erlassenen,
mit den Bundeögrundgesetzen nicht harmonirenden Gesetze zu beseitigen, die
Kläger abweisen möge, weil nicht entschieden sei, ob und inwieweit der von
ihnen erhobenen Beschwerde auf dem landesverfafsungsgemäßen, von der Re¬
gierung betretenen Wege abgeholfen sei und beziehentlich abgeholfen wer¬
den könne.
So liegen die Dinge im gegenwärtigen Augenblicke. Hoffen wir, daß der
Bundestag, den wahren Kern erkennend, welchen die Beschwerde der Standes-
herrn einschließt, dem Antrage der würtembergschen Regierung entsprechen
möge. Denn kann man sich auch zu der Lauterkeit der constitutionellen Prin¬
cipien, auf welche sie ihr Verfahren gegen die Standesherrn im vorliegenden
Falle stützt, keineswegs mit jenem unbefangenen Vertrauen verhalten, um darin
eben nur eine Wahrung des Staatsgrundgesetzes zu erblicken — leugnen läßt
es sich nicht, daß sie bisher in diesem Gange den verfassungsmäßigen Weg
einhielt. Man kann in dieser Anerkennung vielleicht sogar eine Erklärung sür
jene seltsam drohenden Aeußerungen des Herrn Ministers von Linden finden
und suchen, womit er in der Stuttgarter Kammersitzung vom 23. Nov. den
Antrag zurückwies, wonach die Vorlage der oben bezeichneten Gesetzentwürfe
aus die nächste Session vertagt bleiben sollte. Um so unbegreiflicher und für
das specifisch würtembergsche, wie nationaldeutsche Gefühl erschreckender möchte
es jedoch in solchem Falle sein, wenn Würtemberg wirklich, wie die sonst so
vorsichtige Fr. Postzeitung behauptet „dem kais. Cabinet von Se. Petersburg in
einer Denkschrift eine Apologie oder Rechtfertigung des Verfahrens seiner
Negierung gegen ihre Standesherrn unaufgefordert halte überreichen lassen."
Wäre es geschehen, so würde damit jene Stellung einer deutschen Ne¬
gierung zum Zaren freiwillig angenommen sein, welche ihr die Standesherrn
im Verhältniß zu sich octroyiren wollen, nämlich die. der vollkommenen Abhän¬
gigkeit von ihrem de>n plaisir.
Daß dies Ziel und Konsequenz der Standesherrlichen Ansprüche, wurde bereits
oben angedeutet. Aber es liegen" für diese Absicht noch deutlichere Beweise,
als in den Beschwerden des Fürsten von Oettingen-Wallerstein vor. Nämlich
in einer acccssorischen Klage des Fürsten v. Thurn u. Tarif, beim Bundes¬
tage angebracht durch dessen Bevollmächtigten, Herrn Vahlkampf zu Frankfurt.
Schon am 21. Juni 1864 hatte nämlich dieser auch als Publicist wohlbekannte
Sachwalter der sürstl. Thurn u. Tarisschm Interessen im Namen seines Man-
datgcbers eine Declaration gegen dessen angebliche Beeinträchtigung in seinen
Standesherrlichen Rechten durch die würtembergsche Gesetzgebung beim Bundestage
eingereicht. neuestens folgte eine abermalige Beschwerde gegen jenen Gesetz¬
entwurf, welcher auf Abänderung des Gesetzes vom 16. Juni 1849 aus¬
geht und betitelt ist: „Geh. betreffend die Ausdehnung des Amts- und Ge¬
meindeverbandes auf sämmtliche Theile des Staatsgebiets."
!, Der Geist, in welchem die Beschwerde sich im allgemeinen entwickelt, be¬
darf nach den bisherigen Auseinandersetzungen der Standesherrlichen Klagen
keiner besondern Bezeichnung. Interessant ist es dagegen, die Haltung und
Form kennen zu lernen, in welcher die Vertreter „konservativer Interessen"
sich gegen Regierungen bewegen, wenn sie ihre Sonderinteressen von deren
rechts- und verfassungsgemäßem Verfahren unsanft berührt wähnen. Indem
wir hier zu dem Ende einige charakteristische Sätze der Vahlkampfschen Be¬
schwerdeschrift folgen lassen, müssen wir es sogar dem redaktionellen Ermessen
überlassen, ob es dieselben unter den heutigen bundespreßgesetzlichen Zu¬
ständen wörtlich abzudrucken wagt.
Zunächst wird der würtembergschen Negierung mit dürren Worten jeder
Wille zur Erfüllung auch nur des Möglichen für die Befriedigung der Stan¬
desherrlichen Ansprüche kurzweg abgesprochen. „Vielmehr, — heißt es — ist
die Vermuthung begründet, daß die k/Negierung den Kern der Grundrechtöge-
setze beibehalten, nur die Form ändern, und indem sie die Sache unter den
Schirm einer neuen Legislatur stellt, ihre Grundsätze gegen den Vorwurf und
dessen rechtliche Folgen sichern will, daß sie den Grundrechten entflossen und
daher nach Maßgabe des Bundesbeschlusseö vom 23. Aug. 1861 umzubilden
seien." Weiter lautet dann die Anklage: „Schlosse nicht die der Negierung
schuldige Ehrerbietung ein solches Mißtrauen aus, so ließe die bisherige Hand-
lungsweise eher den Vorsatz annehmen, die Beschwerdeführer zu ermüden und
zu erschöpfen, als dem Rechte genugzuthun. Unter diesem Gesichtspunkte
würde jdie Vorbereitung von Gesetzgebungsacten, deren Inhalt den Verfasser
überzeugt, daß die Beschädigtem sich ihnen nicht fügen können, nur das Stre¬
ben nach Zeitgewinn verrathen und das System des Hinhaltens als eine
Spekulation auf die trostlose (so!) Lage der Betheiligten und aus die Hoff¬
nungslosigkeit aller zu betrachten sein, die am Ende ihre Ergebung bewir¬
ken soll." Natürlich fügt der schlaue Sachwalter bei: „Meinem durchl. Voll¬
machtgeber, gleich mir, liegt eine solche Auffassung fern." Doch einzig und
allein „die der Negierung schuldige Ehrfurcht tritt ihr entgegen und leitet
darauf hin, den betretenen Weg nur als einen Irrweg zu betrachten." Trotz¬
dem tritt jene Ehrfurcht dem Antrage nicht entgegen, daß Würtembergs innere
GesetzgcbungstlMgkeit unter die Präventivcensur des Bundestags gestellt
werden müsse. „Eine jahrelange traurige Erfahrung belehrt, daß ohne ener¬
gisches Einschreiten der hohen Bundesversammlung an Wiederherstellung des
Rechtes nicht zu denken ist."
Damit nun aber nicht der leiseste Zweifel bleibe, in welcher Art diese
Energie des bundestäglichen Einschreitens gedacht wird, schließt Hr. ValMmpf
seine Eingabe: „Ich trage daher gehorsamst daraus an, die k. würtemberg.
Regierung zu bewegen, die Projecte zu Gesetzen, womit sie die Beschwerden
der Standesherrn beschwichtigen will, vor der Verabschiedung mit den Stän¬
den zur Prüfung hoher Bundesversammlung zu bringen, und stelle anheim,
ob mir Gelegenheit geboten werden soll, die Interessen meines durchl. Man¬
danten zu wahren und hohe Bundesversammlung über den Einklang der Pro¬
jecte mit dem Rechte aufzuklären."
Also der souveräne würtembergsche Staat wird nach Hrn. Vahlkampss An¬
trag in seinem Gesetzesleben unter Vormundschaft des Bundestags gestellt; doch
nicht einmal dieser entscheidet selbstständig, sondern Hr. ValMmpf, Bevoll¬
mächtigter des Fürsten von Thurn und Tarif, in dessen PostVerwaltung als
juristischer Beistand angestellt, wird die Bundesversammlung über den Einklang
der würtembergschen Gesetzentwürfe mit dem Rechte aufklären; Hr. Vahlkampf
steht intellectuell über Würtemberg und dem deutschen Bundesorgan als ober¬
ster Gesetzredacteur oder Gesetzgebunscensor.
Sind naivere Wünsche der „Vertreter konservativer Interessen" zu er.
denken?
Was ich Ihnen heute zu berichten habe, ist wenig mehr, als daß alles
beim Alten steht, daß es in der Krim im allgemeinen nicht gut steht, dagegen
auch noch lange nicht so übel, als man gemeinhin meint. Wenn es darauf
ankommen sollte, die Position zwischen Jnkerman und Balaklava gegen die
Russen den Winter hindurch zu behaupten und während dessen Sebastopol
eingeschlossen zu halten, so würde diese Aufgabe von den alliirten Streitkräf¬
ten auch mit ihrem gegenwärtigen Bestände gelöst werden können; es wäre
dies eine Defensive, die kein weiteres Resultat zuwegebringen würde, als
der Welt zu beweisen, daß Rußland nicht im Stande ist, siebzigtausend anglo-
sranzösische Truppen von einem Punkt seines Gestades und von den Kanonen
seiner größten Festung zu verdrängen — auch nicht mit Aufwendung eines
ganzen Drittheils seiner disponiblen Streitmacht.
Seit dem -17. d. Mes. gehen indessen ziemlich massenhafte Verstärkungen,
sowol englische wie französische, hier durch nach der Krim und kaum ein Tag
vergeht, wo nicht mehre mit Truppen befrachtete Dampfschiffe anlangen, um
am andern Morgen ihre Reise nach Balaklava weiter fortzusetzen. Die Fran¬
zosen bedienen sich zu derartigen Transporten neuerdings außer den Dam¬
pfern wiederum wie im letzten Frühjahr der großen Linienschiffe. So langte
am 18. d. Mes. der Turenne hier an, ein Fahrzeug, welches im Sommer
in der Ostsee verwendet worden war und nunmehr die Aufgabe übernommen
hatte, 6000 Mann von Toulon nach den Küsten Tauriens zu transportiren.
Der mächtige Zweidecker trug wol nie zuvor eine ähnliche Menschenmenge.
Aus allen Stückpsorten schauten neugierig die Soldatenköpfe hervor und auf
dem Deck standen sie dicht gedrängt — kein Apfel schien zwischen ihnen zur
Erde zu können und es ist mir völlig räthselhaft, wie bei einer derartigen
Ueberfüllung die Leitung eines so großen Schiffs, zumal bei den Stürmen,
die es aus seiner Ueberfahrt im Mittelmeere auszuhalten hatte, möglich bleibt.
Die Engländer lassen ihre Krieger confortabler reisen. Riesensteamer wie
der Himalaya führen in der Regel nicht mehr als anderthalbtausend Mann.
Dagegen muß man bedenken, daß England weniger Truppen zu senden hat
und über mehr Schiffe disponiren kann.
Der Sturm oder Orkan in der Nacht vom Montag zum Dienstag (13. zum
November) der vergangenen Woche hat leider unermeßliche Verheerungen im
schwarzen Meere angerichtet. Genaue Nachrichten darüber liegen noch nicht vor,
indeß weiß man, daß an der Seestraße der Krim, zwischen Eupatoria und
der äußern Rhede von Sebastopol ein ganzer englisch-französischer Convoy,
aus dreißig und einigen Fahrzeugen bestehend, auf die Küste geworfen und
um nicht dem Feinde in die Hände zu gerathen/von der Mannschaft, die sich
rettete, verbrannt wurde. Der Schaden ist sehr groß, namentlich an Winter¬
kleidern, welche für die Armee bestimmt waren und am andern Tage gelan¬
det werden sollten, sowie an andern Effecten hat man einen enormen und
unter den obwaltenden Umständen doppelt schwer zu empfindenden Verlust
erlitten.
In diesem Augenblick schüttelt die Wohnung, in welcher ich Ihnen
schreibe, unter den Stößen eines neuen Sturms, der zwar dem erwähnten
an Heftigkeit nicht zu vergleichen ist, aber gleichwol auf dem Meere hart em¬
pfunden werden wird. Man muß bedauern, daß ein vor vielen Jahren ent¬
worfenes Project, einen schwimmenden Hafen zu construiren, zu keinem prak¬
tischen Resultat geführt hat; England würde Millionen daran setzen, wenn
es ein derartiges schwimmendes Bassin gegenwärtig vor Sebastovol hinlegen
und darin seine Schiffe in Sicherheit bringen könnte.
Für die innere Parteigeschichte des türkischen Reiches ist der letztvergan¬
gene Donnerstag (23. November) nicht ohne Bedeutung. Wie Sie bereits auf
telegraphischem Wege erfahren haben werden, wurde Neschid Pascha an jenem
Tage zum Großvezier ernannt, ein Amt, welches er schon zu mehren Malen,
und unter andern in der langen Periode vom September 1866 bis zum Früh¬
jahr 1832 bekleidete. Seine leer gelassene Stelle als Minister der auswärtigen
Angelegenheiten ist von Aali Pascha (nicht Ali) eingenommen worden, der¬
selbe, welcher sie in der erwähnten Vezieratsepoche innehatte, der nachher
Gouverneur von Smyrna wurde, aus Anlaß des Koßtahandels gestürzt wurde,
und neuerdings zum Ne'is (Präsidenten) des Tansimatconseils ernannt wor¬
den war.
Wenn auch mit der Gelangung Neschids zur höchsten Gewalt kein Systems¬
wechsel verbunden sein wird, denn seit Ausbruch des Krieges ist es Lord Strat-
ford, der durch ihn den türkischen Staat leiten läßt und in dieser Leitung kann
sich nichts aus Anlaß des erwähnten Vorkommnisses ändern, so bezeichnet
nichtsdestoweniger die Placirung des den Reformen am günstigsten gesinnten
Ministers auf, der obersten Stufe türkischer Beamtung das völlige Obstegen
der Partei desselben über ihre Gegner.
Im gemeinen Volke steckt hier, wie allerwärts, nur wenig politischer Ver¬
stand, und es ist in dieser Beziehung bezeichnend, daß man in Stambuls Kaffee¬
häusern die Erhebung Reschids als ein Zeichen der Friedensliebe und des Ein-
K'nkens behufs einer Verständigung mit Rußland betrachtete. Man kann sich
darüber umsoweniger wundern, jemehr man erwägt, wie verhaßt der neue
Großvezier unter den Massen ist und daß seine Gegner unter der alttürkischen
Fraction im Divan ihn von jeher als einen vom Zaren bestochenen Verräther
hinzustellen suchten. Daß er der Automat ist, den Lord Stratsord in Bewegung
setzt, versteht natürlich ein osmanischer^Hadschi Baba (Vater-Pilger),, ein recht¬
gläubiger Kaikschi (Kahnführer) und ein türkischer Pastetenbäcker nicht, und
vermag solches Verhältniß durchaus nicht zu sassen.
Meiner Ansicht nach kann man sich damit zufrieden geben, wenn England
hier dominirt. Seine diplomatische Herrschaft ist wol °der jedes andern Staats,
der daran denken möchte, eine solche auszüben, vorzuziehen, ganz entschieden
aber halten die Staatsmaßnahmen unter der Aufsicht des Lords eine sicherere
Bahn inne, als wenn ein Alttürke, wie Mehemed Ali Pascha, sie selbstständig
vorzuzeichnen hätte. Man wolle sich nur an die Wirrnisse erinnern, welche
das Jahr 18S2 schlössen, und das nachfolgende (18S3) einleiteten. Bei un¬
parteiischer Beurtheilung wird man auch nichts von der vielverschrienen eng¬
lischen Selbstsucht in dem wahrnehmen, was Se. Herrlichkeit als britischen
Rath den osmanischen Ministern an die Hand gibt. Lord Stratsord de Red-
cliffe ist ein Mann, der sehr wohl von politischen Intriguanten a la Lavalette
unterschieden werden will und dessen Manieren ebensosehr von dem brüsten
Auftreten eines Menschikoff abweichen. Alles in ihm und von ihm deutet auf
den ruhigen, Überlegsamen, maßhaltenden, aber dabei consequenten und festen
Charakter. Jeder, der Gelegenheit gehabt hat, ihn zu sehen, wird schon aus
seiner äußeren Erscheinung diese Grundzüge herauserkannt haben, so offen gibt
er sich, bei all seinem sonstigen diplomatischen Wesen.
Man redet seit kurzem hier nicht mehr über Herrn Thouvenel, von dem
es hieß: er werde nach Konstantinopel gesendet werden, um Frankreich daselbst
als Ambassadeur zu vertreten. Wie es scheint, will Kaiser Napoleon Hi. der
Entstehung eines neuen Conflicts, im Sinne jenes ersten zwischen Paraguay
und Stratsord ausweichen, indem er das etwas reizbare, leicht verletzliche Na¬
turell des letzteren fürchtet, zugleich aber von der Solidarität der französischen
und englischen Interessen im Orient zu sehr überzeugt ist, um eine zeitweise,
speciellere Vertretung der ersteren für nöthig zu erachten.
Herr Benedctti ist, nach wie vor, kaiserlich französischer Geschäftsträger,
und wenn hier nicht Name und Rang in Anschlag kommen, konnte Frankreich
kaum durch einen andren Diplomaten besser repräsentirt werden. Der in Rede
Stehende hat im besonderen eine ausgezeichnete Localkenntniß ^ur sich, und
war schon unter seinen früheren Chefs die eigentliche Seele von deren diplo¬
matischer Action.
Das Wetter ist, seit einer Reihe von Tagen, ganz ungewöhnlich mild.
Die meisten Bewohner Stambuls haben wol seit einer Woche der Kohlenbecken
in ihren Zimmern nicht bedurft. Heute scheint die Sonne beinahe heiß und
brennend, und wenn nicht ein leichter Sturm aus Süd dann und wann sein
Brausen vernehmen ließ und Fenster und Thüren zittern machte, könnte man
sich in den Monat Mai versetzt glauben.
Wer auch nur oberflächlich mit den innern politischen Zuständen des
osmanischen Reiches vertraut ist, wird den Gegensatz kennen, welcher in den
beiden dem Sultan so nahe stehenden Persönlichkeiten Reschid Paschas und
Mehemed Alis, des frühern Kriegsministers und Großveziers, dessen Sturz
vom 28. Januar d. I. datirt, ausgesprochen ist. Sie sind die Vertreter nicht
sowol zweier Parteien, denn man kennt in diesem Lande nichts, was dem
Begriff unsres Factionswesens gleichkäme, als vielmehr zweier, in den Köpfen
der Massen lebendigen Principien. Der eine, Reschid, ist der ältere, stand un¬
gleich öfter wie sein Nebenbuhler in vorderster Reihe, war viele Jahre hin¬
durch saber Asam oder Großvezier und gilt für den türkischen Reformer par
ercellence. Mehemed Aali Pascha dagegen ist Haupt der Alttürken, der An¬
hänger des Hergebrachten und in heutigen Tagen ist dies mit Christenseind
und Fremdenhasser einerlei.
Wer ist aber Aali Pascha, der in der Ueberschrift dieses Aussatzes neben
Reschid hingestellt ist? Welcher Partei gehört er an? oder vielmehr, zu wel¬
chem von den beiden erwähnten Principien, dem des Alten oder Neuen, be¬
kennt er sich? Ist er Reformer oder Altgläubiger?
Die Antwort darauf ist nicht jedermann jetzt so geläufig, als sie es frü¬
her für die Leser der orientalischen Zeitungsartikel gewesen sein mag. Jeder
Tag, den ein Staatsmann zweiten Ranges in dritter und vierter Linie oder
außer Amt zubringt, läßt den Kreis seines Bekanntseins enger werden, und
wenn er auf längere Zeit den großen Geschäften entzogen bleibt, wird er end¬
lich zu einer völlig obscurer Person. Beinahe kann man sagen, daß es Aali
Pascha so ergangen sei. Der Mann, welcher so lange Zeit hindurch dem Gro߬
vezier Reschid zuerst als Mustaschar (Minister deö Innern) und dann als
Kharadschijie Naserl (Minister des Aeußern) zur Seite gestanden und in diesen
beiden Eigenschaften eine Hauptstütze deö Reformcabinets gewesen, wird im
Auslande und selbst in der Frankenstadt Pera kaum noch gekannt. Aber desto
verbreiteter ist sein Name unter den Türken selbst, soweit dieselben Antheil ein
der Politik nehmen, und dazu kann man kaum andere als die Bewohner von
Stambul und die beiden Korporationen der höhern weltlichen und geistlichen
Beamten rechnen. Der echte alte Muselmann haßt Aali Pascha als den Hel-
scrshelfer des Schetann (Teufels), Reschid als den Mann, der als er saber
Asam war (vom 3, August bis 7. October 1832) die Pforte tief durch den
französischen Gesandten Lavalette demüthigen ließ, und rechnet ihm nach, was
er bei andern übersehen wird, daß man an seinem Tische Wein trinkt und
mit Messern und Gabeln ißt.
Ich will hier nicht auf eine Darstellung der Lausbahnen von Reschid und
Aali Pascha eingehen, sondern mir einfach zur Aufgabe stellen: beide Männer
hier kurz zu charakterisiren. Von beiden gilt, daß sie nicht durchweg Farbe
gehalten haben, was überhaupt wenige Minister im Orient von sich rühmen
können, eben weil der Begriff von.Partei hier sehlt, oder mindestens nicht so
schroff hingestellt wird wie bei uns. Im ganzen und großen sind sie aber der
Richtung, für welche sie sich rücksichtlich der Leitung des Staates entschieden,
treu geblieben, was unter den hiesigen Verhältnissen, wie sie nun einmal sind,
immerhin Anerkennung verdient.
In ihrer äußeren Erscheinung sind beide Minister einander wenig ähnlich.
Reschid Pascha ist von kleiner und schon ziemlich gebeugter Gestalt, sein Haar
ist grau, das Gesicht trägt den echt türkischen Ausdruck und wird von einer
langen, gebogenen Nase und hochgewölbten Augenbrauen beherrscht. Seine
Augen sind, wenn ich mich entsinne, grau und in ihrem Blick spricht sich, ich
möchte sagen, Schlauheit gepaart mit rückhaltender Bescheidenheit aus, ohne
daß die ganze Physiognomie den Eindruck höherer Begabung macht.
Aali Pascha ist viel jünger als Reschid, vielleicht erst ein hoher Drei¬
ßiger, und man dürfte ihn, im Gegensatz zu diesem, der nichts weniger als
schön ist, einen hübschen Mann nennen. Sein Profil ist ziemlich fein geschnit¬
ten, das Auge lebhaft, und seine Mienen drücken Wohlwollen und jene höhere
Klugheit aus, die man in den Zügen Reschids unvertreten findet. Er ist Dich¬
ter, was, wie ich höre, hier grabe nicht viel zu sagen hat, und gehört zu den
wenigen Osmanen, die sich eine fließende französische Aussprache angeeignet
haben. Auch Englisch liest er, ohne es zu sprechen. Außerdem soll er Italienisch
lesen, sprechen und schreiben.
Mir ist nicht bekannt, von welcher Herkunft Reschid Pascha ist; sein College
Aali schreibt seinen Ursprung aus der Hütte eines Schissskalfatererö, seines
Pflegevaters her, der während seiner Jugend für ihn Sorge trug, und von ihm
nicht vergessen wurde, als er später in das Serail und zu den höchsten Aem¬
tern gelangte. Dieser Zug ist liebenswürdig, aber er verdient hier im Orient
vielleicht noch ein größeres Lob, als bei uns. Die Dragomans der englischen,
französischen und östreichischen Gesandtschaft trafen oft den Alten auf dem
Divan, neben dem Minister sitzend und den Tschibuck „trinkend".
Wie Sie wissen, ist Aali Pascha, gleichzeitig mit der Erhebung Reschids
zum saber Asam, Minister der auswärtigen Angelegenheiten geworden. Man
verspricht sich von dieser Cabinetsmodification, wie ich schon in meinem Wochen¬
bericht äußerte, keine politischen Veränderungen, aber das Ministerium ist da¬
durch seiner Zwitterhaftigkeit ledig geworden, und zu einer festeren Gestaltung
gelangt.
—Endlich hat Rußland sich dazu bequemt,
den bekannten vier Präliminargrundlagen beizutreten. Es ist dies am 28. No¬
vember durch Note des Fürsten Gortschakoff, außerordentlichen Gesandten am Wiener
Hofe, an den Minister des kaiserlichen Hauses und des Aeußeren geschehen. Wie
ich höre, erklärt darin der Fürst Namens feines Monarchen rein und einfach, daß
dieser die vier Vorschläge des Wiener Hofes als Ausgangspunkt der Friedensunter-
handlung annehme. Jeder beschränkende oder erläuternde Beisatz fehlt, so daß die
Annahme wirklich so unbedingt und rückhaltslos erscheint, als sie von Oestreich in
seiner Note vom 10. August verlangt worden war. Die Annahme erfolgte gleich¬
sam in der elften Stunde, zwei Tage nach Unterzeichnung des Zusatzartikels zum
Tractate vom 20. April und vier Tage vor jener des Allianztractates zwischen Oest¬
reich und den Westmächten. Es ist klar, daß es nicht einerlei ist, daß Nußland
statt Ende August erst Ende November den Weg, der zur Aussöhnung führen kann,
betritt. Wir vermögen erst dann wirkliche Fncdenshoffnungen zu hegen, wenn ein
Element hinzutritt, das jetzt noch fehlt. Dieses Element heißt Anschließung Preu¬
ßens, dem der Platz dazu offengehalten worden, an die Allianz vom 2. December.
Nur wenn Oestreich und die Wcstmächte sicher ans Preußen als aus einen Freund
und Bundesgenossen rechnen können, wird Rußland die Nothwendigkeit ernstlich er¬
kennen, der Welt den Frieden zu gewähren, den sie bedarf, und werden jene drei
Großmächte mit Vertrauen an das Friedenswerk gehen. Oestreich hat natürlich die
Erklärung des Fürsten Gortschakoff zur Kenntniß seiner Verbündeten gebracht, und
die westlichen Großmächte werden nicht umhin können, das zu thun. was in dem
Allianztractat für den jetzt eingetretenen Fall vorgesehen ist, nämlich sich in
Friedensverhandlungen einzulassen. Um aber die Ueberzeugung zu gewinnen, daß
die Annahme der vier Punkte als Ausgangspunkt der Verhandlungen von Seite
Rußlands keine Finte, kein Versuch blos zur Gewinnung von Zeit und der Meinung
der Welt sei, muß diese Macht ganz isolirt sein, müssen alle Mächte Europas ihm
gegenüber und für das Recht stehen. Solange Preußen nicht der Allianz zwischen
Oestreich und den Westmächtcn beigetreten ist, kann man nicht sagen, daß das
Concert enropvcn vollbracht sei, und wird man stets zu besorgen haben, daß es Ru߬
land nicht ernstlich mit seiner Nachgiebigkeit meint. Es liegt also in Preußens
Händen jetzt insofern eine große Entscheidung als sein Beitritt zu der Allianz mit
den Seemächten die Gewähr geben würde, daß der russische Hof wirklich Frieden
schließen will, und das muß vor allem feststehen, bevor der Friede Zustandekom¬
men kann.
Nachtrag der Redaction. — Es ist das unzweifelhaft ein großer Erfolg,
den die Haltung des civilisirten Europa über den Uebermuth Rußlands davonge¬
tragen hat. Stellt man dies letzte Factum mit den ersten Noten Nesselrvdcs zu¬
sammen, so ist die moralische Niederlage Rußlands ungeheuer. — Aber genügt
diese? Wir glauben nicht. — Die Garantien, die Rußland bietet, müssen mate¬
rieller Art sein, Verträge werden solange gehalten, als die Konstellation dauert,
die sie herbeigeführt hat. Und die gegenwärtige Konstellation dauert vielleicht nicht
lange. Gelingt es Rußland, sich durch blos moralische Garantien der gegen¬
wärtigen Noth zu entziehen, so wird es sehr bald Gelegenheit finden, dem Nachbar¬
staat, der seinen Wünschen und Voraussetzungen sowenig entsprochen hat, seinen
Dank abzustatten. — Oestreich muß vor allem daran liegen, daß der Friede unter
seiner andern Bedingung zustandekommt, als mit materieller Schwächung
Rußlands. — Schleifung von Sebastopol. Reduction der Flotte, Zahlung der
Kriegskosten, Uebertragung des Donanprotectorats an Oestreich — wenn Nußland
selbst daraus eingeht, dann sei der Herr der Heerscharen gepriesen, der Europa
einen blutigen Krieg erspart! — Wenn aber nicht — dann werden es die edlen
Herzen der Franzosen und Engländer nicht zugeben, daß die Leichen ihrer Braven
ohne Frucht die Felder der Krim düngen. — Und sollte dann noch ein Feldzug
nöthig sein, dann werden auch die Bedingungen sich ändern.
