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]]>Zeitschrift für Politik und Literatur,
herausgegeben von
GWSÄÄV SWMÄI und MUlM AchMNo
12. Jahrgang.
II. Semester. II. Wand.
Leipzig,
Verlag von Friedrich Ludwig Herbig.
1853
Die Constitution und die politischen Sitten des heutigen Schwedens datiren
vom Jahre 1809. Einer der Haupturheber jener militärischen Revolution, welche
Gustav IV. absetzte, den mehrten schwedischen Namen nach außen rächen und im
Innern Principien zur Herrschaft bringen wollte, welche die französische Revolution
eingegeben hatte, schrieb in seinen kürzlich veröffentlichten Denkwürdigkeiten
folgende Zeilen, welche er seine „politische Religion" nannte: „Das Gesetz muß
gleichmäßig alle Bürger schützen. Die Vertreter der Nation müssen von ihr
gewählt werden. Die Kasten müssen abgeschafft werden. Die erste Pflicht der
Volksvertreter wird sein, eine Verfassung festzustellen, welche die Rechte und
die Pflichten jedes Bürgers bestimmt. Die verfassunggebende Versammlung
wird demnächst einen Repräsentationsmodus festzustellen haben, der vernünftiger
ist, als der jetzige. Die Theilung in verschiedene Stände ist eine Erfindung
alter Zeiten, welche für unsre Sitten nicht mehr paßt; dies ist eine Wahrheit,
die jeder vernünftige Mensch anerkennt. Eine derartige Theilung hat stets nur
unheilvolle Resultate gehabt; sie hat einerseits verletzenden Stolz, Druck und
Privilegien, andererseits Haß und Neid erzeugt."
Die Konstitution von 1809, in der Eile entworfen, hat gleichwol die alte
Eintheilung der schwedischen Gesellschaft in vier Stände beibehalten; ließ aber nicht
verkennen, wie nothwendig es sei, an die Stelle dieser seltsamen Combination eine
gerechtere Eintheilung zu setzen. Jedermann erkennt in Schweden diese Nothwendig¬
keit, man wünscht und fordert diese Reform, die Unerfahrenheit des öffentlichen Geistes
aber und die Bestrebungen der Sonderiuteresseu haben stets die Ausführung
derselben verhindert. Noch heute ist die schwedische Nation in vier Stände
getheilt, die qnf verschiedenen Grundlagen ruhen: der Adel beruht auf der Ge¬
burt, die Geistlichkeit auf den Privilegien einer Staatsreligion, das Bürgerthum
aus dem Princip der Arbeit im Innern der Städte, der Bauernstand auf dem
ländlichen Grundeigenthum. Jeder dieser Stände ist durch die Constitution mit
Schranken umgeben, die schwer zu durchbrechen sind und die Nationalrepräsentation
gibt absolut dieselbe Theilung wieder. — Der Adel ist erblich und kann vom
König verliehen werden. Die Häupter aller adligen Familien des Königreichs
sitzen in der Ständeversammlung durch das Recht der Erblichkeit mit ihrem
SS. Jahre. Der Stand der Geistlichkeit mit dem Erzbischof von Upsala, dem
Primas Schwedens an der Spitze, besteht aus allen Bischöfen, aus Predigern,
die von ihren Collegen erwählt sind, und aus mehren Deputirten, welche von
den Universitäten Upsala und Lund und von der Akademie der Wissenschaften
gesendet werden. Um zu dem Bürgerstande zu gehören, muß man im Weichbilde
einer Stadt wohnen, und während einer gewissen Zeit eine bestimmte Steuer
entrichtet oder drei Jahre lang das Amt eines Bürgermeisters oder Gemeinde¬
rathes bekleidet, jedenfalls drei Jahre lang wenigstens gewerblichen oder Handels-
corporationen angehört haben. Man kann in keine Corporation aufgenommen
werde», wenn mau nicht derselben vorgeschlagen ist und ein von einer speciellen
Commission approbirtes Meisterstück eingereicht hat. Die Wahl der Deputirten
aus dem Bürgerstande ist direct und indirect, je nach deu Lokalitäten.— Endlich
der sehr zahlreiche Bauernstand, der alle Einwohner des platten Laudes begreift,
die Ackerbau treiben, kann in der Ständeversammlung nur durch wirkliche Bauern
repräsentirt werden, die zwar Eigenthümer sind, aber mit eigener Hand ihr Land
bauen, in dem Bezirk, wo sie gewählt sind, wohnen und niemals einen Handel
betrieben oder ein Staatsamt bekleidet haben. Die Wahl dieser Bauerndeputirten
ist eine indirecte. Alle Deputirten der drei nicht adligen Stände erhalten von
ihren Committenten während der Dauer der Session eine Entschädigung.
Die so gebildete Ständeversammlung tritt alle drei Jahre, gewöhnlich zu
Stockholm zusammen. Die drei letzten Stände sitzen in drei großen Sälen eines
sehr einfachen Gebäudes, das in einiger Entfernung vom Schlosse ans der Ritter¬
insel liegt. Der Adel- oder Ritterstand hat zum Versammlungsort einen
prächtigen Palast, in demselben Stadttheil. Der Sitznngssal macht einen ernsten
und imposanten Eindruck. Obgleich die Avclsversammlnng oft zahlreich ist, so
verursacht die Abwesenheit der Deputirten der andern Stände, verbunden mit
dem ernsten und friedlichen nordischen Charakter, mehr Ruhe und Schweigen, als
in den französischen und englischen Parlamenten. Man findet anch in den
schwedischen Kammern weder Rechte noch Linke; jeder Saal enthält eine» einzigen
Stand, dessen Mitglieder ans einander parallelen Bänken oder Sesseln sitzen, und
in der Regel über ihre gemeinsamen Interessen einverstanden sind. Keine Tribüne,
keine langen Reden, sondern einfache, motivirte Gutachten, über die rasch mit
Ja oder Nein abgestimmt wird. Diese Abstimmungen, wie die öffentlichen Dis-
cusstonen, finden übrigens erst nach Verlesung der Berichte statt, welche die acht
Ausschüsse der Verfassung, der Finanzen, der Bank ze. abfassen; im Schoße dieser
Ausschüsse vollzieht sich die eigentliche Arbeit der Ständeversammlung. Das
verneinende Votum eines Standes wird analysirt dnrch die bejahenden Vota der
drei anderen. Nur in Betreff der Modifikation des Grundgesetzes und der Be¬
fugnisse der drei großen Staatsgewalten ist Einstimmigkeit der vier Stände
erforderlich und der von einem Landtag discutirte Antrag kann endgiltig erst
von dem folgenden Landtage, also drei Jahre später, entschieden werden.
Augenfällig sind die zahllosen Nachtheile, welche aus dieser künstlichen Thei¬
lung der Nation in vier Stände entspringen müssen, dieser unsichern und unvoll¬
ständigen Repräsentation und dieser Hindernisse, mit denen die Constitution den
Mechanismus der Ständeversammlung und die Ausführung von Reformen umgeben
hat. Der schreiendste Nachtheil in den Augen derer, welche die politische» Rechte
den Würdigsten verliehen sehen oder dieselben uuter alle getheilt habe» wolle»,
ist der, welcher in einem Staate, wo die Bauern durch eine bestimmte Zahl ihrer
Standesgenossen vertreten sind, von der Nation die unterrichtete» oder intelli¬
genten Männer ausschließt, welche die Mittelclasse bilden, die man in Frankreich
als Bourgeoisie bezeichnet. Denn i» Schweden stellt der Bürgerstand keineswegs
die französische Bourgeoste dar; er ist eine Corporation mit ihren Privilegien, ihren
besonderen Chefs und ihrem exklusive» Geist. Der Titel Bürger erfordert die
Erfüllung ganz specieller Bedingungen, und der, welcher sie uicht erfüllt, wäre er
auch großer Eigenthümer oder ein großer Industrieller, Gelehrter oder Magistrat,
wird zu keiner Classe der Nation gerechnet.
Dieser eigenthümlichen Theilung der bürgerliche» Gesellschaft entspricht ein
officielles Kirchenthum, das vom Staate nicht getrennt ist. Niemand kann el»
öffentliches Amt erhalte«, wem, er nicht den Nachweis seiner Confirmation bei¬
bringt; eines Actes, der in Schweden im 16. Lebensjahre nach einer laugen
und gründlichen Vorbereitung vollzogen wird. Nicht allein erkennt der Staat
eine andre Confession als das Lutherthum nicht an, sondern das Staatsgesetzbuch
enthält a»es noch folgende Bestimmung: „Wenn jemand die wahre lutherische
Lehre verläßt, um einer falschen Lehre sich zuzuwenden, soll er aus dem Königreiche
verbannt werden und alle seine bürgerlichen Rechte verlieren, wofern ihn der
König nicht begnadigt." Ganz kürzlich uoch hat die schwedische Negierung dieses
Gesetz der Intoleranz mehrfach zur Anwendung gebracht. Die Secte der „Leser",
welche behauptet, durch eine gewissenhafte Lesung der Bibel wieder zu der
ursprünglichen Reinheit des Lutherthums zu gelange», hatte sich in mehren Pro--
vinzcn Schwedens, namentlich in Nvrrland, Smaland und Schonen verbreitet;
einer ihrer Propheten, der Bauer Erie Jausso», der, wie seiue Schüler behaup¬
teten, Wunder verrichtet und frei von jeder Sünde ist, hat, um den Verfolguuge»
des Gesetzes zu entgehen, einen Theil seiner Anhänger veranlassen müssen, nach
Nordamerika auszuwandern und mit ihnen in Wisconsin sich niedergelassen.
Ferner hat18S0 die Secte der Anabaptisten i» Halland und in der Umgegend
von Gothenburg sich gezeigt. Ein Seemann, abgesendet von der Anabaptisten-
gemeinte in Hamburg, hatte in Schwede» eine Gemeinde von etwa S0 Personen
gebildet, denen er selbst Taufe und Abendmahl administrirte. Er ist gerichtlich
verfolgt und durch das Tribunal von Gotha verbannt worden. Die Juden
können nur i» den vier Städten Stockholm, Gothenburg, CalScrona und Nor-
köping wohnen; sie entbehren jedes politischen Rechtes, selbst ihr Recht, gerichtliche
Eide abzulegen, ist zweifelhaft. Endlich fürchtet die schwedische Kirche die Fort¬
schritte des Katholicismus. Mau nennt einen Maler, Nilsson, der vor einige»
Jahren gerichtlich aus Stockholm verbannt wurde, weil er zur katholischen Kirche
übergetreten war. Allein die Gnade des Königs hat ihm ein Vaterland gelassen.
Vergeblich hat der Graf Bedingt in der vorletzten Ständeversammlung beantragt,
man möge sich darauf beschränken, die politischen Rechte denjenigen zu entziehen,
welche ihre religiösen Ueberzeugungen veranlaßten, aus der lutherische« Kirche
auszuscheiden, sein Antrag ward als zu freisinnig verworfen. Vergeblich haben
1847 die Juden eine Petition eingereicht, welche vollständige Emancipation
nachsuchte; die Negierung hat Commisstonen ernannt; man hat berathen, alsdann
ihr Gesuch vergessen, und die Juden sind noch heute von dem Rechte ausge¬
schlossen, zu wähle» »»d gewählt zu werde». Auf deu beide» letzten Landtagen hat
ein Deputirter des Bürgerstandes, Wär», vorgeschlagen, den Juden zuvörderst
alle bürgerliche» Rechte zu verleihen, aber nur der Bürgerstand ist auf diese
gerechte Forderung eingegangen. Die drei anderen Stände haben sie stolz ver¬
worfen, -rei aeto. gelegt und sind zur Tagesordnung übergegangen.
Nichtsdestoweniger wird in Schwede» der Fortschritt der Sitten anch den
Fortschritt der Institutionell herbeiführen. In Schweden wie in Fraukreich ist
das Bürgerthum, den Sinn des Wortes Bürger somit erweiternd, im Bunde
mit dem Königthum groß geworden. Das Bürgerthum hat Karl XI. in seinem
Kampfe gegen den Adel unterstützt; hat in allen Kriegen gegen Dänemark dem
Vaterlande die zahlreichsten n»d tapfersten Vertheidiger gestellt. Handel und
Industrie haben seinen Fortschritt gezeitigt. Die ganze Mitte deö 18. Jahrhun¬
derts, jene.Periode, welche mau in Schweden als die Freiheitsperivde bezeichnet,
von 1718 bis 1772, bildete den Anfang einer großen industriellen Epoche.
Polhem eröffnet« sie durch seine trefflichen, mechanischen Arbeiten, indem er die
erste Hand an den Kanal von Gotha legte. Nach ihm war Jonas Alströmer,
einer armen Familie Westgothlaiids entsprossen, der Cvlbert Schwedens. Unter¬
stützt durch seineu Mitbürger, Nicolas Schlyre», und d»res seine eigenen Söhne,
rüstete er Schiffe aus, eröffnete er Maschinerien, gründete er Fabriken und praktische
Schulen und eröffnete seinem Vaterlande eine neue Periode des Wohlstandes, dem
Bürgerstande aber, dessen Mitglied er anfänglich war — erst später wurde er in den
Adelstand erhoben — gab er das Uebergewicht des Reichthums. Geeinigt durch das
enge Band, welches Industrie und Ackerbau verbindet, sind Bürger und Bauern
zusammen groß geworden und heutzutage mächtiger als der Adel und die Geistlichkeit.
Der Adel überhaupt, der alte Adel Schwedens, ist nnr noch ein Name.
Von dreitausend in die alten Adelsbücher eingetragene» Familien sind ungefähr noch
1,200 vorhanden, von denen etwa ISO ihren Reichthum behalten haben. Jedes
Jahr entgehen dem Adel, wie die statistischen Berichte ausweisen, große Domä¬
nen und mehr als eine Million Franken, um die Kassen des Bürgers zu füllen
oder unter deu Bauer» sich zu vertheilen. Der Adel ist noch im Besitze der
Hofchargen und einiger Commandos in der Armee oder in der Leibgarde des
Königs; aber er ist im allgemeinen arm und mit dem Reichthum hat er seinen
Credit und sein Ansehen eingebüßt. Viele adlige Familie»hänpter, die ruinirt
sind^ mißbrauchen ihr Privilegium und veräußern für eine oft geringe Summe
das Recht, in der Ständeversammlung zu scheu. Man hat bisweilen in Stockholm
wohl bekannte Lastträger und Kutscher gehabt, welche, Häupter vou alten Adels¬
familien, für jede Legislatur ihre» Sitz im Parlamente verkauften. Der Verfall
des schwedische» Adels datirt von der berühmten, durch König Karl X!. eingeführte»
Neductio» desselben. Ueberdies hat er 1810 dem Privilegien entsagen müssen,
welches seine Domänen als „Frälse" oder Freigüter hatten, vermöge dessen sie
unantastbar, untheilbar und zum große» Theil von den Steuer» befreit waren,
im Gegensatz zu deu „Ofrälseu" oder bürgerliche» Güter». Seit dieser Zeit sind
anch die Fideicommisse »ut Majorate, nicht rechtlich aufgehoben, doch beschränkt
worden. Jede dieser Niederlagen des Adels war natürlich ein Fortschritt sür die
beiden untern Staude, welche sich eng mit dem Königthum gegen den gemein¬
samen Feind verbanden, sich mit allem bereicherten, was der Adel verlor, und
endlich in ihre Reihen viele zu Grunde gerichtete Adlige aufuahnum, welche
durch Ackerbau oder Industrie ihren früheren Wohlstand wiederherzustellen strebten.
Das erste politische Instrument, die erste Waffe des Bürgerthums, ist eine
thätige und freie Presse, weil das Regime der freien Discusstou und der parla¬
mentarischen Sitten allein ihm angemessen ist. Die politische Presse entstand und
wuchs daher in Schweden zu derselben Zeit, als der Mittelstand sich erhob.
Der „Argus" vou Olof Dalin war das erste schwedische Journal. Es erschien
1730 nach dem Muster des englischen Spcctators. Geistvoll und sehr unschuldig
gefiel es »ut verbreitete den Geschmack an der Lectüre. Es folgte „die Post
von Stockholm", gegründet 1778 dnrch Kellgren und Bangri». Dieses Blatt
gab Fabeln in Verse», Idylle, Räthsel, Berichte über Bücher und Theaterstücke;
es wagte sogar politische Neuigkeiten des Auslandes zu bringen und mit denselben
oft ziemlich freie Betrachtungen zu verbinden. Jedoch hatte die Tagespreise in
Schwede» »och keine reelle Macht, bis der Streit der Classiker und Romantiker
ein „junges Schweden" schaffend, ihr eine neue Laufbahn eröffnete, die zuerst
nur literarischer, bald aber politischer Natur war. Infolge dieses Kampfes ließ eine
glühende und begeisterte Jugend den. Ruf Vaterland und Freiheit ertöne», »»d
die öffentliche Meinung, die eben erst sich bildete, wußte in dieser Aufregung
des Geistes ihre Existenz, dann ihre Nahrung und Stärke zu finde». Um die
ausschließlich literarischen Journale zu übergehen, in denen die beiden Schulen ihre
Theorien entwickelten, so waren der Courier, der Beobachter (Anmärkaren) und
der neue Argus, gegründet 1820 von Johannson und Schentz, hauptsächlich
politischen Inhalts und beschäftigten sich mit den innern Angelegenheiten des
Landes. Acht oder neun Jahre später war Gustav Hierta Gründer des
„Bürgers" i» Schweden, der erste wirkliche Repräsentant der politischen Presse.
Die öffentliche Meinung hatte, gleich bei ihren ersten Schritten in einer für
sie noch neuen Welt, die sonderbaren Anomalien bemerkt, welche in der Consti-
tution von -1809 enthalten waren. Eine wirkliche Agitation, zwar noch zaghaft,
aber begierig eine thätige Propaganda zu gründen, hatte sich bereits unter der
Regierung Karls XIII. gezeigt. Die Ständeversammlungen, welche in der ersten
Hälfte der Regierung Karl Johanns von -18-18 bis -1830 zusammentraten, drück¬
ten von Zeit zu Zeit den Wunsch ans, das System der Repräsentation möge
baldigst modificirt werden, allein der neue König hatte eine Dynastie zu gründen.
Abgeneigt einer jeden Reform, welche die Unzufriedenheit eines bedeutenden Thei¬
les der Nation erregen konnte, widersetzte er sich diesem Wunsche und bewilligte
allein 1828 die Zulassung von Deputirten der Universitäten. Dies war zu we¬
nig, um den öffentlichen Geist zu befriedigen und war genug, um ihn in seinen
Hoffnungen zu ermuthigen. Die Wünsche der Schweden sprachen sich laut aus,
sowol in den Journalen, als ans dem Landtage von -1828, wo ihre Hauptorgane
die Grafen Ankarswärd, Horn und Schwerin waren. Als die europäische Krisis
von -1830 eintrat, konnte die Regierung wahrnehmen, daß sie nicht mehr allein
mit einer öffentlichen Meinung, die von einem bereits mächtigen Bürgerthum klar
ausgesprochen wurde, sondern mit einer wirklichen Opposition zu thun habe.
Die Revolution von -1830 machte in Schweden einen tiefen Eindruck. Die
liberale Partei sprach laut ihr Bedauern aus, daß Karl XII. nicht mehr auf dem
schwedischen Throne saß. Schwede«« Degen würde die Verfassung Enropas
modificirt haben! „Man mußte, sagte sie, das theure Snomi, das schmerzlich
entbehrte Finnland wieder erobern; man hätte nicht einen russischen Soldaten
von Abo bis Petersburg gefunden: die finnischen Brüder hätten schon auf der
ganzen Küste Branntwein für die schwedische Armee vorräthig! Von dort wäre
man nach Polen gegangen, und diese Vormauer der germanischen Nationen wäre
nicht unterlegen." Inmitten dieser Aufregung entstand das bedeutendste schwe¬
dische Journal, das Aftonblad oder das Abendblatt. Hans Johann Hierta
war der Gründer desselben. Die Umstände waren ihm außerordentlich günstig.
Der „Breger" und die „Stockholmer Post" waren eben eingegangen und die
öffentliche Meinung, in verschiedenen Richtungen aufgeregt, kümmerte sich mehr
als je um die öffentlichen Angelegenheiten. Geschickt bestrebte sich Hierta erst
die allgemeine Neugier zu befriedigen, bevor er daran dachte, gewissen besondern
Leidenschaften zu schmeicheln. Den Stockholmer Philistern bot er in der einen
Hälfte seines Journals allerlei Ereignisse, Anekdoten, selbst Wortspiele und Cha¬
raden; er gewöhnte jede» Bürger, der seinen guten Humor und seinen ruhigen
Schlaf sich erhalten wollte, sich nicht schlafen zu legen, ohne diese Lecture genoss?»
zu haben. Auf der andern Seite erhob er sich gegen den Despotismus, griff
Rußland an und kämpfte für Polen. Außerordentlich thätig und reich an Hilfs¬
quellen beschäftigte er seit 1836 in seiner Druckerei eine Dampfmaschine und zahl¬
reiche Arbeiter. Er war und ist noch einer der Hauptverleger und eiuer der
reichsten Fabrikanten Schwedens. Er ist überdies Schiffsrheder, Künstler »ud
Mitglied der Adclskammer auf dem Landtage. Seine ersten Mitarbeiter, Stuz-
zenbecher, Möller und I)r. Wetterbergh, genossen wie er, eines großen Rufes,
und 6000 Leser wurden die Schüler derer, welche man „die sieben Weisen des
Abendblatts" nannte. Der König Karl Johann erweckte ihm einen Nebenbuhler,
das Vaterland (Faderneslaudet). Der vom König gewählte Hauptredacteur dieses
Blattes, Kruseustolpe, war eine Zeitlang der vertrauteste Günstling des Hofes;
jeden Abend befand er sich bei dem König, der ihm die Artikel für den folgen¬
den Tag dictirte. Dem „Vaterlande" gelang es jedoch nicht, die polnische Sache
in Mißcredit zu bringen und Liebe für die Russen zu erwecken. Der Erfolg des
Journals entsprach nicht den Wünschen Bernadvttes, und der Graf Brahe schloß
eines Tags die Thür des königlichen Cabinets Herrn Kruseustolpe. Der Jour¬
nalist machte sich darauf zum Pamphletschreiber und rächte sich grausam. Seine
bis zur Uebertreibung heftigen Satiren verfehlten jedoch das Ziel; die Briefe,
welche Krusenstolpe noch jedes Jahr veröffentlicht, haben keinen Einfluß mehr
auf die öffentliche Meinung. Das Journal, welches er einige Zeit im Sinne der
Negierung redigirt, hatte er bald aufgegeben und das „Vaterland" war unter¬
legen unter dem Spotte des Abendblattes, welches dasselbe nicht mehr Fadernes-
landet, sondern Fauders Eländet, das heißt Teuselselend nannte.
Zu dem Triumph des Aftonblads, einem wahren Fortschritt für die liberale
Partei, kamen die freilich langsamen Fortschritte, welche die Reformbewegung im
Parlament machte. Der Landtag von 1834 hatte mehre Projecte discutirt,
welche von Ständemitgliederu eingereicht waren, und hatte sie alle verworfen;
jedoch die Zulassung der Schmiedemeister zur Nationalvertretung beschlossen.
Der Landtag von 1840 hatte die Nothwendigkeit einer Reform anerkannt, und
die vier Stände hatten nach einer ersten Lesung einen Entwurf angenommen,
der das Zweikammersystem und das Wahlprincip feststellte, er hatte aber nicht
die Sonderung in vier Stände aufgegeben, und überdies war das Präliminar-
votnm, welches verfassungsmäßig von dem nächsten Landtag einstimmig genehmigt
und von dem König sanctionirt werden mußte, nur von den zwei ersten Stän¬
den gleichsam als ein Beweis ihres guten Willens, der sie aber zu nichts ver¬
pflichtete, abgegeben worden. Die Opposition war weit entfernt, auf eine zweite
Lesung z» rechnen. Der König Karl Johann starb in dem Momente, wo die
Nefvrmfrage in dieser Weise schwebte. Die Thronbesteigung des neuen Königs
erweckte große Hoffnungen. Prinz Oskar hatte sich stets freisinnig gezeigt und
auf die ersten Pflichten des Königthums durch Arbeiten sich vorbereitet, welche
ihn in den Geist der Neuzeit eingeweiht hatten. Ein Landtag trat im ersten
Jahre seiner Regierung zusammen. Die dreijährige Dauer der Parlamente, die
bis dahin fünfjährig waren, wurde von ihm proclamirt, aber der 4840 ange¬
nommene Reformautrag erlangte nicht eine zweite Lesung. Der erste Minister
der neuen Regierung, Baron Nvrdenfels, erklärte nichtsdestoweniger im Namen
des Königs, daß „die Nefvrmfrage dringlich sei und eine schleunige Prüfung er¬
fordere." Der König selbst sprach bei der Auflösung der Versammlung den for¬
mellen Wunsch aus, daß eine baldige Reform in dem Nepräsentatiousmvdus
eingeführt wurde. In Ausführung dieser Verheißungen wurde in, der That von
der Regierung ein Ausschuß ernannt, um einen Gesetzentwurf abzufassen; aber
ans Männern bestehend, deren Interessen und Ansichten sehr weit auseinander
gingen, brachte dieser Ausschuß einen Bericht zu Stande, der keinen Abschluß
hatte und welchen der am 13. October 1847 zusammengetretene Landtag nicht
einmal zu discutiren sich die Mühe gab. Die Nefvrmfrage wäre vielleicht ver¬
gessen, mindestens noch mehre Jahre vernachlässigt worden, wenn die Februar¬
revolution nicht von neuem die Gemüther aufgeregt hätte.
Die Ereignisse in Frankreich fanden damals in Schweden einen schwachen
Widerhall. Mehre Journale, wie die Reform und die Volksstimme (Fölkels Röstet)
imitirteu oder übersetzten die heftigsten Artikel des „Peuple" von Proudhon
und der „Commune de Paris" von Sobries. Der Odin sprach weitläufig
über die Organisation der Arbeit. Man verlangte das allgemeine Stimmrecht.
Die Arbeiter bildeten Vereine, welche mit dem norwegischen Socialisten Marcus
Thräne sich in Verbindung setzten; sie verfaßten und unterzeichneten Petitionen.
Einige Unruhen, die zu Stockholm am 18. und 19. März ausbrachen, eine
Mißernte in Jemtland>, mehre schmähliche Bankrotte in der Hauptstadt, er-
muthigtcu eine Zeitlang eine Anzahl von Hitzköpfen. Ernsthafter und dauerhafter
als diese frivole Agitation war der neue Aufschwung der liberalen Partei. Ein
Verein von Anhängern derselben hatte sich bereits zu Stockholm gebildet, um
das Reformwerk fortzusetzen und einen Repräsentationsentwurs auf demokrati¬
scher Grundlage abzufassen. Die Wirkung der Fcbruarereignisse machte die De¬
batten dieser Versammlung lebendiger, Provinzialcomitts bildeten sich, corre-
spondirten mit ihr und erweiterten ihren Einfluß. Die Negierung ihrerseits ließ
sich auf einen Widerstand nicht ein, der gefährlich werden konnte. Der König
entließ sein Ministerium und berief in das Cabinet vom 10. April Herrn Zen-
berg, Professor an der Universität zu Lund, der durch seiue Mäßigung in dem
Reformverein von Stockholm sich ausgezeichnet hatte.
Die neuen Minister legten den Ständen am folgenden 2. Mai einen Gesetz¬
entwurf vor, der zwei Kammern an die Stelle der vier Stände setzte, aber den
Adel bestehen ließ, überdies das Recht zu wählen und gewählt zu werden allen
denen ließ, die einen mäßigen Wahlcensus bezahlten oder gewissen Bedingungen
geistiger Fähigkeiten genügten. Dieser Entwurf mußte den folgenden Landtag
erwarten, um vou den vier Ständen discutirt zu werden. Als der König am
24. October 1848 den Schluß des Landtags verkündigte, konnte er, nachdem
er Schweden beglückwünscht, den Stürmen dieses Jahres entgangen zu sein,
sagen: „Ich habe unablässig mit größter Aufmerksamkeit Ihre Debatten über
unsere Nationalrepräsentation verfolgt. Da die Erfahrung die Schwierigkeit ge¬
zeigt hat, ohne meine Vermittelung die verschiedenen Ansichten zu versöhnen, so
habe ich Ihnen einen Gesetzentwurf vorgelegt, der zugleich eine bedeutende
Ausdehnung des Wahlrechts und die Garantien enthält, welche für die Erhaltung
nud ruhige Entwickelung der socialen Ordnung nothwendig sind. Ich halte mich
versichert, daß Sie dieser wichtigen Frage in Ihrer nächsten Versammlung die
Aufmerksamkeit schenken werden, welche sie so gebieterisch erheischt."
Bis zum Zusammentritt des neuen Landtages wurde der Entwurf der Re¬
gierung von der öffentlichen Meinung discutirt. Er erhielt den Beifall einer
großen Zahl von Mitgliedern des Stockholmer Neformvereins, welche fortan mit
dem Ministerium sich vereinigten nud von ihren bisherigen Freunden sich trennten.
Der Verein bestand nunmehr nur noch aus den vorgerücktesten Anhängern der
liberalen Partei, denen jedes Zugeständniß mißfiel, das nicht bis zum allgemeinen
Stimmrecht ging. Der so verstümmelte Verein behauptete nicht mehr sein frühe¬
res Uebergewicht, und als er den Vorschlag machte, an die Regierung eine Pe¬
tition zu richten, um einen außerordentlichen Landtag zu erwecken, so entsprachen
die Provinzialvereiue, obgleich sie keineswegs den ministeriellen Entwurf durch¬
weg annahmen, doch nicht diesem Eiser; das Land war nicht mehr mit den Re¬
formern vou Stockholm, die sich zerstreuten. Die Aufregung jedoch, welche sie
angefacht hatten, dauerte fort; die Localvereine wollten fortan die Organe der¬
selben sein. Der Verein der Provinz Nericia hatte vorgeschlagen, die Abgeord¬
neten aller schwedischen Reformvereine in der Stadt Oerebro, die im Mittelpunkte
Schwedens liegt, zu versammeln. Die Idee wurde mit Enthusiasmus aufgenom¬
men und die Versammlung sofort ausgeschrieben. So hatte Schwede» zwischen
zwei Landtagen eine Art Nationalconvent.
Die erste Sitzung in Oerebro am i. Juni 18i9 zählte 32 Abgeordnete.
Man beschäftigte sich zuvörderst mit der Prüfung und Discussion der Regierungs¬
vorlage. Nur der Capitän Kilbcrg vou Lidköping und der Graf Ankaröwärd
unterstützten dieselbe; die Versammlung erklärte, daß der Entwurf in keiner Weise
den Bedürfnisse» der Gegenwart entspreche und daß kein Comite" ihn unterstützen
werde. Nach nnr fünftägiger Discussion verfaßte der Kongreß einen neuen Re-
formentwnrs, dessen Grundlagen folgende waren: „Die Nationalrepräsentation
gründet sich auf das allgemeine Stimm recht ohne irgend eine Rücksicht auf
die alte Eintheilung in Stände und Classen, welche abgeschafft ist. Wähler ist
nach vollendetem 21. Jahr jeder schwedische Bürger, der mindestens ein Jahr
lang die zur Wahlberechtigung erforderliche Steuer entrichtet hat. Ausgenommen
sind: die Dienstboten, die gemeinen Soldaten der Linie, die auf Staatskosten
unterhaltenen Bürger, die Individuen, welche zum Verlust der bürgerlichen Rechte
Verurtheilt siud, die Bankrotteurs, die nnter Curatel Stehenden, die Bürger,
welche überführt sind, Stimmen gekauft oder verkauft zu haben. Jeder Wähler
hat nur eine Stimme. Das Wahlrecht wird da ausgeübt, wo der Wähler
Steuer zahlt. Die Wahl hat zwei Stufe». Hundert Wähler auf dem Lande
und fünfzig in den Städten ernennen einen Wahlmann. Die Urwähler stimmen
in verschlossene» Stimmzetteln, die Wahlmänner mündlich und öffentlich. Wahl-
ma»» ka»n jeder Urwähler werde», der über 25 Jahre alt ist. Wählbar zum
Folkting (Volkskammer) ist jeder Urwähler, der mindestens 25 Jahr alt ist. Die
Mitglieder des Folkting sind Wähler für den Landting (Kammer der Grundbe¬
sitzer). Sie stimmen öffentlich. Wählbar für den Landting ist jeder Urwähler
nach vollendetem 35sten Lebensjahr. Der Landtag versammelt sich de» 15. Sep¬
tember jedes Jahres. Er kann oh»e Einwilligung des Königs nicht länger als
drei Monat sitzen. Der König kann ihn anßerordentlicherweise zusammenberufen."
Eine zweite Session des Reformistcncongresses fand vom 18. bis zum 23. Mai
1850 statt. Sie war »och zahlreicher u»d zählte unter ihren Mitgliedern Lars
Hierta, Gründer des Aftonbladö, G. Hierta, Mitarbeiter an demselben Journal
und Hedland, Secretär des Congresses. Die Beschlüsse des vorigen Jahres werden
nach rascher Discussion modificirt und ein Neformeutwurf aufgestellt, dessen Princip
das beschränkte Stimmrecht, indirecte Wahl und zwei Kammern waren. Das
waren die Wünsche der liberalen Partei in Schweden, welche 1849 und Anfang
1850 zahlreiche Anhänger in den Mittelclassen und besonders unter dem kleinen
Landadel und dem Bauernstande zählte. Niemand wollte damals den Entwurf
der Regierung, ausgenommen die „Grauen" oder Laue», die Reactionäre. Je
näher mau indessen dem auf deu 15. September 1850 anberaumten Landtage
rückte, destomehr bewirkte der Wunsch, die so lang ersehnte Reform endlich zu
erhalten, daß man seine Hoffnungen weniger hoch stimmte und der Negiernngs-
entwnrs gewann immer mehr Anhänger. Mehre Journale, unter ihnen das
Aftonblad, hörten auf, ihn zu bekämpfen. Man wollte endlich dieser langen
Agitation ein Ende machen. Diejenigen, welche eine gründlichere Reform verlangten,
waren zu der Meinung gelangt, daß, wen» el»mal der erste Schritt geschehe» sei,
man leicht a»es andere Zugeständnisse erhalten würde. Unter diesen Umständen
trat im November 1850 der Landtag zusammen. Man konnte sicherlich erwarten,
daß der RegiernngSentwurf würde angenommen werden: zum großen Erstannen
Schwedens bewirkte eine Koalition seine Verwerfung. Der Bürgerstand allein
stimmte für den ministeriellen Entwurf. Die aristokratische Partei, bestehend aus
den Ständen des Adels und der Geistlichkeit, nnter Führung des Herrn von
HartmaiinSdorf, verwarf ein Project, das ihre Macht ruinirte. Man wunderte sich
darüber nicht, aber was man nicht erwartet hatte, war, daß die Aristokratie in
diesem verzweifelten Kampfe mit dein Bauernstande sich vereinigte.
Das Votum der Bauern erkläre» zwei Umstände. Erstlich verwarfen sie
trotz ihrer liberalen Manieren eine Reform, welche ihren besondern Stand und
damit ihre Bedeutung im Staate aufhob; anch würde der Triumph der Reform
weniger ihne» als den Mittelclasseu Vortheil gebracht haben. Sodann waren die
Bauern vor dem Landtage auf dem Lande von den Predigern bearbeitet und ein¬
genommen worden, einer noch schwachen Partei, die hauptsächlich ans den exaltir-
testen Mitgliedern des Kongresses von Oerebro bestand und ein Interesse hatte,
die von der Regierung beantragte gemäßigte Reform nicht durchgehen zu lassen.
Die Bauern waren entzückt, Liberalismus zu machen und zugleich ihre Privilegien
zu bewahre», die beide» ersten Stäude verwarfen die Reform als zu weit gehend,
der dritte Stand verwarf sie als antiliberal. Vielleicht sah endlich auch die Re¬
gierung selbst diese Koalition nicht ungern, wenn sie dieselbe uicht gar ermuthigte.
Hofft die Negierung, unablässig die Reform verzögern zu können, die sie
als nothwendig anerkannt hat? Wenn aber einst der allgemeine Wunsch doch
befriedigt werden muß, ist es nicht zu fürchte», einen Radicalismus groß werden
zu lassen, der augenblicklich »och wenig mächtig ist, aber in einigen Jahre», i»
der Zwischeiizeit zweier Landtage, eine gewaltige Propaganda machen kann? Und
die liberale Partei selbst, dere» Majorität, das heißt der Mittelstand, »ach de»
reellen, von der Regierung gemachten Zugeständnisse» el»gewilligt hat, die An¬
sprüche des Kongresses von Oerebro nicht geltend »ut gemei»same Sache mit dem
Ministerium zu machen: bringt er nicht seine Sache in Gefahr, wen» er es ver¬
absäumt, fortan eine stärkere Union, ohne mögliche» Abfall, Agitatoren entgegen¬
zusetzen, die dnrch ihre übertriebene» Ansprüche jede Aussicht a»f Reform in Frage
stellen können? Dazu bedarf es nur, daß die Gemäßigten allein das öffentliche
Wohl im Ange haben und ihre Sonderinteressen vergessen. El» »euch Project,
welches der Landtag in seine» letzte» Sitzungen angenommen hat, soll in drei
Jahren discutirt werden; weniger liberal als das von Oerebro würde seine defi¬
nitive Annahme nichtsdestoweniger eine Eroberung sein. Eine gewisse Zahl der
Reformer von Oerebro, namentlich die Partei des Aftonblads und dieses Journal
selbst, schickt sich a», es z» unterstützen; wir wünschen den schwedischen Liberalen
dazu Glück. Der Sieg wird ihnen nicht entgehe», wenn sie sich nicht thören
lassen und der Regierung selbst in weiser Mäßigung Vertrauen einflößen. Die
beiden ersten Staude werden bald einsehen, daß die Reform, welche von der
Mehrzahl der Nation in Einverständnis) mit der Negierung betrieben wird, ihnen
am Ende nützlicher sein wird, als ein unsicherer Kampf gegen die Bürgerschaft
mit den Radicalen als Bundesgenossen.
Der moderne Geist allein kann Schweden, wie den übrigen skandinavischen
Staaten, die innere Kraft verleihen, welche diese Länder angesichts der Aufgabe
und der Gefahren nöthig haben, welche ihre geographische Lage vielleicht ihnen
darbieten wird. Bereits hat im Juni 18i9 Dänemark von seinem König eine
constitutionelle Verfassung erhalten und in dieser friedlichen Revolution den Muth
und die Energie gewonnen, welche ihm den Sieg in dem Kriege mit den Herzog-
thümern verschafft haben. Auch für Schweden würde eine weise und gemäßigte
Reform, welche die socialen Rechte anerkennt, die die menschliche Würde bei jeder
Nation fordert, eine treffliche Garantie für die Zukunft sein. Es wird dies we¬
nigstens ein ernsthaftes Resultat der geistigen Bewegung sein, welche seit fünfzig
Jahren in diesem Lande herrscht, ein Resultat, das leichter zu erreichen und gewiß
fruchtbarer ist als die angestrebte Union der drei skandinavischen Reiche. Welchen
Aufschwung anch wird der öffentliche Geist, werden die Schriftsteller und Dichter
Schwedens nehmen, wenn sie in unbestrittenen und friedlichem Genuß von In¬
stitutionen sind, die alle socialen Rechte anerkennen und in weiser Toleranz die
sicherste Grundlage ihrer Autorität erstreben?
Lange Zeit hat auf unserm Theater die sogenannte Schicksalstragödie ge¬
herrscht, und wenn man auch jetzt im allgemeinen davon zurückgekommen, so tritt
sie doch immer noch in einzelnen Spuren, zuweilen in den sonderbarsten Ver¬
kleidungen hervor. Die Lächerlichkeiten Werners und seiner Nachfolger, an irgend
einen äußerlichen Gegenstand oder an ein Datum die dämonische Macht des
Schicksals anzuknüpfen, kommt wol nicht leicht wieder vor, obgleich noch Gichkow
in einem seiner Stücke diesen Einfall wieder aufgefrischt hat. Dagegen hat man,
soviel wir wissen, noch nicht gehörig die Seite hervorgehoben, die der Idee des
Schicksals auf dem Theater eine relative Berechtigung gibt.
Das Streben der neuern Zeit geht nach allen Richtungen darauf aus, die
innere und die äußere Welt i>i einen innern nothwendigen Zusammenhang zu
bringen. In der Kunst bemüht man sich also, die Thaten als die nothwendige
Folge der Charaktere in ihrer Verwickelung mit einer bestimmten Situation dar¬
zustellen, und in der That, oder wenn wir den bestimmtem Ausdruck wählen,
in der Schuld des Einzelnen den nothwendigen Grund des Schicksals zu finden.
Es ist namentlich die Hegelsche Philosophie, der das Verdienst zukommt, diesen
wesentlichen Zusammenhang nach allen seinen Konsequenzen hin ans das schärfste
verfolgt zu haben.
Allein daß man auch ein richtiges Princip übertreiben kann, zeigt der erste
oberflächliche Blick aus eine Reihe ästhetischer Schriften, die aus der Hegelschen
Schule hervorgegangen sind. So hat sich namentlich Nötscher fast bei jedem
dramatischen Kunstwerk, das er besprochen hat, die Mühe gegeben, das Schicksal,
das den Helden trifft, als eine nothwendige Folge seiner Schuld darzustellen, und
er hat ein so fein geschliffenes Mikroskop angewendet, daß er oft eine Schuld
herausfindet, wo der gewöhnliche Menschenverstand eine tugendhafte und gerechte
Handlung erblickt. So hat er z. B. das Unglück, das über Cordelia herein¬
bricht, als eine Folge ihres unweiblichen Schweigens dem Vater gegenüber be¬
gründen wollen. Man ist sogar soweit gegangen, in der Auflehnung Antigoncs
gegen ihre Obrigkeit eine Schuld, wenigstens einen starken Nechtsconflict zu finde».
Das ist gewiß weder dem griechischen noch dem britischen Dichter eingefallen.
Wenn man nun schon in der Anwendung dieses Princips irrt, indem man es bei
allen Dichtern, die mau bewundert, aufsucht, da doch ein sehr großer Theil der
europäischen dramatischen Literatur von einem ganz entgegengesetzten Princip aus¬
gegangen ist, so wäre doch erst zu uniersuchen, ob das Princip selbst, in seiner
äußersten Konsequenz genommen, poetisch richtig ist. Daß die einseitige moralische
Abfertigung („wenn sich das Laster erbricht, setzt sich die Tugend zu Tisch") kein
genügender poetischer Ausgang ist, wird heutzutage allgemein anerkannt. Aber
wir gehen noch weiter. Wir behaupten, daß allerdings die That oder die Schuld
des Helden nothwendig ans seinem Charakter oder ans der Situation entspringen
muß; daß ferner die Gemüthsbewegung, in welche uns die Katastrophe versetzt,
derjenigen entsprechen muß, welche die Voraussetzung der Handlung in uus
erregt hat:—aber wir behaupten auf der andern Seite, daß zum tragischen Ein¬
druck eine gewisse Irrationalität in dem Verhältniß des Schlusses zur Voraus¬
setzung nothwendig ist. Wir müssen die Zweckmäßigkeit des Verhängnisses empfinden,
wir müssen es aber nicht in der Art begreife», daß wir es wie ein mathe¬
matisches Problem ans der gegebenen Aufgabe herleiten können. So scharf z. B.
der Fehler Otto Ludwigs hervorgehoben werden muß, der in der Katastrophe
des Erbfvrstcrs eine Stimmung hervorruft, die der durch die Voraussetzungen
des Stücks in uns erregten Stimmung widerspricht, so würde derjenige Dichter
ebenso fehlen, der aus seinen Prämissen nichts weiter herleitete, als was wir auch
ohne ihn daraus herleiten könnten.
Es scheint im germanischen Wesen jener Trieb begründet zu sein, deu wir
als das charakteristische Streben der neuern Zeit bezeichnet haben. Sobald unter
Engländern und Deutschen, überhaupt das Drama als ein Moment der Kunst
auftaucht, gehen die Dichter vorzugsweise daraus aus, die Charaktere und die
Situation, in der sie sich befinden, genan darzustellen, und die darauf folgende
Handlung ist eine wesentliche Evolution der innern Welt. Es treten zwar Er¬
eignisse ein, die hemmend oder beschleunigend auf den Gang der Handlung ein-
wirke», und die aus jenen Prämissen nicht herzuleiten sind; aber auf diese wird
die Aufmerksamkeit nur nebenher hingelenkt, wir beschäftigen uus vorzugsweise
nur Mit der Verfolgung der Scelenbewegungen. Namentlich seitdem durch den
Protestantismus die Verinnerlichung des geistigen Lebens zu eiuer Herzenssache
gemacht worden ist, hat auch die dramatische Poesie alles gethan, um die Auf¬
merksamkeit von dem Aeußerlichen ans das Innerliche zu wenden. Shakespeares
Stücke find fast ohne Ausnahme wesentlich Charaktcrentwickelungen; sie sind von
innen heraus gearbeitet, nicht von außen; wir suhlen uns nie versucht, die
Ereignisse, die als mitwirkende Factoren eintreten, in die Collectivvorstellnng eines
Schicksals oder Verhängnisses zusammenzufassen, sie beschäftige» uns nur, insofern
sie dem Charakter Gelegenheit geben, sich zu entwickeln. In noch viel höheren
Grade ist das bei Lessing der Fall. Seine Emilia Galotti ist ein ewiges Muster
künstlerischer Evolution. Mau kann über die Charakterbildung der Emilia,
ihres Vaters und Appianis sehr viel Bedenken haben, denn sie sind so fein
individualisirt und dabei so vergeistigt, daß man nicht mehr recht weiß, ob auch
der Typus des rein Menschlichen sich in ihnen erhalten hat; aber man muß diese
Voraussetzungen zugeben, denn sie find mit einer überzeugenden Plastik ausge¬
führt, und wenn man sie einmal zugegeben hat, so ist kein Sträuben gegen die
gewaltige Macht der weiter» Entwickelung möglich. Noch weiter ist Goethe ge¬
gangen. Schon in seinem Götz und Egmont, obgleich eine Masse einzelner
äußerer Begebenheiten sich darin zusammendränge», »och mehr im Faust »ud in
der Iphigenie, am vollständigste» im Tasso, hat sich der Dichter darauf beschränkt,
uus Charakterstudien zu geben, und er ist darin soweit gegangen, daß die
künstlerische Form, die doch nur durch die Gruppirung des Schicksals herbeige¬
führt werden kauu, sich vollständig auflöst. Tasso ist ein ganz merkwürdiges
Zeichen dafür, wie die Macht der Verinnerlichung und Vergeistigung wenigstens
ein gebildetes Publicum für den Maugel an Stoff entschädige» kann. Die Be¬
gebenheit, die im Tasso dargestellt ist, würde kaum eine kleine Novelle ausfüllen,
denn sie hat weder Anfang, noch Mitte, noch Ende; aber die Gemüthsbewegungen,
die sich bei Gelegenheit dieser »»bedeutenden Begebenheit entwickeln, sind so an¬
ziehend und bedeutend, daß man nicht blos bei der Lectüre, sondern selbst im
Theater gefesselt wird. In Frankreich würde ein solcher Versuch allerdings gänzlich
mißlingen, und wir wollen nicht so voreilig sein, daraus gleich die poetische Un¬
zurechnungsfähigkeit der Franzose» herzuleiten; wir müssen nus »ur bemühen, in
ihnen eine andere, eine der unsrigen entgegengesetzte Form der poetischen Natur
aufzusuchen.
Die entgegengesetzte Methode der dramatischen Komposition hat nämlich nicht
blos eine gewisse Berechtigung, sie ist sogar die natürlichere, womit freilich keineswegs
gesagt sein soll, sie sei anch die bessere. Das griechische Theater hat fast überall
von außen nach innen gearbeitet, das heißt, es hat das Schicksal und die sich
daran anknüpfenden allgemein menschlichen Reflexionen in den Vordergrund gestellt
und sich mit den Charakteren nur in zweiter Linie beschäftigt. Es ging zunächst
darauf aus, durch Thatsache» zu rühren »ut zu erschüttern, und erst nach diesen
Thatsachen stimmte es seiue Charaktere. Freilich würde man irren, wenn man
im griechischen Drama überhaupt keine Charakterzeichnung finden wollte. So
sind z. B. im Philoktet die drei Hauptpersonen in sehr scharfer Zeichnung ein¬
ander gegenübergestellt; aber diese Verschiedenheiten werde» uicht weiter verfolgt,
als die Handlung unerläßlich nöthig macht, und sie sind auch an sich nie so
groß, als bei den germanischen Dichtern. Man kann übrigens einen.ähnlichen
Unterschied schon bei der epischen Volkspoesie verfolgen. Die Verschiedenheit der
Charaktere i» der Ilias, obgleich sie viel plastischer gezeichnet sind, ist lange nicht
so groß, als in den Nibelungen. Eine ähnliche Form der Composition finden
wir in dem romanisch-katholischen Drama, namentlich in dessen bedeutendsten
Vertreter Calderon. Hier ist das Ereigniß durchaus die Hauptsache; die Charak¬
tere sind so gleichförmig, daß wir kaum übertreibe», we»» wir behaupte», man
könne aus jedem seiner zweihundert Stücke, deu Lustspielen wie den Tragödie»
und mythologischen Phantasiebilder», jeden beliebigen Charakter in die Situationen
n»d Voraussetzungen eines andern Stücks versetzen, und der Unterschied würde
kaum bemerkt werde». Wir nehmen nnr ein einziges Stück ans, in welche»,
mit el»er gewisse» Virtuosität charaktenstrt ist, de» Malta» vo» Zalamea. Die
meiste» dieser Charaktere haben gar kein Leben für sich, sondern sie sind nach den
Bedürfnissen der Situationen und der Intriguen, oder auch der dogmatischen
Lehrsätze zugeschnitten.
Da nun sowol das griechische als das spanische Theater in der Zeit, wo
unser eigenes Theater sich consolidirte, also in den Zeilen Schillers und der
romantischen Schule, als Vorbilder für die Technik des Dramas aufgestellt
wurde», so halte» wir es für nöthig, mit einigen Worten darauf einzugehen.
Unter den griechischen Tragödien finden wir keine so bezeichnend, als die
Trilogie des Aeschylus über die Sage von den Schicksalen des Orestes, und die
drei Stücke, i» denen Sophokles die Geschichte des Oedipus behandelt hat.
Zwar wissen wir von de» letztere», daß sie keine Trilogie gebildet haben, und
der König Oedipus, sowie die Antigone haben auch ein selbstständiges Leben in
sich; von dem Oedipus i» Kolonos kann man das aber nicht sagen. Dieses
Stück, das eigentlich gar keine Handlung enthält, »ud durch fortwährende
Anspielungen ans sich herausweist, ist u»r verständlich, wenn man es ans den
König Oedipus folgen läßt. Wir wenden uns zunächst zur Orestie.
Das sittliche oder gemüthliche Interesse kau» sich hier »ur auf die Handlungs¬
weise deö Orestes beziehen. Im Agamcuinvn werde» wir »ur tetras die Ereignisse
erschüttert, dagegen beginnt in der Elektra eine sittliche Theilnahme; wir verhallen
uns kritisch zu der That des Orestes, und es ist ein Gcfühlscvnflict vorhanden.
Orestes ist zum Rächer seines Vaters berufen, und er muß, um diesem Beruf
nachzukommen, die Stimme des Bluts, die natürliche Pietät gegen seine Mutter
aus den Augen setzen. Wir bemerken beiläufig, daß dieser Gefühlscouflict, der
bei Aeschylus noch sehr scharf ausgedrückt wird, in der entsprechenden Tragödie
des Sophokles ganz aufhört, worin wir, trotz der bei weitem großern Form¬
vollendung doch eine gewisse Verwilderung des Gefühls wahrzunehmen glauben.
Ganz merkwürdig ist der Schluß der Elektra bei Aeschylus. Orestes fühlt bereits
das Herannahen der Erinnyen, die ih» zum Wahnsinn treiben, aber noch in
diesem Augenblick, ehe er sich ihnen überläßt, erklärt er feierlich, er habe seine
Pflicht gethan, indem er die Pietät verletzte. Der Conflict in seiner Seele ist
also so stark ausgesprochen, als möglich, und man würde nach unsern Begriffen
erwarten, die Lösung müsse von innen heraus, durch Vermittelung des bestimmten
Charakters des Helden erfolgen; aber das Gegentheil geschieht. Es zeigt sich,
daß der Mensch ein bloßes Substrat der göttlichen Mächte ist, daß er ihnen
keinen sittlichen und psychischen Inhalt entgegenbringt. Die sittlichen Mächte, die
sich in des Orestes Seele bekämpften, nehmen eine äußerliche Gestalt an, für
die eine tritt Apollo, für die andere die Eumeniden ein, Orestes selbst ist ein
willenloses Schlachtopfer, und jene beiden Mächte finden auch keinen andern
Austrag ihres Streits, als daß sie an einen Gerichtshof appelliren. In dem
Stück nun, das diesen Proceß darstellt, finden wir auf der einen Seite in der
Darstellung von der Gewalt der Eumeniden die höchste Poesie, eine Poesie, der,
wir in der Art gar nichts an die Seite stelle» können, und die von Schiller in
den Kranichen des Ibykus anf das schönste nachgefühlt worden ist. Allein diese
Poesie ist rein dämonischer Natur, das heißt, es wird Grauen und Entsetzen in
uns erregt, aber ohne alles Verständniß, nur durch ein dunkles Gefühl vermittelt.
Der eigentlich dramatische Inhalt des Stücks dagegen ist die nackteste Prosa.
Die Sophismen, welche sowol die beiden Advocaten des Rechtsstreits, als zuletzt
die Richterin Athene anwenden, sind so handgreiflich, daß wir es bei einem
so großen Dichter »ur dadurch verstehen können, daß in der Religion, in der er
aufgewachsen war, eine dramatisch cxplicirte Lösung des Conflicts überhaupt nicht
gedacht werden konnte.
Sehr sonderbar ist es, daß Aeschylus in seinen Eumeniden in einer ähnlichen
Weise schließt, wie Sophokles in seinem Oedipus in Kolonos. Die Eumeniden
werden nämlich zuletzt durch Schmeicheleien und Versprechungen versöhnt; sie
hören auf, die schrecklichen Rachegeister zu sein, und ziehen sich in ein unter¬
irdisches Heiligthum zurück, wo sie als Schutzgötter Athens walten. In dieses
unterirdische Heiligthum nehmen sie dann den blinden Oedipus anf, dessen'Ge¬
beine wiederum dazu dienen müssen, der Große und Macht Athens eine ewige
Bürgschaft zu geben. Wir wollen von der eaMtlo bLnevolenli^ez für das Pu-
blicum, die in beiden Fallen zu Grunde lag, absehen, und uns uur an die sitt-
liebe Vorstellung halten; und da müssen wir gestehen, daß uns die Eumenide»,
die aus dem dunkeln Schoß ihres unterirdischen Heiligthums den Oedipus zu
sich rufen, noch viel dunkler, dämonischer, fremder »ut grauenhafter vorkommen,
als die Eumeniden des Aeschylus in der ganzen Fülle ihrer entsetzlichen Erschei¬
nung. Sophokles hat über den Conflict des Schicksals gegen das Sittengesetz
noch viel tiefer nachgedacht, oder, wenn wir wollen, gegrübelt, als Aeschylus;
aber er ist ebensowenig zu einer Lösung gekommen. Der ganze Inhalt des Oedipus
Koloneus kommt uns so seltsam vor, daß wir trotz der wunderbar schönen poeti¬
schen Darstellung uns nicht klar machen können, was er in uns für ein Gefühl
erregen soll; wir empfinden nur Schrecken und Grauen, aber keineswegs jene
tragische Erschütterung, in der zugleich eine gewisse Versöhnung liegt.
Der Oedipus ist das Vorbild und Muster aller Schicksalstragödien; er ist
auch die Hauptstudie Schillers gewesen, als er an seine größern dramatischen
Arbeiten ging. Die Oekonomie ist in der That um so meisterhafter, als
die Aufgabe schwierig ist; denn die Tragödie bringt nur ans Licht, was vor¬
her geschehen ist, und doch ist uns alles in erschütternder Gegenwart.
Oedipus hat nichts gethan, was nach seinen Motiven und nach dem Maßstab
der griechischen Sittlichkeit betrachtet irgendwie tadelnswerth wäre, und doch hat
er, ohne es zu wissen, die größte Schuld auf sich geladen, und diese Schuld ist
nicht dem Zufall angehörig, sie ist ihm schon bei der Geburt pradestinirt, und
grade die fromme Bemühung, dieser ihm durch ein Orakel vorausverkündeten
Schuld zu entgehen, treibt ihn in die Schuld hinein. Man ist von Seiten
neuerer Aesthetiker, um die Ehre der Griechen zu retten, so gutmüthig gewesen,
zu behaupten, die neuern Schicksalstragöden hätten das Wesen des antiken Schick¬
sals mißverstanden; aber im Gegentheil, was Schiller in der Jungfrau und in
der Braut von Messina, Goethe in der Natürlichen Tochter, Werner im Vier¬
undzwanzigsten Februar, Müllner in der Schuld, Schlegel im Alarkos, Houwald
in dem Leuchtthurm, Grillparzer in der Ahnfrau geleistet haben, ist noch lange
nicht so unverständlich, fremdartig und schrecklich, als das Gespenst des Schicksals
im Sophokles. Don Cesar begeht doch ein wirkliches Verbrechen, als er seinen
Bruder tödtet; Alarkos betrügt zuerst die Prinzessin, nachher tobtet er, freilich
durch den Ehrbegriff verleitet, seine Frau; Kurt Kuruth, GrafHugo, Jaromir u.s.w.
siud wirkliche Mörder. Freilich trete» überall Umstände ein, die sie nicht wissen konnten,
und die ihre Schuld erschweren, aber schuldig siud sie alle. Oedipus dagegen hat sich
nichts vorzuwerfen, und dennoch steht er in seinen eigenen Augen, wie in den Augen
des gesammten Griechenlands und der Götter als ein schrecklicher Verbrecher da.
Das ist doch eine Prädestinationslehre, an die selbst der Calvinismus nicht hiuan-
rcicht; und die sich daran anknüpfende Tragödie vom Tod des Oedipus dient
nur noch dazu, uns dieses Grauen nach allen Seiten hin deutlicher und gegen¬
wärtiger zu machen. Alle Menschen, die in dem Stück auftrete», quälen sich
damit ab, ein Verständniß zu gewinnen, aber sie kommen keinen Schritt weiter.
Wir haben in diesem Stück gleichsam Muße, uns mit detaillirtem Entsetzen über
den Sinn der Ereignisse zu erfüllen, während in der vorhergehenden Tragödie
mir die Ereignisse selbst uns Gegenstand waren.
In der reinen Form wie Sophokles das Schicksal walten zu lassen, versagt
uns unsere Religion. Das ist aber kein rein ästhetischer Gesichtspunkt, und wir
werden zugestehen müssen, wenn wir nnr von den äußerlichen Voraussetzungen der
Bühne abstrahiren, daß der König Oedipus trotz seiner unserm germanisch-pro¬
testantischen Princip entgegengesetzten Komposition den gewaltigsten Eindruck auf
uns macht, und daß dieser Eindruck ein durchaus poetischer ist. Wenden wir
uns »um zum spanischen Drama, das nur kurze Zeit darauf unsern dramatischen
Experimenten gleichfalls als Vorbild hingestellt wurde, so werden wir finden, daß
auch das Christenthum eine ganz ähnliche Form des Dämonischen zuläßt. Wir
halten uns nur an die beiden bekanntesten Stücke, „die Andacht zum Kreuz"
und „das Leben ein Traum", vou denen das letzte sogar in der strengen spani¬
schen Form häufig ans unsern Bühnen gesehen wird.
Das „Leben ein Traum" hat in Deutschland theils wegen der sehr bunten,
lebhaft erregten Handlung, theils wegen der seltsamen, aber anziehenden Philo¬
sophie, die sich darin ausspricht, auch auf deu Bühnen großes Interesse erregt.
Grade wie in Oedipus haben wir hier ein Orakel, welches die zukünftige Ent¬
wickelung eines Kindes voraussagt, und ans dieselbe Weise rennt der Mensch,
indem er demselben entgehen will, blind in sein Verderben. Aber Calderon bringt
es nie zu einem wirklich tragische» Ausgang. Wen» in seinen christlichen Dramen
der Himmel mit seinen Wundern stets bei der Hand ist, um deu Conflict auf
eine befriedigende Weise zu lösen, so hängt das mit der Vorstellung zusammen, daß
die Thaten und Ereignisse dieses irdischen Lebens sich nnr in einer Schattenwelt
bewegen, daß sie ein leerer Schein sind und nur insofern eine Bedeutung haben,
als sie in die übernatürliche Symbolik des Himmels aufgenommen werden. Wenn
sich im „Leben ein Traum" die specifisch christliche Dogmatik sehr wenig hervor¬
drängt, so ist doch diese Grnndansfassnng des Lebens die nämliche, und wir dürfen
uns daher nicht wundern, daß in einem symbolische» Neligionsdrama ganz dieselbe
Fabel und beinahe auch dieselbe Aufeinanderfolge von Scenen zu einer Dar¬
stellung des menschlichen Lebens überhaupt, wie es sich im Verhältniß zur Gottheit
entwickelt, benutzt worden ist. In einer ziemlichen Zahl der Caldervnschcn
Stücke finden wir dieselbe Grundanschauung wieder, und sie ist mit einer Leb¬
haftigkeit und einem poetischen Schwung dargestellt, der eigentlich bei diesem
nihilistischen Princip überraschen sollte. — In der „Andacht zum Kreuz," die,
wenn wir von dem scheußlichen götzeudieuerischeu Princip absehen, technisch das
vollendetste Drama Calderons ist, begeht der Held und die Heldin eine
Reihe unerhörter Greuelthaten, die aber sämmtlich dadurch in einen Schein
oder Traum aufgelöst werden, daß das göttliche Kreuz sich ihrer erbarmt, zu
welchem sie immer ein unbedingtes Vertrauen gehabt haben. Auch dtese wunder¬
bare Lösung ist ihnen zwar nicht dnrch ein Orakel, aber durch eine ganze Reihe
sinnlicher Symbole prädestinirt. Die Hauptsache des Lebens ist, vor dem Tode
die letzte Beichte abzulegen, um die Vergebung der Sünden »ut damit die ewige
Seligkeit zu erlangen. Gegen diese gehalten ist der ganze übrige Inhalt des
Lebens gleichgiltig. Der Held des Stückes stirbt ohne Beichte und würde daher
zu den Verworfenen gehören; aber das Kreuz thut ein Wunder, er wird von den
Todten wieder aufgeweckt, um seine Beichte abzulegen, und geht darauf in den
Himmel ein. — Das ist freilich ein sittliches Princip, gegen das uns die Schicksals¬
idee im „König Oedipus" noch sehr moralisch vorkommt.
Zwar sind diese poetischen Anschauungen in ihrer ganzen absurden Consequenz
nur von einem Theile der romantischen Schule angenommen worden; allein sie
haben auch auf unsere größeren Dichter mittelbar einen sehr bedeutenden Einfluß
ausgeübt. Es fiel ihnen nicht ein, die heidnische oder christliche Prädestinations¬
lehre in ihrer vollen Reinheit aufs Theater zu bringen, aber sie entnahmen daraus
jeues Moment des Dämonischen, des Jncommcnsurabeln, das in den Lauf der
natürlichen menschlichen Entwickelung eintrat, und wodurch sie, was nicht zu leugnen
ist, sehr große poetische Wirkungen hervorbrachten.
Von Goethe gilt dies weniger als von Schiller. Am meisten werden wir
in seinen „Wahlverwandtschaften" an die Schicksalsidee erinnert, die sich bei ihm
zu einem gewissen Natursatalismus gestaltet. Wir müssen aber aufrichtig gestehen,
daß wir diesen Fatalismus mehr in der äußern Einkleidung finden, als in der
wirklichen Darstellung. Der Dichter gibt uns soviel symbolische Hindeutungen
auf das Naturgesetz, und der Schluß eröffnet uns den Blick in eine so mystische
Tiefe, daß wir dadurch verwirrt werden. Aber die eigentliche Handlung ist doch,
wie überall bei Goethe in seiner bessern Zeit, aus der Natur der Charaktere
hergeleitet. Goethe ist zu genau und sorfältig im Motiviren, um sich einem
idealen, aus der Individualität heraustretenden Princip hinzugeben; in spätern
Zeiten, wo er durchaus symbolisch dichtete, hörte mit der pragmatischen Motivirung
auch aller innere Zusammenhang ans. Von seinen Dramen wissen wir nur eins
zu nennen, das in das Gebiet der Schicksalstragödie fällt, „die natürliche Tochter".
Hier thürmt sich ein finsteres, unbegreifliches Verhängnis dessen willenlose Träger
die sämmtlichen einzelnen Menschen zu sein scheinen, am Horizont eines ganzen
Volks auf und scheint seinen Hauptschlag ans eine schöne und unschuldige Indi¬
vidualität entladen zu wollen. Wäre das alles, wie sonst bei Goethe gewöhnlich,
in bestimmter concreter Individualisirung durchgeführt, so daß wir Ursache und
Wirkung überall geuau verfolgen könnten, so würden wir auch hier von jener
Schicksalsidee nichts empfinden; aber aus den Individualitäten sind Typen ge¬
worden, und die bestimmenden Motive können wir höchstens errathen, ihr Grund
und Zusammenhang wird uns verschwiege». Charakteristisch ist aber ein einzelner
Zug/ der uns grade durch die hineingelegte mystische Deutung in das Reich des
Dämonischen versetzt. Nach der alten Sage wurde Proserpina an die Unterwelt
gefesselt, weil sie daselbst einen Apfel gegessen. Die Schuld steht in gar keinem
verständlichen Verhältniß zu dem daraus hervorgehenden Schicksal. Ganz ähnlich
ist es mit Eugenie. Es wird ihr verboten, einen Schrank zu öffnen, in welchem
ihr festliche Kleiber zum Geschenk geschickt werden; sie übertritt dieses Verbot
und verfällt dadurch ihrem Verhängnis). Aber aus welche Weise das eine mit
mit dem anderen zusammenhängt, davon empfangen wir auch nicht einmal eine
Ahnung. Wenn wir es schon nicht begreifen, wie der König sich bestimmen läßt,
das Verbaunnngödecret gegen Eugenie zu unterzeichnen, so ist es uns vollends
unerklärlich, wie jene Eröffnung des Schranks irgend wie ein Motiv dazu hat
hergeben können. So finden wir uns mitten in der Prädestinationstheorie,
und dem menschlichen Zusammenhang von Ursache und Wirkung entrückt. Das
Motiv verfehlt hier seinen Eindruck, weil wir nicht sehen, ans welche Weise es
wirkt. Es hätte aber ganz gewiß das Gemüth tragisch erregt, wenn uus über
diesen Punkt ein Verständniß eröffnet wäre.
Weit freier und rücksichtsloser gab sich Schiller dem dämonischen Princip
hin. Schon daß er überhaupt daran gewöhnt war, weniger im einzelnen zu
motiviren — was Goethe ganz mit Recht, freilich nur von einem bestimmten
Gesichtspunkt ans, als einen Vorzug empfindet — machte ihn dazu geneigter,
das den Menschen treffende Verhängniß in eine lebendige Gesammtvorstellung
zusammenzudrängen, die sich der individuellen Wirksamkeit entzog. Sehr lehrreich
ist in dieser Beziehung seine Bearbeitung des Macbeth. Die beiden Prophezeihungen
der Hexen find in der eigentlichen Tragödie Shakespeares nicht im Sinn der
alten Orakel aufzufassen, sie sind vielmehr dramatische Motive, deren Wirkung
wir vollständig ermessen können. Durch die erste Prophezeihung wird Macbeth
der Ehrgeiz klar, der im stillen bereits in seiner Brust schlummerte, und eS wird
ihm zugleich der Muth zu seinem Unternehmen gegeben. Durch die zweite wird
er in trügerische Sicherheit gewiegt, zu rücksichtsloser Tyrannei verführt und da¬
durch endlich der rächenden Gerechtigkeit preisgegeben. Daß die Hexen die
Zukunft, wenn auch in einem verkehrten Sinn, richtig prophezeihen, ist ein acci-
denteller Umstand, ans den wenigstens nicht insofern Gewicht gelegt wird, als
dadurch die Freiheit des Helden irgendwie beeinträchtigt wäre. Macbeth rennt
nicht blind in seine Schuld, wie Oedipus, sondern sehend. Shakespeare hat
daher sehr weise aus seinen Hexen Unheilsfignren der gemeinsten Art gemacht.
Sie sind teuflisch, aber nicht dämonisch. Schiller dagegen hat sie in seiner Be¬
arbeitung zu idealisiren gesucht und ihnen dadurch eine Stellung im Drama
gegeben, die ihnen nicht zukommt. Es ist das ohne Zweifel eine Einwirkung
der antik-romantischen Schicksalsidee, die man sehr leicht versucht sein kann,
auf Shakespeare zu übertragen, wenn man den Accent seiner Stücke ver¬
ändert.
Der glänzendste Gebrauch, den Schiller von dem Dämonischen gemacht hat,
ist unstreitig im „Wallenstein". Bei diesem, wie bei den übrigen Stücken Schillers,
müssen wir daran erinnern, daß der Hauptvorzug des Dichters, in dem ihm in Deutsch¬
land kein andrer Dichter, in der gesammten Weltliteratur mir Shakespeare gleich¬
kommt, in der idealen poetischen Darstellung des wirklichen geschichtlichen Lebens
besteht. Aber auch in der Auffassung Wallensteins als einer dämonischen Natur
liegt eine bewundernswürdige Genialität, die leider nur dadurch etwas verkümmert
wird, daß der Dichter vou Zeit zu Zeit in seinem Streben nach allgemein
menschlicher Idealität zu sehr humanisirt und modernisirt. So kommt uns hier
von Zeit zu Zeit der Charakter Wallensteins gar zu gemüthlich vor, und die
übrigens ganz poetische Auslegung, die Max von der Sternkunde gibt, stört uns
in dem Schänder vor jener dunklen Nacht, die den Helden in sein Verhängnis;
treibt. Allerdings ist diese Macht keine äußerliche. Die Astrologie oder der
Glaube, daß selbst die Natur nichts Anderes zu thun habe, als das Geschick der
Menschen symbolisch darzustellen, ist eigentlich nur die Mystik des alle Schranken
übersteigenden Ehrgeizes, der selbst das Glück steh dienstbar zu machen wähnt,
und doch zu sehr seine unmittelbare Einwirkung empfindet, »in nicht durch die
allerroheste Symbolik einem stetigen Zusammenhang zwischen den Mächten des
Schicksals und seinem eigenen Ehrgeiz nachzustreben. Die ganze Komposition, in
der wir selber das Verhängniß von allen Seiten über Wallenstein hereinbrechen
sehen, während der sonst so planvolle, tiefschauende, seinen Umgebungen durchaus
überlegene Manu allein blind dagegen ist, und sogar in seinem Aberglauben wähnt,
der einzige klar Sehende unter lauter Thoren zu sein, ist von einer tragischen
Ironie, die kaum ihres Gleichen in der dramatischen Kunst findet.
In der „Maria Stuart" zeigt sich der Einfluß der Schicksalsidee schon in
der Wahl der Heldin. Eigentlich sollte Elisabeth die dramatische Hauptperson sein,
denn sie ist es, die handelt, die eine Schuld begeht, und die infolge dessen das Ver¬
hängniß trifft, von allen Menschen, die sie achtet, verlassen zu werden, während
Maria nur ein Schlachtopfer ist, und eigentlich nichts dazu beiträgt, ihr Schicksal
herbeizuführen oder nnr zu beschleunigen. Daß sie früher eine Schuld begangen
hat, kann an der Sache nichts ändern, den» diese Schuld hat zu ihrem nach¬
folgenden Schicksal kein rechtliches Verhältniß. Sie wird uns auch ganz im
Dunkeln gelassen; wir begreifen nicht, wie die Maria, die wir anf dem Theater
sehen, jemals eine Unthat habe begehen können, und sie begreift es eigentlich
selber nicht. Der Dichter hat, um das Verhältniß einigermaßen wiederherzustellen,
zur Idee des Katholicismus greifen müssen, daß man durch ein ungerechtes
Leiden eine andere Schuld, die damit nicht im Zusammenhang steht, büßen könne,
und er hat eben darum den Katholicismus mit einer Wärme und mit einem Farben-
reichthum geschildert, der lediglich aus künstlerischen Motiven hervorgeht, der aber
bei unserm Publicum stets mit Recht Anstoß erregen wird, denn man soll-die
sittlichen Motive nicht dem Kunstwerk zu Liebe sich ausklügeln, sondern ans ihnen
heraus das Kunstwerk empfinden. Die Schicksalsidee, d. h. die Hervorhebung
des äußern Verhängnisses über die menschliche Freiheit, der Werke über den
Glauben, der äußern Ereignisse über den geistigen Gehalt, wird stets eine gewisse
Neigung zum Katholicismus herbeiführen. — Uebrigens streitet bei Schiller in
diesem Stück fortwährend das realistische und das dämonische Princip, und geniale
Schauspieler können es so wenden, daß man in der Scene zwischen den beiden
Königinnen herausfühlt, was auch Elisabeth sagt, daß dieselbe Maria, die ihren
Gemahl ermordet, nachdem sie lange Resignation und Entsagung geübt, jetzt
plötzlich in ihrer ganzen dämonischen Natur wieder hervortritt, ihr wahres Gesicht
zeigt und dadurch ihr Schicksal beschleunigt. So faßt die Rachel die Rolle ans.
Alsdann kommt auch in die verhängnißvolle Schönheit der Königin, die alle
Männer entzündet, sich für sie, ohne ihr Zuthun, in blinde Verschwörungen ein¬
zulassen, und grade dadurch die bedrohte Gegnerin zur Nothwehr zu reizen, ein
mehr geistiger Inhalt, und in dem wahnsinnigen Benehmen Mortimers, vor
welchem Maria selbst sich entsetzt, empfinden wir dann nicht mehr blos die
Wirkung der Schönheit, sondern der dämonischen schuldvollen Schönheit.
Auch die „Jungfrau von Orleans" ist eine ganz dämonische Natur, und das
Stück neigt sich daher wieder zum Katholischen. Das Motiv, an welches sich der
äußere Mechanismus des Stücks knüpft, das strenge Verbot der Liebe, die Ver¬
letzung desselben durch ein unwillkürlich hervortretendes Gefühl, in welchem also
doch eigentlich keine Schuld enthalte» sein sollte, und das daraus hervorgehende
entsetzende Gefühl der Schuld, dieses Motiv ist ein durchaus romantisches, und
der Dichter hat auch, um es wenigstens der Phantasie einzuprägen, eine über¬
große Zahl sinnlicher Mittel angewendet, wodurch das ganze Stück einen opern-
haften Anstrich erhält. Daß auch hinter dieser Mystik sich eine wahre, tiefe, echt
menschliche Idee versteckt, daß die Jungfrau in dem Gefühl ihrer Schuld eigentlich
nur die Begriffe verkehrt, da sie durch das Gefühl der Liebe zum ersten Mal
zum Bewußtsein kommt, sie sei ein Weib, was sie bisher in ihrer Tödtung der
Engländer vergessen hatte, das haben wir bereits an einem andern Orte ange¬
deutet. Als gottcrfüllte Heilige ging die Jungfrau ganz in die Abstraction ihrer
Pflicht aus. Sie fühlte den innern Widerspruch ihres Wesens nicht, den ihr
Vater bereits ganz richtig herauserkannte. Als liebendes Weib dagegen erkennt
sie mit Schrecken ihre dämonische Doppelnatur, und der Fluch ihres Vaters ist
mir der äußere Ausdruck für das Entsetzen, das sie vor sich selber empfindet. —
Aber diese Analyse des Gefühls ist zu wenig dramatisch ausgedrückt, und wir
haben daher immer den Eindruck vou etwas Fremdartigen.
In der „Braut von Messina" tritt die Schicksalsidee so handgreiflich auf,
daß wir es nicht weiter ausführen dürfen. Wir machen nnr noch anf den Plan
z»in „Demetrius" aufmerksam, in dem die dämonische Macht des Verhängnisses
anf eine höchst poetische Weise durchgeführt wird. Demetrius handelt in dem
guten Glauben seines Rechts und muß nun plötzlich erfahren, daß dieses Recht
anf einem Irrthum beruht, daß er also eine Schuld auf seine Seele geladen
hat, die er nicht wieder abschütteln kaun, die ihn daher zu neuen Verbrechen
treibt. So wird durch das Verhängniß der Charakter umgekehrt. Die Idee
ist grandios, und das Stück hätte vielleicht das glänzendste vou Schiller werden
können, wenn wir nicht ein Bedenken dagegen hätten. Schillers Talent zeigt
sich nicht grade am bedeutendsten in diesen feineren und kühnerem Motivirungen.
Der große Monolog im Teil, in welchem der redliche einfache schweizer Bauer
seinen Entschluß motivirt, ein Mörder zu werden, und die nachträgliche Recht¬
fertigung dieses Entschlusses im Gespräch mit Parricida find das Schwächste an
dem ganzen Stück. Im Tel! wollte dieser Mangel nicht soviel sagen, weil unsere
Aufmerksamkeit in diesem ganz anf Zustände und Ereignisse eingerichteten Drama
sich am wenigsten auf die psychologische Motivirung wendet, aber dem Demetrius
hätte dadurch die Spitze abgebrochen werden können. — Daß Schiller anch im
übrigen die Schicksalsidee, d. h. die Idee von der Macht des Verhängnisses
über den freien Willen, als künstlerisches Ideal vorschwebte, können wir aus fast
allen seinen hinterlassenen Entwürfen herauserkennen. Die Dichter, die ans seiner
Schule hervorgingen und seine Ideen ins Fratzenhafte verkehrten, haben wir
bereits früher besprochen. In der neuern Tragödie hat sich eine andere Form
des Dämonischen eingeführt, auf die wir noch einmal näher eingehen werden.
Die gegenwärtig schwebende, oder vielmehr wol bereits erledigte Korn-
handelösrage gibt uns zu einigen nachträglichen und resnmirendcn Bemerkungen
Anlaß. Nicht daß wir die gründlichen und allseitigen Erörterungen des Prin¬
cips, von denen die deutsche Presse in den letzten Monaten überfloß, um eine
weitere, noch gründlichere und umfassendere Auseinandersetzung zu vermehren ge¬
dächten. In der Theorie sind fast alle streitigen Punkte dieses Capitels eigent¬
lich schon seit Adam Smith, also seit einem halben Jahrhundert zu GNnsten der
freien Bewegung auch auf diesem concreten und sehr wichtige» Gebiet entschieden.
Dem wissenschaftlich gebildeten Politiker können die Allarmrnfe socialistischer oder
reaktionärer Demagogen im kleinsten Stil, kann das vulgäre Geschrei gegen den
Kornwucher unmöglich in einem andern Licht erscheinen, als etwa den Aufgeklär¬
ten des fünfzehnten Jahrhunderts die populären Leidenschaften gegen arme Hexen
oder Juden, denen freilich in einer grausamen Zeit manche Zügellosigkeiten und
Greuel der Praxis entsprangen, welche unter den milderen Sitten der Gegenwart
keine Aussicht auf Erneuerung mehr habe». So groß die diesjährige Aufregung
über die drohende oder doch befürchtete Theuerung auch an vielen Orten wieder
war, so zeigte es sich doch bald, daß es sich lange nicht so sehr »in die theore¬
tische Verhandlung des Gegenstandes, als vielmehr darum handelte, einige längst
ausgemachte Wahrheiten der volkswirthschaftliche» Erkenntniß mit den blinden
Vorurtheilen einer urtheilslosen Menge, leider aber auch hier und da mit dem
verkehrten Eifer einzelner Behörden zu vermitteln. Diejenigen, welche der Sache
schon früher ihre Aufmerksamkeit geschenkt hatten, als die öffentliche Bewegung
unsre vaterländische Journalistik dazu zwang, etwa im Jahr der europäischen
Theuerung -I8i7, hatte» vermuthlich alle Roschers damals entstandenes, unzwei¬
felhaft classisches Buch gelesen und konnten demgemäß weder politische, noch öko¬
nomische Zweifel mehr gegen den freien Gctreidehandel hegen. Die gebildeten
Kreise Deutschlands sind offenbar mit großer Schnelligkeit von diesen Trägern
der hierher gehörigen Einsicht geleitet und bestimmt worden. Nur mit jenen
Elementen, mit den unentwickelten Verstandeskräften des großen Hansens und
mit dem übelverwendeten Einfluß maucher Beamten, galt es noch sich auseinander¬
zusetzen. Wollen wir also hier einige Momente, oder besser gesagt einige Resul¬
tate der letzten Agitation über die Kornhandelsfrage recapituliren, so braucht das
nicht eben mit der gewissenhaften Objectivität eines Schwurgerichtspräfldcnten,
mit glcichwägender Gerechtigkeit gegen beide Auffassungen, sonder» höchstens nnter
einem offenen Eingeständnis; unsrer Parteinahme für die längst ermittelte Wahr¬
heit zu geschehen.
Drei Thatsachen sind es, in dene» uns das bedeutende Ergebniß der eben
geschlossenen heißen Verhandlungen gegeben zu sein scheint. Die erste von ihnen
wird einem der von Tag zu Tag den Leitartikeln der Blatter und den Ma߬
regeln der Polizeibehörden gefolgt ist, wol nicht leicht entgangen sein. Zumal
wenn man sich das Auftreten derselben Streitfrage in den Jahren 18i6 und 1847
vergegenwärtigt und zur Vergleichung heranzieht, wird mau von der hohen Wahr¬
scheinlichkeit der Vermuthung getroffen werden, daß über diese Sache und um
diesen Preis in diesem ablaufenden Jahr zum letzte» Mal gestritten worden sei.
Sollte sich das Gefecht der Plänkler ja noch einmal entspinnen, so wird es doch
nicht wieder zu einem so allgemeinen, zu einem europäischen Aufeinandertreffen
führe», wie diesmal. Dafür habe» die Vertheidiger der Freiheit zu brav und zu
sehr i» geschlosseiien Reihen gekämpft, als daß die von ihnen »erfochtenen Grundsätze
noch einmal wirklich wieder in Frage gestellt werden könnten. Die öffentliche
Theilnahme ist seit 18i7 um viele hundert Procent gewachsen, und während
damals im ganzen nur erst wenige so gelehrte und erfahrene Publicisten wie
Röscher für die gute Sache eiustandc», zählt diese ihre Feder» jetzt uach Dutzende»
und begegnet in allen höhern Schichten der deutschen Presse seist nur noch auf¬
richtig ergebenen Freunden. Es ist gewiß ein merkwürdiges Factum, daß die'sehr
dichte Literatur des Kvrnhandels in ihrem ganzen Umfang keinen nennenswerthen
Angriff aus das Princip des freie» Handels ausweist. Daneben ließe sich jetzt
die mindestens ebenso erfreuliche Wahrnehmung stellen, daß keine größere und
angesehenere deutsche Zeitung den plumpen Aberglauben des Haufens in dieser
Sache sich hat aneigne» mögen. Einer Anzahl der vbscnrsten Winkelblätter ist
es überlassen gewesen, auch in einer solchen Angelegenheit der Presse eine schein¬
bare Unparteilichkeit zu vindiciren und den rettenden Thaten gewisser Polizei¬
helden zum Chorus zu dienen. Leider hat sich der Kaiserstaat der Habsburger
auch dabei wieder durch eine wuchernde Ueppigkeit gedankenloser Schreier aus¬
gezeichnet. Um so willkommener ist es, die großen Wiener Journale nicht in
ihre Tonart einstimmen zu sehen und z. B. von der „Presse" den hoffentlich
prophetischen Ausspruch zu lesen: „es werde wol niemals einem Bürgermeister
wieder einfallen, und wäre es selbst noch einmal der von Wien, der Freiheit des
Kornhandels ein Bein stellen zu wollen." In der That, es läßt sich nicht wenig
danach an, als ob die polizeiliche Willkür hier zum letzten Male freies Feld in
der einschneidendsten Frage der öffentlichen Wirthschaft gehabt haben sollte.
Diesmal zwar sind die weisen Herren, welche Alles reglemcntircn möchten und
für die großen Kalamitäten der Natur selbst Panaceen in ihrem Bureau zu haben
wähnen, zum Theil noch keck genug hervorgetreten. Sie haben sich meistens nicht
erst, wie Herr von Seiller in Wien, bei confusen Tiraden gegen die gemein¬
schädliche Ruchlosigkeit der Kornjnden aufgehalten, sondern sind alsbald mit Ver¬
boten und Beschränkungen und mit sonstiger negativer Thätigkeit ins Zeug ge¬
gangen. Man mußte Gott uoch danken, wenn sie nur wenigstens den Vorrath
an Brotfrüchten zu vermehren, und uicht im Uebermaß der Verkehrtheit den Preis
zu drücken, d. h. statt des Uebels selbst, das unschuldige und geradezu unent¬
behrliche Symptom hinwegzubringen suchten. Aber sie haben doch auch fast aller¬
orten eine so scharfe Kritik, einen so wohlgeordneten und moralisch weit überlegenen
Widerstand erfahren, daß dieselben Leute schwerlich zum zweiten Mal denselben
Muth entwickeln werden. Von Herrn von Hinkeldey herab bis zu dem namen¬
losesten seiner Collegen wird keinem unter ihnen wohl geworden sein, wenn er
seine zerstörende Hand in das nützlichste der Geschäfte gesteckt, und hindernd
zwischen das Brot und die hungernde Lippe der Armuth geschoben hat. Schienen
sie anfangs zu den äußersten Schritten dreist genug, so wurden sie doch bald
stutzig und geriethen über die völlig unerwartete Aufnahme ihres Vorgehens bei
dem Publicum, ja meistentheils auch bei den vorgesetzten Oberbehörden in lauter
Beschämung und Verlegenheit. Es verdient wol constatirt zu werden, daß die
sonst nicht eben hochstehende Regierungspresse der deutschen Staaten diesmal fast
ohne Ausnahme auf Seiten der wahren Einsicht gestanden hat. Alles dies zu-
sammengenommen, gibt uns die ermattende Kraft der Angriffe und die wachsende
Allgemeinheit, die nachdrückliche Gewalt des Widerstandes wol nicht mit Unrecht
das Vertrauen, daß für die öffentliche Meinung der civilisirten Welt, und
namentlich Deutschlands, die Frage des freien Kornhaudels von -I8S3 an ge¬
rechnet ans immer entschieden und abgethan sein werde.
Hat nun an dieser glücklichen Wendung irgend eine öffentliche Macht ent¬
scheidenden Antheil gehabt, so ist es jedenfalls die Presse. Die LebenSmittel-
frage gehört ihrer Kategorie nach im ganzen nicht zu denjenigen, welche in die
Kompetenz der gesetzgebenden Körperschaften fallen, wenigstens nicht da, wo sie
zu einer augenblicklichen Entschließung drängt und in der Form großer Theue¬
rungen anstritt. Von den Gewalten der öffentlichen Meinung ist es also ziemlich
ausschließlich die Tagespresse, der hier für die gedeihlichste Wirksamkeit ein brei¬
tes Feld abgesteckt liegt. Sie kaun auf ihm um so leichter zu realen Erfolgen
vordringen, als ihre Organe von einer unendlichen Mannigfaltigkeit der Wirkung
sind und ebenso gut den beschränktesten localen Zweck ins Auge zu fassen, wie die
weitesten und allgemeinsten Gesichtspunkte zu erörtern vermögen. In einem Falle
wie dem vorliegenden aber hat die Wahrheit, die Wissenschaft an ihr eine ganz
einzige und unvergleichliche Waffe. Es ließe sich ja anch denken, daß herr¬
schende Begriffsverwirrungeu über ökonomische Verhältnisse etwa durch eine ver¬
änderte Richtung der öffentlichen Erziehung, oder durch die Discussion auf par¬
lamentarischer Tribüne, oder selbst durch zweckmäßige Instruction der competenten
Beamtenclassen mehr oder weniger gehoben würden. Aber die Wirkung solcher
Abhilssmittel würde doch unendlich langsam, schwankend und vereinzelt gegen die
einer zusammenhängenden, von einem Sinne beseelten Presse sein. Es kommt
dazu, daß auf keinem Gebiet des politischen Lebens die Anstecknngskraft der Wahr¬
heit mit gleicher Geschwindigkeit wirkt. In dieser Beziehung ist es daher eine
wohl zu beachtende Erscheinung, daß die unbeschränkte Freiheit des Kornhandels
in keinem Lande so früh zum Durchbruch und zu moralischer Alleinherrschaft ge¬
langt ist, wie in England, der Geburtsstätte einer wahrhaft gebildeten Presse.
Von der öffentlichen Meinung Englands konnte schon 18-18 eine ihrer würdigsten
Vertreterinnen, das Edinburgh Review sage», sie dulde kaum im Munde eines
Schulknaben mehr die Aufwärmung jenes unverständigen Geschreis über Kvrn-
wucher, mit dem zurückgebliebene Völker ihren eigenen Vortheil und die wirk¬
samste Hilfe gegen Hungersnoth lästerten. Von Deutschland wird man wol
behaupten dürfen, daß es seinerseits auch im Jahre -I8i7 zum letzten Mal das
traurige Schauspiel solcher trüber Aufregungen erlebt hätte, wenn es dazumal
bereits eine wohlorganisirte, dichtverzweigte und den durchschnittlichen Bildungs¬
stand der Zeit innehaltende Presse besessen hätte. Diejenigen aber, welche von
dieser modernen Weltmacht noch nichts wissen oder halten, mögen ans einem
scheinbar so unbequemen und ungelegener Beispiel ersehen, wie gewaltig ihr
Einfluß auf alle höheren und tieferen Strömungen des heutigen Staats-
lebens ist.
Das dritte Resultat der nun ablaufenden Kornhandelsbewegnng wird, wenn
nicht die sichersten Anzeichen trügen, einer bestimmten politisch-ökonomischen Rich¬
tung unter uns zu Gute kommen. Nicht sowol, daß die schwebende Frage
überhaupt im Sinn der Freiheit entschieden werden mußte, als daß sie diesen
Ausgang unter so allgemeiner Theilnahme des Publicums erreichte, muß zu einem
guten Streich für die deutsche Freihandelspartei im weitesten Begriff des
Worts ausschlagen. Es ist für jetzt ganz gleichgiltig, ob diese Bemerkung uns
freudig stimmen oder verdrießen, ob sie in unsere Plane passen mag oder nicht;
worauf es hier ankommt, das ist die einfache Behauptung und Befestigung der
Thatsache. Wenn eine bewegende Idee der Zeit, wie diejenige, welche in dem
sogenannten Streben des Individualismus bezeichnet ist, einmal an einem con-
creten Ereigniß eine so schlagende Beweisführung gewinnt und zu so soliden
Triumphen gelangt, wie jetzt an der Kornhandelssrage, so muß das auf das fort¬
schreitende Umsichgreifen der Idee selbst den sichtbarsten und bedeutendsten Einfluß
äußern. Es muß auf die Kreise des engern politischen Lebens zurückwirken, daß
der Einmischung des Staats in individuelle Thätigkeiten hier einmal ein so breiter
Raum überall abgewonnen worden ist. Nachdem die Polizei für alle Zukunft
von Kornmäklern- und Getreidebörsen ausgewiesen, wird man ihr auch in den
benachbarten Regionen des wirthschaftlichen Treibens fortan eifriger und eifersüch¬
tiger auf die Finger sehen. Ja die letzte Verhandlung der Frage hat nicht nur die
negative Action der Behörden verurtheilt, sondern auch den positiven Schöpfungen
der Staatsgewalt, den öffentlichen Magazinen ziemlich einstimmig deu Stab gebrochen.
Uns sind zwar einige deutsche Spießbürger, aber doch keine deutschen Zeitungen zu
Gesicht gekommen, von denen der neueste „Streich" des dritten Napoleons, die
geistreiche Erfindung, eine Stadt auf Kosten eines großen Reichs zu füttern,
gelobt worden wäre. Wer beim Anblick eines Staatsbudgets nicht das Unglück
hat, sein Einmaleins zu vergessen, der entdeckte in der französischen Rechnung
bald einen von jenen Fehlern, die man in der unhöflichen Sprache der Straf¬
gesetze als ein Verbrechen gegen das Eigenthum bezeichnen würde. Der Bona¬
partismus, dieser deutlichste und uunmwundenste Gegensatz der nordamerikanischen
Auffassung von politischen Dingen, hat einmal wieder mittelbar der befreienden
Tendenz der Gegenwart zu einer nachhaltigen Stütze verhelfen. Je abenteuerlicher
die Mißgriffe centralistrender Gewalten werden, desto reichere Nahrung sauge»
die Ideen aus ihnen, welche das gegenüberstehende Princip des Selfgovernement
ausdrücken.
Eine moralische und numerische Verstärkung der Freihandelspartei, eine
gewaltige Darstellung des Einflusses, welchen die Presse immer allgemeiner gewinnt,
und die Vollendung des langen Kampfes, den ein großes Princip mit allerhand
Aberglauben und Unwissenheit z» bestehe» hatte; das sind die Ergebnisse, welche
wir aus einer aufincrsamcu Verfolgung der diesjährigen Kornhandelsbewcgnng
für das nationale Leben der Deutschen hervorgehen zu sehen glaube». Sie sind
im ganzen gewiß erfreulich genng.
Die in der 23. Buudcstcigssitzuug d. I. (v. i. August) über Vereinswesen
gestellten Ausschußauträge zerfallen in zwei Hälften, deren eine sich ans die
deutschen Handwerksgesellen und Handarbeiter bezieht und uns »in so zweckmäßiger
erscheint, je mehr schon die Rücksicht ans das eigene Wohl dieser Classe von
Staatsangehörigen dem Staate die Pflicht auferlegt, sie nach Möglichkeit vor den
Folgen der Theilnahme an verderblichen, Geist und Herz vergiftenden politischen
und socialen Verbindungen und Vereinen im Auslande zu bewahren. Die andre
Hälfte dagegen, deren der hohen Bundesversauunluug gleichfalls zur Annahme
empfohlene Bestimmungen sich auf „Bildung, Beaufsichtigung und Auflösung von
Vereinen" bezieht, enthält zwar mehre lobenswerthe und unumgängliche Gesetzcs-
vorschläge, wie z. B. „daß Minderjährige und Angehörige außerdeutscher Staaten
nicht sollen Mitglieder der politischen Vereine sein können"; im allgemeinen
scheint uns aber dasselbe gegen sie zu sprechen, was der Bundesausschuß in den
Vorbemerkungen zu seinen Anträgen hervorhebt: daß, je enger man die politische
Thätigkeit der Vereine im Inlande zieht, desto mehr die revolutionären Kräfte und
Bestrebungen sich in jenen Staatsgebieten (des Auslandes), in denen ihre Thätig¬
keit kein Hinderniß finde, concentriren — und eine um so größere Wirkungskraft
auf alle Individuen ausüben werden, welche Neigung zu politischen Umtrieben in
sich tragen."
Ans diesem Satz ist der Schluß auf die wandernden Handmerksbnrschen und
ans dasjenige, was für diese zu thun und gesetzlich festzusetzen sei, sehr richtig,
aber es reisen noch andere Personen, als Handwerksburschen, und sollten die
Lust zu politischen Vereinen und Verbindungen bekommen, so würde eine Er¬
laubniß, wie ihnen die Ansschnßanträge dazu eingeräumt wissen wollen, gewiß
nnr eine der beabsichtigten entgegengesetzte Wirkung haben und entweder zur
Stiftung geheimer Vereine treiben oder die Befriedigung des erwachten Triebes
im Auslande suche» lassen.
Der Bundeöausschuß schlägt z. B. vor: „Die Polizeibehörden sind befugt,
in die öffentlichen Versamlungen politischer Vereine, sowie i» jede Versammlung
der Mitglieder politischer Vereine, legitimirte Abgeordnete zu senden. Es ist
diesem ein angemessener Platz einznräume» und ihnen von den Leitern jede ver-
langte Auskunft zu geben ze. Bestände dieser Vorschlag als Gesetz, so würde
ganz gewiß nie ein politischer Verein unabhängiger, also auch nicht conservativer
Männer zu Staude kommen. Halten die Regierungen überhaupt politische Ver¬
eine für zulässig, sei es, weil sie ihnen als unvermeidlich oder weil sie ihnen als
wünschenswerth erscheinen, so müssen sie mit von dem Vertrauen ausgehen, daß
das Volk von der Erlaubniß dazu keinen Mißbrauch macheu werde. Tritt ein
solcher Mißbrauch dennoch ein, so haben sie jederzeit die Macht und die Mittel
und müssen sie haben, dem Mißbräuche zu steuern und dasjenige als Strafe
eintreten zu lassen, was als vorausgehendes oder gleichzeitig mit der Erlaubniß
ergehendes Gesetz einem Verbote und einer Täuschung gleichkommt.
Der Ausschuß schlägt u, a. noch vor, daß allen Staats- und öffentlichen
Dienern von ihren Vorgesetzten der Eintritt in politische Vereine solle untersagt,
der Austritt daraus besohle» werdeu können. Aber bei einem solchen Gesetz
wird kein Staats- und öffentlicher Diener je einem politischen Vereine beitreten;
wir wünschten aber nicht politische Vereine entstehen und in Thätigkeit zu sehe»,
von welchen sich alle Staats- und öffentliche Diener, mit Ausnahme „der im
Dienst befindliche», bewaffneten Polizeibeamten," von vornherein ausschließen
würden.
Die Grenzboten haben einige Mal über den berühmten Bentinckschen Pro¬
ceß, zwar nnr kurze, aber den Gegenstand, soweit er das größere Publicum
interessiren kauu, fast erschöpfende Mittheilungen gebracht, die sich mit Recht ans
die politische Seite des Processes, d. h. auf die Bestrebungen beschränkten,
die letzte Entscheidung desselben dem allein zuständigen Gerichte entzogen und
derselben hohen politischen Behörde übertrage» z» sehe», welche die Zuständigkeit
jenes Gerichtes zu allererst u»d einstimmig anerkannt hatte. Es wurde aber zu¬
gleich bemerklich gemacht, wie diese durch Vorurtheile nud Prvtectionen unterstützten
Bestrebungen, nachdem sie ihr Ziel fast erreicht zu habe» geschienen, immermehr
in ihr Nichts zusammengesunken seien, und wir dürfen es der Presse wol zum
Ruhme nachsagen, daß sie zur Erreichung dieses Ergebnisses beigetragen habe.
Sieht man die Buudeötagsprvtvkvlle, welche sich zahlreich auf deu Bentinck¬
schen Proceß, d. h. ans die Bemühungen der einen Partei beziehen, einen Ge-
waltsprnch und eine Gewaltthat der Bundesversammlung in demselben herbeizu¬
führen, näher an, so haben zwar vor 1848 einige damalige Bnndeötagsgesaudte,
namentlich die H. H. von Pensum und von Blittersdorff, nicht im Auftrage
und nach dem Willen ihrer Regierungen, sondern ans eigenem Antriebe, solche
Bemühungen eifrig unterstützt und der kleine Detmold in Hannover hat ihnen
als Neichsjustizminister auf plumpe Weise nachgeahmt, dennoch ist schon damals
nichts geschehen, woraus auf eine Absicht der Mehrheit der Bundesversammlung,
Cabiuetsjustiz in der Bentiuckscheu Sache zu üben, geschlossen werden dürfte;
dagegen hat die seit 18S0 in der Bundesversammlung für diese Angelegenheit
niedergesetzte besondere Commission, welche ans tüchtigen Juristen besteht, —
während es Männern wie Pensum an jeder juristischen Bildung fehlte — sich
von Anfang an und zu wiederholten Malen entschieden gegen alle Anträge aus¬
gesprochen, welche offen oder versteckt eine directe oder indirecte Einmischung des
Bundestages in den rechtshängigen Proceß bezweckten.
Die letzte Aeußerung dieser Art, welche noch nicht öffentlich mitgetheilt worden,
kommt in einem „schließlichen Vortrage" vor, welchen der großherzoglich mecklen¬
burgische Buudestagsgesandte „Namens des für die Bcntiucksche Angelegenheit
niedergesetzten Ausschusses" über eine von dem klägerischen und reclamantischen
Anwälte, v>'. K. N, Tabor zu Frankfurt a. M> unterzeichnete „Weitere Vor¬
stellung des Grafen Will). Friedr. Christian von Berlin? (des Klägers im Pro¬
ceß) gegen die großherzoglich oldenburgische Staatsregierung wegen der Herr¬
schaften Kniphausen und Varel" in einer der letzten Bundestagssitzungen erstattete.
Diese Aeußerung ist um so sprechender, als die Vorstellung sich nicht ans den
Proceß bezogen hatte und jene schwerlich bei dieser Gelegenheit erwartet worden
war. Die Aeußerung lautet: 2S. Sitz. § 229 v. i. Aug.: „III. Ebenso
wenig findet sich in den bisherigen Angaben und Aeußerungen, resp, des Necla-
inanten und der großherzoglich oldenburgischen Regierung, eine nähere Erörterung
der Frage, wer der rechte Vertreter ist, um die Rechte der gräflich Beutinck-
schen Familie und ihrer Besitzungen zu vertheidigen? Diese Frage ist gleichwol
iusoferu von präjudicieller Wichtigkeit, als es vor deren Richtigstellung einer
Entscheidung hoher Bundesversammlung hinsichtlich der sud I. und II, (Kompe¬
tenz des Bundes betreffend) erwähnten Fragen nicht bedarf. Der Ausschuß
glaubt daher, obwol er bereits in dem von ihm in der 14. Sitzung v. ZI. Mai 18 32
abgestatteten Berichte, nach der diesem Berichte zu Grunde liegenden Auffassung,
über die Bedenken bei dem Legitimativnspunkte vorläufig .hinweggegangen ist,
die Erörterung dieses Punktes um so eher wieder aufnehmen zu müssen, als
eventuell eine Entscheidung über die zweite der obigen Fragen auf die
uuab weisliche Nothwendigkeit führen würde, daß bei der Regulir ung
des verfassungsmäßigen Verhältnisses der Herrschaft Varel der
großherzoglichen Regierung ein solcher Vertreter der gräflich Ben-
tinckschen Rechte gegenüberstehe, welcher zweifellos und mit recht¬
licher Wirkung über diese Rechte zu unterhandeln nud zu präcisiren
legitimirt ist ... . Wenn der Neclamant allein als Vertreter der
Herrschaft Varel auftritt, so könnte unleugbar das von ihm herbeigeführte
Einschreiten der hohen Bundesversammlung späterhin wirkungslos werden, falls
nämlich die von ihm behaupteten Berechtigungen, dem factischen Be¬
sitzer (dem Beklagte») gegenüber, definitiv nicht anerkannt werden.
Eben so wurden auf der andern Seite, wenn der factische Besitzer allein
auftritt, alle Handlungen desselben nngiltig und wirkungslos sein, falls er
nämlich definitiv gezwungen würde, den alsdann für unrechtmäßig erkannten Be¬
sitz dem Neclamanten (dem Kläger) abzutreten. Hieraus folgt, daß — bevor
nicht die Frage, wer der rechte Vertreter der Rechte und der Be¬
sitzungen der gräflich Bentinckschen Familie sei, zwischen dem
Neclamanten und dem factischen Besitzer außer Streit gestellt
worden— die hohe Bundesversammlung sich nicht für ermächtigt erklären kann,
ihre Einwirkung auf diese Angelegenheit eintreten zu lassen ze."
Hieraus geht unwidersprechlich hervor, daß die Bundesversammlung, wenig¬
stens nach der Ansicht ihrer erwählten Commission, nnr denjenigen als recht¬
mäßigen Besitzer von Kniphausen und dem gesammten oldenburgischen Fideicommiß
anerkennen will, den das zuständige, und von der Bundesversammlung selbst durch
einstimmigen Beschluß v. 24. Juli 1828 als zuständig anerkannte Gericht dafür
erklären wird. Im Interesse des Klägers aber kann man nur bedauern, daß
sein Advocat Mittel und Wege einschlug, durch welche er für seine Clienten nichts
erreicht, wol aber alle unparteiischen Nechtsfrennde aufgebracht und im Publicum
die Meinung verbreitet hat, daß er selbst daran verzweifele, ans dem Wege des
Rechtes den Sieg davon zu tragen.
In ganz kurzer Zeit hintereinander sind drei für die Abwickelung der orien¬
talischen Angelegenheit sehr wichtige Noten publicirt worden; die der englischen
Regierung zur Beantwortung der zweiten Nesselrodischen Note, die türkische mit
den Mvdisicatiousvvrschlägen, und die letzte russische Ablehnungsnote.
Was das Schriftstück betrifft, welches mit dem Namen des Lord Clarendon
gezeichnet ist, so hat das Publicum vollkommen recht, damit zufrieden zu sein.
Es ist sauber gearbeitet, und weist Punkt für Punkt mit großer leidenschaftloser
Objectivität die Unzulänglichkeit der russischen Ansprüche nach. Wäre es ein
Leitartikel in einem größeren Journal, so würde sich nichts Erhebliches dagegen
einwenden lassen, man konnte ihm stilistisch seinen Beifall nicht versagen. Aber
von einer Weltmacht zu einer andern Weltmacht gesprochen, in einem kritischen
Augenblick, wo alle Welt die Hand ans Schwert gelegt hat, sieht dieser Artikel
doch etwas wunderlich aus. Es handelte sich doch wol nicht darum, daß die
Königin Victoria den Kaiser Nicolaus in einer öffentlichen Disputation von der
Unhaltbarst seiner Forderungen überführte, das hätte am Ende Herr Walter
ebensogut thun können, sondern es handelte sich darum, welche Eventualitäten
das mächtige englische Reich dem russischen in Aussicht stellte, wenn dieses von
der Maßlosigkeit seiner Ansprüche nicht abginge. Davon h'at aber die Note kein
Wort gesagt. Wir begreisen also die Verwunderung des Publicums gar nicht,
daß das englische Cabinet diese herrliche Note dem Parlament vorzulegen gesäumt
hat. Das englische Cabinet hat sich dazu hergegeben, die Anerkennung derselben
Forderungen, deren Unhalibarkeit es in seiner herrlichen Note so gründlich nach¬
gewiesen, dem Sultan zuzumuthen, und es scheint sogar nicht abgeneigt zu sein,
den rennenden Sultan „vor dem Andrang der fanatischen Pöbelmasse, die ihn
wider seinen Willen zum Bruch mit Rußland zwingen will", zu schützen. Die
Formel ist schon öfters dagewesen. Wir glauben aber nicht, daß das englische
Parlament, welches im ganzen aus praktischen Männern besteht, die weniger auf
den Stil, als auf den Inhalt sehen, von dieser Art Logik sehr erbaut wäre,
und wir finden es daher sehr natürlich, daß Lord Aberdeen dieselbe Methode be¬
folgt, wie Baron Manteuffel in den Tagen von Ollmütz. Ist der Frieden ein¬
mal geschlossen, dann wird anch das Parlament, dem die innern Fragen doch
ungleich wichtiger sind, und das nur zwischen Clarendon und Malmesbury die
Wahl hat, sich zufrieden geben.
Die türkische Note ist ein Muster politischer Correctheit, und mehr als das,
es athmet in ihr auch ein würdiges Gefühl; sie deutet offen an, daß es sich um
einen ungleichen Kampf handelt, daß aber ein solches Opfer der Ehre, wie das
der Pforte zugemuthet wird, nur infolge einer Niederlage gebracht werden kann,
nur gezwungen, nicht freiwillig. Wir haben in einem der frühern Hefte aus¬
einandergesetzt, wie wesentlich alle die Modifikationen waren,, welche die Pforte
verlangt, und wie nothwendig sie zugleich einer russischen Anslegeknnst gegenüber
waren. DaS alles wird dnrch die türkische Note mit ruhiger Würde ausge¬
sprochen. Freilich ist damit auch noch nicht alles gesagt. Auf einen Krieg mit
Rußland, auf jede Gefahr hin, ist die Türkei gefaßt, ihre Rüstungen sind sehr
ernstlich gemeint, und es bliebe wenigstens immer zweifelhaft, ob sie nicht solange
sich vertheidigen könnte, bis die Engländer sich ein fähigeres und patriotischeres
Ministerium erstritten haben; aber wenn es in der That soweit kommen sollte,
daß die Flotten aus der Besikabai nach Konstantinopel segelten, um den Sultan
„gegen seine aufrührerischen Unterthauen zu schützen", dann glauben auch wir
nicht an einen längern Widerstand.
Die russische Note führt in ihrem größeren Theil die gewöhnliche russische
Sprache; sie läßt sich gar nicht ans den Inhalt ein, sondern sie bezieht sich nnr
auf die Würde Rußlands, der es nicht anstehe, in irgend einer Forderung nach¬
zugeben. Dennoch enthält diese Note einen Nachsatz, der weniger kriegerisch
lautet, als man sonst von Rußland gewöhnt ist. Es ist nämlich die formelle
Versicherung gegeben, daß in dem Augenblick, wo der türkische Gesandte mit der
unveränderten Wiener Note ankommt, die russischen Truppen die Donaufürsten-
thümer räume». Das ist der erste Schritt des Entgegenkommens, den Rußland
gethan: denn die Annahme des Wiener Entwurfs verstand sich von selbst. Es
wird nun wol dazu benutzt werden, daß England und Frankreich noch lebhafter
und mit einem größern Anschein der Berechtigung in den Sultan dringen, nach¬
zugeben. Von einer Garantie gegen ähnliche Einfälle ist freilich nicht die Rede,
und wir sind in Europa bereits soweit gekommen, daß wir es als eine Con¬
cession ansehen, wenn die russischen Truppen einmal aus einer Provinz hinaus¬
gehen, die sie widerrechtlich besetzt haben.
In diesem ganzen Streit ist bis jetzt von einem Factor wenig die Rede ge¬
wesen, ans den es doch eigentlich sehr ankommen sollte, von den griechischen Un¬
terthanen der Pforte. Das romantische Philhellenenthum der zwanziger Jahre
ist glücklicherweise vollständig verraucht; wir schwärmen nicht mehr für die Freiheit
der „Griechen", weil sie in Sparta und Athen wohnen, auch nicht, weil sie das
russische Kreuz tragen. Abgesehen von den officiellen Kreuzrittern finden sich
nur noch wenig Prediger für einen Kreuzzug gegen den Erbfeind des christlichen
Namens. Zu den letzteren gehört John Lemoinne, der Verfasser einer nicht
uninteressanter Broschüre an- 1'intöAritv as l'sniviriz Ottomar (?aris, N. I^soo).
Aber auch er leitet die Nothwendigkeit der griechischen Emancipation weder aus
der Ilias, »och aus der Geschichte Konstantin des Großen ab, sondern wenigstens
zum Theil aus den factischen Verhältnissen. Und diese verdienen allerdings ge¬
hört zu werden. Auf die Redensart, daß die Türken Barbaren sind, die Grie¬
chen die Erbe» des Sophokles, die Türken Heiden und die Griechen Christen,
aus diese Redensarten geben wir gar nichts. Aber — die Griechen sind der bei
weitem zahlreichere Theil der Bevölkerung, und sie sind die Betriebsamen, in
ihren Händen ist fast ausschließlich der Handel und der Landbau; und doch sind
sie nicht blos die unterdrückte Classe, sondern es ist absolut keine Möglichkeit
vorhanden, so liberal anch die Türkei sich reformiren möge, daß ihnen politische
Vollbürtigkeit im Reich jemals zugestanden wird. An diesem Verhängnis; geht
die Türkei zu Grunde, keine Macht der Erde kann sie retten. Wer jetzt für
sie auftritt, will uur die russische Machtvergrößerung verhindern.
Aber vor einer Illusion müssen die Griechen sich hüten, in der sie die meisten
ihrer Freunde und Gönner bestärken — darunter auch ein seit zwei Monaten
erscheinendes Londoner Wochenblatt: Ine Kastern 8or; .Je»um-r1 ok Ldristian
Civilisation, voMes, cliplomaev, üteratni'ö, g,re, commerce, meos etc-.—
von der Illusion nämlich, es könnte ein griechisches Kaiserthum an Stelle des
türkischen treten. Eine Emancipation von den Türken ist nur in der Weise
möglich, wie es bis jetzt in Griechenland, Serbien und eigentlich auch in Monte¬
negro geschehen ist, oder in der Weise der Domufürstenthümer. Die türkischen
Staaten werden entweder eine Beule der Russen, oder sie lösen sich einzeln ab
und treten dann in eine Föderativverbindnng. Wenn das letztere nicht möglich
ist — und es wird nicht möglich sein, wenn bis zu dem Termin, wo es eintritt,
nicht die russische Macht bereits eiuen starke» Stoß erlitten hat >— dann kommt
über die Griechen das Verhängnis;, aus türkischen Unterthanen russische zu werden,
und wir zweifeln doch daran, ob diese Veränderung ihrer Lage ihnen bequem
sein würde. Zur Gründung eines neuen Kaiserthums auf deu Trümmern eines
alten gehört eine bestehende, kräftige Nationalität, wozu den unter dem Collectiv¬
begriff „Griechen" zusammengefaßten Völkerschaften nichts weniger als alles abgeht.
Als wir obiges schrieben, war die nähere Erläuterung der
russischen Note, die sachliche Beleuchtung der türkischen Forderungen, noch nicht
bekannt geworden. Durch diese wird allerdings vieles geändert. Mit einer
Offenheit, die in Mitte der allgemeinen Schwäche und Unbestimmtheit etwas Aner-
kennenswerthes hat, präcifirt Rußland seine Ansprüche, und indem es erklärt,
daß diese in dem Wiener Notenentwurf im wesentlichen ihre volle Befriedigung
gefunden haben, widerlegt es die Sophisten, welche mit diesem Entwürfe die
gerechten Ansprüche der Türkei befriedigt sahen, und gibt den türkischen
Staatsmännern vollkommen recht, die sich gegen Mißverständnisse zu wahren
suchten. In jener Erläuterung ist das Maßloseste, was man bis jetzt hinter
den russischen Forderungen vermuthete, nicht nur bestätigt, sondern übertroffen.
Die Türkei wird zu einem Vasallenstaat erniedrigt, der, ganz nach der Auf¬
fassung der Wiener Korrespondenz, für jeden Fußtritt, der ihm widerrechtlich
gegeben wird, um Verzeihung bitten soll, damit die Ehre des russischen Kaisers
nicht gekränkt werde. Wenn Neschid Pascha schon damals erklärte, kein
türkischer Staatsmann könne sich soweit erniedrigen, eine so schimpfliche Note zu
unterzeichnen, so ist es nach dieser Note noch unmöglicher geworden. Der Krieg
scheint also — Dank der Aberdeeuscheu Weisheit! — unvermeidlich, und wir
wollen es abwarten, ob sich die englischen Flotten wirklich dazu hergeben werden,
die Büttel Rußlands zu spielen, um doch auch in dieser Beziehung das Beispiel
eines andern Staats nachzuahmen, der so vielen Anstoß erregte.
Wir haben vor einem Monat ein neu erschienenes geistvolles Werk über die
„Realpolitik" mit großem Interesse besprochen; es ist seit der Zeit auch von den
meisten übrigen Blättern nach Gebühr gewürdigt worden. Gegen unsere Kritik
hat sich nun Herr Diezel erhoben*), mit dem wir uns schon mehrfach beschäftigt
haben. Diese Autwort veranlaßt uns zu einigen sachlichen Bemerkungen.
Leider müssen wir mit einer formalen beginnen. Wir hatten gesunden, daß
jenes Werk das Princip der Gothaer Politik richtiger definirt, als es uns
bisher vorgekommen war, und wir hatten zu begründen gesucht, daß der Ver¬
fasser, wenn er consequent dächte, in diesem Princip auch die Zukunft der deut¬
schen Entwickelung sehen müsse. „Gegen eine solche Beleidigung, ja Verleum¬
dung" glaubt Herr Diezel den Verfasser in Schutz nehmen zu müssen. Was
soll man zu einer so einfältigen und lächerlichen Unverschämtheit eigentlich sagen?
Abgesehn von dem Ton, der doch jetzt endlich aufhören sollte, ist das Unbegreif¬
liche an dieser Großsprecherei eine Verwechselung, in welche die Demokraten, na¬
mentlich die süddeutschen, fortwährend verfallen.
Wenn sie nämlich von Gothacrn sprechen, so meinen sie eine Anzahl von
Individuen, deren Bekanntschaft sie in Frankfurt gemacht haben, und über deren
Persönlichkeit und Benehmen sie ein ungünstiges Urtheil fällen. Wir dagegen
sprechen von dem Princip, und der Verfasser der „Realpolitik" hat darin den
ganz richtigen Unterschied gemacht. Wir urtheilen zwar über die Mitglieder der
Frankfurter Majorität ganz anders, als die Demokraten, aber das ist uns Neben¬
sache. Wenn sämmtliche Mitglieder jener Majorität Gottesleugner, Räuber,
Mörder, Diebe, Ehebrecher, Memmen, Dummköpfe, Jesuiten, Sklaven, Ver¬
räther u. s. w. wären — wenigstens den größten Theil dieser Prädicate hat
Herr Diezel bereits angewendet — so würde uns das zwar sehr leid thun, denn
wir würden es vorziehn, die gute Sache auch durch würdige Männer vertreten
zu sehen; aber wir würden sie als politische Partei dennoch unterstützen, so
lange sie das nach unserer Ansicht richtige Princip vertreten. Herr Diezel irrt,
und mit ihm die meisten Demokraten, wenn sie glauben, es käme uns ans die
Persönlichkeiten an, und wir wollten immer dieselben Persönlichkeiten wieder vor¬
schieben; uns kommt es gar nicht darauf an. Wenn die Partei sich aus andern
Männern zusammensetzt, aus Herrn Diezel u. s. w., so soll es uns auch recht
sein, sobald sie nur Garantie geben, daß sie unser Princip vertreten.
Aber über dieses scheint uns Herr Diezel noch im Unklaren zu sein, wie er
denn auch die „Realpolitik" mißverstanden hat. Die „Realpolitik" hatte als
principiellen Zweck der Gothaer Politik aufgestellt: „die Staatskräfte Preußens
in den Dienst der Revolution zu ziehen, die organisirte preußische Macht zum
Werkzeug der politischen Einigung Deutschlands zu machen," und wir hatten
diese Definition vollkommen adoptirt. Herr Diezel mißversteht das nun so, wie
es, beiläufig, ein Theil unserer eignen Partei in Frankfurt mißverstanden hat,
man solle von Frankfurt oder dem sonstigen Centralpunkt des deutschen Staats
über die preußischen Streitkräfte verfügen, und mit ihnen u. a. Preußen selbst
umwerfen. So hat z> B. das Stuttgarter Neichsregiment, um doch mit einem
seltenen Hautgout der Possenhaftigkeit zu schließen, von Stuttgart aus Decrete
an den General Prittwitz erlassen. — Wir meinen dagegen, daß in Preußen
nicht der geringste andere Vorzug vor den übrigen deutschen Staaten liegt, als
seine militärische und anderweitige staatliche Concentration, und wir formuliren
also jene Definition bestimmter Lo : „auf die Regierung Preußens den Einfluß
zu gewinnen, daß sie mit ihrer organisirten Staatsgewalt das Werk der Einigung
Deutschlands ausführe, das von Seiten des nicht organisirten Volks entweder
gar nicht, oder mit der Gefahr einer vorläufigen Wehrlosmachung Deutschlands,
also, wie unsere Lage einmal ist, mit Gefahr unseres vollständigen Untergangs
ausgeführt werden könnte." — Dieses Princip, zu dem sich die politische Partei
n»r allmälig hinarbeitete, haben wir als Kritiker von Anfang an mit Bewußtsein
verfolgt; es ist aber nicht so neu, als Herr Diezel meint: er möge nur die Briefe
von Paul Pfitzer aufschlagen, die in den ersten vierziger Jahren erschienen,
und die ihm als Schwaben doch näher liegen sollten. Es ist vielmehr das klare,
correct ausgesprochene Resultat der Traditionen des gesammten deutscheu Liberalis¬
mus seit 1808. Wenn Herr Diezel dies Princip verwerflich findet, wir haben
nichts dagegen, aber wenigstens kann er uns nicht vorwerfen, daß wir uns im
Unklaren befänden über das, was wir eigentlich wollen. Für uns ist alles, was
Preußens Concentration und Macht erhöht, wie unscheinbar es auch sei, z. B.
der gegenwärtige Parlamentarismus, äußerst wichtig, von den Gegnern müßte es
consequenterweise als verderblich für die Einheit Deutschlands bezeichnet werden,
denn je stärker und concentrirter Preußen ist, desto größern Widerstand wird es
einer unpreußischen Einigung Deutschlands entgegensetzen. Solche consequente
Gegner, die wir in dieser Beziehung achten müssen, gibt es allerdings, z. B.
Herr Wuttke, der bereits 1867 die constitutionelle Centralisirung Preußens
als ein großes Unglück für Deutschland bezeichnete.
Allerdings sind wir 1848 bis 1830 in unsern Anstrengungen, Einfluß ans die
preußische Regierung nach dieser Richtung hin zu gewinnen, gescheitert; möglicher¬
weise durch unsere Fehler, und gegenwärtig stehn wir bei der preußischen Re¬
gierung in nicht viel anderem Credit, als die Demokraten. Worauf gründen sich
also unsere Aussichten? Auch darauf hat der Verfasser der „Realpolitik" richtig
geantwortet: ans die Nothwendigkeit im Verhängniß Preußens. Preußen kann
den besten Willen habe», aus dem Wege, den ihm seine Traditionen und seine
Lage vorschreiben, herauszugehen: es kann es nicht ans die Dauer! Es
mag Hassenpflng zum Premierminister machen, es wird den großdeutschen Re¬
gierungen doch immer verdächtig bleiben, denn es ist ewig in der Lage, sich zu
vergrößern oder unterzugehen. Also unsere Zeit nutz kommen. Nicht wir, die
Männer von Frankfurt, von Berlin, Gotha, Erfurt u. s. w.; noch vielweniger
wir vereinzelten Schriftsteller, auf die gar nichts ankommt, sondern wir, die Partei,
die nicht stirbt, weil sie von einem Princip getragen wird, wir sind Deutschlands
Zukunft. Es kommt uns nicht darauf an, ob Herr Camphausen oder v. Auers-
wald, oder v. Gagern preußische Minister sind; selbst wenn Herr v. Bismark-
Schönhauseu — wer steht für die Ironie der Weltgeschichte! — einmal durch
die Nothwendigkeit der Lage dahin getrieben werden sollte, preußisch zu handeln,
werden wir auf seiner Seite sein.
Herr Diezel meint, wir wünschten die Fusion mit den Demokraten. Wir
haben uns im Gegentheil stets dagegen erklärt, denn wir trauen wenigstens dem
intelligenteren Theil der Demokratie ein Princip zu, ein Princip, das von dem
unsrigen abweicht. Aber wir haben eine loyale Haltung der Parteien gewünscht,
einen neutralen Boden, auf dem man sich verstehen könnte. Das geschieht nur,
wenn wir die Aufmerksamkeit von den Personen auf die Sache leiten. Es ist
sehr löblich von Herrn Diezel, wenn er seine Parteigenossen darauf aufmerksam
macht, daß wir mit England näher verwandt sind als mit Frankreich, daß wir
aus der englischen Staatseulwickelung mehr lernen können als aus der franzö¬
sischen. Für uns ist das freilich nichts Neues, wir haben es seit Jahren gewußt
und verfochten.*) Aber Herr Diezel fehlt dadurch, daß er fortwährend die Auf¬
merksamkeit wieder von deu Sachen auf die Personen lenkt, und dabei einen
»»gezogenen und renommirenden Ton anschlägt, der seit einigen Jahren glücklicher¬
weise in Vergessenheit gerathen war. Abgesehen vou seiner Geschmacklosigkeit ist
dieser Ton auch störend für die politische Entwickelung, weil er das Parteileben
in unfruchtbare persönliche Reibungen herabdräugt.
— In Pompeji hat man kürzlich eine bemalte kollossale
männliche Marmorstatue entdeckt, bei welcher die Farben noch ganz gut erhalten sind;
ein sehr wichtiger, und belehrender Fund sür die Kenntniß der Anwendung der Malerei
aus die bildende Kunst im Alterthum. Die Ausgrabungen in Herculanum werden
regelmäßig, wie in Pompeji, nur in weit geringerem Umfange fortgesetzt, wobei in
architektonischer Hinsicht wieder manche interessante Gegenstände zum Vorschein gekommen
sind. —
Für den Kölner Dombau sind vom 1. Januar bis 31. August d. I. 28,000 Thlr.
eingegangen. —
Prof. Kiß in Berlin führt das Denkmal des verstorbenen Herzog Franz Ludwig
für Dessau aus. —
Das deutsche Kunstblatt enthält einen kurzen, aber interessanten Artikel über
das Verhältniß der Münchner zu den Düsseldorfern. „Sowenig die Natur am Nieder-
rhein bietet, so ist auf sie der Künstler doch fast ausschließlich angewiesen. Aber es
sind nicht Formen aus irgend einem Reich der Natur, die er studiren könnte; es ist
mehr der Himmel als die Erde, und das Wechselverhältniß zwischen beiden, woraus
er die Aufmerksamkeit zu richten hat. Die wenigen Gegenstände, die sich dort bieten,
werden nur interessant durch das Licht, in dem sie erscheinen. . . . Während auf
Bildern aus andern Schulen die Luft nicht selten ganz fehlt, findet man auf Gemälden
vom Niederrhein die geheimsten Bedingungen derselben gewürdigt und die feinsten Wir¬
kungen wiedergegeben .... Der baierische Künstler zieht in die Alpen oder nach Italien.
Da findet er mehr Veranlassung zu zeichnen als zu malen u. s. w." — „Während
man in München einem Ideale nachstrebt.. das, wie es erhebt und fördert, doch auch
das Bewußtsein niederdrückt, schöpft man in Düsseldorf ausschließlich aus den Quellen
der Natur..die Düsseldorfer decken allen Schaden mit ihrer wunderbaren Farbentechnik
zu. Sie hüllen ihre Person in eine wahre Zauberet von Licht und Lust und Dust,
während die Münchner ihre Poesie allzu nackt darstellen." —
— Wir haben zufällig ein altes Liederheft aus dem Jahre
18i2 ausfindig gemacht, welches unter dem Titel: Gedichte von I. Georg Karl Anton
Herr, Doctor der Philosophie und Pfarrer, eine poetische Beschreibung der Leipziger
Messe enthält. Wir haben in der ganzen Literatur «och nichts Aehnliches gesunden,
und es wäre eine unverzeihliche Sünde gegen den Gott der Heiterkeit, wenn wir unsern
Lesern nicht wenigstens einiges daraus mittheilen wollten, obgleich eS eigentlich verdiente,
vollständig der Unsterblichkeit aufbewahrt zu werden. Es besteht aus hundert QnatrainS.
3. Volk zwirbelt, wie Fluten an Gestad's Brandung,
Zur Tief sich wälzend im schlagenden Umschwung,
Ruhe und beschimpft's, grüßt und zankt's, herze und fluchet,
Schwarzlockig das Mädchen den Liebsten suchet.4- Der Worm' Ton bomben Glocken von Domthürmen,
Der Kanon' Grüß haltend rolln, gleich Kriegsstürmen,
Donner durchsaust polternd süße Accorde,
Der Gesang' Jubel hebt zur Himmelspforte.L. Des Bacchus Geschenk kommt auf hohem Wagen.
Wild Volksstürm' der Welt Trinkgefäß' beitragen,
Zerstoßen wogt's auf goldgeschmückte Haare,
Käufer fliehn schöner Jungfrau Seideuwaarc.9. Neu' Geläut vermählt sich mit Donncrjubel,
Vor Freud' zwirbeln Leut', wie der Scylla Strudel,
Vor hohen Wagen muthig die Roß' wiehern,
Gezügclt wird ihr Stolz, wissen's, wen sie führen.10. Masken elln, wie sturmgepeitschte Ameise»,
Laufen geschreckt, wohin sie die Wind' weisen,
Ein Schneider wüthet: „Fluch der Flcischabgabe,"
Der Herr nickt, daß der Will' die Volksmeng' labe.
-II. Auf Markes Mill' Unglücksfall' viel Stimmen künden,
Viel der Stand' Eck' und Buden Dächer finden,
Hodl Gepolter holpert rollend Holzes Sturz,
Flinken Diebs Hand kommt cinränmend nicht zu kurz.13. Knöcherner Anwalt flucht, weg ist Beutelzopf.
Der flinken Scheer' Raub pfusche ihn an Pachters Kopf,
An Bauch gehaun haucht grausam Laut der Fischmann,
Der geschoben Rosses Huf nicht weichen kaun.1ö. Aus Wagens Dunkeln schaun Jungfraun mit Schleiern,
Die Grazien uns der Lieb' Glut anfeuern,
Viel Kriegssturm Eutflohne und der Schlacht Geschick,
Liebkosend', Zopf lüftend, schmeicheln sanfte Blick'.18. Wie Flut die Landznng' beleckt und wieder flieht,
strömend der schönen Schwarm köstliche Schatz' sieht,
Busens Berg' bergen schöner Venus Flammen,
Zünder Amors Küß' zwei Gluten zusammen.Jg. Schön Liebchen kommt aus Hauses rother Pfort' dort,
schenkt der Seel' Lieb', jagt langer Stadt Freyer fort.
Der Lieb' Zauber soll der Dichtung gelingen,
Daß Hymens roh'ge Kränze es umschlingen.22. Volks wild Drängen wälzt nach dein Tanz der Schenke. ,
Seht's Braten fressend, einschlürft's schanmvoll den Wein,
Weg ist der Erdcuplag und des Mangels Schein,
Lachend sagt der Pnrvurmnnd der Lieb' Schwcinke.23. Vom Doctor glänzt goldgefaßtes Augenpaar,
Vom Haupt wallt der Ahnen schöngeiocktes Haar,
Im Saal hebt der Sporn' hell Klingeln Witzeswort',
Liebchen fliegt flüchtig flinke Flankeutänz' fort.Sö. Der Seel' Schaam birgt eilig der Kutsch dunkler Raum,
Vermagst holden Gesichts Reiz zu schreiben kaum,
Schöne der Kleider Pracht, umdunkelt Demants Schmuck,
Des Himmels Nymphe gibt Lebwohl's holden Druck.26. Bart'ger Perser eilt zum Kampf in Sturm's Gebrans,
Der kraft'ge Arm reißt wüthend zur Pfort hinaus,
Sich sammelnd zähmt der andre die gewalt'ge Kraft,
Bluts Schaum schlürft gewalt'ger Perser, hingerafft.29. Aus Wogen getaucht, wälzt Gäa Flüß' zu Seen,
schielende Flut läßt nicht Nigers «Silber sehn,
Volk zeigt der tausend Masken Verschiedenheit,
Des Lebens letzte Zweck dar auf die Einheit.31. Sohn' ergötzt schöner Vögel fröhlich Getön,
Der Fisk' Lockton' körnten ans sommer'gen Höh'u;
Ein Trödler höhnt öffnend Thor' zu Gewölben,
Zögere gezöpelt Gespötts köstlich Söhnen.32. Der Krämer, Malers schöne Werk' preisend, anschlägt,
Affen, Bauches Spritz' einsetzend, zur Seba» trägt,
Laut Gelächter schrey» vollhalsig die Schauer:
Schön vergoldet Werk stiehlt ein flinker Gauner.37. Der Harf' Klang' durchschallen Sapphos Gesänge,
Tobender Meng' kürzend der Zeiten Länge,
Locken losen Amor von Olymps Höhen,
Süßer Lieb' Worm' soll Harmonie unttrönen.i>3. Faust' mischen sich wild /Wagend von Markes Leuten,
Schrieb's zur schwarzen Tafel der Parze Kreiden,
Mannstrnnknes Stolpern stürzt Fleischbud' noch kühner,
Während der Knab' Weib wirst gebratne Hühner.