— Der Sundzoll und die Vereinigten Staaten von
Amerika. Bremen, 1854. E. Schünemann. Die vortreffliche Schrift, der
Sundzoll und der Welthandel, (Leipzig, Gustav Mayer) ist ftüher in diesen
Blättern angezeigt. Die vorliegende ist eine Fortsetzung derselben, sie enthält die
Verhandlungen der Regierung der Vereinigten Staaten über die Sundzollfrage nebst
den betreffenden Ackerstücken. Es ist bekannt, in welch energischer Weise dieser
außereuropäische Staat durch die bloße Erklärung seines festen Willens die Dänen
zur Nachgiebigkeit gezwungen hat. Und lehrreich auch sür uns sind die Verhand¬
lungen zu Washington, die kurze Weise, in welcher die Amerikaner über den „Ue-
berrest des Piratcnwcsens," wie sie den Sundzoll nennen, aburtheilen, und die
kalte Energie, mit welcher sie den Ausflüchten Dänemarks begegnen. Von den
preußischen Handelskammern sind in diesen Monaten aufs neue der preußischen
Regierung dringende Vorstellungen über den großen Druck gemacht worden, welchen
der Sundzoll ans den Handel der Ostseehäfen ausübt. Kaum steht zu hoffen, daß
dieselben grade jetzt Erfolg haben werden, selbst das Gerücht von einem desfallsigen
Antrage Preußens in Kopenhagen oder London bedarf noch der Bestätigung. Auch
ist zu befürchten, daß selbst eine resignirte Offerte Preußens, der Vorschlag, den
Sundzoll mit Geld abzulösen, noch in diesem Augenblick nnr laue Aufnahme bei
den Seemächten finden würde. Es ist die Zeit gekommen, wo man nur dem
Starken etwas bewilligt. Dennoch ist den preußischen Industriellen der dringende
Wunsch auszusprechen, daß ihre Agitation sür diese Lebensfrage des preußischen
Handels uicht nachlassen möge, und es wird gut sein, wenn in Preußen allgemein
bekannt wird, welche Summen Dänemark unter russischem Schutz bis jetzt von
dem preußischen Handel erhoben hat, denn wenn der Tag kommt, an welchem über
einen neuen Frieden in der europäischen-Staatenfamilie berathen wird, dann wird
auch diese Frage ihre Erledigung finden müssen. Dem Herausgeber der ange¬
zeigten Broschüre aber ist man Dank schuldig sür seine klare und dringliche Dar¬
stellung des Sachverhältnisses.
— Paris ist die Geliebte aller Touristen und darum hören
wir nnr selten die Wahrheit darüber. Jeder schmückt es aus mit allen Reizen
seiner Phantasie und legt in die Schilderungen die Liebe, welche die reizende Fee
allen Sterblichen einzuflößen weiß. Paris ist der Spiegel des Faust, in dem der
Reisende das Bild seiner Helena erblickt, und weil gewöhnlich vorausgesetzt wird,
daß man Paris kennt, lesen wir in den Reisebüchern und Souvenirs de Paris
weniger eine Schilderung des wirklichen Paris als mehr oder minder künstlerische
Bilder und Genreskizzen aus dem Leben von Paris, wie es der mit der Eisenbahn
Kommende auf Dampfesflügeln durchbrausend zu sehen glaubt. Die Gestaltung
dieser Beschreibungen und Schildereien richtet sich natürlich nach den beschreibenden
Persönlichkeiten selbst und man kann nicht leicht besser Bekanntschaft mit jemand
machen, als wenn man ihm ans seinen Spaziergängen durch Paris folgt. Paris
lernen wir selten auf diese Weise kennen, den Reisebeschreiber fast immer und oft
auf eine zu gründliche Weise. Paris hat noch eine andre Eigenthümlichkeit. Es
macht auf den Beschauenden einen so lebhaften Eindruck, daß er darüber alles ver¬
gißt, was vor ihm geschrieben und oft besser dargestellt worden ist, und sich ver¬
pflichtet glaubt, wieder von vorn anzufangen und uns durch eine aller Welt ge¬
läufig gewordene Bildergalerie zu führen. Es ist eben wieder wie bei Verliebte».
Diese merken nie, wie langweilig oft andern der Enthusiasmus, den sie'für die
Geliebte fühlen, werden kann, wenn derselbe nicht in wahrhaft künstlerischen Ge¬
staltungen seinen Ausdruck findet. Diese Betrachtungen drängen sich mir immer
wieder aus, so oft ich ein neues Buch über Paris sehe, und bei der Lectüre des
Werkes von Emma Niendorf bemächtigten sie sich meiner mit so großer Gewalt,
daß ich sie fast bei keinem Capitel loswerden konnte. Damit man hierin keinen
zu scharfen Tadel sehe, bemerke ich gleich hier, daß das Büchlein lesenswerth ist
und für den, der Paris nicht kennt, anch amüsant sein wird. Es ist besser, als
viele Schriften, die jährlich über Paris veröffentlicht werden, aber es trägt anch
mehr wie andere den Mangel der Flüchtigkeit und Unvollständigkeit an sich.
Man merkt es ferner der Verfasserin zu sehr an, daß sie bei allem, was sie
sieht und was sie hört, sich ängstlich fragt, was werde ich darüber in meinem Buche
über Paris sagen und das wirkt sehr unerquicklich. Ost, wenn sie ihr Tvuristen-
metier vergißt und natürlich wird, macht Frau Emma Niendorf vortreffliche Bemerkun¬
gen nud sehr gute Apercus und wir wünschten dem Buche blos, daß die Verfasserin
ihrer Natürlichkeit nicht zu häufig untreu geworden wäre. Bei Gelegenheit ihrer
ziemlich lebendig gehaltenen Schilderung der Boulevards sagt sie von, der deutschen
Modesucht: „sie hat immer etwas Barbarisches, einige Familienähnlichkeit mit dem
Glasperlenschmucke jener Südseeinsulaner, mehr als mit der Feinheit der Pariser
Eleganz; und welche Opfer ihr auch bringen möget, es wird nie gelingen, in der
letzten, höchstens nur in der vorletzten Fashion sich zu brüsten. Unglückliche Liebe!
jagt nicht nach einem dreifachen Phantom, das euch stets wieder unter den deutschen
Fingern zerrinnt. Resignirt und penstonirt euch lieber in eine eigenthümliche
Schlichtheit hinein, die euch interessanter macht als jene, ich wiederhole es,
hoffnungslose Aefferei, welche zudem Haus und Geist gefährdet." Man kann das
nicht besser sagen, und es wäre der Niendorfschen Schreibart zu wünschen gewesen,
sie hätte sich das Recept der Schlichtheit gemerkt. Aber da erinnert sie sich an
den Vorwurf, den irgendein Franzose den deutschen Romanen und Novellen gemacht:
„cjuk cela n« mgrelio pus" und sie überstürzt sich, in ihren Epitctcn charakteristisch
sein wollender Phrasen und Maximen, so daß sie sich häufig bis zur Unverständlich-
keit, zuweilen zu baarem Unsinn verrennt. Ihr Stil gemahnt mich an eine komische
Figur in Hoppcs „Doctor Fausts Hauskäppchcn", die sich in ähnlicher Weise aus¬
drückt. „Hereinkunft des Vaters — Ueberraschung — Furcht — Fußfall — Reue
— Verzeihung — Heirath — Tableau." Dieser Stil paßt allerdings zu der
krankhaften Hast, mit der sich die Verfasserin auf alles stürzt, was von ihren Vor¬
gängern und Vorgängerinnen als sehenswerth bezeichnet wird. Wäre es aber
nicht besser gewesen, weniger mit mehr Aufmerksamkeit und gründlicher zu sehen,
als Paris so zu durchbrausen, wie ein Engländer den Louvre durchrast, ohne mehr
als die Namen der berühmten Maler von den Wänden hcrnnterzulcsen? Diese
Hast spricht sich fast in allen Abtheilungen aus — die Verfasserin findet selten
Ruhe bei einem Gegenstande, auch nur bei einem Spaziergange, sie wirft vieles
durcheinander und wer einen Plan von Paris zur Hand nimmt und ihren Wan¬
derungen folgt, der kann sich überzeugen, welch unrichtiges Bild er von der Topo¬
graphie von Paris erhält — wer Paris kennt, wird bei manchen Gelegenheiten
dieselbe Verwirrung auch in der Anschauung vom geistigen Paris finden. Von
dem Börsenplätze bis zur Jean Jacques Ronsseaugasse ist lauge nicht der größte
Sprung, den die flinke Dame gemacht. Was hat das aber sür einen Sinn, welcher
geistige Zusammenhang ist zwischen dem, was sie über die so ganz ohne Uebergang
berührten Punkte der Stadt sagt? „Die Halle an M fordert einen Blick mit
ihren Ausgängen nach vier Seiten...... Hier errichtete König Johann das
Hütet des Nesle, schenkte es Ludwig IX., welcher es seiner Mutter, der Königin
Blanche, überließ. Im Besitze des Johann von Luxemburg, Böhmens König,
hieß es Hotel de Bohvme. Ludwig XII. verwandelte es in ein Kloster der Büßerin¬
nen, bis es durch päpstliche Bulle von einem Palaste der Katharina von Medicis
verdrängt, Hotel de la reine, bei deren Ableben an Karl Bourbon, Sohn des Prinzen
von Conti, verkauft, Hotel de Soissons genannt. Nur eine dorische Säule an der
Südmaucr blieb übrig. So find die meisten Erinnerungen von Paris nur mehr
auf dem Papiere. Wie der Landmann seinen Acker, pflügt die Geschichte diesen
Boden immer von neuem um."
Diese Halle an die ist nicht grade derjenige Bau von Paris, welcher die
merkwürdigsten Schicksale erlebt hat, wenn aber seine Geschichte erzählt wird,
so verlangten wir doch mindestens eben die Ausführlichkeit, mit welcher uns die
Reise nach den beiden Wohnungen oder die Speisekarte vom Restaurant du Havre,
oder der Geisterabend und der elektrische Seecapitän beschrieben wird. Der Leser
mag selbst urtheilen, ob es fich der Mühe lohnte. Ich weiß nicht, von wem es
erbaut wurde. Genug, im Jahre 1230 war es im Besitze des Burgherrn von
Brügge, Johann II., Seigneur de Nesle. Später schenkte er es dem heiligen Ludwig
und dessen Mutter, der Königin Blanche, welche im Jahre 12S2 daselbst starb.
1327 verkaufte Philippe von Valois es an den Lützelburger Johann, der es
lange Zeit bewohnte und nach ihm hieß es Bvhüme oder Buhaigne. Im vier-
zehnten Jahrhundert noch kam es an den Duc de Touraine, genannt Herzog von Or¬
leans. Nach dem Herzoge' bezogen es die Filles penitentes de la Magdclaine.
Erst 1572 brachte es Katharina von Medicis an sich und gab ihm den Namen
Hotel de la reine. Ans Furcht nämlich vor der einer Prophezeihung zufolge ge¬
fährlichen Nachbarschaft von Se. Germain Lauxerrois beschloß die Königin, das
noch nicht vollendete Schloß der Tuilerien zu verlassen und wählte das alte Hotel
des Herrn von Nesle. Die dasselbe seit anderthalb Jahrhunderten bewohnenden
Büßerinnen wurden nach der Abtei der heiligen Magdalene gebracht, damit die
Bannkrankheit der Königin Katharine ganz freien Lauf habe. Cosmo Ruggieri, der
schlaue Florentiner, war der Gebieterin mit seinen astrologischen Apparaten in den
umgebauten Palast gefolgt, sie überließ ihm den schönsten Theil zur Einrichtung
für sein Laboratorium. Ruggieri beherrschte die abergläubische Königin ganz und
verkaufte ihr seine Geheimnisse um einen Preis, wie ihn nur gekrönte Häupter be¬
zahlen können; für eine kabbalistische Medaille, welche die Königin trug, erhielt er
eine Abtei.
So prachtvoll es auch gewesen sein mochte, das neue Laboratorium genügte
dem Charlatan bald nicht. Er verlangte eine Sternwarte, von welcher aus er die
ganze Stadt zu beherrschen im Stande wäre und ungestört den Lauf der Gestirne
beobachten könnte. Ruggieris Wünsche waren für die Medicecrinn Befehle, sie
beeilte sich, den verlangten Bau ausführen zu lassen. Er wurde ihrem Architekten
Bulkane anvertraut, welcher durch Maugel an Raum zu dem glücklichen Gedanken
gebracht wurde, die Sternwarte in eine schlanke, hundert Fuß hoch aufstrebende
Säule zu stecken. Eine Schneckentreppe, wie in der Trajanssäule, sollte hinauf¬
führen. Ans dem Gipfel brachte er kabbalistische Symbole an, damit auch das
Aeußere den Zweck des Baues verrathe. Nach dem Tode Katharinens und nach
vielen verschiedenartigen Schicksalen kam das Hotel in die Hände von Karl Bour-
bon, Grasen von Soissons, von dem es den Namen Hütel de Soissons erhielt. Es
blieb unverändert und selbst die unnütz gewordene, aber graziöse Säule wurde ver¬
schont. Die Fremden bewunderten sie ebenso, wie die schöne Venus von Jean
Goujvn, welche sich auch in diesem Hotel befand. Unter den folgenden Regierungen
wechselte das Hütel de Soissons oft den Herrn, wie nus Terrassau in seiner 17S8
herausgegebenen Geschichte erzählt. Fräulein Scudery und ihr Bruder befinden
sich auch unter den Bewohnern des Hotels. Ein Theil desselben war oft übel ge¬
wählten Insassen vermiethet, aber der größere ward von den Prinzen von Sa-
voien, während ihres Aufenthaltes in Paris, bewohnt. Thomas Franz von Savoien,
Prinz von Carignan und Eugen Moritz von Savoien wohnten lange in diesem
Hotel. Es wurde die Geburtsstätte zweier großer Generale jener Zeit, Wilhelm
von Baden und Prinz Eugen.
Es gehörte ein größeres Vermögen dazu, als das der Prinzen von Savoyen,
um eiuen solche» Palast zu erhalten. Die Carignan ließen zuerst die Kapelle in
Verfall gerathen und der andere Theil des Gebäudes wurde den Spielhöllen der
Zeit, dem Lansauenct und dem Triktrak geöffnet. Die Regierungen nahmen sich
den socialen Fall des Hotels von Soissons zu Herzen und verschiedene ministerielle
Erlasse verboten das Spiel. Es wich, um der Schwindelei Platz zu machen. Im
Jahre 17-18 wurden die Bureaus der Zettelbankim Schlosse installirt. Law wollte
es im nächsten Jahre an sich kaufen und bot dem Prinzen von Carignan ein und
eine halbe Million Franken, wurde aber zurückgewiesen. So wanderte er mit der'
Börse jener Zeit nach der berühmten Rue Quincampoix.
Man hatte verschiedene Absichten mit dem Hotel. Vor Law sollte es in ein
Theater umgewandelt werden, und schon Colbert wollte es schleifen lassen, einen
Platz daraus machen, in dessen Mitte sich eine Reiterstatue seines Königs erheben
würde. Alles war schon sertig, Plan, Modelle, der Marmor bereit, die Bronze
angeschafft — — da starb der Oberintcndant und mit ihm sein Entwurf. Im
Jahre 1748, als die Abtragung des Hotels wirklich begonnen hatte, machte Gresset
den Vorschlag, man solle aus den Gipfel der Säule eine Reiterstatue des geliebten
Ludwig XV. stellen. Piron hielt dem unglücklichen Poeten vor:
II 1An5 Ztrs un netsvool^es
?c»ir x vunloir xlsesr w roi
L'est <tu vmnHusur <Is Vonteuoz'
?Ars um 8t. Lirason LtMte.
Die Säule wurde, Dank sei es all diesen Entwürfen, gerettet. Im Jahr
I7ö0 war sie arg bedroht, denn das Hotel war schon ganz niedergerissen, man
befürchtete, die Sternwarte Nuggieris könnte dem Ban einer Koruhalle hinderlich
im Wege stehen. Herr Bernagc, der Prevot der Bürger, sprach sich fürs Nieder¬
reißen ans. Aber Herr von Bachaumout, der Verfasser der Memoires Secrets, rettete
ihr das Leben. Er begab sich aufs Stadthaus, kaufte die Säule um
Franken und verlangte blos, daß man sie erhalte. Erst in unsrem Jahrhundert
wurde ein Brunnen daran gebaut, nachdem gegen Ende des vorigen Jahrhunderts
der Pater Pingri eine Sonnenuhr auf die Spitze gemalt hatte.
Diese flüchtige Skizze mag dem Leser genügen, um zu zeigen, wie die Ver¬
fasserin an Jnteressanten, Belehrendem vorbeigeht, um uns mit der gewöhnlichen
Touristeunahruug zu speisen. Die Ankunft — die Abreise — der Abschied von
Nachbarn, Freunden und Portier mag für den intimen Briefwechsel von Werth sein.
In einem Buche verlangen wir getreue Beschreibungen oder poetische Darstellungen,
bei denen der Leser gleich heransfühlen muß, daß Jdealisirung oder humoristisches
Anschauen der Dinge dem Schriftsteller als Zweck vor Augen geschwebt habe.
Die Schilderung zum Beispiel des Salons von Madame dAgout, wenn wir
schon zugeben sollen, daß er als Pariser Salon ein Capitel in ihrem Buche ver¬
dient habe — was erfahren wir daraus? Man gibt uns eine Reihe von Namen,
aber weder ein Bild von der Hausfrau, noch eine Idee von der Gesellschaft, noch
einen Begriff von der Konversation in dem Salon und der wäre doch in diesem
Falle die Hauptsache, mochte man meinen. Nicht anders ist der Besuch bei Cousin,
bei George Saud und bei Heine behandelt. Wer kann sich von George Sand eine
Vorstellung nach dieser Schilderung machen? Ist das Gespräch mit dem Portier von
Lamartine nicht ebenso interessant als das mit der berühmten Dichterin, mit Frank¬
reichs größter Schriftstellerin? Wenn man von solchen Persönlichkeiten nicht mehr
zu sagen weiß, so ist es besser, ganz über sie zu schweigen.
Es ist natürlich, daß man in wenigen Wochen nicht einen Gegenstand wie
Paris bemeistern lernt und es ist schon dankenswert!), wenn neben Unbedeutenden
manches unterläuft, was richtig gesehen und gut beschrieben ist.
Die Beschreibung der Kunstausstellung durste als etwas Vorübergehendes seh-
im, aber wenn sie uns geboten wird, würden wir doch wenigstens mehr erwarten,
als in jedem Zeitungsbericht zu lesen ist. — Wir bekommen aber weder einen all¬
gemeinen Ueberblick der Kunstznständc des heutigen Frankreich, noch werden die be¬
deutendsten Werke auch mir erwähnt. Bei Gelegenheit der Straßenphysiognomie
sagt die Verfasserin etwas über die französische Malerei, was für französische Kunst,
wie sie in den Anöhängekasten sür den Geschmack der Bourgeoisie repräsentirt wird,
ebenso richtig als bezeichnend ist. „In jeder gemachten Blume, in jedem duftend
auf dem Markte gebundenen Stransie, in jedem baumelnden Püpplein des Parisers
ist mehr Kunst als in seinen „Tableaux" und deren kümmerlichen Gedanken." Diese
Beschreibung der Straßen gehört mit zu dem Besten im Buche. Uebertreibungen
fehlen auch da uicht. Wenn zum Beispiel gesagt wird, jedes dritte Haus habe seineu
Cviffcur, so ist das eine französische Hyperbel. Bedenkt man überdies, daß die Coif-
feurs hier zugleich das Amt der Bartscherer vertreten, so erklärt sich die größere
Zahl solcher Anstalten natürlich genug, ohne daß man daraus einen besondern
Schluß aus den Charakter der Franzosen zu machen braucht. Gegründet ist die
Verwunderung über die vielen Pastetenbäcker und Chocoladenhändler.
Die Beschreibung des Palais royal ist eigentlich eine bloße Wiederholung des
Spazicrgangs auf den Boulevards. Ihrem Protege, dem Restaurant de Havre,
will ich auch nicht zu ucche treten; gegen das Fricandeau in einem Zweifranken¬
speisehause muß ich aus Nächstenliebe noch einmal protestiren.
Den Schmerz um die fallenden Straßen von Paris begreife ich, erlaube mir
aber doch die Bemerkung, daß diese Schlupfwinkel des Lasters, diese Höhle» des
Elends und kranker Armuth sich doch uoch besser auf dem Papier aufnehmen, in
historischer Erinnerung, als inmitten von Paris. Es bleibt des Historischen noch
genug und diesfällsige Impietät kann man den Parisern im allgemeinen nicht vor¬
werfen. Ein Beweis ist die Erhaltung des auch von unsrer Verfasserin erwähnten
aber nicht hinreichend bewunderten Tour Se. Jaque, der eigenthümlich genug in die¬
ses moderne Häusermeer dreinschauen wird.
Die Beschreibung des Louvre ist ungefähr, obgleich nicht ganz so gehalten
wie jene der Kunstausstellung. Für den Standpunkt, den die Verfasserin einnimmt,
mag erwähnt sein, daß sie sich für den manierirten, abgeschmackten Creuze begeistert
und kein Wort von Proudhon, keine Silbe von Gericanlt sagt. Wir können das
nicht ungerügt lassen, weil sie uns selbst sagt, „zu ersehnter Heimat lenke ich nach
dem Louvre die Schritte, das erste Mal, da ich es betrat, wie noch heute." Das
große Interesse an den historischen Spielereien, welche le Klusoo nos «onveisin« heißt,
verzeihen wir der Frau und ehren es an der Nvvcllistin.
Mr. Jacqnetot der Concierge ist ein artiges Genrebild — obgleich nicht der
Typus der Pariser Portiers. — Doch wollen wir damit dem Porträt nicht Achn-
lichkeit absprechen. Die Beschreibungen von Se. Germain Lauxcrrois, Se. Jean
de la Boucherie, des Palais de Justice, der Conciergerie, der Se. Chapelle bieten
des Interessanten viel — der historische Theil ein wenig zu flüchtig, selbst dem
eignen Verständnisse schabend. Wer Notre Dame gut beschrieben lesen will, der
halte sich an Hugos Roman: die Wanderung durch die Champs elysäcS — die
Boulevards bei Nacht sind artig — zuviel Aufmerksamkeit sür Puppenladcu.
Madame SevignvS Hotel Carnarolcs ist lebhaft und mit Glück gezeichnet.
Lesen wir aber: „Zwischen den Pfeilern die Spiegel, noch die alten, die nämlichen,
aus denen jene Gestalten schauten. Vielleicht gibt es eine Stunde, wo sie wieder
darin auftauchen. Ist nicht jeder Spiegel wie ein Fenster in einer mystischen Welt?"
so haben wir die begeisterte Anhängerin der Tables touruantcs vor uns. Die mit
viel Zurückhaltung erzählte Soiree (eine von vielen) der Klopfgeistcr erklärt manches
im Buche. Wir haben aber dem Gedächtnisse der Verfasserin nachzuhelfen, denn
sind wir gut unterrichtet, so hat Beethovens Geist nicht Mephisto als den besten
Spieler seiner Kompositionen genannt, sondern einen böhmischen Pianisten, der in
Böhmen eingezogenen Erkundigungen zufolge gar nicht existirt, noch existirt hat.
Diese kleine Verbesserung sei einem Gegner dieses albernen Mvdemysterismns er¬
laubt. Die Seance beim Magnetiseur Du Pökel ist mit mehr Diplomatie erzählt,
als von einer Freundin Bornes zu erwarten gewesen wäre. Anziehend ist die
Schilderung der Revue vor dem Napoleonisteu, aber die allzugroße Verächtlichkeit,
mit welcher die Franzosen behandelt werden, scheint mir am wenigsten gerecht in
einem Augenblicke, wo die Verfasserin sich von der Kälte überzeugen konnte, mit
welcher der Held des 2. Decembers damals überall empfangen wurde. „Ein ver¬
ächtliches Volk; historische Hefe und selbst als Sauerteig fast schlecht," ist doch gar
zu streng. Ist es denn ein gar zu großes Verbrechen, wenn die Arbeiter, die nicht
drei Franken ausgeben können, die Gelegenheit benutzen wollen, die Rachel einmal
umsonst zu sehen?
Die Sitzung der Akademie durfte natürlich auch nicht fehlen. Wir haben
mit Vergnügen folgende Charakteristik der akademischen Luft angestrichen: „wir
würden das hier waltende Element selbstgefälliger Autorität in das Deutsche über¬
setzt „„das hostäthliche"" bezeichnen". Ist das nicht ganz vortrefflich gesagt? Den
Ausflug uach Monmorcncy wird man gern lesen, ebenso die Schilderung des Hotel
Cluny. „Man merkt es dieser Sammlung an, daß sie ursprünglich von persön¬
licher Liebe zusammengetragen, kein officielles Museum. So zu reden vermag der
Staat nicht, mir das Gemüth." Sehr fein und weiblich gefühlt.
Ebenso weiblich und geistreich ist folgende Bemerkung über die Gobelinsarbcitcr:
„Masche für Masche entstehen vor uns die Werke von Jahrzehnten. Wie hinter
einem Schleier unterscheidet man das Gesicht des Ouvrier Artiste. Arbeitet er auf
der linken Seite, so hat er das Original im Rücken; vorn — bei dem sammet¬
artigen „!(- veloui's", die Teppiche -— so hängt es über ihm. Tausend und tausend
spindelförmige Wollcnröllchen. Wie rührend das Demüthige und doch wieder so
Schöpferische! Ameisenhaster Fleiß, der unverrückt ein großes Ziel verfolgt. Eine
Liebe, eine Treue, die man nur der Steiuhauerci unsrer grauen Dame vergleichen
mag.' Welche Masse von unscheinbare» Fädlein! Sollte nicht jeder von uns trach¬
ten, ans seinem Leben ein solches Kunstwerk zu machen, in welchem das kleine All¬
tägliche sich am Ende zum Ganzen gestaltet, nach dem Vorbilde, das der Mei¬
ster reicht?"
„Mir scheint, das müssen gute Menschen sein, welche diese Gobelins weben,"
setzt die Verfasserin hinzu, und mir scheint, daß die Urheberin des angeführten Ge¬
dankens ebenfalls eine gute Frau sei» müsse. Solcher Züge gibt,es viele im Buche
und man verzeiht ihnen zu Liebe manches Mystische, Unklare, Tischdrcherische.
I>vro I^olimsv — was will man noch darüber sagen? Gewundert hat es mich,
daß Frau Niendorf Bornes Grab nicht gefunden. Für andre Besucher sei bemerkt,
daß es ganz in der Nähe des Grabmals vom General Foy sich befinde und daß
jeder der Führer es kenne. Hütel des Invalides und Tuilerien — nöthige Zugabe.
Wer würde in folgender Phrase die Verfasserin des oben Angezogeneu wiederer¬
kennen? „Darüber Mignards Helios mit den Musen. Der heutige Schimmer macht
diese Gebilde nicht minder lieblich, nur etwas vergangen zurückweichend."
Die Episode im Kloster von Versailles ist, wenn man einmal mit dieser An¬
schauung sich befreunden will, eine willkommene Beigabe, ein ganz allerliebst geschil¬
dertes Stillleben. Die Beschreibung von Versailles entspricht dem flüchtigen Be¬
suche, wie ihn von bezahlten Ciceronis remorkirte Touristen zu machen pflegen. Das
genügt am Ende auch. Eine Verbesserung: das doppelte goldne ^bedeutet nicht
Louis und Louise (Lavalliere) ,> es ist der Namenszug d^s Königs im Lapidarstil
und Lac dAmour heißen diese Verschlingungen mit ihrem technischen Namen (>ac,
Ine<n, noLiuI), das ist also kein Einfall der Gräfin Ines. Den Beifall jedes Lesers
werden folgende Zeilen finden: „Die ungeheure Galerie Louis Philippe. Schicksals-
vvll wie er dem zweiten Kaiserreiche deu Weg ebnen mußte! Die alte Geschichte
vom Lehrling mit dem Zauberbeseu. Er kannte die Franzosen darauf, daß sie ein
Spielzeug bedürfen; daß er nach diesem als dem tauglichsten greifen mußte, bewies,
daß die Napoleons noch möglich. Aehnliches wird man einst von Ludwig Napoleon
vielleicht in Beziehung ans die Republik mit socialen Reformen sagen müssen."