öl. Grob nnnpelnd Gepolter Klumpen dnrchplnmpet,
Unser munter Ohr sumsend hurtig brummet,
Trnppencinschluß umfängt hundert, die weilen,
Gestoßen wilden Volks Vortruppen eilen.!>7. Großpohlcns Fohlen durchkollcrt Noßstalls Sand,
Stürzt ab, gezügelt von kühnen Schützers Hand,
Muthvoll kräht die Mutter, kennt der Scythen Kampf,
Winkt die Trompet', sucht sie der Feuerschlund Dampf.61. Wie der Flaum' Dampf steigt der Windstoß Staub zu Hohn,
Hülle Schlachtreihn, Argus Äugeuheer kann nicht sehn,
Zerschmettert Wagen prasseln, viel hinfallen,
Gefahr bringt's, ans Winkeln hcrvorzuwallen.6S. Dieb' suchen, wie Hund' Hase», Fund' in Taschen,
Leiser Füß' Zehen schleichend Gold erhaschen,
Finger hebend, zwei Mordgeschicht' vorlesen,
Kehren der Tahas' Tücher aus, wie Skild' der Besen.6ü. In taub'ge Hüte' führ'» Laut' Bratengerichte,
Volllock'ge Dirn' eilt, daß sie Mahl anrichte,
Die Pillen den hochleiv'gen Prasser leeren,
Zwei Brocken einzustecken, sich umkehren.
— Thiere und Mensche». Ein Bilderbuch für große Leute,
mit Zeichnungen von C. Reinhardt. -I. Heft: Enten 1 — 12. Hamburg, Vogler.—
Die Figuren der verschiedenen Enten, der Ascendenten, Clienten. Concurrenten, Kon¬
sumenten und Producenten, Studenten u. s. w. sind recht humoristisch durchgeführt.—
Der Gesellschafter. Ein nützlicher und unterhaltender oldenburgischer Haus¬
kalender auf das Jahr 1834. Oldenburg, Stalliug.— Dieser Kalender unterscheidet sich
von allen, die wir sonst kennen, durch eine directe Beziehung zu der Landschaft, für die
er bestimmt ist. Die Auswahl der Erzählungen, Belehrungen. Sprichwörter, Gedichte u. f. w.
ist sehr verständig und zeugt auch von einem guten sittlichen Sir». Zwei größere Ab¬
handlungen sind uns wegen ihrer vortrefflichen Ausführung aufgefallen: die Eindeichung
des Friedrich-Augusten-Grodens, und die Besetzung Jevcrs durch die Holländer.
— Das neueste Heft des „Jllustrirten Familien¬
buchs, herausgegeben vom Oestreichischen Lloyd", enthält u. a. zwei Novellen von
Paul Heyse und Eduard Mautner. — Als ein ähnliches Unternehmen erwähnen
wir das Bremer Sonntagsblatt. Es enthält in den Heften vom April bis
Juni u. a.: Einen Vortrag von Nie. Del ins über das englische Theaterwesen zu
Shakespeares Zeit; das Passionsspiel in Oberammergau von Sägelken; Landschasts-
lnlder von E. Willkomm; eine Beurtheilung Tiecks vou Nuperti; Beiträge zur
Geschichte der Düsseldorfer Malerschule von Wolsgcing Müller. Das Feuilleton ist
sehr zweckmäßig eingerichtet. —
Auf das im October beginnende IV. Quartal der „Grenz¬
boten" nehmen alle Buch Handlungen und Postämter Be¬
stellungen zur, und erlaubt sich die untUzeichnete Verlagshandlung zum
geneigten Abonnement einzuladen.
Fr. Lndw. Herbig in Leipzig.
Die dänische Sprache hat das zweifelhafte Unglück, über den Bereich ihrer
Inseln hinaus nicht verstanden zu werden; nnr in unvollkommener Weise kann
daher in der Regel die deutsche Presse die dänischen Verhältnisse porträtiren.
Für Dänemark ist Kopenhagen, was Paris für Frankreich war; alles concentrirt
sich dort: Regierung, Militär, Kunst, Wissenschaft, Patriotismus, Fanatismus.
Auf seinen Reisen, in seinen politischen Betrachtungen, seinen poetischen Ergüssen
ist Kopenhagen dem Dänen der Maßstab, mit dem alles gemessen wird; er liebt
sein Vaterland, vergöttert seine Residenzstadt. Diese engbegrenzte aber kräftige
Sympathie hat ihre Vorzüge und ist für jeden begreiflich, der das frische, be¬
wegte Leben der Hauptstadt kennt, die schone Naturumgebung, den Völkerverkehr,
welchen die See heranführt, das oft leichtfertige, ungebundene, der ganzen Be¬
iladung, vermischt mit einem derben Seemanushumor. Von Kopenhagen geht die
Stimmung über die dänischen Inseln in einflußreicher Wirkung und Anerkennung
vornämlich der Kundgebungen der Presse. Vor dem letzten Kriege war alles
dies im Volke gesteigert durch skandinavische Auhäugigkeiteu des jungen Däne¬
mark, Hohn über Deutschlands, „des großen Vaterlandes" Zerrissenheit, und
Abneigung gegen das Deutschthum, dessen Fehler schon Holberg in seinen
Komödien travestirte. Unmittelbar nach dem Kriege belebte ein Grundton alle
Gemüther: Stolz, daß das kleine Dänemark das große Deutschland besiegt
habe! In neuester Zeit tritt hierin ein Mißlaut hervor. Der Däne haßt den
Deutschen, aber er fürchtet ihn zugleich. Lange haben Deutsche in Dänemark
die Staatsgeschäfte beherrscht. Es gab Zeiten, in denen die deutsche Sprache
im Geschäft wie bei Hofe die alleinherrschende war. Kunst, Wissenschaft, all¬
gemeine Bildung trat, seitdem die isländische graue Gans nicht mehr schmackhaft,
von Deutschland hinein; Dänemark hat keinen Dichter, keinen Gelehrten, der
nicht auf deutscher Grundlage sich entwickelt hätte. Während unter König
Friedrich VI. alle Politik der Gegensätze zwischen dem Königreich und den Herzog-
thümern im tiefen Schlafe lag und erst -1834 mit den Provinzialständen leise zu
erwachen begann, bildete in dem kurzen Verlaufe der Regierung Christian VIII.
im schroffsten Gegensatze in denselben Provinzialständen und in beiden Nationa¬
litäten die Eidcrmanie sich aus und der Schleswig-Holsteinismus; indessen noch
unter dem jetzigen Könige Friedrich VII. ragten deutsche Personen und Ideen
hervor, im Staatsrecht wie in der Diplomatie. Sie mußten der Märzrevolution
das Feld räumen, die für die Incorporation Schleswigs das deutsche Bundesland
Holstein preisgab, um radical alles und jeden deutschen Einflusses sich zu ent-
ledigen. Die Besorgnisse vor dem norddeutschen Übergewichte schwiegen, solange
der Siegesrausch andauerte über den Jdstädter Zufall; in den langgedehnten
Betrachtungen, die der Friede gestattet, tauchen solche wiederum auf. Der Däne
ist von der Angst gepackt, die Frucht des dreijährigen Kampfes sich unbemerkt
aus den Händen gewunden zu sehen. Obgleich der Name Schleswig-Holstein
verschwunden, die Erinnerung <in das stammverwandte Land strafbar geworden
und alle Häupter der Erhebung gleich den Mohnköpfen des Tarquinius abgeschlagen
worden, schleicht in Kopenhagen der Argwohn einher: der Schleswig-Holsteinismus
werde doch endlich wiederum siegen und in dem beabsichtigten Gesammtstaate des
Terrains vollständig sich bemeistern. Anlaß zu diesem Gedanken, der dem Urdänen
furchtbar, ist gegeben. Der Thronfolger mußte, wie im Jahre 1448, wieder ans
einem deutschen Hanse gewählt werden, das alte 200jährige dänische Königsgesetz
untergehen, die weibliche Erbfolge der ausschließlich männlichen Succcsstonsord-
nung der Herzogtümer weiche», und das dänische Grundgesetz, ein ausgeartetes
Kind des Jahres -1849, soll gegenwärtig einer Mischung Platz machen, die dem
deutschen Schleswig-Holstciner das verfassungsmäßige Recht verleihen wird, auch
in dänischen Dingen unbehindert das Wort zu nehmen und nach den Umständen
durch seine Stimme den Ausschlag zu geben. Bereits einige achtzig Jahre, seit
Struensee, ist die Presse in Dänemark ungebunden gleich der englischen und
nordamerikanischen und fest gewurzelt in der Neigung des Volks, von jeher hat
sie die öffentlich Meinung beherrscht und natürlich zeigten vor allen die Kopen-
hagener Tageblätter sich als die dominirenden. Gegenwärtig ergießen sie sich in
eine Flut von Schmähungen und ein Heer von bildlichen Darstellungen, welche
alle warnen sollen vor der Eroberung durch Schleswig-Holstein, und zugleich
die tiefe Empfindung der neuesten Abhängigkeit von Se. Petersburg verherrlichen.
Einige Belege, die vor uns liegen, mögen dies bestätigen. Zwar hat das
Ministerium in den Debatten des Reichstags wiederholt erklärt: Nie und zu
keiner Zeit habe die dänische Gesammtmonarchie enggeschlossener und fester da¬
gestanden und vom Schleswig-Holsteinismus könne keine Rede mehr sein, der sei
todt für immer! Deutschland habe die bitteren Pillen schlucken müssen, daß der
Bnndesbeschlnß vom -17. September -1846, der durch Holstein ein Anrecht
Deutschlands auf Schleswig behauptete, und die von Dänemark anerkannte Ge¬
meinsamkeit aller öffentlichen Rechtsverhältnisse der Herzogthümer bestätigte, weg¬
fällig geworden, und dazu die neue Thronfolgcordnung, die im deutsche» Erbrechte
begründete Möglichkeit vernichte, die Herzogthümer selbstständig und vereinigt von
Dänemark abgelöst z» sehen. — Wahr ist es, jene Möglichkeit schwindet bei der der-
einstigen Thronbesteigung des unberechtigten Prinzen; von eiuer Selbstständigkeit der
Herzogthümer, die 1848 laut verkündet wurde, findet sich keine Spur mehr; die sünf-
hundertjährige Vereinigung beider Lande, von König zu König bestätigt, auch von dem
jetzt regierenden, ward völlig zerrissen! Zur Abwehr deutscher Eindringlinge, welche
Gefahr bringen möchten, ist die holsteinische Grenze militärisch und polizeilich
aufs strengste bewacht, der für verdächtig gehaltenen Eisenbahndirection die
Polizeiausübung an der Grenze entzogen; 3000 Mann Dänen müssen Holstein, 2600
dänische Soldaten Schleswig besetzt halten, obgleich kein Land in Europa tiefere
Ruhe zeigt, als die Herzogtümer; alle deutsche Mannschaft ist nach Dänemark
verlegt, fast alle Post- und Zollbeamtenstellen in beiden Herzogthümern werden
von Dänen verwaltet. Mehr als zweihunderttausend Schleswigern wird in Kirche
und Schule die dänische Sprache aufgezwungen; die Kinder müssen anders beten,
als die Eltern, und die Väter finden kein Verständniß für ihre deutsche Beichte
und den letzten Willen; wer sich des dänischen Kirchenbesuchs enthält, wird mit
Execution belegt oder mit Prügel bedroht. Dennoch stehen die Kirchen leer!
Sogar aus Kopenhagen werden Privatnnterrichtsaustalten für Kiuder deutscher
Familien, von Deutschen geleitet, ausgetrieben. Dem Bremer Kirchentage ward
aus seine Jntercessivn für die fchleswigfche Kirche vom Ministerium erwidert:
Schleswig gehöre nicht zu Deutschland und Klagen über die kirchlichen Zustande
seien nicht vorgekommen. So wahr das erstere, so falsch das letztere; unmittelbar
vorher war eine beschwerdeführende Deputation ans dem südlichen Schleswig
in Kopenhagen gewesen! Das deutsch-dänische Seminar Tondern im nordwest¬
lichen Schleswig wird in ein ausschließlich dänisches verwandelt, gegen die
Bestimmungen der testamentarischer Stiftungsacte. Nicht die landesübliche deutsche
Münzart darf in den Schulen gelehrt werden; die dänische Reichsbankgeldberech-
nnng ist als Zwangsunterricht vorgeschrieben und das alte Schleswig-holsteinische
privilegienmäßige Conrantgeld, ,,was in Hamburg und Lübeck gilt", den Haupt¬
städten der Herzogthümer, gänzlich abgeschafft. Ans der Münze zu Altona
werden schon die Reichsbankschillinge wieder geprägt, wofür eine Waare nicht
vorhanden; den Kindern wurden sie als Spielpfennige gegeben; ans einem an¬
gesammelten Haufen dieser unbrauchbaren Kupfermünze ist dem Hermann im Teuto-
burger Walde ein Arm erwachsen. Die Kassenscheine werden ersetzt durch Noten der
Kopenhagener Nationalbank, die schon früher auf Kosten der Herzogthümer einen
enormen Gewinn gemacht und mit deutschen Gelde dänische Banknoten einlöst.
Der Krieg hemmte die Anssaugungen der in Flensburg errichteten Filialbank,
die gegenwärtig ihre Operationen erneuert hat, während den Herzogthümern die
längst ersehnte eigene Bank beharrlich versagt wird. Der preußische Thaler
hatte bis hoch in Jütland hinein sich Bahn gebrochen; er ist über die Elbe hin¬
ausgejagt, gleich einem Sünder, schon wegen des Brustbildes. Deutschen
Zeitungen wird Schleswig abgesperrt, Holstein theilweise nicht minder; die
Wochenblätter der Städte verboten, die Buchdruckereien geschlossen, Intelligenz
und Bildung soll im unnatürlichen Laufe vom Norden herabströmen. Die
Patrimonialgerichte der adeligen Güter in Schleswig sind im Wege des Privi¬
legienbruchs aufgehoben, in beiden Herzogthümern die Grundsteuern verdoppelt,
die Zollsteuer mit bisher für unmäßig gehaltenen dänischen Tarifsätzen an die
holsteinische Grenze verlegt, zum Jubel der schwarzer der blühenden Stadt Mona
die Gcwerbsprivilegien entzogen, die Branntweinsteuer eingeführt; die 1830
aufgehobene Stempelpapierabgabe wird erneuert. — Der Kanal zwischen Nord-
uud Ostsee, seit 1780 Schleswig-holsteinischer genannt, sieht erstaunt steh umgetauft
in Eider-Kanal, mit einem Tarif, der ihn veröden, die Passagen durch den
Sund bevölkern und den Tribut deutscher Schiffe an dänischen Zollkassen erhöhen
wird. Entschieden gegen die Zusagen, welche 1832 dem deutschen Bunde gemacht
worden, ist alles dies und mehr noch geschehen, ohne die wiederhergestellten
Provinzialstände auch nur zu fragen! In Schleswig steht der Däne der Kirche
vor, der Schule, der Justiz, der Verwaltung; berüchtigte, zum Theil dem Straf¬
gesetze durch richterliches Erkenntniß schon verfallene Beamte regieren das Land;
abgesetzt sind, bis auf 12, alle deutschen Justizbeamte des HerzogthuMs, die
Mitglieder des Obergerichts, alle Oberbeamte, alle Bürgermeister; hundert
Geistliche, zwei Superintendenten, die meisten Pröpste, eine große Anzahl Lehrer
an Gelehrten- und Volksschulen! unter allen diesen Männern ist kein einziger,
dessen Ruf mit einem Flecken behaftet wäre. Das Vermögen der Hcbnngs-
bcamten, welche die Steuern in die Landeshanptkasse zu Rendsburg abgeliefert
haben, wird confiscire, Haus und Hof verkauft, die Caution eingezogen; die
Advocaten sind massenweise ausgetrieben, die angesehensten Professoren der Kieler
Universät brodlos gemacht, die Anleihe beider Herzogthümer mit einem Feder¬
striche des dänischen Finanzministers vernichtet; 20 Millionen Mark oder 8 Mill.
Thaler pr. Cre.! und zahllose Familien um einen Theil des Ihrigen gebracht, dia¬
metral gegen die Proclamation der Bundescommissare vom 1. Februar 1831,
welche Privatrechten ausdrücklich Sicherstellung verheißt, und obgleich auch der
landesherrliche Commissär zur Verzinsung der Anleihen seine Zustimmung gegeben
hatte. Ans die preußische Intervention erwiderte Dänemark: „man habe nichts
Anderes gethan, als waspreußischerseits in Bezug aus die westphälische Zwangsanleihe
geschehen sei. Das gesammte Kriegsmaterial ist nach Kopenhagen geschleppt, zum
Werth von vielen Millionen; die dänischen Arsenale sind bereichert durch diese Beute
um 627 Festnngsgeschütze, 118 Feldgeschütze, 34810 Schießwaffen, 42660 Säbel,
4612 Centner loses Pulver, 144,220 Stück Voll- und Hohlgeschvsse, Kartätschen ze.
93500 Stück fertige Geschütz-Munition, 13,703,760 Stück fertige Munition fürKlein-
gcwehre, 10 Mill. Zündhütchen, 413,000 Stück große Mvntirungsstncke, 181,800
Stück Lederzeug, 17900 Stück Reitgeschirre, 22135 Paar kleine MontirungSstücke,
20800 Decken, 23990 Ellen unverarbeitetes Materiel, außer den erforderlichen Fuhr¬
werken, Affutagen, Gewehrreqnisiten, Fcuerwerksgegenständen, Signalinstrumcuten,
Schanz-, Koch-und Lagcrgeräthen, Pserdcbcklcidung, Artillerie^ und Roßmaterial
für eine schlachtbcrcite Armee von 40000 Mann; noch vor wenig Wochen äußerte
eine Königin aus dem oldenburgischen Hause bei ihrer Anwesenheit in Holstein:
„Ewige Schande, daß die Herzogthümer den Dänen gehören! Hätte ich einen
Sohn, stolz würde ich seiner Dienste in der ruhmwürdigen Schleswig-holsteinschen
Armee mich gefreut haben!" In Kopenhagen wird diese Ansicht nicht getheilt;
keiner, der freiwillig gedient, hat Hoffnung auf Anstellung, und selbst denjenigen,
die durch den Dienst ihrer Militärpflicht genügten, wird jedes Erwerbsmittel,
z. B. Handwerksconcession, abgeschlagen. Die junge, kräftige, im Kriege rühm¬
lich bewährte Schleswig-holsteinsche Flotille entging freilich dem deutschen Verstei-
gerungsjammer; sie liegen im Hafen zu Kopenhagen, die 12 Kanonenböte nebst
einem Schooner und 3 Dampfschiffen, mit 41 Stück Geschütz; gegen 700,000 Thlr.
hat das schwergeprüfte Land für seine Seerüstnng aufgebracht; gar manches Mäd¬
chen, manche Frau außerdem ihr Schmuckkästchen geleert und ihre Kleinodien willig
hergegeben für den Bau von Kanonenböten. Die Festung Rendsburg ist nach
Norden geschleift und in einen Brückenkopf gegen Deutschland verwandelt, dem
solchergestalt gegen den Angriff von Nordwest, in der völlig offenen Weser- und
Elbniedernng nur noch Magdeburg übrig. — Das alte vielhundertjährige Stamm¬
schloß Gottorff wird zu einer Kaserne demolirt; die Pensionen der deutschen Offi¬
ziere sind cassirt; der Versuch, den Rechtsweg zu beschreiten, ward sofort vereitelt
durch eine königliche Verordnung, welche den Gerichten die Annahme der Klage
untersagt. — Die wackern Kämpfer leiden Hunger, oder ernähren sich mit un¬
gewohnten Gewerben; nur einzelne wurden placirt, andere raffte der Gram da¬
hin! Alle Geschäfte der mittleren und höheren Verwaltung concentriren sich wiederum
in Kopenhagen, geleitet von Apostaten oder Böswilligen; wer amtliche Anstellung
begehrt, darf die 20stündige Seereise nicht scheuen, der künftige Land- und See¬
offizier hat in Kopenhagen sich auszubilden; kurz, um alles zusammenzufassen:
statt Schleswig nicht zu incorporiren, ist Holstein mit Schleswig incorporirt worden.
Dennoch wird das dänische Ministerium des Schleswig-Holsteinismus beschuldigt!
Fünvahr, unbegreiflich, wenn man nicht weiß, mit welchen Argusaugen die Kopen-
hagener die Schleswig-holsteinische Zähigkeit beobachten und vor der russischen Erb¬
folge Scheu tragen.
„Der Finanzminister Sponneck", sagt ein Tageblatt, „hat in der Thron¬
folgesache seine Schleswig-holsteinschen Sporen verdient." „Das ist nicht cor-
rect", ruft der Corsar (der dänische Punct), Kladderadatsch), „er hat ein voll¬
ständiges Reitzeug verdient — die Peitsche mitgerechnet." „Der hochverehrte
Finanziüinister," erklärt der Corsar, „bläst etwas in den Reichstag, aber der
Wind kommt von einem fremden Blasebalg," und ein Holzschnitt zeigt einen
Blasebalg mit dem Portrait des Kaisers von Rußland als Knauf oder Handgriff.
Der Premier Oerstedt wird im Holzschnitt, überschrieben: Oerstedt in seinem
Atelier, das dänische Grundgesetz entwerfend, dargestellt, beschäftigt, den Kaiser
von Rußland zu portraitiren, auf der Palette steht: „Russisch Grün und preußisch
Blau." — Ein anderes Bild gibt einen halbentkleideten Dänen, gekrümmt unter
den Hieben der russischen Knute. Zwei Soldaten begegnen sich, auf der Pickel¬
haube des einen steht: „Dänemarks Grundgesetz," auf der des andern: „Die
Preußische Konstitution." „Wie heißt du Kamerad?" fragt der Däne. „Man-
teuffel", „und Du?" Oerstedt! Das ist ja komisch! man sollte daraus schwören,
wir waren Geschwister! Vielleicht sind wir es anch."
Die „fliegende Post" frischt die Erinnerungen auf an des Ministers Bluhme
Verhandlungen über die Erbfolge und verweilt mit Behagen bei seinen Worten:
welche dritte bittere Pille Deutschland zu sich nehmen müsse in der Zusage einer
freien Verfassung für alle Theile der dänischen Monarchie. Hu! sagt der Corsar,
das muß ein schreckliches Gesicht sein, was das Ausland bei dieser Gelegenheit
aufsetzt, und im Holzschnitt sieht man einen Russen, der vor grinsendem Hohn¬
lachen mit aufgerissenem Munde von einem Ohr zum andern fast erstickt. — Das
dänische Königsgesetz steht da als ein fester, unerschütterlicher Thurm, genannt
„das Königshaus"; die neue Erbfolgcordnnng, als eine gebrechliche morsche
Hütte beschrieben: „Oerstedts Hans." „Das projectirte Gesammtstaats-Pla¬
netensystem, erfunden von dem bekannten blinden Astronom Oerstedt," gibt
Holstein den Centralplatz als strahlende Sonne, umkreist vou Schleswig und
Lauenburg halb erhellt, und vou dem ganz verdunkelten Dänemark. — „Zwei
Hvlsteiner mit einigen dänischen Beisitzern regieren die Monarchie," sagt das
„Vaterland", Organ der Eiderdänen. Dasselbe Blatt äußert aus einem, natür¬
lich erdichteten Briefe von Holstein: „Es ist schwierig, die Stimmen des Volks
zu hören, insofern sie hier zu Lande für den Ausdruck der öffentlichen Meinung
gelten soll, nicht als wäre hier in diesem Augenblicke gar keine öffentliche Mei¬
nung — eine solche ist sogar in dem geknnteten Rußland vorhanden — aber sie
äußert sich nicht. Das Werkzeug der öffentlichen Meinung in civilisirten Ländern,
die Presse, ist freilich in einiger Beziehung noch frei in Holstein, aber kein Blatt
wagt es, gradeaus seine ehrliche Meinung zu sagen, aus Furcht vor ähnlichen
Zwangsmaßregeln, wie in dem benachbarten Schleswig an der Tagesordnung
sind; ja die meisten Blätter heucheln eine Meinung, die weder sie noch ihre
Leser theilen. Die barbarische deutsche Erfindung, Entziehung der Concession,
welche in Schleswig so hübsch nachgeahmt wird, macht unsre Tagespresse zur
Lügnerin. Sie repräsentirt nicht die öffentliche Meinung. Wer solche kennen
lernen will, kann sie übrigens auch ohne die Presse vernehmen in den verschiedenen
Volksklassen. Während die Tagespresse kokettirt mit dem Gesammtstaate und
sich ab und zu gesammtstaatliche Correspondenzen von Kopenhagen senden läßt,
will kein Mensch in Holstein den Gesammtstaat, mit Ausnahme einer Handvoll
Beamter. Alle Parteien, — wenn man in dieser Erschlaffungsperiode überhaupt
von Parteien sprechen kann, — sind in diesem Punkte einverstanden; ja selbst
die doctnnären Schleswig-Holsteiner, die von ihrer Lehre heimliche Pflege im
Gesammtstaate erwarten, würden bei ehrlicher Abstimmung gegen den Gesammt-
Staat poliren. Ein anderes Beispiel! Die holsteinische Presse, die wohl weiß,
was sie wagen darf, solange die Gesammtstaatsmacher am Ruder sitzen, geberdet
sich zur großen Lust der Schleswig-Holsteiner gar friedlich gegen die Eiderdänen.
Gleichwol hat kein Mensch in Holstein Hehl, daß die Eiderdänen die einzige ver¬
nünftige, politische Partei in Dänemark bilden, denn die wußten doch, was sie
wollten! Bei einem solchen Zustande ist es natürlich, daß man in Dänemark in
den Herzogthümern sich irrt, man vermuthet dort Freunde und findet nur heftige
Gegner, und so umgekehrt."
„Mit der neuen Verfassung, einer octroyirten vierfachen für die Provinzen:
Dänemark, Schleswig, Holstein, Lauenburg und einer fünften für den Gesammt-
staat läßt sich nicht regieren. Natürliche Folge wird der Absolutismus sein",
heißt es an einer andern Stelle.
Der Staatsarchivar Wegener hat gegen die neue Thronfolge geschrieben, ist
angeklagt und freigesprochen; das Ministerium will ihn absetzen. ,, Wir könne«
nicht glauben", ruft die Presse aus, „daß dieser um die dänische Sache so ver¬
diente Mann auf dem Grabe Schleswig-Holsteins geopfert werden soll."
Die „fliegende Post" erzählt: „In einem vertrauliche» Kreise vou Freunden
und Gesinnungsgenossen in der Stadt Schleswig brachte ein eifriger Anhänger
des nun officiell zu Grabe getragenen Schleswig-Holsteinismus einen Toast ans
wegen des moralischen Sieges vom 6. Juli 18i9 — dänischer Ueberfall von
Fridericia — er lautete:
Roth und weiß ist Dänen Pracht.
Wer es trägt, der sei veracht!
Aber blau und weiß und roth,
Schleswig-Holsteins Trost in Noth,
Weht stolz von Gau bis Gau
Gänzlich hin zur Königsau!
Der Mann ist doch so bescheiden, bei der Königsau stehen zu bleiben. Vielen
Dank, Herr Doctor!" „Unsrer hier garnistvnirenden braven Soldaten Stellung,"
meldet ein Artikel von Altona, „ist keineswegs beneidenswert!). Ungeachtet ihres
bescheidenen, anspruchslosen Betragens sind sie stets Gegenstand der Chicanen
und läppischen Foppereien des Altonaer Pöbels, der natürlich nur nach höheren
Jnstructionen handelt; denn leider fehlt es uns nicht an Agitatoren, die heimlich
ihr Spiel treiben. In Wahrheit man muß die Selbstbeherrschung unsrer braven
Jansen bewundern (der dänische Bauer heißt häufig Jans mit Vornamen) diesem
Aufhetzungssystem gegenüber." Eine fernere Nummer empfiehlt dringend die
Vernichtung der Vorrechte des Adels. „„Sollen Königreich nud Herzogtümer
einen wirklichen Gesammtstaat bilden, so läßt es sich nicht verantworten, die Rechte
des Adels zu erhalten, während der Adel des Königreichs die seinigen verloren
hat. Der vollständige Umsturz der Privilegien des Schleswig-holsteinischen Adels
muß erfolgen! Der politische Zustand trägt zwar äußerlich das Gepräge der
Ruhe und Ordnung; dennoch ist die Stimmung bei weitem nicht so, wie man sie
wünschen muß. Wie viele dieser Gesinnungstüchtigen sind nicht noch vor¬
handen, die seiner Zeit mit Hand, Mund und Geldbeutel den Aufruhr unter¬
stützten! Den Beutel halten sie jetzt freilich zu und die Hand, sehen sie ein —
muß bis auf bessere Gelegenheit ruhen; aber ihren Schleswig-holsteinischen Mund
vermögen sie nicht zu schließen; nicht selten wird eine anmaßende Sprache ge¬
führt, grade als ob die schwarz-roth-goldene Fahne noch jetzt herausfordernd
wehe zwischen Königsan und Elbe. Das ruhigste Blut kocht, hört man einen
solchen aufrührerischen Kerl und sieht man die unverschämten höhnenden Blicke,
mit denen er Dänen und Dänischgesinnte betrachtet. Andere haben scheinbar den
Weg der Loyalität eingeschlagen; ihrer Bekehrung ist jedoch nicht zu trauen; sie
sind schlauer als die übrigen und verbergen ihre Gefühle. Oft indessen geht die
Natur über die Erziehung und der aufmerksame Beobachter merkt dann ihre
Antipathie gegen Dänemark und ihr Mißvergnügen über die gesetzliche Regierung.
Vorzugsweise in den vermögenden und intelligenten Classen werden diese offenen
und maskirten Schleswig-Holsteiner gefunden; diese unverbesserlichen Gesinnungs¬
tüchtigen verschließen ihre Augen dem unbestreitbaren Wahrzeichen, daß ihre öko¬
nomische und politische Wohlfahrt blüht und alle Zeit geblüht hat unter der
milden dänischen Regierung, während solche unter der Aufruhrregierung einen
harten Stoß erlitt. Diese verlangte zur Forderung der Privatinteressen ihrer
Mitglieder ein Opfer größer als das andere und brachte Verderben über manche
wohlhabende Familie., Dem Bauernstande dagegen, sind nun meistens die Angen
aufgegangen, er betrachtet den Aufruhr in seinem rechten Lichte, ist wohlgesinnt
und freut sich der Segnungen des gegenwärtigen Regiments.""
Der Corsar liefert noch folgende Bilder: ein langbehaarter, bärtiger, be-
spornter Holsteiner mit einem kleinen Lauenburgischen Knaben im Arme, sitzt auf
deu Schultern eines Schleswigers, beide auf denen des dänischen Michel, den sie
zu Boden drücken. Die Erklärung lautet: „das alte kindische Oersted hat ja das
neue dänische Grundgesetz versaßt; daraus kann man schließen, wie die Gesammts-
staatsverfassnng aussehen. wird." "
Der neue „Prinz von Dänemark" findet keine Gnade. Unter der Bezeich¬
nung: „die Familie Hamlet" ist der Prinz Christian von Glücksburg gezeichnet
als jubelnder Kieler Student und Schleswig-Holsteiner; seine Schwägerin, Prin¬
zessin Auguste von Hessen, und der Schwiegervater, Landgraf Wilhelm von Hesse»,
als Caricatureu mit bösartige» Ausfällen gegen ihr Privatleben. ,
Der Gesammtstaat wird abgebildet als ein zusammenstürzendes Baugerüste,
Oerstedt unter seinen Trümmern begrabend; Unterschrift: .„aufgeführt 1863,"
„eingestürzt 18ö?"
Doch genug dieser Blumenlese, sie ist nicht wohldnftend, gibt aber treu
und wahr den Dänen in seiner erregten, ängstlichen Schwäche des bösen Ge¬
wissens, in der klaren Ueberzeugung der Verwirrung und Unhaltbarkeit seiner
jetzigen und künftigen Zustände, in seiner „fratzenhaften Eitelkeit", seineu
kommunistischen Wühlereien, dem sehr verständlichen Mangel alles Vertrauens
zu einer Regierung, deren Grundlagen des NcchtSbodcnö entbehren, welche die
Legitimität vom Throne gestoßen und die im Innern in den verschiedensten natio¬
nalen Spaltungen auseinandergeht. — Nur in einer Richtung waren alle ihre
Mitglieder bisher einig: in der vollendetsten Abhängigkeit von der Presse. Eine
endlose, trübe Flut von Schmähungen gegen einzelne Personen ließe sich noch
den dänischen Blättern entnehmen, wäre die Uebertragung nicht zu widerwärtig.
Die Stadt Kiel ist noch immer der „Hexenkessel, in welchem das Gift gebraut wird,
von Schleswig-Holsteinern des ungetrübtesten, reinsten Wassers!" Der von der
Presse Angefeindete wird, ist er nicht schon früher entlassen oder aus dem Lande
verwiesen, in der Regel sofort seines Amtes entsetzt; die unersättliche Presse for¬
dert ein Opfer nach dem andern und nnr die Verheerungen der Cholerapest,
welche die Cloaken des Schmutzes und der Demoralisation im Innern der
Hauptstadt aufdeckte und die gänzliche Kopflosigkeit und Schwäche der Regierung
offenbarte, wandte die heißhungerige Gier der Presse ab von Schleswig-Holstein
und ließ sie in der verödeten Residenz ihre giftigen Pfeile gegen Polizei- und
Gesundheitsbehörden abschießen. In den Herzogthümern hat die Regierung nur
ein einziges Organ, die Altonaer Zeitung; bezahlt ans der Staatscasse mit 20,000
Reichsbankothaler jährlich, weil Privatabnehmer fehlen, müht es sich ab, die dänischen
Hetzereien zu beschönigen oder die siegreichen Ergebnisse derselben zu rechtfertigen.
Das dänische Ministerium ist uneingedenk des Grundsatzes Machiavellis:
„politische Gegner muß man versöhnen oder vernichten, aber niemals erbittern",
im reichlichsten Maße geschieht letzteres. Die Herzogthümer sind noch lange nicht
genug gestraft! ist das Motto des, gelinde ausgedrückt, — kranken Ministers für
Schleswig, der täglich im Beisein der Dienerschaft sein Gebet verrichtet, und
seines guten Gewissens sich rühmt. Der holstein-lancnburgische Minister, Sohn
eines französischen Emigranten, selbst ohne Vaterland, erleidet in seiner süßlichen
Schwäche und Haltlosigkeit täglich Niederlagen, und brüstet sich seines Muthes,
daß er dennoch im Amte bleibe, sich opfere für das Wohl des Landes; des
Opfers von 7—8000 Thlr. jährlich Salair wird nicht erwähnt. Die dänischen
Minister sind aber Dänen und thun was sie vermögen, um die Herzogthümer zu
danistren; der Kriegs-, der Marine-, der Finanzminister, für das Königreich dem
Reichstag verantwortlich, behandeln die dentschen Lande als ihre Domänen; nnr
dem Könige schulden sie Rechenschaft.---
Europa hat eine für Dänemark und die Herzogthümer gemeinsame
Erbfolge anerkannt! Aus der Basis des europäischen Gleichgewichts baut
diese Erbfolge sich aus; Dänemark soll erhalten werden im Norden, wie die
Türkei im Süden! Die Balance ist aber schon längst verschoben und das ganze
Schwergewicht liegt im Osten; in Europa Rußland, jenseits des Oceans die
Vereinigten Staaten, halten die Wage. Zwischen diesen großen Dimensionen
der Weltmächte ist dem kleinen Dänemark ein Thronfolger gegeben, nicht im
Rechte, sondern im Gebiete der Willkür. Den zunächst Befugten haben Be¬
drohungen mit dänischen Kriegsgerichte wegen Rebellion, — so heißt die ab-
gedrnngene Gegenwehr — mit Confiscation der Güter wegen Felonie — wäh¬
rend der Herzog nie eine Waffe ergriffen — mit Erbansschließung wegen Miß-
heirath — während Sprosse ans solchen Mißheirathen fast in allen Staaten
thronen — zum Verzicht gezwungen und in die Verbannung getrieben. Prinz
Christian von Glücksbnrg, in Dänemark ohne irgend legitimen Anspruch, in den
Herzogthümern erst in entfernter Linie, besteigt den Thron, umgebe» von Prä¬
tendenten mit zweifelhafter Zukunft.
Die russisch-dänischen Beziehungen waren schon in älterer Zeit der innigsten
Art. In den Verhandlungen, denen 1767 die Abtretung des großfürstlichen
Holsteins von Rußland ein Dänemark folgte, ließen die russischen Kommissare
Kilosofow und v. Salldcu zu Protocoll geben: ,,Wir dürfen sagen, daß unsere
allergnädigste Monarchin bei dem scharfen Blick, womit dieselbe den Zusammen¬
hang der Dinge übersteht, ihr größtes Augenmerk darauf gerichtet hat, in dem¬
jenigen Theile von Europa, welcher die nordischen Königreiche bestimmt, eine
beständige Ruhe, eine vollkommene Einigkeit »ut eine dauerhafte Wohlfahrt zu
genießen, zu befestigen, zu erhalten. Die verwegenen Feinde des Königs und
unserer Monarchie werden die russischen Minister nicht länger so schändlich be¬
schuldigen dürfen, daß jemals der frevelhafte Gedanke in ihren Sinn gekommen,
an dem Hofe des Königs von Dänemark dominiren zu wolle»! Die Beherrscher
dieser Erde sind Menschen, wie wir. Keine Pflicht ist heiliger, als die Freund-
schiMpflicht und o! wie glücklich werden Rußland und Dänemark alsdann sein,
wenn die beiderseitige intime Freundschaft selbige weit stärker vereinigt, als alle
Tractate jemals hätten thun können. Alsdann wird von selbst folgen, daß das
politische System vo» Dänemark, sowie es wahrhaftig wahr ist, von dem poli¬
tischen System von Rußland unzertrennlich sei."
Der dänische Graf v. Bernstorff erwiderte: „Jhro Majestät sind nach einer
reifen Untersuchung und Ueberlegung überzeugt, daß das natürliche Interesse
Ihrer Krone mit dem Interesse des russischen Reichs aus das genauste verknüpft
ist und daß die Ruhe, Glückseligkeit und Unabhängigkeit des nördlichen Theils
von Europa, nach menschlicher Vorsicht auf keinen sicherern Grund als auf ein
unbeschränktes nationales EinVerständniß zwischen beide» Souveränen gebaut wer¬
den kaun ")." Däiu'mark büßte 181i Norwegen ein, weil es, diesen Grundsätzen
ungetreu, die russische Politik verlassen hatte; es hätte in den letzten BewegungS-
jahren Schleswig und Holstein verloren, wäre es nicht zurückgekehrt in die Arme
Rußlands, das gegenwärtig ausschließlich „dominirt" in den Dardanellen des
Nordens. Um diese Einigkeit zu befestigen und zu erhalten, hat Christian VIII.
Rußland Erbrechte ans Holstein eingeräumt, welche durch den Erwerb von Ol-
denburg und Delmenhorst für das großfürstliche Holstein vorlängst, 1773, auf¬
gegeben waren, und Rußland im Warschauer Protocolle vom 2i>. Mai (3. Juni)
-I8S-I, sowie im Scparatprotocolle zu London vom 26. April (8. Mai) 1862,
für de» Fall des Aussterbens der männlichen Linie des Prinzen Christian von
Glücksburg sich alle seine Erbrechte an Holstein vorbehalten. Da in dem Lon¬
doner Protocolle vom 8. Mai 18S2, welches die Erbfolge des Prinzen von
Glücksbnrg anerkennt, zugleich die Unteilbarkeit der dänischen Monarchie als ein
Grundsatz des europäischen Völkerrechts von immerwährender Giltigkeit bezeichnet
wird, so ist die Möglichkeit gegeben, daß Nußland nach kurzem Verlauf Däne¬
marks Thron vom Sunde bis zur Elbe besteigt. Die dänische Opposition ans
dem Reichstage und die Presse hat mit allen Waffen gegen die Vorbereitung und
Anbahnung dieser Perspective angekämpft; vergebens! Das Thronfvlgegesetz vom
31. Juli 18S3 verkündet die neue Succession.— Die Herzogthümer sind überall
nicht befragt; Preußen und England, denen die Alleinherrschaft im Ostseebassin,
dem Sünde und der Elbe, ebenso angelegentlich am Herzen liegen sollte, als
dies bei Rußland der Fall ist, haben zugestimmt. Ritter Bunsen erklärte
noch im Jahre I8S0: Die rechte Hand werde er sich abschlagen lassen, ehe er
das Londoner Protocoll unterzeichne; er hat seine Hand behalten, auch nachdem
er das Protocoll unterschriebe». Lord Clarendou begrüßt in der Note vom
20. Mai 18S3 „die Einigkeit und die Vaterlandsliebe, welche die dänische Nation
während der letzten Jahre zur Bewunderung ganz Europas an den Tag gelegt
habe." —
^ Somit ist die erste Voraussetzung der Errichtung eines dänisch-deutschen
Gesammtstaats, die gemeinsame Erbfolge, erreicht. Die zweite, die Bildung der
Gesammtstaatsverfassuug, naht sich der Erfüllung. Vielleicht treten bei dieser
Formation einige größere Schwierigkeiten hervor, weil nicht die äußere, sondern
die innere Politik den Vorsitz einzunehmen hat. Der erste Keim zur Verfassung
ward niedergelegt in dem Vermächtnisse Christian VIII. und am 28. Januar
18i8 veröffentlicht vom Sohne und Nachfolger. „Wir haben beschlossen," heißt
es, „die Verleihung einer Verfassung in allergnädigste Erwägung zu ziehen,
welche die unantastbaren Rechte unserer Krone ebenso sehr als die unserer lie¬
ben Unterthanen sicher zu stellen sich eigne». Durch diese Verfassung, welche
Wir aus freier landesherrlicher Machtvollkommenheit ertheilen werden, wird in
der bestehenden Verbindung der Herzogthümer nichts geändert werden." Die
Aufregung in Kopenhagen stieg nahe an den Höhepunkt; denn die Grundzüge
'''
der Verfassung stellten die Herzogthümer an Zahl wie an Rechten der Vertreter
auf gleiche Linie mit denen des Königreichs; sie ging, wie gegenwärtig kein ehr¬
licher Däne mehr verkennt, in offene Revolution über, als im Februar 1848 der
republikanische Sturm von Paris her seine Wellen auch mich Kopenhagen ent¬
sendet hatte. In den Herzogthümern ward die Gesammtverfassung mit starkem
Mißmuth ausgenommen; man fürchtete allmälige Incorporation der Herzogthü¬
mer, Unersprießlichkeit der Verhandlungen wegen der Verschiedenheit in Sprache,
Sitten und Interesse, und den Einfluß der Residenz auf die dort zu haltende
Versammlung. Der Köder constitutioneller Freiheit, hingeworfen in den ohne¬
hin vieldeutigen Verheißungen: „beschließender Mitwirkung bei Veränderungen
im Steuerwesen und bei der Finanzverwaltung, sowie bei der Erlassung von
Gesetzen, welche die gemeinschaftlichen Angelegenheiten des Königreichs und der
Herzogthümer betreffe»," war nicht lockend genug, um das nationale Gefühl in
den Hintergrund treten zu lassen. Noch loderte die Flamme, welche der offene
Brief von 1846 angefacht hatte; mit der Leidenschaft gegen Dänemark erglühte
die Sehnsucht nach Deutschland; lieber mit den Türken Gemeinschaft als mit den
Dänen! rief der feurige Historiker Droysien aus. — Der König-Herzog legte
seine Erkenntniß der Wichtigkeit des Acts dadurch an den Tag, daß er, nach
Unterzeichnung des Patents vom 28. Januar 1848, die Feder mit den Worten
fallen ließ: „Weg ist das Kvuigsgcsetz; nun wollen wir etwas pusten" (pausi-
reu, Athem schöpfen).— In den Herzogthümern begann man indessen doch, die
erfahrenen Männer zu wählen, welche, achtzehn Schleswig-Holsteiner mit eben¬
soviel Dänen, denen acht Schleswig-Holsteiner und acht Dänen durch königliche
Ernennung zuzugefellen waren, im Monat März in Kopenhagen den Verfassungs-
entwurf prüfen sollten; aber es ward gewählt unter entschiedenem Protest gegen
Anerkennung des Gesammtstaats und gegen das Ausgeben irgend eines Landes¬
rechts. Die Prüfung machte der Monarch selbst entbehrlich; er zerriß am 24. März
18L8 den Gesammtstaat. Inniger und fester als je zuvor durch diesen Staats¬
streich verbunden, gaben die Herzogthümer, unter dem Zuruf von ganz Deutsch¬
land, sich selbst eine Verfassung, am 13. September 1848; sie entsprach den
verbrieften Rechten des Landes und seines Herzogs, und die glücklichen Zeiten
Herzogs Adolphs schienen zurückgegeben aus der Mitte des fünfzehnten Jahrhun¬
derts, vor der Union mit Dänemark. — Die Dänen sprangen aus dem zwei-
hundertjährigen Absolutismus heraus in eine blutrothe demokratische Constitution,
am ö. Juni 1849. — Die Kriegsführung und die Friedensschlüsse — mögen
sie für immer mit tiefem Schweigen bedeckt bleiben! „Die Herzogthümer
dürfen das volle Vertrauen fassen, daß kein wahrhaftes Recht werde gekränkt
werden", verheißt die Olmützer Denkschrift vom 3. December 1850, und die
Bundes-Kommissare bezeichneten am 7ten Januar 18S1 als ihre Ausgabe:
Herstellung eines Zustandes, welcher dem Bunde erlaube, das Recht des
Herzogthums Holstein und das altherkömmlich berechtigte Verhältniß zwischen
Holstein und Schleswig zu wahren. Die vom Bunde eingesetzte Statthalterschaft
übergab am 11. Januar 1861 in würdigster Ruhe dem Bunde das in den
Waffen stehende Land, als ein friedliches, dessen Rechte dem Schutze und dem
Pflichtgefühl des Bundes überantwortend. „Alles wird schon seinen guten Fort¬
gang nehmen," äußerte Fürst Schwarzenberg in Dresden, „und Deutschland das
gute Recht entschieden schützen; jetzt steht die Schleswig-holsteinische Sache rein
da wie Gold!" Nach Jahresfrist ward Land und Recht, Waffen und Schiffe,
der deutsche Bundesstaat Holstein, wehrlos, schutzlos, ohne irgend einen Vorbehalt
oder Garantie an Dänemark ausgeliefert! selbst vou deutscher Seite der bewaffnete
Widerstand Holsteins gegen Dänemark als ein „unberechtigter" gestempelt! Nur ein
einziger Buudesfürst von den vielen, die an diesem Widerstande sich betheiligt,
hat gegen solche Auffassung Verwahrung eingelegt. Der Herzog von Coburg-
Gotha hält treu zu Schleswig-Holstein!
Nachdem ein monströses Verfassnngswerk mit 6 bis 7 Kammern und zwanzig
Ministern für ein Land von zwei Millionen Menschen, von den s. g. Notabeln
als gar zu ungeheuerlich abgelehnt worden, ist eine neue Gesammtsstaatsverfassnng
vom 28. Januar 1832, unter völliger Uebergehung des Bnndesbeschlnsscs vom
17. September 1846, vom Bundestage, als den Gesetzen und Rechten des
Bundes entsprechend, am 29. Juli 1832 mit Stimmenmehrheit anerkannt und
unter Dankbezeugung gegen Preußen und Oestreich, der Beilegung des Streits
zwischen Dänemark und dem deutschen Bunde die definitive Genehmigung er¬
theilt. — Es war ein schweres Stück Arbeit, erzählt die Wiener Zeitung, und
Fürst Schwarzenberg, dem sie zunächst zugewiesen war, hat vollgiltige Ansprüche
auf den Dank der Betheiligten. Doch ward dem Fürsten dieser Ruhm streitig
gemacht. Bei der Revue des von Rendsburg zurückkehrenden 2. Bataillons des
8. Infanterie-Regiments am 20. Februar 1832 spielte die Mustk zu Potsdam
vor dem Könige: Heil dir im Siegeskranz, und die Kreuzzeitung fand sich in
Ur. 36 vom 6. März 1832 zu dem Ausrufe veranlaßt: Nehmen wir Zoll und
Handel, nehmen wir die Presse, nehmen wir die Flotte oder Schleswig-Holstein,
nehmen wir, welche Frage man immer wolle, in welcher von allen hat Preußen
vor Oestreich die Segel gestrichen? und wer sind die Leute, welche Preußen an¬
klagen dürfen, der Ehre Preußens auch nur das Kleinste vergeben zu haben?!
„Das schwere Stück Arbeit" ist jedenfalls nicht unentgeltlich geschehen. Es war
eine Täuschung, wenn im Januar 1831 die feierliche Zusage gegeben wurde: die
Pacificativustruppen sollten nicht als Executionstrnppen einrücken; jetzt wird eine
Forderung von 7,i00,00l) Gulden erhoben von Oestreich, die Holstein zu be¬
zahlen haben wird. — In dem Patent vom 28. Januar 1832 wird Schleswig
von Holstein getrennt, aber die Verbindung der verschiedenen Theile der Monarchie
zu einem wohlgeordneten Ganzen verhießen. Im königl. Staatsrathe steht ein
deutscher Minister unter steter Controle von sieben dänischen; drei derselben für
die Finanzen, die Armee und die Marine verwalten willkürlich in den Herzog-
thümer». An dem festen Willen, das dänische Grundgesetz unverbrüchlich zu
halten, soll nicht gezweifelt werden dürfen: gleichwol wird schon jetzt dessen Auf¬
hebung i» den., wesentlichsten Punkten vorbereitet. Die englische Presse, spectator
und Globe, rufen es in die Welt hinaus: „das dänische neue Grundgesetz ver¬
nichte die verfassungsmäßigen Rechte des Landes! Die Dänen treffe die gerechte
Nemesis für ihre mit Hilfe Rußlands durchgeführte Politik gegen Schleswig-
Holstein; Dänemark trete ein in die Reihe der absoluten Staaten; Nußland
arbeite vor sür seine Succession!" Den Provinzialständcn soll in der Art eine
Entwickelung gegeben werden, daß jedes Herzogthum eine ständische Vertretung
mit beschließender Befugniß erhält. Gesetzentwürfe in dieser Beziehung haben
die Provinzialstände zu begutachten. Das Herzogthum Holstein soll nach den zu
Recht bestehenden Gesetzen regiert werden. — Wie letzteres ausgeführt worden,
wer wußte es nicht? Noch in diesen Tagen haben wiederholt durchaus willkür¬
liche Amtsentsetzungen ehrenwerther holsteinischer Beamten stattgefunden und seitdem
jene Verheißung am 28. Januar 1852 gegeben, ist die gesammte Steuerver-
fassung des Landes eigenbelicbig verändert worden. Freilich sind die Provinzial¬
stände für Schleswig, wie für Holstein, zum ö. October d. I. einberufen worden,
um ihr Gutachten abzugeben über das mittlerweile Geschehene. Allein dem
Halbwegsknndigcu ist es einleuchtend, daß ein Gutachten berathender Provinzial¬
stände ganze Steuersysteme, die bereits in voller Ausführung sich befinden, nicht
wird wieder beseitigen können. — Wie laut auch „das Vaterland" seine Stimme
erhebt: „der alte Trotz der Schleswig-holsteinischen Rebellen erwache schon wieder
und Concessionen von haarsträubender Tragweite würden ihnen gemacht werden",
so bleiben doch die Provinzialstände eine leere Form. Die deutsche Partei hat
zwar auch in Schleswig in den Ständen, aller Einwirkungen der Regierung
ungeachtet, die noch während des Wahlacts Mißliebige zurückgedrängt hat, das
Uebergewicht, indessen es fehlen tüchtige, politische Kräfte. Die dänische Presse
folgert ans dem gleichzeitigen Zusammentreten die Besorgnis), daß der holsteinische
Einfluß sich geltend machen werde in der schleswigschen Versammlung, und das
Ministerium uur den Triumph erleben, die dänische Rcichstagsversammlung unter¬
drückt zu sehen. Bemerkenswert!) ist ein in dieser Veranlassung in die Times ein¬
gerückter offiziöser dänischer Artikel: „Mag die Politik des dänischen Cabinets
richtig oder unrichtig sein, von Rußland ist solche gewiß nicht eingegeben. Der
russische Gesandte in Kopenhagen hat im Gegentheil jede Gelegenheit benutzt,
um seine Mißbilligung des ministeriellen Plans zu erkennen zu geben, weil der¬
selbe geeignet sei, die constitutionelle Regierungsform zu verewigen und solche über
die ganze Monarchie auszudehnen. — In Rußlands Augen ist der jetzige dänische
Reichstag mit allen seinen Mängeln, welche die Keime zu seinem Untergang ent-
halten, unzweifelhaft vorzuziehen einem durch Erfahrung verbesserten Regiment,
das in constitutioneller Form sämmtliche LandeSinteresse» umfaßt."
Werfen wir nun zum Schlusse der unerfreulichen Darstellung einen Blick' ans
die Stimmung in den Herzogtümern und das Loos, welches ihrer in dem Ge-
sammtstaate wartet. Das reiche, begüterte Land mit seinen schönen Buchen, den
gesicherten Ostseehäfen, den fetten Westseemarschen, dem kräftigen Bauernstande
auf geschlossenen Hufen, dem seetüchtigen Matrosen, ist der Stürme gewöhnt;
soweit die Geschichte reicht, zählt sie Kämpfe auf zwischen deu Deutschen und Dänen;
»ur kurze Pausen sind der Ruhe gewidmet. Die junge Mannschaft weiß im Kriege
zu schlagen — sie hat es bewiesen — im Frieden stählt sich der Bursche im
Kampfe mit den westlichen Orkanen, die durch die Fluten die Schirmdeiche des
Landes zu durchbreche» drohen. Das Schicksal hat nun einmal die Herzogtümer
an Dänemark gekettet, sie sollen die Brücke bilden nach dem Norden für deutsche
Sitte und Kultur; abbreche» läßt die Brücke sich nicht, aber seit Jahrhunderten
wird ans derselben gestritten zur Ehre Deutschlands mit wechselndem Glücke.
So bildet auch der gegenwärtige Moment nur einen zeitweiligen Ruhepunkt, dem
eine längere Dauer nicht zu versprechen ist, weil die Grundlagen unnatürliche
und unversöhnliche sind. — Der Schleswig-Hvlsteiner wohnt in dem norddeutsche»
Laude der Geduld und läßt in dieser engbrüstigen Zeit das Unabwendbare mit
der ihm eigenen Unerschütterlichkeit über sich ergehen. Allein er erfreut sich eines
außerordentlich treuen Gedächtnisses, und die Worte Stahls in der ersten preußischen
Kammer bleibe» ihm unvergessen: „Legitime Ansprüche, altverbriefte Gerechtsame
kann ma» nicht niedertreten, ohne dem Rechtsgefühle tiefe Wunden zu schlagen,
welche zu böser Zeit aufbrechen und den Leib verderben. Es ist ein europäisches
Interesse, daß der heilige Kampf für Recht und Legitimität und Königthum gegen
die Revolution nicht das Gepräge erhalte, als wäre er blos ein Kampf für die
Perso» der Fürsten gegen die Personen ihrer Unterthanen; es ist ein europäisches
Interesse, daß nicht die deutsche Gesinnung revvlntionirt werde und dazu gehört,
daß die wirklich begründeten Rechte der Herzogtümer— wie deren
Vorhcuidensei» die Könige von Dänemark selber zugestanden —
deutscherseits aufs vollständigste zur Anerkennung gebracht werden."
Im südlichen und westlichen Schleswig, dem Lande der Friesen, und natür¬
lich in Holstein ist die deutsche Gesinnung lebendiger als je, die Abneigung gegen
Dänemark sehr fest begründet in jedermanns Brust. Nirgends zeigt sich eine
Annäherung an dänische Personen oder Ideen, aller Orten werden beide be¬
hutsam gemieden. Als der Prinz von Däiiemark zu A»fa»g des diesjährigen
Angnstmonats, auf Louiseulaud bei Schleswig sich aushielt, ist ihm kein Besuch
zu Theil geworden, dessen er sich zu freuen vermöchte. Zu nahe lag die Er¬
innerung: „etwas ist faul im Staate Dänemarks." Die Leiden des dreijährigen
Krieges sind verschmerzt, wenn nicht zum Krüppel geschossene Familienglieder
stündlich daran erinnern. Die Kosten — sie betrugen, außer der großen Ein-
quartiruugslast, gegen 40 Millionen Thaler Pr. — wurden im allgemeinen nie
empfunden. Unmittelbar nach Beendigung des Kriegs war oft die Aeußerung
hörbar: erst oben in den Beutel haben wir hineingegriffen! In Holstein gibt es
nicht eine einzige Gemeinde, die nicht, obgleich die Staatsregierung die zur
Deckung der Kriegskosten uegociirten Anleihen cassirt hat, ihren Gläubigern mit
Zins und Capitalabtrag nach wie vor gerecht würde. In Schleswig ist dies
nicht möglich, weil von oben her den Gemeinden verboten worden, ihre Ver¬
pflichtungen zu erfüllen. Während aber der Städter und Landmannn das geistig
und körperlich gepreßte Land in starken Auswanderungen verläßt, da jedem Be¬
ginnen, jedem Aufschwung der dänische Fußtritt zerstörend sich entgegenstemmt,
sitzt der Adel schweigend ans seinen ausgedehnten, wohlbestellten Herrschaften am
Rande der Ostsee, voll Bitterkeit gegen den dänischen Usurpator und trauernd
über die Täuschung durch Deutschland. Nur einmal hat er sich erhoben in einem
Proteste gegen die rücksichtslose Aufhebung verbriefter Rechte; erfolglos! Die
Ritterschaft hätte sich dies vorhersagen können, denn schon -1831 ward vergeblich
gegen die verfassungswidrige Ausschreibung eiuer neuen Grundsteuer zum Belaufe
von 1,200,000 Thlr. Verwahrung eingelegt. In Dänemark gilt schon lange
nicht mehr das Motto: „Die Worte des Fürsten sind und müssen gleich sein
einem Eckstein, auf deu unerschütterliche Wahrheit gebaut wird und der ewig un¬
beweglich bleiben muß", und die Landesprivilegien: „Wir, unsere Erben und
Nachkommen sollen und wolle» auch keine Schätzung oder Bete legen ans die
Einwohner dieser Lande, ohne freundliche Einwilligung und Zulassung, einträchtige
Zustimmung aller Räthe und Mannschaft dieser Lande, geistlicher und weltlicher",
sind zwar auch vom regierenden Könige Friedrich VII. bestätigt, aber nie be¬
achtet. — Die Stadt Flensburg ist durch die Ueberschwemmung mit dänischen
Commanditen fast geknickt im eigenen Handel; ihre zahlreichen Westindienfahrer
liegen, von der Sonnenglut verbrannt, geschäftslos im Hafen. In der alten
Residenzstadt Schleswig herrscht die größte Nahrungslosigkeit und Stille; uur die
dänische Festfeier der Schlacht bei Jdstedt unterbricht die Einförmigkeit; aber nicht
ein Gassenjunge folgt dem rauschenden Zuge der Militärmusik und alle Fenster
bleiben verschlossen. — Deu Dänen beschleicht ein unheimliches Gefühl in dem
deutschen Lande; es werden Versuche gemacht, die „Hartnäckigen, Verstockten"
durch Feste, Bälle auf dänischen Kriegsschiffen und in ähnlicher Weise zu ge¬
winnen; nur spärlich erscheinen die Gäste, Beamte, abhängig von dem Winke der
Gewalthaber. In Kiel tanzt der Deutsche diesseits, der Däne mit seiner Familie
jenseits des Hafens. Die Fruchtlosigkeit der Verlockung hält den König ab, seine
Herzogthümer zu besuchen; man fürchtet die Oede, das Verlassene des königl.
Zuges. Der Kaiser von Oestreich kaun Ungarn durchziehen — wenn dies Land
neben Schleswig-Holstein genannt werden darf — der König von Dänemark
wagt, nach dreijähriger Einstellung aller Feindseligkeiten, noch immer nicht, den
Boden seiner deutschen Erdtaube zu betreten und in dem Herzogsmautel sichzu
zeigen. Ob ihm Gefahr droht? Sicherlich und gewiß nicht! Indessen man
möchte einen Triumphzug, und der würde allerdings durch dumpfes Schweige» sich
vertreten finden. Selbst im Norden von Schleswig ist die Stimmung nicht
dänisch; die Aufhebung des Jagdrechts auf eigenem Grund und Boden hat
verletzt; es wird deu Leuten überhaupt zu viel des DanisirenS, und in dem
neuesten Kirchengebete, worin es unter anderen heißt: „Mache zu Schanden Deine
und seine (des Königs) Feinde, und laß uns ihm (dem König) treu sein, wie er
Dir treu gewesen ist", hat man eine ungeziemende Vermischung göttlicher und
politischer Dinge gefunden.
Die GesammtstaatSverfassnng soll ein Dach bilden für zwei, in ihrem innersten
Wesen, ihren Gefühlen, ihrer Bildung, Rechten, Neigungen, Bedürfnissen, Sitte
und Sprache verschiedene Nationalitäten, die überdem, wol zu merken, an Zahl
der Angehörigen fast gleich sind und vou denen die südliche die Sympathien von
ganz Deutschland noch immer für sich pulsiren weiß. Oder wäre letzterem
nicht so? Geht nach Hannover, Bremen, an den Rhein, nach Baden, Würtem-
berg, Bayern und Franken, Sachsen, Thüringen, Preußen, Mecklenburg, seht die
Vertriebenen, Geächteten, die dort ein Asyl gefunden, fragt das Volk, die Ant¬
wort wird Euch belehren! Die Griechen wurden von den Türken getrennt,
Belgien von Holland, Norwegen hat mit Schweden nur deu König gemeinsam;
Ruhe , wie Befriedigung ist dort dauernd eingetreten. Dänen und Deutsche
sollen gegen alle Geschichte, gegen die neueste blutige Erfahrung unter einer
Verfassung sich scharen und man erwartet ans beiden Seiten ein friedliches
Genügen und Dauer der Vereinigung!
Als unter dem schwankenden, nach beiden Seiten hin listigen und verheißen¬
den König Christian VIII. die ständischen Elemente in Reibung und Feuer geriethen, die
Kopenhagener Regierung blind gegen alle wahre und natürliche Auffassung der
Dinge, eine danisirende Maßregel nach der andern in die Herzogthümer hinein¬
warf, stellten die Provinzialstände, gestützt ans die Landesrechte, immer von neuem
ihre Anträge auf Trennung der Finanzen von denen des Königreichs, beschwerten
sich über Präponderation und forderten Feststellung bestimmter Quoten zu den ge¬
meinsamen Ausgaben. Die Beitragsquotcn sind gegenwärtig bestimmt, nicht etwa
in Gemeinschaft mit den Vertretern der Herzogthümer, sondern einseitig vom dänischen
Reichstage und nach einer willkürlichen Grundlage, der Ausschreibung zum Militär¬
dienste, die von dem Finanzminister sehr vortheilhaft für Dänemark erklärt wurde.
Das Königreich trägt bei drei Fünftheile, die drei Herzogthümer liefern die fehlen¬
den Zweifünftheile. Man nimmt natürlich an zu den gemeinsamen Ausgaben:
Civilliste, Apanagen, Staatsschuld, Armee, Flotte ?c. — Aber nein! außerdem
zu rein localen dänischen Anstalten: zum Museum für nordische Alterthümer in
Kopenhagen, zu Bauten an dem Kopenhagens Zollamte, Armenwesen in Kopen¬
hagen, zu Brücken bei Jjerting, bei Sickeborg, Kirchenbau in Hebron, Irrenhaus,
Wegebesserung — alles in Jütland, Irrenhaus ans Seeland, Wegebesserungen
auf der Insel Bornholm. Die Ausbeutung der deutscheu Lande ist in ein eigen¬
thümliches System gebracht; der Scherz drängt sich ans, wäre die Sache nicht
zu traurig! soll es vielleicht daran erinnern, daß die einzige Gemeinschaftlichkeit,
die für Schleswig-Holstein fast noch geblieben, in dem Irrenhause bei Schles¬
wig repräsentirt wird? und ist es die besondere Fürsorge des Gesammtstaats,
jedenfalls die Irrenhäuser der Monarchie gemeinsam zu machen? Der dänische
Reichstag, der Gemeinschaft mißtrauend, wollte einen Schritt rückwärts machen
und beantragte: etwaige Ueberschüsse des.-Königreichs müßten diesem allein zu
Gute kommen oder dürste» nur dann in die Gesammtkasse fließen, wenn von
den Herzogtümern nach dem Verhältniß zu ^ zu bestimmende Ueberschüsse
ebenfalls abgeliefert würden. Der Finanzminister protestirte gegen diese Kassen¬
trennung; so ist der Same der Zwietracht schon ausgestreut, ehe noch das
Gebäude gerichtet worden.
Die getrennte, seit Herzog Adolphs Zeit zum erstenmal wieder selbstständige
Finanzverwaltung Schleswig-Holsteins während des dreijährigen Krieges, ergab,
obschon Schleswig schon seit Mitte 1869 von den Dänen oder der s. g. Landes-
verwaltung occupirt war, einen jährlichen Ueberschuß, nachdem alle Apanagen an
fürstliche Personen mit sämmtliche Kosten der Kriegführung und Civilverwaltnng,
einschließlich der Verzinsung und Abträge aus die erwachsene Staatsschuld, regel¬
mäßig und prompte berichtigt waren. Der Ueberschuß betrug:
Außerdem hatten die Herzogthümer eine wohlbegründete Forderung an die deut¬
scheu Staaten wegen Verpflegung der Reichstruppen, welche am Schlüsse des
Jahres 1830 sich noch belief auf: V, 122,938 Mk. Cour.
Die gemeinsamen dänischen, Schleswig-Holstein-lanenburgischen Finanzver¬
waltungen dagegen, sind noch nie zum Vortheil der Herzogthümer ausgeschlagen.
In früheren Jahrhunderten fehlte jede Oeffentlichkeit, jedes Urtheil; schon
Christian I., stets wegen Dänemark und dessen Kriege des Geldes bedürftig,
— die Schweden nannten ihn die bodenlose Tasche — umging die Privilegien
und verpfändete den größern Theil des Landes; später erfolgten die unglaublichsten
Verkehrtheiten in Finanz-, Bank- und Handelssachen; eine Steuer jagte die
andere; zuletzt 1802 die Laudsteuer gegen deu Protest der Ritterschaft, die auch
1821 vergebens an den deutsche» Bund sich hinwandte; früher die verhaßte
Kopfsteuer, von der erst durch die Statthalterschaft das Land 18i>8 befreit wurde.
In den kriegerischen Stürmen zu Anfang dieses Jahrhunderts hatte eine verfehlte
Politik, verbunden mit fehlerhafter Finanzverwaltung, die Staatsmaschine an den
Rand des Abgrunds gebracht. Norwegen ward verloren und die ungeheure
Staatsschuld vou 387 Mittönen Rbthlr. (1 Rbthlr. ^ Thlr. Pr.) mußte
reducirt werden. Aus der Papicrschnld von 237 Millionen wurden mit einem
Schlage 3i Millionen gemacht, zur lauge dauernden Beschädigung des Nationalwohl¬
standes. Norwegen hätte bei dem Ausscheiden 21 Millionen übernehmen müssen,
es ward freigelassen mit 10V2 Millionen. Die Herzogtümer waren die Mitleiden¬
den und wurden, gleich dem Königreich, zur Fnndiruug der Reichsbauk mit einer
Steuer von 6 Proc. aller Grundwerthe überzogen; den Steuerpflichtigen des
Königreichs ward indessen sehr bald °/g der Steuer erlassen, und dieser Betrag
von der Staatskasse übernommen; die Herzogthümer steuerten also verhältnißmäßig
mit für die Bankhast des Königreichs. Ein Vergleich vom Jahre 1836 endlich,
zwischen den Finanzen und der dänischen Nationalbank, verletzte abermals die
Herzogthümer aufs empfindlichste; es ist dies die vielbesprochene Zwölfmillionen¬
frage; die Bank erhielt als Eigenthum die Baukhaft der Herzogthümer von
11,888,328 Rbthlr. und die Finanzen übernahmen auf die gemeinsame Staats¬
kasse, mithin unter Zuziehung der Einnahmen aus den Herzogthümern, die Ein¬
lösung von 10,813,000 Rbthlr. dänisches Papiergeld, bezahlten davon sofort
2 Millionen in iprocentigcu sicheren Staatsaktien und verzichteten für alle Zukunft
auf eine Rente von 80,000 Rbthlr.; für den Nest werden jährliche Abträge von
320,000 Rbthlr. bis zum 1. September 1876 geleistet.
Die gemeinsame Staatsschuld belief sich, nach 3S Friedensjahren, am 1. Jan.
1848 auf 10S Millionen Rbthlr. Die Actien betrugen 21'/- Millionen. Wäh¬
rend des Kriegs war die Staatsschuld gestiegen ans 123 Millionen, das Activum
vermindert auf 12Vs Millionen, der Zustand also verschlechtert um 27 Millionen
Rbthlr. Am Schlusse des Jahres 18S2 berechnete sich die Staatsschuld uoch
auf circa 121 Millionen; nächst Holland, England und Oestreich kann Dänemark
der größten Schuld sich rühmen. Die Herzogthümer müssen nun anch in die
neue Schuld eintreten, die in Verbindung mit den ausgezehrten Activen verwendet
ist, um Unrecht an die Stelle des Rechts zu setzen, während die Anleihe der
Herzogthümer, zum großen Schaden der Gemeinden »ut Einzelnen im Inlands,
bei denen sie gemacht worden, für null und nichtig erklärt sind. Die Leistungs-
pflicht ist erhöht, die Leistungsfähigkeit vermindert. Ebensowenig anlockend sind
die jährlichen Budgets uach eingetretenem Frieden, die für Dänemark der Reichs¬
tag votirt, für die Herzogthümer der dänische Finanzminister aufgestellt, ohne sie
zu publiciren. — Nur ans den Protocollen des Reichstags und den veröffent¬
lichten dänischen Budgets fällt ein Licht auf die Sache, und zwar ein sehr grelles.—
Vorher noch die Bemerkung, daß weder die Landesverwaltung in Schleswig,
noch die 1851 zin Holstein fungirende oberste Civilbehörde, je öffentliche
Rechnung abgelegt hat; bekannt ist mir von ersterer, daß sie 1830 die Schles-
wigsche Staatskasse in Kopenhagen ausleerte, von letzterem, daß sie 1851 eine
Anleihe von -I Million Thlr. gemacht, die 1832 zurückbezahlt worden, und daß
außer den gewöhnlichen Steuer eine Grundsteuer von -1,200,000 Thlr.
erhoben wurde.
Das dänische Budget für 1831/52 vom -I. April bis letzten März, das
erste nach dem Kriege, beginnt mit einem Deficit, obgleich eine am 27. Jan.
1851 aufgeschriebene Kriegssteuer veranschlagt ist mit 1,102,000 Nbthlr.
und dadurch die Einnahme sich stellt ans: 1 »,475,479 Nbthlr.
dem Reichstage durchaus keine Schwierigkeit; vom Herzogthum Schleswig stand
ein Ueberschuß von 1V2 Millionen in Aussicht und das Gleichgewicht war herge¬
stellt; nicht auf Kosten Dänemarks! Das Finauzgesetz für 1852/53 berechnet
Zufolge einer allgemeine» Rechnungsablage in der officiösen Berlingischen
Zeitung haben die Einnahmen in 1832/33 in der Wirklichkeit betragen:
Außerdem ist von dem Herzogthum
Schleswig dem Königreiche ein
Die Ausgabe stieg effectiv ans: 19,106,338 Nbthlr.^
Für die Herzogthümer wird eine Rechnungsablage gegeben für 3 Quartale
vom 1. Jan. 1832 bis 31. März 1833,
Sämmtliche Einnahmen der Monarchie beliefen sich demnach ans:
soll nur beschönigt werden dnrch Aufführung der Cassebestäude des vorhergehenden'
Jahres, die angegeben werden für Dänemark: 6,9-10,983 Rbthlr.
Allein so werthvoll Bestände auch immer sind, besonders wenn sie nicht,
wie hinsichtlich Dänemarks theilweise, mit 1,300,000 Rbthlr. der Fall, aus ein¬
zulösenden Staatöschuldscheincn bestehen — so vermögen sie doch die Ueber-
schreitungen des Budgets nicht zu rechtfertigen und lassen hier nur zwei That¬
sachen vermuthen: daß der dänische Cassenbestand aus schleswigschen Kassen seit
1849 entstanden und daß in Holstein im Jahre 1831 besser gewirthschaftet ist,
als unter dem dänischen Regiment im Jahre 1832. Die Sonderung der Kassen-
vestäude ist übrigens nur eine leere Rechnuugssorm; das Geld fallt natürlich alles
in die Kopenhagener Gesammtstaatscasse. Mehr Beruhigung gewährt die Angabe,
daß mit den dänischen Ausgaben 839,000 Nbthlr. mehr, als beabsichtigt war, für
Schuldenabträge verwendet worden, sowie daß für 1,303,000 Nbthlr. Activen
erworben sind, wiewol noch immer ein Deficit von 302,713 Nbthlr. hervortritt.
Das Finanzgesetz für das Königreich für 1833/34, wendet zum ersten Male
die Theorie an, von den-BeitragSquoten von ^/g und ^ für gemeinsame Ausgaben
und gelangt ans diesem Wege bei Aufstellung einer Einnahme:
mit andern Worten: von jetzt an haben die holsteinischen und die laueuburgischeu
Einnahmen dieselbe Route nach Copenhagen einzuschlagen, die für Schleswig
schon seit 1849 hergebracht ist. Das System der Beitragsquoten giebt aber
außerdem, bei näherer Prüfung der Zahlen ganz überraschende Resultate. Man
dürfte annehmen, daß dem Qnotalverhältnisse werde Anwendung gegeben werden,
nicht blos auf gemeinsame Ausgaben, sondern auch auf Einnahmen, die in
die Gemeinschaft fallen. — So ist es auch: aber in welchem Verhältnisse! Durch
Betheiligung mit ^ an gewissen Einnahmen erwächst den Herzogtümern ein
Gewinn von 883,943 Nbthlr.; ihr Beitrag zu den gemeinsamen Ausgaben be¬
trägt: 6,929,314 Rbthlr., oder gegen 7 Millionen Rbthlr.!! Das Budget des
Jahres 1833/34 für die Provinz Dänemark und die gemeinsamen Verhältnisse
der Gesammtmonarchie, steigt demnach, wenn die 2/. hineingelegt werden, in der
Außer jenen 7 Millionen haben dann die Herzogthümer selbstverständlich noch
an den Ausgaben für den gemeinsamen Reichstag sich zu betheiligen und ferner
die Kosten ihrer provinciellen Verwaltung für Justiz, Polizei, Kirche, Schule,
Steuern, Domänen und Forsten mit sammt den Ausgaben für die Kopenhagener
Ministerien für Schleswig u. Holstein, ingleichen Holstein die BnndeSkosten ab¬
gesondert für sich zu tragen, die wenigstens ans 3 Millionen sich belaufen werden,
so daß die drei Herzogthümer, welche vor dem Kriege im Jahre 1847 aufgebracht
haben: 6,372,231 Rbthlr., vermöge des Friedens und des Gesammtstaates zu
leisten haben jährlich gegen 10 Millionen Nbthlr. Das Einnahmebudget des
Gesammtstaals muß anschwellen zu reichlich 24 Millionen, während die Gesammt-
einnahmen der Monarchie 1847 nur auf circa 18 Millionen zu bringen waren
(17,916,164 Rbthlr.). Man sieht, daß die erhöhten Grundsteuern und Zölle
und die Branntweinsteuer nicht planlos in die Herzogthümer eingeführt worden
sind. — Vielleicht wird indessen diese Mittheilung märchenhaft, unglaublich ge¬
funden: Zahlen mögen beweisen, wie das dänische Budget, das vor uns liegt,
solche gibt. Denn der dänische Reichstag und der dänische Minister haben alles
dies beschlossen und das Finanzgesetz enthält, um darzulegen, wie fest die Sache
abgemacht ist, im §. 28 die ausdrückliche Clausel, daß der ^ Beitrag des
Königreichs zu den gemeinsamen Ausgaben nur daun zu bezahlen sei, wenn die
Herzogthümer ihre ^ entrichten. Geschieht letzteres nicht, so fallen Civilliste,
Staatsrath, Armee, Flotte, Diplomatie und Apanagen über den Haufen. In
den Herzogthümern aber ist keine Seele gehört, weder über die Quote, noch über
das, was gemeinsam sein soll, noch über den 7 Millionen-Ertrag der Quote.
Zunächst die Ausgabeutheilung: die Herzogthümer haben beizutragen ^/g!
von 17,421,696 Rbthlr. mit 6,929,614 Rbthlr. Die Theilnahme der Herzogthümer
an den Einnahmen beschränkt sich ans 883,946 Rbthlr. von 2,209,862 Rbthlr.
Man erstaunt über diese Lvweugesellschaft! Sollen denn die Activen systema¬
tisch verzehrt werden, oder läßt die schwebende Schuld, die aus Pupillen- und
Sparkassengeldern besteht, und jeden Augenblick zur Rückzahlung bereit liegen
muß, als eine disponible, bleibende Einnahme sich bezeichnen? Daß die westin¬
dischen Kolonien, welche mit 676,000 Rbthlr. Einnahme und 604,286 Rbthlr. Aus¬
gabe ausgeführt sind und zum öftern bei mißrathenen Ernte gar keine Einnahme
bringen, übergangen worden, mag nicht beklagt werden; Island mit seiner Ein¬
nahme von 27,949 Rbthlr. und einer Ausgabe von 66,743 Nbthlr. kann ebenfalls
entbehrt werden. .Aber die Ueberschüsse von dem Monopol des grönländischen
und färonischen Handels hätten mit 46,000 und 9914 Nbthlrn. zur Theilung ge-
stellt werden müssen; gleiches gilt von der Rubrik: verschiedene Einnahmen —
232,3-10 Nbthlr. Vor allem indessen ließ sich, nach Einführung des überein¬
stimmenden Systems der Zölle und der Brautweiusteuer eine ^-Einnahme erwar¬
ten von dem Ertrage — 4,761,000 Rbthlr. in Dänemark, gegen eine ^-Be¬
theiligung des Königreichs an den gleichen Abgaben der Herzogthümer, im Jahre
1852 — 2,348,200 Rbthlr., wobei die Herzogthümer um '/s Million in Vortheil
gelaugt wären. Ein Gesammtstaat endlich, der eine seiner bedeutendsten, oben¬
drein von Fremden ihm zugebrachten Einnahmequellen, den Sundzoll, mit
2,081,000 Rbthlr. blos zum ausschließlichen Nutzen einer Provinz, des König¬
reichs, fließen läßt, beruht ohne Frage auf einer ungerechten Grundlage. Sollen
die Herzogthümer dagegen Kanal- und Elbzoll für sich behalten, so fällt dies
bei der Unerheblichkeit der Einnahme von höchstens 150,000 Rbthlr. nicht ins
Gewicht! Die ungerechte und karge Zulassung der Herzogthümer zu den Ein¬
nahmen tritt um so stärker hervor, als es notorisch ist, daß vou den Millionen
Ausgaben, die nach Abzug der Zinsen und Abträge ans die Staatsschuld von
den 7 übrig bleiben, wenigstens Vs Kopenhagen oder sonst in Dänemark
consumirt werden. Die Herzogthümer haben nur den Trost, einer theuern Ge-
sammtmonarchie anzugehören, denn freilich ein Staat von 2 Millionen Menschen
mit einem Budget von 24 Millionen Rbthlr. ist eine kostspielige Anstalt. Wird
diese Summe mit dem preußische» Budget von 120 Millionen Rbthlr. für 17 Mill.
Einwohner verglichen, so müßte man in der dänischen Monarchie auf jedenfalls
3^2 Mill. Angehörige schließen. Die großen Ausgaben sind um so auffallender,
als außer den budgetmäßigen, noch Stiftnngs- und privative Fonds zum Capi¬
talbetrage von gegen 11 Millionen Rbthlr. zur Disposition stehen für: Armen-
wesen, gelehrte Schulen, Universität, Akademien und andere öffentliche Bildungs-
anstalten, Brandverflcherungen, Ordeuscapitel :c., welche daher eines Zuschusses
aus der Staatskasse nicht bedürfen. Auch das Kriegsministerium und die Ma¬
rine besitzen separate Fonds, ersteres vou 138,810 Rbthlr. Capital und letztere
von 76,SS0 jährlichem Ertrage. — Die gesteigerten Bedürfnisse der Staatskasse
lassen sich nur erkläre» durch deu großartigen Zuschnitt, der, ungeachtet der Ver¬
kleinerung Dänemarks dnrch große Territorialverluste, stets beibehalten ist, sowie
durch einen uuökonomischen Haushalt. Die Menge der königlichen Schlösser, die
zahlreichen Apanagen, zu denen neuerdings für den Prinzen von Dänemark noch
30,000 Rbthlr. hinzugekommen sind, die Pensionsliste, die Last der Staatsschuld,
Armee, Flotte und Diplomatie, erfordern bereits einen jährlichen Aufwand von
mehr als 16 Millionen Nbthlr. und übersteigen die Kräfte des kleinen Staats,
der füglich Militär- und Schuldenstaat genannt werden könnte.
Nicht allein indessen die finanzielle Gemeinschaft gefährdet die Herzogthümer,
sondern der Gesammtstaat hemmt auch deren innere Entwickelung, indem das Streben
nach Gleichförmigkeit den heterogensten Verhältnissen diesell'e Form aufzwingt
und mir zu Rückschritten in der staatlichen Ausbildung führen kann. Die trau¬
rigen Folgen dieser unnatürlichen Politik haben die Herzogtümer schon unter
Christian VII!. auch ohne Sanction eine gemeinsame Verfolgung fühlen müssen,
und solche werde» künstig uoch sichtlicher hervortreten, wenn die Stimmenzahl der
Vertreter der'Beitragsquote gleichgestellt wird. Im Reichstage ist diese Ungleichheit
schon als ausgemacht angenommen, und die Deutschen werden daher in der Regel
gegen eine Majorität von "/s zu kämpfe» haben. Man wird nicht unterlassen, die
patriarchalischen und soliden Zustände der Herzogthümer durch Einmischungen aus
der demokratischen dänische» Verfassung zu verderben und deutsche Einflüsse der
Intelligenz wie des GemeinstnnS abzuwehren suchen. Schon gegenwärtig geht
die letztere Tendenz soweit, daß nach sehr verständlichen Andentunge» von Kopen¬
hagen die letzte Generalversammlung des Gustav-Adolph-Vereins von schleswig¬
holsteinischen Geistlichen nicht besucht werden durfte. Nur in den allgemeinen
Beziehungen des Handels und Verkehrs ist die Abhängigkeit Dänemarks von
Deutschland entschieden und klar; es kann sich derselben nicht verschließen. Der
Handel der dänischen Provinzialstädte befindet sich fast ausschließlich in den Händen
der Hamburger, die durch weit erstreckte Credite die Abnehmer an sich fesseln.
Der Waarentrausit von Hamburg über Kiel nach Kopenhagen beschränkte sich, ge¬
hemmt durch den Krieg, im Jahre 18S0 auf 764,000 Pfund, im Jahre 18S2
war derselbe bereits auf 9 Millionen Pfund gestiegen. Die holsteinischen Eisen¬
bahnen setzen ihren Lauf fort durch Schleswig bis an die Spitze Jütlands, über
Fühnen und Seeland bis nach Kopenhagen. Die telegraphische Verbindung
zwischen Elbe und Sund ist bereits hergestellt. Ein abermaliger Conflict würde
ganz andere Beförderungsmittel vorfinden, als in den letztverflossenen Jahren vor¬
handen waren. — Ob nun in dem Drama der Gesammtstaatsverfassung, dessen
Eröffmmg wir in kürzester Frist entgegensehen, im Laufe der Zeit der Däne 'ob¬
siegen werde, oder der Deutsche? wer mochte wagen, dies im voraus zu ent¬
scheiden! Die neue Form findet jedenfalls unversöhnte Zustände vor, eher Streit
als Harmonie ist zu erwarten, nud die erste allgemeine Bewegung trifft zwischen
Elbe und Königsan einen wurden Fleck, der bei der leisesten Berührung schmerz¬
haft aufzuckt und nicht im Norden die Heilmittel suchen wird.
Wie dies bestimmt zu deuten, weiß ich nicht,
Allein so viel ich insgesammt erachte,
Vertuudets unserem Staat besondere Währung.
Th. Carlyle über Helden, Heldenverehrung und das Heldenthümliche in der Geschichte.
Sechs Vorlesungen. Deutsch von I. Neuberg. Berlin, Decker. —
Wir hoben uns über Carlyle in einem früheren Artikel ausgesprochen. Er
steht unter allen englischen Schriftstellern dem Geist der deutschen Literatur am
nächsten, und wir finden unsere eigenen Vorzüge und Schwächen auf eine merk¬
würdige Weise bei ihm ausgeprägt wieder. Er besitzt eine Fülle von Geist, aber
es fehlt ihm der bei den Engländern sonst so gewöhnliche common-söiiss, um
dieser Fülle Gestalt und Richtung zu geben. Seine Schriften sind weder Poesie
noch Prosa; zu der ersteren fehlt ihnen die plastische Form, zu der zweiten der
logische, mit einer gewissen Energie fortschreitende Gedankengang. So machen
sie als Ganzes einen unbefriedigender Eindruck, aber im einzelnen enthalten sie
die glänzendsten Einfälle, tiefe und überraschende Gedanken, an denen wir ebenso
unser Gefühl wie unsern Verstand stärken können.
Die gegenwärtigen Vorlesungen wurden im Jahr 48i0 gehalten. Carlyle
hat in denselben seine Lieblingsidee auseinandergesetzt, die sich wie ein rother
Faden durch alle seine Schriften zieht, und die im wesentlichen mit dem „Cultus
des Genius" von Strauß übereinkommt. Er schildert das Wesen der Religion,
das Suchen der Menschen nach dem Göttlichen. „Wenn alle Arten Dinge, die
wir anschauen, Sinnbilder des höchsten Gottes für uns sind, so füge ich hinzu,
daß mehr als irgend eines derselben der Mensch ein solches Sinnbild ist . . .
Wir sind das Wunder der Natur, das große unerforschliche Mysterium Gottes.
Wir vermögen es nicht zu verstehen, wir wissen nicht wie davon zu sprechen;
aber wir können, wenn wir wollen, fühlen und wissen, daß es in Wahrheit so
ist." — Nach Carlyle, wie nach den Ideen unseres Schiller, zeigt sich das
Bild der Menschheit nur in den großen Menschen, in den Heroen. „Ein edleres
Gefühl als das der Bewunderung eines Höhern, wohnt nicht in der Menschen-
brust. Es ist zur heutigen Stunde, wie zu allen Stunden, der beseelende An¬
trieb im Menschenleben. Religion finde ich darauf begründet; nicht nur heid-
nische, sondern alle bisher bekannte Religion. Heldenanbetung, innigste sußsällige
Bewunderung, inbrünstige grenzenlose Unterwürfigkeit vor einer edelsten göttlichen
Menschengestalt, ist das nicht der Keim des Christenthums selbst?" — In dieser
Ausdehnung ist die Behauptung wol offenbar unrichtig, und Carlyle macht
uns auch (in seiner ersten Vorlesung: der Held als Gottheit) nicht klar, wie im
Heidenthum, namentlich in, dem skandinavischen, mit dem er sich fast ausschließlich
beschäftigt, grade das Bedürfniß der Anbetung jene Mythologie herangebracht
habe, die uns die Quellen überliefern. Bedeutender ist das zweite Capitel:
der Held als Prophet. Es beschäftigt sich ausschließlich mit Mahomed, von
dessen Charakter er uns die geistvollsten Züge entwirft. „Wir müssen Mcchomed . .
als den Mittelpunkt einer gänzlich in Streit und Hader gerathenen Welt be¬
trachten. Schlachten mit deu Heiden, Streitigkeiten unter seinen eigenen Leuten,
Abtrünnigkeiten seines eignen wilden Herzens, das alles hielt ihn in einem immer¬
währenden Wirbel, so daß seine Seele keine Ruhe mehr kannte. In durchwachten
Nächten, wie man sich wol vorstellen kann, mochte das wilde, unter diesen
Strudeln umhergeschlenderte Gemüth des Mannes jedwedes Licht der Ent¬
scheidung als ein wahrhaftiges Licht vom Himmel begrüßen . . . Fälscher und
Gaukler? Nicht doch! Dieses große feurige Herz, siedend und wallend wie
eine glühende Gedanken-Esse, war keines Gauklers. Sein Leben war ihm eine
Thatsache; dieses All Gottes eine schauerliche Thatsache und Wirklichkeit . . .
Der Mann war ein ungebildeter, halb barbarischer Sohn der Natur, mit vielem
vom Beduin noch behaftet, als solchen müssen wir ihn nehmen . . . Aufrichtigkeit
in jedem Sinn scheint mir das Verdienst des Koran, das, was ihn den wilden
arabischen Leuten so köstlich machte . . . Wunderlich windet sich durch diese
unreife Masse von Ueberlieferungen, Schmähungen, Klagen, Stoßseufzern des
Koran eine Ader echter, unmittelbarer Anschauung hindurch, was wir beinahe
Poesie nennen mochten. Der Inhalt des Buches ist lediglich aus Ueberlieferungen
und einer gewissen brünstigen schwärmerischen Art von Stegreifpredigten zusammen¬
gesetzt. Er kehrt immer wieder zu den alten Prophetengeschichtcn zurück, wie sie
damals im arabischen Gedächtniß umliefen . . . Diese Dinge erzählt er zehn-
vielleicht zwanzigmal, wieder und immer wieder, mit lästiger Wiederholung . . .
Aber gar wunderlich durch all das hindurch glimmt immer wieder von Zeit zu
Zeit ein Blick, wie der eines wirklichen Denkers und Sehers. Er hat in Wirklichkeit
ein Auge für die Welt, dieser Mcchomed; mit einer gewissen Unmittelbarkeit und
rauhen Kraft macht er noch jetzt unserm Herzen fühlbar die Dinge, wofür sein
eignes Herz sich geöffnet hatte. Ich halte nicht viel von seinen Lobpreisungen
Allahs, sie sind zumeist wol der Bibel entlehnt, wenigstens sind sie dort weit
Übertrossen. Aber das Auge, dessen Blick unmittelbar in das Herz der Dinge
eindringt und ihre Wahrheit schaut, das ist für mich ein gar'anziehender Gegen¬
stand. Die Gabe der großen Natur selbst, die sie Allen verleiht, aber welche
nur einer unter Tausenden nicht schmählich von sich wirft: es ist was ich Auf¬
richtigkeit des Sehers nenne . . . Seinen Augen ist es immerwährend klar,
daß diese Welt gänzlich wunderbar ist. Er sieht, was alle großen Denker, sogar
die rohen Skandinavier, aus eine oder die andere Weise zu sehen bewerkstelligten,
daß diese so massenhaft aussehende Welt in der That nichts ist ... ein Schatten,
den Gott an den Busen der leeren Unendlichkeit geworfen hat, weiter nichts . . .
Die Allherrschaft Allahs, die Allgegenwart einer unaussprechlichen Macht, eines
unnennbar Herrlichen und Schrecklichen, als die eigentliche Kraft, Wesenheit und
Wirklichkeit in allen Dingen, die da sind^ war diesem Manne beständig klar." —
Vom Propheten geht Carlyle zum Dichter über, und sagt über Dante und
Shakespeare verständige Worte; dann zum Priester; er schildert Luther, Knox
und die Reformation. „Der Gedanke, daß das Papstthum überhandnehme, daß
es eine Kirche baue und dergleichen mehr, kann uns als sehr müßig gelten . . .
schläfrige Salbadereien in nicht geringer Zahl, die sich Protestantismus nennen,
sind todt, aber der Protestantismus ist meines Wissens noch nicht abgestorben.
Der Protestantismus hat, wenn wir es recht betrachten, in diesen Tagen seinen
Göthe, seinen Napoleon herangebracht, die deutsche Literatur und die französische
Revolution, keine unnamhaste Lebenszeichen! Ja, im Grunde, was ist denn sonst
noch lebendig außer dem Protestantismus? Alles sonstige, was man noch an>
trifft, hat meist nur ein galvanisches Leben, eine Art des Daseins, die weder
angenehm noch dauerhaft ist!" — Unter den „Helden als Schriftsteller" wird
außer Rousseau namentlich Johnson hervorgehoben; eine Vorliebe, die Carlyle
eigenthümlich ist. Zum Schluß folgt der „Held als König", und darin eine
Schilderung Cromwells, die Krone des Buches, wie wir auszugsweise mittheilen.
„Armer Cromwell, — großer Cromwell! Der unarticulirte Prophet, ein
Prophet, der nicht sprechen konnte. Roh, verworren, nach Ausdruck ringend,
mit seiner wilde» Aufrichtigkeit; und er nahm sich so fremdartig ans unter den
zierlichen Schönrednern; niedlichen kleinen Falklands, didaktischen Chillingsworths,
diplomatischen Clarendons. Man betrachte ihn nur. Eine Außenseite von chaoti¬
scher Wirre, Teufelsvisionen, nervenkranken Träumen, fast Halbwahnsinn; und
dennoch solch eine helle entschlossene Manuesthatkrast mitten in alledem wirksam.
Ein chaotischer Mann. Der Strahl von lauterem Sternenlicht und Feuer, in
einem solchen Element gränzenloser Hypochondrie, gestaltlosen Schwarz der Fin¬
sterniß wirkend. Und dennoch, was war sogar diese Hypochondrie anders als gerade
die Größe des Mannes? Die Tiefe und Weichheit seines wilden Gemüths, die
Fülle von Mitgefühl für- die Dinge, die Fülle von Einsicht in das Wesen der
Dinge, die seiner noch wartet, die Meisterschaft, die er noch über sie erlangen
wird, das war seine Hypochondrie... Es ist der Charakter eines prophetischen
Menschen, eines Menschen, der mit seiner ganzen Seele sieht und nach Sehen
ringt... Ans diesem Grund gleichfalls erkläre ich mir Cromwells angebliche
Verworrenheit der Rede. Ihm selbst war der innere Sinn sonnenklar, aber der
Stoff, worin er diesen bei der Aeußerung zu kleiden hatte, stand nicht zu Gebote.
sein Leben war ein schweigsames gewesen, von einem großen unbenannten Meer
von Gedanken umschwebt all seine Tage lang, und in seiner Lebensart wenig
Veranlassung zum Versuch dies zu nennen oder auszusprechen. .. Verstand ist
nicht sprechen und logisch auseinandersetze»; es ist sehen und erkennen... Es
ist daher begreiflich, daß, obglich ihm das Reden im Parlament nicht geläufig war,
er dennoch predigen konnte, rhapsodisch predigen; vornehmlich aber wie groß er
in seinem Gebet sein mochte. Es ist dies unmittelbarer Erguß und Aeußerung
dessen, was lebendig im Herzen wogt, Anordnung wird dabei nicht erfordert,
Wärme, Tiefe, Aufrichtigkeit ist alles, was nöthig ist. Cromwells Gewohnheit zu
beten ist ein bemerkenswerther Zug in ihm... In dunkeln unlösbar scheinen¬
den Schwierigkeiten pflegten seine Officiere und er sich zu versammeln, und Stun¬
den, Tage lang im Gebet einander abzulösen bis irgend ein bestimmter Entschluß
unter ihnen aufstieg, irgend eine „Hoffmmgspforte", wie sie es nannten, sich
ihnen aufthat... War nicht der so entstandene Vorsatz in aller Wahrscheinlich¬
keit eben der beste, weiseste, welcher nunmehr ohne ferneres Bedenken zu verfol¬
gen war?. .. „Scheinheiligkeit?" Es wird einem nachgrade überdrüssig, das
wiederholen zu hören. Die es so heißen, sind nicht befugt, vou dergleichen Dingen
zu sprechen. Sie haben niemals einen Vorsatz, was man einen eigentlichen Vor¬
satz nennen kann, gesaßt. Sie begnügten sich damit, Auskunftsmittel, Abfindun¬
gen abzuschätzen und zu wägen; Stimmen, Rathschläge zu sammeln; sie befinden
sich niemals allein mit der Wahrheit und dem Wesen der Sache... In der
That waren auch seine wirklichen Reden, wie ich vermuthe, bei weitem nicht so
unberedt, unfertig, wie sie aussehen. Wir finden, daß er, was alle Redner zu
sein streben, ein eindringlicher Redner sogar im Parlament war. Es ward ihm
zugetraut, daß er mit jener rauhen, leidenschaftlichen Stimme immer etwas meinte,
und man wünschte zu wissen, was... In Betreff der „Lügen" Cromwells
wollen wir eins bemerken. Es ist damit vermuthlich so zugegangen: alle Par¬
teien fanden sich in ihm getäuscht; jede Partei verstand ihn in ihrer Weise. . .
Ist dies nicht das unvermeidliche Schicksal, nicht eines falschen Menschen in sol¬
chen Zeiten, sondern lediglich eines überlegenen Menschen? Ein solcher Mensch
muß nothwendig Rückhalte in sich haben. Wenn er überall sein Herz auf dem
Aermel trägt, daß die Dohlen daran picken können, wird seine Reise nicht weit
gehen . . . Cromwell sprach ohne Zweifel oft im Dialekt kleiner untergeordneter
Parteien, äußerte gegen sie einen Theil seiner Gesinnung; jedwede kleine Partei
hielt ihn ganz und gar für den ihrigen... An jedem Punkt seines Geschichts¬
laufes mußte er unter solchen Leuten gefühlt haben, wie dieselben, wenn er ihnen
seine tiefere Einsicht eröffnete, entweder erschrocken davor zurückgebebt sein wür¬
den, oder falls sie darauf eingingen, wie alsdann ihre eigene beschränkte, aber in
sich feste Auffassung völlig erschüttert werden mußte... Es ist der Einfluß
zweier vorherrschender Irrthümer, was unser Urtheil über Männer wie Cromwell
in Betreff ihres „Ehrgeizes", ihrer „Falschheit" u. tgi. von Hausaus beeinträch¬
tigt. Der erste ist, daß man, so zu sagen, das Ende mit dem Ausgangspunkt und
Verfolg ihrer Laufbahn verwechselt. Der gemeine Geschichtschreiber eines Crom¬
well geht mit dem Gedanken zu Werk, als habe dieser den Vorsatz gehegt, Ver¬
treter von England zu werden, da er noch die Marschlande von Cambridgeshire
pflügte. Seine ganze Laufbahn habe ihm im Entwurf vorgeschwebt; ein Pro¬
gramm des gesammten Drama, das er hernach, als er dazu kam, mittelst allerlei
Pfiffen und Ränken, und mit täuschender Schauspielkunst, Schritt für Schritt dra¬
matisch entwickelte. .. Eine ebenso von Grund aus verkehrte als in solchen
Fällen beinahe allgemeine Ansicht. Man bedenke nur, wie entgegengesetzt die Wirk¬
lichkeit ist. Wieviel von seinem eignen Leben sieht einer von uns voraus? Eine
kurze Strecke vor uns ist alles dunkel; ein unaufgewickelter Strang von Mög¬
lichkeiten, Besorgnissen, Anschlägen, ungewiß schwebenden Hoffnungen.... Die
dichtgehäuften Verunstaltungen, welche Cromwells Bild für uns verzerren,
würden zur Hälfte oder mehr noch verschwinden, sobald wir nur redlich versuch¬
ten, sie darzustellen; in Reihenfolge, wie sie kamen, nicht im Klumpen, wie sie
vor uus hingeworfen sind." —
Man sieht, es sind viele glänzende Partien in dem Buch, und es verdient
wol eine aufmerksame Lection. Die Uebersetzung ist, wenn man in Rechnung
bringt, daß sie einen, sehr wunderlichen Stil nachzubilden hatte, musterhaft. —
Carlyle ist 1795 geboren; 1825 gab er das Leben Schillers und eine Uebersetzung
des Wilhelm Meister heraus, 1827 eine Auswahl deutscher Romantiker. Sein
8ardor K<Z8artus erschien 1836, die französische Revolution 1837, Vergangenheit
und Gegenwart 1843, die Briefe Cromwells 1845, die tuller äa^ MwMkts
1850, das Leben John Sterlings 1851.'->'.'
Lenau in Schwaben. Aus dem letzten Jahrzehnt seines Lebens. Von Emma
Niendorf. Leipzig, Herbig. —
''.
,,.
Wir haben vor kurzem den Briefwechsel zwischen Lenau und K. Mayer
angezeigt; das vorliegende Werk gibt uns einen neuen Beitrag zur näheren
Kenntniß des Dichters. Einen bedeutenden Theil der Sammlung macht der
Briefwechsel mit Justinus Keruer aus. Emma Niendorf (Frau von Suckow)
scheint eine nahe Verwandte dieses Dichters und Naturphilosophen zu sein. In
seinem Hause und in dem der übrigen schwäbischen Freunde ist sie seit 1840
sehr viel mit Lenau zusammengekommen, sie hat sich alles, was er gesagt, die
Anekdoten, die er erzählt, die Mienen, die er gemacht n. s. w. augenblicklich auf¬
gezeichnet, und theilt uns alles dies in möglicher Ausführlichkeit mit. So erfahren
wir, was Lenau über alle möglichen Gegenstände der Literatur, Kunst, Politik u. s. w.
gesagt hat, wobei man freilich in Rechnung ziehen muß, daß vieles darunter ist,
was man in der Gesellschaft eben sagt, ohne erheblich darüber gedacht zu haben.
Frau v. Niendorf würde dem Büchlein sehr genützt haben, wenn sie mit ihren
poetischen Randglossen, die in der Regel nicht viel sagen, etwas weniger freigebig
gewesen wäre.
Wir haben schon bei dem frühern Bericht darauf aufmerksam gemacht, daß
unter diesen schwäbischen Dichtern, grade wie im Hainbund, mit dem sie die nächste
Verwandtschaft haben, wie denn Lenau auch in der Weise seines Schaffens beiden
sehr ähnlich ist, eine Art von Gemüthlichkeit herrschte, die mitunter nahe ans
Kindische streift. Lenau wurde von allen verhätschelt. Wenn das von Damen
geschieht, so ist das bei einem Dichter ganz in der Ordnung. So hat uns eine
Anekdote, die Frau von Suckow S. 46 erzählt, vielen Spaß gemacht. „Auf dem
Eilwagen saß Lenau neben einer Dame. Sie hatte seinen Namen gehört. Nach
seiner Gewohnheit wünschte er zu rauchen; aber ihm fehlt das Stückchen Flor,
das er beim Anzünden der Pfeife mit Raffinement des Schmauchers obenauf zu
legen pflegt. Da nimmt die Dame ihre Düllhaube vom Kopfe, reißt sie in
Trümmer und opfert sie dem Lieblinge der Götter. Wir alle hätten unsere
Hauben gern für ihn hingegeben." Wie gesagt, von Damen ist so etwas sehr
hübsch, aber die Männer gingen mit Lenau ungefähr aus die nämliche Weise
um; es war ein beständiger Austausch von Gesühlsströmen, Liebkosungen u. s. w.
Das ist uicht gut, denn ein Mann soll als Mann behandelt werden, anch wenn
er ein Dichter ist, nicht wie eine Puppe, mit der man spielt. Von frühester
Jugend auf diese Weise verzogen, ist es dem Dichter schwer geworden, gegen
sich selbst zu kämpfen, gegen den Dämon, der doch niemals rein physischer
Natur ist.
Ueber diese Umgangsformen der schwäbischen Dichtergcsellschaft erhalten wir
einzelne interessante Notizen. Graf Alexander von Würtemberg spielt darin eine
große Rolle*); aber auch die jüngern Schriftsteller, Auerbach, Herwegh u. f. w.,
ferner die Philosophen, z. B. Strauß, treten auf. Im allgemeinen hatte er
gegen die Hegelianer eine große Abneigung, die wir anch einem Poeten des
Contrastes nicht verdenken können. Mit großem Behagen pflegte er den Aus¬
spruch eiues Hegelianers zu erzählen: „wenn man alles wegthut, so bleibt in der
Welt doch noch ein irrationeller Rest, der nicht zu tilgen ist." Aber er setzte
dann doch hinzu: „die Hegelianer und alle die Leute sind nicht so zu fürchten,
wie die Hierarchien ... Da hat es noch keine Noch, und wenn sie die ganze
Welt beHegeln, und wenn sie allen Glanben und alle Religion vertilgen wollen,
die ganze Welt würde doch nach Gott schmachten!— — Aber diese Finsterniß, dies
Verunstalten! Die Pfaffen kommen gleich mit dem Zündhölzchen . . . Aber es
kann uicht dazu kommen . . . Und wenn auch das Volk noch wollte, die gebil¬
deten Leute würden sagen: Lassens mi ans, i hab »et Zeit!" — Das ist prächtig
gesagt! „Lassens mi ans, i hab net Zeit!" Wir haben den Dichter deshalb noch
mehr lieb gewonnen.
Mit Kerner muß das Verhältniß sonderbar gewesen sein. Die beiden
Männer durchschauten einer des andern Dämon, oder wie man es sonst nennen
will, vollkommen. Lenau trieb Spaß mit der Geisterseherei, obgleich er zuweilen
seinem Freunde auch zu Munde redete. Die übrigen, namentlich die Damen,
Frau von Suckow voran, somnambnlisirten nach der Möglichkeit. —
„Kerner, Lenau, Graf Alexander tauschten ihre Lieder gegen einander um
und um. Alles schien angesteckt vom lyrischen Fieber. Wer dichtete nicht damals?
Theobald, selbst die kleine Emma. Die Luft war tönend von Reimen. Da, als
man einmal am Tische saß, sich die frisch entsproßten Gedichte vorlesend, kam
auch ganz zuletzt der ehrliche Hausknecht, welcher aufgewartet, ein grobes Papier
in der Hand, schüchtern und kleinlaut. Auch er hatte seinen Vers gedreht: auf
den treuen Dvctorsgaul vor dem alten Chäslein." —
Ein hübsches Urtheil gab Lenau über den Sohn der Wildniß: „Zwei Seelen
und ein Gedanke! Das würde ja schrecklich langweilig sein. Zwei Herzen und
ein Schlag! Das gibt keinen Rhythmus." —
Lenau duldete es nicht, wenn man ihn cavaliercment behandelte, wie es die
Geldaristokratie mitunter versuchte. Einmal wurde er auf der Promenade einer
Dame vorgestellt, die einen ästhetischen Salon hat. „Sie sagte mir nun vou
ihrer Freude, mich kennen zu lernen, und dann: Werden Sie mir nicht anch
einmal in meinen Soireen das Vergnügen schenken? — Nur so hingeworfen.
Da wollte ich ihr auch eine Sottise machen und setzte mich neben sie auf die
Armlehne der Bank, sah zu ihr herunter und sagte: New, ich muß ihnen sehr
danken; und baumelte mit dem Fuß. Nach einer Weile stand ich auf und
empfahl mich. Ich dachte: Bist dn im Negligi, so will ichs auch sei»!" —
Vou den beiden Liebesverhältnissen Lenaus, namentlich von dem Wiener
mit einer Dame, die einen dämonischen Einfluß auf ihn gehabt zu haben scheint
und ans die er in seinen Albigensern, wie in seinem Wahnsinn, mehrmals zu
sprechen kommt, wird sehr viel erzählt, aber nichts, was man verstehen könnte.
Frau von Suckow scheint selber nichts genaueres darüber zu wissen^).
Die schreckliche Katastrophe, während welcher Frau vou Suffow in Stuttgart
anwesend war, wird sehr ausführlich geschildert. Es ist entsetzlich. Ebenso
sein Aufenthalt in der Irrenanstalt zu Winnethal. — Wir wollen darüber hin¬
weggehen.
Lenau hat viele Freunde in Deutschland, sie werden dies Gedenkbuch alle mit
Rührung und Theilnahme lesen.
Unsere Krisis ist langdauernder und der passive Widerstand, den die türkische
Politik den Anmuthungen der vier Großmächte entgegensetzt, ein höherer, als man,
namentlich im westlichen Europa, erwartet zu haben scheint. Es bedarf für Sie
keiner Erwähnung mehr, daß verschiedene Blätter, unter anderen das „Journal
des Debats", im Irrthum waren, wenn sie von der Annahme der Wiener Propo¬
sitionen durch den Sultan wie von einer vollendeten Thatsache redeten. Sie
wissen dagegen durch meine letzten Mittheilungen, daß diese Annahme nnr be¬
dingungsweise und unter Stellung von Vorbehalten geschah, welche die endliche
Entscheidung nochmals um ein bedeutendes hinausschoben. Am 19. v. Mes.
gingen die Erklärungen der Pforte, in Erwiderung auf die ihr gemachten Vor¬
schläge, von hier ab; sie waren am 27. in Wien, und mußten, da sie schnell
expedirt wurden, am 31. desselben Monats bereits in Se. Petersburg einge¬
troffen sein. Unter solchen Umständen mag es einigermaßen in Verwunderung
setzen, daß bis jetzt von letzterem Orte ans hier noch keine Entscheidung auge¬
langt ist; zumal wenn man bedenkt, daß der freilich ungeheuere Weg von der
Capitale Rußlands bis Stambul innerhalb 8 —9 Tagen von russischen Feld¬
jägern zurückgelegt zu werden Pflegt, und in diesem Falle auch der elektrische
Telegraph streckenweise hätte in Anwendung kommmen können. Man meint
darum mit Recht deu Schluß ziehen zu dürfen, daß vom Petersburger Cabinet
eine definitive Annahme nicht für statthaft erachtet worden ist.
Die türkischen Rüstungen sind inzwischen der Hauptsache uach beendet worden.
Sie fragen nach dem Resultat? Kurz zusammengefaßt ist es dies: daß augen¬
blicklich in der Bulgarei, d. h. auf dem europäischen Kriegstheater zwischen der
Donau und dem Balkan, 104,000 Mann, und in der Umgegend von Erzerum,
sowie bei Trapezunt, also auf der dem Kaukasus zugewendeten Fronte, 20,000
bis 23,000 Mann concentrirt sind. Diese Kraftentwickelung geht bedeutend über
das Maß hinaus, welches russische und östreichische Organe für möglich erachteten;
sie bleibt aber nicht minder unter den Schätzungen zurück, die in französischen
und englischen Blättern gemacht worden sind. Schließlich behalten diejenigen
Kenner hiesiger Zustände recht, welche die türkische Truppenmacht im Fall eines
Krieges auf 130,000 Maun anschlugen.
Heute vor acht Tagen wurden die bei Hunkiar-Jspalessi gelagert gewesenen
egyptischen Truppen, alles in allem im Belaufe von 13,i00 Mann, nach Warna
übergeführt. Omer Pascha hatte sich in Person nach dieser Festung begeben, um
der Ausschiffung beizuwohnen. Es hat den Anschein, Egypten werde nicht mehr
Hilfstruppen senden. Ueber die Art und Weise, in welcher England dabei
hindernd eingewirkt hätte, laufen hier mannigfache Gerüchte um, die indeß der¬
maßen unzuverlässig zu sein scheinen, daß ich Anstand nehmen muß,- sie mitzutheilen.
Im Journal de Konstantinople wird einer Mittheilung des „Jmpartial de
Smurna" widersprochen, wonach General Prim (Graf von Reus) in türkische
Dienste getreten sei, jedoch einen hier angebotenen Monatsgehalt von dreißigtausend
Piastern zurückgewiesen habe. Es wird dabei Gelegenheit genommen, wieder-
holentlich zu erklären, wie der besagte spanische General die Reise nach dem
Balkan und der unteren Dona», auf der er eben begriffen ist, im Auftrage seiner
eigenen Regierung und aus deren Kosten mache. Die Anwesenheit des Grasen
von Reus in der hiesigen Hauptstadt ist Veranlassung geworden, daß man hier
mancherlei über die spanische Armee in Erfahrung gebracht hat, was nicht ohne
Interesse ist. Sie scheint besser und um vieles kriegsmächtiger zu sei», wie man
im allgemeinen seither angenommen hat, und, was die special-Waffen (Artillerie-
nnd Ingenieur- Corps) anlangt, so scheinen die Offiziere beider im Besitz einer
hohen wissenschaftlichen Ausbildung sich zu befinden. Vom General Prim selber
hat man eine minder günstige Meinung, und man weiß sich nicht recht zu er¬
klären, wie ein General, der keine wesentlichen Dienste im Felde leistete und
dessen Kenntnisse sonst nirgends hervorgeleuchtet haben, eine derartige Mission
erhalten konnte. Irre ich nicht, so erwähnte ich bereits vor mehren Wochen
eines Gerüchtes, wonach die spanische Regierung die Absicht hegt, im Fall es
zwischen Rußland und der Pforte zum Kampfe käme, und diese directe Unter¬
stützung von den Seemächten empfangen sollte, eine Armee, gegen englische Sub-
stdien, in der Bulgarei fechten zu lassen. Die Combination wäre nicht übel, und
es ist außerdem gewiß, daß kaum ein anderes Heer für hiesige Verhältnisse,
Land, Boden und Klima tauglicher sein würde, wie das spanische.
In der Umgegend des benachbarten Brussa sind Ereignisse vorgekommen
deren ich hier Erwähnung thun zu müssen glaube, wenn sie gleich nicht politischer
Natur sind. Es handelt sich um mehre Waldbrände, welche nunmehr bereits
20 Tage dauern, und die Bergwände des nördlichen Thals, in welchem jene
alte osmanische Hauptstadt gelegen ist, wie auch die Schluchten, welche sich vom
hohen byzinischen Olymp herniederziehcn, endlich aller Vegetation zu entkleiden
drohen. Die Wirkung des Brandes verspürt man bis hierher; während an heiteren
Tagen, im Frühherbst, der stattliche Berg aus den Straßen von Stambul wahr¬
genommen werden kann, entzieht er sich gegenwärtig, und zwar seit mehren
Wochen bereits, den Blicken; ja bei Südwind riecht es bis tief in den Bospo¬
rus hinein, ähnlich wie in Deutschlands nördlichen Fluren, zur Zeit des
Höhenrauches.
In der Angelegenheit des ungarischen Flüchtlings und reclamirten ameri¬
kanischen Bürgers Koßta ist ein Memorandum des Wiener Cabinets erschienen,
welches in der neuesten Nummer deS Kvnstautinopeler Journals sich abgedruckt
findet. Man kann nicht leugnen, daß die Form und Ausführung dieser, in fran¬
zösischer Sprache abgefaßten Staatsschrift eine sehr geschickte ist, und daß sie
ihren Eindruck nicht verfehlen wird. Die Angelegenheit scheint demnächst vor ein
internationales Schiedsgericht gebracht werden zu sollen.
Von Seiten der hohen Diplomatie in Bujukdere und Theragiä wurden in
den letzten Tagen vielfache Diners veranstaltet. Am glänzendsten waren die
Bankette der bevollmächtigten Minister Frankreichs und Englands. Herr von
Brück läßt augenblicklich sein Gesandtschaftspalais in Pera herstellen; man ist
soeben mit der Decoriruug der Empfangszimmer beschäftigt, welche Vorbereitungen
ans eine glänzende Betheiligung an der diesjährigen Winter-Saison hindeuten.
Mit einiger Ueberraschung hat man in den deutschen Zeitungen gelesen, daß
Baron von Bruck daran denke, Konstantinopel zu verlassen. Außer' dem Uner¬
wartetem hätte rin solcher Schutt noch sein Beklagenswerthes; denn man knüpft,
für das östreichische, wie auch für das allgemeine deutsche Interesse, nicht geringe
Hoffnungen an die hiesige Anwesenheit des gefeierten Stciatsmanes.
Ueber die projectirten Eisenbahnlinien ist, seit langer Zeit, nichts Neueres
bekannt geworden. Es scheint, daß man zuvor die Ausgleichung des Conflictes
abwarten will, ehe mau in dieser Angelegenheit Entschlüsse zur Ausführung trifft.
Mit dem gestern hier angelangten Wiener Courier sind sehr friedliche Nach¬
richten eingegangen, die kaum eine» Zweifel darüber lassen, daß die nächsten
Befürchtungen wegen eines Conflictes mit Rußland als beseitigt angesehen werden
dürfen. Herr von Mayendorff, der Bevollmächtigte des Zaren in Wien, hat
nämlich nicht nur der dortige» türkischen, sondern auch anderen Legationen und
dem k. k. Gouvernement erklärt, wie, seinem Ermessen nach, Kaiser Nikolaus
keinen Anstand nehmen werde, auch in der neuen, vom Divan modificirten Form
den AuSgleichnngs-Entwurf der vier Mächte anzunehmen.
Und die Donaufürstenthümer? höre ich Sie fragen? Allerdings ist dies so
zu sagen der Haken der Sache. Alle von mir eingezogenen Erkundigungen
stimmen darin überein, daß Rußland keine directe Vorstellung über diese Ange¬
legenheit von den Großmächten gemacht worden ist; im Gegentheil ist es gewiß,
daß man die Räumung bis jetzt als eine sich von selber verstehende Folge der
Annahme der Wiener Propositionen angesehen hat, „denn", sagt man, „Rußland
hat nnr ans Grund der streitigen Frage die Besetzung eintreten lassen, und wird
nicht säumen, die Maßregel rückgängig zu machen, sobald eine Verständigung er¬
folgt sein wird.
Wie dann, wenn man sich in dieser Annahme täuschte? Es ist nicht zu
leugnen, daß auf Seiten der Türkei das positive Recht ist, und daß die Besetzung
ein sich eine schreiende Gewaltthat gewesen; um so mehr also die Räumung,
nachdem das Motiv der Invasion beseitigt worden, als sich von selbst versichert
lind unerläßlich erscheint. Dennoch haben die russischen Staatsmänner sich jüngst
so gewandt in der politischen Sophistik erwiesen, daß man voraussetzen muß,
sie werden anch in diesem sonnenklaren Fall die Erwartungen des europäischen
Rechtsgefühls zu täuschen wissen. Bereits hat ein Berliner Blatt zu verstehen
gegeben, daß Rußland den Anspruch habe, sich für die infolge der Weigerung
der Pforte ans die durch Menschikoff gemachten Ansinnen einzugehen, entschädigt
zu sehen. Wird eine solche Entschädigung wirklich verlangt, so steht in Aussicht,
daß die Frage in eine neue Phase tritt, denn nimmermehr wird man hier einem
derarrigen Verlangen nachgeben; in diesem Augenblicke am mindesten, nachdem
die Rüstungen beendet, und 130,000 Manu bereit sind, einer russischen Invasion
entgegenzutreten.
Wie der Wind, ungeachtet aller Friedensversichernngen weht, kaun man auch
daraus entnehmen, daß neuerdings in Frankreich bedeutende Seerüstungen an¬
geordnet werden, und in England die Verfügung zu einer abermaligen Ver¬
mehrung der activen Flotte erlassen worden ist. Die Seemächte würden diese
Maßregeln nicht treffe», wenn der Horizont rein wäre.
Daß im Fortgang der Kriegsvorbereitungen hier auf Veranlassung der
Friedcnsknnde kein Verzug und keine Unterbrechung eingetreten ist, bedarf hier
meinerseits keiner Erwähnung. Am 8. fand die Ausschiffung der egyptischen
Truppen ans der Rhede von Warna statt. Die Transportflotte war bereits am
6. vor der Festung angekommen, indeß ging der Enxiu, über dessen Fläche nun¬
mehr bereits die Aegninoctial-Stürme hereinzudrecheu beginnen, dermaßen mit
hohen Wellen, daß man das Anslandsejzen der Division um 48 Stunden ver¬
schieben mußte.
, — Die Frankfurter Juden
verdankten den letzten Nevolutionsjahrcn bis zum 12. d. M. wesentliche Rechte und
Vortheile, und zwar Rechte und Vortheile, deren längere Vorenthaltung dem Geiste
christlicher Duldsamkeit unsers Jahrhunderts nicht entsprochen haben würde. Sie hatten
völlige Rechtsgleichheit in privatbürgerlicher Hinsicht mit ihren christlichen Mitbür¬
gern gewonnen, und diese verblieb ihnen unvcrkümmert, auch als der Senat durch Bnn-
desbeschluß vom 12. August 18S2 genöthigt worden war, die ihnen durch Gesetz vom
20. Febr. 1869 zugleich verliehene staatsbürgerliche Gleichheit zurückzunehmen.
Wen» auch von den Juden, daß sie im eifrigsten Streben nach völliger Gleich¬
stellung nur einen Augenblick stille ständen, sich nicht erwarten und verlangen ließ, so
fragt sich doch, ob ihre christlichen Verbündeten nicht wohlgethan hätten, hier einzuhal-
den und das beseitigte politische Werk einer unterlegenen Revolution nicht aus einem
kleinen Punkte Deutschlands wieder auszunehmen.
In die Gleichstellung der Frankfurter Juden in privatbürgerlicher Hinsicht
hatten sich auch deren Gegner unter ihren christlichen Mitbürgern als in etwas Unver¬
meidliches und Nothwendiges gefunden, durch die vom 12. d. M. als organisches Ge¬
setz verkündigte Erweiterung ihrer staatsbürgerlichen Rechte ist ein Zankapfel unter
die Bürgerschaft geworfen, der diese nicht sobald wird zur Ruhe kommen lassen;
denn die Juden können und werden sich nicht eher zufrieden geben, 'als bis
sie die völlige staatsbürgerliche Gleichstellung, wie sie das Gesetz vom 20sten
Februar ausspricht, errungen haben, und dazu gibt ihnen das Gesetz
vom 20. September d. I. das ausreichendste Mittel an und in die Hand. Dasselbe
beschränkt nämlich zwar die Zahl der zu Mitgliedern der gesetzgebenden Versammlung
zu wählenden israelitischen Bürger aus 4, verleiht ihnen aber das active Wahlrecht in
demselben Umfange, worin es den christlichen Bürgern zusteht, und es versteht sich von
selbst, daß sie dasselbe nur zu ihrem Vortheile gebrauchen, diesen aber dem Vortheile
der Stadt überordnen müssen. Schon das mehrerwähnte organische Gesetz vom -12.
d. M., wozu die Mehrheit des Senates und der gesetzgebenden Versammlung und die
Minderheit der in der letzter» die Mehrheit habenden politischen Partei mitgewirkt, ver¬
danken sie theils ihrem großen Einfluß hier am Platze überhaupt, theils der Stellung,
welche sie zwischen den Parteien und Parteiungen des Frankfurter Gemeindcwesens ein¬
genommen haben; und da sie, im Besitz des activen Wahlrechtes, bei den Wahlen zur
gesetzgebenden Versammlung in Zukunft nothwendig den Ausschlag geben müssen, so
werden sie auch nur derjenigen Partei in dieser zur Mehrheit verhelfen, welche sich den
ihr von ihnen vorgeschriebenen Bedingungen unterwirft. In der freien Stadt Frankfurt
werden sich also die nächsten politischen Kämpfe, um die völlige staatsbürgerliche Gleich¬
stellung der Juden drehen und nicht eher ruhen, als bis diese durchgesetzt oder aber das
Gesetz vom 12. Sept. -1833 wieder aufgehoben ist. Hat sich doch schon bei der öffent¬
lichen Abstimmung für und gegen dieses nur ein auffallend kleiner Theil der ganzen
stimmfähigen Frankfurter Bürgerschaft beiheiligt und wird doch dem Vernehmen nach
bereits eine Protestation beim deutschen Bunde gegen dasselbe und seine Giltigkeit
eifrig vorbereitet!
Wäre Mäßigung der menschlichen Natur angeboren, so hätte dieselbe wol im
richtig verstandenen Interesse der Frankfurter Juden selbst gelegen, denn wer steht ihnen
dafür ein, daß bei einem ungünstigen Ausgange des nun beginnenden Kampfes ihre
Feinde nicht versuchen werden, noch über das Gesetz vom -12. Sept. d. I. zurückzu¬
greifen? Wie sehr dies zu bedauern sein würde, und aus welchen Gründen es nach meiner
Ansicht nicht rathsam sei, in Deutschland fürs erste über die völlige priv atbürgerliche
Gleichstellung der Juden mit den Christen hinauszugehen, wünsche ich in einem spätern
Schreiben darzuthun.
— Man hat die Emancipation der Juden so
häufig mit sentimentalen, allgemeinen und unbestimmten Gründen verfochten, daß wir
uns wol erklären können, wie wohlgesinnte Männer im Gefühl von der UnHaltbarkeit
dieser Gründe die ganze Sache als eine unhaltbare betrachten. Allein nach unserer
Ueberzeugung muß der Staat in seinem eignen Interesse den Juden die völlige
staatsbürgerliche Gleichstellung gewähren, abgesehen von den Ausnahmen, die sich von
selbst verstehen. Politische Rechte sind immer nur Anerkennung eines Factums; wenn
der Kaiser von Oestreich den Frankfurter Juden Rothschild zum Reichsbaron macht, so
liegt darin doch wol eine größere Anomalie, als wenn derselbe als Abgeordneter der
Mitbürger, die ihm ihr Vertrauen schenken, in einer gesetzgebenden Versammlung sitzt.
Die Juden sind eine sehr einflußreiche Classe der Staatsbürger, die durch ihren Zu¬
sammenhang noch wichtiger werden; versetzt man sie in die Lage einer politisch ge¬
drückten Classe, so macht man sie dadurch nothwendig zu Feinden des Staats, und beiß
sie hier sehr thätig zu wirken wissen, haben die letzten dreißig Jahre hinreichend gezeigt.
Es liegt in einem großen Theil der Juden ein sehr conservatives Element, das nur
darum nicht zur Geltung kommen kann, weil sie durch eine falsche Gesetzgebung noth¬
wendig in die Opposition gedrängt werden. Uns scheint diese Rechnung sehr einfach
und handgreiflich. Ob es besser wäre, wenn unsere Staaten nur aus christlichen Bür¬
gern beständen, das ist eine andere Frage; genug, es ist nicht der Fall, und das con-
servative Interesse erheischt uncibwendlich, daß keine Classe im Staat vorhanden
sei, die als solche mit dem Staate unzufrieden zu sein, Veranlassung hat.
Neue Novellen. „Dunkles Leben" von Oswald Tiedemann, 1. Bd.
(Zwickau, Pabst). enthält fünf Novellen, gut geschrieben, aber von einer seltnen Einför¬
migkeit in der Komposition. Die drei ersten schließen genau auf dieselbe Weise: der
Blitz schlägt ein und das Haus verbrennt mit sämmtlichen betheiligten Personen. Auf¬
fallend ist es, wie auch in solchen kleinen Novellen sich der sittliche Zersetzungsproceß
unserer Zeit kund gibt. In der ersten Novelle wird ein Flüchtling, dem es ans Leben
geht, in einem Schloß aufgenommen, er schließt ein Liebesverhältniß mit Siona,
der Tochter der Schloßverwalterin; darüber wird die Herrin des Schlosses, Arabella,
die es nicht leiden kann, wenn man einer andern den Hof macht, eifersüchtig, und er¬
klärt ihm, er müsse das Asyl verlassen. „Er hatte keinen Beistand mehr von ihr zu
erwarten und war verloren, wenn er das Verhältniß zu Siona nicht aufgäbe. Bei
diesem Gedanken bebte er zurück, als ihm aber auf der andern Seite die Gefahr des
Todes immer klarer vor den Augen schwebte, gewann die Lust nach Freiheit und zum
Leben die Oberhand, und das Bild Sionas trat immer mehr in den Hintergrund.
Unschlüssig blickte er auf Arabella und neue Gedanken stiegen in ihm auf. Ihre Ge¬
stalt war ihm nie verführerischer erschienen. Unwillkürlich stellte er Vergleichungen an
und seine überwiegend sinnliche Natur neigte sich zum Vortheil Arabellas. Die
gänzliche Umgestaltung seiner Verhältnisse durch sie ersetzte in seiner Schale der Ueber-
legung das fehlende Gewicht ... er sank vor ihr auf die Knie, preßte ihre Hand an
die Lippen und rief flehend: Arabella!"--Da hört doch vieles auf! — Einen
zweiten Roman, Afraja von Th. Mügge, können wir mir loben. Das norwegische
Fischer- und Handelslcben ist mit einer ungemeinen Anschaulichkeit geschildert, und wenn
Wir auch trotz des fremdartigen Costüms in dem Kaufmann Hclgestad eine Reminis-
ccnz an Nathan den Squatter-Regulator, in den Lappländern eine Reminiscenz an
W> Scotts Zigeuner herauserkennen, so schadet das nichts; jene Charaktertypen sind
mit großer Kunst in die geschilderten Zustände verwebt, und die ganze Begebenheit
drängt sich uns in seltner Gegenwart aus. — Der Roman bildet den ersten Theil der
„Sammlung auserlesener Original-Romane", hcrausg. von Otto Müller (Frank¬
furt a. M., Meidinger), die wir vor einigen Wochen angezeigt haben. — Ferner
erwähnen wir: Welt und Bühne, Roman von L. Mühlback). 2 Bde. (Berlin
Zanke). Frau Professor Munde liebt in ihren Erfindungen das Ungeheuerliche; sie
hat eine sehr lebhafte Phantasie, die sich zuweilen mit E. Sue messen könnte, aber es
fehlen ihr alle die Seelenkräfte, welche diesen Erfindungen ein sittliches und ästhetisches
Maß geben. Zu Anfang des Romans stellt sich die Stiefmutter der Heldin als ein
absolutes Scheusal dar; nach dieser That verschwindet sie völlig. Die Heldin selbst,
Marie, überrascht ihren Geliebten, Arthur, im Rendezvous mit einer Schauspielerin;
aus Verzweiflung geht sie in eine Menagerie und wird Thierbändigerin; sie hat eine
magische Gewalt über die Thiere; Löwen, Tiger, Hyänen, Schlangen u. s. w. schmie¬
gen sich zu ihren Füßen, mit dem ersteren schläft sie sogar immer zusammen., Sie
giebt eine große Vorstellung, sieht ihren ehemaligen Geliebten wieder mit jener
Schauspielerin zusammensitzen, die ihn ruinirt; ihr eigner Compagnon, der einen
geheimen Haß gegen sie hegt, weil er eifersüchtig aus den Löwen ist, macht einen
Anschlag gegen ihr Leben, aber er selber wird dabei vom Tiger zerrissen, die Me¬
nagerie brennt ab, Marie wird von einem jungen Bildhauer, Victor, aus den
Flammen gerettet. Das alles erinnert uns lebhaft an Holtcis Vagabunden, aber wenn
uns dieser die reine, lebhaft angeschaute Natur gibt, die doch allein solchen Schilderungen
Interesse verleihen kann, empfangen wir hier nichts, als überschwengliche „Poesie",
d. h. Unnatur. — Victor hat eine Amazonengruppe zur Concurrenz geliefert, die aber
durch gemeine Intriguen nicht den Preis erhält (Satiren auf Berliner Persönlichkeiten).