Die Porträtsammlung im oberen Stocke, einmal berührt, hätte mehr Aufmerksamkeit
verdient. Noch eine Bemerkung, welche mir die adlige Dame, ich hoffe es, nicht
übelnehmen wird. Ich kann der Meinung, daß in der Gesellschaft von Versailles
noch Traditionen von gutem Tone zu bemerken seien, nicht beistimmen. Sie hat
wol ein eignes Cachet — aber das Cachet der penstonirteu Bureaukratie. Die
Verfasserin wird ein Stück Tradition mit sich aus dem Schlosse gebracht und auf
die bürgerliche, provinzialistisch spießbürgerliche Welt von Versailles übertragen ha¬
ben, die sich auf dem Tapis vert herumtreibt. Trianon wie immer. Se. Cloud:
Siehe Boulevards. Im Capitel Salons und Geselligkeit finden sich Eingangs
einige treffliche Bemerkungen, wenn sich die Verfasserin aber über den Mangel an
originellen Aussprüchen selbst der geistigen Notabilitäten bckagi, so muß sie weder
Cousin, noch Merlane, noch Dumas u. s. w'. in Gesellschaft gehört haben. Vor¬
trefflich ist die kurze Charakteristik der Comedie franiMse; was soll aber folgender
Zusatz bedeuten, nach diesem verdienten, keineswegs übertriebenen Lobe: „Bei einigem
Nachdenken erschrickt man vor dieser Abrundung. Hinter solcher Vollendung des
Ausdrucks, wo es alles, die Hälse aller — steht das Nichts, ist alles hohl." Wir
gestehen zu unsrer Schande, daß wir den Sinn dieses Satzes gar nicht auffassen.
In der Komödie sind die Franzosen lebendig, kernig, voll Blut und Leidenschaft
— da ist nichts hohl, nichts leer. Der Vorzug, den sie der Gymnasetruvpe zu¬
spricht, ist begreiflich, aber nur in gewissem Maße richtig. Von ihr gilt nämlich
das bekannte Wort ganz: vllo est. ^raube ciuns son geuro, w-us son giziirL oft p<An,
wenigstens kleiner als das der Comedie franyaise. Die Volkstheater sind ein guter
Gegensatz für das Theatre sranyais.
Der letzte Nachruf an Paris ist mit viel Wärme und Beredtsamkeit geschrieben.
Wir können dem Buche, an dem wir manches getadelt, wie die Verfasserin an Paris,
eine eben solche Nachrede nachschicken. Es sind interessante Skizzen von Paris, mit
manchen Irrthümern, aber belehrend und anziehend, und mir glauben mit der Ver¬
fasserin, daß wer nicht nach Paris kommen kann, die Wanderung am Arme dieser
begeisteruugsfähigeu Cicerone nicht bereuen mird. Wir sprechen die weitere Ueber¬
zeugung ans, daß die novellistischen Bilder, welche Emma Niendorf ans Paris mit¬
genommen haben mag, noch gelungener, ausfallen dürften, als dieses Reisebuch.
An diese ausführliche Besprechung unsres Pariser Korrespondenten knüpfen
wir noch die Anzeige eines neuerschienenen Buchs: Pariser Spaziergänge,
von Hermann Lessing. Berlin, allgemeine deutsche Verlagsanstalt. Wir sind
dem Verfasser bereits in dem Jahre 18i8 oder 1849 begegnet, wo er Berliner
Schilderungen hcrausga». Wenn wir nicht irren, hoben wir schon damals den
Einfluß Bornes aus seine Leistungen hervor. Soviel wir dies frühere Buch noch
im Gedächtniß haben, hat sich der Stil des Verfassers nicht wesentlich geändert. Er
geht vorzugsweise auf epigrammatische Pointen aus. Uebrigens ist diese leichtsinnige,
aber liebenswürdige Weltstadt in der That unerschöpflich. Man konnte mit den
Nciscbriefcn aus Paris, die seit dem Anfang dieses Jahrhunderts erschienen sind,
sehr bequem die neue Straße von Nivoli pflastern; aber es findet sich doch jedes Mal
noch etwas Neues und Piquantes. Der Verfasser des vorliegenden Buchs hat seine
Schilderungen vorzugsweise für Berliner geschrieben. Der Vergleich zwischen beiden
Städten liegt ihm fortwährend im Sinn, und obgleich dem guten Berlin sehr arg
mitgespielt wird, so liest doch der aufmerksame Leser zwischen den Zeilen immer
eine große Theilnahme an dieser Stadt heraus, in der sich die Lebcnsatmvsphäre
des Verfassers gebildet zu haben scheint.
'— I^u nul» mnnumvliUU <z l. > >i >. l.ore>5ljuki. ^qui>-
i'like« et'uprüij n»U>ro, iiUlogr.>>>Iiiüö^ ein pkitiiours ^inltzs pur KM. I?<)urna>i5, ^uMvrü
öl. LlroaduM. pur N. 1^. II^'nun». I'udlu; sou» le pulronuAL <Je 8. ^V. IK. Alu-
clunlo I» 1'rin(;esso «le I'ruWv. 1,','ir Kliurles Uucjuari.it..— Es ist dies der Anfang
eines sehr schonen Werks, welches die allgemeinste Anerkennung und Verbreitung
verdient. Es soll in zehn Lieferungen erscheinen, die Lieferung zu drei Bildern
mit Text. Es erscheinen zwei Ausgaben davon in groß und klein Folio, die eine zu
zehn Franken, die andre zu sieben Franken für die Lieferung. Die Bilder sind in
Buntdruck ausgeführt, der hier mit einer Einsicht und einem Geschmack angewendet
ist, wie wir noch nichts Aehnliches gesehen haben. Die Gesichtspunkte sind glücklich
gewählt, die Zeichnungen lebendig und charakteristisch. Nur eins hätten wir noch
zu wünschen. Die drei vorliegenden Bilder der ersten Lieferung haben einen vor¬
wiegend düstern oder wenigstens ernsten Charakter; es wäre sehr zweckmäßig, wenn
nnn bei einzelnen Bildern auch die lachende, heitere Natur- der Rheingegend zu
ihrem Recht käme. Wir sind mit der Technik des Buntdrucks nicht genug bekannt,
um zu wissen, wieweit man solches erreichen kann; es wäre aber ein schöner Fort¬
schritt der Kunst, wenn in dem vorliegenden Werk die schönen Zeichnungen sich anch
dieses Vorzugs erfreuen konnten. — Wir werden im Verlauf des Unternehmens
weiteren Bericht abstatten. —
Im Verlage von Alexander Duncker in Berlin ist soeben ein neues Porträt
Alexander v. Humboldts erschienen, welches an geistreicher Auffassung und
eleganter Ausstattung unter deu bereits vorhandenen den Preis verdienen mochte.
Der Stich ist nach einem Gemälde von Emma Richards gearbeitet, einer Künst¬
lerin, deren Porträt gleichzeitig in derselben Buchhandlung erscheint: ein scharf-
geschnittenes, ernstes, bedeutendes Gesicht, Daß unsre Künstler in neuester Zeit
sich mit besonderer Vorliebe mit dem großen Naturforscher beschäftigen, ist eine
gerechte Pietät, denn von den großen Männern, welche die Blüte unsrer Literatur
herbeigeführt haben, ist er der beinahe einzig Ueberlebende, die letzte Erinnerung
an eine schöne Zeit, in welcher die Wissenschaft und die Dichtkunst sich vertraulich
einander näherten und an der Darstellung des allgemein Menschlichen und Idealen
wetteifernd arbeiteten. Seit der Zeit ist die Dichtung ans der Bahn des Idealen
herausgetreten, sie hat sich in das Labyrinth des Realismus vertieft, ohne noch
den Faden gefunden zu haben, der sie wieder aus Licht zurückführen könnte, und
die Wissenschaft ihrerseits hat sich spröde in ihren geschlossenen Kreis zurückgezogen,
sie ist nicht mehr eine nationale Thätigkeit. Neben der harmonischen Erscheinung
Goethes wüßten wir keine andere zu nennen, die nus jenes Zusammenwirken des
Denkens und der Empfindung so lebhast versinnlichte, als A. v. Humboldt. Er
überragt an Fülle und Tiefe der Forschungen alle seine Mitbewerber, und doch
hat sein künstlerischer Sinn und seine echte Humanität die Uebermasse des Stoffs
zu einer wohlthuenden Erscheinung zu gestalten verstanden. Ein Bild zu verehren,
in dem sich Größe des Willens und Reinheit des Herzens so liebenswürdig durch-
dringen, ist heilsam für das ganze Volk, und es ist der Künstlerin gelungen, etwas
von diesem Geiste in der äußern Erscheinung hervortreten zu lassen. Der strenge
Ernst des Forschers blickt uns aus diesen klugen Angen an, die hohe schöne Stirn
deutet aus die Fülle der Gedanken, und doch liegt in den Falten des Mundes jenes
gewinnende Wohlwollen, welches die Menge mit dem Bevorzugten der Götter ver¬
söhnt und keinen Neid auskommen läßt.
Ein Stich nach Hasenclevcr. — Das beliebteste Bild des früh ver¬
storbenen Malers (geb. -1810 zu Düsseldorf), „das Examen aus der Jobsiade",
erscheint in nächster Zeit in ausgeführter Linicnmanier, gestochen von Janssen,
22 Zoll hoch, 30 Zoll breit, zu dem billigen Preise von sechs Thalern bei Wilhelm
Kanten in Düsseldorf. Es ist diesem Maler begegnet, was bei so mancher ge¬
feierten Größe vorkommt: man hat ihn im Anfang, wo das Genre neu war, über¬
schätzt, und es hat sich dann eine Reaction gegen ihn gcltendgemacht, die auch seine wirk¬
lichen Verdienste verkannte. Daß in seinen komischen Bildern keine eigentliche Natur-
kraft liegt, daß sein Scherz gemacht, bis zu einem gewissen Grade forcirt und etwas
einförmig ist, das wird man heute, wo der Humor auch in der bildenden Kunst mehr
in die Tiefe gegangen ist, nicht verkennen; aber Originalität in den Erfindungen,
heiteren Ton und Entschiedenheit im Charakterisiren besitzt er in hohem Grade, und
auf einen unbefangenen Zuschauer werden seine burlesken Figuren immer einen
angenehmen Eindruck machen; und wir haben umsomehr Veranlassung, das, was
einmal in diesem Fach geleistet ist, festzuhalten, je ärmer im ganzen unser Leben
und unsere Kunst an wirklich komischen Momenten ist. Bis jetzt ist der von uns
angedeutete tiefere Humor, einzelne glänzende Leistungen abgerechnet, mehr in der
Intention, als in der Ausführung vorhanden, und wir haben daher keine Ver-
anlassung, den Standpunkt Hasenclevers bereits als einen überwundenen zu be¬
trachten. Aber auch wenn dieses der Fall sein wird, verdient er noch immer als
ein wichtiges Moment in unserer künstlerischen Entwicklung die Beachtung aller
Kunstfreunde. —
, — Fliegende Blätter sür Musik. Wahrheit über Tonkunst und Ton-
künstler. Von dem Verfasser der Musikalischen Briese. Achtes Heft. Leipzig, Baum-
gärtner. — Mit dem achten Heft ist der erste. Band dieser Fliegenden Blätter geschlossen.
Sie haben, wie die Musikalischen Briefe desselben Verfassers, ein sehr dankbares
Publicum gefunden, und wir finden diesen Erfolg sehr begreiflich. Die eigentliche
Production in der Musik scheint bei uus wie bei unsren Nachbarn, wenn auch nicht
grade im Absterben, doch wenigstens in einer Periode der Erschlaffung zu sein;
und da' wir eine so unendlich reiche und schöpferische Periode in unmittelbarster
Vergangenheit durchlebt haben, so ist das wol die günstige Zeit, um über die
Kunst, ihre Gesetze und Wirkungen zu reflectiren. Die Schule der Musiker der
Zukunft hat diese Reflexionen in großem Stil begonnen, und grade der Radicalismus,
mit dem sie alle bisherigen Begriffe von Musik über deu Haufen wirft, und eine
neue Kunst in Aussicht stellt, die sich mehr fühlen als beschreiben läßt, verräth ihr
Uebergewicht der Reflexion über das unbefangene Schaffen. Auf der andern Seite
haben wir die abstracten Musiker, die überwältigt von dem Eindruck der großen Werke
namentlich in der Instrumentalmusik, die Kunst immer mehr ins Innerliche zu
wenden suchen, und in der Künstlichkeit nud Ungcwöhnlichkcit der Formen, in der
Seltsamkeit der Motive und Uebergänge das einzige Mittel finden, mit der genialen
Kraft jener Vorzeit in die Schranken zu treten. Beide Schulen haben einen großen
Anhang unter den Künstlern wie unter den Kunstfreunden; aber im großen Publi-
cum kaun ihre Einwirkung nur vorübergehend, nur auf Ueberraschung berechnet
sein, denn gegen das künstlich Ersonnene erhebt sich sehr bald die Reaction des
natürlichen Gefühls. Indem sich nun der Wohlbekannte zum Organ dieses Gesühls
machte, indem er laut und offen den Grundsatz, den die Masse im Stillen hegt,
mit dem sie aber gegen die gebildeten Musiker nicht laut zu werden wagt, daß die
Musik wie alle Künste deu Zweck habe, der Menge zu gefallen und sie mit sich
fortzureißen, offen und unumwunden aussprach, gab er dieser Stimmung dnrch den
Beitritt eines Gebildeten und Kunstverständigen gleichsam dle Sanction. Um so
wohlgefälliger mußten seine Darstellungen der Menge sein, da er sich sehr wohl
hütete, seinerseits in ein abstractes Princip zu verfallen, und mit großer Ge-
schicklichkeit die Seiten hervorzuheben verstand, die in der Musik der Zukunft wie
der Vergangenheit mit seiner eignen Ansicht in Beziehung standen. Seinem Zweck
gemäß war seine Darstellung durchaus durchsichtig, und er vermied auch die
Trivialität nicht, um der Menge stets verständlich zu sein. Nun glauben wir zwar
nicht, daß aus dieser Art von Eklekticismus ein volksthümllichcr Stil hervorgehen
kann, auch nicht einmal ein volkstümlicher Geschmack; da aber das Zeitalter über¬
haupt das Zeitalter der widerstrebenden Meinungen ist, so hat auch diese Stimme
ihre Berechtigung, und man wird ihr nur insoweit entgegentreten müssen, als sie
der augenblicklichen Wirkung zu Liebe mit den großen Schätzen der Vergangenheit
gar zu leichtfertig umgeht, wenn auch mir in dem Sinn, daß sie dieselben in einem
Athem mit dem Schwächlichen und dem Mittelmäßigen nennt.
Beethovens Symphonien nach ihrem idealen Inhalt mit Rücksicht aufHaydns
und Mozarts Symphonien von einem Kunstfreunde. Dresden. — Dieser gute
Kunstfreund kommt frisch von der Mutterbrust der Breudelschcu Zeitschrift und scheint
wirklich des guten Glaubens zu sein, einen „ästhetischen Kommentar zum tieferen
Verständniß Beethovens für das größere Publicum" zu tiefern, wenn er ihm auf
noch nicht zwei Bogen einen verdünnten Aufguß von der Kraftbrühe der „Ein¬
geweihten", eines Theodor Uhlig, eines Franz Brendel, eines Richard Wagner vor¬
setzte. Wie gewöhnlich die Leute sich am meisten mit dem idealen Inhalt zu thun
machen, die den wirklichen nicht zu fassen vermöge», so ergeht auch dieser Kunst¬
freund sich in allgemeinen Redensarten, wo er auf das Wesen eingehen sollte, und
ist gewiß ehrlich, wenn er meint, das Verständniß der neunten Symphonie angebahnt
zu haben, indem er als die Idee derselben „das sicggekröntc Ringen der Seele nach
höchster Frende" bezeichnet. Auch glaubt, er gewiß alle, welche die Verbindung des
Gesanges mit dem Instrumentalen in derselben Symphonie als Aeußerlichkeit und
Willkürlichkeit darstellen, siegreich bekämpft zu haben durch die pompöse Versicherung,
„das Wort ringe sich als nothwendiges Ergebniß aus dem reinen Tone hervor,
werde, ans ihm organisch erzeugt". Für seine Fähigkeit, dem Entwicklungsgang
eines Künstlers zu folgen, spricht es genügend, daß er die sechste, siebente, achte Sym¬
phonie ganz aus eine Stufe stellt; für sein ästhetisches Verständniß, daß er das
Motto für die siebente Symphonie in ^ alni- vorschlägt:
Wer nicht liebt Weib, Wein und Gesang,
Der bleibt ein Narr sein Leben lang;
daß ihm die vierte Symphonie in L tiur zwar nicht als ein Rückschritt oder Still¬
stand gegen die eroiei» erscheint — dazu ist er doch zu gutmüthig, — aber als ein
Beweis, daß Beethoven sogut wie Homer mitunter geschlafen habe, daher sie denn
auch die Vorurtheilsfreien Verehrer Beethovens weniger befriedige, obgleich sie doch
eine der edelsten Blüten Becthovenschcr Kunst sei. Und so geht es fort. — Wann
wird man aufhören, Liebe und Verehrung für große Meister und ihre Werke durch
ein wenn auch noch so wohlgemeintes Geschwätz an den Tag zu legen, anstatt hie-
mit Ernst und Ehrfurcht zu studiren! —
— Der Thiergarten, von- Gustav Canton. — Hun¬
dert moralische Erzählungen von C. -Komisch. -— Lichtbilder von C. Enslin. —
Das Buch der Kinderfreuden von N. Fränkel. — Der Knaben Kriegszug. — Der
höfliche Schüler vom Magister Graf u. f. w. Sämmtlich im Verlag von Rudolf
Chelius in Stuttgart. — Beim Durchblättern dieser kleinen, für Kinder bestimm¬
ten Bibliothek haben wir uns nicht wenig darüber verwundert, mit welcher Geschick-
lichkeit, ja mit welchem Raffinement die verschiedenen Seiten des Lebens, soweit sie
mit der Kinderwelt in Berührung stehen, aufgespürt worden sind, um Belehrung
und Unterhaltung ans eine zweckmäßige Weise zu vereinigen. Am meisten billigen
.wir diejenigen Schriften, die sich aus die Natur beziehen, und hier fügen wir noch
eine Schrift hinzu, die in demselben Verlage erschienen ist, die aber bereits etwas
größere Ansprüche macht: Heinrich Nebaus vollständige Naturgeschichte des Thier¬
reichs, S.Auflage, gänzlich umgearbeitet und stark vermehrt von Eduard Brandt.
Mit 106 colorirten Abbildungen und 92 Holzschnitten; ein sehr zweckmäßiges und
gut ausgestattetes Handbuch, für die ersten Anfänge des Lernens eingerichtet. —
Im allgemeinen möchten wir über diese Literatur, die eine fast so große Ausdeh¬
nung erlangt hat, als die Literatur für Erwachsene, folgende Bemerkungen ma¬
chen. Es kann der Industrie nicht verwehrt werden, sich eines jeden Gegenstan¬
des zu bemächtigen, der entweder dem wirklichen Bedürfniß oder der Mode dient;
aber auf die Kinder wirkt diese Vervielfältigung ihrer Beschäftigungen und der da¬
mit verbundene Luxus nicht wohlthätig ein. Jemehr sie mit Erfindungen über¬
häuft, je früher sie an eine elegante und zierliche Ausstattung gewöhnt werden,
desto schneller verliert sich jene Pietät für das einmal Vorhandene, jene Anhäng-
lichkeit an den liebgewordenen Besitz, und weicht einem unruhigen, fieberhaften Drang
nach immer neuen Gegenständen, den es vielleicht nicht ganz unpassend wäre, mit
dem sogenannten Weltschmerz der Erwachsenen in Parallele zu stellen. Wir leben
alle sehr schnell und unruhig, und die Kinder folgen in fieberhafter Hast der un-
gestümen Flut der Bewegung. Bei keinem Zweige der Kinderbcschäftigungen zeigt
sich das so deutlich als bei den Büchern. In früheren Zeiten wechselte dergleichen
nicht so schnell; dafür wurde es aber auch wie ein Heiligthum Jahre hindurch fest¬
gehalten, womöglich noch vererbt und zu dem vollständigen geistigen Eigenthum
gemacht. Jetzt müssen die Schriftsteller, die für dergleichen arbeiten, ihre Phantasie
anstrengen, um immer etwas Neues zu erfinden, und es ist nur zu natürlich, daß
der Werth des Fabrikats mit der Schnelligkeit der Production in Verhältniß steht.
Wir finden es nicht zweckmäßig, daß man die Kinder daran gewöhnt, sich fortwäh¬
rend selbst zu betrachten, daß man sie unaufhörlich an ihr eignes Leben, an ihre
Vergnügungen und Pflichten erinnert, daß man sich zu ihnen herabläßt, ihre Sprache
redet und auf ihre Vorstellungen eingeht. Das Kind wird viel dankbarer sein und
einen weit größeren Nutzen davon haben, wenn man es dem Kreise seines Alltag¬
lebens entrückt und seine Phantasie mit kräftigeren, männlicheren Vorstellungen nährt,
die seinem Gedächtniß nicht sobald wieder entschwinden, wie die leichten Geschichtchen
von Clärchen und Aermchen, von Hänschen und Fränzchen, vom Pudelchen und
Möpscheu, die es augenblicklich wieder vergessen hat, sobald es damit fertig ist. Die
Poesie hat Stoffe genug geschaffen, um die kindliche Einbildungskraft bis in alle
Ewigkeit damit zu nähren, und diese sollten in den Kinderbüchern aufbewahrt wer¬
den. Wir nennen vor allen Dingen die Bibel. Daß man diese nicht so, wie sie
ist, den Kindern in die Hände geben kann, darüber wird wol alle Welt einig sein,
selbst die eingefleischtesten lutherischen Orthodoxen nicht ausgenommen. Nun gibt
es zwar nichts Heilloseres, als die rationalistischen Verwässerungen, welche die bibli¬
schen Geschichten in das Niveau der Clärchen und Aermchen, der Häuschen und
Fränzchen, der Pudelchen und Möpschen herabziehen; aber eine Auswahl ist noth¬
wendig, nur daß sie mit einem wirklichen Sinn für Poesie und Natur angestellt
werden muß. Es müssen diejenigen Geschichten ausgewählt werden, die einen sinn¬
lichen, der Einbildungskraft zugänglichen Charakter haben, einerlei, ob mit oder ohne
Wunder; ferner diejenigen, in welchen der allgemein menschliche Inhalt das speci¬
fisch Jüdische überwiegt. Sie müssen ganz in der einfachen Weise der Schrift und
der Sprache Luthers erzählt werden, weil dies die höchste poetische Form ist, die sie
annehmen können. Nichts hat uns so empört, als Paraphrasen der Bibel, zum
Theil von höchst rechtgläubigen Geistlichen ausgehend, in denen z. B. die Schöpfungs¬
geschichte in ganz sentimentalen und süßlichen Redensarten vorgetragen wurde. Ueber-
Haupt wird durch nichts die kindliche Phantasie so entnervt, als durch die Ueber-
zuckerung des Heiligen. In einer der Abbildungen der uns vorliegenden Bibliothek wird
ein kleiner Engel, um die liebliche Kindheit recht zart zu malen, in der Tracht einer
Pariser Ballettänzerin abgemalt. In diesem Falle wird das Unpassende auch von
christlichen Gemüthern gefühlt werden; aber in vielen frommen Geschichten/ wo die
Engel gar kein Ende finden, sich über ihre Kindlichkeit und Liebenswürdigkeit red¬
selig, auszulassen, ist derselbe schlechte Geschmack. Die Engel sind Boten des
Herrn; sie sollen ihren Auftrag ausrichten und dann schweigen, denn geschwätzige
Dienstboten sind eine Last. — Wir meinen übrigens, daß bei dieser Auswahl
nicht blos der epische Theil berücksichtigt werden darf. Die gewaltigen lyrischen Er¬
güsse und die Kernsprüche, die sich dnrch ihren Rhythmus ebensosehr dem Gedächtniß
einprägen, wie dnrch ihren Inhalt dem Gemüth, gehören ebenfalls dahin. Auf
die Bibel folgen die Sagen der Völker mit einer besonders bevorzugten Phantasie,
der Griechen, auch der Römer, der Araber (Tausend und eine Nacht), vor allem
aber die Märchen und Fabeln des eignen deutschen Volks. Alle diese Geschichten
müssen das Kind schon in dem zartesten Alter erfreuen. Sobald es nnr überhaupt
soweit ist, zu lesen, versteht es die Geschichten von Achilles und Hektor, von Ro-
mulus und dem stolzen Tarqnin, von Harun al Raschid und den Barmeziden, von
Siegfried und Hagen, von Eulenspiegel und Reinecke Fuchs sehr gut und findet
an ihnen weitmchr Interesse, als an Clärchen und Aermchen, an Hänschen und
Fränzchen, an Pudelchen und Möpschen. Selbst wo es den einen oder andern
Umstand nicht ganz verstehen sollte, schadet das gar nichts. Die Phantasie des
Kindes ist für Sprünge noch sehr empfänglich und kennt noch keinen Pragmatis¬
mus, und was zuerst nur ein Gut der Phantasie und des Gedächtnisses war, wird
allmälig auch vom Verstand durchdrungen werden. Ueberhaupt muß man sich davor
hüten, die Kinder für gar zu einfältig zu halten. — Eine völlig umgekehrte Welt
ist es, wenn man, wie Tieck und Hoffmann, die angeblich kindliche Auffassung zum
Gegenstand der Poesie für Erwachsene macht. — Alle diese Geschichte» muß man
den Kindern in dem möglichst einfachen rohen Material überliefern; jede Verarbei¬
tung, durch die man ihrer Selbstthätigkeit zu Hilfe zu kommen glaubt, schadet dem
ersten frischen Eindruck und der Pietät für das Uebcrlieferte, denn die Kinder mer¬
ken sehr bald, wenn man ihnen etwas vorlügt und verlieren dann auch an das
Rechte und Wahre den Glauben. — Noch einem Einwurf müssen wir begegnen.
Es könnte scheinen, als ob die biblischen und heidnischen, die orientalischen und
deutschen Geschichten bei den Widersprüchen in ihrem Inhalt der kindlichen Phan¬
tasie die Harmonie und Unbefangenheit rauben und sie namentlich in Bezug auf
die Religion verwirren könnten. Das ist aber keineswegs der Fall. So ver¬
schieden das Colorit in diesen Geschichten ist, so vollkommen stimmt der allgemein
menschliche Inhalt in ihnen überein, da sie sämmtlich echte Bildungen der, Poesie
oder der Natur sind. Die Vorstellung von Gott dem Herrn wird dem Kinde ohne
Bücher eingeprägt, und wenn es diese nur festhält, so werden sich Minerva und
Mercur, Neptun und Pluto, die Riesen und Zwerge, die Elfen und Feen recht
gut damit vertragen, besser jedenfalls, als die lieblichen Englein im Balleteostüm,
die gar keine Physiognomie haben und doch nur auf den Rang einer Gliederpuppe
Anspruch machen dürfen. — Man klagt soviel, daß man in den Gymnasien vieles
lernen muß, was man spätes vergißt. Das ist gewiß nicht gut und wird bei einem
verständig geleiteten Gymnasium wol auch nicht der Fall sein, da man überhaupt
nichts vergißt, was man einmal gründlich gelernt hat; aber noch viel schlimmer ist
es, daß man die Kinder in dem zartesten Alter, wo die Eindrücke am mächtigsten
sind und am tiefsten eindringen, daran gewöhnt, sich mit nichtigen und albernen
Gegenständen zu beschäftigen, deren Abgeschmacktheit sie einsehen müssen, sobald sie
ein Jahr älter sind. Dadurch werden sie früh an Flüchtigkeit und Unstetigkeit ge¬
wöhnt und bringen auch dem späteren Ernst des Lebens ein flüchtiges und zweifel¬
haftes Gemüth entgegen. —
In derselben Gattung der Literatur geht uus nachträglich noch ein außerordent¬
lich schöner Beitrag zu: ABC für artige Kinder, in Silhouetten und
Reimen, von Karl Fröhlich. Kassel, Volkmaun. — Die Silhouetten sind kleine
Kunstwerke, mit einem außerordentlich frischen Humor und scharfer Charakteristik
entworfen. Es ist bei weitem das Zierlichste und Geschmackvollste, was uns in die¬
sem Genre vorgekommen ist. —
Ferner ist zu empfehlen: Mathildens und Elsbeths Lieblingöge-
schicht.en, erzählt von Tante Sophie. Für Kinder von 8—12 Jahren. Wei¬
mar Hermann Bostan. Es enthält drei Geschichten, in denen eine gesunde
Lehre durch das reiche Detail der Erzählung und echt poetische Ausführung lichens- >
würdig gemacht wird. Wenn in der ersten „der Herr Winter" die Fülle des poe¬
tischen Schmucks fast zu reich für Kinderseelen erscheint, so sind die folgenden, na¬
mentlich „die Ameise" als vortreffliche Muster freier poetischer Behandlung und
klarer Darstellung zu rühmen. Möge die Verfasserin ihr schönes Talent, anmu¬
thig zu belehren den Kleinen noch oft im Glanz des Wcihnachtsbaums erweisen.