Darüber geräth er in Verzweiflung, und will sich durch Kohlendampf ersticken; Marie,
die mit ihm als Schwester gelebt hat, gesellt sich zu ihm, anstatt ihn aber von seinem
Selbstmord abzuhalten, bestärkt sie ihn darin, und will ihm Gesellschaft leisten. Sie
zünden die Kohlen an, er stirbt, aber sie wird durch einen Schauspieler Ascanio
gerettet. Der gute Victor ist abgethan, kein Mensch erinnert sich seiner. AScanio
erzieht nun Marie zur Schauspielerin; sie tritt mit ihrer alten Nebenbuhlerin, die mittler¬
weile Arthur ganz ausgesogen hat, zusammen auf, (wieder viele Satiren auf Berliner
Persönlichkeiten, auf die Birch-Pfeiffer, ans Nott u. s. w.) und feiert große Triumphe.
Ein reicher Engländer will sie heirathen, sie ist auch schon halb und halb Willens,
während der edle Arthur, um der Armuth, zu entgehen, um die Hand einer reichen
Mißgeburt wirbt; aber plötzlich besinnen sich beide anders, heirathen einander und
wandern nach Amerika ans. — Ein Gemisch ekelhafter Personen und widerlicher Scenen
ohne ästhetischen Zweck, Mystericnliteratnr der schlechtesten Art. Der poetisirende Stil
rafstnirt jungdcutsch, z. B. Seite 49: „Konnte man denn ermessen, ob nicht eines
Tages diese zarte Liane sich für ihn in eine volle Purpnrrose umwandeln und
ihm in seligem Selbstvergessen in die Arme sinken möchte?" (wo Liane soviel heißen
soll, als spröde Jungfrau;) (Seite 41) „Sie legte ihr Herz zu seinen Füßen nieder
und machte es für sich selber zu einem Fußkissen, um darauf zu knieen und zu dem
zu beten, den sie liebte" u> s. w.-— Von psychologischem Zusammenhang, Motivirung
des einen durch das andere, und dergleichen Pedanterien ist natürlich garnicht die Rede.—
— Georges Sand hat eine neue Dorfgeschichte
geschrieben: I^es Ruin-e» Sonneur«, die aber gegen ihre frühern glänzenden Leistungen:
I^it »knie un l)uM<!, ki'i'imyois is Lu-uupi und .le-an« bedeutend absticht. — Von
Octave Feuillee theilt die Revue de veux mondes (1. September) ein neues Pro-
verbe mit: valilü. Ein junger Componist, Noswciu, der Schüler des alten Sertorius.
liebt die Tochter seines alten Lehrers, Martha. Ein leidenschaftlicher Kunstenthusiast,
der Ritter Carnioli, ist davon überzeugt, daß eine Heirath die Künstlcrlausbahn seines
jungen Schützlings, von dem soeben in Neapel eine Oper mit glänzendem Erfolg auf¬
geführt ist, auf eine verhängnißvolle Weise unterbrechen würde; um sie zu verhindern,
verstrickt er ihn in die Netze einer schönen und geistvollen Kokette, der Prinzessin
Leonora. Diese bemächtigt sich aber des junge» Mannes aus eine solche Weise, daß er ganz
ihr Sklave wird, an die Kunst nicht mehr denkt, und sich von ihr ans jede Weise
mißhandeln läßt. Endlich läßt sie ihn im Stich, und er und Martha sterben vor
Gram. Die Schilderungen der Quälereien, mit denen ein weiblicher Satan ihren
Anbeter zu Tode martert, sind glänzend.—
Gustave Planche hat wieder einmal einen lebhaften Streifzug gegen die Grö¬
ßen der neufranzösischen Literatur unternommen. Im Jahr 1853 spielt das Alter¬
thum in der französischen Romantik ungefähr dieselbe Rolle, wie zu den Zeiten Victor
Hugos das deutsche Mittelalter. Man entlehnt ihm das Costüm, die Nomenclatur,
aber man gibt sich ebensowenig Mühe, in seinen eigentlichen Geist einzudringen, wie das
allgemein Menschliche in ihm herauszufinden. Die Vorliebe der Rachel sür die antike
Gewandung hat die Hauptsache gethan; das Interesse der Neuheit ist dazugekommen, und
hat den ganz unverhältnißmäßigen Erfolg Ponsards, Emile Augiers und der übrigen
„Klassiker" begründet. Planche zeigt ganz richtig, daß die Kunst eitel sei, der weder
Empfindung noch Idee zu Gruuoc liege, und daß jede historische Poesie von einem
wirklichen Studium der Gegenstände ausgehen müsse. Daß ein solches Studium bei
Pousard und den übrigen nicht zu finden sei, weist er sehr glücklich nach, und behan¬
delt die orakelmäßigcn „Abfertigungen" dieser Dichter, die uns diesseits des Rheins nichts
Neues sind, mit einer siegenden Ironie. Die gegenwärtige Kritik bezieht sich vorzugs¬
weise ans die Lo^s a>ni<mes von Ponsard und aus die ?ovmv8 inn^ueg von
Lcconte de Liste, der u. a. die griechischen Götternamen an Stelle der lateinischen
wieder eingeführt hat, und der bei einer unzweifelhaft bedeutenden Kenntniß des Alter¬
thums und einem wirklich poetischen Sinn sich mir zu sehr verleiten läßt, die alten Stoffe
durch moderne Reflexionen abzuschwächen. — Als Gegenstück werden die?umues vviwge-
Iitiue«von Victor de Laprade, einem talentvollen Philosophirendcn Dichter, besprochen.
Militärische und vermischte Schriften von Heinr. Dietr. von Bülow.
In einer Auswahl mit Bülows Leben und einer kritischen Einleitung, herausgegeben
von Eduard Bülow und Wilhelm Rustow. — Leipzig, Brockhaus. — Dietrich Bülow
war der Bruder des berühmten Generals und gehört zu den ausgezeichnetsten militärischen
Schriftstellern Deutschlands. Die Herausgeber haben sich also durch die Sammlung
seiner Werke ein wesentliches Verdienst um das Publicum erworben. In der Einleitung
geben sie uns kurze Notizen über sein Leben und seine unglücklichen Schicksale. Unter
den kleinern Schriften, die sich nicht auf militärische Gegenstände beziehen, zeichnen sich
die meisten durch klare lichtvolle Darstellung aus, sowie durch ein entschiedenes und geistvolles
Urtheil. Die umfangreichste und bedeutendste unter den Schriften ist der „Geist des
neuern Kricgssystcms"; sehr bedeutend aber auch die sich daran schließenden Monographien
über die Feldzüge Gustav Adolphs, des Prinzen Heinrich, den Feldzug von 1810 und
von 180S. Die letztere Schrift war die Veranlassung seines Unglücks. Er wurde im
August 1806 verhaftet, weil er das herrschende System dem schärfsten und rücksichts¬
losesten Tadel unterworfen hatte, und in die Festung gesteckt. Ueber sein Ende sind
nur Muthmaßungen da. ES ging das Gerücht, er habe in Königsberg Mittel gesunden
sich in Freiheit zu setzen und nach Kurland zu entkommen; daselbst sei er aber den
Kosaken in die Hände gefallen, die ihn unter grausamen Mißhandlungen nach Riga
geschleppt haben, wo er bald darauf, im Juli -1807, im Gefängniß gestorben sei. Nach
andern Nachrichten wurde er von der preußischen Negierung an die russische ausgeliefert.
Wie dem auch sei, sein Schicksal gehört jedenfalls zu den vielfachen Flecken der
deutschen Ehre. —
Von MstrS. Gaskill, der Verfasserin von „Mary Barton" und „Ruth" ist ein
neuer Roman erschienen, „ni'-inkorcl p-ipm-s", der zuerst in den Household Worts ab¬
gedruckt war. Auch der Roman Il^-mia o>- n<no loof will, an old luve von Kingslcy,
der von Fräsers Magazine mitgetheilt wurde, ist jetzt vollendet und in einem Separat-
abdrnck herausgegeben. -—
Zur Abwehr. Eine Entgegnung auf die Schrift des H. Kcilmann: „Warum
bin ich wieder katholisch geworden?" und aus die darin enthaltenen Angriffe gegen die
deutschkatholische Gemeinde zu Offenbach a. M. Ein Beitrag zur Krankheitsgeschichte
der Seele, den Denkenden aller Konfessionen gewidmet von I. Pirazzi, Schriftführer
der Gemeinde. 2. Auflage, Offenbach, Heineman». — Den Inhalt gibt der Titel an. Da
bereits 1000 Exemplare vergriffen sind, scheint der Stoff Interesse gefunden zu haben. —
L. Tiecks gesammelte Novellen. Berlin, G. Nenner. — Mit der
Lieferung ist nun der 7. Bd. geschlossen. Sie enthält außer dem Schluß der
vortrefflichen Novelle „die Wnndersüchtigcn" die Zaubergcschichte „Pietro von Abano"
(1838), eine sehr schwache Leistung. Wir bemerken übrigens, daß die Angabe des
Datums nicht richtig zu sein scheint; wir haben die Novelle bereits früher gelesen. —
Auf das im October beginnende IV. Quartal der „Grenz-
borett" nehmen alle Buchhandlungen und Postämter Be¬
stellungen an, und erlaubt sich die unterzeichnete Verlagshandlung zum
geneigten Abonnement einzuladen.
Fr« Ludw. Herbig in Leipzig.
Unter allen Zweigen der prosaischen Literatur hat die Geschichtschreibung den
größten und unmittelbarsten Einfluß auf die Bildung des Volks, mehr als die
Philosophie. Denn diese wendet sich, schon weil sie eine größere Sammlung
und Abstraction des Gedankens verlangt, zunächst nur an einen auserwählten
Kreis, und die Masse empfängt ihre Einwirkungen erst ans zweiter Hand, wobei
es immer zweifelhaft bleibt, ob diese Einwirkungen dem ursprünglichen Geist
der Philosophie entsprechen. Die „reinen" Gedanken, mit denen sich die Philo¬
sophie beschäftigt, erhalten ihre wahre Bedeutung erst durch die Anwendung auf
das concrete Leben, und da würde der tiefste Denker zuweilen über den ver¬
borgenen Inhalt seiner eigenen Gedanken erstaunen. Die Metamorphosen der
Hegelschen Philosophie, als sie Gemeingut des Volkes wurde, sind in dieser
Beziehung höchst charakteristisch. Der Geschichtschreiber dagegen, wenn er das
Talent besitzt, gut zu erzählen, wenn er durch kräftiges Anpochen an das Thor
der Phantasie die Seele zur Aufmerksamkeit zwingt, schmeichelt seine Gedanken
unmittelbar und augenblicklich ein, und da er sich stets mit lebendigen, realen
Gegenständen beschäftigt, so kann man über den Sinn und die Anwendung
derselben keinen Zweifel hegen. Was aber von der Philosophie gilt, muß noch
mehr von der Geschichtschreibung behauptet werden: so paradox ihre Ansichten
auf den ersten Anblick erscheinen, sie entsprechen doch stets einer allgemeinen
Regung des Gewissens, sie geben einer Gefühls- oder Verstandesrichtung, die
bereits anßer ihnen vorhanden ist, den bestimmten Ausdruck, und damit den
Muth, sich als etwas Berechtigtes zu begreifen. In dieser Beziehung ist die
deutsche Geschichtschreibung, namentlich seit den Zeiten der Julirevolution, sehr
lehrreich, denn erst diese gab den Gegensätzen ein bestimmteres Verhältniß zu¬
einander.
Zwar ist die Reaction gegen den Geist und die Tendenzen des vorigen
Jahrhunderts weit älter, aber sie äußerte sich früher nur prophetisch oder kritisch,
Gestaltung gewann sie erst in den dreißiger Jahren. Auch das erste doctrinare
Blatt von Bedeutung, das die reactionäre Partei gründete, das „Berliner politische
Wochenblatt", verdankt der Julirevolution seine Entstehung. Man mußte sich
erst über den Schreck seiner eigenen Gedanken beruhigen, ehe man an die objective
Darstellung denken konnte.
Die deutsche Geschichtschreibung, sobald sie überhaupt in die allgemeine
Literatur eintrat, war überwiegend protestantisch, aufgeklärt, preußisch, bürgerlich,
liberal. Luther, der alte Fritz, Montesquieu und vor allem Voltaire waren
Voraussetzungen, die nicht umgangen werden konnten, auch wo mau gegen sie
polemisirte. Ju der Form herrschte der Humesche, etwas farblose Pragmatismus,
der alle Gegensätze der Zeiten und Völker abschwächte und lediglich nach den
Voraussetzungen des eignen Zeitalters suchte. Rotteck war der populärste,
freilich auch der flachste Ausdruck dieser Bildung und Methode; Livius, bei dem,
abgesehen von einzelnen Traditionen, die sich halb wider Willen in diese römische
Hofgeschichte eingedrängt haben, das Zeitalter des Camill und des Hannibal
grade so aussieht, wie das Augusteische, das ursprüngliche Vorbild.
Seit dem Anfange dieses Jahrhunderts waren nun viele Umstände einge¬
treten, der Geschichtschreibung eine veränderte Richtung zu geben: 1) der histo¬
rische Roman, der das Publicum daran gewöhnte, auch in der Geschichte nach
colorirten Darstellungen, nach Portraits, Costum, Localschilderungen und dergl.
zu suchen. Wenn man coloriren. will, muß man die Methode des Pragmatismus
aufgeben, man muß sich in das Material vertiefen und es geben, wie es ist, ab¬
gesehen von allen Voraussetzungen der modernen Bildung und Gesittung. — Z) Die
romantische Schule, die unsere Schriftsteller dazu verleitete, „geistreich" zu sein,
d. h. ungewöhnliche, frappircnde, paradoxe Gesichtspunkte aufzusuchen. F. Schlegels
„Vorlesungen über die neuere Geschichte" (181-1) sind für »ufere Geschichtschrei¬
bung ein epochemachendes Buch. Es waren darin alle bisherigen Ansichten und
Urtheile anf den Kopf gestellt, man mußte sich darein finden, zu verehren, was
man früher verabscheut, zu verwerfen, was man früher als das allein Richtige
angesehen. Philipp II., Alba, Tilly u. s. w. wurden edle Helden, Heinrich IV.,
Gustav Adolph u. s. w. Jesuiten; das Hans Oestreich das erste Heldengeschlecht, der
Protestantismus, gelinde ausgedruckt, ein unlovarä some. Je weniger in diesem
Buche bewiese» wurde, desto populärer war es; denn die Stichwörter waren sehr
handgreiflich, man konnte anf die bequemste Weise vou der Welt geistreich wer¬
den. Dieses Geistreichthnn war die Hauptsache; die katholischen und patriotischen,
d. h. antifranzöstschen Sympathien kamen erst in zweiter Linie. Es schien so
unaussprechlich gebildet und tief, im Katholicismus, deu selbst seine Anhänger bis¬
her nur schüchtern vertheidigt, einen erhabenen Inhalt zu finden. Wie wird im
Zerbino der arme Nestor, der Repräsentant des deutschen Spießbürgers, abgetrumpft,
als er die katholische Kirche zu lästern wagt! Nicht vom Standpunkt der Bigot¬
terie, sondern der feinen Bildung, die alles geschmacklos fand, was keinen Haut¬
gout hatte. Die andern Propheten, z. B. Adam Müller, haben weniger Ein¬
fluß gehabt; sie waren zu geziert, zu wenig handgreiflich; auch Haller nicht mit
seiner „Restauration der Staatswissenschaften" (1816 u. s. w,), wenn auch man¬
ches von seinen Ideen durch die reactionären Zeitschriften dem öffentlichen Bewußt¬
sein eingeprägt wurde. Das Buch ist viel besprochen, aber wenig gelesen, und
mit Recht, denn es ist von einer entsetzlichen Langweiligkeit, und man hat nur
nöthig, einige hundert Seiten darin zu lesen, um deu wesentlichen Inhalt der ge¬
stimmten fünf dicken Bände sich anzueignen. Wie rasch aber eine neue Idee sich
der öffentlichen Meinung einschmeichelt, wird man erkennen, wenn man in Beckers
Weltgeschichte das Capitel über Gregor VlI. nachschlägt. Das Buch, ursprüng¬
lich (1801 — 3) sür Kinder berechnet, grade wie die gleichzeitigen „Erzählungen
ans der alten Welt" (1801-,-3) ist so harmlos als möglich, und macht nicht die
geringsten Ansprüche auf Geist, Romantik und Tiefsinn; es geht im wesentlichen
Hand in Hand mit dem Geist des vorigen Jahrhunderts, und doch ist in noch
nicht zwanzig Jahren die öffentliche Meinung so weit vorgeschritten, daß man aus
dem Gründer der römischen Hierarchie einen Heiligen machen darf. — 3) Die
historisch-juristische Kritik: Niebuhr, Savigny, Eichhorn, A. Müller n. s. w.
Die Forschungen dieser großen Männer wurden freilich nicht so schnell populär, als
die Schlegelschcn Ansichten und Meinungen, denn sie verlangten, um nur verstanden
zu werden, tieferes Nachdenken; desto nachhaltiger waren sie in ihren Wirkungen.
Die Abstractionen der gewöhnlichen Culturgeschichte und Politik, von dem Fort¬
schritt in gerader Linie, dem Gesellschaftsvertrag u. f. w. sind dnrch sie auf immer
zerstört, und wenn sich in ihre Idee des organischen Natnrwnchses und der Rechts-
cvntinuität auch noch viel Romantik einmischte, d. h. viele nur halb ausgemalte,
concrete Anschauungen, die also beinahe sich wieder zu Abstractionen verflüchtigten,
so geben sie doch eine Methode der Beobachtung und Kritik, die jetzt-nicht mehr
blos der antirevolutiouäreu Partei angehört. Ihr Haß gegen Revolutionen,
d. h. gegen Sprünge in der Geschichte, gegen Unterbrechungen der organischen
Continuität, war zwar ein sehr wesentliches Moment ihrer Kritik, aber doch nicht
das einzige; die Hauptsache war die Schärfung des Blicks für das Wirkliche,
Concrete, Lebendige, das sich nicht in Abstractionen auflösen ließ; für das stille,
werdende Leben der Geschichte, von der man früher nur die hervorspringenden
Resultate zusammengefaßt hatte. — 4) Die Freiheitskriege und das daraus ent¬
springende Nationalgefühl. Erst durch dieses Nationalgefühl erhält die Geschicht¬
schreibung einen substantiellen Inhalt, alle großen Geschichtschreiber waren Patrio¬
ten und erfüllt von den Empfindungen, Interessen und Ideen ihres Volks, die
Träger seines Stolzes und seiner Größe. Ju Deutschland war aus nahe liegeu-
dew Gründen von einem solchen Patriotismus gar nicht die Rede gewesen: es ist
nicht jedem gegeben, sich in Klopstockscher Manier eine Vision des Vaterlandes
auszumalen, und der an localen Eigenthümlichkeiten sich aufbauende Patriotismus
eines Justus Moser kann nur baun von Werth sein, wenn ihm ein allgemeineres
Gefühl zu Hilfe kommt, sonst verliert er sich in Genremalerei. Die Freiheitskriege
regten das deutsche Nationalgefühl auf das mächtigste an, und wandten das In¬
teresse von den Haupt- und Staats-Actionen gekrönter Häupter auf die Thaten des
Volks, wenn auch zunächst die Hohenstaufen, die Nibelungen u. f. w. darin ihre
Nahrung fanden. Man hat den Patriotismus zuweilen zu weit getrieben, indem
man als den einzigen Maßstab des Urtheils aufstellte, wieweit jemand „deutsch"
war, d. h. wieweit er die Entwickelung, die man sich als die allein richtige für
Deutschland ausgeklügelt hatte, forderte oder uicht; indem man also die Franzosen
sammt und sonders verwarf, weil sie meistens einen schädlichen Einfluß auf
Deutschland ausgeübt. Indeß das sind Auswüchse, die sich leicht heben lassen,
und die dem gesunden Kern keinen Abbruch thun. — S) Die Geschichtsphi¬
losophie. Hegels Einfluß ans die Geschichte ist ganz unberechenbar, und er ist
noch lange nicht erschöpft. Soviel Mißgriffe er in Bezug auf die Thatsachen
wie in seiner Methode begangen hat, und wie wenig wir auch die Ausdehnung,
die er seiner Polemik gegen die „historische Schule" gegeben hat, billigen wollen,
so haben wir doch erst ans ihm gelernt, historisch zu denken, weite Perspectiven
zu umfassen und dabei das Gesetz der Perspektive im Auge zu behalten. Seine
Gestchtspuukte sind für die^ Geschichtschreibung ebenso wichtig geworden, als die
Methode der historischen Schule.
Das sind die Hauptquellen, aus denen der Geist der modernen Geschicht¬
schreibung herzuleiten ist. Wir gehen nun ans einzelne Bücher über, die für die
neue Tendenz charakteristisch sind, und die ihrer Zeit ein ungewöhnliches Auflesen
erregt haben, indem wir uns vorbehalten, in der Auswahl und Reihenfolge der¬
selben die unbedingteste Freiheit auszuüben. Wir beginnen mit der:
Hurter, geb. 1786 in Schaffhausen, hatte seit 180L in Göttingen Theologie
studirt, und war 1823 Antistes und Dekan in seiner Vaterstadt geworden. Er
war also in einer amtlich protestantischen Stellung, als er jenes Buch herausgab,
in dem das reichhaltige Material offenbar dazu verwendet ist, den.Katholicismus
zu verherrlichen. Daher das große Aufsehen; freilich thaten auch die Journale
der Reaction und des Romanismus das Ihrige, es zu präconisireu.
Zwar haben wir es nicht mit einer Parteischrist im gemeineren Sinne des
Wortes zu thun; Hurter ist im Gegentheil fest davon überzeugt, sich nur durch den
objectiven Eindruck der Thatsache« bestimmen zu lassen, und er gibt sich in der
That ernstliche Mühe, objectiv zu sein. Von Verfälschung, Unterdrückung, Ver¬
hüllung der Thatsachen ist keine Rede; er erzählt alles, was er in seinen Quellen
findet, mag es nun in sein System passen oder uicht. Sein Material ist im
höchsten Grade umfassend, zwanzig Jahre hatte er sich mit dem Gegenstande be¬
schäftigt, ehe er an die Ausarbeitung ging, und die Collectaneen, die er fast in
überreichen Maße mittheilt, geben ein so anschauliches Bild von der Redeweise,
also auch von dem Denken und Empfinden der Zeit, daß mau ohne sein Zuthun
eine lebendige Vorstellung davon gewinnt, — Zudem lag in der Geschichte jenes
großen Papstes sehr vieles, was den aufgeklärtesten Kopf von der Welt anziehen
konnte, wenn er überhaupt Sinn für historische Bedeutung hatte. Es ist ein
Weltreich in viel höherem Sinn als das römische Jmperatorenthnm, denn während
Rom der Mittelpunkt aller europäischen Angelegenheiten ist, wird dieses Principal
doch nur durch geistige Motive vermittelt, nicht, wie unter den Cäsaren, durch ma¬
terielle Uebermacht. Es ist gewissermaßen ein angenehmer Kitzel, zu sehen, wie
sich die Gewaltigen der Erde vor einem überlegenen Geist und vor der Macht
der öffentlichen Meinung beugen müssen, wenn auch der Inhalt dieser Meinung
nicht mehr der unsrige ist. Und nie hat ein hohes welthistorisches Amt einen
würdigeren Träger gefunden, als das Papstthum in Innocenz III. Es ist ein
Geist, vor dem wir uns beuge« müsse», auch wenn wir davor zurückschrecken.
Allein daß diese Objectivität doch keine ganz unbefangene ist, verräth sich
schon in den beständige» Beziehungen zur Gegenwart, die der Geschichtschreiber
haßt, und aus der er sich in das dunkle Asyl des Mittelalters flüchtet.
„Nur über dieser Geschichtschreibung", heißt es in der Vorrede zum I.Band, S. IX,
,,konnt er der Betrübniß vergessen, welche bei dem losgebrochene» Toben entfesselter.Leiden¬
schaften, bei dem wilde», wüsten Rase» blinde» Gelüsts, bei dem Zertrete» alles Rechts
und bei der in erschütternder Ausdehnung sich offenbarenden Entsittlichung (in welchem
allem die Bewohner seines Vaterlandes den übrigen Völkern den Vorrang abzulaufen sich
bestreben) so vielfältig und so gewaltig ^sein Gemüth darniederdrückte; nur über ihr der
steigenden Bangigkeit sich erwehren, mit welcher er seit den wieder ausgebrochenen Revolu-
tionssturmen in die Zukunft blickte. Wie mußte nicht er, wie in»ß nicht jeder, welchem
wvhlbegrüttdctes Recht, feste Ordnung und sittliche Würde die Pfeiler sind, ans denen der
Werth und die Wohlfahrt des Menschengeschlechts sich erheben, gern in solche Zeiten sich
hiuüberflüchtcn, welche gegen alle Störungen von jenen ein kräftiges Gegengewicht aner¬
kannten; in welchen die Gesellschaft durch alle Abstufungen und dn'res alle Verhältnisse zu
einem harmonisch ausgebildete», darum auch fcstgeglicderte» Ganze» sich gestaltete, und in
denen ein aus dhucnnische» Kräften ausgehendes GravitatiouSgesctz alle» die Waudelbcchn
bestimmte, an dessen Statt je länger desto mehr eine trostlose Atomistik zu trete» droht?" —
Und ebenso in der Vorrede zum 2. Bande das Taciteische Motto: .,IÜAo Iwo -incxiuv w-
voris prsömium pstam, ut nie a oonsxeotu iniüoeum, (Mru nostra tot per kmnos plein
-rei^s, tauUgper cisrts, 6um xrisoa ni» tot» meulg rexvto, avertain " —
Es ist also lediglich der Durst nach einem recht gewaltigen Quell der Autorität,
was Hurter in das Mittelalter zurückführte, denn die Thatsachen an sich tonnen
es nicht sein. Er mag die Zerwürfnisse der dreißiger Jahre »och so lebhaft em¬
pfinden, er wird es doch nicht wagen, sie mir den Greueln der Albigenserkriege
in Parallele zu stellen. Denn in diesen ist nicht mir die Masse des darin sünd¬
lich vergossenen Bluts das Abscheulichste, sondern die Verruchtheit, mit der die
„Steller Gottes" in der Ausrottung der Provence« ihren gemeinen egoistischen
Zwecken nachginge», eine Verruchtheit, die der Papst nach Hurters eigenem Zu-
geständniß wenigstens zum Theil kannte und begünstigte, wenn er auch allerlei
höchst lahme und klägliche Entschuldigungen findet. Das Entsetzliche, daß ein gu¬
ter Zweck (als solchen faßt wenigstens Hurter die Unterdrückung der Ketzerei) sich
bei seiner endlichen Durchführung in nichtswürdige Mittel vertiefte, sollte einen
sittlich wohlgeschaffeueu Geist wol auf das Tiefste ergreifen, und daß Hurter
keine Spur eines solchen Entsetzens verräth, beweist eine tiefe sittliche Corruption
in dem Gemüth dieses neumodischen Katholiken.
Hurter sucht im Gefühl des Widerspruchs zwischen seinem protestantischen Amt
und der Verherrlichung des Katholicismus fortwährend in Erinnerung zu bringen,
daß er nur darzustellen, uicht zu richten habe. „Ob jene Erkenntniß (des Papstes) eine
richtige oder eine irrige, ob sie dem wohlverstandenen Christenthum gemäß oder
zuwider, ob sie aus der Lehre seines Stifters zu begründen sei, darnach hat der
Geschichtschreiber nicht zu fragen; diese Erörterung fällt dem Dogmatiker oder
dem Polemiker anheim; jener hält sich blos daran, daß sie zu irgend einer Zeit
vorgewaltet habe n. s. w." (Bd. I., Vorr. V.) Das ist sophistisch, denn das
Urtheil gibt der Geschichtschreibung erst die Substanz, ohne Urtheil kann mau
gar nicht darstellen; es ist aber auch unwahr, denn in der Färbung spricht sich
das Urtheil sehr deutlich ans, und diese ist in Hurters Buch so subjectiv als
möglich. Er verfällt um so willenloser in die Gewalt der Voraussetzungen, je
objectiver er zu sein glaubt; er wähnt im Geist der geschilderten Zeit zu schrei¬
ben, und es ist nur sein eigner Geist, der sich in der Zeit spiegelt. Der Unter¬
schied ist augenscheinlich: bei Innocenz war das Princip unmittelbares Gefühl,
Leidenschaft, es füllte die Totalität seiner Seele; Hurter dagegen macht es sich durch
Reflexion zurecht, und zwar durch eine ziemlich oberflächliche Reflexion, denn das
bloße Antoritätsprincip ohne sittlichen Inhalt ist doch nur ein Ausweg sehr
schwacher, haltloser und verkümmerter Seelen. — Man brauchte nicht Katholik zu
sein, um im mittelalterlichen Papstthum eine große, vielleicht auch eine gute Er¬
scheinung zu fassen, denn es ist ein Unterschied zwischen dem Katholicismus vor
und nach der Reformation. Kurze Zeit vorher hatte I. Voigt eine ähnliche
Apologie Gregors VII. geschrieben, und die Kirche kam eilfertig, den reuigen Ketzer
in ihrem Schoß z» empfangen; aber Voigt wandte sich sehr entschieden ab, denn
er wußte, daß ein Princip für das elfte Jahrhundert sehr angemessen, und doch
für die Gegenwart unbrauchbar sein könne. — Auch bei Hurter sind die ersten Mo¬
tive zu seiner Sympathie weltlicher Natur, ihm imponirt die handgreiflicheManifesta-
tion der Idee in der erscheinenden Kirche (I. S. 78), ihre Stabilität, ihr Nutzen
für den allgemeinen Friede» (II. S. 710—11), ihr von dem Wechsel unabhängi-
ger Spiritualismus (I. S. 99), ihre kosmopolitische Culturstellung (III. S. 2),
ihre Consequenz in der Abstraction llU- S. 16), ihre Popularität und ihr Ein¬
fluß auf Gemüth und Phantasie (III. 6S). Das sind alles Dinge, die mau als
guter Protestant vollkommen zugeben kann; höchst »„protestantisch aber ist der
pfäffische, zelvtisch ungebildete Ton in der Apologie und Polemik. Nämlich die
geistige Auffassung — und das müssen wir den meisten Benrthcilern Hnrters
entgegenhalten — ist nichts weniger als reich und bedeutend; sie ist vielmehr
zum Erschrecken dürftig, arm und kleinlich. Bei Schlegel, Leo und andern Ge¬
schichtschreibern der romantischen Schule wird man durch kühne, glänzende Per¬
spektiven überrascht, wenn sie auch nicht correct sind ; man fühlt sich ans einen
höhern Standtpunkt erhoben, auch wenn die Bewegung etwas PlMtvuisch ist.
Bei Hurter dagegen hat man stets die Empfindung eines kleinen, gedrückten
Geistes; nie eine hohe Idee, nie ein tieferes Verständniß, nie ein kräftiges
ergreifendes Wort; dagegen oft eine Naivetät und Bornirtheit des Urtheils, die
anwidert. Hurter ist ganz abhängig vou seinen Quellen, nachdem er sich einmal
ihnen hingegeben hat; die eignen Gedanken sind ihm ausgegangen. — So ein
Geist wird leicht durch Widerspruch erbittert, durch Anfeindungen verblendet, durch
falsche Cvnsequenzmacherei ins Absurde geführt. Wir glauben nicht, daß schon
bei seinem ersten Band der Entschluß des Uebertritts bei ihm feststand; aber
nnn warfen sich die Ultramontanen, die Görres, Jarcke, Haller u. s. w. in seine
Arme, priesen ihn als tiefen Denker, und schmeichelten dadurch seiner Eitelkeit *),
ans der andern Seite wurden die Anklagen des Kryptokatholicismus gegen ihn
laut/ seine Amtsbruder forderten ihn zu einer unumwundenen Erklärung auf, er
antwortete (18i0) in einem sehr gereizten und unschicklichen Ton, aber doch noch
mit einem ausdrücklichen Bekenntniß des Protestantismus, nahm sich aber gleich¬
zeitig der Schweizer Ultramontanen an. Erst 18ii erfolgte sein Uebertritt in
Rom*-), bald darauf seine Anstellung als k. k. Historiograph in Wien. Die
„Geschichte Ferdinands II. und seiner Eltern bis zu dessen Krönung in Frank¬
furt" (4 Bde. 1860—31), die er als solcher herausgegeben, hat trotz ihres gro¬
ßen Materials und ihrer raffirirt katholischen Haltung wenig Aufsehen mehr er¬
regt. — Wir kehren zu seinem Hauptwerk zurück.
Der Subjectivität des Urtheils entspricht anch die Subjectivität der Methode.
Hurter hat die Lpiswlas IrmvLerM seiner Darstellung zu Grunde gelegt, mit
Recht, denn um einen Helden objectiv aufzufassen, ist ein unmittelbarer Ausdruck
seines Wesens das günstigste Hilfsmittel. Aber der Gebrauch, deu er davon
macht, ist höchst sonderbar: er stellt mit der größten Naivetät Collectaneen aus
diesen Briefen zusammen und begnügt sich, die directe Rede in die indirecte zu
verwandeln. Wir haben ja noch heutzutage hinlänglich Gelegenheit, Hirten-
briefe vo» Erzbischöfen und andern Prälaten zu lesen, aber wem in aller Welt
fällt es ein, sie aufs Wort zu nehmen! Die geistlichen Herren haben sich einen
osstciellen Stil der Salbung angeeignet, in dem sie ziemlich mechanisch fortreden
können; aus diesem geistlichen Geschäftsstil psychologische Resultate herzuleiten, ist
doch wol ein ganz verkehrtes Unternehmen! Nun findet man freilich in den
Briefen eines Innocenz U1. einen viel freiern Ausdruck des Innern, einen viel
kräftigern Naturlaut, aber die Art ist doch die nämliche; wer sich als Heiliger
weiß und unausgesetzt beobachtet, ist am wenigsten fähig, in jener Weise seiner
Natur Recht widerfahren zu lassen, wie es bei einer Quelle psychologischer Beo¬
bachtungen nothwendig ist. In diesem Papst ist ein großer Sinn, ein stolzes,
gewaltiges, nicht unedles Herz; aber dies muß mau aus der dreifachen theologischen
Umhüllung erst löse». Hurter verhält sich ganz kritiklos, ganz unbewehrt und darum
ist das Bild, das er gibt, verwaschen und unbestimmt, die eigentliche Größe jenes gewal¬
tigen Menschen geht uns nicht ans. Auch die Auswahl ist mangelhaft, oft werden
wir von ganz Unwesentlichen erdrückt, durch unerträgliche Breite und gedanken¬
lose Widerholungen ermüdet. Es ist gar keine Spur von plastischem Sinn, von
philosophischer Ueberlegung in diesem Mann; von dem Befragen des Gegentheils,
der ersten Pflicht des Historikers, keine Rede. Die Floskel dominirt über die
Thatsache. Es ist ein ganz komischer Idealismus in der Schilderung des Papstes;
die unbestimmtesten epMc-ta oniÄntia: edel, mild, sanft, gerecht, ruhig, fein, ge¬
mäßigt, in jedem Grade der Comparation, aber alle gleich farblos, gleich wenig
charakteristisch; lesen wir etwas Anderes ans dem Material heraus, das er uns gibt,
so ist das unser Verdienst, nicht das seinige. Alles ist grau in Grau gemalt,
kein lebendiger Zug, keine energische Bewegung tritt deutlich hervor. Hurter
begleitet jede einzelne Handlung mit trivialen Lobsprüchen, und wenn er gar apo¬
logetisch verfährt, ist der Eindruck widerlich. Er war nicht der rechte Homer
dieses Achilles. Seine Charakteristik ist Mosaikarbeit; er führt für jedes Mo¬
ment Quellen an, aber diese Citate zu einem Ganzen zu verarbeiten, ist er nicht
im Stande; er untersucht nicht einmal, wie sich die Quellen zu ihrem Gegenstand
verhalten, wieweit sie glaubwürdig sind, es ist ihm alles einerlei. Darum finden
sich auch in den übrigen Charakterschilderungen die gröbsten Verstöße, z. B.
bei Montfort würde kein Mensch ahnen, von wem die Rede ist, wenn nicht der
Name genannt wäre. Dieselbe Mosaikarbeit ist in der Schilderung allgemeiner
geistiger Regungen. Unter diesen Umständen ist es noch ein Glück, daß/nicht
eine Abstraction, eine „höhere Idee" zum Mittelpunkt des Charakters gemacht
ist, mau behält doch wenigstens überall den Eindruck einer gewissen Unmittelbarkeit.
Zuweilen macht diese künstliche Unbefangenheit einen unheimlichen Eindruck.
Wenn er die Greuel, die gegen die Albigenser verübt wurden, ganz ausführlich
erzählt, so erwartet mau doch, irgend einmal werde sich das natürliche Gefühl
Luft machen, die Menschheit in seiner Brust werde sich gegen die Thatsachen em-
Poren. Aber das geschieht nie, er läßt die absurdesten Consequenzen gelte»,
oder entledigt sich seiner Pflicht mit ein paar lichten Bemerkungen. Das macht
oft einen komische» Eindruck/ aber es hat anch seine sehr ernste Seite, denn es
verräth eine Unsicherheit des moralischen Urtheils, d. h. der sittlichen Gesinnung,
die wir in unserer neuen Literatur uur zu häufig antreffen. Das viele Reflec-
tiren hat die Fähigkeit des heiligen Zorns in uns erstickt, es ist als ob wir
Fischblut im Herzen hätten.
Die Kunstform des Werks ist sehr schwach, man fühlt das recht heraus, wenn
man es mit Rankes „Päpsten" vergleicht, die eine» verwandten aber eigentlich
viel schwierigern Gegenstand behandelt. Oekonomie und Architektonik, dem Ge¬
schichtschreiber ebenso nothwendig als dem dramatischen Dichter, fehlt bei Hurter
ganz. Er ordnet sein Material wie eine Chronik, von Jahr zu Jahr, er ist ab¬
hängig von den Daten, und denkt nicht daran, die verknüpfenden Fäden deutlich
hervortreten zu lassen, eine Auswahl in den Thatsachen zu treffe», wodurch das
Wesentliche bedeutender und anschaulicher hervortrete, und das Zusammengehörige
in der Form eines Bildes zu gruppiren. So hätte sich z. B. die Geschichte der
Ingeborg, die einen sehr großen Theil des Werks ausfüllt, fast novellistisch ab¬
runden lassen, aber wir empfangen nur das ungegliederte Material, verworren,
breit, phystognvmieloö und daher langweilig; wir kommen nicht vorwärts. Wenn
man blos nach den Daten geht, schreibt mau keine Geschichte; der historische Künst¬
ler muß ebenso über die gemeine Zeitmessung hinaus sein, wie der Poet, nament¬
lich bei einem Stoff, der seiner Natur nach eine sehr energische Architektonik
nothwendig macht. — I» de» beiden'letzten Bänden, welche die kirchlichen Zustände
im allgemeinen behandeln, ist zwar ein sehr reichhaltiges Material, dem man fast
den N»hin der Vollständigkeit zuschreiben kann, und sie sind insofern sehr unter-
richtend; aber es ist geistlos dargestellt, nach äußerlichen Motiven geordnet, und
man wird doch nicht dnrch kritische Strenge für den Mangel an Darstellung ent¬
schädigt. Es hätte Hurter nicht geschadet, wenn er sich mehr um die deutsche
Philosophie bekümmert, und von ihr einige höhere Gesichtspunkte entlehnt hätte.
Wenn die höhere Weihe der Kunst fehlt, so merkt man dagegen überall,
namentlich in de» eigentlichen Schilderungen, den Einfluß des historische» Romans.
Manches, z. B. die Schilderung der Peterskirche, die Ausmalung eines Inter-
dicts n. s. w., könnte sehr gut sei», denn Farbe und Material ist im Uebermaß
vorhanden, aber man hat zu wenig den Eindruck der Bildung, die anch in solchen
Schilderungen uns das Gefühl der Freiheit geben muß, jener gelinden, uicht ro¬
mantische» Ironie, mit der sich z. B. W. Scott von seinem Gegenstand unterscheidet.
„Erröthend gab die schöne Braut die Zusage u. s. w.", wenn von einer Con-
venienzheirath die Rede ist, dergleichen verstimmt; dabei ist die Sprache höchst
roh und ungebildet, oft breit und-schwülstig der Satzbau »»geschickt, die Effecte
ganz ins Grobe gearbeitet, das begleitende Räsonnement matt und trivial, ganz
abgesehen von dem pietistischen, nicht sehr ästhetischen Augenverdrehen, das auch
nicht fehlt. Man empfindet eine Natur heraus, die hitzig aber ohne große Leiden¬
schaft ist, die also auch nicht den Maßstab wirklicher Größe hat. — Uns scheinen
diese Gesichtspunkte nicht unwesentlich, denn etwas vom Dichter muß der echte
Geschichtschreiber haben. —
Wir gehen zu einem andern, in der Tendenz entgegengesetztem Werke über
das man aber häufig mit der Geschichte des Innocenz zusammengestellt hat:
Auch August Gfrörer (geb. 1803 im Schwarzwald) ging vom Studium
der Theologie aus, aber seine Universitätszeit in Tübingen hatte ihm den prak¬
tischen Kirchendienst verleidet. Er bildete sich erst als Gesellschafter Bonstetteus
in Genf, dann in Rom (1827) weiter fort, und erhielt endlich (-1830) eine
Anstellung als Bibliothekar in Stuttgart. In seinen kirchengeschichtlichen
Schriften >) wechseln die Standpunkte ziemlich rasch und stark; er reflectirte sich
einmal in einen idealisirten Katholicismus hinein, wurde auch 18iK Professor an
der katholischen Universität Freiburg. Das einzige Werk von ihm aber, welches
der allgemeinen Literatur angehört, ") geht von einem entschieden unkirchlichen
Standpunkt aus, und hat grade dadurch seine Wirkung gemacht.
Er nennt sich selber, indem er einen historischen Parteinamen ans die
gegenwärtigen Verhältnisse anwendet, einen Ghibellinen. Wenn Stichwörter schon
überhaupt einen zweifelhaften Werth haben, weil sie immer mehr oder weniger
sagen, als man eigentlich beabsichtigt, so gilt das doppelt von einem Stichwort,
in dem sich zwei entgegengesetzte Richtungen vermischen. Die Ghibellinen waren,
namentlich in Italien, Vertreter der weltlichen Macht gegen das Papstthum,
zugleich aber Vertreter der kaiserliche« Macht gegen die deutschen, vorzüglich
norddeutschen Land csfürsten. Seit der Reformation war nun die kaiserliche Macht
im Bunde mit dem Papstthum, die „Welsen" dagegen Feinde der Kirche. Ultra¬
montan und großdeutsch oder auch östreichisch sind hente verwandte Begriffe,
der Sinn jder Worte hat sich umgekehrt/*") Wenn mau also den alten Begriff
und anch in der alten Bedeutung beibehalten, und dennoch auf etwas Modernes
ausgehen will, so kaun das nur dnrch eine sehr künstliche, ja rasstnirte Reflexion
vermittelt werden.
Der reflectirte Standpunkt zeigt sich schon in der eventuellen Parteinahme
für entgegengesetzte Extreme. Gfrörer ist theils für Ferdinand II., theils für
Gustav Adolph, je nachdem er seine abstracto Idee bei ihnen findet. Parteien
werden aber nicht durch eine abstracte Idee, sondern durch die Totalität der
Sitten, Ueberzeugungen u. s. w. gebildet. Gfrörer hat nur eine politische Idee,
die ihn leitet. Die Einheit Deutschlands in der kaiserlichen Form; das übrige
ist ihm gleichartig. Aber es liegt doch in der sittlichen und materiellen Grundlage
der kaiserlichen Würde ein gewaltiger Unterschied, und es kaun für Deutschland
nicht gleichgültig sein, ob es die katholisch-östreichische, durch die Fortdauer der
italienische» Beziehungen an das Mittelalter geknüpfte, oder die protcstautisch-
uorddentsche Einheit gewinnt.
Verleugnung der Unmittelbarkeit und Vorherrschen einer einfachen politischen
Abstraction als bestimmendes Motiv, ist der Grundcharakter Gfrörers. Daher
seine rein politische Rechtfertigung der Jesuiten, in deren Wahlspruch: „der Zweck
heiligt die Mittel", jene reflectirte Politik gipfelt. Es ist nicht Sympathie mit
dem Inhalt, sondern lediglich die Frende an der Ueberlegenheit eines concentrirten
Verstandes, eines unerschütterlich festgehaltenen, im wesentlichen einfachen und
abstracten Plaus. Daher seine Apologie Macchiavellis, in der er übrigens mit
der allgemeinen Richtung der Zeit Hand in Hand ging"). Man verehrte jetzt
vor allem jene Politiker, die einem allgemeinen Princip zu Liebe, alle Gesetze
der Sittlichkeit und alle Gefühle des Herzens bei Seite setzten, mau verehrte
Richelieu, Ludwig XI., indem man sie etwas gewaltsam mit einem politischen
Ideale identificirte, daß doch erst die moderne Geschichtschreibung abstrahirt hatte;
zuletzt verehrte mau Robespierre. Eine fixe Idee wurde ein Grund zur Kano¬
nisation; in den deutscheu Burschenschafter war das lange vorbereitet. — „Die
Fürsten, sagt Gfrörer S. 37i, sind darum so hoch gestellt und vom äußern
Zwange befreit, damit sie nichts, als den wahren Vortheil des Staats vor
Augen haben. ES gibt keine höhere Rücksicht für sie, nicht Kirche oder Religion,
nicht die Menschheit. Diese Lehre ist nicht gefährlich, wie es wol beim ersten
flüchtigen Anblick scheinen mag. — Nur wenn alle Fürsten diese Regel befolgen,
und wenn jeder, der davon abweicht, sogleich, sei es durch die Umstände, sei es
durch den Ehrgeiz der andern dafür bestraft wird — über kurz oder lang geschieht
dies ohnedem immer wird das wahre Interesse der Menschheit gefördert." —
Diese Idee der Selbstgerechtigkeit oder des subjectiven Idealismus ist aller¬
dings sehr ghibellimsch. Unter den deutschen Philosophen hatte sie am eifrigsten
Fichte gepredigt. Gfrörer schent sich vor keinen Consequenzen. Er vertheidigt
z. B. die schändlichen Hinrichtungen nach Unterdrückung des böhmischen Aufstandes,
aus rein weltlichen Gesichtspunkten. Er hat überall Pläne der Arrondirnngspo-
init im Sinne, auch für die übrigen Völker. Er ist der Anwalt der historischen
Mächte gegen die abstracte Legalität, gegen das historische Recht.
Die Färl'ung erhält diese Abstraction dnrch die leidenschaftliche Abneigung
gegen alles spiritualistische, dnrch den ausschließlich weltlichen Sinn deS Geschicht¬
schreibers, der vielleicht eine Reaction gegen seine eigenen theologischen Studien
war. Mit dein bittersten Spott verfolgt er die Einmischung der Pfaffen in die
weltlichen Angelegenheiten, die in den Zeiten des dreißigjährigen Kriegs so all¬
gemein war, einerlei, ob es bei Katholiken oder Protestanten vorkommt. „A»s
des Kaisers Palast vertrieben", sagt er S. 3-16 von der Reformation, „mußte sie
Schutz suchen bei der Aristokratie des Reichs, dadurch büßte sie ihren hohen po¬
litischen Charakter ein. Die kühne Ghibellinin, welche seit ihrer Geburts-
stunde dazu bestimmt schien, alle, nicht mir die kirchliche» Mißbräuche abzuschaffen,
und den alten Glanz germanischer Nation wiederherzustellen, wurde zur Schüjz-
lingin der Fürsten, bald zur Pfahl- und Spießbürgern! des Reichs.....
(S. 319). Seit sie ein landesherrliches Institut geworden war, verschwanden
aus ihr aller Höhere politische Schwung, alle größeren Ansichten. Dadurch ist es
gekommen, daß die lutherische Kirche . . . jenen kleinlichen, knauserige», niedrig
demüthigen Charakter angenommen hat. Sie wurde die unterthänigste Dienen»
der gnädigsten Herrschaft. Bald behielten die Fürsten sich selbst allein die Milch,
oder die finanziellen Folgen der Kirchenverbesserung bevor, den Theologen blieben
als Abfall vom Tische die bloßen Fragen der Schule und das Gezänk, auf wel¬
chem Gebiete sie zum Schrecken des gesunden Menschenverstandes so wacker ge¬
arbeitet haben . . . Gewiß gibt es nichts Schöneres in der Welt, als demü¬
thige Vergessenheit seiner selbst, für höhere Zwecke. Aber es war nicht Demuth,
was jene Menschen zu einer solchen Handlungsweise trieb, sondern ein wahrer
Sklaveneifcr und politischer Unverstand. Hat man eine»! Hause» unpolitischer,
die Welt und das Leben nicht kennender Schriftgelehrten . . einmal von oben
herab eine bestimmte Richtung gegeben, so rennen sie blindlings darauf fort, so
lange man es allergnädigst will" n. s. w. — In dieser wenigstens relativ ge¬
rechtfertigten Abneigung gegen die pfäffische Einmischung in weltliche Angelegen¬
heiten ist Gfrörer das ganze Buch hindurch consequent; er lobt Wallenstein wegen
seiner Toleranz, und tadelt Ferdinand II. wegen seiner Bigotterie. Ueberall entwickelt
er eine entschiedene Vorliebe für praktische Geschäftsmänner im Gegensatz gegen die
in ihren Gedanke» Verlornen Gelehrten. Karl V. werden die ernstesten Vorwürfe
gemacht, daß er nicht die Fahne des GhibelliniSmns ergriff, die ihm diesmal,
angeregt durch die Reformation, das deutsche Volk darbot, während es in der
Hohenstaufenzeit überwiegend welfisch gewesen war. — Soweit wäre alles in
Ordnung, aber Gfrörer begeht den Fehler, sei» eigenes Urtheil j» die Zeit
zurückzuverlegeu, die er schildert. Er glaubt nicht an den Ernst und die Leiden¬
schaft der religiösen Gesinnung, wenigstens wo er einer bedeutenden Erscheinung
gegenübersteht, hat er stets die Ueberzeugung, es könne von einer wirklichen Re¬
ligiosität nicht die Rede gewesen sein, man könne sich derselben nur zur Handhabe
politischer Absichten bedient haben.
So kann er z. B. bei einem Charakter, wie Gustav Adolph, nicht begreifen,
daß er sehr energisch fromm und doch zugleich polirisch verschlagen, daß er leut¬
selig und doch absolutistisch gesinnt gewesen sei. Er ist überzeugt, Gustav habe
seine Leutseligkeit und Frömmigkeit nnr als Maske gebraucht> um das Volk für
seine politischen Absichten zu gewinnen, und er spricht^diese Ueberzeugung als ein
Lob ans. Dadurch wird nicht nur den Thatsachen Gewalt angethan, sondern es
wird auch das schöne Charakterbild des Schwedenkönigs verzerrt. Bei Gfrörer
tritt die Reflexion viel zu sehr über Naturell, Imagination und Gefühl heraus,
mit diesem abstracten Maß mißt man aber keinen großen Menschen. — Wir
erinnern an den Ausspruch Carlyles, den wir im vorigen Heft angeführt haben:
„Min verwechselt das Ende der Helden mit dem Ausgangspunkt und dem Ver¬
solg ihrer Laufbahn. Der gemeine Geschichtschreiber eines Cromwell geht mit
dem Gedanken zu Werk, es habe dieser den Vorsatz gehegt, Vertreter von Eng¬
land zu werden, da er noch die Marschlande von Cambridgeshire pflügte. Seine
ganze Laufbahn habe ihm im Entwurf vorgeschwebt, ein Programm des gesamm-
ten Drama, das er nachher, als er dazu kam, mittelst allerlei Pfiffen und Rän¬
ken, und mit täuschender Schauspielkunst, Schritt für Schritt dramatisch ent¬
wickelte .. . Man bedeute uur, wie entgegengesetzt die Wirklichkeit ist. Wie
viel vou seinem eigenen Leben sieht einer von uns voraus? Eine kurze Strecke
vor uns ist alles dunkel; ein uuaufgewickelter Strang von Möglichkeiten, Besorg¬
nissen, Anschlägen, ungewiß schwebenden Hoffnungen u. s. w." — Das ist die
richtige historische Auffassung; Gfrörer dagegen ist von seinen Reflexionen so
befangen, daß er die heiligsten Augenblicke ironisch erzählt, als freue er sich, den
Schelm hinter der Maske ganz wol herauszuerkennen. (Z. B. S. 937—38).
Auch dem Gemeingefühl des Volks thut er unrecht, wenn er die religiösen Par¬
teien abschwächte. So führt er z. B. S. 77S aus, daß Gustav mit deu Fran¬
zosen bald in Conflict hätte kommen müssen. „Er theilte mit jedem guten
Deutschen den angebornen Widerwillen gegen die romanischen Völker, die unsere
Leiber fürchte», aber sich rühmen, unsere Geister einstricken zu können. In der
That war Gustav Adolph gezwungen, seine Waffen gegen ausländische Feinde zu
kehren, sobald eS ihm gelang, Deutschland unter einen Hut zu bringen. Denn
er mußte dann, um seiner eigenen Sicherheit willen, die im wiederhergestellten
Reich zurückgebliebenen schlechten provinziellen Leidenschaften in eine bessere
nationale umschaffen; er mußte den Deutschen zeigen, daß sie ihren Feind im
Ausland zu suchen hätten. Auch die eifrigsten Katholiken würden ihm zuletzt die
Eroberung Deutschlands verziehen haben, wenn er die Waffen der Nation über
die Vogesen getragen, und in Paris Rechenschaft gefordert hätte über die was-
rend unserer früher» Bürgerkriege dem Reich gestohlenen Provinzen." — Das
ist eine Conjectnralpvlitik, die durch keine Thatsachen gestutzt wird.
Dieselbe falsche Verallgemeinerung und abstracte Idealisirung findet auch bei
Wallenstein statt. Auch dieser hat nach Gfrörer gleich von seinem ersten Auf¬
treten an einen großen politischen Plan verfolgt; er wollte ein mächtiges Kaiser¬
reich aufrichten, gestützt ans eine Reihe militärischer Lehen, ungefähr wie in der
Zeit des lateinischen Kreuzzugs oder unter Napoleon. Von diesem Gesichtspunkt
aus erklärt er alle Einzelnheiten in dem Verfahren seines Helden, die doch häufig
aus bestimmten Gemüthsaffcctionen, selbst ans abergläubischen Vorstellungen zu
erklären waren. Das Dämonische in seiner Natur hat er nicht herausgesucht,
er setzt ihn zu einem Systematiker herab. Noch mehr, er findet das nämliche
System in den meisten der bedeutendern Generale, namentlich in Pappenheim
wieder. Dagegen ist die Losung des Verhältnisses zwischen Wallenstein und dem
Kaiser mit großem Verstand auseinandergesetzt, wie es denn überhaupt an Scharf¬
sinn und Einsicht in diesem Buch durchaus nicht fehlt, wenn sie nur nicht durch
Abstractionen und vorgefaßte Meinungen verkümmert wären.
In einem Puukt bleibt er, stets consequent, in seiner Abneigung gegen die
„Welsen", welche die deutsche Einheit unmöglich machen, gegen die souveränen
Kleinstaaten; in Frankfurt (1848) scheint ihm aber sein großdentscheS Princip
auch in dieser Beziehung seine Ansicht modificirt zu haben. —
Die Composition des Werks ist schwach; Gustav jAdolph nimmt nur einen
kleinen Theil des Raumes ein, eigentlich erst von Seite 664 an, und auch da
nicht hinreichend hervortretend. Er hat loin eigentliches Darstellungstalent, trotz
vortrefflicher Bemerkungen im einzelnen; sein Stil reflectirt räsonnircnd, seine Kri¬
tik nicht immer ruhig und überlegt, obgleich er stets das Bestreben hat, objectiv
zu sein. Der Versuch der militärischen Verhältnisse ist unbedeutend, und den
nsrvus reinen, die ökonomischen Verhältnisse während des Krieges, bloßzulegcu,
hat er nicht einmal versucht. Von dieser Seite erwartet der dreißigjährige Krieg
noch seinen Geschichtschreiber.
Das riesenhafte Wachsthum der Vereinigten Staaten von Nordamerika ist
der Gegenstand täglicher Bewunderung und täglicher Eifersucht für den Bewohner
der alten Welt, der an der diesseitigen Küste des Oceans von Jahr zu Jahr
größere Massen amerikanischer Producte herüberschwimmen und das altermüde
Europa in Betreff der wichtigsten Rohstoffe, Fabrikmaterialien und Consumtibilien
von dem jungen Sprößling, der noch vor zwei Menschenaltern unter seiner Vor-
mundschaft stand, mehr und mehr abhängig werden sieht.. Und schon sind eS
nicht mehr blos die Rohprodncte eines jungfräulichen Bodens, welche Nord¬
amerika dem Welthandel liefert, schon versenden die nordöstlichen Küstenstaaten
nach allen Welttheilen die Erzeugnisse einer Industrie, deren Emporkommen
diesseits des Meeres das mühsame Werk von Jahrhunderten war. Neuyork und
Boston aNein verseudeten in den ersten sechs Monaten dieses und des vorigen
Jahres einen Durchschnittswerth von etwa drei und eine halbe Million Dollars
an Baumwollenwaaren, eine Ausfuhr, die keineswegs auf die amerikanischen
Märkte beschränkt blieb, sondern sich fast über alle dem Handel geöffneten Länder
der bewohnten Erde, Ostindien, Australien, Kleinasien verbreitete. In einzelnen
Zeiten des Jahres geht sogar der größte Theil des Exportes von Boston an
Baumwollenwaaren nach Ostindien. Kein Wunder, wenn wir die amerikanischen
Dampfer, die noch vor einem Jahrzehnt fast gar nicht in den europäischen und
asiatischen Gewässern gesehen wurden, vor Kanton, vor Konstantinopel und
Smyrna erscheinen sehen, um den Handel zu unterstützen und die Rechte amerika¬
nischer Bürger zu schützen. Neben dem Uebergewicht, welches die entschiedene
Demokratie mehr und mehr in der Leitung der öffentlichen Angelegenheiten
gewinnt, ist die fortdauernde Erweiterung des Handels ohne Zweifel das mächtigste
Motiv, welches die Freistaaten aus der bisherigen passiven Stellung in den
internationalen Angelegenheiten zu einer activen, energisch eingreifenden und schon
jetzt ziemlich drohenden Haltung fortreißt.
So großartig indeß das materielle Miterleben in Nordamerika sich darstellt,
es würde nur einen bedingten Anspruch auf unsere Bewunderung haben, wenn
es das Ergebniß einer einseitigen, durch Vernachlässigung anderer edlerer,
menschlicher Thätigkeiten und Zwecke ermöglichten Kraftäußerung wäre, wenn es
gesondert von dem politischen, moralischen und intellektuellen Leben der Volksmasse
erschiene. Die Zeit ist vorüber, wo es nöthig war, für die Vorzüge des nord¬
amerikanischen Staats- und Verfassungslebcuö den Beweis zu führen. Die
Fanatiker der europäischen Reaction selbst verzweifeln daran, die Berechtigung
und Gesundheit des amerikanischen Demokratismus mit Erfolg zu bekämpfen.
Ein Berliner Professor hat sich viel Mühe gegeben, vom Katheder herab nach¬
zuweisen, daß da drüben, jenseits der grünen Wogen eine andere Erde sei und
ein anderes Menschengeschlecht, tauglicher für die Herrschaft der Majoritäten, als
die blöde, altersschwache und reizbare Menschenrace des europäischen Bodens,
die mir durch das Machtwort der Autorität zusammenzuhalten sei, und das
fromme Berliner Blatt, das nnter dem Panier des Kreuzes ficht, hat noch vor
kurzem demüthiglichst bekannt, daß es den gesunden Kern der amerikanischen
Demokratie von dem tollen Wesen europäischer Demagogen unterscheide. Wir,
die allerdings anerkennen, daß es in dem Charakter der Gesellschaft, in der alten
und in der neuen Welt, gewisse Unterschiede gibt, die in der Bildung der Staats-
organismen Berücksichtigung finden müssen, wir, deren Gedächtniß aber noch so
stark, deren Auge noch scharf genug ist, um uns bewußt zu werden, daß da
drüben Fleisch von unserem Fleische und Blut von unserem Blute, nicht aber
eine sonderbare Species von Menschen lebt, die das Privilegium staatlicher und
gesellschaftlicher Freiheit für sich allein zu beanspruchen berechtigt ist, wir dürfen
uns nicht mit den wohlfeilen Distinctionen begnügen, die eine privileqiensüchtige
Partei zu erfinden beliebt, wir suchen nach einer tiefern Erklärung der Erscheinung,
daß eine Volksmasse, ursprünglich ohne Zweifel zusammengesetzt ans den wildesten
Elementen der alten Welt, also rccrntirt aus den Unzufriedenen aller Nationen,
die sich hier am wenigsten in die complicirten Schranken einer tausendjährigen Gesell¬
schaftsordnung zu finden wußte», zerstreut über eine weite Fläche, wo die Civilisation -
in den meisten anderen Fällen ans Mangel an naheliegenden Bildungsmitteln zurück¬
schreite» würde, eine höhere Stufe des materiellen Wohlseins, der socialen Befrie¬
digung und der politischen Freiheit errungen hat, als die meiste» übrige» Volker.
Es kan» hier nicht die Absicht sein, die Wurzelverzweigungen des nord¬
amerikanische» Gesellschaftslebens nach allen Richtungen hin zu untersuchen, wir
wollen unsere Aufmerksamkeit uur auf einen Gegenstand richten, ohne Zweifel
einen der wichtigsten, wenn nicht den allerwichtigsten in den amerikanischen Zu¬
ständen, ans die wunderbarste, schwierigste nud eigenthümlichste Schöpfung der
neuen Welt, und doch zugleich diejenige, die am wenigste» bekannt und'beachtet
wird, das nordamerikanische Unterrichtswesen, besonders wie es sich in
der Volksschule darstellt.
Wie viele von uns wissen, daß sich da drüben, wenigstens in den nördlichen
und mittleren Staaten der Union fast überall, wo sich ein Dutzend Familien zu¬
sammenfinden, um eine Gemeinde zu bilden, alsbald auch, oft mitten unter
provisorisch aufgerichteten, ziemlich hinfälligen Blockhäusern, ein Schulhaus erhebt,
in den meisten Fällen stattlicher, als die Gememdeschulhäuscr in unserem hoch-
cultivirten Europa, nicht selten ein Palast, verglichen mit den ärmlichen Schulen
unsrer Dörfer und Landstädtchen? Man sollte meinen, daß wenigstens in den
westlicher gelegenen Gegenden, in denen noch vor wenigen Jahrzehnten der
tätvwirte Eingeborne mit dem Federbüschel anf dem Kopfe, mit Pfeil und Bogen
in der Hand, als ausschließlicher Gebieter sein Jagdrecht geltend machte, vor¬
läufig von einer Fürsorge für deu intellectuelle» Fortschritt keine Rede sein könne.
Doch anch hier wird der Volksunterricht, wenngleich nicht soviel als wünschenswerth,
wenigstens so gut als möglich, ins Werk gesetzt. Wer den Nordamerikaner n»r
als einen Menschen kennt, dessen ganzes Streben auf Geld und Gut gerichtet
ist, der an Intelligenz und sittlichen Fortschritt höchstens in deu Feierstunde»
denkt, i» de»c» sich durchaus nichts Anderes vornehmen läßt, der unterschätzt
ihn sehr. Derselbe erscheint erst groß als Träger der Cultur und als Förderer
derselben an sich selbst.
Die Bewohner der Vereinigten Stuten haben einen gemeinsamen und
eigenthümlichen Volkscharakter, sie sind eine Nation für sich. Und diese
Nationalität ist nicht, wie die britische, durch Vermischung heterogener Elemente
entstanden, es ist nicht die Mitte zwischen britischen Unternehmungsgeist und
deutscher Geduld, zwischen britischen Ernst und deutscher Gemüthlichkeit, auch
nicht zwischen germanischer Ruhe und Besonnenheit und neidischer Erregbarkeit,
eS ist eben die besondere Natur deö Millne, eine höhere Potenz des unternehmungs¬
lustigen britischen Charakters, doch unvermischt mit fremden Elementen. Das deutsche
Wesen, wo es nicht in compacten Massen auftrat, ebenso die celrischeu Elemente,
die über den Ocean drangen, sind in demselben aufgegangen ohne von ihrer Eigen¬
thümlichkeit etwas mitzutheilen. Der U^nkee, wie er bereits beim Beginne des
Jahrhunderts war, hat sich unverändert erhalten, er hat die Kraft gehabt, den
mächtigen Strom, der sich alljährlich ans den verschiedensten Theilen Europas
in seine Heimath ergoß, zu bezwingen, und sich alles zu assimiliren. Denn er
ist der echte Sprößling jener zähen, strengen Puritaner, die vor mehr als zwei
Jahrhunderten ihren Fuß auf den Boden Neu-Englands setzten, welche keine
Nothwendigkeit, nnr ihren Willen als Gesetz anerkannten, die, durch lauge Ver¬
folgungen gestählt, niemals verzweifelten, und die noch heute alles wagen, weil
sie die Kraft in sich fühlen, das, was auf eine Weise nicht gelingt, schnell in
einer anderen von neuem anfassen zu könne». Sie, das kräftigste Element des
britischen Geistes, sind die Sendboten dieser neuen Nationalität geworden, ihre
Nachkommen sind es vorzugsweise noch heute, die als Träger der Cultur rastlos
nach Westen dringen, die in nimmer ruhender Thatenlust deu kaum aufgebroche¬
nen Acker, die kaum errichtete Farm an deu einwandernden Deutsche» verkaufe»,
um dem Urwald oder der Prairie neues Terrain abzugewinnen, denen nichts so
gut gefällt, daß sie uicht bei der ersten Gelegenheit das mögliche Bessere auf-
suchen sollten, die wir bald als Prairienjäger oder Farmer, bald als Handwerker
oder Kaufleute, stets in neuen Lagen erblicken. Sie sind daher stets die ersten,
und wenn später anch zahlreiche andere Elemente hinzutreten, so ist die Grund¬
lage bereits von ihnen geschaffen, nach ihrem Sinne zugeschnitten, und den
Ankömmlingen bleibt nichts übrig, als das Bestehende hinzunehmen, wie es ist.
Sie und ihre Väter sind auch die Schöpfer des nordamerikanischen Unterrichts¬
wesens, und, was mehr sagen will, sie haben den Geist verbreitet, welcher die
Sorge für den Unterricht und die Erziehung der jüngern Generation zu einer
Ehrensache des erwachsenen Geschlechtes macht, der die ganze Organisation des
Unterrichts belebt, und wiederum der mächtigste Träger der Hauptelemente deö
Uankeethnms, des unverwüstlichen Unternehmungsgeistes, des praktischen Sinnes,
der Empfänglichkeit für jeden Fortschritt zum Besseren ist.
Kaum waren anderthalb Jahrzehnte seit der ersten Landung der Puritaner
auf dem Boden von Neu-England verflossen, als bereits energische Vorkehrungen
für die Organisation des Unterrichtswesens getroffen wurden. Die lateinische
Schule zu Boston wurde im Jahre -1835 gestiftet. Die Konstitution von
Massachusetts erklärte es in ihrer etwas weitschweifigen und sentenzreichcn Weise
für heilige Pflicht der Obrigkeiten, die Interessen der Literatur, der Wissenschaft
und ihrer Institute zu pflegen und unter dem Volke „die Grundsätze der Huma¬
nität und des Wohlwollens gegen jedermann, der öffentlichen und privaten
Mildthätigkeit, des Fleißes und der Genügsamkeit, der Rechtschaffenheit und
Zuverlässigkeit, der Wahrhaftigkeit und des Wohlverhaltens, sowie alle geselligen
Tugenden und edlen Gefühle" zu befestigen und zu verbreiten. DaS eigentliche
Volksschulwesen wurde erst durch ein Gesetz vom Jahre 16-17 geordnet, welches
festsetzte, daß jeder Ort von 30 Familien eine Schule für Lesen und Schreiben
mindestens sechs Monate lang, jede Stadt von 300 Familien außer den Volks¬
schulen eine Schule für Buchhalterei, Geometrie und Algebra u. s. w., jede
Stadt von 4000 Familien eine Schule für Rhetorik, Logik, Geschichte, alte
Sprachen unterhalten solle.
Dies war die Grundlage, auf welcher die Zukunft deö ganzen nordameri¬
kanischen Unterrichtswesens ruhen sollte. Um die Bedeutung derselben zu
würdigen, müssen wir uns erinnern, in welchem Zustande sich damals das
europäische Unterrichtswesen befand. Bis zur Reformation war die Erziehung
und Belehrung des Volks ganz Sache der Kirche und der Geistlichkeit gewesen,
und was diese leisteten, was überaus kläglich. Einige Klosterschulen, einige
Schulen für Chorgesang, in welchen denn auch nebenher etwas im Lesen und
Schreiben unterrichtet mürbe —> das war alles. Die große Masse des Volks
blieb ganz der Unwissenheit und der Verwilderung preisgegeben. Die Reformation
erkannte die Wichtigkeit des Volksunterrichts an und zahlreiche Schulen entstanden
und wurden aus den Einkünften der eingezogenen Kirchen- und Klvstergüter und
anderer Stiftungen unterhalten. Damit war allerdings ein wichtiger Schritt
gethan, und solange die reformatorische Bewegung in ihrer Jugendkraft und
Blüte stand, wurde das unter den Umständen Mögliche geleistet, die Schulen
wurden visitirt und nach Kräften verbessert. Die Greuel des dreißigjährigen
Krieges indeß und die gleichzeitigen, in fast allen europäischen Ländern entstan¬
denen religiösen Wirren, erdrückten den kaum entsprossenen Keim von neuem, die
Aufklärung des vorige» Jahrhunderts wirkte ans den Volksunterricht fast gar nicht
zurück und im Anfange des gegenwärtigen befand sich die Volksschule in den
meisten Ländern wieder in den kläglichsten Verhältnissen. Der bei weitem größte
Theil der Nation erlangte nicht die nothdürftigsten Kenntnisse im Lesen und
Schreiben.
Bei diesem Laufe der Dinge war es überaus wichtig, daß drüben auf dem
jungen Boden Amerikas eine neue Gesellschaft entstand, ans deren Panier in
großen Zeichen stand: „Der Unterricht ist Sache und heilige Pflicht des Staates.
Die Gesellschaft hat ein Interesse und eine Verantwortlichkeit dafür, daß jedem
ihrem Glieder die Mittel zur geistigen und sittlichen Bildung zugänglich seien.
Sie erklärt den öffentlichen Unterricht für eine Pflicht und garantirt dafür, er ist
unabhängig von der Willkür der Individuen und einzelner Gemeinde». Der
Unterricht ist frei und zugänglich für alle, für den Armen wie für den Reichen."
Ein wunderbares Schauspiel in dieser Gesellschaft, die auf der Grundlage der
möglichsten individuelle» Freiheit errichtet ist, die der Staatsgewalt tausend Be¬
fugnisse versagte, welche der europäischen Gesellschaft als unentbehrliche Attribute
der Obrigkeit erscheine», doch auf dem einen Gebiete, dessen Beherrschung dem
europäischen Gemeinwesen so wenig am Herzen zu liegen schien, daß es fast ganz
der Willkür der Individuen überlassen wurde, den Staat fast zum dictatorischen
Herrscher machte! Die Erhebung der großen Masse des Volks auf ein möglichst
gleiches Niveau der geistigen und sittlichen Bildung — das war dem Puritaner
die unbestrittene selbstverständliche Voraussetzung eines tüchtigen Staats- und
Gesellschnftölebens, und die Verwirklichung derselben durch das Gesetz erschien
ihm nicht als el» gegc» das Individuum ausgeübter Zwang, sondern als die
Erfüllung eines Wunsches, den zu hegen jedes Bürgers Ehrensache sein mußte.
So war den» eins von den großen Principien des antike» Staats, der mich die
Erziehung der Jugend zur öffentlichen Angelegenheit machte, nach Jahrtausende»
der Finsterniß wieder lebendig geworden, und um soviel, als die politische»
Gemeinschafte» der Neuzeit die der griechischen Welt an Größe und Durch¬
bildung überragen, mußte» auch die Früchte reicher ausfallen.
Freilich ist auch hier zwischen dem Principe und seiner vollständigen Ver¬
wirklichung lange, und noch jetzt in vielen Gegenden der Freistaaten ein nicht
unbedeutender Abstand geblieben. In Connecticut, Neuyork, Pensylvanien und
den kleineren Nachbarstaaten von Massachusetts wurden zwar ähnliche Anordnun¬
gen getroffen, doch es gelang keineswegs, die einzelnen Gemeinden zur voll¬
ständigen Erfüllung der gesetzlichen Vorschriften anzuhalten. Ein großer Theil
der Jugend blieb ohne Unterricht, viele waren lediglich auf die häusliche Belehrung
angewiesen. In einzelnen Staate», wo das puritanische Element nicht das
Uebergewicht hatte, wurde der Vvlksuiiterricht gänzlich, zum Theil absichtlich,
vernachlässigt. „Ich danke Gott", schreibt Sir William Berkeley, Gouverneur
von Virginien, übrigens ein wohlgesinnter Mann, „daß es bei uns keine Freischulen
und keine Presse gibt, und ich hoffe, wir sollen in den nächsten hundert Jahren
noch keine haben. Denn Lernen hat Ketzerei, Ungehorsam und Sektirerei in
die Welt gebracht und die Presse hat sie, nebst Schmähschriften gegen die beste
Regierung, verbreitet. Gott bewahre uns vor beiden." Es ist eine alte Stimme,
doch hört man sie bei uns noch hente. Noch trauriger gestaltete» sich die Ver¬
hältnisse in den südlicher gelegenen Sklavenstaaten, obwol für die meiste Bevölkerung
nicht ganz so schlimm, wie es bei oberflächlicher Betrachtung den Anschein hat.
Die arbeitende Classe, welche nicht die Mittel hat, die Kinder in Privatschulen
unterrichten zu lassen, ist hier nicht sehr zahlreich, da die gemeine Handarbeit
von den Negern verrichtet wird, die freilich fast ganz und nicht ohne Absicht
von den Wohlthaten des Unterrichts ausgeschlossen sind. In deu westlichen
Gebieten endlich, deren Bevölkerung erst in neuerer Zeit begonnen hat, wo
die Bevölkerung noch heute ziemlich zerstreut lebt, konnte, wie leicht begreiflich,
auch nicht viel geschehen.
Der erneuete Aufschwung des Unterrichtswesens in den Vereinigten Staaten
datirt ans dem zweiten und dritte» Jahrzehnt des laufenden Jahrhunderts.
Der Verfall desselben lag meist an dem Mangel einer Centralbehörde zur
Ueberwachung des gestimmten Unterrichtswesens. Solche Behörden wurden
damals in Neuyork, Massachusetts, Connecticut, Rhod-Island, Pensylvanien und
anderen Staaten eingeseift, zum Theil nud im Anfange fast überall collegialisch
mit einem besoldete», die Geschäfte leitenden Generalsecrctär, Loarü ok ^cluoation,
zum Theil in einer Person, die unter dem Titel 8nperinl.euÄc:ut ol tKe selwols,
ciommisgioner of. ddo sclrools fungirte, je nachdem man eine geringere oder
größere Centralisation erforderlich hielt. Im allgemeinen trat das Streben nach
Verschärfung der letzteren zur kräftigeren und gleichmäßigeren Ueberwachung
des Ganzen sichtbar hervor. An die Spitze dieser Behörde wurden die aus-
gezeichnetsten Staatsmänner berufen. Unter den Mitgliedern der collegialischen
Behörden befanden sich meist der Governor nud Vicegvveruor des Staates. Zu
den Hanptbegründern der neuen Organisation gehören Horace Mann, der
bis in die letzte» Jahre »»ermüdlich für die Erweiterung und Verbesserung des
Schulwesens in Massachusetts thätig war, und durch seine Rundreise» zur
Besichtigung der europäische» Unterrichtsanstalten auch diesseits des Meeres bekannt
ist'; dan» besoiiders Barnard, der bis zum Jahre 1842 als Secretär des
Erziehuugörathes in Connecticut thätig war »»d später die Orga»isatio» des
öffentlichen Unterrichts in Rhode.-Jsland leitete. Z» den wichtigsten Obliegen¬
heiten der Centralbehörde gehören: die Vertheilnng der StaatSuutcrstützuugc»,
welche theils von der Legislatur für das Schulwesen alljährlich bewilligt werden,
theils aus den für das Schulwesen errichteten Fonds oder anderen dafür
angewiesenen Quellen fließen, die Interpretation der Unterrichtsgesetze und die
Beilegung der daraus entspringenden Streitigkeiten, die Einrichtung und In-
spection der Schule«, sowie die Ernennung von unbesoldeten Jnspectoren für
die Lehrprüfungen und periodische» Schulrevisiouen, die Empfehlung von Schul¬
büchern, die Veranstaltung von Schulbibliothekeu, die Errichtung von Lehrer¬
seminaren und Musterschuleu, die alljährliche Erstattung eines der Volksvertretung
zur Octobersitznng ciuzureicheuden Jahresberichts über die Lage der Schulen und
die Beschaffenheit der Erziehungsmittel überhaupt, über die auf dem Gebiete des Schul¬
wesens gemachten Erfahrungen und Plane zur Verbesserung desselben. Die Befugnisse
der (Zentralbehörde sind demnach, obwol in den einzelnen Staaten mehr oder
weniger begrenzt, im allgemeinen sehr ausgedehnt. Charakteristisch aber ist es
für das amerikanische Staatswesen, daß alle Befugnisse, welche dem Superinten¬
dent zu Gebote stehen, kaum eine größere unmittelbare Einwirkung ausüben, als
die mittelbare Wirksamkeit, welche von jenem Jahresbericht ausgeht, der nur
Empfehlungen und Vorschläge enthält, aber auch jede wichtigere Erfahrung, jede
Einrichtung, die sich bewährt hat, zur allgemeinen Kenntniß bringt und gleichsam
alljährlich das Losungswort für den fernerhin zu befolgenden Weg austheilt. Eine
solche Wirkung ist nur möglichj in einem Staatswesen, wo die Macht der
öffentlichen Meinung so stark ist, wie hier. Leider haben noch nicht alle Staaten
eine Centralbehörde, in deu westlichen Gebieten namentlich nur Michigan und
Ohio. Vou derselben ressortiren in den einzelnen Staaten nicht ganz gleichartig
organisirte Unterbehörden, die Schnlcommissionen der einzelnen Städte, sowie die
Districtscvmmissionen, die in kleineren Städten mit jenen zusammenfallen, in
größeren unter denselben stehen. Die Erhaltung der Schulen wird ans verschie¬
dene Weise, theils durch Localsteneru und locale Schulfonds, theils durch freiwillige
Beiträge und Stiftungen, theils durch jährliche Staatszuschüsse und Staatsschulfonds
oder sonstige vom Staate angewiesene Einnahmequellen, als Verkauf von Ländereien
u. tgi., bestritten.
Betrachten wir nun das nordamerikanische Unterrichtswesen, wie es sich unter
diesen Organisationen im Laufe der letzten Jahrzehnte gestaltet hat, so stellen
sich folgende, für eine so junge, alljährlich aus zum Theil verkommenen und ver¬
nachlässigten Elementen der alten Welt recrulirte Staatsgesellschaft im ganzen
erfreuliche Resultate heraus, wie sich dieselben in deu freilich nur sehr unvollständig
vorliegenden amtlichen Berichten darstellen.
Der größte Staat in den nordwestlichen Gebiete» und in der Union
überhaupt, Neuyork, mit einer Bevölkerung von 3,097,394 Seelen «uach der
Zählung vou 18S0) hatte in diesem Jahre in seinen öffentlichen Schulen durch¬
schnittlich 794,300 Köpfe, während sich die gesammte Altersclasse von S bis 16
Jahren mir auf 733,188 belief. Es wurden die Schulen demnach ohne Zweifel
von vielen besucht, die bereits das 16. Jahr überschritten hatten, vernachlässigte
Kinder Europas, die da drüben, von dein allgemeinen Streben uach Bildung
fortgerissen, nachzuholen suchten, was sie hier versäumt, ein Streben, doppelt
ehrenvoll in einem Lande, wo die Arbeit des Erwachsenen so hoch bezahlt wird.
Die wirkliche durchschnittliche Frequenz der Schulen mag freilich von der in den
Listen eingetragenen Schülerzahl sehr abweichen, da, wie bemerkt, viele Schulen
nur sechs Monate hindurch geöffnet sind. Ist es aber ein Nachtheil, wenn die
Jugend nicht das ganze Jahr hindurch in duustgeschwängerten Schulstuben hockt,
wenn ein Theil ihrer Arbeitöüaft bereits frühzeitig verwendet, dagegen der Unter¬
richt bis in die späteren Jahre sortgesetzt und der Uebergang ans der Schule in
das praktische Leben allmälig vollzogen wird? Der gesammte Aufwand für die
Schulen belief sich 1849 auf 1,766,668 Doll. worunter 906,822 Doll. Staatsbei-
träge. Außerdem wurden etwa 73,000 Kinder in Privatschulen unterrichtet. Der
Staat Neuyork ist auch der einzige, lo welchem mau etwas für den Unterricht des
kleinen Häufleins von Rothhäuten thut, die vor dem versengenden Hauch des
weisen Mannes noch uicht ausgestorben sind. Von 6i1 Jndianerkindcrn, die
gezählt wurden, empfingen 300 Schulunterricht, desgleichen in den oolom-va
selwolg vou 11,000 Negerkiudern ä,006. Massachusetts, nach dem Census
von 1830 jetzt ein Staat mit 994,499 Seelen hatte im Winter 1831 in seinen
Schulen 199,429 Kinder, im Sommer nnr 179,497, während sich die Zahl der
Kinder von vier bis sechszehn Jahren auf 196,636 belief. Die durchschnittliche
Frequenz betrug im Winter 132,364, so daß doch die gesammte Altcrsclasse von
sechs bis vierzehn Jahren ziemlich regelmäßig an dem Unterrichte Theil zu nehmen
scheint. In Thätigkeit waren gegen 8700 Lehrer in etwa 3900 Schulen. Die
durchschnittliche Schulzeit betrug sieben lind einen halben Monat, der Gehalt der
Lehrer durchschnittlich 36—39 Doll., der Lehrerinnen Is—sa Doll. Der meist ans
liegenden Gründen fließende Beitrag für jedes schulpflichtige Kind belief sich ans
4—7 Doll.; der Schulaufwand ohne die Gebäude auf 1,353,700 Doll.; der öffent¬
liche Schulfond auf ungefähr eine Million Dollars. Pensylvanien mit
2,311,786 Seelen hatte 1851 in 8310 Schulen 424,344 Köpfe. Die Zahl der
noch erforderlichen Schulen wird auf 674 angegeben. Die durchschnittliche Schul¬
zeit belief sich auf fünf Monate und einen Tag, der Gehalt für den Lehrer nur
auf 17—20 Doll., für die Lehrerin ans 10—13 Doll.; der gesammte Aufwand
für das Schulwesen ans 233,741 Doll. für Gebäude, und 926,448 Doll. für
die übrigen Ausgaben.
Vergleichen wir den Schulbesuch in den drei vorgenannten Staaten mit der
Bevölkerung, so ergibt sich, daß die (im Winter) in den schrillsten eingetragene
Schülerzahl an Procenten der Bevölkerung betrug in Neuyork 23,v5, in Massachu¬
setts 20,os, in Pensylvanien 18,gs. Daraus ergibt sich deutlich, in welchem Verhält¬
niß jeder dieser Staaten in der Schulorganisation vorgeschritten ist. Auch ergibt
sich aus den oben angeführten Zahlen, wie der Aufwand für das Schulwesen in jedem
dieser Staaten mit den Resultaten durchaus nicht in gleichem Verhältniß steht.
Es betrug die gesammte Ausgabe pro Kopf der Bevölkerung in Neuyork
0,37 Doll., in Pensylvanien 0,31 Doll., in Massachusetts dagegen 1,36 Doll.
Auch in Pensylvanien würde die Ausgabe viel bedeutender sein, wenn nicht, wie
oben angegeben, die Lehrer so schlecht bezahlt würden. Eine für uns nicht
schmeichelhafte Erscheinung ist es auch, daß in dem letztgenannten Staate, beson¬
ders über die Fahrlässigkeit der dort angesiedelten Deutschen, die hier in einzelnen
Districten ziemlich unvermischt mit dem britischen Element beisammenwohnen,
in Betreff des Unterrichts ihrer Kinder geklagt wird, während doch diesseits des
Meeres das deutsche Schulwesen weit über dem britische» steht. Wir dürfen zu
unsrer Rechtfertigung sagen, daß es Süddeutsche sind, die das Vaterland bereits
in einer Zeit verließen, wo es auch in der deutschen Schule noch sehr wüst aussah.
Wir übergehen die kleineren Staaten von Neu-England, deren Volksschul-
wesen im ganzen ans derselben Stufe steht wie das der größeren (Rhode-Jsland
und Connecticut zeichnen sich hier am meisten ans), um einen Blick auf die west¬
licher gelegenen, erst neuerdings bevölkerten Gebiete zu werfen.
Hier bleibt allerdings noch viel zu thun übrig, es ist aber anch in den letz¬
ten Jahrzehnten bereits viel geschehen, und in einzelnen Gegenden sind bereits
erfreuliche Resultate erreicht. So wurden in Michigan mit 397,664 Seelen
über 110,000 Schulkinder, etwa 28 Pret. der Bevölkerung, gezählt, und der
Aufwand für das Schulwesen beträgt etwa 130,000 Doll. In Wiskonsin mit
306,191 Seelen dagegen beläuft sich die Zahl der schnlbesuchenden Kiuder uur
auf 36^-40,000, also 12—13 Pret. der Bevölkerung, nud Ohio, der größte
Staat dieser Gruppe mit 1,980,408 Seelen, zählte 1830 nur 90,696, 1849
94,430 schulbesuchende Kinder, also etwa 6 Pret. der Bevölkerung, und nicht
viel besser steht es in den zwei noch übrigen größern Staaten der westlichen Ge¬
biete, Jndiana und Jlinois. Man macht indeß grade gegenwärtig, namentlich in
Ohio, gewaltige Anstrengungen, um einen bessern Zustand herbeizuführen.
Sehr mangelhaft sind die Nachrichten über die dritte Gruppe, zu welcher
wir sämmtliche Sklavenstaaten rechnen. Virginien mit 1,421,661 Seelen,
worunter 472,628 Sklaven, zählt in seinen Volksschulen nur etwas über 70,000
Köpfe, also etwa 7 Pret. der weißen Bevölkerung. Süd-Carolina, der
Hauptsitz der Negerarbeit mit eiuer Bevölkerung von 668,607 Seelen, worunter
394,984, also die Mehrzahl Neger, soll in seinen öffentlichen Schulen kaum
10,000 Köpfe zählen, noch nicht 4 Pret. der weißen Bevölkerung. In Louisiana
mit 617,839 Seelen, worunter 244,786 Schwarze, wurden die Schulen von
24,736 Kindern, oder 9 Pret. der Weißen besucht. Wie unvollständig diese Nach¬
richten sind, sie zeigen immerhin, daß sich hier allerdings das puritanische Princip
des Nordens noch sehr wenig Geltung verschafft hat, und vorläufig läßt sich auch
keine Besserung erwarten. Wie sollte das edle Princip, welches die nordamerika-
nische Volksschule belebt, das Princip, daß alle Glieder der Gesellschaft dasselbe Recht
auf Bildung des Geistes und Herzens habe», hier Wurzel schlagen, wo noch nicht
einmal das Recht der allgemeinen menschlichen Freiheit und Gleichheit anerkannt
ist, wo gegen die Hälfte, oft mehr als die Hälfte, der Bevölkerung in einer Knecht¬
schaft schmachtet, die ganz eine Erfindung der Neuzeit ist, die das Alterthum
bis in die rohesten Zeiten hinauf in so entsetzlicher Gestalt nicht gekannt hat. Die
Emancipation der großen Masse der weißen Bevölkerung von Unwissenheit und
sittlicher Verwilderung ist hier, kann man sagen, an die Negercmaucipation gebun¬
den. Beide würden diesen reichen Ländern, deren Fortschritt bisher i» keinem
Verhältniß mit den nördlichen Staaten gestanden hat, wahrscheinlich nichts
nehmen, sondern eine neue Zeit für dieselbe herbeiführen.
Ueber die innere Einrichtung der nordamerikanischen Volksschule haben wir
uns hier nicht verbreiten können. Es herrscht darin natürlich eine sehr große
Verschiedenheit in den einzelnen Staaten und Gegenden. Im allgemeinen finden
sich darin freilich viele Mängel, die Schulen der größeren Städte von Neuyork
und Massachusetts geben jedoch den unsrigen nichts nach. Die meisten Uebelstände
entspringen aus dem Mangel an tüchtigen Lehrern, dem man erst in neuerer Zeit
abzuhelfen bemüht gewesen ist. Der Fortschritt ist hier rascher als in Einopa,
da die ganze Schulorgauisation eine öffentliche ist, jede neue Einrichtung, die
sich irgendwo bewährt hat, unmittelbar zur allgemeinen Kenntniß gelangt und
Nachahmung findet, besonders aber weil die Stetigkeit der Entwickelung des
Schulwesens gegen den Wechsel der Systeme, der in Enropa so hänfig statt¬
gefunden hat, bei der gänzlichen Uebereinstimmung der Whigs und der Demo¬
kraten ans diesem Gebiete ziemlich geschützt ist. Vielleicht wird man hier, wo
kein Reglement von oben jede Kleinigkeit verzeichnet, zuerst diejenige Organisation
finden, die geeignet ist, die Schule für das praktische Leben brauchbarer zu
machen, als bisher sowol diesseits als jenseits des Oceans der Fall gewesen ist.
Zu rühmen ist der bedeutende Aufwand, welcher für schöne, geräumige, helle
Schulgebäude gewiß nicht ohne Vortheil für die physische Entwickelung der Ju¬
gend gemacht wird, und die amerikanische Schule in den meisten Fällen vor der
cisatlantischen auszeichnet.
Was uus hier hauptsächlich zu zeigen am Herzen lag, ist das Princip der
nordamerikanischen Volksschule, das gleiche Anrecht aller ans ein gewisses Maß
der geistigen und sittlichen Bildung, diese allerdings nothwendige Grundlage eines
dauerhaften demokratischen Gemeinwesens. Die Ausübung gleicher Rechte -und
Pflichten setzt ein gewisses Maß gleicher geistiger Fähigkeiten voraus, und wenn
ihr grübelt, warum die amerikanische Demokratie bei aller Verschiedenheit des Be¬
sitzes und der Lebensstellung der Individuen auf so festen Grundlagen ruht, so
denkt uuter andern auch daran, daß die politische Gleichberechtigung nnr eine Fort¬
setzung jeuer socialen Gleichberechtigung ist, die den Sohn des Lohnarbeiters
mit dem des Handwerkers, des Kaufmanns und des Fabrikanten, der Aermeren
mit dem Wohlhabenderen schon im frühesten Alter auf einer Schulbank versammelt.
— Man schrieb einmal 1848. Als
damals das Nationalparlamcnt Deutschlands seinen Sitz nahm zu Frankfurt a.M., da stellte
sich der echte Fraukfortcr an, als habe seine stolze Krönungsstadt keinen nennenswerthe»
materiellen Gewinn von der großen Versammlung. Und die Ehre ließ sich nicht in
Procenten berechnen. Wenn jetzt der Bundestag Ferien macht, merkt mans trotzdem der
Stadt an; es fehlt ihr etwas. Dazu gesteht jetzt selbst die Fr. Postzeitung in ihren
geistreichen 1"!' Leitartikeln ein, es herrsche ein gewisses allgemeines „Uebelbefinden",
nicht etwa cholcraartig, sondern der Unsicherheit in der orientalischen Frage wegen. Sie
gibt den weisen Rath, den Verlauf der Dinge ruhig abzuwarten. Etwas Anderes hatte
nnn freilich kein Mensch in Absicht; denn wir sind Börsenmänner, leben in Deutschland
und Habens bereits ruhig abgewartet, als wenige Tage vorher der weise 1"!' Mann
allen europäischen Cabineteu die unbedingteste Willfährigkeit und Unterstützung für alle
russische Begehren verrieth. Da nnn Oestreich bekanntlich schon im Anfange des dies¬
maligen russisch-türkischen Streites seine Vermittlung mit der unbedingten Besnr-
wortuug aller russischen Forderungen begann, so konnte allerdings der 1"!/ Diplomat
jetzt ebenfalls in der Postzeitung keinen andern Rath geben. Fatal ists nur, daß
Oestreich und die Postzeitung nicht Europa sind, sonst wäre unsere Börse schon längst
wieder beruhigt, und das allgemeine „Uebelbefinden" Frankfurts verschwunden. Aber
die orientalische Frage ists nicht allein; es ist auch etwas häusliche Noth dabei. Man
kennt den Erlaß des Senats, welcher endlich die 18-16 verheißenen Ergänzungen
unserer Constitution der Bürgerschaft zur Abstimmung vorlegen mußte, sowie die An¬
nahme derselben durch die Bürgerschaft. Davon sind die retrograden Patricierhcrzen
ticfschmerzlich bewegt, und sie Haltens für besser, den Bundestag zu einer nochmaligen
Maßregelung unserer Verfassungszustande aufzufordern, als sich verfassungstreu zu fügen.
Es sind das zwar dieselben Elemente, welche sonst gar stolz von der souveränen Republik
reden; aber wenn die Republik sich gegen ihre» Willen bewegt, so schadet ja so ein wenig
Denunciation durchaus nichts. Wird man auch mediatisirt, wird man auch von der Bundes-
präsidialkanzlei dominirt, so läßt sich dies schon gesellschaftlich bei Soireen, Diners und Soupers
applcmircn — wenn nur die aristokratische Oligarchie ihre äußeren Embleme behält.
Unterdessen hat nun freilich die gesetzgebende Versammlung neue Raths- und Scnats-
wahlen vollzogen, welche der ultrareactionären Reaction ein Dorn im Auge sind. Aber
es schadet nichts. Möglicherweise kann man den Bundestag angehen, mit seinen
Maßregeln noch hinter 1816 zu greifen, und dann gilt auch keine der neuen SenatS-
und Nathswahlen mehr, dann erst ist ungefähr das Ziel erreicht, wohin man stiebt.
Vielleicht daher auch der Entschluß jener Edeln, sich bei der bevorstehenden Wahl zur
gesetzgebenden Versammlung ihrer Stimmen zu enthalten. Man sieht, die Herren
haben mancherlei von der modernen Demokratie gelernt — selbst in prsxi.
Jedem, der die hiesigen Verhältnisse genauer kennt, muß es auffalle», daß die
Gönner ultramontancr Bestrebungen auch bei diesen Agitationen zu den Breschcbrechern
gehören. Und darum mag der Glaube so allgemein sein, daß die „Reformer" eigentlich
nur als Drathpuppen einer Politik handeln, welche überhaupt Südwestdeutschland immer
unbedingter abhängig von jenen Mächten machen will, deren Plane, theilweise vom Ul¬
tramontanismus getragen, jedenfalls vorläufig und äußerlich gestürzt werden. Um so
stärker ist aber natürlich das allgemeine „Uebelbefinden" der weit überwiegenden Mengen,
welche in einem solchen Gange nur den Anfang des Endes deutscher nationalen und
socialen Entwicklungen der, wenn nicht formellen doch materiellen, Wiederherstellung
östreichischer oder selbst französischer Rheinbundverhältnisse erkennen. Auf der andern
Seite war die Tagesliteratur noch kaum jemals gleich geschäftig, um die äußere Weis¬
heit und innere Wohlfahrt gewisser Staaten ins glänzendste Licht zu stellen. Es läuft
damit Hand in Hand, daß man in befreundeten oder düpirten Zeitungen versichern
läßt, grade jetzt sei das östreichische literarische Cabinet in Frankfurt aufgehoben wor¬
den, grade jetzt sei das offlciöse Organ des Bundestags, die Fr. Postzeitg., nicht mehr
specifisch östreichisch lustrirt, grade jetzt empfingen die Kasseler, Darmstädter, Nassanische
Allgemeine, N, Münchener Ztg. und andere viel gelesene Blätter ihre Mittheilungen nicht
mehr aus der großen Eschenheimer Gasse. Man könnte desto bequemer operiren, wenns
gebraucht würde. Leider ist aber das Publicum durchaus nicht mehr gläubig und be¬
hauptet, eS kenne die Manövers gewisser Zeitungscentra zu gut, um sich täuschen zu
lassen. Unter solchen Nebenumständen ist es klar, daß die Frankfurter Verfassungsfrage
außer ihrer localen Bedeutung noch eine mindestens ebenso wichtige allgemeine Bedeu¬
tung hat, welche am wenigsten verkannt werden darf, falls etwa ihre Entscheidung früher
oder später wirklich zur bundcstäglichen Erörterung gebracht werden sollte. Eine Unter¬
stützung der Ansinnen der Frankfurter Reformcrpartei würde gradezu jener Politik in
die Hände arbeiten, welche das deutsche und protestantische Element zu Gunsten des
ultramontanen und östreichischen zu schwächen sucht, indem sie die sogenannte conser-
vative Solidarität als NuShäugschild benutzt. Man erinnert sich noch, wie dasselbe
Aushängschild gebraucht wurde, als es sich darum handelte, bei der östreichisch-schwei¬
zerischen Frage, die sich ja in gewissen Beziehungen auch als französisch-östreichische
herausstellte, die Interessen Norddeutschlands zu eklipsiren. Welche thätige Unterstützung
diese Politik damals an den Coalitionsstaaten fand, ist noch in frischer Erinnerung.
Seitdem haben sich Bayerns Beziehungen zu Oestreich, selbst mit auffälliger Hintan¬
setzung Sachsens, noch unmittelbarer geknüpft, während auf der andern Seite Darm-
stadts intime Relationen zu Frankreich fast demonstrativ zu Tage treten. Wir dürfen
keineswegs vergessen, daß neben der lauten orientalischen Angelegenheit diese stilleren
Fragen ihren consequenten Fortgang haben und daß eben die Ablenkung der Blicke der
Welt von ihnen ihrer Weiterführung äußerst vortheilhaft ist, um endlich mit Ueber-
raschungen zu Entscheidungen zu führen, welche an sich ganz einflußlos erscheinen, in
Wahrheit aber jenem oben bezeichneten Principe wieder in die Hände arbeiten. Unsere
Zcitungspressc ist im Augenblicke von der türkischen Angelegenheit zu sehr in Anspruch
genommen, als daß sie sich ausführlicher mit diesem Gegenstände beschäftigte. Jeden¬
falls scheint es aber nicht unnöthig, darauf hinzudeuten, damit am Schlüsse der Bundes-
tagsscricn die Angelegenheit uns nicht unvorbereitet überrasche. Bis dahin kann das
Bundcstagsprästdinm und der Ausschuß keinen erledigenden Schritt thun.
seine Protokolle sind noch bis gegen das Ende des eben beginnenden Monats geschlossen.
Und jenes wohlorgcmisirte litercmschc Cabinet, welches die gouvernementalen Organe der
Coalitionspolitik versorgte, läßt soeben durch die ihm befreundeten Blätter die Nachricht
von seinem Aufhören verbreiten. Natürlich glaubt jedermann solchen unbefangenen
Mittheilungen unbedingt. Unterdessen hat sich unsere gute Stadt etwas mürrisch in
den Herbstregeumantcl gewickelt, die Börse macht ihr stereotypes orientalisch verlegenes
Gesicht, die Parteiführer der freien Republik aber stehen, wenn nicht mit gezückten
Degen, doch mit ingrimmigen Mienen einander gegenüber. Dazwischen lärmt einiges
skandalsüchtigc Preßgcschrci — nicht grad politisch, sondern mehr social, oder, wenn
mans so nennen will, klatschig. Unter größern Verhältnissen wärs nicht der Rede
werth, unter den unsrigen machts Aufsehen genug und vermehrt die Verstimmungen.
Namentlich wird jene Partei dadurch zu eifrigsten Vertheidigern des östreichisch-baicrisch-
darmstädtischen Bundcspreßgesetzes werden, welche jetzt hinter dem Rücken ihrer Staats¬
behörden und Mitbürger an den Bundestag gegangen ist, damit er mit einem neuen
Machtspruche die ans der Constitutionscrgänzuugsacte hervorgegangenen Gesetze ver¬
nichte, durch welche 1816 gegebene Verheißungen endlich im bescheidensten Maß erfüllt
werden. Nicht etwa deshalb, weil ihr Verfahren von der Presse scharf gezüchtigt wor¬
den wäre. O nein, die wackern Herren haben so heimlich gehandelt, daß ihre Be-
schwerdeschrift keinem Unzuverlässiger vorliegt. Ja sogar ihre Agitationsschrift „Frank¬
furter Verfassungsfragen" haben sie unter Couvert, unter Mißbrauch des Bremer
Stadtsiegels versendet und in einer Winkelprcssc drucken lassen, ohne den Namen des
Druckers beizusetzen. Aber die Nemesis der Klatschliteratur tippt aus ihre Sippen und
Vettern, und kommt nicht einmal von einem Versasser, der sich vorwerfen läßt, er gehöre
zu den ticsvcrhasiten sogenannten Gethanem, die der bundestägliche Machtspruch wo
möglich aus Senat, Rath und gesetzgebender Versammlung treiben soll, damit die „ver¬
fassungstreuen Reformer" wieder die angestammten curulischen Sessel unter sich verthei¬
len können. Vielmehr ist er ein Frankfurter Stadtkind, welches schon seit langem in
Frankreich lebt und in „Fünfzehn Jahren aus dem Leben eines Todten" eine Llrroiii,ju<!
seiunlulensv seines engern Vaterlandes drucken ließ, deren Maßlosigkeit bisher wol un¬
erhört gewesen ist. Dem Vernehmen »ach haben wir auch binnen wenigen Tagen eine
Confiscation des Buches zu erwarten und gegen die Osiandcrsche Buchhandlung ist ein
Heer von Preßklagcn im Anzüge. Dies darum, weil sie in kaufmännischen Eifer die
Unvorsicht beging, aus dem Umschlage des Buches noch besonders aus die Wahr¬
heit der darin erzählten piauantc» Geschichten hinzuweisen und solchermaßen eine Mitver¬
antwortlichkeit zu übernehmen. Man muß jedoch bekennen, daß eine Menge der Anekdo¬
ten an und für sich offenkundig das Gepräge plumper Verleumdung tragen; und
noch weniger kann man überhaupt ein solches Aufhängen schmuziger ^Wäsche billi¬
gen. Für das Allgemeine sind überdies solche Pamphlete um so schädlicher,
als ihre Frechheit immerhin die Zahl der Gegner einer wirklichen Preßfreiheit vermehrt
und selbst von deren principiellen Vertheidigern manchen im einzelnen Fall schwankend
machen könnte. Wer aber Ausnahmen will, oder nur zugibt, gibt auch schon das
Princip zum größten Theil Preis. Indessen ist doch auch wieder nicht zu vergessen,
daß die seit etwa einem Jahre grassirendc Frankfurter Klatschliteratnr ihr Vorbild und
ihren Vertreter in Herrn Beda Weber fand. Leider sind nur die Angegriffenen nicht
immer in der Lage, wie die vom geistlichen Rath Geschmähetcn, welche von ihm schrift¬
liche Abbitte und Ehrenerklärung empfingen. Nebenbei meint das Publicum, manche
Bemerkungen jenes Lebendig-Todten über unsere Staatszustände seien ganz wohl zu
unterschreiben, und daß dabei auch die Polizei nicht leer ausgehen konnte, versteht sich
von selbst. Die arme hat überhaupt seit einem Jahr schwere Anfechtung erfahren.
Zuerst wehte ein bedrohlicher Hauch gegen ihre ganze Existenz aus dem Palast in der
Eschenheimer Gasse, weil eine gewisse Politik wünschen mochte, der BuudeSpräsidial-
kauzlei die discretionäre Vcrwaltungsmacht der Polizei zu Frankfurt in die Hände zu
spielen. Nachher erschollen Angriffe gegen die Art ihrer Organisation aus dem Staate
Frankfurt selber. Endlich verbreitete sich neuestens das in den Zeitungen oft erwähnte
Bcnnaksche Pamphlet gegen ihre Würdenträger. Und nun stört noch ein unangenehmer
Jucidenzfall die eclatante Verfolgung der diesfalls eingeleiteten Untersuchung. Man hat
nämlich den Drucker des Pamphlets ebenfalls zur Rechenschaft gezogen, weil er seinen
Namen nicht beigesetzt hatte. Da er eine in den obern Regionen mißliebige Persönlich¬
keit ist, so mochte der Fall nicht ganz unwillkommen sein; und auch ein vor dem Drucke
von dem Versasser ausgestellter Revers, wodurch sich dieser zur Uebernahme aller aus
dem Pamphlet entstehenden Folgen verpflichtet, konnte den Drucker vor der Verurthei-
lung nicht schützen. In der weitem Vertheidigung ist dagegen, wie man vernimmt, gel¬
tend gemacht worden, wie bisher keineswegs von den Behörden das Gesetz in Anwen¬
dung gebracht worden sei, wonach Drucker und Verleger sich ans jeder veröffentlichten
Schrift zu nennen haben. Als Belegs wurden die kürzlich hier erschienenen „Gedichte
von Arthur Bolheim" angeführt, welche ohne VerlagSort, Jahreszahl, Verleger und
Drucker in die Welt traten. Dies Beispiel war doppelt unangenehm. Einestheils ists
ein öffentliches Geheimniß, daß hinter Arthur Bolheim ein diplomatischer Beamter einer
europäischen Macht verborgen ist, welcher man in Frankfurt am wenigsten mißfallen
möchte; anderntheils wurden die Gedichte von ihrem Verfasser auch bereits wieder, so¬
viel möglich, züriickgekaust, nachdem die hiesige Welt in ihren scheinbar ganz unschuldigen
lyrischen Ergüssen höchst indiscrete Veröffentlichungen hiesiger Familicnbegebcnheitcn und
Gcscllschastsgeschichten entdeckt hatte. Der stille Lärm darüber war vergessen — nun
rührt ihn ein Pamphlet gegen die Polizei wieder auf.
Im übrigen scheint das diplomatische Corps unserer Stadt seine Betheiligung an
der Literatur vor der Hand gänzlich aufgegeben zu haben. Die sechzehnte Curie mag
wol mit den „Briefen über Staatskunst" die keineswegs schwache Bücherreihe vorläufig
geschlossen haben, womit sie ihre Bibliothek sclbstschaffcud geschmückt hat. Da indessen
auch die sechzehnte Curie bei der Bundcsprcßgcsetzfrage unentscheidend zu wirken
haben wird, mag vielleicht ein kurzes Verzeichniß der Schriften des Herrn Victor von
Strauß nicht ohne Interesse sein. Wir ersehen daraus die Vielseitigkeit seiner Be¬
strebungen und bemerken nebenbei, daß alle diese Opern Ergebnisse des reifern Mannes-
alters sind. Unter ihnen ist ein dreibändiger Roman von etwas leichtfertigen Grundsätzen
die Erstgeburt. „Theobald" ist sein Titel (Bielefeld, 1839). Daneben stehen andere
belletristische und halbbelletristische Erzeugnisse, wie „Lebensfragen in 7 Erzählungen"
(3 Bde. Heidelberg, Winter), ein novellistisches Jahrbuch unter dem Titel: „das Erbe
der Väter" (Bielefeld, 1830), „Gudrun", el» Schauspiel (Franks., Zimmer), „ein Nacht¬
gesang Dantes aus dem Paradiese" (Dresden, Arnold), „Polyxena", ein Trauerspiel
(Franks., Zimmer), ein „Fastnachtsspicgcl von der Demokratie und Reaction" (ebendas.).
Daran reihen sich religiöse Ergüsse und Polemiken, z. B. eine Denkschrift: „Ueber die
GesangSbuchsache in den preuß. Landen" (Bielefeld, 1846), „das Kirchenjahr im Hause"
(Heidelberg, 18LS), ein „Leben Paul Gerhards" in der Sonntagsbibliothek, „Lieder
aus der Gemeinde für das christliche Kirchenjahr" (Hamburg. -I8i3), „Schrift oder
Geist?" (Bielefeld), eine Gegenschrift gegen Wislicenus: „das kirchliche Bekenntniß und
die lehramtlichc Verpflichtung" (Halle), vier Rhapsodien: „Gotteswort in den Zeitereig¬
nissen" (Bielefeld). Den Abschluß endlich bilden die „Briefe über Staatskunst".
Man ersieht, der hochgestellte Literat theilt mit minder hochgestellten nicht nur die
Verschiedenartigkeit der Productionen, sondern auch die Wanderungen von einem Ver¬
leger zum andern. Glücklicher ist dagegen in Bezug auf die Einführung ihrer litera¬
rischen Producte die erste Curie des Bundestags gewesen. Schon ehe Herr v. Pro-
kesch zum Freiherr» von Osten wurde, gab sein Pflegvater die poetischen Producte des
talentvollen Soldaten heraus. Die „Gedichte" des Herrn v. Prokesch sind ein schätz¬
barer Beitrag zur Kenntniß seiner innern Entwickelung. Besonders wohlthuend ist jeden¬
falls des jungen Dichters nationale Pietät für Ungarn und seine Begeisterung für dessen
freie Selbstständigkeit. Sie durchweht alle von daher datirten Gedichte bald offener,
bald versteckter, bald elegisch, bald dithyrambisch. Auch die herbste Klage hat dort noch
ihr Recht und es mag seiner Zeit die volle Wahrheit des Gefühls gewesen sein, wenn
Herr v. Prokesch (S. 37) sang:
O laß Dein Herz zu meinem Herzen sprechen,
Das Deiner Sprache Laut und Sinn versteht!
Ich weiß, wie Hoffnung, Liebe, Glaube sprechen,
Wenn der Gemeinheit gistger Samum weht.
Ich denn den Schmerz, wenn im verfehlten Streben
Schon vor dem Tod geendet ist das Leben.
Oder konnte man es anders auffassen, wenn er (S. 398) „Oberungarn" schildert:
Kein Sturm erhebt die müde Brust,
Kein Licht erfreut das Aug —
Erstvrbcn ist die Lebenslust,
Erstorben ist der Glaub.
Beinah ebenso interessant erscheint es aber für den geistigen Entwickelungsgang des
spätern Diplomaten, wenn er (S. 39) das Geständnis; ablegt:
Die Welt veracht ich, seit ich sie erkenne,
Seit ich das Wort entfernter Zeit vernommen
Und so das Bild von Jetzt und Einst bekommen;
Es will fortan mein Blick darauf nicht weilen.
Oder, wenn er an andrer Stelle (S. 299), umgeben von der Heimatslandschaft, an
den Tod gedenkt und die Vergessenheit ansieht:
Die Tage, die mir Leichtsinn und stürmend Blut
Mit Wolke» füllte, hülle sie freundlich zu,
Fuhr die Gestalten meiner Fehler
Abseits, daß ich ihr Klagegcstöhne
Und ihrer Fordrung traurigen Ruf nicht hör!
Denk, daß ich gut war, war und noch immer bin;
Denn, was an Sünden ich gesäet,
Nicht aus dem Herzen wars entsprossen.
Bekanntlich hatte nun Hr. v. Prokesch die Bundcstagsfcricn soeben zu einer Reise
nach Paris benutzt. Dies lenkt unwillkürlich die Aufmerksamkeit auf seine spätern
„Kleineren Schriften" zurück, in deren fünften Bande man Paris im Jahr 181S ge-
schildert findet. Sollte» wir neue Darstellungen der neuen Eindrücke zu erwarten haben,
so würde eine Vergleich»»-; mit jenen gewiß das höchste Interesse gewähren. Zu
welchen Hoffnungen von seinem patriotischen Wirken in seiner heutigen politischen Stel¬
lung berechtigt es aber, wenn wir ihn damals im Nationalmuseum und in Beziehung
auf die Kunstdenkmale ausrufen hören: „Ist die Lauheit so mancher Völker, z. B. der
Deutschen, gegen die Erinnerungen ihres Vaterlandes nicht tadelnswürdig und beklagens¬
wert!) ? Die Kunstwerke und Gebilde der deutschen Vorwelt sind entweder aus Ursache
dieser Lauigkeit nicht mehr vorhanden, oder sie sind in die Cabinete fremder Nationen
gewandert, wo sie jeder Brust, die Vaterlandsgefühl in sich trägt, gegen uns zeugen."
Gewiß, ein Mann, der so schreibt, weiß auch, daß zur Allgemeinheit nationalen Sinnes
das Bewußtsein nationaler Kraft und Macht gehört, er weiß, daß die Presse nnr dann
wahrhaft national wirken kann, wenn sie frei ist. Jetzt eben befindet sich Hr. v. Prokesch
in Wien, um seinen viclgeltcnden Rath in der orientalischen Angelegenheit abzugeben.
Auch nach dieser Seite wird er seinen nationalen Enthusiasmus bewähren können. Und
wenn er nach Frankfurt zurückgekehrt sein wird, kann er unmöglich einem Preßgcsetz-
cntwurfe beistimmen, unter dessen Herrschaft alle nationalen Heiligthümer nothwendig in
denselben Zustand des Verfalls gerathen würden, welchen seine Briefe aus Italien
(1833) so treffend als den der Kunstwerke schildern, welche sich in königl. neapolitani¬
schen Besitze befinden." Alle Gebäude — heißt es dort — welche der Hof von
Neapel in Rom besitzt, sind in der größten Verwahrlosung und wären in der Hand
eines lappländischen Eisbärenjägcrs besser besorgt.
— Bei einer Ende September stattgehabten
Aufnahme neuer Mitglieder in den hiesigen s. g. a leer Bürgerverein fielen fast sämmt¬
liche zur Ausnahme angemeldete Juden, etwa ein Dutzend, darunter ganz achtbare Män¬
ner, durch. In diesem sehr großen Verein bilden die christlichen politischen Freunde
der Juden die Mehrzahl, die Abstimmung ist aber geheim, und Sie haben damit den
Schlüssel dazu, daß sich bei der öffentlichen Abstimmung über das die politischen Rechte
der Juden erweiternde „organische Gesetz" v. 12. Sept. d. I. nur einige hundert statt
einige tausend Frankfurter Bürger betheiligten*). —
Am 1. October wurde zum zweiten Mal aus hiesiger Bühne „Ein Lustspiel" von
Benedix aufgeführt. Das zahlreich versammelte Publicum schien sowol vom Stück, als
von der Ausführung sehr erbaut zu sein; der anwesende Herr Benedix wurde zweimal
lebhaft gerufen. Dies neue Lustspiel leidet, man darf es nicht verhehlen, an einer gar
zu großen Trivialität, sowol in Beziehung aus Handlung, als Charakteristik und Dia¬
log. Die Hauptperson ist eine Caricatur, was den Dichter zwingt, auch die übrigen
Personen zu caricircn. Denn was soll man dazu sagen, daß die Hauptperson zwar
keinen Weltmann, aber einen edeldenkender, gesetzten, verständigen und streng rechtlichen
Mann vorstellt, der sich aber gleichzeitig um die Hand dreier gleich vorzüglicher Frauen¬
zimmer bewirbt und deren Ja erhält und annimmt.
Die „Charakterbilder" des Frankfurter katholischen Stadtpfarrcrs Beda Weber
werden noch immer besprochen und sind besonders den in ihrer Gesammtheit darin an¬
gegriffenen Frankfurter Bürgern ein Stein des Anstoßes und Aergernisses. Gleichwol
wäre die Charakteristik der Frankfurter noch das Beste und Wahrste in dem Weberschen
Buche, wenn ihr Verfasser sich vor Uebertreibungen und gemeinen Ausfällen zu bewahren
gewußt hätte. An diese hat sich der Frankfurter, der selbst den leisesten Tadel weniger
verträgt, als das ausschweifendste Lob, geklammert, um die Wahrheiten von sich ab¬
gleiten zu lassen, welche der humoristische und übermüthige Pfaffe ihm ins Gesicht schleu¬
dert, so daß es Herrn Weber mit seinem Angriffe auf die Frankfurter ähnlich ergeht,
wie einst Heine mit seinem Buche über Börne. Während er nämlich Börnes
politische Thorheiten und Tollheiten auss treffendste darin geißelte, vergaß er sich zu¬
gleich soweit, über dessen Privatleben in schmutziger Weise zu klatschen, und Gutzkow,
dem gewiß niemand einen seinen und glücklichen — Speculationsgeist absprechen wird, über¬
nahm Bornes Vertheidigung mit so sittlicher Entrüstung über Heines Jmmoralität,
daß mir ein israelitischer Verehrer des ersten, gestand, er habe das Gutzkowschc Buch
(Das Leben Börnes) mit Goldschnitt binden lassen.
Auch dies verdient Tadel, daß Herr Weber die in seinem Buche von ent¬
haltenen Aufsätze in eine Zeit zurückverlegt, wo er sie gar nicht oder doch wesentlich
anders versaßt hatte. Wenn er im Jahre 18i8 Demokraten, Liberale und National¬
versammlung wie in dem Buche angegriffen hätte, so könnte er das, wenigstens von
dieser Seite, auch noch heute mit Ehren wieder abdrucken lassen; jetzt aber hat er sich
selbst mit unverdienten Lorbeeren geschmückt. Politische Gegner während der Hitze des
Gefechts schonungslos angreifen, ist verzeihlich, es aber nach beendigtem Kampfe fort¬
setzen, unedel und unnatürlich. Auch mochte es Herrn Weber schwer fallen, für alles,
was er zur Charakteristik selbst von Männern, wie Robert Blum, sagt, die Beweise
beizubringen, durch welche er sich und die Leser von der Wahrheit seiner Beschuldigungen
überzeugen könnte. Ein begabter Mann war Robert Blum, wie Beda Weber,
und im übrigen nicht weniger ein Kind der Zeit und der Umstände, als dieser.
Gegen einen andern Vorwurf müssen wir Weber in Schutz nehmen, gegen den
Vorwurf »änlich, daß er als Geistlicher nicht so habe schreiben dürfen. So lange er
nur nicht als Geistlicher auch so predigt, hat niemand ein Recht, ihm einen Vorwurf zu
machen, wenn er sich mit dem Chorrock auch des lästigen Zwanges entledigt, den ihm
seine Kirche auferlegt.
^- Nach der warmen Lobrede, welche neuerdings Lord
Palmerston in Greenoek der auswärtigen Politik seines College» Lord Clarendon ge¬
halten hat, kann wol kein Zweifel mehr sein, daß der angebliche Zwiespalt im Cabinet, —
wenn er überhaupt bestanden hat, was wir sehr bezweifeln möchten — vollständig aus¬
geglichen ist, und daß wenigstens England gewillt ist, dem Umsichgreifen Rußlands ent¬
gegenzutreten, solange es geht auf friedlichem Wege, nöthigenfalls aber auch durch Krieg,
und für die Unabhängigkeit des Continents einzutreten, wenn die festländischen Mächte
verblendet genug sein sollten, sich Rußland zu fügen. Durch eine solche Politik wird
das Cabinet den ungeduldigeren Theil der liberalen Partei, welche durch Lord Aber-
deens vorsichtiges Operiren etwas mißtrauisch geworden war, wieder für sich gewinnen,
und die imposante Phanlaux intact erhalten, welches bereits in der letzten Session das Mini¬
sterium in Stand gesetzt hat, die wichtigsten inneren Reformen mit geringem Widerstand
durchzuführen. Das größte Verdienst bei der Bildung dieser Phalanx gebührt ohne Wider¬
spruch der finanziellen Politik Herrn Gladstones. Wenn auch sein Plan zu Conversion
der Staatsschuld nicht durch eigene Schuld, sondern durch den unerwarteten Eintritt der
orientalischen Verwickelung fehlgeschlagen ist, so hat er dafür in seinem Budget eine
Zollrcform durchgesetzt, welche durch Verwohlfeilerung mehrer der nothwendigsten Lebens¬
bedürfnisse die wohlthätigsten Folgen für das materielle Wohl des Volkes haben muß.
Außerdem hat er durch Einführung der Erbschaftssteuer aus Grundstücke einen gehässigen
Unterschied zwischen dem Handels- und dem Grnndbesitzerintcrcsse aufgehoben, wodurch
allein die Harmonie zwischen den verschiedenen Classen der Bevölkerung erhalten werden
kann, welcher England seine schönsten Fortschritte verdankt. Daß derartige Reformen,
welche gegen die exclusiver Privilegien der Aristokratie gerichtet sind, in den Reihen der
letzteren stets Vertheidiger und Förderer finden, ist ein glänzender Beweis von dem poli-
tischen Geist und dem Patriotismus des englischen Adels, der aber auch grade dieser
aufopfernden Hingebung für das Allgemeine seine einflußreiche politische Stellung ver¬
dankt, um die ihn die festländische Aristokratie beneidet, ohne ihm nachzuahmen zu ver¬
stehen. In alle den großen Reformen, welche den Mittelstand zur politischen Mitherr¬
schaft gebracht und die ausschließliche Herrschaft des Grundbesitzes gebrochen haben,
haben Mitglieder der Aristokratie eine hervorragende Rolle gespielt. An der Spitze der
Bewegung für die Reformbill standen die großen Whighäuser; die Abschaffung der Korn¬
bill setzte der große Staatsmann durch, welcher der conservativen Partei neues Leben
eingeflößt, und die Einführung der Erbschaftssteuer wird unter einem Ministerium durch¬
gesetzt, dessen Chef einem der ältesten und stolzesten Hänser Schottlands angehört.
Den nächsten Preis nach dem Schatzkanzler verdient Lord Palmerston als Staats-
secretär des Innern, der die-selbe unermüdliche Energie, mit der er früher über Eng¬
lands Interesse im Auslande wachte, jetzt auf die Verbesserung einheimischer Mißbräuche
wendet. Die demoralisirenden Wettbureans, die städtischen Begräbnißpläße, die wahre
Pcstherde find, die Fiacres mit ihren zudringlichen Betrügereien hat seine Energie be¬
reits in Ordnung gebracht; die Organisation der Miliz hat er trefflich vollendet; die
Deportation von Verbrechern, die zu einem gefährlichen Zwist mit mehren Kolonien
zu führen drohte, abgeschafft, und eine Reorganisation der Verwaltung der Grafschaften
wird vorbereitet. Sir I. Graham räumt mit Fleiß unter den Mißbräuchen der Ad-
miralitätsverwaltnng aus und hat durch Errichtung der Küstcnfreiwilligcn einen wichtigen
Schritt zur Lösung der schwierigen Frage gethan, wie ohne die englischen Sitten wider¬
sprechende Conscription die Bemannung der Marine im Kriegsfall gesichert werden kann.
Zu der Geschlossenheit der ministeriellen Partei bildet die Zerfahrenheit der Oppo¬
sition einen traurigen Gegensatz. Der Bruch zwischen Herrn dJsraeli und der Partei,
die er im Unterhause einmal zum Siege führte, und deren einziges Talent er daselbst
war, ist vollständig; er ist den englischen Junkern zu geistreich geworden und die Füh¬
rung der Partei ist an Sir I. Pakiugto» übergegangen, während Herr dJsraeli sich
darauf beschränkt, in seinem Blatt „The Press" auf eigene Hand mit dem Ministerium
Fehde zu führen. Die Führer der ehemaligen Protectionistcnpartci büßen jetzt dafür,
daß sie, dem Fanatismus und der eigennützigen Engherzigkeit ihrer Anhänger zu ge¬
fallen, eine Sache vertheidigten, deren Unhaltbarkeit ihnen nicht unbekannt sein konnte,
die einzugestehen sie aber nicht genug politischen Muth hatten. Sie haben die Demüthigung
der Niederlage ohne den Trost, nach bester Ueberzeugung gehandelt zu haben, und ohne
die Aussicht, vor Verlauf einer geraumen Zeit wieder ans Ruder zu kommen.
— Den Is. September. — Der gegenwärtige Au¬
genblick ladet wunderbar und wie lange Zeit keiner vor ihm zur politischen Betrach¬
tung ein. Die eigentliche Streitfrage zwischen Rußland und der Pforte scheint besei¬
tigt zu sein und die europäische Diplomatie arbeitet eifrigst daran, die daraus ent¬
sprungenen Wirren einer baldigen friedlichen Losung entgegenzuführen; aber nichts
destoweniger lebt eine unruhevolle und beängstigende Ueberzeugung in jedem ernsten Be¬
schauer der hiesige» Dinge, nach wie vor, fort: die Ueberzeugung nämlich von dem
Herannahen einer großen und unvermeidlichen Katastrophe.
Wer mag es einem Deutschen verdenken, wenn er, beim Hinblick darauf, zuerst an
sein Vaterland denkt, und die Folgen, gute oder Hose, überrechnet, welche das unge¬
heure Ereigniß der Sprengung des osmanischen Reiches zunächst für unser Volk mit
sich bringen würde! Denn es ist unschwer zu erkennen, daß mit der Entscheidung
über das Geschick der Monarchie der Sultane, gleichzeitig der Würfel über die deutsche
Zukunft geworfen werden wird. Richtig benutzt kann der Untergang des türkischen
Großstaates für uns, wie für keine andere Nation, der Anfangspunkt einer Epoche
grandioser Entwickelung werden, wogegen eine Versäumniß des rechten Moments sich
hier bitterer rächen und verhängnißvoller für uns werden würde, wie irgend anderswo.
Denn keines der größeren europäischen Völker, auch das russische uicht, ist den in Rede
stehenden Ländern geographisch und eben deshalb commerciell, militärisch und politisch so
nahe gestellt, wie wir es sind. Wenn es seither anders scheinen wollte, so liegt dies nnr
lediglich daran, daß Deutschland nicht verstanden hat, die unermeßlichen Vortheile seiner
Lage zum Orient geltend zu machen.
Der Beweis hierfür ist leicht zu führen. Schon gegenwärtig ist Wien, also die
Capitale der ersten deutschen Großmacht, der Ausgangspunkt für die bei weitem größere
Anzahl von Communicatiouslinicn geworden, welche die Landestheile der europäischen
und der größeren Hälfte der asiatischen Türkei, insbesondere aber Stambul, den Keru-
und Herzpunkt des Reiches, mit Europa verbinden. Diese Ccntralität Wiens wird sich
steigern und eine erhöhte Bedeutung gewinnen, sobald die projectirten Eisenbahnen zur
Ausführung gekommen sein werden, welche in naher Zukunft den Bosporus mit den
Usern der Donau zu verbinde» versprechen; denn es ist klar, daß wenn jetzt bereits
der Weg über die östreichische Hauptstadt die Concurrenz mit allen westlichen Dampf-
schifflinic», was die Schnelligkeit anlangt, auszuhalten, ja sie sämmtlich zu überholen
vermag, dergestalt, daß man in Paris und London die neuesten Nachrichten aus Kon-
stantinopel über Wien zu empfangen pflegt, nach Vollendung der erwähnten Eiscn-
straßen für die anderen Routen die Möglichkeit wegfallen wird, mit ihm zu rivalisiren.
Was aber die Linie über Wien nicht zu leiste» vermag, nämlich die Vortheilhasteste
Vermittlung zwischen Egypten, Syrien, u. s. w. und Europa, das leistet der Seeweg
von dorther nach Triest. Diese Seestadt ist die Ergänzung Wiens als Verbindungs-
punkt für den Verkehr mit dem ganzen Rest der osmanischen Monarchie. Dazu kom¬
men die nicht hoch genug anzuschlagenden Vortheile, welche die doppelten Wasserwege,
der Donau und des Pontus einerseits, und des adriatischen Meeres andererseits, unse¬
rem Handel gewähren. Von dem großen deutschen Strome aus über den Euxin hin
beherrschen wir nämlich in commercieller Hinsicht eine ganze Hälfte des türkischen
Reiches, zu der außer uns nur Rußland den directen Zugang hat, während die andere
Hälfte nur durch die beiden Sccstraßen des Bosporus und der Dardanellen von ihm
erreicht werden kann. Vor allem ist die Donau die natürliche Verlängerung des großen
innerasiatischen Handelsweges, der gegen das schwarze Meer hin zum Hafen von
Trapezunt ausläuft und die Euphrat- und Tigrisländer, Westpcrsien und die Südgc-
stade des kaspischen Sees mit ihm in Verbindung setzt. Von Trieft aus sind wir
dagegen im Stande, die Küstengebiete von Kleinasien, Syrien und Egypten in
kürzerer Zeit zu erreichen, als dies von irgend einem bedeutenderen europäischen Hasen
möglich ist.
Eine günstige Lage für den Landverkehr pflegt die für militärische Operationen
mit einzuschließen. Unter den Verhältnisse», welche bei kriegerischen Unternehmungen
vor alle» anderen zur Sprache kommen, stehen nämlich, wie beim Handel, die Ent¬
fernungen oben an, und der Schluß wird nicht allzu gewagt sein, daß der Zielpunkt
eines Angriffskrieges gegen die Türkei, nämlich Stambul, von Oestreich her eher wie
von irgend einen: andern Staate aus zu erreiche» sei» würde, weil die commercielle
Verbindung nach dieser Richtung hin die schnellste ist. Auf einen besonderen Vortheil,
dessen Oestreich bei einem jeden Kriege innerhalb der europäischen Türkei theilhaftig
sein würde, will ich indeß nicht unterlassen hier aufmerksam zu machen. Die Donau
ist allerdings an ihrer Mündung in russischen Händen und in dem gegenwärtigen Falle,
wo Rußland die Moldau und Wallache! besetzt hat, sichert es sich damit eine mehr wie
hundert Meilen lange Strecke dieses Stroms; aber gleichwol wird eS für etwaige Ope¬
rationen aus diesem Besitz nimmer dieselben Vortheile zu ziehe» vermöge», die Oestreich
unter denselben Umständen ans dem seinigen entnehmen kann. Für Rußland ist die
Donaulinie nämlich nichts Anderes als eine vorgeschobene Basis, die dem Schwerpunkt
seiner Macht und den Gegenden, ans denen es seine Hilfsmittel entnimmt, ziemlich
entlegen ist; es wird sich ans ihr immer erst etabliren und seine Bedürfnisse im gün¬
stigeren Falle über das Meer, im weniger günstigen anf den schlechten Wegen der
südlichen Gouvernements, und durch die beiden Fürstentümer dorthin führen müssen.
Dagegen ist für Oestreich dieser Strom die eigentliche Schwerlinie seiner Kraft, die
Hauptpnlsader des Staates. Es hat nicht nöthig, seine Kräfte dort zu sammeln; sie
finden sich aus natürlichen Gründen dort concentrirt. Hierzu kommt, daß die Donau,
welche Oestreich in Händen hat, den minder vertheidignngsfähigcn Provinzen des tür¬
kischen Reiches gegenüber liegt, wogegen die von Nußland zur Hälfte beherrschte Strom¬
strecke, auf dem bulgarischen Gegenufer mit den besten türkischen Festungen besetzt ist,
außerdem die große Position von Schumla hier den Zugang zu den Pässen der rück¬
wärts liegenden Balkanlinie hütet, und außerdem Warna am Meere ein stets offenes
Debonchv für von der Seeseite heranzuziehende Hilfskräfte bietet. Englischen und
französischen Hcerestheilen ist durch diesen wichtigen Platz der Zugang zu der großen
Schlachtenebcue der Bulgarei jederzeit gesichert, wodurch Rußlands Aussichten unter
Umständen bedeutend geschmälert werden können. Dagegen beherrscht Oestreich das ihm
zunächst liegende Kriegstheater, also Bosnien, die Herzegowina, Montenegro und Ser¬
bien ausschließlich. Der Uebergang über den Balkan bietet weniger Schwierigkeiten dar,
weil sich derselbe in vielen getheilten Ketten hinzieht; endlich sind die hier aus dem
Wege nach Stambul gelegenen Festungen von ungleich schlechterer Beschaffenheit wie
die bulgarischen und ihnen kaum vergleichbar.