— Zorudorf. Von Hera ann Wauer. Ed. Roter. Wriezen
a. O. 18Si. — Es war zu erwarten, daß das große Glück, welches die beiden epischen
Gedichte vou Scherenberg, Leuthen und Waterloo, gemacht haben, zu,zahlreichen Nach¬
bildungen führen würde; aber ein einzelner glücklicher Wurf rechtfertigt das Genre
noch keineswegs; und so zweifeln wir daran, ob das freie Versmaß, die preu¬
ßisch patriotische Gestunuug und die lebhafte Erzählung ausreichen werden, um
diesem neuen Experiment der Wachtstubenpoesic bedeutenden Eingang zu verschaffen.
Das weiße Buch vom 18. Juni, worin Dichtungen eines Laien. Berlin,
Löw. — Gemüthliche, harmlose Lieder, ohne Höhere Bedeutung, aber auch ohne
störende Beimischungen mit stetiger Beziehung auf die unmittelbarsten Erfahrungen
des gewöhnlichen Lebens. Nur bisweilen läßt sich der Versasser durch seine Phan¬
tasie zu Vorstellungen verleiten, die keinen realen Hintergrund haben. Z. B. in
dem Gedicht, „das Judenkind."
Bescheiden kauert am Wege"Ein Weib mit ihrem Kind:'
Es ist eine arme Jüdin
Mit ihrem jüdischen Kind. Ihr Antlitz trägt die Spuren
Von einem dunklen Geschick.
Es spricht ein Herz voll Argwohn
Ans ihrem unsteten Blick. 'Froh blickt das Kind zum Himmel
Und froh in die Welt hinein.
Es scheint ihm alles Freude
Und alles Liebe zu sein. — Wer hat dich lächeln geheißen?
Mach deine Augen zu!
Für dich kein Glück und Segen —
Elendes Jndenwurm, du! —
Es ist dos erste, was wir hören, daß die kleinen Landsleute Rothschilds hinter
dem Zaun zur Welt kommen. Wir dächten, in dieser Beziehung könnten sich ihre
christlichen Mitgeschöpfe keiner besondern Bevorzugung rühmen.
Robert und Ludmilla. Eine Idylle von Franz Huber. Augsburg, Heine
und Comp. — Das Vorbild, welches dem Dichter vorgeschwebt hat, Goethes Her-
mann und Dorothea, tritt zwar in dieser Nachbildung sehr merklich hervor, aber
ohne eigentlich zu stören. Die Geschichte ist einfach und lebendig erzählt und zeigt
überall Wärme des Gemüths und der Naturanschauung.
Alphabet des Lebens. Eine Weihnachtsgabe für große Kinder. Von
Franziska Gräfin Schwerin. Breslau, Kern. — Eine Sammlung von
alphabetisch geordneten, sittlich-religiösen Denksprüchen, die im wesentlichen eine ge¬
sunde Auffassung des Lebens verrathen. Originell ist die Form: die Hälfte der
Sprüche ist in gereimten Distichen, wenigstens in einem Rhythmus, der an das ele¬
gische Versmaß erinnert, z. B.:
Arbeit, du bist unser Loos, aber ein Segen fürs Leben,
Wenn wir uns deiner erfreu», wenn wir dich üben mit Lust.
In dem gewissen Gefühl, daß dich der Herr uns gegeben.
Der unsre Kräfte geprüft, eh wirL geahnt und gewußt u, s. w, —
Lieder aus Weimar von Hoffmann von Fallersleben. Hannover, Rümpler.
— Der alte beliebte Volkssänger zeigt in dieser kleinen Sammlung, daß er seine
Gemüthlichkeit in den wechselvollen Ereignissen seines Lebens ungebrochen zu erhalten
gewußt hat. Im Gegentheil erscheinen uns die gegenwärtigen Lieder noch viel
harmloser und ansprechender, als die früheren lyrischen Versuche, Politik des Her¬
zens zu treiben. Der Inhalt ist nicht bedeutend, aber der frische, lebhafte Ton
und die gefällige Melodie der Sprache wird unsren stvffarmen Komponisten, die
grade dergleichen Texte gebrauchen können, sehr willkommen sein. —-
— Die Redaction des vom östreichischen Lloyd in Trieft herausgegebenen
illustrirten Familieubuches hat abermals eine Preisausschreibung erlassen,
und zwar dies Mal sür die zwei besten naturwissenschaftlichen Originalaussätze,
welche, von der strengen Form der Wissenschaft sich frei machend, Darstellungen ans
der gesammten theoretischen und angewandten Naturwissenschaft mit Berücksichtigung
der neuesten Forschungen enthalten sollen und auf den Raum von höchstens andert¬
halb Druckbogen in Quart bemessen sind. Die drei Preisrichter sind: V, Kollar,
Director des k. k. Naturaliencabinets und Professor Dr. L. Redtenbachcr in
Wien, und Professor E. A. Roßmäßler in Leipzig. Der Einsenduugstermi» der
Manuscripte an eine der beideu Hanptagentureu des östreichische» Lloyd, in Wien
oder in Leipzig, währt bis zum 30. April 18SS, und die beideu Preise be¬
tragen, außer dem üblichen Honorar, resp. SS und Is Dukaten in Gold. Hin¬
sichtlich der näheren Bestimmungen verweisen wir aus die ausführliche officielle An¬
zeige dieser Preisausschreibung, welche bei dem gegenwärtig allgemein verbreiteten
Interesse sür die Naturwissenschaften gewiß nicht verfehlen wird, bei dem schrift¬
stellerischen wie bei dem lesenden Publicum einen gleich günstigen Eindruck zu machen.
— Daß es unsrer auch in finanzieller
Hinsicht so ernsten Zeit an der lustigen Person nicht fehle, dafür sorgt ein Mann
in Schwerin, der sich „Vermehrer" nennt. Es erinnert dieser nach aller Wahr¬
scheinlichkeit angenommene Name an die Gattung Menschen, welche man ,. Plus-
machcr" zu nennen pflegt, und die den Kopf stets voll von finanziellen Projekten
tragen, deren Verwirklichung dem Staate viel einbringen, dem Unterthan aber
nichts kosten soll. Daß Herr „Vermehrer" es so bitter ernst meint, erhöht nur
die komische Kraft der Figur. Seit Jahren verfolgt dieser Mann die östreichischen
Finanzminister mit seinen unfehlbaren Plänen, dem Kaiserstaate in seiner
Papicrbedrängniß aufzuhelfen. Da er aber sein Geheimmittel nicht offenbaren will,
fand er, wie es sich gebührte, keine Anerkennung. Darüber klagt nun Herr „Ver¬
mehrer" gar gewaltig in dem zu Schwerin erscheinenden „ Norddeutschen Korrespon¬
denten", der Kreuzzeitung des in allen übrigen Dingen so gesegneten Mecklenburg.
Er klagt uicht nur, er läßt es sich Geld kosten, und versendet in Briefen die be¬
treffenden Artikel dieses Blattes in alle vier Winde. Ein solcher Brief mit der
Einlage des Korrespondenten, und vom dritten December datirt, ist mir eben zuge¬
kommen. Der Brief berichtet, — gedruckt, nicht geschrieben — daß Herr Ver¬
mehrer in der Nummer 280 des Korrespondenten von Schwerin, aufgefordert
worden, endlich nach glänzend gelungener östreichischer Anleihe, seinen unbenutzt
gebliebenen Finanzplan dem wartenden Europa endlich zu, offenbaren. Und die
Einlage in diesem Briefe enthält, was Herr Vermehrer hieraus im „Norddeutschen
Korrespondenten" Ur. 282 geantwortet. Der gute Mann hatte nicht gemerkt, daß
jene Aufforderung von einem Spaßvogel ausgegangen. Offenbart er aber nun
seine finanzielle Panacee? Er erklärt nur, daß grade wegen des glänzend gelun¬
genen Nationalanlchcns das finanzielle Oestreich kränker als je ist, daß sein
Finanzplan allein den anscheinend rettungslosen Finanzkranken rasch und radical
gesund machen kann, und daß er den Plan nochmals den Ministern des Innern
und der Finanzen und einer kleinen Zahl anderer hochstehenden Personen Oestreichs
zur Berücksichtigung empfohlen habe. Obschon nun diese Berücksichtigung bis zum
ersten December, dem Datum der Expcctoration des Herrn Vermehrer im „Nord¬
deutschen Korrespondenten", nicht erfolgt ist, sagt er doch in dem gedruckten Briefe:
„Der Nachweis, wie das durch mich Verheißene auch jetzt noch wirklich geleistet
und dadurch das fragliche El ans die Spitze gestellt werden könne, muß einst¬
weilen ausgesetzt bleiben und mein Finanzplan bis aus weiteres noch mein unbe¬
nutztes Geheimniß bleiben."
Wir rathen dem finanziellen Columbus, sein Geheimniß sür immer zu bewahren.
Es gibt nun einmal keine finanziellen Geheimmittel, und Männer von
solange zurückreichender Erfahrung wie Kübeck und Baumgartner haben sicherlich
alle Mittel, die es gibt, reiflich cnvogcu. Wenn Herr Vermehrer wüßte, wieviele
tausend von Finanzpläncn von Groß- und Kleinmeistern seit Jahren bei den
östreichischen Finanzbchörden eingereicht worden find, so würde er sicherlich nicht
von dem unbegreiflichen Ehrgeize beseelt sein, solchen Plunder zu „vermehren."
Immergrün in dürrer kalter Zeit gleich ihrem Symbole, dem Tannenbäume
in der verblichenen Natur des Winters, wurzelt im Leben des deutschen Volkes
die deutsche Weihnacht. Ewig heiter und hell wie ein Stück aus die Erde ge¬
fallener Himmel »leuchtet sie am Ende jedes Jahres in die dunkeln Gassen und
die verdüsterten Seelen der Alltagswelt. Eine der anmmhigsten Geburten des
germanischen 'Gemüths, eines der lautesten Zeugnisse für dessen Liebenswürdig¬
keit im Vergleich mit andern Nationen, zaubert sie wie kein anderes unsrer
Feste, Stimmungen an die Stelle nüchternen Denkens und Trachtens setzend,
mitten in die Prosa unsrer Tage eine Oase poetischer Regungen.
Was wir meinen, ist nicht blos das Lauschen der Kinderwelt an ver¬
schlossenen Thüren, durch deren Schlüsselloch Strahlen der Bescherung fallen,
die in der „guten Stube" flimmert. Es ist nicht blos das reizende Chaos von
Sehnen und Ahnen, von sinnreichen Räthseln, Geheimnissen und Ueber-
raschungen, über welchen der schöpferische Geist der Frauen bis zu dem tut lux
des Christabends schwebt. Auch nicht blos die Wehmuth, welche im Hause
des Armen den Christbaum vermissen mag, oder der liebreiche Sinn, der ihm
einen anzündet. Was wir meinen, ist endlich auch nicht blos die fromme
Erregtheit, welche Christen am Geburtstage des Sohnes Gottes, des Erlösers
und Seligmachers empfinden mögen. Die holde Magie, das überirdische Licht,
worin die deutsche Weihnacht — und nur die deutsche — wie eines jener alten
Bilder aus Goldgrund schwimmt, stammt nicht allein von jenem Sterne, der
die drei Weisen nach der Krippe von Bettchen leitete.
Was wir im Auge haben, ist vielmehr der Hintergrund von all dem Ge¬
sagten- Wir denken an die Weihnachtszeit im weiteren Sinne, an die „heiligen
zwölf Nächte", an die Advente, die ihnen vorausgehen, an die bald unheimlichen,
bald possenhasten Gestalten, die in ihnen durch das Land ziehen, an den Zauber,
der in ihnen geübt wird, an die Sagen und Sitten, die sich an sie knüpfen;
wir denken an den Aberglauben, der die deutsche Weihnacht umgibt. Der
größte Theil desselben ist verstümmelter, verwandelter, verdunkelter Rest der
Religion, die vor der christlichen unter den deutschen Stämmen herrschte, ist
Nachhall des alten Heidenthums, als „Bciglaube" neben dem siegreichen
Christenthume geblieben, ja in einigen Beziehungen sogar in die Erscheinungen
desselben verschmolzen.
Die Religion der germanischen Völker war in der Urzeit unzweifelhaft das,
was die Anfänge alles Heidenthums ausmacht, ein Anstaunen der Elementar-
inächte, ein Gefühl der Abhängigkeit von der Natur. Man verehrte den
Sturm, der die Wolken über den Wald jagte und zugleich aus diesen Wolken
fruchtbaren Regen spendete. Man betrachtete mit Wonne und doch wieder
mit ehrfurchtsvoller Scheu die Sonne, die hoch über den-Häuptern der Men¬
schen, unnahbar, klar und rein, mit ihrem Lichte und ihrer Wärme allenthalben
Leben weckend am Himmel dahinzog. Man sah mit Zagen das Gewitter mit
seinem Strahle mächtige Bäume spalten und hörte bebend zu, wenn seine
grimme Donnerstimme durch die Thaler rollte. Aus dem Anstaunen wurde
allmälig ein Anbeten, aus den Kräften entstanden Personen., aus den Ge¬
stirnen und Elementen traten Götter hervor, die einen Charakter und Attribute
hatten.
Das Wesen dieser Götter war anfangs noch sehr wenig von ihrer phy¬
sikalischen Basis unterschieben, noch sehr einfach, noch ohne Geschichte wie das
Volk, das sie anbetete, und dessen Spiegelbild sie zu werden begannen. Die
Götter der germanischen Urzeit waren als Götter ackerbautreibender Stämme
in der Hauptsache Wesen, welche die Arbeit des Pflügers und Säemanns
segneten. Man verehrte Wuotan, den Gott des Himmels mit seinen Winden
und seinen jagenden Wolken, vor allem aber mit seiner segnenden Sonne.
Man betete zu Donar, dem Götte des Gewitters, der ein Bekämpfer der als
Niesen vorgestellten Mächte des Winters war. Man opferte Fru, dem Spender
des Getreides, dessen Attribut, der gvldbvrstige Eber, daS Feld mit den reifen
Halmen versinnbildete. Man hatte sich aus der Vorstellung von der frucht¬
gebärenden Erde das Bild einer Göttin entwickelt, die bald als Saatbewahrerin,
bald' als Beschützerin des Haushalts, bald als Herrscherin der Todten, allent¬
halben aber als Gemahlin des Sonnen- und Himmelsgottes auftritt.
Aber die Zeit kam, wo aus dem Idyll, welches das deutsche Volk bis
dahin dargelebt, eine Tragödie wurde. Die Kriege mit dem Römerthum be¬
gannen. Einzelne Stämme gingen unter, andere drängten nach. Von Osten
her brachen mit dem Ungestüm von ungebändigten Naturkräften wilde Horden
in den Lebenskreis der Germanen ein,-und derselbe that sich nach Westen zu
auf und ward aus einem vergleichsweise stillen Meere zum reißenden Strome.
Und wie auf Erden, so auch im Himmel; dem sich mehr und mehr verdüsternden,
dabei aber auch mehr und mehr ethischen. Gehalt aufnehmenden Leben der
Nation entsprachen die Spiegelbilder dieses Lebens, die Götter. Sie wurden
in diesem Processe persönlicher, sie erhielten eine Geschichte, aber sie wurden
zugleich aus vorwiegend friedlichen Wesen zu finstern blutigen Gestalten.
Wuotan, einst als leuchtende, segnende Himmclsmacht angestaunt, dann denk'
licher als Geber der Feldfrucht und aller dem Ackerbau entsprießenden Wohl¬
thaten verehrt, wurde zum persönlichen Ausdrucke der heranstürmenden Kriegs--
wuth. Donar, sein Sohn, bekämpfte nicht blos die Elementarriesen mehr,
sonder» schmetterte auch mit den donnerkeilförmigen Heeresspitzen die Reihen
der Feinde nieder. Der milde, reichthumverleihende Fro trat in den Hinter¬
grund, um dem schrecklichen Würger Ziu, dem Gotte deS Schwertes, Platz zu
machen. Balder, der Unschuldige und Gerechte, mußte sterben vor der Treu¬
losigkeit, der Gier und dem Grimm, welche im Gefolge des Krieges sich des
vorher harmlosen Volksgeistes bemächtigten. Auch die niedern Gottheiten
verwilderten. Eine Welt voll Dämonen bevölkerte Feld und Wald, und schon
in diese Zeit fallen die Anfänge des spätern Zauberwesens. Edleren Gemüthern
mußte dieser Zustand unerträglich sein, und so entwickelte sich allmälig der
grausige Gedanke des einstigen Untergangs der Welt sammt den Göttern.
Indeß waren Erinnerungen des vormaligen friedsamen Wesens der Götter¬
welt geblieben, grade so und in demselben Maße, wie im Volke der Sinn für
seßhaftes Leben und Feldbau geblieben war. Noch trug Wuotan den grauen
flatternden Mantel und den breiten Hut, die den Wolkenhimmel bedeuteten, und
noch war das Rad, das Symbol der Sonne, sein Attribut. Noch spendete
Thor heilkräftige Kräuter. Noch zog hin und wieder Fro die Saaten segnend
durch das Land. Noch stand die weiße Bertha und Frau Holle den Flachs¬
feldern und den Spinnstuben vor, und noch immer feierte man den Früh¬
lingsanfang und die beiden Sonnenwenden, den Mittsommertag und das
Julfest.
In dieser Gestalt, als eine Verschmelzung der drei soeben bezeichneten
Phasen, wurde das deutsche Heidenthum von dem Christenthume angegriffen
und überwunden. Die alte, trotz ihrer Erkrankung- noch geliebte Religion
wurde von ihm nur unterjocht, nicht aber aus dem Herzen vertilgt. Die Ver¬
künder des Evangeliums konnten die Göttereichen fällen, die Schößlinge aber,
welche deren Wurzeln unter dem statt ihrer aufgepflanzten Kreuze trieben, ließen
sie im allgemeinen unangetastet. Sie fanden in den Göttern, die sie zu ver¬
drängen kamen, wilde und milde Züge. Die einen verwandelten sie in Teufel
und Spukgestalten. Die andern waren unschädlich, und so konnte die Geist¬
lichkeit sichs gefallen lassen, wenn das Volk sich ihren Fortbesitz dadurch sicherte,
daß' es> ihnen christliche Attribute und Namen gab und den Mythen von ihnen
ein christliches Colorit verlieh; ja selbst unter dem alten Namen ließ man ihnen
Duldung angedeihen, wofern sie nur nicht mit dem Anspruch auf göttliche
Verehrung, sondern blos als gutartige Geister auftraten oder sich in Märchen
oder Possen versteckten. ' ,
So kam der alte Glaube nach Verwehen des ersten Sturmes, der über
ihn hereinbrach, neben dem neuen in drei Reihen von mythischen Gebilden
theilweise wieder zu Ehren. In die erste, welche die vom Christenthume in
die Hölle verwiesenen Gottheiten umfaßt, gehören unter andern das wilde
Heer, sofern es bloßer grauenvoller Spuk ist, Frau Holle, die den Tannhäuser
verlockt, die oberöstreichische Perchtel, Satan mit den Naben Wuotans und
dem Bocke Donars und der Teufel, der den Abergläubischen in besondern
Nächten den Farnsamen .gibt. Die zweite Reihe begreift in sich die alten
Götter, sofern sie in einzelne Heilige der katholischen Kirche oder in die Person
Christi selbst aufgegangen sind, die Drachentödter Michael und Georg, Se.
Martin, der Wuotans Schimmel reitet und von Donars Bocke begleitet ist,
Se. Olaf, der Thors rothen Bart trägt und gleich diesem ein Verfolger der
Riesen ist, schließlich mancherlei Züge des Mariencultus, die mit dem zusammen¬
treffen, was in der Urzeit von Frick, Holda oder Bertha galt. Die dritte
Reihe dieser bis aus heute lebendig gebliebenen Erinnerungen aus der Heiden¬
zeit umfaßt die Götterbilder und die religiösen Gebräuche, die ihrer Harm¬
losigkeit und ihrer Unverfänglichkeit halber selbst mit dem alten Namen oder
doch anklingend an diesen von Seiten des Christenthums Duldung erfuhren,
und von denen die ersteren im Aberglauben als eine Art gutartiger Dämonen
fortlebten, die letzteren aber als Mummenschanz, Posse oder Spiel im Kreise
der Volkssitten sich fortsetzten. Hierhin ist zu rechnen der Wodan, dem der
niedersächsische Bauer einen Rest der Ernte für sein Pferd stehen läßt, hierhin
der Eber Früh, der im Korne gehen soll, wenn der Wind in dessen Halmen
wühlt, hierhin Frau Holle, die in Thüringen die Spinnstuben heimsucht, und
die Perchta, izie im Voigtlande und in der Orlagegend mit den Seelen ge¬
storbener Kinder ihren nächtlichen Umzug hält, hierhin die Gebräuche der
Fastenzeit, der schwäbische Funkensonntag, die Oster- und Johannisfeuer, der
Name der Göttin, nach welcher das christliche Osterfest benannt wurde, hierhin
endlich vor allem die Reste des altgermanischen Julfestes, die uns in den Ge¬
stalten und Gebräuchen, den Spielen und Possen der zwölf Nächte und der
ihnen vorausgehenden Adventszeit, unerklärbar sofern man vom Christenthume
allein Aufschluß verlangt, in reichster Fülle entgegentreten.
Nirgends haben die Fluten des Christenthums und der classischen Bildung,
als sie die alte Zeit unter sich begruben, so große Schichten fossiler Reste der¬
selben zusammengeschwemmt, als um die hohen Feste, die gleich Hügeln über
das Alltagsleben emporragen. Außerordentlich groß ist die Zahl der vom
Volke um die Oster- und Pfingstzeit beobachteten Sitten, welche bei näherem
Zusehen als dem Heidenthume entstammend erkannt werden. Noch bei weitem
reicher aber lagerten sich derartige Ueberreste der Urzeit auf und um Weihnachten
ab, das der Zeit und in gewisser Hinsicht selbst der Bedeutung nach dem höchsten
Feste der Germanen entspricht. Dies ist der Satz, den das Vorhergehende
einleitete und das Folgende erläutern und mit Beispielen belegen wird.
Der Mittwinter, wo die Sonne zu sommerlichen Glänze umzuwenden
begann und wo deshalb am passendsten das alte Jahr schloß und das neue
sich aufthat, mußte dem Geiste der Nordvölker die als Götter aufgefaßten
Naturkräfte sammeln und dadurch zur hochheiligen Zeit werden. Wie viele
der Himmlischen sich einstellten, läßt sich nicht mehr constatiren, wiewol sich aus
dem Ausdrucke „zwölf Nächte" die Andeutung gewinnen lassen möchte, daß in
jeder ein bestimmter der zwölf obersten Götter verehrt worden sei. Lassen wir
aber diese Hypothese beiseite, so scheinen inamentlich drei Gottheiten in der
Julzeit eine Rolle gespielt zu haben, Fro nämlich, Donar und Wuotan nebst
seiner Gemahlin Frick, die je nach der Landschaft auch ändere Namen, z. B.
Frau Herke, Frau Holle, Perchta oder Bertha führte.
Nach vollendeter Bestellung der Wintersaat, um Martini, begann eine Art
Vorfest. Da zogen die Götter auf einem Wagen oder zu Roß durch die Gauen,
empfingen Opfergaben und spendeten Segen dem keimenden Getreide. Es war
ein frommer Mummenschanz, bei welchem das übermenschliche Wesen derer> die
ihn aufführten, dadurch angedeutet war, daß sich dieselben in weiße Gewänder,
in die Farbe des Lichtes kleideten. Dieser Aufzug hat sich, in eine Posse ver¬
wandelt, sowol in Nord- als in Süddeutschland erhalten. Wir meinen den
sogenannten „Schimmelreiter", der in de.n Adventen sein Wesen treibt.
In der Grafschaft Ruppin erscheint in der zweiten Woche des December ein
Ritter auf einem weißen Pferde, das heißt ein Knecht, dem auf der Brust und
auf dem Rücken ein Sieb festgebunden, ein weißes Linnen darübergebreitet
und vorn ein Pferdekopf befestigt wird. Ihm folgt ein ebenfalls weißgekleideter
„Christmann", der mit Bändern geschmückt ist, einen großen Sack mit
Asche und eine Tasche mit Pfefferkuchen trägt und von einem Trupp „Feien",
Burschen, die Weiberkleider angezogen und sich die Gesichter geschwärzt haben, be¬
gleitet ist. Diese Sippschaft zieht mit Musik von Haus zu Haus, und zwar
tritt zuerst der Reiter ein und springt über einen Stuhl. Dann kommt der
Christmann, die Feien müssen draußen warten. Hierauf stimmen die Mädchen
im Hause ein Lied an, worauf der Reiter eine von ihnen beim Arme nimmt
und mit ihr tanzt, während der Christmann den Kindern Sprüche überhört
und die Fleißigen mit Pfefferkuchen belohnt, die Faulen mittelst des Aschen¬
sackes bestraft. Sobald beide wieder fort sind, dringen die Feien herein,
hüpfen umher, treiben allerlei Muthwillen und kehren das unterste zuoberst.
Ein ähnlicher Spuk läßt sich in den Wochen vor Weihnachten in andren
Gegenden Norddeutschlands und in Schlesien sehen. Hier wird der Schimmel
durch drei junge Leute gebildet, von denen die beiden letzten die Hände auf
die Schultern des Vordermannes legen, während ein vierter dem mittelsten aus
den Achseln sitzt. Der Kops des Pferdes ist durch eine Erhöhung angedeutet,
durch welche das weiße Tuch, das über sie gebreitet ist, emporgehoben wird.
Der Reirer ist gleichfalls verhangen und hat bisweilen einen Kürbis, in den
Augen und ein Mund geschnitten sind, und aus welchem ein Licht hervorleuch¬
tet, als Laterne in der Hand. Häusig begleitet den Schimmelreiter ein „Bär",
dargestellt durch einen Burschen, der in Erbsen- oder Haferstroh eingeflochten
ist und mit einer Balancirstange die Rolle des Tanzbären spielt, einst aber,
wie sogleich gezeigt werden soll, nichts weniger als einen Bären vorstellte. In
einigen pommerschen Strichen und namentlich auf Usedom tritt zu diesen ba¬
rocken Masken noch der „Klapp er hock", ein Bursche mit einem Ziegenkopf,
dessen untere Kinnlade beweglich ist und womit fortwährend geklappert wird.
Er stößt die Kinder, welche kein Gebet hersagen können.
In diesem Auszuge sehen wir bei'einem Rückblicke aus die altgermanische
Göttersage ganz deutlich drei Gottheiten auftreten. Der Schimmelreiter ist
Wuotan auf seinem weißen Rosse, der Bock eine Erinnerung an das Attribut
Donars, der Bär endlich, welcher auch bei den Nachklängen i?es alten Maifesteö
eine wichtige Rolle spielt, ist (wenn wir das plattdeutsche Behre- oder Bäre-
Eber daranhalten und das später zu erwähnende weiße Schwein des schwäbi¬
schen Weihnachtsaberglaubens damit vergleichen), ohne Zweifel der heilige Eber
Froh, des Gottes der Fruchtbarkeit. Die Feien mögen Untergötter, vielleicht
auch Elben sein. Der Aschensack deutet an, daß man einst ganz so wie zu
Ostern und am Mittsommertage heilige Feuer anzündete, mit deren Asche man
sich bewarf, indem dieselbe segnende Kraft hatte.
In Mitteldeutschland, namentlich im Königreiche Sachsen, ist Schimmel,
Bock und Bär verschwunden, der Reiter aber geht unter einem Namen um, der
womöglich noch klarer aus den heidnischen Ursprung der Ceremonie hinweist.
Wir meinen den allbekannten „Ruprecht" oder „Rupprich", welcher, jetzt
als Knecht des heiligen Christ aufgefaßt, einige Wochen oder auch nur einige
Tage vor dem Weihnachtsabende in einen mit goldnen Aepfeln und Nüssen be-
hangenen Pelz vermummt, in die Stuben schaut, die Bescherung ansagt, sich
erkundigt, ob die Kinder gefolgt haben, die Gehorsamen mit einer Obstspende
belohnt und die Unartiger schreckt und mit der Ruthe straft. In dem plumpen,
struppigen Gesellen aber haben wir nichts weniger als einen Knecht des Christ¬
kindes, sondern — man denke an die alte Form des Namens Ruprecht, Hruod-
percht — einen „ruhmesprächtigen" Gott, und zwar keinen andern als den
gewaltigen Himmelsriesen und Göttervater Wuotan vor uns, zu dessen Bei¬
namen in der Edda auch der des Ruhmstrahlenden gehörte.
Diese Hypothesen werden zu Ueberzeugungen, sobald man damit zusam-
umstellt, was um Martini und in den Adventen in solchen Gegenden Brauch
ist, wo der Katholicismus die alten Götter in Heilige verwandelt bewahrte.
Hierher gehört zunächst Sanct Martin, dessen Tag auf den -I-I, No¬
vember fällt. In seiner Legende, die beiläufig weit jünger ist, als sein Fest,
findet sich nichts, was auf seine Kleidung oder darauf deutete, daß er mit
Pferden im Zusammenhange stände, und so werden wir schon deshalb den
Schluß ziehen dürfen, daß die im Folgenden mitzutheilenden Züge von einem
heidnischen Gotte entlehnt seien. Stellen wir zuvörderst zusammen, was die
Sitte an seinem Tage zu beobachten gebietet, und ziehen wir dann das Facit.
In Böhmen trinkt das Landvolk sich am Martinstage, der hier „Gehoisto"
heißt, ganz wie einst an den WuotanSscsten, Schönheit und Stärke zu. In
Schlesien sagt man, wenn es zum ersten Male schneit, „der Marten kommt auf
dem Schimmel geritten". In Sachsen bäckt man zu Martini die sogenannten
Märtenöhörnchen, die höchst wahrscheinlich gleich der Martinsgans und den
weiter unten zu nennenden Bretzeln und eberförmigen Weihnachtökuchen ein
Nest uralter Opferspeisen sind und sich auf den Hauptschmuck des Böckh Do¬
nar beziehen, der im Gefolge des Schimmelreiterö den Gott selbst vertrat.
In Schwaben zieht in den Adventen der „Pelzwärte" ganz in der Weise wie
in Sachsen der Knecht Ruprecht umher. Am Niederrhein ward noch vor vier¬
zig Jahren der Vorabend des Martinstages sowie jetzt in Norddeutschland der
Osterabend durch Anzünden von Feuern auf allen Höhen gefeiert, lind noch
jetzt wird hin und wieder der alte Brauch beobachtet. Wie man am -l. Mai
und zu Pfingsten unter Absingung von Reimen Eier und Geld sammelt, so
bettelt sich zu Martini die Jugend Holz'und Stroh zum Martinöfeuer mit den
Worten:
„Wir holen heute Holz und Stroh!
Hohoho! Froh, froh, froh!
Heiliger Sanct Martin»!"
Haben sie ihre Feuerung bekommen, so heischen sie noch Fleisch und Speck,
Würste, Aepfel und Kuchen. Erhalten sie, um was sie gebeten, so erschallt ein
Danklied. Weist man sie ab, so wünschen sie dem Geizigen Uebles in einem
Reime, welcher schließt:
„Und eine Eule fliegt ums Haus,
Die kratzt ihm noch die Augen aus."
Das gesammelte Reisig und Stroh wird entweder in der Mitte des Dorfes
oder auf einem Hügel vor demselben verbrannt. Um das Feuer wird getanzt,
auch reitet auf einem Stecken, der vorn mit einem Pferdeköpfe verziert ist,
Sanct Marten, ein gleich dem norddeutschen Bär in Stroh gehüllter Bursch,
um den Scheiterhaufen. Die Asche wird über die mit Winterkorn besäten Felder
gestreut, indem sie vor Schneckenfraß sichern soll. Rechnen wir dazu, daß der
heilige Martin auf alten Bildern als Ritter mit Roß und Mantel von weißer
Farbe dargestellt wird, und daß die im Herbste ziehenden Naben und Krähen
Nicht blos Martinsherden oder Martinsvogel, sondern sogar Godes-, d. h. Wodes-
oder Wuotanshühner genannt werden, so bleibt kaum ein berechtigter Zweifel
übrig, daß wir in dem frommen Rittersmanne Martin denselben Gott, und in
der Rolle, die er bei diesen Gebräuchen spielt, dieselben Anklänge an die Vor¬
feier des altdeutschen Mittwintersestes vor uns haben, die wir oben in dem
Schimmelreiter und dem Ruprecht entdeckten.
Eine ganz ähnliche Gestalt ist der heilige Nicolaus, der unter mannig¬
fachen Abwandlungen seines Namens ein noch weiteres Gebiet hat, als der
Schimmelreiter, der Martin und der Ruprecht. Sein Tag, der 6. December,
begann in südlichen Gegenden das Vorfest der Weihnachtszeit, und im Norden
sowie am Rhein tritt er ganz so wie die bisher betrachteten Verhüllungen Wuo-
ans auf. In Mecklenburg heißt er „Ruklas", d. h. der rauhe Nicolaus,
er Braunschweig und Hannver „Bullerklas", am Niederrhein und in West-
iphalen einfach „Kloas" oder von seinem Aschensacke „Ziederklas". Auch hier
ist sein Charakter eine Mischung aus Popanz, Kinderfreund und Possenreißer.
Die Kinder glauben, daß Sanct Niclas als Bote des Christkindes die Weih-
nachtsbescheerung verkündend durch das Land zieht. Er sitzt auf einem Schimmel,
das Christkind auf einem weißen Hahne. Er kommt stets in der Nacht, pocht
an die Thür und poltert durch das Haus. Die Kinder haben vor ihrer Schlaf¬
stube große Schüsseln und daneben ihre Schuhe hingestellt, die mit Hafer, „dem
Klas für sein Roß", gefüllt sind. Er nimmt das Pferdefutter und füllt dafür
die'Schüsseln mit Geschenken, während die Kleinen drei Gebete hersagen oder
sich ängstlich unter ihre Decke verkriechen. Ungezogene Buben und Dirnen
finden am Morgen eine in Kalk getauchte Ruthe auf ihrer Schüssel, artige
Kinder dagegen allerlei angenehme Dinge, Zuckerbrod und Bretzeln, Aepfel,
Nüsse, Heiligenbildchen, vor allem aber den „Klasmann", das Bild des Hei¬
ligen (oder des alten Gottes) selbst aus Semmelteig geformt und mit Korin¬
thenaugen versehen,.sein schmackhaftes Pferdchen besonders, oder (ganz wie die
Pfefferkuchenreiter des Dresdner Strietzelmartts), aus Honigkuchenteig in Form
gepreßt den Klas zu Pferde. >
In Oestreich, Baiern und der Schweiz ist Nicolaus nichts als der kinder¬
liebende Bischof. Er tritt im kirchlichen Ornate auf und hat einen Engel im
Chorhemde zur Begleitung. Allein auch hier findet sich eine sehr deutliche
Spur seiner ursprünglich heidnischen Natur, die sich durch Ausführung des
Grundsatzes Gregors des Großen (Cap. 71), „daß man die Feste der Heiden
allmälig in christliche verwandeln und in manchen Stücken nachahmen müsse",
nicht völlig verwischen ließ. Der andre Begleiter des Heiligen nämlich, in
Oestreich „Grampus", in Steiermark „Bartel" genannt, ist ein und dasselbe
» Wesen mit dem Schimmelreiter, dem Ruprecht, dem Pelzwarter und dem Nul-
kas, d. h. der von der Kirche in eine mehr oder minder komische, mehr oder
minder grauenvolle Spukgestalt verunstaltete Himmelsgott Wuotan bei seinem
Umzüge am Vorfcste des Jul. Daß dieser in ihm verborgen, ergibt sich aus
dem ganzen Zusammenhange, vorzüglich aber daraus, daß mit dem Nicolaus
in Obersteiermark die „Habergais" auftritt, die beinahe vollkommen dem pom-
merschen Klapperbocke, der oben als Begleiter des Schimmelreiters geschildert
wurde, entspricht.
Daß diese Zeit eine hehre und heilige war, zeigt sich unter anderm auch
aus dem Zauber, der in ihr getrieben wurde. Wir erinnern nur an den An-
dreastag (30. November), wo allenthalben die Zukunft erforscht wird. So
schließen an diesem Tage die Mädchen in Schwaben einen Kreis, in dessen
Mitte ein Gänserich mit verbundenen Augen gestellt wird. Zu welchem Mäd¬
chen das Thier sich wendet, die wird im folgenden Jahre Braut. Anderswo
betteln die Dirnen sich von einer Wittwe „unberufen" einen Apfel, essen die
eine Hälfte und legen die andre unter ihr Kopfkissen, dann träumt ihnen um
Mitternacht unfehlbar von dem Zukünftigen. Wieder anderwärts sehen sie in
der Andrcasnacht Punkt zwölf Uhr in den Brunnen, und da schaut ihnen der
einstige Schatz, über seiner Schulter aber zugleich der Teufel entgegen. Allent¬
halben wird aus dem in ein Glas Wasser geschuldeten Dotter eines Eies oder
aus in Wasser gegossenem Blei der Stand und das Gewerbe des zukünftigen
Ehemanes erkannt. Sehr verbreitet endlich ist auch die folgende Art, in der
Andreasnacht den einstigen Bräutigam zu citiren. Das Mädchen muß allein
in einer Kammer schlafen und mit dem Schlage Zwölf sagen:
„Heiliger Andreas, ich bitt dich,
Bettstoll, ich tritt dich,
Laß mir doch erscheinen
Den Herzallerliebsten meinen
Wie er geht und steht,
Wie er mit mir in die Kirche geht."
Wird vor und nach diesem Gebete dreimal an die Wand geklopft und bei
den Worten „Bettstoll, ich tritt dich" mit den Füßen gegen die Bettlade ge¬
treten, so muß der Zukünftige erscheinen, und wenn er auch hundert Meilen
weit entfernt wäre. Daß dieser und ähnlicher Aberglaube aber im Heiden-
thum wurzelt, wird sich im Folgenden mit entscheidender Deutlichkeit erweisen.
Die Mummerei der Adventszeit war, wie mehrfach schon angedeutet, ledig¬
lich das Vorspiel zur Feier der zwölf Nächte, des Geburtsfestes der Sonne,
des hochseligen Jul, welches mit dem von Tacitus erwähnten Tanfanafeste
identisch zu sein scheint. Das Julfest gehörte zu den drei großen Opfer- und
Gerichtszeiten der Germanen, von denen noch zahlreiche Neste übrig sind. Es
war der höchste Feiertag unsrer Urväter, oder vielmehr ein Cyclus von Feier¬
tagen. Die ganze Periode von der Stunde an, wo die Sonne ihren (schein¬
baren) Wendepunkt erreichte, bis zu dem Tage, wo sie wieder vorwärts rückt,
in der einen Gegend die Zwölften, in der andern die Loostage, wieder anderswo
die Rauhnächte, am Rheine auch die Dreizehnnächte genannt, war geheiligt.
Während derselben ruhten Ackergerät!), Handwerkszeug und Waffen. Cäsar
und Germaniens benutzten diese Zeit, um die keines Angriffs gewärtigen, fried¬
lich der Festfeier sich erfreuenden Stämme am Niederrhein zu überfallen. Man
brachte den Ueberirdischen Opfer, vorzüglich an Pferden und Schweinen, hielt
Schmäuse, erleuchtete die heiligen Haine mit Strohfackcln und Kerzen und ließ
auf den Bergen jene mächtigen Feuer lodern, welche alle Ehrentage der Götter
mit ihrem Scheine bestrahlten. Der große Gerichtssriede herrschte. Die Woh¬
nungen wurden mit Wasser um Mitternacht aus heiligen Quellen besprengt,
von dem ein Rest das ganze Jahr über zu frommem Gebrauche aufbewahrt
wurde. Beim Schmause legte man Gelübde ab, trank das Gedächtniß der
Götter, pries sie und vor allem den Sonnengott in schallenden Liedern, führte
Schwerttanze aus und musicirte dazu, so gut man es vermochte.
Auch hiervon hat sich manches in Sitte und Sage erhalten, wenn auch ver¬
stümmelt, und theilweise verunstaltet durch ungehörige Zuthat. Noch jetzt will
in vielen Gegenden der Aberglaube, daß in den zwölf Nächten alle Arbeit und
namentlich die des Nockens und der Spindel ruhe. Die Uebertreter trifft die
Rache der gegenwärtig zu Gespenstern herabgesetzten Götter. Das Haus mußte
gesäubert und geschmückt sein, wenn die heilige Zeit nahte, und noch jetzt weiß
man in den Thälern Steiermarks, daß auf den Höfen, die in der Weihnachts¬
woche nicht in Ordnung geHallen werden, die Kinder wegkommen. Ist die
Ordnung des Hauswesens für die festliche Zeit festgestellt, dann darf sie nicht
nichr gestört werden, und so oft während der Zwölften der Tisch verrückt wird,
so oft dottnert es im nächsten Jahre. Die tiefste Stille muß gewahrt werden,
und wer durch lautes Zuwerfen der Thüre die geweihte Nacht entweiht, hat
im folgenden Sommer den Blitz zu fürchten,
Am Niederrhein geht die Sage, daß in der Weihnacht während einer Mi¬
nute, die der Kundige wahrzunehmen weiß, alle Wasser Wein sind, daß das
in dieser Nacht geschöpfte Wasser sich gleich dem Osterwasser das ganze Jahr
hindurch frisch erhält und daß — ein sehr poetischer Hinweis auf die unter¬
gegangene Herrlichkeit des Heidenthums! — in der Christnacht die Glocken
aller versunkenen Kirchen und Kapellen ihr Geläut vernehmen lassen. Ferner
heißt es, daß die Sonne in der Christnacht zwei Freudensprünge thue und
dann ihren Lauf ändere — so namentlich in Schwaben. In diesem erhabenen
Augenblicke soll alles Vieh in den Ställen und im Walde auf den Knien liegen
und beten.
Andre Ueberbleibsel des alten Juldienstes sind folgende. Am Kaiserstuhl
und im Albthale holt man in der Christmitternacht das „Heilwag" oder hei¬
lige Wasser, welches das Haus segnet. Leibweh heilt und vor Schaden bewahrt.
An der Sieg und Lahn wird zu Weihnachten der Grundblock am Feuerherde
erneuert. Ein schwerer Klotz aus Eichenholz, gewöhnlich ein Erdstummel, wird
entweder an der Feuerstelle eingegraben oder in einer dafür bestimmten Mauer¬
nische unterhalb des Hehlhakens oder Kesselfangs angebracht. Wenn das
Herdfeuer in Glut kommt, glimmt dieser Klotz mit, doch ist er so gestellt, daß
er kaum in Jahresfrist völlig zu Kohle wird. Sein Nest wird bei der Neu¬
anlage sorgfältig herausgenommen, zu Pulver gestoßen und wahrend der Zwölf¬
ten als ganz besonders gute Düngung auf das Feld gestreut. Aehnliche Sitte
herrscht noch jetzt in englischen Dörfern. Sobald das Haus mit Stechpalmen
geschmückt und der mystische Mistelzweig aufgehangen ist, wird der Julblock
(^uls lox) angezündet, der gewöhnlich die knorrige Wurzel eines Baumes ist,
und die heiligen Tage hindurch brennen muß. Ein Stückchen muß übrigblei¬
ben, womit der Julblock des nächsten Jahres in Brand gesetzt wird. Endlich
wird in der Gegend von Marseille und in der Dauphinee vollkommen dieselbe
Ceremonie vorgenommen, nur wird hier der Weihnachtsblock (caligneau) mit
Wein oder auch mit Oel und Wein begossen.
Früher scheint es auch öffentliche Weihnachtsfeuer gegeben zu haben, we¬
nigstens am Niederrhein und an der Scheide. Jetzt lodern deren nur noch in
Schweden und Norwegen, sowie bei Gelegenheit deö Winterfestes zu Schweina
in Thüringen. Da errichtet die Jugend auf dem Döngelsberge eine Pyramide
aus Feldsteinen, zu welcher man am Christabend mit großen Fackeln hinaufzieht,
Weihnachtslieder singt und schließlich die Fackeln auf einen Hausen wirft.
Unten auf der Ebene wieder angelangt, stimmt man beim Scheine von Laternen
und Grubenlichtern Christlieder aus dem Gesangbuche an, und die Ortsmusikan-
ten begleiten den Gesang mit ihren Instrumenten. ,
Ein andrer altdeutscher Festgebrauch war das Verwachen der Weihnacht.
Selbst die Hausthiere durften sich früher dem Schlafe nicht überlassen, sondern
wurden ausgetrieben und gefüttert, indem dies vor Viehseuchen bewahren sollte.
Selbst die Bäume wurden geschüttelt, auf daß sie im folgenden Jahre reich¬
licher trügen. Ja im schwäbischen Orte Buhl muß man sogar den Essig im
Keller aufrütteln, weil er dann das ganze Jahr nicht ausgeht. Ganz beson¬
ders zahlreich aber sind die Beispiele von Weihnachtsaberglauben, welche dar¬
thun, daß in dieser mit göttlichen Kräften erfüllten Zeit dem Menschen auch
die Zukunft offen lag. Noch jetzt gehen Abergläubische in der Cbristnacht in
die Wintersaat, um die Geister von den kommenden Dingen reden zu hören.
Noch jetzt wird in Schwaben am Tage vor Weihnachten in der Scheuer der Platz
unter dem Obertenloche reingefegt und am andern Morgen nachgesehen, welche
Frucht während der Nacht herabgefallen ist: diese nämlich geräth im folgenden
Jahre vorzüglich gut. Noch jetzt hört man bei Tübingen, wenn es ein gutes Wein¬
jahr geben soll, in der Christnacht Punkt zwölf Uhr ein Klopfen an den Butten
der Keller. Andre Arten, in der Zwölften die Zukunft zu erforschen, sind folgende:
In der Gegend von Lorch in Schwaben Schläfern die Mädchen am Donnerstage
vor dem Christfeste eine junge schwarze Henne ein und legen sie auf den Boden,
worauf sie sich im Kreise um sie lagern und ihr Erwachen erwarten. Verläßt
sie nun den Kreis, so wird angenommen, daß die, zwischen denen die Henne
durchgeht, im Laufe des Jahres heirathen. Verunreinigt sie aber die Stelle,
wo sich ein Mädchen befindet, so gilt dies als ein Zeichen, daß dasselbe dem¬
nächst unehelich niederkommen werde. Was man in Kato bei Stuttgart in
den letzten zwölf Nächten des Jahres träumt, das wird in den zwölfMonaten
des nächsten Jahres wahr. In Thüringen horchen die Mägde in der Weih¬
nacht auf der Schwelle des Pferdestalls, und wenn ein Hengst wiehert, so
glauben sie, daß bis zu Johanni ein Freier erscheinen wird. Andre schlafen,
r>in zukünftige Ereignisse zu erfahren, in der Pferdekrippe. Wieder andre horchen
auf Kreuzwegen und an Marksteinen, und vermeinen sie Schwertergeklirr und
Roßgewieher zu vernehmen, so prophezeihen sie Kriegsnoth sür das nächste
Frühjahr. Schließlich war es noch vor fünfzig Jahren im Oberbergischen
Sitte, daß der Hausvater in der Weihnacht ein Ferkel aus dem Stalle in die
Stube holte und dasselbe kneipend ihm mehre Fragen vorsprach, z. B.:
„Witzchen, sag mir Witzchen
Viel oder ein Fitzchen?"
Jenachdem das Schweinchen quiekte, schloß der Bauer auf eine zu¬
künftige reiche oder karge Ernte. Dann frug er weiter:
„Witzchen, sag mir alsbald,
Im Feld oder Wald?"
Nach dem Hellem oder dumpfem Gequiek des Ferkels wurde angenommen,
daß entweder die Kartoffeln und Rüben-, oder die Eicheln und Bucheckern be¬
sonders gedeihen würden.
Eine reiche Obsternte wurde auch dadurch zu erzielen versucht, daß man
(dies vorzüglich in Schwaben) Strohbüschel oder (wie z. B. am Rhein) Epheu-
und Mistelkränze an die Bäume befestigte. Wie das Fragen der Schweine
auf Opfer, so scheint dieser Schmuck der Bäume aus die Strohfackeln zu deuten,
welche im Alterthum nebst den Köpfen der geschlachteten Pferde und Eber an
den Bäumen der heiligen Haine angebracht wurden, eine Sitte, die von den
rheinischen Kirchenversammlungen wiederholentlich als heidnisch untersagt worden
ist. Selbst lange schon bekehrte Christen brachten den gestürzten Heidengöttern
das Opfer des Lichtanzündens an Kreuzwegen, um es schlimmstenfalls auch
mit ihnen nicht verdorben zu haben. Dies aber ist der Ursprung unsrer Christ-
bäume, die mit ihren grünen Nadeln ein schönes Symbol der auch in der
Winterzeit lebendigen göttlichverehrten Naturmacht, mit ihren Lichtern eine
Verklärung und Heiligung dieser Macht sind, während die vergoldeten Aepfel
und Nüsse an ihren Zweigen auf einstige Opfer deuten. Das Alte ist eben
wie alles Alte zusammengeschrumpft. Wie das einst alle Kreise durchdringende
Opferfest zur Bescherung für Kinder geworden ist, so wurden auch die Bäume
kleiner, bis sie endlich im Zimmer Raum hatten; die festliche Stimmung aber
nahm nicht ab, sondern pflanzte sich gleichsam im Blute von Geschlecht zu
Geschlecht bis aus das unsere fort.
Betrachten wir die Tage nach dem 23. December, so weist gleich die Art,
wie am Rhein und in Schwaben der nächstfolgende, jetzt dem heiligen Stephan
geweiht, begangen wurde, sehr deutlich auf altheidnischen Brauch hin. Derselbe
heißt in den genannten Strichen im Volksmunde der „Pferdstag", und es
scheinen an ihm vorzüglich Turniere und Wettrennen abgehalten worden zu
sein. Noch jetzt reitet man am Niederrhein ganz wie in andern Gegenden
beim Mai- oder Pfingstfeste in Scharen von Ort zu Ort, und dasselbe ist in
verschiedenen schwäbischen Dörfern, z. B. in Backnang, der Fall. Die Sage
geht, daß dies vor Hererei und Seuche schütze. Auch wurde früher an diesem
Tage den Pferden zur Ader gelassen und Roßhufe wurden über die Stallthürcn
genagelt zur Abwendung von Zauberei. Nicht undeutlich tritt in diesen An¬
deutungen das altgermanische Pferdeopfer hervor, das bei allen hohen Festen
gebräuchlich war.
Eine Erinnerung an die Schmäuse der zwölf Nächte haben wir endlich
in dem Gebrauche der Johanniseimer vor uns, die in katholischen Gegenden
hin und wieder noch üblich ist. Beim Julfeste wurden auf das Gedächtniß
der Götter feierliche Becher geleert, und noch heute wird am 27. December in
der Umgebung von Tübingen und Eßlingen von jedem Gemeindegliede ein
Maß Wein zur Kirch'e gebracht, dort vom Pfarrer mit den Worten: „Trinkt
aus diesem Kelche wahre christliche Bruderliebe" geweiht und dann zu Hause
getrunken, indem dabei der Glaube herrscht, daß. dieser Johannistrunk — der
meist dem Wuotan gegolten haben mag — vor allem Schaden schütze. Ein
anderer nicht minder deutlicher Rest ist der Eberkopf, der einst bei allen Ger¬
manen das Hauptgericht der Julzeit bildete und in England noch jetzt hin und
wieder auf die Tafel kommt, und auf welchen auch die eberförmigen Weinachts¬
gebäcke der Schweden hinweisen. Hier finden ferner die norddeutschen Bretzeln
und die schwäbischen Neujahrsringe, die beide das Bild des heiligen Sonnen¬
rades mit seinen Speichen repräsentiren, ihre Erklärung. Zum Schluß aber
kann hinsichtlich der Bestandtheile jener Opferschmäuse an die Christstollen
Mitteldeutschlands, an das schwäbische Huzelbrot, an die Neujahrskuchen, die
im Bergischen am Sylvesterabende gebacken werden, an das blaue Muß, welches
ebendaselbst am Weihnachtstage gegessen werden muß und dann gegen das
Fieber sichert, an das Gericht gelber Rüben, die der schwäbische Bauer am
Neujahrstage verspeist, an die Knötel mit Heringen, die im Saalfeldischen
nothwendige Sylvesterspeise sind, an den unumgänglichen Heringssalat der
Leipziger Weihnacht und an den Hirse, den man in Dresden zu Neujahr auf
dem Tische der Hausfrau von altem Schrot und Korn sieht, und welcher
bewirkt, daß es im begonnenen Jahre nicht an Geld fehlt, mit Fug erinnert
werden. '
Eine ungemein große Anzahl von Bruchstücken zur Ergänzung deS Torso,
als'welchen wir die heidnische Weihnacht in der christlichen aufgehoben sehen,
ließe sich noch beibringen. Das Mitgetheilte wird indeß genügen, und wir
dürfen die Aufmerksamkeit des Lesers nicht zu lange in Anspruch nehmen. Eins
jedoch bleibt noch zu erwähnen. Ganz wie bei jener Vorfeier um Martini
und in den Adventen stellten sich auch in den Nächten des eigentlichen Mill->
winterfestes die Himmlischen ein, bald in milder freundlicher Gestalt, bald mehr
nach ihrer erhabenen und furchtbaren Seite.
Der Ruprecht, welcher, nachdem er die Bescherung angesagt, den Christ¬
baum anzündet und mit dem heiligen Christ die Gaben unter denselben legt,
ist von uns bereits als ein Gott erkannt worden, und zwar als der ruhm¬
strahlende Vater der Götter. Bei derselben Gelegenheit entdeckten wir in dem
Bären, der den Schimmelreiter begleitete, den Eber Froh. Jetzt treffen wir
in Tüb'lügen dasselbe Attribut des Gottes der Fruchtbarkeit als weißes Schwein,
welches regelmäßig in der Geisterstunde der Weihnacht aus dem Kornhause an der
Ammer die Marktgasse entlang bis an die krumme Brücke läuft und dann ver¬
schwindet. Der böse Feind endlich, welcher in verschiedenen Gegenden deren,
welche sich die Advente hindurch alles Betens enthalten haben und in der
Mitternacht vor dem Christfeste auf einen Kreuzweg treten, mit einer Düte
voll unsichtbar machenden und allerlei andere Wunder wirkenden Farnsamen
erscheint, möchte schwerlich ein anderer sein, als Wuotan, der Wunschverleiher,
von der Kirche zum Teufel umgewandelt.
Vor allem aber gehört hierher der Umzug des wilden Heeres, wel¬
ches schon durch die schwäbische Bezeichnung „Wuvtesheer" als der Heereszug
des Gottes bezeugt ist, welchem das Julfest in Deutschland ganz besonders
gegolten zu haben scheint. Bald als riesenhafter Reiter auf eiuen rothgefleckten
Schimmel, bald als rasselnder Wagen braust schwäbischer Sage zufolge in der
Weihnachtszeit und zu Neujahr dieser grausenvolle Spuk über das Land hin.
Wer es kommen hört, muß sich mit dem Gesichte auf den Boden werfen, sonst
schleppt es ihn mit fort. Es hat seine bestimmten Wege, in Jmmenhausen und
Pfullingen die Heergasse, in Undingen die Wuotesgasse. Bisweilen läßt es
eine wilde Musik, manchmal auch Gesang von vielen hundert Stimmen hören.
Ein heftiger Sturmwind fährt vor ihm her. Hin und wieder geht die Sage,
wenn es recht lose, verkünde es ein fruchtbares Jahr. In Rotenburg hat es
einmal ein ganzes Haus umgerissen, und an vielen Orten wurden Neugierige,
die es sehen wollten, geblendet, und Spötter, die ihm Hvhnworte zuriefen, mit
Pferdeschinken oder Geisfüßen geworfen, daß sie vor Schrecken starben.
Wäre noch ein Zweifel, daß es Wuotan mit dem Heere der nach Walhalla
geladenen Helden ist, der hier an seinem Feste durch die Lande zieht, so müßte
er bei Betrachtung des Umstands schwinden, daß tzer Anführer der wilden Jagd
in einigen Gegenden gradezu der „Breithut" heißt, eine Benennung, welche
auf das überraschendste dem Beinamen „Sidhöttr" entspricht, den Odin in
der Edda sührt.