Aus dem allen glaube ich mit Recht folgern zu können, daß die überwiegend grö¬
ßeren Vortheile der militärischen Lage ans Seiten Oestreichs, also Deutschlands, sich
befinden. Unter allen europäischen Heeren wird ein östreichisches immer noch das erste
sein, welches, wenn die entscheidende Stunde schlagt» sollte, vor Konstantinopel erscheinen
würde. Ich verkenne dabei nicht die ungeheueren Hilfsmittel, über welche die Seemächte
infolge der vom Dampfe bewirkten Umwälzung im Gebiete der Schiffahrt verfügen;
das frühere Axiom, wonach ,es nicht möglich war, mehr wie 33,000 Mann aus weitere
Strecken über See zu transportiren, hat sicherlich heute keine Geltung mehr; aber die
Vorbereitungen zu derartigen Unternehmungen erfordern nach wie vor Zeit, viel Zeit,
und inzwischen werden wir, fo muß man hoffen, zu handeln wissen.
Man redet hier viel von der Sendung eines türkischen Botschafters nach Se. Pe¬
tersburg; nach der Meinung einiger soll er bereits im Begriff stehen, abzureisen. Zu¬
verlässiges habe ich über diesen Punkt noch nicht in Erfahrung zu bringen vermocht.
Die Rüstungen sind nicht eingestellt, woraus man ersehen mag, daß, wenn auch die
ganze Lage der Dinge dem Frieden zuneigt, dennoch manche Besorgnisse noch nicht ge¬
schwunden find. — Unter den Truppengattungen ans entferntesten Gegenden, welche in¬
folge der Kriegsvorbereitungen ihren Durchzug durch die Hauptstadt halten, nimmt
keine mehr die Aufmerksamkeit der hiesigen Bewohner in Anspruch, als die irreguläre
Reiterei des Innern von Kleinasien. Neulich passirten wiederum tausend Mann dieser
kriegerischen Miliz den Bosporus. Es sind durchweg kräftige und, wie sich denken läßt,
sonnenverbrannte Gestalten. Die Kleidung ist noch ganz alttürkisch. Ans dem Haupte
tragen diese Reiter nicht das kleine und unkleidsame Fez, sondern den malerischen und
in reichem Faltenwurfe gewundenen Turban. Prächtig und von bewundernswürdiger,
altmodischer Arbeit find die Waffen. Im reich verzierten, goldbordirten Gürtel hängen
mit Gold und Silber ausgelegte Pistolen, während der Cavalerist als Hauptwaffe ent¬
weder einen schmalen krummen Säbel oder eine starke Lanze führt. Daß der Schall
der großen Heerpauken und der Klang der Becken sich nicht eben in uinsikalischcn Ac-
corden bewegen, werden Sie mir auch ohne meine Versicherung glauben. — Diese
Reiterei besteht meistens aus zur Ruhe gesetzten oder von Dienst nicht durchaus in
Anspruch genommenen Beamten, aus Lehnsherrn mit ihren Gefolgschaften und ^!>>iUv8,
oder berittenen Polizeireitern der Provinzen.
In den jüngsten Tagen waren wieder Gerüchte über eine im Keime unterdrückte
Empörung im Umlaufe. Man wollte wissen, fünfzehn Ulemas hätt-en dem Sultan eine
Adresse überreicht, in welcher sie ihn zum festen Ausharren und dem Bestehen auf seinem
Recht aufgefordert, für den entgegengesetzten Fall aber mit einem massenhaften Aufstande
gedroht hätten. Diese fünfzehn, heißt eS, seien nun plötzlich verschwunden und es sei
kein Zweifel darüber zu hegen, daß sie einem heimlich vollzogenen Todesurtheil zum
Opfer gefallen wären. Gleichzeitig ward behauptet, man habe einige Kriegssahrzcuge,
aus dem oberen Bosporus, wo jetzt die Flotte ankert, zum Schutze der Hauptstadt
hierher beordert; indeß hatte diese Maßregel wol nur in der Feier des Kurban Bairam
ihren Grund.
Europa, welches sich bereits längst von der nicht enden wollenden orientalischen
Verwickelung gelangweilt fühlt, wird wenig durch die Nachricht erbaut sein, daß dieselbe
eben im Begriff steht, wiederum — „in eine neue Phase einzutreten". Kaiser Nikolaus
hat etwas gethan, was niemand erwartete: er hat die Modificationen, denen die Pforte
den Ausgleichungsentwurf der vier Großmächte unterworfen hatte, nicht angenommen.
Sie fragen: ob nicht dadurch die Frage wiederum aus dem alten Flecke steht, worauf
ich mit Nein zu erwidern habe, denn sie ist dadurch kritischer geworden, wie jemals.
Man hat gesagt: Rußland handelte nicht weise, als es im Frühjahr, unmittelbar
nach der Abreise des Fürsten Menschikoff die Gelegenheit sich entschlüpfen ließ, dnrch
einen raschen Zug gegen Stambul dem osmanischen Regiment, mindestens auf europäi¬
scher Erde, ein Ende zu machen. Die Türkei stand damals wehrlos da, und es unter¬
liegt keinem Zweifel, daß der Widerstand, den man osmanischcrscits dem russischen
Angriff würde entgegengesetzt haben, nicht hoch anzuschlagen sein dürfte.. Ein Marsch
von sechzig Tagen vielleicht und Konstantinopel hätte seine Thore geöffnet, und von der
Kuppel der Aga Sophia wäre der Halbmond niedergesunken, um dem triumphirenden
Kreuz Platz zu machen. — Rußland, so muß .man heute schließen, nützte den Augen¬
blick absichtlich nicht, um des Sieges desto gewisser zu sein. Die Türkei hätte damals
einen gewaltigen Rückhalt in den vier Großmächten gesunden, und es ist die Frage, ob
dieselben nicht im Stande gewesen sein würden, auch aus dem eroberten Stambul eine
russische Armee wiederum zu delogiren. Der russischen Staatskunst kam es vor allen
Dingen darauf an, die Sache jdcr Osmanen von dem Interesse oder mindestens von
der activen Parteinahme der europäischen Cabinctc zu scheiden. Man .mußte geschickt,
besonnen und, so eilfertig man anch an und für sich sein mochte, zaudernd und zögernd
manövriren, um dies große Resultat zu erreichen. Endlich bot der Ausgleichungscnt-
wurf der Großmächte die beste Gelegenheit dazu. Man nahm ihn an — man verwarf
aber die später vom Diva» ihm beigefügten Modifikationen. Die Pforte hat nun nur
noch die Wahl, zu der von den vier Cabiucteu gemachten Proposition ohne Modifica-
tion zurückzukehren, wodurch Nußland so zu sagen der schließliche Triumph verblieben
sein würde, oder sie muß das Schwert ziehen, ohne dabei aus Unterstützung rechnen zu
können, denn offenbar können die Großmächte nicht gegen Rußland in den Kampf gehen,
weil es auf dem besteht, was sie selber soeben erst für Recht anerkannt hatten.
Was sich jüngst hier ereignet hat, läßt sich wie folgt zusammenfassen. Bereits am
Montag gingen unruhige Gerüchte »in. Die östreichische Legation mochte damals be¬
reits Kunde von dem Ausfall der Entscheidung des Kaisers Nikolaus haben; es war
nämlich am Sonntag Abend ein Courier über Belgrad an Herrn v. Bruck angelangt,
worauf dieser Besprechungen mit den Gesandten verschiedener anderer Mächte gehabt
haben soll. Das Journal de Konstantinople, welches in der Nacht vom Montag zum
Dienstag gedruckt ward, nahm aus die umlaufenden Gerüchte Bezug und suchte deren
Begründung in einer dem Text vorangestellten Erklärung zu bestreiten. Es behauptete,
der Courier habe keine Nachrichten gebracht, welche die allgemeinen Angelegenheiten be¬
trafen. Aber als diese Erklärung niedergeschrieben wurde, hatte das Pfortenministcrium
aus den Händen eines am Montag angelangten russischen Feldjägers bereits directe
Depeschen aus Se. Petersburg empfangen, worin die Ablehnung der Modificationen
Seitens des Zaren modificirt wurde. Ans Anlaß dieser Mittheilung trat noch am
späten Abend ein Ministerrath zusammen. Fasst Achmed Pascha, der Schwager des
Sultans, der zur Zeit in seinem Palais weit hinaus im Bosporus wohnte, wurde aus
dem Schlafe aufgeweckt, um dem Medschliß beizuwohnen. Derselbe saß fast die ganze
Nacht hindurch. Am andern Tage, wenn ich nicht irre um Mittag, trat der Diva»
(das Ministerium) aufs neue -zusammen, indeß höre ich noch von keinem Resultat.
Man muß wohl erwägen, daß die Kriegspartei hierorts durch die Weigerung des
Zaren aufs neue die Oberhand bekommen hat, und daß unter solchen Umständen nicht
dafür zu stehen ist, daß die Pfortenminister sich nicht zu einem kühnen und verzweifel¬
ten Entschluß hinreißen lassen. Die Rüstungen sind vollendet, die Festungen rctablirt;
100,000 Mann in der Bulgarei, 28,000 Mann in Anatolien unter den Waffen
man kann, so meint man mindestens, einen effectvollen Widerstand leisten. Alles das
ermuthigt die fanatischen Eiferer, welche alles vom Kampfe erwarten und bereit sind,
alles daran zu setzen. Eine solche Stimmung ist schwer zu beherrschen. Sie greift
außerdem mehr und mehr um sich und es naht sichtlich die Stunde, wo der Fanatis¬
mus alle Rathschläge der Vernunft übertäuben wird.
Nachtrag der Redaction. — Was es mit dem Einlaufen der englisch-fran¬
zösischen Flotte in den Bosporus für, eine Bewandtniß hat, würde schwerer zu erkennen
sein, da nach der Angabe der englischen und französischen Blätter der Schlag nach beiden
Seiten gerichtet sein sollte, wenn nicht die gleichzeitige Olmützer Zusammenkunft und
mehr noch die unmittelbar darauf erfolgte Conferenz zu Warschau einen hinreichenden
Fingerzeig gäbe. Also der Osten steht wieder gerüstet gegen den Weste»! Das schlimmste,
was Deutschland widerfahren konnte. Das ist der große Erfolg der Aberdeenschcn Po,
init! England ist jetzt in einer ganz eigenthümlichen Lage, denn es hat sich in Wien
mit dazu hergegeben, dem Sultan eine Note aufnöthigen zu wollen, deren Sinn, mit
Ausnahme Lord Aberdeens und der Times, niemand anders ausgelegt hat, als es ge-
-
gcuwärtig der Sultan und der Kaiser von Rußland gethan. Wäre ein männliches und
festes Auftreten Englands nicht gedeihlicher auch für den Frieden gewesen? Wie die
Sachen jetzt stehen, ist es kaum denkbar, daß ein tiefer, vielleicht über ganz Europa sich
ausbreitender Conflict zu vermeiden ist. — Vor einigen Wochen besprachen wir eine
in griechischem Interesse abgefaßte Broschüre vonLemoinne; jetzt liegt uns eine ähnliche
vor: „Einige Worte über die orientalische Frage. Eine Stimme der Mahnung aus
Athen." (Dresden, Schäfer.) Der Verfasser sucht namentlich nachzuweisen, daß die
griechische und russische Kirche keineswegs identisch sind, daß man also unrecht hat,
sie fortwährend miteinander zu verwechseln. Diese Ansicht ist nicht ohne Geist durch¬
geführt, wäre sie aber richtig, so würde sie in dieser Frage grade für die Türkei spre¬
chen, denn diese bestreitet den Nüssen das Protectorat über die griechische Kirche,
während Rußland es in Anspruch nimmt.
— Das Kunstblatt theilt eine Beschreibung der acht Grup¬
pen mit, welche für die Schloßbrücke in Berlin bestimmt sind. Sie enthalten sämmtlich
einen jungen Krieger in Beziehung theils zur Minerva, theils zur Victoria (oder wie
man es der größern Popularität wegen präcisirt hat: Pallas und Nike). Die Künstler
sind die Herren: Drake, Möller, Schievelbein, Emil Wolff, Wredow. Bläser, Albert
Wolff und Wichmann. Die Figuren haben eine Hohe von 8 Fuß. Sie werden auf
ein einfaches Fußgestell von grauem, schlesischen Marmor gehoben, welches mit dem
Granitwürfel zusammen Is Fuß hoch ist. Das Kunstblatt bemerkt sehr richtig dazu:
„Uns scheint dies Hinausschieben der Statuengruppen für den bequemen Genuß derselben
entschieden zu hoch. Die Herren Architekten pflegen eben gern mit der Sculptur etwas
dekorativ zu wirthschaften, und wir wollen schon glauben, daß die stattliche Höhe der
Brückcnbekrönuug in Hinsicht auf Totalwirkuug von einem imposanten Eindruck sein muß."
Wir hätten noch eine Ausstellung zu machen. Die in nächster Nähe aufgestellten Sta¬
tuen von Blücher, Bülow und Scharnhornst (denen sich bald Gneisenau und Uork von
Rauch anschließen werden) sowie das Fricdrichsdcnkmal tragen einen so entschieden rea¬
listischen, modernen Charakter, daß die Antike dazu nicht paßt. Freilich ist dieser Wi¬
derspruch schon in der Architektur des ganzen Platzes begründet, aber das eine gleicht
doch das andere nicht aus. Um so weniger, wenn die Antike christianisirt wird. So
sagt z. B. das Kunstblatt über die Draperie der einen Gruppe: Sie hat hier zweier¬
lei zu thun: erstens soll sie verhindern, daß nicht das rechte Bein von oben bis unter
ganz frei stehe und so gleichsam von der Gruppe abgelöst erscheine; . . zweitens soll
das Gewand gewisse Vorderpartien bedecken. Dies ist überflüssig, und wen» es mit
Absicht geschieht, so daß der dazu gebrauchte Gewandzipfel lediglich die Stelle des
Feigenblattes vertritt und dann dennoch allemal gleichsam wie eine Buchdruckerhaud
die beabsichtigte Verhüllung andeutet, so ist es unschön. . Man kann annehmen, daß
der Wind die Draperie bis zu den Linien hinaufwche, die dem Künstler für die ge¬
fällige Form des Ganzen nöthig schienen. Aber dieser Wind ist nicht stark genug, das
Gewandstück an der Lende festzuhalten. Daß dieses daliege, ohne festgeklebt zu sein
odcr an dem glatten Körper des Jünglings herabzugleiten, ist eine reine Unmöglichkeit,
und immer wäre dies noch eher denkbar, als daß es sich auf die Bedeckung des
Gcschlechtstheils sollte ausdehnen können." —
— Am 2. October begannen die diesjährigen Gewandhausconcerte.
Ferdinand David hat die Leitung derselben übernommen; der Concertmeister Rai¬
mund Drey Schock führt das Orchester. Das Programm enthielt an Orchcsterwsrken
Cherubinis Ouvertüre zu den Abenceragen und die L-mnIl Sinfonie von L. van Beet¬
hoven. Fräulein Ney vom Hoftheater zu Dresden saug eine Scene und Arie von
Mendelssohn und die Coloraturaric „Martern aller Orten" aus der Entführung von
Mozart. Die Arie von Mendelssohn ist im ganzen noch wenig bekannt, doch jhe sie
sehr zum Concertvortragc zu empfehlen und kann als würdiges Ersatzstück für manche
der hergebrachten Couccrtgcsäuge gelte». Besondere Schönheiten bieten das Recitativ
und Andante; das Allegro ist nicht durchaus gesangmäßig gehalten und vermag nur
durch so außerordentliche Mittel, wie sie Fräulein Ney besitzt, zur Geltung gebracht
zu werden. Das Publicum war mit Recht über diese Leistung der Sängerin entzückt
und wurde noch lebhafter nach der Mozartschen Arie, an deren gelungenen Vortrage
man ihre große Virtuosität bewundern konnte. Herr Alexander Drcyschock aus Prgg
spielte das L«-l!ur Concert für Pianoforte von Beethoven zwar nicht überall mit cor-
recter Ausführung und richtiger musikalischer Einsicht, aber immer noch mit dankens-
werthen Fleiße. Dagegen glänzte er nach Verdienst in zwei Salonstücken seiner Com-
position und in einem Liede ohne Worte von Mendelssohn.
Wir beginnen mit der Lyrik. Empfehlenswcrth
ist die Sammlung: Deutscher Licderhort. Auswahl der vorzüglichsten deutschen
Volkslieder der Vorzeit und Gegenwart mit ihren eigenthümlichen Melodien. Heraus¬
gegeben von Ludwig Erk (Berlin, Enslin). Aus die alten Schätze unsers Volks die
Aufmerksamkeit hinzulenken, ist viel ersprießlicher, als ein Dutzend neue Bände Original¬
gedichte ohne schöpferische Nothwendigkeit. Nach der ersten Lieferung, die uns vorliegt,
zu urtheilen, ist die Auswahl sehr verständig. Die Sammlung ist auf 3 Bde. be¬
rechnet, jeder zu 6—8 Lieferungen. Die Lieferung kostet 10 Sgr. — Zwei Gedicht¬
sammlungen: von Natalie von Herder (Weimar, Jansen; dem Großherzog von
Weimar gewidmet) und vom Medicinalrath Freiberg (Zerbst, Wallerstein) enthalten
meist Gelegenheitsgedichte. — Ein Heldenlied von Lieutenant Richard von Meer¬
heim: „Die Sachsen an der Moskwa" (Dresden, Arnold), schildert im Nibelungen-
Versmaß, ungefähr in der Manier Scherenbergs, anschaulich und mit fast minutiöser Ge¬
nauigkeit die Heldenthaten des sächsischen Contingents im russischen Feldzug. Genauere
historische Data sind im Anhang hinzugefügt. —
Im Gebiet des Drama nennen wir zunächst eine Uebersetzung des Ledipns in
Kolonos vom Professor Gravenhorst (Hannover Rümpler). Ueberzeugt von der
Unmöglichkeit, die antiken Versmaße im Deutsche» wiederzugeben, ohne der Sprache
Gewalt anzuthun, hat der Verfasser den fünffüßigen Jambus und für alle übrigen
Formen gereimte Strophen gewählt, ungefähr wie Schiller in der Braut von Messina.
Wir sind mit diesem Princip nicht einverstanden. Man irrt nur, wenn man den
Unterschied zwischen der griechischen Sprache, in der Quantität und VerSacceut aus¬
einanderfalten (ganz abgesehen vo» dem Wortaccent, den wir mit dem Vers überhaupt
nicht in Zusammenhang bringen können), und der.deutschen vergißt,! in welcher beides
identisch ist, Diejenige» antiken Metra, in denen dieser Unterschied nicht stattfindet,
und die daher einen klar ausgesprocheucuRhyhtmus haben, z. B. den Hexameter, Pentameter
und die vorzüglichsten Horazische» Strophen, lassen sich im Deutschen sehr gut wiedergeben.
Unmöglich dagegen ist es z. B. die gewöhnliche» auapästischc» EinleitungSstrophcn zu
den Chorgesänge» i» der Weise wiederzugeben, wie es im Griechische» geschieht, z, B,
eine» Dactylus an Stelle des Anapäst zu setzen und den Ncrsaccent auf die erste
kurze Silbe zu legen, weil dadurch der Rhythmus für uns vollkommen verrückt wird.
Hält ma» aber nur an dem Gnmdsatz fest, lediglich de» Rhythmus nachzuahmen, so
sind die Trimcter wie der anapästische, jambische und trochäische Tetramctcr, die i» den
griechischen Drama» überwiege» , sehr wohl nachzubilden und klingen sogar
auch im Deutschen sehr schön, wie das u. a. Plate» in seinen Aristophamsireu-
den Lustspielen auf das trefflichste gezeigt hat. Die eigentliche» Chorvers-
maße sind nicht zu übersetzen, weil wir sie nicht hören, und also die Sprache zu ihren
Gunsten ganz umsonst verrenken. In diesen Fällen also, wo ein bestimmter Rhythmus
nicht hergestellt werde» kau», ist es am zweckmäßigsten, Jea» Parische Streckverse, d. h.
Prosa in erhöhter Haltung an die Stelle zu setzen. Reime dagegen, und noch dazu
unsre kurzen lyrischen Melodien sind unerträglich. — Als eine» neuen dramatischen
Versuch nennen wir „Johann Huß." Historisches Trauerspiel vo» Carl Er »se
(Berlin, Schröder). Es weht in demselben el» tüchtiger protestantischer Geist und eine
würdige Gesinttung, viel weiter aber würde sich das Lob nicht ausdehne» lassen. Der
Stoff an sich ist vergriffe», deim die Hauttalg ist episch, u»d daz» uoch a» theolo¬
gische Voraussetzungen gebuude», mit dene» uns das Drama »icht peinigen darf; und
die Ausführung ist »och »»dramatischer. Huß ist eine fertige, bewegungslose Jdcal-
gestalt, seine Gegner nach der Schablone gezeichnet, und daneben sehr mit Hast ange¬
legte, mit der Häutung wenig z»sammenhä»gente Genremalerei. Auch der Stil, we»»
auch correct, ist zu prosaisch. —
Aus dem Ge»re der gemischten, zwischen Poesie und Prosa in der Mitte liegen¬
den Literatur führen wir zwei Neiseschildenmgen a»: „südslavische Wanderungen"
von Siegfried Kapper, 2 Bde. (Leipzig, Hcrbig), und „Am Stein". El»
Skizzenbuch vom Trauusce. Vo» Alfred Meißner (Leipzig, Herbig). Das erste habe»
wir schon zur Zeit seines Erscheinens besprochen; der Verfasser hat jetzt eine neue wohl¬
feile Ausgabe vor. Die Bilder zeichnen sich durch Lebeiissrische und glä»ze»den Farben-
reichthum aus. Das Buch vo» Meißner ist i» einem schönen, blühenden und doch
natürlichen Stil geschrieben, aber es ist gar zu wenig Inhalt darin. Er erzählt von
seinen: Aufenthalte am Traunsce, wo er i» Gemeinschaft mit seinem Freunde Franz Hcdrich
lebte, sehr viel augenehme Dinge, und wenn man in dem Büchlein blos blättert, so
stößt man auf viele anmuthige Schilderungen, interessante Reflexionen u. tgi. Aber so
ein Buch will doch hintereinander gelesen sein, und dazu ist ein einheitliches Interesse
nöthig. Meißners Freunde werden dem Dichter wol mit Theilnahme folgen, aber das
größere Publicum verlangt mehr Gegenständliches, und mit Recht. Uebrigens möchten
wir aus den, Talent, namentlich in Beziehung auf die Form, die sich in diesem Buch
ausspricht, die besten Hoffnungen für etwaige novellistische Versuche herleiten.
Auf das im October beginnende IV. Quartal der „Grenz¬
boten" nehmen alle Buchhandlungen und Postämter Be¬
stellungen an, und erlaubt sich die unterzeichnete Verlagshandlung zum
geneigten Abonnement einzuladen.
Fr. Ludw. Herbig in Leipzig.
H. Berlioz hat wieder einmal eine musikalische Reise nach Deutschland an¬
getreten und fuhrt außer anderen Compositionen auch Bruchstücke seines Faust
dem deutschen Publicum vor. Er scheint für denselben besondere Theilnahme in
Deutschland zu erwarten, weil der Göthesche Faust die Grundlage bildet, und es
ist daher Pflicht der Kritik ein ernstes Urtheil über diese französische Transscrip-
tion des Faust abzugeben, um so mehr, als Berlioz gewohut ist, die Erfolge,
welche deutsche Gutmüthigkeit und Höflichkeit — wenn nicht schlimmere Einflüsse
wirksam sind — ihm zuzugestehen pflegt, in Paris als Folie zu benutzen, um
dort neue Erfolge zu erlangen.'
Der Titel „die Vcrdammmßdes Faust" weist freilich auf eine wenigstens
im Schluß von der Götheschen verschiedene Auffassung hin, allein was aus den
ersten Acten bekannt geworden ist, stimmt unangenehm mit Göthe überein. Ber¬
lioz nennt das Ganze eine Legende. Ob damit die geistige Auffassung oder die
musikalische Form bezeichnet sein soll, möchte schwer zu sagen sein. Die Form
entspricht — soweit man bei Berlioz von bestimmt ausgeprägter und durchge¬
führter Form reden kann — so ziemlich der des Oratoriums; es sind einzelne
breit ausgeführte Situationen aneinander gereiht, wobei der Schilderung durch
bloße Instrumentalmusik allerdings ein ausgedehnterer Raum, als früher üblich
war, eingeräumt worden ist. Das Recitativ, durch welches der Faden des sujets
fortgeführt wird, ist in der hauptsächlich durch Meyerbeer fixirten Weise des mo¬
dernen Opernrecitativs behandelt, stark nüancirt im Ausdruck, oft in die Cautilene
hineiuspielend, und stets vom vollen Orchester nicht so sehr unterstützt, als in den
Hintergrund gedrängt. Auf diesem Grunde heben sich dann einzelne Chöre,
Sologesänge und Ensembles vor, die in ihrer Anlage und Verbindung mit dem
Ganzen nichts Ungewöhnliches haben. Die ganze Auffassung und Behandlung
aber ist von dem, was wir unter legendenartig verstehen würden, so verschieden,
als schlichte Einfalt und frommer Glaube von bizarrer Grübelei und pretentiöser
Effecthascherei.
Berlioz hat den Götheschen Faust übersetzt oder sich übersetzen lassen; natür¬
lich paßt seine Composition nicht auf die ursprünglichen Worte, allein es ist nicht
geschickt, daß er für seine Aufführungen einen rückübersetzten deutschen Text hat
unterlegen lassen. Mau kaun ihm nicht zumuthen zu empfinden, wie einem Deutschen
zu Muthe ist bei dieser fortgesetzten Verballhornisirung, durch welche man immer
noch die 6isisLl.l msmdrir xoetao erkennt, und die selbst eine sehr vorzügliche
Musik nicht würde zur Geltung kommen lassen. Viel besser wäre der französische
Text; wer ihn nicht versteht, den stört er doch nicht wie der deutsche.
Doch dies ist el» äußerlicher Mißgriff, der leicht beseitigt werden kann, aber
wahrhaft entsetzlich ist die Weise, wie Berlioz sich aus den Elementen des Göthe¬
schen Gedichts seineu Text arrangirt hat. Er hat nicht etwa aus einzelnen Scenen
versetzt, sondern das Ganze ans seinen Fugen gelöst und jede einzelne Partikel
als gute Prise angebracht, wo er glaubte, daß sie Effect machen könnte, und mit
den heterogensten Dingen vermischt. Bei einem so totalen Mangel an Sinn und
Verständniß für ein Kunstwerk als Ganzes ist natürlich an eine künstlerische Auf¬
fassung und einheitliche Gestaltung bei der musikalischen Reproduction nicht zu
denken, und mau resignirt sich von vornherein auf Einzelnheiten, die etwa ge¬
lungen sein möchten.
Unter den „Bildern des ersten Acts" ist das erste folgendermaßen im Pro¬
gramm bezeichnet:
„Die Ebenen von Ungarn.. Faust beim Aufgang der Sonne. Zug der
Landleute. Chor. Recitativ und ungarischer Marsch."
Die Ebenen von Ungarn nebst dem Sonnenaufgang werden in einer Jn-
strnmental-Einleitung geschildert; die folgende Situation ist ungefähr die des Spa-
zierganges mit Wagner. „Befreit vom Eis sind Strom und Bäche" fängt Fausts
Recitativ an und der Chor der Landleute ist das Lied: „Der Schäfer putzte sich
zum Tanz" — Alles in Ungarn. Warum? — Warum nicht? Wozu hat Faust
seinen Zaubermantel, wenn ihn Berlioz nicht auch nach Ungarn versetzen sollte,
wenn es ihm grade paßt? Und es paßt ihm, weil der Ragoczimarsch ein unga¬
rischer Marsch ist, von großer Wirkung und durch Liszt populär gemacht. Aber
Liszt hat doch »ur zehn Geiger zu seiner Disposition und Berlioz das ganze Or¬
chester, also muß Faust deu Ragoczimarsch in Ungarn hören, um dann zu erklären,
daß auch diese kriegerischen Töne ihn seinem Trübsinn nicht entreißen können.
Allerdings bewährt sich das Talent Berlioz', zu fremden Gedanken wirksame Or-
chestereffecte zu finden, anch hier und der reich und originell instrumeutirte Marsch
klingt sehr gut, aber ist es eines Künstlers würdig um eines so äußerlichen Effets
willen ein Kunstwerk zu zerstöre»? Wozu habe» wir denn Wachparaden? Minde¬
stens sollte ma» erwarten, daß der nationale Ton auch in der ganzen Scene fest¬
gehalten werde, aber das kann man freilich nicht mit der Jnstrumentation allein.
Vielleicht gelingt es anderen, i» der Introduction die Chorographie der ungarischen
Ebenen nachzuweisen, die Landleute singen nicht wie Ungarn. Freilich ist i» dem
Liede gar nichts Magyarisches zu finden, es ist wie billig echt deutsch, aber das
ist die Composition trotz alles Juchhei! Juchhei! doch anch nicht, vielmehr erinnert
die Färbung derselben eher an italienische Volksweise, — man denke sich den
Mischmasch! Uebrigens macht sich schon hier fühlbar, was bei den späteren Lie¬
dern freilich noch viel ärger hervortritt, daß das Bestreben, etwas volksmäßig
Einfaches zu schaffen, zur baaren Trivialität geführt hat; um dieser etwas Cha¬
rakteristisches zu geben, sind dann die forcirtesten Effecte durch harmonische und
rhytmische Verrenkungen und frappante Jnstrumentation hinzugefügt; durch alles
das aber wird die ursprüngliche Trivialität nnr noch auffallender und fataler.
Unter den „Bildern des zweiten Acts" zeigt uns das erste „Faust in seinem
Studirzimmer. Recitativ zu einer Jnstrumeutalfuge." Man weiß, wie Berlioz
über die Fuge denkt, daß er ihrem Erfinder die ewige Verdammuiß gewünscht
hat; man weiß, daß er einst Cherubini offen erklärte: n'meno p-rs Ist tussue,
und dieser ihm ebenso offen erwiederte: «Zi, la tu^us no vous ains Ms, —
man fragt daher mit gerechter Verwunderung: wie kommt Saul nnter die Pro¬
pheten? Indessen überzeugt man sich bald, daß Berlioz kein Paulus der Fuge ge¬
worden ist. Die Einleitung zu dem ersten Monologe Fausts: „Habe nun ach!
Juristerei" beginnen die Bässe mit einem knurrenden, fortschleichendcn Thema,
das den unbehaglichen Zustand eines an Unbehaglichkeit Leidenden nicht übel aus¬
drückt, die Bratschen nehmen .es auf — es klingt wahrhaftig so nach einer Fuge;
aber uur eine Weile, dann tritt ein anderes, sehr abstechendes Thema hervor —
ein Cvntrasubject! Doch nein, es kommt ein anderes und wieder ein anderes
zum Vorschein — vor den Contrasubjecten ist das Subject und die Fuge ab¬
handen gekommen. Und nu» merkt man, daß dies lauter überwundene Stand¬
punkte Fausts aus allen Facultäten waren, die daher billig als unverdaute Brocken,
die er sich nicht asstmiliren konnte, ohne Zusammenhang nebeneinander stehen,
und daß die scheinbare Fuge gar nichts bedeutet, als die übelangewandten Studien
Fausts, die ihn in so schlechte Stimmung versetzen. Dieser musikalische Humor,
der die Langweiligkeit der vier Facultäten durch die Fuge und vive versa der
Fuge durch die Facultäten trifft, täuscht deu Zuhörer in der That, man hört voll
Neugierde auf die Berliozsche Fuge und wird darüber nicht in dem Grade ge¬
langweilt, als man sollte.
Das dritte Bild enthält „des Ostermorgens Hymne. Austritt des Mephi-
stopheles." Diese Scene ist die am wenigsten hervortretende. Der Gesang in der
Kirche ist an sich nicht bedentend und der Situation sowenig entsprechend als
die Radziwillschc Komposition desselben. Sie müßte der einfachste und innigste
Ausdruck frommen Glaubens sein, um die Gewalt, welche sie auf Faust ausübt,
auch über den Zuhörer zu gewinnen, aber sie läßt vollständig kalt. Unmittelbar
darauf tritt Mephistopheles ans, man weiß nicht woher und weshalb, allein Faust
erkennt ihn gleich und mit der Bekanntschaft ist auch ohne viel Umstände die
Freundschaft geschlossen. So nnmvtivirt und kahl die Behandlung der Situation,
so dürstig ist auch die musikalische Ausführung. Es ist merkwürdig, wie wenig
Begabung für die plastische Darstellung einer bestimmt ausgeprägten Individuali¬
tät Berlioz zeigt, weder Faust «och Mephistopheles bringen es zu einer solchen.
Beide treten auch musikalisch wenig hervor, sie singen mit Ausnahme des Floh¬
liedes nur Recitativ, es bleibt daher bei vereinzelten Zügen, und man kann hier
recht erkennen, wie aus Einzelnheiten, wenn sie anch noch so derb und deutlich
aufgetragen sind, doch kein Ganzes wird. Bei Faust ist Sentimentalität vorherr¬
schend, bei Mephistopheles soll es der Humor sein, allein grade diese Seite ist
vollständig vergriffen. Ziemlich alle musikalischen Teufel neuerer Zeit können ihren
Ursprung von Samiel nicht verleugnen, indeß hat der Berlivzsche Mephistopheles
noch mehr Aehnlichkeit mit Meyerbeers Bertram, und spricht wie jener fast nur
mit Posaunen in verminderten Accorden, außer daß ein wunderlich zerhackter
Rhythmus deu Humor dazu thun soll: im ganzen ist es ein trauriger Gesell, der
weder unterhält noch bange macht. Dieser erkünstelte Humor, der sich vor den
Spiegel stellt und Gesichter schneidet, erreicht seine Höhe im dritten Bilde „Auer¬
bachs Keller." Nach einem wüsten Chor von berauschten Zechern singt Brandes
das Lied von der Ratte. Die Komposition derselben ist nicht die Darstellung
der plattesten Gemeinheit, sie ist es selbst. Es gibt gewiß wenig Musikstücke,
die den Anspruch auf Melodie, Wohlklang, ich möchte sagen auch musikalischen
Anstand, so rücksichtslos aufgeben wie dieses Lied, das die absolute Unschönheit
und nicht einmal die Charakteristik der Caricatur zeigt. Aber was folgt aus
dieses Lied? Die berauschten Zecher, denen es kannibalisch wohl wird, begehen
einen mustcalischen Exceß, der den höchsten Grad trunkenen Humors charakterisiren
soll — sie singen eine Vocalfuge auf das Wort Amen! Wir wissen freilich schon,
daß nach Berliozs Meinung das absurdeste, was ein Mensch thun kann, das
Fngenmachen ist, aber eine curiose Vorstellung vom Leipziger Publicum — und
in dieser Beziehung ist es sich gewiß immer gleich geblieben — ist es doch, daß
sich die Wirkung des Weins bei ihm in improvisirten Fugen äußert. Daß diese
Fuge sich uur in den allertrivialsten Nothbehelfen eines angehenden Contrapunk-
tisten herumtreibt, ist natürlich mit Absicht so eingerichtet, aber diese Absicht kann
natürlich nicht verhüten, daß sie miserabel und langweilig klingt. Und welche
Dürftigkeit ist es, und zugleich welche Unklugheit, zum zweiten Mal die Fuge als
grobes Geschütz des Humors zu verbrauchen; denn zum zweiten Male gelingt es
ihm nicht, uns wieder zu täuschen, und da man nun schon weiß, was er mit sei¬
neu Fugen sagen will, so war es ganz überflüssig, noch "einmal zu beweisen, daß
seine Fugen nichts taugen. Ich bin weit entfernt über den Spott, welchen Me¬
phistopheles über die heiligende Kraft eines sugirten Amen ausspricht, mich pie¬
tistisch zu ereifern, aber verletzend wirkt er, und künstlerisch ist die ganze Episode
nur zu mißbilligen, weil sie mit dem Hauptgegenstand in keiner Verbindung steht,
und absichtlich herbeigezogen ist, weil das Gemeine und Ungeschickte musikalisch
nicht komisch, sondern häßlich wirkt, und weil der Spott über ein Allgemeines da,
wo der Componist aus eigener Willkür ein miserables Beispiel geliefert hat,
uicht gerechtfertigt erscheint. Auf diese Fuge fingt dann Mephistopheles sein Lied
vom Floh. Es ist wahr, man Hort die Flohe im Orchester recht artig herum-
springen, übrigens aber ist weder voll'smäßige Derbheit, noch geistreiche Feinheit
in dem Liede zu finden, am wenigsten Wohllaut und Grazie, und man empfindet
nur von neuem mit Mißbehagen, daß Berlivzs Humor uur wie ein Hanswurst
Sprünge macht und Fratzen schneidet.
Das letzte Bild versetzt uns in eine „romantische Gegend an den Ufern der
Elbe." Hoffentlich haben wir nus dieselbe nicht bei Wittenberg zu denken, son-
dern da Faust einmal in Leipzig war, wird er wol weiter gereist^ sein und sich
in Böhmen ein hübsches Plätzchen zum Schlummern ausgesucht haben. Sylphen
und Gnomen singen einen Chor, dem das „Schwindet ihr dunkeln Wölbungen"
zu Grunde liegt, sie bewegen sich im wesentlichen in der durch Mendelsohn typisch
gewordenen Weise; daß die Justrumeutaleffecte gesteigert sind, versteht sich, uicht
so auch die Anmuth und Frische der Erfindung. Der Tanz der Sylphiden hat,
weil es doch deutsche Sylphiden sind, einen walzerartigcn Charakter, und ist, ohne
eigentlich originelle und tiefe Erfindung doch ein recht wohlklingendes Musikstück,
das neben so vielem Unerfreulichen und Verletzenden um so angenehmer ins Ohr
fällt. Den Schluß dieser Scene macht ein Soldatenchor „Burgen mit hohen
Mauern", dem Studenten mit einem Kauäs^mus — nicht mit der bei uns üb¬
lichen Melodie — entgegenkommen, worauf beide sich zu einem Ensemble vereini¬
gen, das mehr Lärm als Musik macht.
Der Gesammteindruck kann nicht anders als niederdrückend sein. Man
empfindet fortwährend die Anstrengung, mit welcher der Componist danach
ringt, das Ungewöhnliche und Außerordentliche zu leisten, und daß es ihm an
der unmittelbare» frischen Productionskraft gebricht, die allein dieses Ziel zur
inneren Befriedigung des Hörers wie des Komponisten erreichen kann. Man
steht, wie er sich anspannt, wie er sich aufregt bis zum Krampf im Weinen und
Lachen, wie er grübelt, tastet und sucht, alle äußeren Mittel steigert um noch etwas
mehr auszudrücken, als sich künstlerisch ausdrücken läßt, und wenigstens durch
Charakteristik zu wirken, denn die Schönheit läßt sich nicht erzwingen, und es ist
bedeutsam, daß Berlioz bei aller seiner einseitigen Vorliebe für instrumentale Ef¬
fecte selbst den materiellen Wohlklang nur selten und vorübergehend erreicht.
Unverkennbar ist sein Bestreben im Gegensatz gegen frühere Compositionen Klares
und Faßliches zu schreiben. Zum Theil bedingt dies schon das Wort des Textes,
welches mehr Präciston und schärfere Begrenzung verlangt, als die reine Instru-
mentalmusik; davon abgesehen hat jenes Bestreben aber nur dahin geführt, daß
dem Absurde», Verworrenen, Ungenießbaren jetzt das Gewöhnliche und Triviale
unmittelbar beigemischt ist, welches gar in eine so banale Phrasenmacherei aus¬
artet, daß mau sich darüber bei Berlioz wundern muß. Ein so gänzliches Fehl¬
schlagen bei großen Anstrengungen und Ansprüchen ist stets niederschlagend; wir
Deutsche aber haben diesem Werke gegenüber eine eigenthümliche Stellung. Mau
hat gesehen, wie der tief empfundene Organismus des Götheschen Gedichts mit
gleichartigen Händen zerrissen und die zerpflückten Glieder zu den alleränßerlich-
sten Effecten Sinn- und bedeutungslos verbraucht wordeu sind. Bei einem
solchen Mangel an Verständniß kann natürlich von künstlerischer Auffassung und
Darstellung der Situationen und Charaktere sowenig, als der einzelnen Momente
die Rede sein. Wir Deutsche habe» nicht uur das Recht, sondern die Pflicht,
gegen eine solche schmachvolle Verstümmelung und fratzenhafte Entstellung eines
Werkes, das der Nation theuer und werth ist, zu protestiren. Ist ein solches
Appretireu desselben deu Franzosen gemäß, können sie es in dieser Gestalt ge¬
nieße», so mißgömieu wir es ihnen nicht: für uns Deutsche ist und bleibt es ein
Wechselbalg, den uns keine Wichtelmäimchc» ins Haus tragen sollen.
Der Socialismus hat auch in Südamerika reißende Fortschritte gemacht,
Chili und Neugranada sind die Hauptschanplätze desselben. In Chili ist freilich
der Socialismus nur eine Opposition, eine Faction geblieben, der es zwar gelungen
ist, die Negierung in einen Bürgerkrieg zu verwickeln, nicht aber sie zu besiegen.
In Neugranada dagegen ist er gegenwärtig eine Herrschaft, eine Regierung,
die ans der Höhe desselben steht. Gleichwol schien Chili einer der glücklichsten
Staaten zu sein. Zwanzig Jahre des Friedens und Wohlstandes hatten zwanzig
Jahre der Weisheit und gute» Regierung gekrönt und diesem Lande den Ruf
der besten südafrikanischen Republik erworben. Seit 1830 hat Chili nur zwei
Präsidenten gehabt, den General Prieto und den General Balnes, ein Resultat
der Möglichkeit der Wiedererwählung. Der kürzlich erwählte Manuel Monte ist
gegenwärtig der dritte Präsident. Diese zwa»zigjährige Periode bildet das Reich
der co»servative» Politik i» Chili, einer Politik, welche die hervorragendsten
Männer begründet und befolgt haben, die Prieto, Balnes, Portales, letzerer
vielleicht der bedeutendste Politiker der neuen Welt seit der Unabhängigkeit, welcher,
bevor er im Jahre 1837 durch Mörderhaud starb, der eigentliche Gründer der
innern Stabilität gewesen ist; Manuel Monte, der gegenwärtige Chef der Ne¬
gierung, Vavers und Urmeneta, die noch heute Minister sind. Die jungen
chilenischen Demokraten nennen diese Politik den Pelnconismus und in der
ofstciellen Sprache der neugranadischen Demagogie heißen dieselben Meinungen
der Gothismns — ol Kociismo. Jedenfalls hat sich unter der Herrschaft des
Peluconismuö die Lage Chilis fortwährend befestigt, sein Credit wurde gegründet
und cousolidirt. Der Handel blühte und erreichte eine Summe von 23 Millionen
Piaster. Die Bergwerksindustrie hat die Provinzen des Nordens belebt und in
den letzten Jahre» eine Ausfuhr von 200,000 Centner Kupfer und von
400,000 Mark Silber erzeugt. Einige Städte, wie Copiapo und Serena sind
rasch aufgeblüht. Andererseits haben im Süden, in der Provinz Valdivia, deutsche,
von der Negierung gewonnene Familien, Ackerbancvlvnieu gegründet. Die
politischen Parteien selbst empfanden den beruhigenden Einfluß des Friedens, die
revolutionären Elemente verloren ihre Stärke und Lebhaftigkeit. Diese besänftig¬
ten, wenn nicht aufgelösten Elemente fachte sogleich die Februarrevolutiou wieder
an nud flößte ihnen eine neue und furchtbare Gewalt ein; alles beweist den
gewaltigen Wiederhall, welchen die europäische Explosion von 1848 jenseits des
Oceans gefunden hat. Tief war der Eindruck derselbe» besonders bei der
amerikanischen Jugend, welche der Bewegung folgen und eilfertig die Wege der
Demokratie wandeln zu müssen glaubte. Diese leichtsinnigen und glühenden
Nationen erkannten in der Bewegung sofort die socialistische Revolution, und
diese, oder vielmehr die Parodie derselben wollten sie auch jenseits der Andern zu
Staude bringen. Freilich zeigt sich auch in Chili das Elend in seiner ganzen
Nacktheit neben dem Wohlstand; auch ist der Arbeitslohn gering, das Eigenthum
beschränkt und mehr ans die modernen Volksclassen ausgedehnt; selbst die Majorate
bestehen noch, obgleich nur in kleiner Zahl. ANein wie soll die willkürliche Er¬
höhung des Arbeitslohnes die Neigung zur Arbeit und zum Eigenthum bei dem
sogenannten chilenischen Proletarier, dem leichtsinnigen nud trügen Guasso
erzeugen, dessen einzige Sorge die tägliche Kleidung und Nahrung ist, der, wenn
er zufällig in einem Winkel der Anden ein Stück Metall, Erz siudet, es eiligst
für einige Piaster verkauft? Wie soll die gesetzliche Theilung des Eigenthums
daS Problem lösen, unzählige herrenlose Landgebiete zu bevölkern, auf denen
man Pferde und Vieh nährt, weil es an Menschen fehlt, die das Land
anbaue» ?
Unter solchen Verhältnisse» begann, zumal seit 1830, eine Reihe vou Be¬
wegungen, die gewissermaßen einen entfernten Anhang zu den französischen
Revolutionen bilden. Im Schoße des Kongresses selbst entstand ein Verfassnngs-
project, welches bis zu den äußerste» Grenzen der Demokratie geht und zwischen
dem Communismus Louis Blancs und der Anarchie Proudhons schwankt. Nach
dem Vorbild der Volksvereine Frankreichs bildet sich zu Santiago eine Verbindung
unter dem Namen der Gleichheitsgesellschast. Dort hält der Socialismus seine
Sitzungen, ruft die Heiligkeit des Rechts der Revolution an, feiert die Gleichheit
und Brüderlichkeit und das'Recht zur Arbeit. Dort bricht auch der Theaterstreich
des Arbeiterredncrs aus, der die Kunst versteht, gegen das Capital und die alte
Gesellschaft zu donnern. Der Gleichheitsclnb vergißt ebensowenig einen wesent¬
lichen Artikel des Programms, die „friedlichen" Aufzüge, die flatternden Banner,
verziert mit handschriftlichen Emblemen und Gleichhcitstriangeln, während einige
Journale, wie der Prögresso, die Barra, die demokratische Begeisterung nähren
und verbreiten. Es gibt in Chili, wie überall, geschickte Politiker, welche, ohne
ebensoweit zu gehen, den Beistand der Landschaften, die ihnen dienen, und die
ste zu beherrschen hoffen, nicht verschmähen. Das etwa ist die Rolle politischer
Persönlichkeiten, wie Camillo Mal, Errazuris, Lastarria, welche eine Art Pro-
gressistenpartei vertreten. Die Strafe dieser Männer, von denen einige Minister
gewesen sind, war, daß sie in dieser Bewegung von Fraucisco Bilbao, dem jungen
socialistischen Hercules Chilis verdrängt wurden.
Bilbao ist eine der merkwürdigsten Figuren des heutigen Amerikas, nicht so
neu allerdings als andere Charaktere, die mehr Localoriginalität an sich tragen,
aber wenigstens ebenso belehrend; er ist der jugendliche und leidenschaftliche Typus
dieser fast unsinnigen Imaginationen, welche wie besessen die ausschweifendsten
Launen und Träume unserer Civilisation erfassen und mit scheinbar kältesten Blute
sich anschicken, sie zu verwirklichen. In Europa erzogen, hat er die Meister der
Gattung gelesen, an ihren Gedanken und ihrem Stile sich gebildet; vortrefflich
versteht er die gewöhnlichen Variationen über die „heilige" Republik, über die
„Brüder und Freunde", über „Christus, den Sohn des Zimmermanns und den
Erlöser" vorzutragen. Seine fixe Idee ist der Aristokrat und der Proletarier.
Freilich ist er von der Justiz des Landes mehre Male verurtheilt worden, aber nur
um desto besser die Aufgabe des Apostolats erfüllen zu können. Bilbao hat ein
Buch geschrieben, die „Soeiabilläacl ekliena", das Resultat seiner Doctrinen
oder vielmehr die höchste Quintessenz der revolutionären Lehren Frankreichs.
18ö0 schrieb er die Bulletins des Geistes, Loletinss «Zei Nspirttu, in der lyrischen
Weise der „Worte eines Gläubigen" und der „Bulletins der Republik". Seine
Landsleute nennen ihn den amerikanischen Lamennais, er könnte ebenso gut den
Louis Blanc, deu Pierre Lerone, den Mazzini und Struve in einer Person vor¬
stellen. Bilbao war die Seele, der Heros der Gleichheitsgesellschaft. Es gelang
ihm eine Zeitlang, den Socialismus zum Gegenstand der öffentlichen Neugier,
etwa wie eiuen Hahnenkamps oder ein Stiergefecht zu machen, in einer Stadt,
wie Santiago, wo es weder Handel und Industrie, noch ein- und auslaufende
Schiffe, noch selbst ein Theater gibt, welches die Leute überhebt, das Vergnügen
anderswo, als auf der Straße zu suchen. Unglücklicherweise begnügte sich der
chilenische Socialismus nicht mit seinen Predigten und Schaustellungen; er wollte
eine handgreiflichere und reellere Sache werden. Er verfertigte Kugeln und
Patronen und spie eines Tages brüderlich dem Gouverneur von Santiago ins
Gesicht. Ju der benachbarten Provinz Aconcagnn zik Sau Felipe gebrauchte er
den Dolch gegen den Jntendcmtrn; kurz, er stieß sich gegen die Wirklichkeit.
Er verschied, als die Regierung gegen ihn auftrat, die Gleichheitsgesellschaft ver¬
schwand, die Helden der chilenischen Demokratie wurden zerstreut und Francisco
Bilbao selbst hat seine Propaganda nach Pern verlege» müssen.
Das war die erste Niederlage, folgendes war die zweite. Der chilenische
Socialismus ist nach den wahren Traditionen göttlichen Rechtes, er steht über
der nationalen Abstimmung, über dem öffentlichen Willen. Vor einem Jahre,
1851, hatte der öffentliche Wille sich kund zu geben, einen Präsidenten zu wählen.
Und wen grade erhob er zur Gewalt? Manuel Monte, den Manu, der dieser
stürmischen Demagogie am feindlichsten war, einen praktischen und festen Charakter,
sehr gleichgiltig gegen die gewöhnliche Popularität, dessen Politik weit weniger
mit Theorien und Systeme», als mit der Entwickelung der reellen Interessen sich
beschäftigt, aller denen er die sittliche Kraft der Erziehung obenan stellt. Die
Weisheit dieser Wahl lag darin, daß sie eine Person aus dem bürgerlichen Leben
traf. Diesen Moment wählte der Socialismus, um die Waffen zu ergreifen.
Ein Militärches, der Geueral Cruz, ging mit einigen Soldaten nach den: Süden,
um die stolzen Indianer des Arauco zu bewaffne», welche Ercilla i» der ,,Avan-
cana" besungen hat, die allmälig in die Einöde» zurückgedrängt, aber noch nicht
nnterworfe» sind; eine furchtbare Macht gegen die organisirte Gesellschaft, die der
Wuth dieser Wilden preisgegeben werden sollen. Im Norden plünderten und
verwüsteten die entfesselten Pcones die Bergwerke von Chaüarcillo. Die Jn-
surrection schlug ihren Sitz in Sere»a auf. Es liegen uns die Bulletins dieser
Revolte vor. Sie sind sehr merkwürdig »ud lassen ein in Südamerika allgemeines
Phänomen erkenne». Es bestehen nämlich daselbst zwei Strömungen, die nicht stets
sich entgegenarbeite», die rein revolutionäre Tendenz in europäischer Weise und
die fortwährenden Umtriebe des militärische» Ehrgeizes; der NongismnS und der
Militarismus, wie die Konservative» von Nengraiiada i» ihrer Sprache diese
beiden Richtungen bezeichnen. Jedes dieser Elemente würde für sich allein hin¬
reichen, diese Republiken völlig einzustürzen. Sie vereinige» sich und reichen sich
die Hand i» der neuesten Bewegung in Chili. Hätte der General Cruz gesiegt,
so wäre seiue Gewalt nothwendig eine Mischung von militärischem Despotismus
und demagogischen Radikalismus geworden, — das Ideal einer Regierung, wie
man sieht! So fand sich der keimende Wohlstand Chilis für eine» Augenblick
paralysirt. Der treue Degen des General Bulnes hat indessen die Vulkane des
Arauco zum Schweige» gebracht und die Männer des Pelnconismus stehen
aufrecht. Was der Sturm von Plata in seinem Innern bürgt, kann allein die
Zukunft lehren.
In Neugranada dagegen herrscht und regiert der Socialismus; er
macht Gesetze und Decrete und hat seine Personification und seine Oberpriester
in dem Chef der Regierung selbst, dem General Hilario Lopez. Nicht als ob
Lopez in dem socialistischen Dogma sehr fest wäre, er ist Socialist, ohne es
eigentlich zu wissen. Soldat im Abhängigkeitskricge, zu verschiedenen auswärtigen
und innern Misstonen verwendet, wo er wenig Beweise von Fähigkeit gegeben,
ist er einer der Typen des hohlen Liberalismus, der den revolutionären Parteien
als Decoration dient. Der General Lopez ist das Werkzeug des Clubs von
Bogota und einiger Freunde, von denen der Finanzminister Manuel Murillo der
geschickteste zu sein scheint. Der Ursprung dieser eigenthümlichen Gewalt ist höchst
charakteristisch. Neugranada ist eine der drei Republiken, die aus dem alten
Columbia hervorgegangen find, welches gleichzeitig Venezuela und Aequator um¬
faßte. Nach der Trennung war der Bürgerkrieg häufig sein normaler Zustand;
namentlich 1839, 1840 und 1841 erfüllte er das Land mit Verwüstung und
Blutvergießen. Der Urheber und der Chef dieses Krieges war der General
Abando, gegenwärtig eine der angesehensten Personen und einer der Candidaten
für die nächste Präsidentenwahl. Nachdem dieser Aufstand besiegt war, folgten
drei conservative Verwickelungen, des or, Marqnez, des Generals Pedro Alcan-
tana Herran und die Präsidentschaft des Generals Mosgnera, die 1849 endete;
durch Nachricht vou der französischen Revolution wurden die Gemüther immer
erhitzter; die Jnsurgentenpartei von 1840, allmälig in .ihren Chefs und ihren
Soldaten amnestirt, erholte sich von ihrer Niederlage, gefordert durch den un¬
sichtbaren Strom der europäischen Einflüsse, geschickt wählte sie zu ihrem Kandidaten
einen Mann, der an dem Bürgerkriege keinen Antheil genommen, den General
Lopez. An dem Tage, wo der Kongreß, Deputirtenkammer und Senat vereinigt,
zur Abstimmung schreiten und den Erwählten proclamiren sollte, drangen bewaff¬
nete Banden in den Saal, die revolutionären Seiden zuckten den Dolch gegen
die conservativen Senatoren und Deputaten, eine Mordscene stand bevor, so
ward der General Hilario Lopez am 7. März 1849 zum Präsidenten von Neu-
granada ernannt. Die officielle Zeitung von Neugranada, der Moniteur von
Bogota meldete damals: „Neugranada hat den politischen und socialen Galva-
nismus des Zeitalters empfunden — die Freiheit schreitet vorwärts, die alte
Citadelle der Beschränkungen liegt in Trümmern. Die vernichteten Scharen,
welche die ultramontane Sache vertheidigten, begreifen ihre Niederlage und ver¬
lassen das Schlachtfeld. Unmöglich kann man die friedlich revolutionäre Bewegung
aufhalten, die aus den tiefen Gefühlen des menschlichen Geistes im 19. Jahrhundert
hervorgegangen ist... Der 7. März 1849 war das Tedeum, welches die Demokratie
vor dem Gotte der Civilisation anstimmte.
Die Souveränetät der Kopfzahl, die Herrschaft der Massen, das ist das erklärte
Princip der gegenwärtigen neugranadischen Politik, das ist das Thema der Botschaften
und Manifeste des General Lopez und das Losungswort seiner Anhänger. Nun
aber ist die Kopfzahl in den spanisch amerikanischen Republiken das ungebildete
und rohe Element der Garcko, der Guasso, der Uanero, der Rvto, der Indianer.
Seht man dieses Element in Bewegung, so ist dies nichts Anderes, als die mehr
nationale als demokratische Bewegung, die wir als Amerikanismus bezeichnen; es
ist ein unablässiger und lebhafter Kampf der Sitten und Leidenschaften des Landes
gegen die Civilisation. Der Socialismus macht sich zum Bundesgenossen dieses
Amerikanismus und dient ihm als Maske.
Nichts ist merkwürdiger als das legislative Werk Neugranadas seit dem
„ruhmvollen" 7. März 18i9. Die allgemeine, directe und souveräne Wahl ist
die Quelle aller Gewalten, von der des Präsidenten an bis zu der des Richters.
In Chili muß man, um Wähler zu sei», lesen und schreiben können und etwas
Eigenthum besitzen; in andern südamerikanischen Republiken muß man Familien-
haupt sein, ein Punkt, der in Europa bei der periodischen Fabrication von Wahl¬
gesetzen viel zu wenig berücksichtigt wird. In Neugranada ist gegenwärtig keine
andere Bedingung erforderlich, als daß man Bürger ist, und man ist granadischer
Bürger mit wenig Kosten. Das absolute Vereins- und Associationsrecht, die
unbeschränkte Freiheit des Gedankens gehören anch zu den Wohlthaten der Kon¬
stitution. Eine andere Errungenschaft ist das Recht auf Beistand, das amerika-
nisirte Recht auf Arbeit, das heißt das Recht auf Müßiggang und Landstreicherei,
das gleichzeitig mit der sofortigen Freilassung der Schwarzen prvclanürt wurde.
Neugranada zählte kaum 10,000 Sklaven, und diese Zahl verminderte sich noch
täglich durch die langsame und wohlthätige Wirkung eines Gesetzes von 1821,
Manumission genannt, welches alle Kinder, die fortan geboren werden, mit dem
Vorbehalte für frei erklärte, daß sie erst nach dem 18. Jahre von ihrer Freiheit
Gebrauch machten, und überdies einen besonderen Fonds für die allmälige Frei¬
lassung der übrigen Sklaven anwies. Statt dieser weisen und maßvollen Eman¬
cipation wurde» auf einmal 10,000 Bürger frei, welche vom 1. Januar 18S2
ab an dem Triumph der wahren Demokratie durch Marvdirc» und Ausübung des
Rechtes auf Beistand arbeiten! Ein anderes Zeiche», durch das der Socialismus
sich kund gibt, ist die Ermäßigung der Strafen, wenn sie die Freiheit allzusehr
beschränken. Die Todesstrafe ist in Neugranada feierlich abgeschafft worden,
und ein anderes Gesetz, das promulgirt worden ist, bringt in Verbindung mit
der Abschaffung jeder Präventivhaft merkwürdige Wirkungen hervor. Nach
diesem Gesetze muß jede Untersuchung eines Verbrechens oder Vergehens in dem
Falle, wo der Angeklagte eine neue Missethat begeht, bis zur vollendeten Unter¬
suchung der letzten Sache vertagt werden, woraus folgt, daß derjenige, der eines
ersten Verbrechens sich schuldig gemacht, um eine Verurtheilung zu vermeiden,
nur ein zweites, dann ein drittes und so immermehr Verbrechen zu begehen braucht.
Auch auf dem religiösen Gebiete hat der nengranadische Socialismus gearbeitet.
Er hat behauptet, daß jeder Jesuit im geheimen den Absolutismus »ut Gothis-
mus betreibe, indem er den andern, die uicht immer weltliche Lehrer haben können,
lesen und schreiben lehre. Die Jesuiten sind daher aus Neugranada vertrieben
worden, und die Pfarrgeistlichkeit geht jaus Wahlen hervor. Die Priester sind
selbst für ihre geistlichen Amtshandlungen der weltlichen Gerichtsbarkeit unter¬
worfen, unter dem Vorwande, daß der Vuero eeelesiastiec» abgeschafft sei. Das
heißt die Kirche demoralisiren, sie mit dem menschlichen Fortschritt in Harmonie
setzen und den „Klerus zum Bürger machen".
Einer der neuesten Reisenden in Südamerika, Hr. von Castelnau, erzählt,
daß er, von Pocantin herkommend, in ein Dorf Boavista gelangt sei, das unlängst
in eiuer Einöde sich erhoben hatte. Es bestand erst seit einigen Jahren und hatte
bereits 2 bis 300 Häuser und 1S00 Seelen. Die Kirche war wie die Häuser
mit Stroh gedeckt; man machte jedoch bereits Anstalten, sie ans Stein zu erbauen.
Eine große Regelmäßigkeit der Sitten herrschte in Boavista. Wer war der
Schöpfer dieses Dorfes? Ein armer Mönch des Namens Fray Francisco. Ab¬
soluter Chef dieser kleinen Colonie, besaß er für sich nichts; er lebte von Almosen,
bewahrte die Einfachheit eines Kindes und genoß die allgemeine Verehrung dieser
armen Leute, welche die Einöde verließen, um sich ihm anzuschließen und der
Regel des Gebetes und der Arbeit sich zu unterwerfen. Man folge dagen Hrn.
von Castelnau in ein anderes Dorf, Carolina, nicht fern von Boavista. Hier ist
die Verwaltung in den Händen eines jungen Offiziers, der sich langweilt und
Zeitvertreib sucht. Die Reisenden kommen am Mittag an und alles liegt noch
in tiefem Schlaf, wie gewöhnlich, weil die Nacht unter den ausschweifendsten Or¬
gien zugebracht ist, welche der junge Commandant selbst leitet, den Säbel in der
Hand, üppige Tänze anregend, die brünetten Mädchen der Tropen zum Vergnü¬
gen auffordernd und eine ganze Bevölkerung durch die Trunkenheit seiner groben
Lüste verderbend. Der Grad von Moralität in diesem Orte wird durch eine
einzige Ziffer bezeichnet: auf etwa 800 Einwohner kommen nur 2 verheirathete
Frauen. Carolina tanzt und schläft, während die unbesiegten Wilden es von allen
Seiten bedrängen und die Frauen ohne militärische Escorte nicht einmal zur
nächsten Quelle gehen können. Das sind die practischen Folgen der demokratischen
Religion und des Socialismus.
Eine große Rolle spielen in dem socialistischen Neugraiiada die Clubs.
Jeden Tag meldet die offizielle Zeitung die Gründung neuer demokratischer Ge¬
sellschaften, welche das Land mit einem furchtbaren Netze umspannen. Außer der
demokratischen Gesellschaft besteht in Bogota noch ein anderer Verein, die „repub¬
likanische Schule", ein Muster-Club und die oberste Leitung der demagogischen
Propaganda. Lehrer des revolutionären Rechts, „emancipirte" Priester, Hand¬
werker, die ihre Arbeit verlassen haben, vagabnndirende Redner sind die Helden
dieses Vereins. Die Regierung selbst sanctionirt die Autorität dieser Gesellschaft
durch ihre Anwesenheit: sie spricht hier ihre socialistischen Grundsätze ans. Der
Präsident Lopez empfängt Kränze, während die Büste Pius VIl, in Stücke ge¬
schlagen wird. Die Regierung benutzt diese Macht, durch welche sie selbst beherrscht
wird, und der General Lopez weiß recht gut, daß, wenn er abfällt, der Dolch der
Clubs auf seine Brust gezückt ist. Die „rothe" Beredsamkeit dieser Clubs ver¬
breitet sich fortwährend über das Proletariat, über die Unsittlichkeit der stehenden
Heere, über die Ehelosigkeit der Geistlichkeit und die Emancipation der Frauen.
Die bürgerliche Ehe ist ihnen die freie Ehe ans dem Altar der Natur. „Die
Preßfreiheit hat den Gedanken entfesselt, sagt einer ihrer Redner, die Gewerbe-
freiheit vermehrt den Reichthum: warum gründet Ihr nicht die eheliche Freiheit,
die Freiheit der edlen und hochherzigen Liebe?" er verlangt, daß die Ehegatten,
wenn es ihnen beliebt ihre Ehe auflösen könne». „Der Socialismus ist das
Wort, das Jesus Christus auf dem Golgatha ausgesprochen hat", ruft el» an¬
derer Redner, u»d ein dritter erbietet sich, den Erzbischof vou Bogota zu ermor¬
de», „wen» der Tod desselben zum Triumph der socialen Sache nothwendig sei."
Mit den Clubs halten die Journale gleichen Schritt. Neugranada ge¬
nießt alle Wohlthaten des demokratischen und socialen Staates. Die Freiheit der
Presse ist ebenso unbeschränkt, als die Freiheit der Rede: Preßvergehen gibt es
nicht mehr. Es haben in Neugranada Journale bestanden, welche sich der
„sociale Communisimis" nannten. Selbst die officielle Zeitung dri»ge Artikel
„über die republikanische Idee, über die Demokratie und die Theokratie, über
die natürliche Attractio» und die menschenfreundliche Association." Dazu kommen
eine Menge Blätter, in denen die reinste Demagogie weht. Der Alacran, der
Rep-Granadino, der Avisos de Mvnserrate, der Balle, der Canon ?c.