Mit diesem Bilde schließen wir die Reihe von mehr oder minder farbigen
Schatten, die wir der Zauberlaterne des Weihnachtsaberglaubens entschweben
ließen. Wir sahen den Hintergrund unsrer Weihnachtsfeier, sahen tolle Possen
sich in ihren sinnvollen Brauch, Teufel und Gespenster sich in Götter ver¬
wandeln, erkannten das Licht, welches der Weihnachtstanne entstrahlt und
thaten Blicke in das Herz unsres Volkes, die manches erklärten, was an
diesem Herzen Eigenartiges ist. Möge dieses Herz ihm bleiben, wie ihm durch
die Winter von zwanzig Jahrhunderten hindurch die Tanne, das Wahrzeichen
seiner Weihnacht, grün geblieben ist.
Die Vorstadt von Paris, wie man Brüssel häusig zu nennen pflegt, hat
zwei große Etablissements, in welchen sich die Masse des Publicums ver¬
gnügt. Sie heißen: Casino toto, unweit der Hauptstation der Nordbahn und
Chateau des Fleurs, vor dem Laekner Thor, in der Chaussee dAnvers. Einem
geübten Auge wird es nicht entgehen, wie in Brüssel drei Elemente: das fran¬
zösische, flamländische und wallonische, hervortreten. Am leichtesten
findet man den Unterschied da, wo sich die Masse vergnügt und wir können,
um das französische Element der belgischen Hauptstadt z. B. kennen zu lernen,
keine» besseren Ort wählen, als das lustige Chandeau des Fleurs mit seinem
großen Garten, in welchem wir eine Menge Rasenplätze, Baumalleen, grüne
Bosquetö, aber nur keine Blumen finden konnten. —
Wenn man in den Wochentagen Abends gegen 7 Uhr von dem Place de
Monnaie die Rue neuve hinab nach den Boulevards zu geht, bemerkt man eine
dichte, lustige Menschenmenge, welche durch diese Straße hinunter nach der
Porte de Laeken. und dann rechts ab in die Chaussee dAnvers zieht. Wir
schließen uns ihr an und gelangen so an das Chandeau des Fleurs, dieses
Blumenschloß ohne Blumen, ohne natürliche wenigstens, von dessen Dach bunte
Flaggen und Fahnen von allen Farben in mächtiger Breite herabwehen. Mit
genauer Noth erHaschen wir bei dem großen Andrang an der Kasse des Por¬
tiers eine Karte für 30 Centimen, die uns das Recht auf alle möglichen Ge¬
nüsse des Chateau des Fleurs, und deren sind sehr viele, ertheilt. Was kann
man nicht alles für diese 30 Centimen haben: Gesang, Tanz, Concert, Theater,
Improvisators und noch obendrein ein Glas Färö, dieses säuerliche Brüsseler
Bier, oder ein Gläschen Cognac.
Wir sind indessen glücklich bis in die Mitte des ungeheuren Saales, in
welchem viele Hunderte von niedrigen Stühlen und kleinen Tischen stehen, ge¬
langt und haben noch Zeit, da die Abendunterhaltung erst in einer Viertel¬
stunde beginnt, bei dem sast blendenden Glanz der Gasflammen das Publicum
zu betrachten . . Aus den aristokratischen Kreisen sieht man nun freilich nie¬
mand im Chateau des Fleurs, es müßte denn ein alter Bonvivant sein, der
aus einen Abend den Liebhaber einer Brüsseler Grisette spielen wollte, aber desto
zahlreicher sind die kleinen Geschäftsmänner mit ihren Frauen, Epiciers, junge
Comptoiristen, die Grisetten, unter denen vorzüglich viele Französinnen, die^
jüngeren Künstler und Beamten -und — die flamländischen Kindermuhmen mit
den Kindern ihrer Herrschaft vertreten.
Einem Deutschen erscheint es auffallend, Kinder an einem Vergnügunsort'e
zu finden, wo Wort und Geberden nicht immer nach den Grundsätzen der An¬
ständigkeit und Moral — nach deutschen Begriffen —- geregelt werden, aber
hier ist es ganz in der Ordnung, daß Vater und Mutter ihre vier-, fünf- und
siebenjährigen Sprößlinge mit an derartige Orte nehmen. Die Abendunterhal¬
tung nimmt jetzt bald ihren Anfang, denn die Ausrufer, welche draußen auf
den Boulevards mit den Programmen der Wunderdinge im Chateau des Fleurs
umherliefen und durch ihr Geschrei die Ohren der Spaziergänger marterten,
stürzen in den Saal und rufen, in den Zwischenräumen auf- und abrennend,
aus vollem Hals: „Meine Damen und Herren, das Programm der großen
Soiree für 3 Centimen". Es klingelt — und in demselben Moment springt
ein elegant gekleideter Herr hinter dem Vorhang der' sich im Hintergrund er¬
hebenden Bühne hervor und verkündet mit einer Stentorstimme und einem
großen Aufwand von Pathos, daß der Augenblick des Beginnens dieser
„Soiree ertraordinaire" gekommen. Auf dieses Wort verstummt das Schwirren
und Summen'im Saal, die Musik fällt ein, und nachdem die Gardine sich
gehoben, tritt „Mademoiselle Mathilde", eine Größe vom Pariser Vaudeville,
wie der Zettel prahlend verkündet, in eleganter Toilette auf und singt einige
jener leichten französischen Lieder, die das Publicum weniger durch die Melo-
die, denn die scheint beim französischen Gesang Nebensache zu sein, als durch
die mehr oder minder verblümten Zweideutigkeiten entzücken. Ob die Sängerin
wirklich vom Pariser Vaudeville ist, wissen wir nicht, soviel ist indessen sicher,
vor einem deutschen Publicum derselben Classen, aus denen das des Chateau
des Fleurs besteht, würde ihr Gesang keinen Beifall gefunden haben, wenn
auch die jugendliche, anmuthige Erscheinung die Zuhörer zur Nachsicht gestimmt
hätte.. Mit einer graziösen Verbeugung-empfiehlt sich die junge Pariserin unter
dem Beifallssturm der Menge und langsam hervor in gemessenem Schritt tritt
.Monsieur IlF-ni oelsbre ekantvur Serien", wie ihn das Programm nennt. Wie
anderwärts große Künstler und Künstlerinnen bei ihrem Auftreten mit Bravo
und Händeklatschen empfangen werden, so geschah es auch beim Erscheinen des
Monsieur Tigall, der von dem Publicum des Chateau pes Fleurs mit einem
Enthusiasmus empfangen wurde, der unsrem deutschen Herzen äußerst wohl¬
gefiel. Mit einer wahren Sehnsucht lauschten wir dem vaterländischen Sang
entgegen, wenn wir auch in Bezug aus die steyermärkische Abkunft des Mon¬
sieur Tigall, der in jenem üblichen Redoutentyrolereostüm auftrat und das Publi¬
cum mit einer gewissen vertraulichen Hutschwcnkung begrüßte, einige bescheidene
Zweifel hegten. Der Mann begann, aber auch bei der gespanntesten Aufmerk¬
samkeit war es unsrem deutschen Ohr nicht möglich, auch uur ein einziges
deutsches Wort zu verstehen, auch die Melodie war keine von jenen steyerschen
Weisen, die in Süd- und Norddeutschland sogleich von jedermann erkannt wer¬
den. Das Publicum des Chateau des Fleurs beachtete indessen diese Mängel
nicht, unter Füßestampfen, eine Bewegung, die hier mit zu den Beifallsbe¬
zeichnungen gerechnet wird, Händeklatschen und Bravorufen brachte es dem
„berühmten steyerschen Sänger" seine Huldigung dar, und als er wieder mit
jener nachlässigen Hutschwenkung, die jedenfalls den freien Gebirgssohn und
die naturwüchsige steyersche Sitte bezeichnen sollte, sich dem Publicum empfahl,
wollte der Applaus kein Ende nehmen . . Eine sehr leicht geschürzte Pariser
Tänzerin, Mad. Jsmcnie nannte sie sich, ersetzte den steyerschen Sänger, indem
sie singend und tanzend die Geschichte des Tanzes von der ehrsamen spanischen
Menuett des vorigen Jahrhunderts und der französischen Gavotte bis heraus
zur liederlichen Polka, die hier eine bedeutende Aehnlichkeit mit dem bekann¬
ten Cancan hat, darstellte. Der Polka aber diese Aehnlichkeit zu geben, das
war die Hauptaufgabe der Tänzerin und je wilder, kecker, herausfordernder,
ihre Bewegungen wurden, desto stürmischer wurde auch das Händeklatschen,
in welches selbst die kleinen Rangen der ehrsamen Gewürzkrämer mit einfielen.
Auf diese Einzeldarstellungen folgten drei größere, von denen die eine eine
sogenannte Opera fantastigue war, mit dem merkwürdigen Titel ,,I.«Z8 umcmrs
6'rin<z earpe" (Liebschaften eines Karpfen). Diese Opera faiNastique war das
tollste Zeug, waS nur je in einem menschlichen Hirn entstehen kann, und um
die Sache noch pikanter zu machen wurde zugleich oben auf der Bühne und
unten vom Zuschauerraume aus, in welchem sich zwei Actricen in elegantester
Salontoilette befanden, und von wo aus sie hinauf auf die Bühne parlir-
ten, gespielt. . . — „1,68 con8uUiZ,Arm8 6e ,soLri88S, vauäsvlllö en un aete",
ein bekanntes Vaudeville, welches zum wenigsten alle Monate ein paar Mal
auf den Pariser und Brüsseler Bühnen gespielt wird und in welchem ein
tölpelhafter Bedienter in der Abwesenheit seines Herrn, eines berühmten Doc-
tors, sich für diesen ausgibt und für schweres Geld allerlei Rathschläge er¬
theilt, schloß die Reihe der mimischen Darstellungen. — In der kleinen Pause,
die nun entsteht und die von den Garcons dazu benutzt wird, die Sessel und
Stühle aus der Mitte des Saals hinwegzuräumen, beginnt nun eine schwir¬
rende und summende Unterhaltung über die Leistungen der Künstler und
Künstlerinnen, die ebenso lebhaft discutirt werden, als die Verhandlungen
der edambre nes clvputW. Wir sagten absichtlich eine „schwirrende und sum¬
mende Unterhaltung, denn obgleich vielleicht 8—900 Personen in dem Saale
sich befanden, so war doch das Geräusch, welches die vielen hundert Spre¬
chenden verursachten, bei weitem nicht so laut wie das, welches eine halb so
zahlreiche deutsche Versammlung verursacht haben würde. Dieses leise Spre¬
chen in der Unterhaltung ist in Brüssel und Paris durchaus gebräuchlich, und
wenn man uns Deutsche auch nicht an dem fremdartigen Accent, mit welchem
wir das Französische sprechen, erkennen würde, so würde man uns doch ganz
sicher an der lauten, stärken Betonung erkennen. Trompetenstöße, die vom
Orchester herüberklingen, unterbrechen die Unterhaltungen und geben das
Zeichen zum Tanz, dem soviele Hunderte von sehnsüchtigen Herzen entgegen¬
geharrt haben. Bei diesem Signal nehmen die ehrwürdigen Familienväter
ihre Gattinnen am Arm und diese die kleinen Rangen und verlassen das
Chateau des Fleurs, wo nur noch die Jugend, die lebens- und tanzlustige
Jugend zurückbleibt. Das Orchester beginnt mit einer Galopade und im wil¬
den, rauschenden Wirbel fliegen die Grisetten am Arm ihrer Tänzer dahin.
Man muß diese im Durchschnitt kleinen und zierlichen Gestalten sehen, um
zu begreisen, wie der Tanz für sie zum Lebenselement geworden ist. Jedes
Glied, jede Muskel ihres Körpers bewegt sich, sie tanzen nicht blos mit den
Füßen, sondern der ganze Körper ist in Ertase und man kann kaum begrei¬
sen, wie diese so zart und fein gebauten Gestalten die Anstrengung eines
i—6 stündigen Tanzes aushalten können. Und nun erst wenn der Contre be¬
ginnt und der Punsch und Grog, den die Garyons herumtragen, die Kopfe
erhitzt hat und der Contre sich in jenen bekannten Cancan verwandelt, der
sehr bald seinen Weg von den Tanzsälen der Pariser Barrieren und Bal ma-
hnte in das Chateau des Fleurs und die übrigen Tanzsalonö von Brüssel ge¬
sunden, wenn man diese blitzenden Augen, diese fliegenden, halbaufgelösten
Locken, um welche die bunten Bänder der Häubchen, die hier von vielen jun¬
gen Mädchen getragen werden, flattern, diese wilden Bewegungen und Ver¬
schlingungen sieht, dann glaubt man sich inmitten einer Schar moderner Ba¬
chanten und Bachantinnen versetzt, die in der wildesten Lebenslust den Zweck
ihres Daseins suchen. Wenn aber der Tanz gar zu zweideutig und frivol
wird, dann klopft einer der Stadtsergeanten, die in ihren dunkelblauen
Uniformröcken und den kurzen, breiten Degen an der Seite, an der Galerie
des Salons geräuschlos auf und abwandeln, den Tollsten oder-die Tollste —
denn die Tänzerinnen lassen sich in dieser Beziehung von ihren Tänzern nicht
übertreffen- -— höflich aus die Schulter und spricht: „Mein Herr oder
Mademoiselle mäßigen Sie sich." Mitunter wird dem freundlichen Wink
gefolgt, noch häufiger geschieht es aber auch, daß sich der Uebermuth der
Tanzenden, angefacht durch das Bravorufen der Zuschauer, die sich immer
um die Paare versammeln, welche den Cancan am kühnsten tanzen, nur
noch steigert und die Stadtsergeanten ernstlich einschreiten müssen. Dies
xommt indessen nicht häufig vor, die Brüsseler Polizei ist die höflichste und
gefälligste von der Welt und nimmt es in der Regel mit einem kühnen
Pas nicht allzustreng. Es ist unterdessen sehr spät geworden, die Reihen der
Tanzenden lichten sich allmälig, eine Menge einzelner Paare verlieren sich in
den dunklen Gängen des Gartens, in welchen nur hier und da — wir wissen
nicht warum — eine farbige Lampe ein mattes Licht verbreitet und eine wilde
Höllengalopade, die das Orchester anstimme, bildet den Schluß des Ver¬
gnügens. Mit dem letzten Klänge schrumpfen wie auf einen Zauberschlag die
Gasflammen zusammen, so daß nur eine sehr matte schwache Dämmerung im
Saale herrscht und alles in buntem Durcheinander, die jungen Leute ihre
Grisette am Arm und das Grisettenlied:
„I^isette! Jul8ol,diz,
w wo Irompsis
singend, tue Ausgänge sucht. An der Porte de Laeken stäubt der Menschen¬
haufe auseinander und zerstreut sich auf den Boulevards und den rechts und
links ablenkenden Straßen, mit dem Bewußtsein, sich köstlich amüsirt zu
haben. —
Die Weihnachtszeit kommt wieder heran, die reinlichen Tische harren der
Christbescherung, und die Damen sind vorläufig für alle andern Freuden der
Welt abgestorben, als für Wollen- und Perlenstickerei, für Potichomanie, für
Gehäkel, und wie die kleinen Teufeleien alle heißen mögen, und neben den
telegraphischen Depeschen aus der Krim und dem Kladderadatsch, den beiden
Hauptnahrungsmitteln der modernen Bildung, spielt die Musterzeitung eine
große Rolle. Selbst die Unterhaltungen am häuslichen Herd kommmen da¬
gegen nicht auf, denn alles, was nicht raucht, ist eifrig beschäftigt, Maschen
zu zählen, und hat daher für neue Gedanken keinen Sinn; und zwischen den
Schneeflocken, die vom Himmel herabfallen, flattern in den buntesten Farben
tausend lustige Vögel durch die Lüste, Nachtigallen, Zeisige, Paradiesvögel, auch
befiederte Blumen, Rosen, Nelken, Passionsblumen mit schwarzgoldenen oder
blaugoldenen oder rothgoldenen Federn, alle sehnsuchtsvoll nach den Weihnachts¬
tischen schauend, ob sie vielleicht dort einen Platz finden. Schon mehre Wochen
vorher gehen trübe Ahnungen durch dle Seele des armen Kritikus, der diese
Schar von Vögeln aus sich zukommen steht. Schon von fern hört er ihr
leidenschaftliches Gezwitscher, sieht, wie sie ihre Schnäbel wetzen, und zittert für
seine Augen.
Und dann zerrt und reißt euch gierig,
Keiner sie dem andern gönnend,
Um die vielgeliebten Augen!
schlankere die geliebten Bissen,
Sie gemächlich zu verschlucken!
Jagt euch um die Leckerbissen!
Selig, wer den Fraß verschlingt! —
Zuerst kommt ein orientalischer Paradiesvogel, der durch seinen lustigen
Gesaug schon manches Gemüth erquickt, Mirza-Schaffy. Er singt unter andern,:
Höre, was der Volksmund spricht:
Wer die Wahrheit liebt, der muß
Schon sein Pferd am Zügel haben —
Wer die Wahrheit denkt, der muß
Schon den Fuß im Bügel haben —
Wer die Wahrheit spricht, der muß
Statt der Arme Flügel haben!
Und doch singt Mirza-Schassy:
Wer da lügt, muß Prügel haben!
Treufreund und Hoffegut stimmen ein lautes und freudiges Bravo an
und lassen den wackeren Tartaren, der sich gegen alle Tartarenbotschaften so
lebhaft verwahrt, mit ihren besten Segenswünschen vorüberziehen. — Es
folgt ein sehr ernsthaft aussehender Vogel in der Maske eines russischen Diplo¬
maten. Die Maske ist Heuer nicht beliebt, aber sie spricht sehr verständig, und
wenn sie auch nicht lauter neue Dinge erzählt, so sind sie wenigstens immer
gut ausgedrückt, z. B.:
Willst du einen kratzen,
Thns mit fremden Tatzen,
Du hast dasselbe Vergnügen
Und wirst keine Schläge kriegen. —
Schüttle nicht die Mähne,
Hast du keine Zähne. —
Du findest auch den Teufel schön,
Wenn er dich zärtlich angesehn.—„Warum nur hältst du soviel Hunde im Haus?"
Mit Hunden kommt mau am besten jetzt aus,
Man weiß denn doch gleich und zu jeder Frist,
Ob einer ein Mops oder ein Pinscher ist. —
Die Maske des verständigen, ehrlichen und doch schalkhaften Diplomaten
wird von einer Taubenpost abgelöst, die sich in östreichischer Mundart ver>
nehmen läßt. Spricht sie nicht weise, so spricht sie doch behaglich, und so ist
kein Grund, sie anzufechten. — Nun aber wird die Stimmung feierlicher. ES
ist von nichts Geringerem die Rede, als von der Weltseele. In hochgestimm¬
ten Dithyramben wird das All besungen, und aus den Mythologien der fernsten
Volker die geheime Symbolik des Lebens hergeleitet.
Und der Heiden heiliger Sinn
Feierte Urstehn!
Auserstehn!
Aufersteh» der Natur.
Andächtig ahnungsvoll
Säulen sie nieder
Vor dem Bilde des Schmetterlings,
Ausgehanen in Stein.
Wir können uns nicht helfen, unwiderstehlich regt sich in uns die kri¬
tische Ader.
Das ist nicht wahr, ruft unser kritisches Gewissen; die Natur ist keine
Priesterin der Freiheit, sie hat mit der Freiheit gar nichts zu thun; die Sterne
und die Wellen rauschen nicht in Freiheit dahin; die Freiheit fängt erst an,
wo die sogenannte Natur aufhört. Indessen ein Poet hat über dergleichen
Dinge andre Gedanken, als ein Kritikus, und wir bescheiden uns in Beziehung
auf die Weltseele, dem kühnen Flug der Dithyramben nicht folgen zu können;
aber unsre Augen lassen wir uns nicht abstreiten, und wenn auch das rei¬
zende Schloß Reinhardsbrunn in die Sphäre der Weltseele gezogen wird, und
wenn der Dichter behauptet:
so rufen wir wieder, aber dies Mal mit größerem Selbstvertrauen: das ist
nicht wahr; Reinhardsbrunn ist allerliebst, reizend und anmuthig, abe.r es ist
weder wild noch phantastisch. — Der Dichter des Liederhorts adressirt seine
Gedichte an eine verstorbene Freundin in lateinischen Lettern. Er fügt sogar
nach Frauenart noch ein Postscript hinzu: „Wenn Du droben vernimmst, daß
ob meiner Freimüthigkeit die Recensenten wie reißende Wölfe über mich her¬
fallen, so laß Dir nicht bange sein, ich fürchte nichts und sie werden mich
nicht verschlingen." — Nein! das werden sie nicht! — Mit immer größerem
Bedenken sehen wir die weiter anrückende Schar, denn wir haben es jetzt mit
dem schönen Geschlecht zu thun. Zuerst werden in einer Sammlung die sämmt¬
lichen Damen der Weltgeschichte besungen, von Semiramis und Zenobia bis
zu Louise Brachmann und Frau Silberlind, und wir sehen mit Vergnügen, daß
über die schönere Hälfte der Menschheit seit geraumer Zeit sehr viel Artiges
gesagt worden ist. Wir wollen daher diesen guten Eindruck auch nicht stören,
wir wollen über den eigenthümlichen Stil der Madame Edwygrau jede respect¬
widrige Bemerkung unterdrücken, wir wollen bei der dritten Auflage der Frau
von Mühlenfels ebensowenig auf das Gegentheil hinweisen, daß nämlich nicht
übertrieben viel Eigenthümliches darin zu finden ist, und wir wollen nur noch
mit lebhafter Theilnahme auf die sehr zarten und duftigen Waldmärchen hin¬
weisen, deren Stimmung uns erfrischt und erfreut hat. —
Wir glaubten hier schließen zu können, aber es drängen sich immer mehr
neue Erscheinungen zusammen. — Die neue Ausgabe von Strachwitz ist vor¬
trefflich ausgestattet, über den Dichter selbst haben wir uns schon ausgesprochen.
— Die lyrischen Kleinigkeiten verdienen, auch abgesehen von dem wohlthätigen
Zweck, den Beifall des Publicums; sie sind bescheiden und gemüthlich. — Mehr
Ansprüche machen die Gedichte von Verend. Sie sind vom modernsten Stil,
voller Zorn und Weltschmerz, aber ohne bedeutenden Gehalt. — Das Gedicht
über Christus ist gut gemeint und ungefähr in der Weise von Witschels Mor¬
gen- und Abendopfern ausgeführt. — Eine gute Gesinnung spricht sich in dem
vaterländischen Gedicht über Preußen aus. Ein eigentlich plastisches Talent besitzt
der Verfasser nicht. — Von den beiden letztgenannten Gedichten, dem Rosenmärchen
und der Liande, könnten wir weiter nichts sagen, als daß sie in der beliebten Blu¬
men- und Elfenmanier recht artig und sauber ausgeführt sind, wenn wir nicht
noch ein paar Worte über den Verfasser sagen müßten. Herr Julius Schanz
kam, wenn wir nicht irren, kurz vor Ausbruch der Revolution nach Leipzig und
trat als Dichter zuerst im Charivari von Oettinger auf, mit Epigrammen, in
denen unter andern der Redacteur jener Zeitschrift als ein sehr seiner und
scharfsinniger Kopf gerühmt wurde. Nebenbei stand er an der Spitze einer
Burschenschaft und schwärmte für die rothe Republik und die Guillotine. Im
weiteren Verlauf der Begebenheiten betheiligte er sich an der Empörung in
Dresden und wurde infolge dessen gefänglich eingezogen. Nach einiger Zeit
erschien von ihm ein Gedicht an den König von Sachsen, den er anflehte, ihn
wegen seiner Jugend zu schonen. Kurze Zeit darauf verbreitete sich das Ge¬
rücht, daß der Dichter sich dieser Schonung durch Denunciationen gegen seine
früheren Verbündeten würdig zu machen suche, und sehr bald erschienen auch
diese Denunciationen in der Freimüthigen Sachsenzeitung ungefähr im Stil
des Herrn Ohm in Berlin; ja es kommen Dinge darin vor, die zu erfinden
selbst die Phantasie eines E. Sue nicht ausreichend gewesen wäre. — Daß ein
Verschwörer sich bekehrt, ist ein wünschenswerthes Factum; daß er seine Reue
an den Tag legt, zunächst durch ein vollständiges Bekenntniß seiner eignen
Schuld,-ist ganz in der Ordnung; daß er durch Angabe seiner Mitschuldigen
sich zu retten sucht, ist schon schlimmer, namentlich wenn er nicht zu den Ver¬
führten, sondern zu den Verführern gehörte; daß er diese Angaben mit der
Phantasie eines Mysteriendichterö weiter ausführt — vielleicht liegt das im
Wesen eines modernen Dichters; aber daß er nach allen diesen Thatsachen
Gedichte unter seinem eignen Namen herausgibt und so die Welt an seine
Existenz erinnert, dazu gehört eine Gemüthsbeschaffenheit, für die wir in unsrem
Wörterbuch keine hinreichende Bezeichnung finden. Doch gehört dergleichen
auch zu den Phänomenen der Zeit und muß daher constatirt werden.
Der neue Biograph Goethes verfolgt einen andern Zweck als die bishe¬
rigen- „Während diese für Gvethekenner geschrieben sind, hat er sich die Aus¬
gabe gestellt, in die Goethescher Dichtungen einzuführen." Nach diesem Zweck
ist auch das Urtheil über die Einrichtung des Buchs zu fassen. Der Verfasser
hat nur die bedeutendem Lebensmomente und diejenigen Werke des Dichters
in den Kreis seiner Betrachtungen gezogen, welche das ganze Volk als die
seinigen in Anspruch nehmen darf; aber diese hat er sehr ausführlich behan¬
delt, während er die Nebenumstände völlig mit Stillschweigen übergeht. Wer
sich also mit dem Studium Goethes beschäftigt hat, darf in dieser Schrift
nichts Neues erwarten; aber für jüngere Leute und namentlich für Frauen
ist sie sehr empfehlenswert!). Der Verfasser entwickelt eine warme, liebevolle
Theilnahme für seinen Gegenstand, er schreibt einen sehr lesbaren Stil und
seinen Ansichten wird man wol im Wesentlichen beipflichten, wenn auch Ab¬
weichungen im Einzelnen bei dergleichen Dingen sich von selbst verstehen. Eins
hätten wir weggewünscht, den apologetischen Theil. Von den Lesern, auf
welche diese Schrift berechnet ist, wird wol keiner die Gegner des Dichters
kennen; es ist also auch ganz überflüssig, gegen sie zu polemistren, und eine
einfache, klare und sachgemäße Darstellung des Thatbestandes ist für Goethe
die beste Apologie. Ueberhaupt wird die Polemik gegen Goethe immer mehr
in den Hintergrund treten, da das, waS man trotz aller Verehrung an ihm
bekämpfen mußte, nicht mehr unmittelbar in die Bestrebungen unsrer Zeit
eingreift. —
Die Schrift über Lessings Nathan ist ein sehr fleißig und sorgfältig ge¬
schriebener Commentar, der einzelne recht feine Bemerkungen enthält und dem
wir nur etwas mehr Präcision gewünscht hätten; indeß die Bestimmung des
Werks, ein Lesebuch für Schulen zu sein, wird durch diese Weitschweifigkeit
nicht beeinträchtigt. Denn der Schüler ist leicht zu flüchtiger Lectüre geneigt,
wo anscheinend die Sache keine Schwierigkeiten bietet, und es ist daher sehr
heilsam, ihn umständlich aus alle die einzelnen Vorzüge aufmerksam zu ma¬
chen, wenn auch der Anschein der Pedanterie nicht ganz vermieden wird, und
zu einem ausführlichen Commentar für Schulen eignet sich wol selten ein
deutsches Werk so sehr, als dieses Meisterstück Lessings, dessen sittlich-religiöser
Inhalt grade in unsren Tagen wieder von neuem aufs lebhafteste eingeschärft
werden sollte. —
Die Shakspcarcausgabe von Delius schreitet rüstig vorwärts. Drei der
bedeutendsten Stücke sind nun dem Publicum bereits vorgelegt, um den gro¬
ßen Dichter, den wir seit der Schlegelschen Uebersetzung fast als einen der
unsrigen betrachten können, auch in seiner ursprünglichen Gestalt bewnnder»
zu lassen. Die Tendenz der Ausgabe haben wir schon bei der frühern An¬
zeige angedeutet. Herr Delius bezweckt ausschließlich eine kritische Ausgabe,
welche den Text, so gut es nach den gegebenen Mitteln möglich ist, sicher¬
stellt und dem modernen Leser die Archaismen, die kühnem poetischen Wen-
dungen und die Beziehungen auf unbekannte Gegenstände erklärt. Einen
ästhetischen Commentar zu geben lag außerhalb seiner Absicht, und wir kön¬
nen damit nur einverstanden sein, denn in Beziehung darauf ist in Deutsch¬
land schon mehr als genug geleistet. Jedes Stück wird eingeleitet durch eine
Feststellung der ursprünglichen Ausgaben und durch eine Angabe der Quellen.
Zum Schluß wird jedes Mal der alte Corrector Colliers beleuchtet. Was den
letztern betrifft, so müssen wir zugestehen, daß die Auseinandersetzungen von
Delius uns überzeugt haben und daß wir von der Ansicht, in jenen Verbes¬
serungen etwas Anderes zu sehen, als Conjecturen, abgehen müssen. Delius
hat nachgewiesen, daß der alte Corrector selbst die vorhandenen Quellen sehr
leichtsinnig benutzt und seiner eignen Ueberzeugung von dem, was schön und
poetisch ist, mehr Raum gegeben hat, als dem wirklichen Studium der Sprache
des Dichters. — In den Anmerkungen bemüht sich Herr Delius, zu dem
einfachsten Sinn zurückzukehren. Er kommt darin häufig, ohne es auszuspre¬
chen, in Conflict mit Tieck, der seinem unbestreitbaren Scharfsinn häusig die
Zügel schießen ließ und die seltsamsten Entdeckungen machte. Es ist uns die¬
ser Unterschied unter andern im Anfang des Othello aufgefallen; indessen
können wir doch nicht verhehlen, daß wir hin und wieder ein ausführlicheres
Eingehen auf das Sachliche gewünscht hätten, theils in Beziehung auf die
theatralischen Verhältnisse, theils auf den Inhalt der Geschichte, die bei
Shakspeare und namentlich in den drei vorliegenden Stücken im einzelnen zu¬
weilen sehr leichtfertig behandelt ist. Ueber den Othello sind in den letzten
Jahren in den englischen Journalen sehr interessante Auseinandersetzungen er¬
schienen, worin z. B. nachgewiesen wurde, daß Shakspeare eine doppelte Zeit¬
rechnung befolgt, aber das Publicum darüber täuscht, indem einmal die Hand¬
lung in ununterbrochener Continuität fortgeht und nicht mehr als zwei Tage
und zwei Nächte umfaßt, andrerseits aber wieder Voraussetzungen gemacht
werden, nach denen wenigstens der Zeitraum eines halben Jahres berechnet
werden müßte. Es ist schade, daß Delius nicht näher darauf eingegangen
ist. Die Erklärung, die Tieck von der angeregten Stelle gibt:
vns Uiebülll Lnssio, u I^loieiUinv,
^ tollow »Imost cluiuii'ä in u t'uir wilo,
ist gewiß unhaltbar, aber die Erklärung von Delius hat uns auch nicht
überzeugt. Daß hier von Bianca die Rede sein soll, stimmt mit der folgenden
Geschichte nicht überein und ist auch nach dem Zusammenhang der Stelle
nicht glaublich. Nach unsrer Meinung hätte Herr Delius grade diese Fragen
aufmerksamer betrachten sollen, da von der deutschen Kritik darin noch gar
nichts geleistet ist. Ueberhaupt werden wir von der Einbildung, die deutsche
Kritik hätte für Shakspeare mehr gethan, als die englische, wol immer mehr
zurückkommen. Metaphysisch und moralisch haben wir über den Dichter un¬
endlich viel zu Tage gefördert, aber in Beziehung auf die philologische, sprach¬
liche und sachliche Erklärung müssen wir doch immer wieder auf die Engländer
zurückgehen.
Wir müssen bei jenen Ausstellungen allerdings in Erwägung ziehen, daß
hier von unsrer Seite auch subjective Wünsche obwalten, und daß man von
keinem Herausgeber verlangen kann, er solle allen derartigen Wünschen Rech¬
nung tragen. Herr Delius hat seine Ausgabe nicht blos für Deutschland be¬
rechnet, und seinen Hauptzweck, die eigentliche Kritik, hat er auf eine würdige
Weise erfüllt. Allein wir glauben doch mit dem Wunsch, daß in den folgenden
Stücken auf jene beiden Seiten mehr Rücksicht genommen würde, zugleich die
Gesinnung des größern Theils im deutschen Publicum auszusprechen; denn je
weniger es uns aus unsrem wirklichen Theater gelingen wird, die Werke des
Dichters so aufzuführen, wie er sie sich gedacht, um so wünschenswerther muß
es für uns sein, wenigstens eine Vorstellung davon zu erlangen, und ein so
gründlicher Kenner des Dichters, wie Delius, sollte doch wol am ersten den
Beruf fühlen, uns darüber Aufschlüsse zu geben. —
Die Lebensbeschreibung von G. Sand ist am Schluß des zweiten Bänd¬
chens wenigstens bis zu dem Punkt gelangt, wo die Dichterin geboren wird.
Was vorhergeht, ist sehr liebenswürdig erzählt und würde uns auch in hohem
Grade interessiren, denn es behandelt die Geschichte bedeutender Persönlichkeiten,
in der sich zum Theil die Sittengeschichte Frankreichs abspiegelt, aber wir
werden doch ein wenig ungeduldig, da wir grade in diesem Buch etwas Anderes
erwarteten. — Der Schluß des Bandes ist im Jahre 1848 geschrieben, also
in einer Periode, die für die Entwicklung der Dichterin sehr bedeutend war.
G. Sand oder Aurora Dupin ist am 5. Juli 180L in Paris geboren, ein
Datum, über welches sich viele Zweifel erhoben, welches aber neuerdings durch
Documente festgestellt ist. „Ich hatte," erzählt G. Sand, „eine starke Kon¬
stitution und versprach schön zu werden, habe aber dieses Versprechen nicht
gehalten. Vielleicht war es zum Theil meine Schuld, denn im Alter, wo die
Schönheit sich entwickelt, brachte ich bereits die Nächte mit Lesen und Schreiben
zu. Als Tochter eines schönen Vaters und einer schönen Mutter hätte ich
eigentlich nicht aus der Art schlagen sollen, und meine arme Mutter, welche
die Schönheit über alles schätzte, hat mir darüber auch häufig Vorstellungen
gemacht; aber ich habe mich nie entschließen können, mich um mein Aeußeres
zu bekümmern. Auf Sauberkeit habe ich stets das größte Gewicht gelegt, aber
alles, was an Weichlichkeit grenzte, war mir stets verhaßt. Der Arbeit zu
entsagen, um ein klares Auge zu behalten, nicht in der Sonne herumzulaufen,
wenn die schöne Sonne Gottes uns anzieht,.nicht in ehrlichen Holzschuhen zu
gehen, um sich nicht den Fuß zu verderben, Handschuhe zu tragen, das heißt
auf den freien Gebrauch der Hände zu verzichten, sich nie müde zu machen,
kurz unter einer'Glasglocke zu leben, um zart zu bleiben, das alles habe ich
nicht aushalten können. Das Capitel der Hüte und Handschuhe war die Ver¬
zweiflung meiner Kindheit. Ich war nur einen Augenblick frisch, niemals
schön. Meine Züge waren übrigens leidlich geformt, aber ich dachte nie
daran, ihnen den geringsten Ausdruck zu geben. Schon seit meiner Wiege
hatte ich die Gewohnheit der Träumerei, und das gab mir schon früh ein ein¬
fältiges Aussehen. Ich sage es grade heraus, weil man es mir mein ganzes
Leben hindurch gesagt hat, in der Kindheit, im Kloster und in der Familie,
so daß es also doch wol wahr sein muß. Kurz, mit vollständigen Augen,
Haaren und Zähnen, ohne erhebliche Mißbildung, war ich in meiner Jugend
weder häßlich noch schön: ein großer Vorzug, da aus der Häßlichkeit wie aus
der Schönheit nachtheilige Vorurtheile entspringen. Man erwartet zu viel von
einem glänzenden Aeußern, man mißtraut zu sehr einem abstoßenden Aeußern.
— So habe ich dem Gebrauche der Biographen in Beziehung aus mein
Aeußeres Genüge geleistet. Im übrigen wünsche ich, daß meine Porträtmaler
sich aus meinen Paß beschränken. Er lautet folgendermaßen: Augen schwarz,
Haare schwarz, Stirn gewöhnlich, Gesichlsfm-be blaß, Nase wohlgeformt, Kinn
rund, Mund Mittelgröße, Höhe 4 Fuß 4 0 Zoll, besondere Kennzeichen:
keine." —
Wir sehen der Fortsetzung dieser liebenswürdigen Beschreibungen mit
großer Theilnahme entgegen.
Die Federzeichnungen geben uns in leichter, ansprechender, mannigfal¬
tig belebter Schilderung die militärischen Zustände der Gegenwart aus den
entlegensten Ländern, die großes Interesse verdienen und die Theilnahme des
Publicums noch mehr anregen würden,- wenn der Verfasser sich etwas einfa¬
cher gehalten und seinen Gegenstand nicht gar zu novellistisch behandelt hätte.
Denn in solchen Dingen strebt auch das durch die französischen Belletristen
verwöhnte Publicum nach objectiver Wahrheit und daS glänzendste Darstellungs¬
talent kann nicht für jenes Gepräge schlichter historischer Treue entschädigen,
dessen Preis um so höher steigen wird, je seltener eS geworden ist. —-
Die Bilder aus Italien find leichte, nnmuthige Unterhaltungen, die, ohne
sich streng an die gewöhnliche Form einer Reisebeschreibung zu binden, das¬
jenige hervorheben, was die Phantasie des Verfassers aus irgendeinem Grunde
lebhafter beschäftigt hat. —
— Konstantinopel war in den
letzten Tagen kein angenehmerer Aufenthalt als in den vorangegangenen Wochen.
Sturm und Regen wechselten miteinander ab, und so unberechenbar zeigten sich
die Launen des Wetters, daß man bei Sonnenschein aus seiner Wohnung treten
konnte, um nach zehn Minuten bis auf die Haut durchnäßt zu sein. In der Krim
ist die Witterung nicht anders gewesen und die alliirten Truppen, jedenfalls aber
anch die Russen, litten unbeschreiblich darunter. Zu mehren Malen wurden wiederum
vom Sturmwind die Zelte in den verschiedenen Lagern umgestürzt und in Balaklava
stürzten ganze Hänser zusammen. Den meisten Schaden veranlaßten die Orkane,
welche über den'Pontus hinbrausten, den vereinigten Geschwadern selbst. Daß die
beiden französischen Linienschiffe: „Pluton" und „Henry IV." verloren gingen,
wissen Sie bereits ans meinem letzten Bericht. Neuerdings will man wissen, daß
auch der „Alger" und „Jupiter" als verloren augesehen werde» müßten. Das
Journal de Konstantinvple hat vorerst nnr berichtet, sie seien schwer beschädigt, und
da griechische Böswilligkeit hier alles übertreibt, kann man annehmen, daß sie bei
dem erwähnten Gerücht ebenfalls ihre Hand im Spiele hatte. Die beiden Linien¬
schiffe „Ville de Paris" und „Valmy" sind jedenfalls geborgen; ich sah sie gestern
selbst im goldnen Horn vor Anker liegen, und das erstere, einen Drcidcckcr von
-ISO Kanonen, ins Arsenal bugsiren, wo er die nothwendigsten Reparaturen erleiden
soll. Die Beschädigungen, welche er während der Activ» vom 19. October erlitten,
sind unbedeutender, als man nach Eingang der erste» Berichte vermuthen mußte.
Unter solchen Umständen bietet der innere Kriegshafen von Stambul jetzt einen
imposanten Anblick dar, und er ist belebter als er in irgendeiner Epoche vorher
gewesen. Soviele Kricgssteamer sah ich »och nie i» dem weiten Bassin ver¬
sammelt. Und im Arsenal lärmt und hämmert mau Tag und Nacht, »in die
Schäden der eingebrachten Fahrzeuge wiederherzustellen. Aber auch Neubauten
werden ans diesem großartigen Werft gefördert, und ein mächtiger Zweidecker, wel¬
cher sich einstweilen erst als Skelett präsentirt, dereinst aber 84> Stück der schwersten
Geschütze und eine Maschine von 760 Pferdekraft führen wird, macht zusehends
Fortschritte und dürste bereits im Mai bereit sei», vom Stapel zu laufen.
So wird denn allmälig die Lücke wieder ausgefüllt werde», welche die Schlacht
vo» Sinope in die Reihen der osmanischen Kriegsmarine gerissen hatte. Ob es
indeß von einem richtigen Verständniß des Seekriegs u»d seiner Zukunft spricht,
wen» nur» Dampfiinienschiffc baut, anstatt großer Dampffregatten, will ich dahin¬
gestellt sein lassen. E»g,laut und Frankreich thun insofern nicht dasselbe, als sie
uur durch Umwandlung ein vorhandenes Material verwendbar machen. Der Duke
of Wellington, der Sanspareil, der Agamemnon und alle neuerdings vielgenannten
englischen Schranbcnlinicnschiffc sind ursprünglich Segler gewesen, und dasselbe gilt
von den französischem Liniendampfer»; »ur de» „James Watt"') scheint man von
Grund aus als Stcamship erbaut zu habe». Die Amerikaner befolgten indeß
neuerdings ein anderes System. Sie ließen ihr Material an Scgcllinicnschiffen
(<ö Zweidecker und 1 Dreidccker) »»berührt u»d entschiede» sich, anstatt sie i»
Steamer umzuwandeln, sur den'Neubau von sechs großen Dampffregattcn, von
denen allerdings die größte jedes bis jetzt existirende Kriegsschiff um etwa siebzig
Fuß an Länge übertreffen wird. Wie gesagt: ich weiß nicht, ob diese amerikanische
Methode für die türkische Marine, die von Grund aus ne» ba»e» muß, »icht vor-
zuziehen gewesen sein würde. Aber unter de» obwaltenden Verhältnissen hat man
kaum Muße und Gelegenheit gehabt, eine derartige Frage gründlich zu discutiren.
Uuter den i»i hiesigen Arsenal in Reparatur begriffenen Kriegsschiffen befindet
sich auch der osmanische Zweidecker Tachrifii. Derselbe war am 17. v. Mes. eben¬
falls im Feuer, scheint aber mehr noch von den nachfolgenden Stürmen mitgenom¬
men worden zu sein.
Wir habe» seit kurzem zwei Prinzen in unsren Mauern. Am vergangenen
Montag langte nämlich, nachdem Prinz Napoleon bereits seit Anfang d. Mes. hier
weilt, der Herzog von Cambridge mit Gefolge hier an. Das Journal de Kon-
stantinoplc gibt den Grund seiner Rückkehr nicht richtig an, wenn es versichert: es
walteten dabei Gesundheitsrücksichten ob. In Wahrheit hat der Prinz sich mit dem
britischen Commander in chies Lord Raglan nicht länger zu stellen vermocht, und
wenn ich recht unterrichtet bin, hat er gegen denselben sogar nule Anklage anhängig
gemacht. Die bestehenden Zwistigkeiten schreiben sich vom 2S. October ^Schlacht
von.Balaklava) her, wo der Herzog im Widerspruch mit Lord Raglan der Ansicht
war, man müsse sofort französischen Beistand erbitten, jener aber an dem Ent¬
schlüsse festhielt: den Strauß allein ausdampfen zu wollen. Wie der Prinz behaup¬
tet, sei infolge dieses Starrsinns die britische leichte Reiterbrigade vernichtet worden.
Der Stand der Dinge in der Krim ist schwer zu definiren, indeß machen die
darüber hier eingegangenen Nachrichten den Eindruck, als habe er sich zum
Besseren gewendet. Einen neuen Halt haben sicherlich die diesseitigen Operatio¬
nen dnrch die' immerhin bedeutenden Verstärkungen erhalten, welche seit Eröffnung
des Feuers (seit 17. October) nach und nach, und namentlich in den jüngsten
Tagen, anlangten. Mir lag ein Brief von unterrichteter Hand aus Balaklava
vor, in welchem diese Verstärkungen während der ersten Hälfte des Monats No¬
vember aus etwa 15,000 Maun veranschlagt werden, worunter -10,000 Franzosen.
Die Entschließung des Kaisers Napoleon lit., zwei neue Divisionen (Dülac
und Salles) nach der Krim zu werfen, hat hier bei den Militärs von Fach den
ungeteiltesten Beifall gefunden. Beinahe mochte ich indeß wünschen, daß er über
drei, anstatt zwei, disponirt hätte. In diesem Augenblick formirt man in der Krim
eine ö. französische Division unter General Padi. Jene beiden unter Dulac und
Salles bringen demnach den Esfectivbestand der französischen Armee vor Sebastopol
auf volle sieben Divisionen, oder, die Division zu 9000 Mann gerechnet, aus
63,000 Mann. Hätte man acht Divisionen, so würde 'man sranzösischerseits keinen
Augenblick zaudern, unter Nücklassnng von zwei (Divisionen) vor der Festung, mit
den sechs andern einen Schlag im freien Felde gegen die russische Armee unter
Dannenberg zu versuchen und es wäre zehn gegen eins zu wetten, daß mau sie
schnell bis Perekop zurückwerfen würde. Nichts ist verderblicher als Sparsamkeit
im unrechten Zeitpunkt.
Wie man hört, sind neuerdings die ins Stocken gerathen gewesenen Belagerungs¬
arbeiten vor Sebastopol wieder ausgenommen worden, dergestalt, daß man am 26.
November bereits aus der dritten Parallele, welche ans 100 Metres von der
Hanptenceinte abliegt, mit der doppelten Sappe vorbrechen konnte. Haben die
Russen, wie die Sage es ihnen zuschreibt, wirklich Minen angelegt, so müssen die¬
selben nunmehr bald ins Spiel kommen. — Auch an den Batterien ist von fran¬
zösischer Seite weiter gearbeitet, worden. Man scheint dazu die Kanonen des ge¬
scheiterten „Henry IV." verwendet zu haben. Sehr gerühmt wegen ihrer ausgezeichneten
Lage wird eine große Batterie in der zweiten Parallele und zwar im Centrum des
französischen Angriffs. Sie soll aus 80—90 Feuerschlünden ^ bestehen und General
Bizot daran seine Meisterschaft im Placiren der Zerftörungswaffe bekundet haben.
Es verlautet hier durchaus nichts von Operationen an der Donau, wiewol das
Journal de Konstantinoplc vor vierzehn Togen darauf in den allerbcstimmtestcn
Ausdrücken hingewiesen und einen Angriffsmarsch Omer Paschas gegen die Pruth-
liuie in nächste Aussicht gestellt hatte. Auch wenn nicht andere Gründe obwalteten,
welche die Ausführung des Unternehmens verhindern, würde schon allein die Be¬
schaffenheit der Wege in der Walachei zur jetzigen Jahreszeit sie rein unmöglich
machen. Sobald nämlich die herbstlichen Regen eingetreten sind, verwandelt sich
das Land zunächst links von der Donan und zwar vom eisernen Thore an bis zur
Mündung sozusagen in einen Morast. Infanterie kann zur Noth bis zum Knie
im Schlamme watend passiren, aber Cavalcrie und namentlich Artillerie würden
unfehlbar stecken bleiben.
Wenn dereinst die Walachei und Moldau von zu jedweder Jahreszeit präkticablcn
Straßen durchschnitten sein werden, wird ein russischer Angriff gegen die Türkei um
das Doppelte erleichtert sein. Diese Wcgbarmachuug wird indeß nicht mehr lange
auf sich warten lassen, und es ist mit in Hinblick darauf, wenn mehr und mehr die
Forderung sich laut macht: Rußlands Gebiet nach Seite der Fürstentümer und der
Donaumündnngcn zu beschneiden, damit es ans der wachsenden Cultur dieser Land¬
striche nicht dereinst Vortheile für die schleunigere Ausführung seiner Erobcruugs-
pläne ziehe.
Wiewol es eine gute Regel ist: das Fell des Bären nicht eher zu theilen,
bevor dieser erlegt worden, wird dennoch über dergleichen Beschncidungs - oder
TheiluugSprojecte schon jetzt hier viel geredet. Eine Einengung des Zaren hinter
einer Grenze, die der Stromlauf des Dniester bezeichnen würde, erachtet man hier
als das geringste Opfer, welches man demselben auferlegen dürfe, und man ist
ziemlich einig darüber, daß Oestreich das nächste Anrecht auf diesen Erwerb habe.
Ueber diese letztere Macht und ihre Politik selbst laufen aber die hiesigen An¬
sichten weit auseinander, und am mindesten stimmen sie mit dem officiellen und offi-
ciösen Geschwätz überein, was sich dann und wann, und namentlich seit den letzten
Wochen, in gewissen deutschen Zeitungen breitmacht. Woran hier niemand von
Herzen glauben will, das ist das Verlangen, sei es Preußens, sei es Oestreichs,
eine deutsche Politik zu verfolgen, und ihre Interessen gegenseitig zu stützen.
Oestreich — so beliebt man hier zu argumentiren — hat seit 1848 keinen Augen¬
blick aufgehört, mit allen Kräften nach der Oberherrschaft in Deutschland zu ringen,
offen wie verdeckt, und es wäre wunderbar, wenn es in diesem Augenblicke dem
großen Wendepunkte europäischer und deutscher Geschicke, seinem großen Ziele un-
getreu werdeu sollte. Aber ueben dieser deutschen Politik hat es als Großmacht
eine universale, die sich dem Orient wie Occident zuwendet, und auf deren Pfaden
es der großen Aufgabe zustrebt, dereinst zwischen Mittelmeer und Pontus die Wage
des Welttheils zu halten.
Der Staatsmann, welcher zur Zeit Oestreich hier vertritt, ist ohne Frage in
diese großen Pläne vollständig eingeweiht, und insofern darf von ihm gesagt wer¬
den, daß er sich hier am rechten Platze befindet. Ans angenehmem Posten steht er
indeß schwerlich. Wenn einer, so hat er der stürmischen Ungeduld die Stirne zu
bieten, und es ereignet sich zwischen ihm und seinen westmächtlichen Kollegen kaum
eine Begegnung, die ihm nicht empfinden läßt, daß man das Maß des Wartens
für vollgemessen erachtet.
Herr von Brück, obwol, wie jedermann weiß, nicht Diplomat von Fach, ist
dennoch für die Probe, welche er hier zu bestehen hat, wie geschaffen, und wiewol
man ihm, seiner anderweitigen Talente wegen, einen andren Wirkungskreis wünschen
ausi, unterliegt es dennoch keiner Frage, basi er den hiesigen ausfüllt. Er ist
arbeitsam, und die Tage sind gezählt, in denen er nicht die meisten Stunden den
Geschäften widmet. Sein Privatsccretär, Jsidor Heller, wird mir als seine rechte
Hand bezeichnet, wiewol, im Gegensatz zu andren Herren, Baron von Bruck nicht
die Gewohnheit habe, fremde Hände für sich arbeiten zu lassen. Früher war, wie
es hieß, der Oekonomist Kießclbach für diesen Posten bestimmt gewesen.
Im Augenblick, wo ich meinen Brief schließen will, dröhnen alle Fenster mei¬
ner Wohnung unter den Schlägen eines furchtbaren Sturmwindes ans Nordost.
Derselbe wird leider wieder enorme Verheerungen auf dem schwarzen Meere an¬
richten. Der Hu'incl ist bedeckt und über Land und See hängt jene graue Däm¬
merung, welche die winterlichen Nebeltage im Norden auszeichnet, hier am Bosporus
aber zu deu seltenen Erscheinungen gehört.
Das Gros der nach hier eingegangenen Nachrichten
jüngst in Marseille und Toulon eingeschifften beiden französischen Divisionen Dülae
und Salles ist immer noch nicht im Bosporus angelangt. Die gewaltigen Stürme,
welche in den letzten zwei bis drei Wochen nicht nnr den griechischen Archipel und
deu Pontus, sondern auch das'weite Bassin des Mittelmeeres durchtobten, mögen
Veranlassung zu dieser auffallenden und, wie die Dinge nun stehen, durchaus nicht
wünschenswerthen Verspätung gegeben haben. Möglich, daß durch sie die Führung
des großen bezweckten EntscheidnngSschlagcs gegen Scbastopol um neue acht oder
vierzehn Tage aufgeschoben werden wird. Als der Kaffer den Marsch der beiden
erwähnten Divisionen nach der Provence anbefahl, geschah es wol in der Hoff¬
nung, daß dieselben noch vor dem 2. December zur Stelle sein und für diesen Tag
die Streitkräfte des Generals Canrobert auf die nothwendige Höhe bringen würden,
um el»an allgemeinen Sturm gegen den Platz wagen, und gleichzeitig die russischen
mobilen Kräfte außerhalb der Festung im Zaum halten zu können. Möglich, daß
gestern dennoch, und zwar ungeachtet die Truppen der Verbündeten sich immer noch
in numerischen Mißverhältniß zu den Russen befinden, irgendein ernsterer Angriff
zur Ausführung gekommen ist, um damit den bedeutungsvollen Tag zu feiern, der
zu dem Gegner eine directe Beziehung hat. Indeß, wie auch der Maßstab sei»
mag, »ach welchem die Operation angelegt wurde: einen weitgreifende» Erfolg
kann man ihr im voraus nicht beimessen, weil es noch an den nothwendigen uner¬
läßlichen Kräften zu fehlen scheint, um einen solchen nicht nnr zu erringen, son¬
der» anch festzuhalten. Es wäre aber selbstredend durchaus nutzlos und dem
Fortgang der Gcsammtangriffsbeweguug durchaus nicht vortheilhaft, wenn man
mit stürmender Hand sich eines Theils der Stadt bemächtigte, um sie darnach wie¬
der verlassen zu müssen.
Gestern feierte man hier mit einem inmitten der obwaltenden Verhältniße
immerhin auffallend erscheinenden Pomp den Geburtstag des Propheten. Ich war
nicht ausgegangen, um deu Auszug des Großherrn zu sehen, und kann mithin
über denselben nichts berichten. Aber der Donner der verschiedenen unausbleiblichen
Artillericsalven klingt mir noch in den Ohren. Man kann, behaupten, daß kaum
in einer anderen Hauptstadt der Welt, auch in der Umgegend Berlins nicht, wenn
die Garden im Herbst im Feuer zu manövriren pflegen, eine solche Verschwendung
mit Schießpulver getrieben wird. Und dennoch ist seit Ausbruch des Krieges dieser
Luxus, — was sehr rühmlich erscheinen muß — im Abnehmen.
Den Türken galt es als eine gute Vorbedeutung und als eine Kundgebung
der Gunst des Himmels — an der übrigens der echte Muselmann keinen Augen¬
blick lang zweifelt, denn die Bekenner des Islam sind ihm, den anderen Völkern
gegenüber, die Erstcrwahlten und Bevorzugten Gottes — daß am Schluß einer
Woche voll Sturm und Nebel und sündflutlicher Regengüsse das Wetter sich gestern
aufgeklärt hatte und den ganzen Tag lang ziemlich heiter verblieb. Heute weht
wieder ein vrkauähnlichcr Südwind, und dann und wann offnen die blaugrauen Wol¬
ken .ihre Schleußen, um, freilich nur für Augenblicke, das Terrain mit rie¬
selnden Rcgcubächeu zu durchfurchen. An solchen Tagen sieht das goldene Horn,
der weite Hafen von Stambul, lehmbraun aus; die Fluten des Bosporus, die
sonst so azurblau leuchten, sind durch einen weitgedehnten breiten Schaumgürtel
vom User, diesseits wie jenseits, geschieden, und am Leanderthurm, wie bei Moda
Burnu, und an der Harcmkucllc, nahe der großen Kaserne von Skutari. erhebt
sich eine beinahe haushohe Brandung.
Nachdem der Besuch und Gegenbesuch zwischen dem Sultan und dem Prinzen
Napoleon ausgetauscht worden, hat weiter keine Berührung zwischen dem osmani-
schen Souverän und dem Vetter seines hohen Verbündeten stattgefunden. Dagegen
war der Herzog von Cambridge jüngst im Palais von Tschiraghan, und, wie nicht
zu bezweifeln steht, wird der Padischah diese Visite erwiedern. Man ergötzt sich
hier an dem Zusammentreffen der Abreise der beiden Prinzen Napoleon und Cam¬
bridge nach Konstantinopel mit der Rückkehr' der beiden Großfürsten Nikolaus und
Michael aus der Krim nach Se. Petersburg.-
Abdul Medschid legte in den letztvergangenen Wochen ein großes Interesse an
den Vcrschönerungsbauteu an den Tag, die in verschiedenen seiner.Paläste an den
Gestaden des Bosporus (zu Tschiraghan, Bcschiktasch, Dolma Bagdsche und Beg-
lcrlcg) zur Zeit vorgenommen werden. Im wesentlichen beruhen sie auf Ersetzung
der gewöhnlichen Dielenfußbödeu durch Parquets. Der Anfang mit dieser Neue¬
rung wurde im Palais von Bcschiktasch gemacht, und zwar wurden daselbst vorerst
sechs Zimmer parqucttirt, die der Monarch so ausgezeichnet fand, daß er auch in
Tschiraghan mit der Arbeit sofort beginnen ließ.
Die Wohnzimmer des Sultans in seinen Bospornspalästcn sind ziemlich ein¬
fach eingerichtet. Vordem lag im Winter einer jener köstlichen Smyrnäer Teppiche
durch das ganze Gemach hin, die man hier mit enormen Summen bezahlt, und
deren unverwüstliches, in den hellsten Farben schimmerndes Gewebe die Dicke eines
Daumens hat. Aber im Somntcr war ein solcher Fußboden zu warm, und wurde
dann durch Matten aus Cham (Syrien) ,vou der feinsten Arbeit ersetzt. ' Nunmehr
ist dies abgeändert, und der Großherr schreitet auf Parquets einher und hat über
diese hin im Winter englische Teppiche gebreitet. Die Möbeln bestehen aus zwölf
Lehnstühlen und zwei oder vier modernen Sophas. Aus dem Kaminsims, oder in
der Mitte eines den Hintergrund des Zimmers einnehmenden Tisches stehen Spicl-
uhren und allerhand jenes Geräthes, womit man sonst auf Titelvignetten den In¬
halt eines gelehrten Buches anzudeuten pflegte, und durch welches man hier den
Culturfortschritt darzustellen beabsichtigt.
Wenn ich recht unterrichtet worden bin, hat nun endlich der Lord, wie man
hier kurzweg den britischen Gesandten nennt, sein Sommerpalais in Therapia
mit dem stattlichen Hotel auf der Westseite des Perahügels vertauscht. Zwischen
ihm und dem commander in chies in der Krim soll nicht eben das freundlichste
Einvernehmen bestehen, und man kann vielleicht hieraus den Schluß ziehen, daß
Lord Stratford und der Herzog von Cambridge sich um so besser zu stellen wissen
werden.
Die Verhältnisse sind nicht darnach angethan, um zwischen den Vertretern der
Großmächte im allgemeinen hier einen intimeren geselligen Verkehr bestehen zu
lassen. Nach wie vor stehen sich der britische und östreichische Botschafter arg¬
wöhnisch und mißtrauisch gegenüber, und dieselbe Kluft scheint den preußischen von
beiden zu scheiden. Dieser letztere bewohnt übrigens nach wie vor sein unschein¬
bares Häuschen in der Arnautkoj, und dürste anch in diesem Winter dort ver¬
bleiben. Von der nahen Saison hat man die Ansicht, daß sie nicht glänzend wer¬
den wird. Lord Stratford wird dies Mal kaum repräsentiren (was er übrigens
auch im vergangenen Jahre nicht gethan hat) und ob Herr von Bruck, nachdem er
im vorigen Winter äußerst glänzende Feste gegeben, dieselben im kommenden wie¬
derholen wird, steht noch sehr dahin.
. Inzwischen hat sich hier eine Sängertruppe eingesunken und wöchentlich zu
mehren Malen offnen sich wiederum die Räume des hiesigen Theaters, die Lei¬
stungen sollen jedoch wenig zufriedenstellend sein.
-- Seit gestern herrscht hier ein militärisches Gewühl,
wie es nach den Tagen der Einleitung des Kriegs nicht dagewesen ist. Der Ein¬
gang des Bosporus und das weite Bassin des goldnen Horns wimmeln von Kricgs-
und Transportschiffen — der Flagge nach zu urtheilen meistens französischen. Auf
den Straßen stößt man nicht nur alle Augenblicke aus Soldatengruppen, nein, man
geht sozusagen durch ein dichtes Gedränge von Infanterie, Artillerie und, was
auffallen kann, von Husaren, Dragonern und schwerer Reiterei. Auch Tunis scheint
aufs neue ein bedeutendes Kontingent gesendet zu haben. Desgleichen sieht man
Zuaven aus Algerien und eingeborne afrikanische Reiter von ebendorther.
Die Truppen scheinen heute und morgen hier Ruhetag zu halten nach langer
stürmischer Seefahrt, denn das mittelländische Meer war in den beiden letztver-
gangenen Wochen stark erregt. Uebermorgen wird sich alles wieder an Bord ver¬
fügen und man wird dann mit aller Macht von Dampf und Segeln gen Balaklava
steuern.
— Es ist ein Glück, daß wir
so mildes Wetter haben. Die Lieferanten der Krimarmee kaufen uns alle Winter-
kleiduug auf und die Wölfe, welche mit den Russen heulen, werden bald keine
Schafpelze mehr finden, sich darein zu hüllen. Und wahrlich, solcher Wölfe haben
wir noch genug unter uns. In den letzten, Tagen, als der Alliauzvcrtrag officiell
verkündigt wurde, konnte man sie grimmiger als je in den Salons und in den
öffentlichen Localen, soweit es sich mit der Decenz vertrug, heulen hören. Sowenig
entschieden auch der Allianzvcrtrag den nahen Bruch Oestreichs mit Rußland hervor¬
hebt, so ist doch schon die Thatsache, daß eins der eifrigsten Glieder der alten
heiligen Allianz sich von dem letzten Reste der Tradition lossagt, welche die Politik
eines halben Jahrhunderts beherrschte, ein Greuel in den Augen unsrer Altöstrei-
cher. Daß die habsburgsche Erbmonarchie mit dem jungkaiserlichen Frankreich und
mit dem Palmerstonschcn England zusammengehen könne und noch dazu gegen den
alten Hort der europäischen Ordnung, dies ernsthaft zu glauben ist jenen Herren
ganz unmöglich. Daher die offene Entrüstung derselben über die Leiter unsrer
Staatsgeschäfte und das unermüdliche Bestreben, wo sie es nur durch geheime Ein¬
flüsse vermögen, der Sachlage, wenn auch nur auf einen kurzen Moment, eine
andere Wendung zu geben und zum mindesten der öffentlichen Meinung ein Paroli
zu bieten. Solchen Einflüssen muß es wol zuzuschreiben sein, daß ein hiesiges
JonrM, das als der eifrigste Vorkämpfer der antirussischen Politik galt und in
allen Kreisen, besonders aber in aristokratischen und militärischen, wegen seiner
entschiedenen Haltung in der Tagesfrage sehr beliebt war, wir meinen den „Lloyd",
in der vergangenen Woche plötzlich für unbestimmte Zeit suspendirt wurde. Aller¬
dings war der zuletzt iucriminirte Passus eines Leitartikels direct gegen die mon¬
archische Gewalt im allgemeinen gerichtet; aber gewiß ohne Absicht und Willen
des Verfassers, dessen Loyalität sich hinreichend bewährt hat. Das Publicum
hatte, wie gewöhnlich bei solchen Preßgeschichtcn, dem Passus gar keine Aufmerk-
samkeit geschenkt, bis es durch das Verbot daraus hingewiesen wurde. Man war
allgemein erstaunt, daß grade in diesem Momente, wo die Annäherung an die
westmächtliche Politik so vollendet schien, dem „Lloyd", dem ältesten Bundesgenossen
Napoleon in Oestreich, dem kühnsten Verfechter und Verbreiter der ncuöstreichi-
schen Staatsidecn, so scharf an den Leib gegangen wurde. Das gänzliche Aufhö¬
ren des Blattes wäre ein harter Schlag für die noch so junge, wenig gekräftigte
Presse Oestreichs. Und deshalb hoffen wir auch, daß das Verbot nur ein vorüber¬
gehendes sein werde. Gleichsam zum Ersatz für die ebeu entstandene Lücke unsrer
Tagespresse trat zufällig in diesen Tagen ein neues großes Journal „Die Donau",
herausgegeben von E. v. Schwacher, ans Tageslicht. Bis jetzt liegen zwei Num¬
mern des Blattes vor uns, welche durch ernste Haltung, einige gute Revuen und
durch eine se.hr elegante Ausstattung mindestens ein eifriges Streben der Redaction,
das Beste zu leisten, erkennen lassen. In den Beilagen sollen fortlaufende Auf¬
sätze wissenschaftlichen und literarhistorischen Inhalts Raum finden. Wie man ver¬
nimmt, haben bedeutende auswärtige Kräfte, besonders der deutschen Prvsessoren-
welt, dem Herausgeber „der Donau" ihre bleibende Mitwirkung zugesagt. Unsere
einheimischen Gelehrten sind leider noch immer in dem alten Standesdünkel so be¬
fangen, daß es erst der Autorität fremder Namen bedarf, um sie zu einer Theil¬
nahme an deu volksthümlichen Bildungsmitteln der Presse zu bewegen. —
Eine andere neue Erscheinung, welche in unsrer Journalistik auftritt, ist eine
historischpolitische Wochenschrift des als- östreichischer Geschichtschreiber bekannten
U>'. Heinrich Meinert. Der Titel der Wochenschrift heißt wörtlich: Die Jetztzeit,
Immerwährendes Conversationslexikon u. s. w. u. s> w. Die Probcnummer be-
girrt mit einer „Unparteiischen Geschichte" des orientalischen Krieges und zwar:
„Erster Artikel: Grundanlässe und Symptome" der jetzigen Verwicklungen. In
diesem Stile ist auch das ganze, sonst recht verdienstliche Material der Wochenschrift
gehalten. Im Feuilleton beginnt eine pikante Erzählung, welche mit seltner Takt¬
losigkeit den noch lebenden und zwar in östreichischer Gefangenschaft und kricgs-
rechtlicher Untersuchung befindlichen or. Schütte neben dem todten Robert Blum
den Lesern vorführt. — Unsre Concertsaison hat nun in aller Glorie begonnen.
Sie bringt eine Reihe von größern Aufführungen classischer Musik und soll uns
in den Quartettsoireen mit den Werken neuerer Componisten im Fache der Kammer¬
musik bekannt machen. Auch die Vertreter der modernen Richtung, Berlioz, Wag¬
ner, Schumann sollen nun dem Urtheile der sonst so reuommirten Wiener Kunst¬
welt unterworfen werden. Von Virtuosen par excellence sind vorläufig angemeldet:
Clara Schumann, Marie Wicck, Arabella Goddard, Rubinstein und Wilhelmine Clcmß^
Wir sind also in diesem Genre so wohlversorgt wie jedes Jahr. Trotz Krieg und
Theurung wird sich Wien noch einige Gulden für musikalische Genüsse erübrigen.
— Papstthum und Christenthum, oder Beweis, daß das mo¬
derne Papstthum, innerhalb der christlichen Kirche, keinerlei Berechtigung habe. Der ge-
sammten Christenheit zur Beherzigung,' von G. A. Wimmer, Prediger. Bremen,
Schüncmanns Buchhandlung. — Die Schrift ist veranlaßt durch folgenden Artikel des
Univers: „der heilige Vater hat beschlossen, gegen Ende October die Bischöfe aller Natio¬
nen in der Hauptstadt der christlichen Welt zu versammeln, um Berathungen über die un¬
befleckte Empfängniß der heiligen Jungfrau Maria beizuwohnen. Ohne Zweifel
sollen sie auch an der Verkündigung der dogmatischen Bestimmungen theilnehmen.
Es ist daher wahrscheinlich, daß der achte December dieses Jahres die Erfüllung
des allgemeinen Wunsches bringt, und der unfehlbare Mund der Kirche die Em¬
pfängniß Marias feierlich für unbefleckt erklärt. Man weiß, was die Heiligen der
letzten Zeitalter und die allgemeine Meinung von der Erklärung erwarten. Der
Friede der Welt und der Sieg der Kirche sollen der Lohn für diese höchste, der
Königin der Jungfrauen erzeigte Ehre sein. So süße Hoffnungen werden nicht
getäuscht bleiben. Laßt uns inbrünstig beten, daß dem Statthalter Christi nichts
entgegentrete, oder eine Freude verzögere, nach welcher die katholische Welt sich so
innig sehnt!" — Der Verfasser ist durch dieses Factum in eine Aufregung versetzt,
die eigentlich keinen rechten Grund hat. Wir können die inneren Angelegenheiten
der katholischen Kirche, die unbefleckte Empfängnis; wie den heiligen Rock, ganz ruhig
dein Belieben unsrer Glaubensverwandtcn überlassen, die Haltung unsrer eignen
Kirche wird dadurch nicht alterirt werden. Wenn der Papst ein neues Dogma aus¬
stellt, und die katholische Kirche darauf eingeht, so können wir damit zufrieden sein,
da wir der sichtbaren katholischen Kirche nicht angehören. Die Macht des Papstes
an und für sich hat keinen Einfluß auf unsre Existenz; wol aber wäre es der Mühe
werth, die Art und Weise, wie von Seiten unsrer Staatsgewalt in den Concordaten
die Autorität des Papstes als einer geistlichen Macht, mit der man unterhandeln kann,
noch immer anerkannt wird, ernsthaft in Erwägung zu ziehen, da von jener Seite
uns durchaus keine Anerkennung zu Theil wird. Die Frage, ob Coneordate dnrch ein
Staatsgesetz ohne Betheiligung der Curie abgeändert werden können, wird sich früher
oder später aufdrängen; nnr wünschten wir/ daß sie alsdann nicht im Kreise der
einzelnen Staaten, sondern im Umfang des ganzen Bundes behandelt würde. Eine
deutsche Nationalkirche herzustellen, ist nicht wohl möglich und vielleicht auch nicht
einmal wünschenswerth; aber ein organisches Grundgesetz über das Kirchenrecht für
den Umfang des ganzen deutschen Reichs ist ein so dringendes Bedürfniß, daß weder
die augenscheinlichen Schwierigkeiten, noch die vermeintliche Unfähigkeit unsrer Zeit
zur Gesetzgebung auf die Dauer das Zustandekommen derselben verhindern werden. —
— Das angeregte Concil hat einen erfreulichen Fortgang gehabt. Angeregt von
dem unvergänglichen Geist der Kirche und bestärkt durch das Licht sovieler ver¬
sammelten Kirchenweisen, hat der heilige Vater es zur allgemeinen Befriedigung
verkündigt, daß die Jungfrau Maria nicht nur unbefleckt empfangen hat, sondern
daß sie auch unbefleckt empfangen ist. Die Feststellung dieses wichtigen Factums
wird gewiß der katholischen Kirche zur allgemeinen Erbauung dienen. Unsre pro¬
testantischen Freunde aber möchten wir ermahnen, nicht etwa in byzantinische Gelüste
zu verfallen und in das Geschrei: Homusios oder Homoiusios auszubrechen. Die
theoretische Wichtigkeit jener Feststellung wollen wir nicht bestreiten, aber die prak¬
tische ist nicht sehr erheblich, und wenn die Kirche mit ihren Entdeckungen noch
weiter in das Geschlechtsregister hinaufsteigen, wenn sie den Makel des Sünden-
falls auch der Großmutter der Jungfrau nehmen sollte, wie der Mutter, so wollen
wir diese tiefen Geheimnisse schweigend verehren und uns nicht in eine Polemik
einlassen, für die unsre Sprache doch nicht mehr die angemessenen Begriffsbestim¬
mungen finden dürfte. —
Die deutschen Volksfeste, Vvlksbräuche und deutscher Volksglaube
in Sagen, Märlein und Volksliedern. Ein Beitrag zur vaterländischen
Sittengeschichte von Montanus. Erstes Bändchen. Die deutschen Volksfeste und
Vvlksbräuche. Iserlohn und Elberfeld, Julius Bädeker. -1834. — Der Theil
unserer Literatur, welcher sich mit der Darstellung von Sitten, Sagen und Ge¬
bräuche'» der deutschen Vorzeit beschäftigt, ist in neuerer Zeit sehr ansehnlich an¬
gewachsen; indessen sind diese Sammlungen meistens mehr für das Studium des
wissenschaftlichen Forschers, oder sür die Neugierde des Liebhabers von Kuriositäten
eingerichtet, als sür das größere Publicum, welches unmöglich an der endlosen
Wiederholung gleichmäßiger oder wenigstens sehr verwandter Geschichten ein Behagen
finden kann. Deshalb sind kürzer gefaßte Sammlungen, die das Wesentliche von
dem Unwesentlichen scheiden, und die auch durch ihre Form einen angenehmen
Eindruck erstreben, sehr lobenswert!) und verdienen allgemeine Verbreitung. So hoffen
wir denn auch, daß die ansprechenden Schilderungen der verschiedenen deutschen Volks¬
feste und ihre historisch-mythologische Erläuterung allgemeinen Beifall finden wird. —
— Unter allen Ereignissen der letzten Woche hat wol keines
ein so allgemeines Befremden erregt, als die Erklärung, die Lord Rüssel im Par¬
lament über das östreichische Bündniß abgab. Wenn die Regierungen zweier
mächtigen Staaten soeben einen Vertrag abgeschlossen haben, der zwar noch nicht
vollständig bindend ist, der «her eine nahe bevorstehende Offensiv- und Defcnsiv-
allianz in Aussicht stellt, so ist es wol unerhört, daß der Minister des einen dieser
Staaten sich in wegwerfenden Ausdrücken darüber ausläßt, umsomehr, wenn einen
Tag zuvor die Thronrede ein großes Gewicht auf den Abschluß desselben gelegt hatte.
Niemand konnte eine solche Erklärung gelegener kommen, als den Anwälten der
russischen Politik in Deutschland, die nun das alte Märchen von der Unbeständig¬
keit Oestreichs und von der Abneigung des Kaisers gegen einen ernsthaften Conflict
mit Rußland mit einem größeren Anschein von Wahrhaftigkeit als gewöhnlich wieder
auftischen konnten. Seitdem ist aber der Wortlaut des Vertrages publicirt, und
jeder Unbefangene kann daraus abnehmen, daß der edle Lord zu seinen Anschuldi¬
gungen nicht den geringsten Grund hatte. Zwar vermissen wir in dem Vertrage
allerdings einen sehr wesentlichen Punkt, nämlich die Einigung d^er drei Mächte
über die Art und Weise, wie sie die vier Garantien verstehen wollen; eine Eini¬
gung, die für den Fortgang der demnächst zu eröffnenden Unterhandlungen sehr
wesentlich war. Allein wir müssen bedenken, einmal, daß Oestreich allen Grund
hatte, einen unmittelbaren Angriff Rußlands für den Laus des Wiuters zu verwalten,
sodann, daß es aus Preußen Rücksicht nehmen mußte, dessen Beitritt trotz des
Schwankens seiner bisherigen Politik durch die innere Nothwendigkeit der Ereignisse
allmälig zu erwarten ist, das aber gewiß nicht beigetreten'sein würde, wenn es sich
von vornherein aus alle Anforderungen der Westmächte hätte verpflichten müssen.
Die Stellung, die also Oestreich in dieser Beziehung in dem Vertrage eingenommen
hat, ist durch die Natur der Dinge geboten und im übrigen lautet der Vertrag
so entschieden, als wir nur wünschen können, so entschieden, daß namentlich der
Kaiser von Rußland, der seine Annahme der vier Garantiepunkte bereits einige
Tage vor Abschluß desselben hatte modificiren lassen, über die Tragweite desselben
keinen Zweifel haben kann. Von französischer Seite ist die Wichtigkeit des Ver¬
trags auch vollkommen gewürdigt, und es bleibt uns nur übrig, anzunehmen, daß
der edle Lord bei jener Erklärung wieder einmal in eine jener Uebereilungen ver¬
sallen sei, die ihm trotz seines hohen Alters noch immer ein liebenswürdiges jugend¬
liches Ansehen geben.
Was Oestreich betrifft,'so müssen wir bei dieser Gelegenheit die Bemerkung
einschalten, daß wir in unserm vorigen Hest den Bemühungen der gegenwärtigen
Regierung, das System der Erziehung ans norddeutsche» Fuß zu bringen, nicht
genug Rechnung getragen haben. Es sind uns darüber neuerdings Informationen
zugegangen, deren ausführlichere Mittheilung wir uns vorbehalten.
Die Haltung des englischen und französischen Volks in dem Drang der
kriegerischen Ereignisse ist über alles Lob erhaben, und wenn wir uns auch eines
gewissen Neides gegen diese bevorzugten Nationen nicht erwehren können, so liegt
doch etwas sehr Tröstliches in der Ueberzeugung, daß unsre Zeit noch nicht, wie
mau zuweilen behauptet, ganz in Schlaffheit versunken ist. Daß unter diesen Um¬
ständen die Schriftsteller beider Völker, durchdrungen von dem Heldenmuth ihrer
Truppen, uns Deutsche mit den heftigsten Vorwürfen überhäufen und übertriebene
Anforderungen an uns stellen, finden wir sehr natürlich, ohne darum die Gerechtigkeit
dieser Anforderungen und Vorwürfe in vollem Umfange anzuerkennen. Daß die
deutschen Regierungen in den Krieg sich nicht früher eingelassen haben, bis Eng¬
land und Frankreich soweit in denselben engagirt waren, um nicht mehr zurückgehen
zu können, das finden wir ganz in der Ordnung: durch welche Bemerkung wir
freilich eine Politik nicht rechtfertigen wollen, die mit einem gewissen Selbstgefühl
sich dem abstracten Princip des Abwartens hingibt, und ohne einen eignen be¬
stimmten Willen zu haben, den durchzusetzen sie all ihre Kräfte aufbieten würde,
auf irgendein unvermuthetes Ereigniß sich verläßt, das ihr vielleicht einen bestimmten
Gang verzeichnen könnte. Wir haben schon mehrmals daran erinnert, daß Preußen
sehr unrecht thäte, wenn es in den Krieg ginge, ohne einen bestimmten Vortheil
für sich und für Deutschland in Aussicht gestellt zu sehen, und wir haben auch
das gerechte Verlangen, das Deutschland.stellen konnte, präciflrt, nämlich die Re¬
vision des Londoner Protokolls über die Erbfolge in Schleswig-Holstein. In dieser
Hinsicht ist wieder ein sehr günstiger Moment ungenutzt vorübergegangen. Ein
höchst unpopuläres, dem russischen Einfluß zugängliches Ministerium hatte das
dänische Volk seiner Regierung entfremdet, und dieser Regierung gegenüber hätten
sich die Westmächtc wol zu Zwangsmaßregeln verstanden, wenn sie damit den Beistand
Deutschlands erkaufen konnten. Jetzt liegt die Sache anders. Es ist eine Partei
am Ruder, die wir zwar bekämpfen müssen, weil sie gegen uns Deutsche die
feindlichste Gesinnung hegt, der wir es aber nicht absprechen können, daß sie in
Dänemarks höchst populär ist, und daß sie mit Rußland nichts zu thun hat.
Durch diese veränderten Umstände ist die Durchführung unsrer Ansprüche sehr
erschwert; unmöglich geworden ist sie aber keineswegs, denn es käme darauf an,
sich mit den Eidcrdänen zu verständigen in der Weise, wie es zu Anfang des
Krieges im Jahre 1848 von England versucht worden ist. Die Interessen des
deutschen Volks in Schleswig-Holstein und idie Interessen Deutschlands fallen nicht
ganz zusammen, und es darf keineswegs die einseitige Hervorhebung des einen
Moments bei der Erwägung dieser Frage den Ausschlag geben, an der unsre ganze
Zukunft hängt.
Die Hauptsache ist für jetzt, daß der Krieg trotz aller Friedensunterhandlun-
gen seinen ununterbrochenen Fortgang hat und daß an ein Aufgeben des Unter¬
nehmens gegen Sebastopol keineswegs gedacht wird. Wir hoffen im Laufe des
nächsten Jahres unsern Lesern ausführliche Berichte vom Kriegsschauplatze zu geben,
da unser Berichterstatter aus Konstantinopel, dessen Sachkenntniß allgemein gewür¬
digt wird, sich in das Lager der Alliirten begeben hat. — Wir benutzen diese
Gelegenheit, um eine kleine Schrift zu empfehlen, die zur Orientirung des Pu-
blicums über den Gang der orientalischen Verwicklungen bestimmt ist. Es ist' die
Fortsetzung der Jllustrirten Co no ersa tlo n öd este, die in Leipzig bei Lorck
erscheinen und einen historischen Abriß bis zu der Zerstörung der türkischen Flotte
bei Sinope geben.
Den trübsten Eindruck unter den gegenwärtigen Umständen macht aus uns,
wie wol auf alle, die an den Zeitbegebenheiten theilnehmen, die Haltung Preußens.
In der Revue des deux mondes vom 1. December ist ein sehr ausführlicher Ar¬
tikel darüber, der von dem Redacteur dieser Revue unterzeichnet und vielleicht auch
überarbeitet worden ist, der aber seinen Ursprung offenbar einer in das innerste
Leben des preußischen Staats eingeweihten Feder verdankt. Freilich ist die Dar¬
stellung zum Theil von der Art. daß sie in der deutschen Presse nicht wohl wieder¬
zugeben wäre. Sie muß als Material für die künftige Geschichtschreibung aufbe¬
wahrt bleiben. Aber schlimmer noch als die Haltung der Regierung erscheint uns
die Haltung der Kammern. Wir haben die Berichte unsres Berliner Corresvon-
deuten zurückgelegt, weil sie einzeln genommen einen gar zu trübseligen Eindruck
machen; wir werden sie seiner Zeit in der Form eines Tagebuchs nachliefern. Man
wird uns zwar einwenden, die preußischen Kammern seien nicht der wahre Aus¬
druck des preußischen Volks; allein einmal können wir das nur theilweise zugeben,
sodann ist auch alles Repräsentativwerk unnütz, wenn nicht in Zeiten einer gro¬
ßen Gemüthsbewegung im Volk alles, was sich nicht künstlich in ein einseitiges
Princip verstockt, gewaltsam mit fortgerissen würde. Daß dies in den preußischen
Kammern, deren große Majorität aus wohlgesinnten und von.preußischem Patrio¬
tismus aufrichtig durchdrungenen Männern besteht, nicht der Fall gewesen ist, daß
der Vinckcsche Adreßentwurf nicht eine große Majorität gewonnen hat> das ist ein
hinreichendes Zeichen dafür, daß sich in Preußen eine öffentliche Meinung noch
nicht mit moralisch zwingender Gewalt entwickelt hat. Wir müssen diese Thatsache,
die für ganz Deutschland unheilvoll ist, constatiren, so schwer es uns auch persön¬
lich fällt.
Nun aber noch ein Wort, um nicht das Jahr mit allzutrübcn Betrachtungen
zu schließen. Bei unsrer Lectüre der Geschichte sind wir gewohnt die Thatsachen
in großen Zügen in Freskomalerei aufzufassen, wodurch sie erst je- 'kanadischen
Eindruck auf uus macht, der verloren geht, sobald wir sie ängstlich in ihre einzel¬
nen Bestandtheile auflösen. Wir, die wir mitten in einer Zeit leben, die einen
großen Anlauf nimmt, können sie allerdings nicht in so kühnen Umrissen anschauen,
denn wir erleben sie von Tag zu Tag, und jeder Tag bringt neue Sorgen, neuen
Verdruß, neue Enttäuschungen. Aber wir dürfen nicht vergessen, daß dies zu
allen Zeiten ähnlich gewesen ist, daß den Kleinlichkeiten der einzelnen Menschen
gegenüber ein Etwas steht, was 'die Religiösen Vorsehung, die Philosophen die
immanente Vernunft der Dinge nennen, und daß manche Flamme, die bei ihrer
völligen Entfaltung einen glänzenden Schein verbreitet, ti^res langweilige, mühsame
und verdrießliche Mittel hervorgerufen werden mußte.
Und mit diesem Trost, der darum noch kein unwahrer ist, daß wir ihn als
einen deutschen Trost bezeichnen müssen, wünschen wir unsern Freunden und Lesern
ein fröhliches Neujahr. ,
Abonnementsanzeige zum neuen Jahr.
Mit dem Anfange des neuen Jahres beginnen die Grenzboten
den Jahrgang. Die unterzeichnete Verlagshandlung erlaubt
sich zur Pränumeration auf denselben einzuladen, und bemerkt, daß alle
Buchhandlungen und Postämter Bestellungen annehmen.
Leipzig, im December Fr. Lndw. .Herbig.