Während in andern Ländern Südamerikas, zumal in Chili und Valparaiso, jetzt
auch i» Peru, die Journale belehrende Artikel über Gewerbe, Handel, maritime
Unternehmungen gebe» und nach ven englische» Blätter» sich bilde», herrscht i»
der Presse von Neugranada entflammte Discnssiv», wüthende Polemik, schmä¬
hende und cynische Personalität; es mischen sich die locale» Leidenschaften mit de»
revolutionäre» Pnncipie».
Solches Treiben hat den» anch in dem practischen Leben seine Früchte ge¬
tragen. Neugranada war in den letzten Jahre» el»er Art von. chronischer Anarchie
preisgegeben: die Unordnung war Normalzustand. Der Socialismus hat die
Provinzen in der wenig metaphysischen Form materieller Plünderung und Ver¬
heerung durchzogen. Namentlich im Süden, in der Provinz Call, wurden die
Schranken des Eigenthums niedergerissen: Emissäre ginge» in die Haciendaö und
reizten die Sklaven zum Aufstande und zur Ermordung ihrer Herren; die Frauen
waren auf der Straße Beleidigungen und in ihren Häusern der Gewalt preis¬
gegeben. Die öffentlichen Behörden schliefen oder bliebe» Zuschauer dieser Ver¬
brechen, deren Urheber ihre Clienten, die Sünden der demokratischen Gesellschaf¬
ten »»d zur Vertheidigmig der Regienmg bewaffnet waren. Zu Bogota selbst,
unter den Augen der Regierung, entwickelten sich bald alle Laster, Zügellostgkeit
der Sitten, Spiel und Faulheit; Diebstähle und Nanbaufälle vermehrten sich der
Art, daß eine allgemeine Unsicherheit eintrat. Eine Menge von Thatsachen dieser
Art werden im Lande mit dem charakteristischen Namen „Scenen der Epoche"
bezeichnet. Die Rothen behaupten, daß die Diebe Gothisten; die Conservativen
sagen, daß sie derbe Socialisten seien; in der That sind die Diebe weder das
eine noch das andere; sie treiben ihr Handwerk, benutzen die freiwillige Entwaff¬
nung der öffentlichen Gewalt und die officielle Ohnmacht der Gesetze. Sie bilden
Assecuranzgescllschastcn, um die gesetzlichen Cautionen zu stellen, welche ihnen ihre
Freiheit sichern, und begehen, um ihre Verurtheilung aufzuschieben, irgend ein
neues Verbrechen.
Uebrigens ist der Socialismus nicht ohne Widerstand in Neugranada ein¬
gedrungen. Es hatte eine kraftvolle Opposition sich erhoben und aus den Kam¬
mern verbannt, hat sie in die Presse sich geflüchtet und Associationen organisirt.
Neben der republikanischen Schule in Bogota bildete sich die „Societät filotemica",
der Versammlungsort der conservativen Jugend. Sehr muthige und geschickte
Journale, der Dia, die Civilizacivn, der Porvenir, die Republica, pvlemisirten
täglich gegen die neuen Regenten. Einer der ausgezeichnetsten Männer Neu-
granadas, der Doctor Julio Arbolcda, ließ in dem Misoferv die schärfste Anklage
gegen den General Lopez drucken. Nicht das Talent fehlt dieser Opposition und
diesen Journalen, sondern der Anhalt und die Stütze in einem Lande, wo die
Meinungen und Interessen zu wenig ausgeprägt sind, um eine disciplinirte und
compacte Macht zu werden. Dazu kommt der Mangel an Zusammenhang in der
conservativen Partei, ihre Theilung, welche bereits 1849 die Erhebung des Ge¬
neral Lopez gefordert hat. Gegenwärtig ist die politische Lage Neugranadas
folgende: Ein Aufstand ist im Jahre 18ki1 ausgebrochen. Die Bewegung ent¬
stand in Antiognia und verbreitete sich von dort über die »inliegenden Provinzen
Cauca, Bnouaventura, Popayan, welche den südliche» Theil der Republik bilde»;
an ihrer Spitze stand der General Ensebio Bvrrerv mit einigen Obersten der
granadischen Armee. Diese Erhebung bezweckte, den „rothen" Despotismus ab¬
zuschütteln und zu dem Ende hatte Bvrrero zuvörderst die Unabhängigkeit der
südlichen Provinzen proclamirt. Zahlreiche Guerillas unterhielten einige Monate
lang den Krieg, aber diese Jnsurrection wurde im Monat August entscheidend
besiegt. Die Hauptchefs der conservativen Partei sind gegenwärtig anßer Lan¬
des, einige hatten es schon längst verlassen. Der General Mosqncsa, Präsident
vor 1848, ist in den Vereinigten Staaten. Zwei der ausgezeichnetsten Diploma¬
ten Neugranadas, Francisco Martin und Mosqncsa, Bruder des Präsidenten,
befinden sich schon seit 1849 in Europa. Julio Arbvleda ist infolge der letzten
Erhebung verbannt, Mariens Ospina gefangen genommen worden. Der neue
Sieg des General Lopez ist übrigens weit weniger geeignet, ihm selbst als sei¬
nem wahrscheinlichen Nachfolger, General Obando Vortheil zu bringen, dem
Candidaten für die nächste Präsidentschaftswahl. Ans Obando ruht ein starker
Verdacht, ein der vor 20 Jahren stattgehabten Ermordung des General Sucre
betheiligt zu sein; Obändo war Chef des Aufstandes von 18/.0; gegenwärtig ist
er der Erwählte, der Heros, die Hoffnung der demokratischen Gesellschaften, welche
von ihm die Verwirklichung aller socialistischen Versprechungen erwarten. Wenn
der General Obando ernannt sein wird, wird er nichts Anderes thun können, als
was schon jetzt in Neugranada geschieht. Er wird die Svcialistencomödie
verlängern, bis irgend ein Sturm Decorationen und Schauspieler zerschmettert;
er wird jenem Club von Gespenstern vorstehen, die sich Bürger nennen, welche
Mit den Worten „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" spielen, bis die Axt des
Indianers an ihre Thür schlägt oder eine Eroberung anderer Art sie von der
Barbarei errettet.
Gewiß bietet ein Land, das solchen Thorheiten sich hingibt, ein klägliches
Schauspiel. Der höchste Unsinn des Socialismus ist, daß er mit lächerlichen Na¬
men und künstlichen Agitationen die wirklichen Probleme verschleiert, die im Schoße
der neuen Welt sich erheben oder von außen sie bedrohe». Er ist die schreiendste
Fortsetzung jenes Knnstgriffs, der einen Reisenden ausrufen ließ: ,,Ju Amerika
sind die Namen civilistrt, die Sachen barbarisch." Die Verfassungsveränderungeu,
die politischen Revolutionen, die socialistischen Gesetzgebungen, obgleich Symptome
des Uebels, welches Südamerika durchwühlt, Heilen dasselbe nicht; sie vergrößern
es uur, indem sie es verkennen. Dieses Uebel ist der Mangel einer moralischen
Erziehung, eines moralischen Charakters bei diesen Stämmen, welche unablässig
zwischen barbarischen Eingebungen und intellectuellen Ausschweifungen schwanken.
ES ist die praktische Undichtigkeit gegenüber einer zu erobernden Welt und unend¬
lichen Elementen des Reichthums; es ist der Maugel einer Bevölkerung für -einen
unbegrenzten Boden. Südamerika hat bei Europa nicbt seine Theorien, seine
Systeme, seiue progressiven und socialen Gelüste zu suchen, sondern seine Missio¬
nare, seine Ingenieure, seine Arbeiter, seine Industrie, seine Capitale. — Alles,
was in dem barbarischen Leben ein moralisches Licht eröffnet, die Gesellschaft
gründet, ein Stück Urwald lichtet, ein Stück Land mehr urbar macht, die Arbeit
entwickelt, eine Kraft ausmacht, kurz alles, was die Realität und Tüchtigkeit
der Civilisation schasst. Und was für Südamerika ein Bedürfniß, eine Noth¬
wendigkeit ist, würde für Europa eine wesentliche Erleichterung sein. Der Pau-
perismus und das Elend Europas würden in den ausgedehnten Laudgebieten,
welche die Amerikaner, mit unsinniger Leidenschaft die Excesse der französischen
Revolution nachahmend, unbebaut lassen, ein rasches und leichtes Hilfsmittel
finden. Während aber die amerikanischen Völker in politischem Fanatismus sich
berauschen und in müßigen, wenn nicht blutigen Revolutionen ihre Kräfte ver¬
geuden, ist bereits die angloamerikanische Macht gegen sie im Anzuge und läßt
sie nicht aus deu Augen.
Es ist eins der merkwürdigsten Schauspiele der Gegenwart, wie die cmglo-
amerikanische Race unausgesetzt daran arbeitet, die spanische Welt jenseits des
Oceans sich zu unterwerfe»; sie drängt und umfängt sie von allen Seiten; sie
bedroht Cuba, verschlingt Provinzen, wie Texas und Kalifornien, setzt sich in dem
Herzen von Mexiko fest, um dieses Land aufzulösen. Gegenwärtig faßt sie in
Panama, in Neugranada selbst, Fuß. Ihre Art und Weise zu erobern ist nicht
die der europäische» Mächte, welche ihre Flotten absenden und ihre Flaggen ans
einem Gebiete aufpflanzen; sie erobert ein Land durch die Industrie ihrer Emi¬
granten, die in demselben sich niederlassen, sich bereichern und ihren Einfluß zu
dem vorherrschenden machen. Panama gehört in dieser Weise schon jetzt den
Angloamerikanern; sie sind dort die Herren aller Interessen und aller Gewerbe.
Die Eisenbahn, welche auf dem Punkte steht, die beideu Oceane zu verbinden,
ist ihr Werk und ihr Eigenthum. Sie haben ein Journal unter, dem bezeichnenden
Namen „Panama-Stern" gegründet, sie ändern die Namen der Oerter: die
Limonbay heißt jetzt Navpbay. Ein Theil des Districts Chagres, Furnia,
nennt sich Amerikau-Poor; dort haben sie ihre eigene Administration und Justiz,
unabhängig von den granadischen Autoritäten. Die ,,Jsthinel>os" selbst sehen
bereits den Tag, wo sie einen Unionsstaat bilden werden. Das ist sehr einfach;
vor einigen Jahren noch war der Isthmus mit wunderbaren Elementen der
Fruchtbarkeit eine Einöde, verlassen und voll Elend; gegenwärtig durchziehen ihn
täglich zahllose Emigranten; Gold circulirt überall; neue Cantone der Bevölkerung
bilden sich; Industrie blüht auf. Wenn ein unvorhergesehenes Ereigniß, die
Entdeckung der Bergwerke Kaliforniens, der Aufschwung dieses neuen Wohlstandes
entschieden hat, so sind die Angloamerikaner die Haupturheber desselben und
unterhalten ihn. Die Jsthmelws haben das Schauspiel vor Ange», und es ist
merkwürdig zu sehe», wie diese mittellose Bevölkerung dem Uebergewicht der
Arbeit und Einsicht weicht, welches der Uankec in seinen Eroberungen entwickelt,
»ut wie sie sich vorbereitet, Nordamerika anheimzufallen. „Der Isthmus von
Panama wird ein amerikanischer Bundesstaat werde», das ist unzweifelhaft, schreibt
ein grauadischcS Journal. Er ist bestimmt, einen der erste» Plätze in der
Handelswelt einzunehmen, auf ihn richten sich die Bestrebungen der Uuiousbürger,
er wird ihnen unfehlbar zu Theil werden." Schon discutirt man öffentlich über
eine Abtretung dieses Gebietes für eine Geldsiunme. Nun aber ist Panama der
Schlüssel des südamerikanischen Continents. So geht mit Riesenschritten diese
unermüdliche Na^e vorwärts, entschlossen, die merkwürdige Prophezeihung zu
bewahrheite», welche vor einigen Jahre» im Senate von Washington ausgesprochen
wurde, daß die Grenzen ihrer Macht Patagonien und das Cap, Horn sei»
würden. Die socialistischen Formeln Neugranadas werden diese Gefahr nicht
beschwören. Aber wird Europa es dulden, daß diese langsame u»d allmälige
Besitzergreifung eines Continents dnrch ein ehrgeiziges Volk sich vollziehe? Es ist
dies eine Frage von größter Bedeutung von Europa und sie verbirgt sich hinter
der rothen und phantastischen Wolke, welche auf einige Gegenden Südamerikas
unglücklicherweise sich gelagert hat.
Die anhaltende und ziemlich lebhafte Debatte, zu welcher die Frage des
hansestädtischen Anschlusses an den Zollverein in unserer Tagespresse Veranlassung
gegeben hat, ist ein Beweis von der überraschend schnell entwickelten Theilnahme,
welche man in Deutschland gegenwärtig den wirthschaftlichen Verhältnissen und
Problemen zuwendet. Denn in ihrer praktischen Bedeutung war die Frage noch
kaum einer so eifrigen Verhandlung werth. Wenn auch die Senate Hamburgs
und Bremens acht ohne einige Zweifel und Besorgnisse gewesen zu sein scheinen,
so haben doch den besten Quellen zufolge die gegenüberstehenden Regierungen,
und darunter Preußen und Hannover als die zumeist betheiligten, an keine irgend
ernstlichen Aufforderungen zum Anschluß, vielweniger an unliebe Drohungen ge¬
dacht. Der Kampf wurde auf Seiten der Anschlußfrennde lediglich von wenigen
pnblicistischen Plänklcrn geführt, die sich theils von Kiel und Berlin aus in der
„Allgemeinen Zeitung", theils in Dr. Andre's Handelsblatt vernehmen ließen,
während die Gegner schon deshalb aus gröberem Geschütz und mit wirksameren
Waffen erwidern konnten, weil hinter ihnen die überwiegenden Sympathien ihrer
Bevölkerung und die ebensowenig zweifelhaften, aber stiller geleiteten Bestrebungen
der hansestädtischen Senate standen. Für dieses Verhältniß genügt es in Er¬
innerung zu bringen, daß dem Redacteur des „Bremer Handelsblatts" eine
immerhin ehrenwerthe Gestnnnngstrene bereits seine Stelle und das fernere Ver¬
trauen seiner Auftraggeber gekostet hat, und daß von zwei fast gleichzeitig erschie¬
nenen Broschüren wider den Anschluß die Hamburgische einen Senator, die Bre¬
mische einen Regierungssecretär zum Verfasser hatte. Neuerdings ist von Ham-
burg her berichtet worden, daß bei der handelspolitischen Einsicht des dortigen
Senators Geffcken selbst Herr v. Manteuffel hinsichtlich der schwebenden Zoll¬
frage sich Raths erholen mochte. Das Verhalten Preußens den Hansestädten
gegenüber kann sich dadurch in seiner bisherigen Richtung nur befestigt haben.
Was uns demnach bewegt, diesem Gegenstand zu einer scheinbar so späten
Stunde noch einige Betrachtungen zu scheuten, ist nicht die Annahme von seiner
thatsächlichen Dringlichkeit. Daß den widerstrebenden Städten eine wirkliche
Gefahr drohe, z»in Beitritt moralisch oder materiell gezwungen zu werden, werden
selbst die, denen es völlig erwünscht wäre, heute nicht mehr zu hoffen sich getrauen.
Die Frage hat, zum großen Leidwesen ihrer Einfädler und Anschürer, nicht die-
jenige praktische Wichtigkeit gewonnen, welche sie ihr erst voreilig beilegten und
hinterher gewissermaßen aufzwingen wollten, wenn man von dem berührten, an
sich doch nicht viel sägenden Bremer Ereigniß absieht. Aber sie ist dadurch für
uns von mehr als oberflächlichem Interesse, daß sie mit den schwierigsten Punkten
unsrer ökonomischen Zukunft eng zusammenhängt und nach jeder Seite hin fruchtbar
anzuregen geeignet ist. Das ist der Grund, weshalb sich trotz mangelnder
Legitimation ihrer Dringlichkeit soviele Federn freiwillig mit ihr beschäftigt haben.
Es muß auch uns weniger zu einem eigenen Votum, als zu einer raschen
Hinweisung ans ihre verschiedenen Seiten vermögen.
Was zunächst die in Betracht kommenden freien Städte betrifft, so ist Lübeck
mit Recht außerhalb der Debatte geblieben, indem es sich weder selbst dazu heran¬
drängte, noch von den übrigen Orten her herbeigezogen wurde. Eingeschlossen
zwischen das feindselige Dänemark und das in lauterem Mittelalter erstarrte
Mecklenburg, aus seinen russischen und schwedischen Handel allmälig fast beschränkt,
hat Lübeck nicht das erforderliche Maß von selbstständiger und inhaltsvoller Be¬
wegung, um neben den immer kräftiger emporstrebenden Schwesterstädten aus
einer Linie genannt zu werden. Aber auch Hamburg und Bremen sind eigentlich
von keiner Seite her als gleichmäßig interesstrt gedacht oder dargestellt worden.
Was Senator Geffcken in seiner schätzbaren kleinen Schrift darüber vorbringt,
soll sich mehr auf eine allgemeine Aehnlichkeit der augenblicklichen Lage, als auf,
eine im Grnnde nicht vorhandene Congruenz der natürlichen Bedingungen
erstrecken. Er suchte eben nur einem überkühncn Angreifer nachdrücklich zu
begegnen, der mit der letzteren auch die erstere in einem Athemzuge geleugnet
hatte. Bremen hat höchstens erst die halbe commercielle Bedeutung Hamburgs
errungen, dient ausschließlich deutschen Staaten zum Emporium und zur Ver¬
mittelung mit überseeische» Ländern, hat seinen Absatz über den Ocean bisher fast
auf die Vereinigten Staaten beschränkt und besitzt in einem starken Verhältniß
eigene Industrie. Hamburg dagegen rühmt sich, der dritte Handelsplatz Europas
und der erste des Continents zu sein; Hamburg ist in mercantiler Versorgung
und Abnahme die gebietende Königin des Nordens, der die Skandinavier und
Russen in einem Grade huldigen, wie ihre deutschen Landsleute es nnr irgend
können; Hamburg weist in seinem transatlantischen Verkehr die Häfen aller vier
Welttheile anf, ohne den einen unter ihnen dauernde und ausschließende Vorzüge
zu schenken, und Hamburg hat sich endlich nicht in solchem Maße dem Gewerbfleiß
neben dem Handel gewidmet, wie das in einem seltenen Beispiel allerdings von
Bremen gilt. Hier ist nun der Punkt, ans den die Vertheidiger des Anschlusses
das größte Gewicht legen und den sie immer wieder mit Heftigkeit betonen.
Indem sie eines jener falschen und verderblichen Axiome, an denen unter andern
Schutzzöllnern namentlich List so reich war, von Staaten und Nationen gar auf
einzelne Städte übertragen, nennen sie Bremens Industrie den zweiten, gleich-
bedeutenden Factor seiner Blüte und ergehen sich in allerhand unhaltbaren De-
ductionen, weshalb eine Handelsstadt früher oder später auch Gewerbfleiß pflegen
müsse. Mag es um Hamburg sein! rufen sie, aber Bremen muß um seiner
Fabriken nud Industrieen willen dem großen deutschen Zollverein beitreten, der
für dergleichen Schlitz hat nud gegen jedes Ausland die rauhe Seite feindlicher
Tarifsätze herauskehrt. Wir können uns bei der Analyse dieser Aufstellung hier
nicht aufhalte». Aber im allgemeinen scheint es doch, daß man im wohlverstan¬
denen Interesse der Nation und aller ihrer Glieder nur damit einverstanden sein
konnte, wenn die freien Städte soviel wie möglich auf den Handel beschränkt
blieben nud ihre Industrien dem zollgeschützten Inland abgaben. Denn nach dem
Grundsatz der Theilung der Arbeit hätte damit der Handel diejenigen Stätten
ausschließlich für sich, auf denen nichts ihm seine Lebensluft, die Freiheit beein¬
trächtigt; nud die Fabriken, deren Schntzbedürfnisz wenigstens von den Fabrikanten
noch immer behauptet worden ist, wären ebenfalls glücklich dahin gestellt, wo
dieses ihr vornehmstes Bedürfniß eine vorsorgliche Genugthuung findet.
Es ist überhaupt eine merkwürdige Wahrnehmung, wie der alte Gegensatz
zwischen Handel und Industrie, derselbe, welcher in den endlosen Kämpfen um
Schutzzoll und Handelsfreiheit zu concreten Ausdruck zu gelangen pflegt, auch
in dieser handelspolitischen Frage beiden Lagern durchaus charakteristisch ist. Vom
Handel sprechen die einen, und schreiben das große Wort des Freihandels auf
ihre Fahne, indessen die andern ebenso beharrlich die Interessen der Industrie
wiederkäuen und von nichts so sehr in den deutschen Zollverein hineingezogen
werden, als von der Sehnsucht nach schützenden Positionen im Tarif. An dieser
Beobachtung darf man sich durch die Thatsache nicht irre machen lassen, daß die
Principien selbst diesmal nur sehr zurückhaltend und ungenügend erörtert worden
sind. Das geschah theils, weil die eben vorgegangene eigentliche Zollvereinsfrage
dazu bereits die reichlichste Gelegenheit geboten hatte, und theils wol auch, weil
das Verhältniß der Hansestädte zu Deutschland ohne alle Analogie in der übrigen
Welt und deshalb unter allen Umständen möglichst concret zu behandeln ist.
Inzwischen liegt auch darin ein erfreulicher'Fortschritt, daß die Neigung zu rein
stofflichen und individualisirenden Erörterungen volkswirtschaftlicher Zustände sich
Bahn bricht.
Wie wir bemerkt haben, ist es nicht unsere Meinung, daß die hansestädtische
Anschlußfrage augenblicklich schon zum Spruch reif sei. Da es jedenfalls an den
Hebeln einer thatsächlichen Erledigung fehlt, so kann es sich höchstens darum
handeln, ob die theoretische Debatte in Broschüren und Zeitungen bereits zu
einem gewissen Abschluß gediehen sei oder nicht. Wir verneine» auch das aus
innern Gründen, zu deren Darstellung sich wol später noch einmal Anlaß finden
wird. Soweit aber der änßere Erfolg in Betracht kommen mag, so möchten wir
doch meinen, daß die beiden halbamtlichen Schriften Bremens und Hamburgs
neben ihrer äußerlichen Bedeutung auch in den Argumenten das schlagendere
geliefert haben. Wir unterschreiben ihr übereinstimmendes Ergebniß uur deshalb
nicht, weil es uns so vorkommt, als würden in naher Zukunft noch ganz andere
Factoren als die jetzt aufgebrachten in Rechnung zu ziehen sein. Nach dem heu¬
tigen Bestand der Dinge haben sie vor einer ehrlichen Auffassung Recht behalten,
so sehr man übrigens aus politischen Rücksichten wünschen mochte, die Hansestädte
wären im Stande, dem großen materiellen Einigungsband des Vaterlandes sich
einzuordnen. Dergleichen ans Kosten ihrer wunderbaren Handclsgröße und ans
die Gefahr ihrer Lahmlegung gegen die ausländische Concurrenz zu verlangen,
kann uns natürlich sowenig einfallen, wie es der Politik der beteiligten Re¬
gierungen bisher in den Sinn gekommen ist.
Ein erfreuliches Resultat ist für uns ans der Debatte hervorgegangen, trotz
ihrer anscheinenden Unfruchtbarkeit, und das ist die erhöhte Aufmerksamkeit, welche
das deutsche Publicum inskünftige den Geschicken der Hansestädte unfehlbar zu¬
wenden wird. Die commercielle Macht dieser alleinstehenden, unbeschützten Plätze
mitten unter dem Wettbewerb so vieler mächtiger Nationalitäten ist eines von den
Gütern, auf welche wir Deutsche mit dem besten Rechte stolz sein dürfen, und
zugleich vielleicht von allen das am wenigsten gekannte und nach Verdienst ge¬
schützte. Wenn eine relative Vernachlässigung solcher Gegenstände in der bisherigen
Richtung unserer Cultur mehr oder weniger bedingt war, so ist es erfreulich zu
sehen, daß man das Einseitige dieser Richtung fahren zu lassen beginnt.
Von einem so bewährten Kenner der Geschichte, wie Professor Wachsmuth
in Leipzig, wird man von vornherein erwarten, daß er kein Buch schreiben wird,
in dem nicht Freunde der Geschichte manche nützliche und neue Belehrung finden
Und das ist auch in diesem Buch der Fall. Aber wir hätten doch gewünscht,
daß er Gelegenheit gehabt hätte, es in irgend einem andern Werk anzubringen';
denn das vorliegende ist in seinem ganzen Plan und seiner Anlage so vergriffen,
daß es uns in Erstannen setzt. Die wirkliche Geschichte kann sich mir mit einem
concreten Gegenstand beschäftigen, der einen eigenen Inhalt hat, und eine von
andern Gebieten wenigstens bis zu einem gewissen Grade unabhängige Evolution
zuläßt. Geschichte eiues abstracten Begriffs ist immer etwas Verfehltes. Aber
es gibt doch wenigstens Begriffe, die in der Erscheinung eine gewisse Gleichartig-
keit zeigen, und von denen man, wenn auch nur in sehr uneigentlichen Sinn, eine
Geschichte schreiben kann. So haben wir z> B. vor etwa einem Jahr von Pro¬
fessor Hinrichs in Halle eine Geschichte „der Könige" erwähnt. Auch hier konnten wir
die Wahl des Gegenstandes nicht billigen, denn die Beschaffenheit der verschie¬
denen Monarchien ist nicht aus dem Begriff des Königthums, sondern aus der
Natur der verschiedenen Völker, die unter Königen standen, sowie ans ihrer Lage
im Verhältniß zu andern Völkern hervorgegangen. Man kaun eine Geschichte
„der Könige" nicht schreiben, ohne die Geschichte ihrer Völker, uno da ist es zweck¬
mäßiger, man erspart sich diesen Umweg überhaupt. Aber im Begriff des König¬
thums liegt doch immer noch etwas Concretes und Einheitliches, das im Begriff
der „politischen Parteiung" gänzlich seht. Dieser Begriff ist vollständig farblos
und leer, wenn man ihn von den übrigen geschichtlichen Momenten isolirt. Wir
haben nach dem Titel nicht verstanden, wie sich diese „Geschichte der Parteiungen"
von einer allgemeinen Geschichte unterscheiden sollte, und wir verstehen es nach
der Durchsicht des Buches noch viel weniger. Im Anfange glaubten wir, es solle
die technische Seite des Gegenstandes hervorgehoben werde», die Art und Weise
der Organisation, der Geschäftsführung u. s. w. Aber schon die Ausführlichkeit,
mit welcher die alte Geschichte, selbst der Orient, die Juden, die Griechen u. s. w.
behandelt waren, brachte uns vondieser Idee zurück, und wir fanden in der That kei¬
nen andern Unterschied, als das stärkere Hervorheben des specifisch politischen Elements
über das religiöse, militärische, culturhistorische u. s. w., also die alte abstracte
Form der Geschichte, aus der die neuere Geschichtschreibung grade herausznstre^
ben scheint. So wird es wol am zweckmäßigsten sein, das Buch als eine allge¬
meine Geschichte aufzufassen, in der ein reflectirter, folglich einseitiger Standpunkt
festgehalten, in der aber durch eigene Forschungen manches Eigenthümliche und
Interessante gegeben ist.
Dieses Unternehmen ist im Gegensatz gegen das vorige ein höchst zweck¬
mäßiges, praktisches und nützliches. Es geht darauf ans, das deutsche Volk
durch Monographien, die aber alle populär gehalten sind, mit seiner eignen Größe
bekannt zu machen, die ihm in den üblichen Haupt- und Staatsactionen seiner
kaiserlichen Abenteuer ziemlich fremd geblieben ist. Nicht in der schimmernden
Romantik unserer Ghibellinen ist das zu suche», worauf wir in unserer Geschichte
stolz sein können, denn keine glänzende Außenseite kann die innere Zwecklosigkeit
verstecken. Wenn man unser Volk richtig würdigen will, so muß man es bei
seiner Arbeit aufsuchen, auch in der Geschichte. — Diese Aufgabe verfolgen auch
die vorliegenden drei Bände. Mit dem 1. Band ist die „Geschichte des deut¬
schen Städtewesens von F. W. Barthold" geschlossen; zugleich beginnt mit
dem 1. Bd. eine „Geschichte der Hansa" von demselben Verfasser. — Professor
Barthold in Greifswalde gehört zu denjenigen deutschen Geschichtschreibern, von
denen wenig Lärm gemacht wird, weil sie sich durch keine in die Augen springende
Sonderbarkeit, durch keine auffallende fixe Idee, durch keine romantischen Ge>
sichtspuukte auszeichnen, die aber mehr Gutes gewirkt haben, als ein ganzes
Heer von Sophisten nud Romantikern, weil sie uns das concrete und wirkliche
Leben deutlich und anschaulich vor Augen gestellt und in einer würdigen Gesinnung
aufgefaßt hahen. In der Reihe der „neuern deutschen Geschichtschreiber", deren
Charakteristik wir im vorigen Heft begonnen haben, gedenken wir näher darauf
einzugehen. Hier nur einige vorläufige Anmerkungen. — Die Einleitung zu
seiner Geschichte der Hansa ist sehr schön geschrieben; die geographischen und
politischen Schwierigkeiten, mit denen der deutsche Handel zu kämpfen hatte, um
sich zu einer selbstständigen Macht und europäischer Bedeutung zu erheben, werden
uns deutlich und eindringlich vorgestellt, und alsdann in einer Skizze, welche die
ältesten Zeiten der deutscheu Geschichte bis zum Sturz Heinrich deö Löwen um¬
faßt, das allmälige Wachsen des deutsche» Gewerbfleißes und der municipalen
Selbstständigkeit mitgetheilt, die beiden Grundlagen der Hansa. Das zweite Buch,
mit welchem der erste Band schließt, geht bis zum Ende des Interregnums. Das
Ganze ist auf drei Baude berechnet. — In der „Geschichte, des Städtewesens"
ist die höchst schwierige Aufgabe, mit jenem Detail und jener Fülle localer Be¬
ziehungen, die einem solchen Werk allein Werth verleihen kaun, die für ein Ge¬
schichtwerk nothwendige Deutlichkeit und Durchsichtigkeit zu verbinde«, durch
geschickte Gruppirung glücklich gelöst. Wer sich irgend für Geschichte interessirt,
wird dies schöne Denkmal deutschen Lebens, die Geschichte der bedeutendsten
Thätigkeit, zu der sich unser Volk emporgerasst hat, und die seine Natur am
schärfsten charakterisirt, mit demselben Wohlgefallen durchlesen, wie mau sonst
den leichten Spielen der Phantasie zu folgen gewohnt ist, und er wird sich dabei
die Früchte eines langjährigen patriotischen Studiums aneignen. Mochten doch
alle unsere höhern Schulen, in denen gewöhnlich die vaterländische Geschichte
uach der alten Schablone vorgetragen wird, sich dieses Buch aneignen, um zu¬
nächst die Philologen, die in der Regel den historischen Unterricht ertheilen, darauf
aufmerksam zu machen, daß es in der deutschen Geschichte vor Luther noch einiges
andere giebt, als Karl den Großen und die verschiedenen Kaiserdynastien, und
dann auch dem fähigeren Schüler ein anschauliches Bild von dem Leben seiner
Väter zu verschaffen. — Es wäre wünschenswerth, wenn in den Kreis dieses
Unternehmens anch eine deutsche Rechtsgeschichte und eine Geschichte des deutschen,
Militärweseus gezogen würden.--Würdig schließt sich an diese Darstellungen
die „Geschichte der deutschen Kunst" von Ernst Förster an, die auf 3 Bde.
berechnet ist. Der zweite Band, der uns vorliegt, enthält die Geschichte der
deutschen Architektur, Sculptur und Malerei von Anfang des Is. bis Mitte des
16. Jahrh. In Gegenständen der Kunst wird es wol selten einen Schriftsteller
geben, dem man in allen Punkten beipflichten möchte, und so ist uns denn auch
hier manche einzelne Ansicht aufgestoßen, die wir nicht ohne Bedenken unter¬
schreiben würden, aber mit um so größerer Freude hat »us das Ganze erfüllt,
eine so entschiedene, auch die kleinsten Details durchdringende Beherrschung des
Stoffes, ein so durchdachtes und nach allen Seiten hin gewissenhaftes Urtheil,
eine so klare Einsicht über den Zusammenhang von Ursache und Wirkung.
Wenn dieses Buch sich im größeren Publicum ausbreitet, so wird das herkömm¬
liche Geschwätz über Kunst, das theils sich noch aus den Reminiscenzen der
romantischen Schule, theils von guten Freunden modernster Maler herschreibt,
bald zum Schweigen gebracht werden. Möchte sich nun nur auch ein Schrift¬
steller finden, der mit demselben Geist, derselben Wärme und derselben Sach¬
kenntnis, wie dieser die- bildende Kunst, die Geschichte der deutscheu Musik zu
schreiben unternähme! Der Gegenstand ist ebenso würdig und bedeutend als
der andere, und hier ist es noch viel nothwendiger, verkehrte Vorstellungen zu
beseitigen. —
Auch hier haben wir ein höchst werthvolles »ut bedeutendes Werk, ein Werk,
welches der Wissenschaft ein neues Terrain gewinnt, und zugleich der vater¬
ländischen Literatur angehört. Professor Havemann in Göttingen arbeitet seit
länger als sechzehn Jahren daran, denn schon vor 16 Jahren erschien sein Lehr¬
buch über denselben Gegenstand, das man gewissermaßen als Vorarbeit ansehen
muß. Die Schwierigkeit der Specialgcschichte eines dentschen Stammes liegt
darin, daß sie sich zunächst an die Fürstengeschichte knüpfen muß, weil die Fürsten
»ut nicht die Stämme die Träger unserer Staatenbildung gewesen sind — ein
Umstand, den die Apologeten unserer naturwüchsigen Stammesverschiedenheit ge¬
wöhnlich übersehe». Unsere Staaten sind ein wahrer Hohn gegen unsere Stämme.
Nun wäre nichts trostloser und ermüdender, als eine ausführliche dynastische Ge¬
schichte ohne Zusammenhang mit der volkstümliche» Grundlage, und doch muß
dieser Z»Saume»sang erst mit einiger Kunst hergestellt werden. Ganz läßt sich
dieser Uebelstand nicht überwinden, aber der Verfasser hat wenigstens den richtigen
Weg eingeschlagen, ihn weniger fühlbar zu machen; er schildert uns zuerst, indem
er auf die älteste Zeit zurückgeht, die volksthümliche» Zustände deö Landes, dessen
Grenzen er nicht pedantisch absteckt, »ut sucht aus diesen heraus die Interesse»
und die politische Stellung des welsischen Herrschergeschlechts zu Deutschland im
allgemeinen herzuleiten. — Der Band erstreckt sich bis zum Anfange des
16. Jahrhunderts. — Schon der sehr bedeutende Umfang desselben, noch mehr
aber die gründliche, auf die innern Verhältnisse genau eingehende Darstellung
erfordert ein sorgfältiges Studium, wir hoben also hier nur eine vorläufige An¬
zeige geben wollen, um das größere Publicum darauf aufmerksam zu machen, und
behalten uns für spätere Zeit eine ausführlichere Besprechung vor; eine Be¬
sprechung, die wir noch einigen andern Schriften ähnlicher Tendenz schuldig
sind, z. B. der vortrefflichen Geschichte Schleswig-Holsteins von Waitz, die in
demselben Verlage erschienen ist. — Das Werk ist > auf drei Bände berechnet,
deren zweiter auch die Entwickelung des ständischen Lebens und der Gerichtsver¬
fassung enthalten soll.
Wir haben bereits den ersten Band dieser schön geschriebenen Sammlung
mit großem Interesse gelesen; der zweite Band ist nur geeignet, dieses Interesse
zu steigern. Zuerst haben wir eine Fortsetzung der Donaureisc, mit gelegentlichen
Bemerkungen über die Bedeutung des russischen Reichs für Europa, die zwar
vielen Widerspruch hervorrufen werden, die aber eine ernsthafte Kenntnißnahme
verdienen, weil sie nicht ans flüchtigen Einfällen, sondern aus ernstem Nachden¬
ken hervorgegangen sind. Weit interessanter für den deutschen Leser wird der
zweite Theil sein, der sich mit der Literatur beschäftigt. Freilich muß man sich
dabei immer daran erinnern, daß man es mit einem Franzosen zu thun hat. Der
deutsche Gelehrte prüft erst ans das sorgfältigste das Material, ehe er sich zu einem
Urtheil hergibt; bei dem Franzosen dagegen ist die Phantasie unmittelbar thätig,
er macht sich augenblicklich ein lebhaftes und anschauliches Bild, und wenn das
auch der Gründlichkeit und Stichhaltigkeit seiner Forschungen manchen Abbruch
thut, so hat es doch den Gewinn, daß es sich dem Leser einprägt, ihn orientirt
und ihn zu weitern Untersuchungen auffordert. So ist z. B. eine sehr anregende
Abhandlung über die epische Poesie der Deutschen (geschrieben 1832). „Vor
13 Jahren, sagt er, gab es noch kein Lehrbuch der Dichtkunst, in der sich nicht
Regeln und Vorschriften für die epische Dichtung vorfanden. Man gab dem
jungen Dichter Anweisung, wie er ein episches Gedicht machen solle. Pater La-
bossn verlangt, daß der eigentliche Gegenstand des epischen Gedichts eine echte
Moral sei, unter dem Schleier einer Allegorie dargereicht, so daß man die Fabel
nach dem Bedürfniß der Moral, die Personen uach dem Bedürfniß der Fabel
einzurichten habe. Der Abbe Terrasson behauptet im Gegentheil, daß man ohne
Rücksicht auf die Moral zum Gegenstand der Epopöe die Ausführung eines gro¬
ßen Gemäldes zu wählen habe, und tadelt den Gegenstand der Ilias, den er
eine „irmetion" nennt. Die Komposition der Epopöe, sagt Marmontel, umfaßt
die Hauptpunkte, den Plan, die Charaktere und den Stil. Man unterscheidet in
dem Plan die Exposition, den Knoten und die Entwickelung, in den Charakteren
die Leidenschaften und die Moral u. s. w. ^ So dachte mau früher über die
epische Poesie. Seit -13 Jahren hat sich das alles verändert. Das Epos ist
nicht mehr ein künstliches Werk, es ist nicht ein beliebiger Autor, der sich eiues
schönen Morgens an seinen Arbeitstisch setzt, und sich vornimmt, ein episches Gedicht
zu machen: das Epos ist vielmehr das instinctive Erzeugnis; eines Volksgeistes."
Man lese das übrige in dem Buche selbst nach; es ist doch sehr erfreulich,
wie auch in dieser Beziehung der Geist des deutschen Volks bei den Franzose»
Wurzel gefaßt. Freilich ist Se. Marc Girardin darin den meisten seiner College»
im Gebiet der Literaturgeschichte überlegen; sein neuestes Werk über Rousseau,
welches die Revue de deux Mondes mittheilt, legt wieder von seiner gründ¬
liche» Kritik und seinem unbefangenen Urtheil ein sehr günstiges Zeugniß ab. —
Für den Verfasser wäre» die Thatsachen die Hauptsache, die anmuthige
Darstellung nur soweit sie sich mit dem Ernst des Gegenstandes verträgt. „In
frühern Zeiten, da all und jedes sowol für den Verfasser wie für den Leser neu
und fesselnd war, ließ sich mit Leichtigkeit ein unterhaltendes und belehrendes
Buch schreibe». Allein heutzutage vermag ziemlich jeder Schulknabe eine leidlich
genaue Beschreibung der entferntesten Winkel der Erde zu geben, und wenn ein
Reisender mit etwas Neuem einwirken will, so muß er sosehr ins Detail gehen,
daß es dem Geschmack der meiste» Leser nicht immer entspricht, wie großer Vor¬
schub auch der Wissenschaft damit geleistet werden mag." — Das Werk verdient
um so größere Beachtung, da es uns Theile der Welt vergegenwärtigt, die bis¬
her wenigstens noch nicht gründlich durchforscht sind: nämlich der erste Band Süd-
nnd Mittelamerika, der zweite Band die Nordpolgegende», endlich ein Stück von
China. Für jede Art naturhistorischer und politischer Fragen findet sich reich¬
liche Ausbeute. Im zweiten Band wird u. a. auch eine geschichtliche Uebersicht
der fünfjährigen Nachforschungen »ach Sir Joh» Franklin gegeben. — Bei einem
Reisewerk ist Po» einem leitende» Princip, also einer Analyse, nicht die Rede,
die Summe der Einzelnheiten macht den ganzen Werth. Wir glauben also u»ser»
Leser» am besten dnrch die Mittheilung eines einzelnen Fragments den Ton und
die Haltung des Ganzen zu versinnlichen; wir wählen zu diesem Zweck die Be¬
schreibung von Rio Janeiro. —
„Rio Janeiro ist eine unangenehme Stadt und muß, wie die des Sultans,
aus der Ferne betrachtet werden; nur die Entfernung macht den Anblick erfreulich.
Es ist die Stadt der Contraste. Entzückt von der schönen Ansicht kann der Fremde
es kaum erwarten zu lande», aber schon ehe er das Ufer erreicht, wird er von
entsetzlichen Gerüchen angefallen, die ihn fast zurücktreiben. Er sieht ein präch¬
tiges Hotel, wo jede Leckerei, welche die französische Küche hervorzubringen ver¬
mag, zu haben ist, und einen Neger, der Farinha laut, das einfachste Nahrungs¬
mittel von der Welt. — Die alte Stadt, die von Cook und Lord Macartney
besucht wurde, liegt zwischen Cobras Jsle Point und Porta de Calabou^a, und
bedeckt ein regelmäßiges Viereck von mehr als einer Meile in Lauge und weniger
als Meile» in Breite; sie steht aber in keinem andern Verhältniß zur jetzige»
Hauptstadt Brasiliens, als die „City" zu der von Großbritannien, hat indeß einen
eigenthümlichen Charakter und erweckt als ein Denkmal aus vergangenen Zeiten
el» Interesse, das die neueren Theile der Stadt nicht erregen.
Wenn man sich vom Landungsplatze aus rechts wendet, so sieht man einen
große» Platz vor sich: der kaiserliche Palast, ein großes Gebäude, von anßen
zierlich und regelmäßig, nimmt die Südseite ein und steht mit andern Baulich¬
keiten an der Westseite in Verbindung. Diese Gebände und die daranstoßende
Kirche waren früher Theile eines CarmcliterklosterS. Die nördliche Seite des
Platzes wird von Läden und Kaffeehäuser« eingenommen, die östliche, nach der
See zu, ist offen. Obgleich weder imposant noch schön/ so ist doch dieser Fleck
ein bequemer Landungsplatz für eine große Handelsstadt. Von der nordwestlichen
Ecke desselben läuft die Rua Dirieta von Nord nach Süd, von ihr gehen schmale
Straßen in rechten Winkeln ab, wiederum von zahlreichen andern gekreuzt. Die
Rua Dirieta ist die geschäftigste Straße, als ein allgemeiner Markt für den Ver¬
kehr, die Rua d'Ouvidor die freundlichste und glänzendste, eingenommen von
französischen und portugiesischen Goldschmieden, Modehändlern u. s. w., die Rua
d'Alfaudeza, die reichste, hauptsächlich vou Kaufleuten und Agenten von Man¬
chester, Birmingham, Sheffield und Leeds bewohnt, und die Rua des Pescadores,
die vornehmste; in ihr sind die Hänser der ansässigen englischen Kaufleute, die
ebenso bekannt und angesehen sind wie die Häupter der Negierung. Diese Stra¬
ße» sind alle einander ähnlich, die Hänser sind meistens 3 oder L Stock hoch,
düster und traurig, mit Balkonen vor de» Fenstern, im Plan de» gewöhnlichen
Londoner Häusern gleichend mit langen engen Gängen, steilen Treppen, Zimmern,
die meist untereinander in Verbindung stehen, lustig und von schönen Verhält¬
nissen, aber einfach meublirt sind. Das Parterre ist die Niederlage oder der La¬
den, je nachdem das Geschäft en Gros oder en Detail. Der erste Stock ist
Comptoir, der zweite enthält Speise- und Schlafzimmer. Sieht man, umgeben
von europäische!? Producten, hier und da ein englisches, deutsches oder französisches
Gesicht, so denkt man unwillkürlich daran, wie eng diese Scene von Geschäftigkeit
mit dem Wohl- oder Uebelbefinden von Reich und Arm in Lcincashire und U ork-
shire zusammenhängt, oder wie Fleiß und Talent überall einen Platz für ihre
Thätigkeit finden.
Die Rua Dirieta ist durch eine steile Erhebung geschlossen, auf der das
Kloster San Benedict und der bischöfliche Palast steht, welcher letztere bequemer
und prächtiger als der kaiserliche sein soll. Das Kloster ist ein einfaches Gebäude,
aber großartig durch seine Dimensionen. Man sagt allgemein, daß die Regierung
verboten habe, neue Mitglieder in den Orden der Benedictiner aufzunehmen, so
daß in wenig Jahren der kaiserliche Schatz die Einkünfte und Besitzungen dessel¬
ben zur Verfügung haben wird. Westlich davon liegt das Campo de Santa Anna,
die frühere Grenze der alten Stadt, jetzt fast ihre Mitte, ein weiter noch immer
unangebauter Platz, der mehr eine Trennung, als eine Verbindung mit der Neu¬
stadt bildet. Von hier aus durchschneidet ein Damm von 2 Meilen Länge, At-
terado genannt, eine Marsch, die von einem Arme der See gebildet wird; derselbe
gibt eine vorzügliche und ebene Straße zur Verbindung mit Engenho Velho ab
und führt zum Palaste von Sav Christovao, wo der Kaiser sich gewöhnlich auf¬
hält. Auf der Südseite wird die Einförmigkeit der Stadt durch einen Hügel von
einiger Ausdehnung nud beträchtlicher Höhe unterbrochen, der der Schloßberg
heißt und auf welchem mehre öffentliche Gebäude errichtet sind, auf seiner Spitze
der wohlbekannte Telegraph. In einiger Entfernung davon in derselben Richtung,
an der Straße von Calötc, ist der Gloriahügel mit der Kapelle von Nossa Scn-
hora da Gloria, welcher ein Vorgebirge am Ufer der Bucht bildet. Das Ge¬
bäude auf ihm, das an und für sich selbst nichts Bemerkenswerthes hat, ist einer
der am meisten in die Angen fallenden Punkte im Panorama, welches Rio von
der See aus darbietet. Der Weg zur Kapelle hinauf ist vou der Landseite steil,
nichtsdestoweniger aber stark besucht. Viele gehen hin, um von der Terrasse
ans auf eine der schönsten Landschaften zu blicken, die man sich nur vorstellen
kann. Der Hügel ist mit Häusern bedeckt, die vornämlich von englischen Kauf¬
leuten bewohnt sind, welche sich hierher vou den Mühen ihres Geschäftes zurück¬
ziehen, um sich an der lieblichen Aussicht und der kühlen Lust zu erfreuen. Die
Vorstädte im Süden, Calste und Botafogo, sind größtentheils neu, die Abhänge der
Corcorada, wie das Thal von Laraujeiros und das Largo de Machado haben
sich sicher verschönert und zeigen sogar schon Spuren von Eleganz. 18L1 war
das letztere wenig besser als das freie Feld, jetzt hat es einen Springbrunnen in
der Mitte, ist bepflanzt und zum Garten umgewandelt, während Häuser es von
allen Seiten umgeben. Die Wasserleitung ist ein wahrhaft schönes Werk, die
Nachahmung von einer zu Lissabon, im Jahre 1740 gebaut. Dieselbe am Mor¬
gen von der Stadt bis zum Fuße des Corcorado zu verfolgen, ist ein Spazier¬
gang, der wol von wenigen an Schönheit übertroffen wird. Der Aquäduct ist dauer¬
haft gebaut und besteht nach Lunock aus zwei etwa 6 Fuß hohen, oben überwölb¬
ten Mauern, hinreichend weit, um Arbeiter, die gelegentlich hineingehen, die ganze
Länge durchzulassen, mit Oeffnungen für Luft und Licht in passenden Intervallen.
Darin ist der etwa 18 Zoll weite, 2i Zoll tiefe und drei Meilen lange Kanal
angelegt. Es gibt zahlreiche Fontainen in der Stadt; viele werden von diesem
Wasserwerke gespeist, andere von Quellen und Brunnen; dennoch steht der Wasser-
zuflnß lange noch in keinem Verhältnisse zum Bedarf.
Die ne»e Stadt ist luftiger und angenehmer als die alte, es ist, als ob
man aus den ältern Theilen Londons in die Gegend von Se. Pancras oder
Camden Town käme, nicht viel von Geschmack zu sehen, nur mehr Reinlichkeit
und Frische. — Die Brasilianer gehen nicht viel mit den Engländern um, in¬
dessen sagt uns mehr als einer der lange hier Ansässigen, daß sie gefällige und
freundliche Leute seien und nie mehr erfreut, als wenn sie irgend einen kleinen
Dienst erweisen oder eine Artigkeit erzeigen könnten, nur wären sie, da sie nicht
die Vortheile einer guten Erziehung genossen hätten, zu schüchtern, um die Ge¬
sellschaft von Fremden zu suchen.
Die Gegeud von Rio wird ewig und immer die Stadt reizend machen, zu einem
Ueberblicke derselben bietet der Corcorado vielleicht den besten Punkt. Das Panorama
ist großartig. Rund um den Fuß des Berges und an seinen Seiten ist Urwald,
weiterhin die Bai von Botofogo, die mit ihren sanft abfallenden, von Häusern und
Spaziergängen eingefaßten Ufern an einzelnen Punkten fast einem Bergsee gleicht.
Die unendliche Mannigfaltigkeit der tropischen Pflanzenwelt entfaltet sich hier in
aller ihrer Größe, aber trotz ihrer Pracht und ihres Glanzes, den gelehrte Natur¬
forscher und begeisterte Reisende so lebendig beschrieben haben und nicht lebhaft
genng beschreiben können, drangt sich uns doch die Frage auf, ob die tropische
Landschaft in Wirklichkeit so große Vorzüge habe. Sie ist wild, voll von Uep¬
pigkeit und Fülle, so daß sie jeder Cultur und aller Schranken zu spotten scheint
— aber ist das ein Ersatz für die sanfteren Schönheiten gemäßigter Klimate?
Das Haupterzeugniß der Provinz ist Kaffee. Früher soll dieser einen eigen¬
thümlichen Geschmack gehabt haben und nicht für gleich mit dem westindischen
gehalten worden sein, — man schrieb seine geringe Güte dem Umstände zu, daß
man die Beeren unreif pflücke und dann zum nachreisen auf dem Boden liegen
lasse, woher sie einen unangenehmen erdigen Beigeschmack bekämen. Indessen
sind in den letzten Jahren bedeutende Verbesserungen in der Behandlung des
Kaffees eingeführt worden, die seinen Werth gesteigert haben. Baumwolle wird
ebenfalls gebaut, aber nicht soviel als im Norden; die Haupthafen für brasilia¬
nische Baumwolle sind Pernambuco und Marahanm. Zucker, der durch Gouver¬
neur Mein de Sa hierhergebracht worden, ist eins der wichtigsten Erzeugnisse,
besonders zwischen Rio und Cap Frio. Tabak wird auf den Inseln der Bucht,
südlich von Augra dos Reis und wie auch in der Provinz Espiritu Santo ge¬
zogen, er hat aber nie den Ruf erlangt, wie der von den älteren Pflanzungen in
Amerika und Asien. Der Anbau von Thee ward in Rio versucht, und wird
noch immer im botanischen Garten getrieben; doch muß etwas dabei hinderlich
sein, entweder die Art der Cultur, oder der Boden, oder das Klima, denn man
kann zu keinem günstigen Resultate damit kommen. In der Provinz Sa» Paulo
dagegen ist man glücklicher gewesen und eine bedeutende Menge für den Verbrauch
im Lande wird dort gewonnen." —
(Theaterkritik und Schausviclwescn.) Es gibt im allge¬
meinen und mit seltneren Ausnahmen schwerlich eine unnützere und schädlichere Schrift-
stellerei, als die sogenannte Theaterkritik, und daß die „Literaten" sich so zahlreich
darauf verlegen, hat nicht am wenigsten zu dem Verruft beigetragen, worin sie stehe».
Solange die Schriftsteller selbst nicht den Willen oder die Macht haben, dieses und
anderes abzuändern und die unwürdigen Elemente von sich auszuscheiden oder unschäd¬
lich zu machen, solange wird von einem Schriftstellcrftande nicht die Rede sein können,
da der ordentliche Mann, wenn er auch als Schriftsteller wirkt und thätig ist, sich doch
die Ehre verbitten muß, als Mitglied einer, weder nach gemeinsamen Gesetzen, noch
durch gemeinsame Sitte regierten Genossenschaft betrachtet zu werden.
In Beziehung auf die Theaterkritik sind die Localblätter noch für einen weit
geringern Uetelstand zu halten, als wenn auch politische Zeitungen ihre Spalte» dem
Localthcaterklatsch öffnen und dadurch diesen selbst und zugleich die damit verbundenen
Zwecke fördern. Haben diese Zeitungen gar tägliche belletristische Beiblätter, welche sich
Jahr aus Jahr ein mit dem Theater beschäftige», so gehe ich für diejenigen von ihnen,
die ich kenne, eine Wette darauf ein, daß man mir in zehn bis fünfzehn auseinander
folgenden Jahrgängen keine einzige Kritik im Schauspiel aufweisen soll, die etwas
Anderes, als die ewig wiederkehrende» und mit mehr oder weniger Anmaßung vor¬
getragenen Phrasen enthielte, oder ans welcher Schauspieler und Publicum das Ge¬
ringste lernen könnte». Etwas Anderes aber als diese Phrasen wird in das Blatt
nicht zugelassen, und ihre tägliche Handhabung ist das unverbrüchliche Privilegium des ^
Redacteurs.
Der Schauspieler tritt sehr selten mit den wünschenswerthen Vorkenntnissen in
seinen Stand, hat er die herkömmliche Routine erlangt, so hören gewöhnlich seine Fort¬
schritte aus, weil er nicht einmal das Bedürfniß einer gründliche» Bildung fühlt, denn
daß er es fühlte, dazu würde schou eine Bildung gehören, die ihm abgeht. Hat er
nur ein kleines oder ein schlummerndes Talent, so fehlt ihm die Ermunterung, sich
anzustrengen; hat er schöne äußere Mittel, el» angebornes leichtes Talent, welches sich wie
vo» selbst äußert, und Jugend, so überhebt ihn der Beifall, den er findet, jeder weitern
Mühe. Er erlangt bald hohe Gagen und nun ist auch die Theaterkritik in seinem
Lobe unermüdlich, er selbst vergißt sehr bald, daß er dieses nur der Bezahlung, dem
Champagner und der Schmeichelei verdankt, und wenn er endlich den Gipfel seiner
Kunsthöhe erstiegen zu haben glaubt und eben anfängt, sich für einen zweiten Devrient
oder Scydelmcmn zu halte», so ist der gebildete Zuschauer bereits des unverbesserliche»
Actcurs bis zum Ekel überdrüssig. Ein andrer Schauspieler von einem natürlichen
geraden Sinn und gefunden Gefühl spielt in Stücken, deren Inhalt aus dem Kreise
seiner Vorstellung und Erfahrung, aus dem Leben, welches er kennt und begreift, ge¬
nommen ist, gut, mitunter sehr gut, in poetischen und classischen Stücken dagegen be¬
friedigt er fast nie, weil ihm die Bildung, sie zu verstehen, sehlt, die nur manchen
Schauspielerinnen ihr größerer Fleiß und der angeborne und ausgebildete weibliche
Takt ersetzt.
Auch durch den Umgang, auf den er sich in der Regel beschränkt und dadurch,
daß weder das Lob, noch der Tadel, den er erfährt, mit Belehrung verbunden ist, wird
dem Schauspieler seine Ausbildung sehr erschwert. Wendete er sein überflüssiges Geld,
statt aus Literatenlob, aus guten Unterricht, wie er ihn in jeder Stadt, die ein stehen¬
des Theater hat, bekommen kann, suchte er, wie es die Schauspieler ehedem pflegten,
frühe Umgang mit unterrichteten und verständigen Theaterfreunden, so würden davon
die guten Früchte für ihn selbst, wie für die Bühne nicht lange ausbleiben. Das
Publicum, hat schon Schröder gesagt, bildet keinen Schauspieler. Derselbe Schröder
gelobte dem älteren Eckhof, den er bewunderte, „er wolle keinen seiner Fehler ungerügt
lassen, und forderte ihn auf, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Immer hatte er
Bleistift und Papier zur Hallt, bemerkte jedes Wort, jede Bewegung, jede Unart und
trat mit diesem Berichte Eckhos entgegen, so oft dieser die Bühne verließ" (Schröters
Leben von Meyer). Als Seydclmann sich in der Stille zum großen Schauspieler aus¬
bildete, spielte er nie, ohne urtheilsfähige Freunde, darunter einen ältern College», der
noch ein Schüler Schröters gewesen war, über jeden Umstand seines Spieles zu be¬
fragen und um die schonungsloseste Kritik zu bitten. Erst als der große Schauspieler
in ihm fertig war und er sich der ganzen Nation bekannt machen wollte, leitete er dies
durch jene Sild- und mitteldeutschen Literaten ein, die er sammt ihren geistlosen oder geist¬
reichen Phrasen so tief verachtete.
Ich sah kürzlich in einem nahen Theater einige Scenen des Hamlet. Der Dar¬
steller der Titelrolle fand den größten Beifall, ward gerufen ze. Die Scene mit dem
Geist spielte er halb auf der Erde, von seinen Begleitern nicht gestüzt, sondern ganz
von ihnen gehalten. Beim Erscheinen des Geistes warf er sich ihnen rücklings in die
Arme und strich sich nun im Nu mit der linken Hand das Barett vom Kops, während
es von der starken Bewegung des Hauptes oder von dem Griff der Hand in die
Stirn herunterfallen, aber nicht heruntergeschlagen werden darf. „Schröder", erzählt
Meyer, „gab überhaupt nicht viel aus zufällige Nebendinge. Als Hamlet fuhr er
vor dem Geiste erschrocken zurück. Ob bei dieser Gelegenheit sein Hut herabfiel oder
sich nur verrückte, kümmerte ihn sowenig, als den lebenden Hamlet. Ich habe beide
Fälle beobachtet und nie gesunden, daß die Erschütterung der Zuschauer von der
Erschütterung des Hutes abgehangen hätte." Wirst sich freilich beim Erscheinen des
Geistes der Darsteller des Hamlet seinen Mitspielenden mit dem ganzen Körper in die
Arme, so läßt sich weder Haupt noch Hut erschüttern, und ihm bleibt nichts übrig, als
den letztem mit der Hand herunterzuwischcn. — In dem Gespräch mit den Schau¬
spielern faßte der fragliche Darsteller denjenigen, zu dem er sprach, an der Hand, die
er nicht fahren ließ. Schröder sagt über diese Kleinigkeit, wofür dergleichen Unarten
der heutigen Schauspieler gelten: „Ferner ist kein Zusammenspiel möglich, wenn einige
Mitglieder der Bühne eine Sitte annehmen, die in der wirklichen Welt nicht stattfindet.
Weder der gesittete Mann, noch der Bauer faßt ein Frauenzimmer immer bei der
Hand, noch weniger der Mann den Mann. Diese Gewohnheit kommt von der Ver-
legenheit, was man mit den Händen anfangen soll, diese Verlegenheit von dem Wahn,
daß die Hände immer in Bewegung sein müssen. Beobachtet man, während drei
Stunden, eine Gesellschaft von vierundzwanzig Personen, so wird man finden, daß die
gegenseitigen Hände nicht so oft berührt werden, als auf dem Theater unter vier Per¬
sonen in einer halben Stunde ze."
Aber ein einzelner Schauspieler kann nicht für die Mängel einer einzelnen, ge¬
schweige der gesammten Bühne verantwortlich gemacht werden. Was ist von dem ein¬
zelnen Schauspieler zu erwarten, wenn die wenigsten mehr als auswendig lernen, wenn
kaum ordentliche Leseproben stattfinden und jeder zu eitel ist, sich für sein Spiel einer
Anweisung und Autorität zu unterwerfen, oder wenn diese Anweisung auch
ganz fehlt?
Wir wollen für heute von den großen Weltercignissen schwei¬
gen und nicht nach den Beschlüssen fragen, welche das Ministerium am 7. in dem Ca-
binetsrath (dem ersten vollständigen seit dem Beginn der Parlamcntsfcncn) gefaßt hat,
sondern ein kleines Geschichtchen aus den Polizeiannalen Englands erzählen. Vor den
vorigen Assisen in Glvcester ward ein Mann wegen Schwindelei und Betrug verur-
theilt, der sich für Sir Richard Smyth vou Ashtonconrt, das Haupt einer alten und
reichen Familie ausgab. Er wurde als ein gewisser Tom Provis von Warminster iden-
tificirt und demgemäß verurtheilt. Ein solches Resultat zu erlangen, erscheint einem
deutschen Polizeimann, der jedes armselige Menschenkind einregistrirt, numerirt, daguer-
reotipirt und unter beständiger Aufsicht hat, als eine Kleinigkeit, ist es aber nicht in
England, wo das polizeiliche Anmelden, die Anfenthaltskarten und andere unentbehrliche
Säulen der Gesellschaft noch nicht eingeführt sind, und wo es dem Verhörrichtcr nicht
gestattet ist, durch den sanften Zwang der Strafen wegen hartnäckigen LeugnenS den
Mangel an eigenem Scharfsinn zu ersetzen, wo es dem Angeklagten freisteht, jede Ant¬
wort zu verweigern, und wo es Sache des Gerichts ist, den Beweis der Schuld voll¬
ständig herbeizuschaffen. Als der angebliche Sir N. Smyth zuerst auftrat, wußte die
die Familie, deren Namen und Vermögen er beanspruchte, nicht das Mindeste von ihm;
sie wußte weder wer er war, »och was er war, oder wo er herkam; sie war daher ganz
wehrlos seinen Zudringlichkeiten ausgesetzt. Erst allmälig erfuhr sie, daß der Präten¬
dent sich für den Sprößling einer heimlichen Ehe ausgab und unter dem Namen Provis
erzogen sein wollte. Diese vereinzelte Thatsache war der einzige Anhaltpunkt, den der
Polizciinspector Field, der berühmte Detective oder Entdeckungspolizeicr., den die Fa¬
milie Smyth in ihre Dienste nahm, um den Betrüger zu entlarven, bei dem Beginn
seiner Nachforschungen hatte. Es kam vor allen Dingen darauf an, zu erfahren, ob
Provis wirklich ein Smyth sei, und wenn dies nicht der Fall sei, wer es war. Field
sah alle Adreßbücher Englands nach und fand darin eine große Menge Provis; aber
England ist ein großes Land, und er wußte anfangs gar nicht, wohin er sich wenden
sollte. Endlich gelang es ihm, zu erfahren, daß der angebliche Baronet seine Jugend
in Warminstcr verlebt haben wollte. Field machte sich nun nach Wanninster auf den
Weg, und stellte hier im stillen Nachforschungen an. Die Provis waren verschwunden,
aber in einer der Vorstädte lebte eine alte Frau, die irgendwie mit ihnen verwandt
war. Als der bekannte und gefürchtete Mr. Field zu der Alten zu gehen, davon konnte
nicht die Rede sein, denn die Frau hätte aus Scheu vor seinem Amte vorsichtige, oder
aus Schreck gar keine Antworten gegeben. Es galt, ihr Vertrauen zu gewinnen, um
ihre innersten Geheimnisse zu erfahren. Er beschloß daher eine Rolle zu spielen und
erschien eines Tages vor ihrer Thür als Patient, den- Familienunglück krank gemacht,
und der Genesung in der gesunden Lust von Warminster suchte. Die alte Dame
klatschte gern und fand großen Gefallen an dem kranken Gaste — er war ein so hüb¬
scher, höflicher, anständiger Herr; auch er fand Gefallen an ihr, denn die alte Dame
erinnerte ihn so sehr an seine Mutter! Die Aehnlichkeit machte einen solchen Eindruck
auf ihn, sagte er, daß er am liebsten bei der Alten wohnen möchte. Diese machte an¬
fangs Einwendungen; sie hatte nie einen Miethsmann gehabt; sie brauchte es nicht;
sie glaubte nicht ihm genug bieten zu können, aber wenn er zufrieden sein wollte mit
dem, was er finde, so könnte er acht Tage da bleiben. Field zog zu der Alten, und
hatte bald ganz ihre Gunst gewonnen. Er plauderte mit ihr über die Stadtncuigkciten,
erzählte ihr drollige Geschichten und gewann ihr Herz ganz, als er, wie er für die
Nacht Abschied nahm, gestand, er habe sich seit Jahren nicht so gemüthlich befun¬
den. Natürlich war die Alte neugierig, zu erfahren, wer und was ihr Miethsmann
sei, und er erzählte es ihr ohne allen Anstand. Er hatte Unglück in seiner Familie gehabt,
die ihm das Leben verbittert hatte und schuld an seinem gegenwärtigen leidenden Zu¬
stand war, sagte er ihr. Ach, sie konnte für ihn fühlen; sie hatte selbst Familienun¬
glück gehabt. „Einer von unsrer Familie", rief sie aus, „ist der größte Schelm, den
es auf der Welt gibt." Diese Aeußerung mußte Field gleich weiter ausbeuten. Er
zeigte großen Appetit nach Thee, holte aus seinem Zimmer ein halbes Pfund des besten
Gunpowdcr, den er als vorsichtiger Mann aus London mitgebracht, bat sie, ihm Thee
zu bereiten, und hoffte, sie werde mittrinken. Die Einladung wurde mit Freuden an¬
genommen, und mit den Theeblättern öffnete sich das Herz der Alten; es that ihr
wohl, ihre Leiden einem zu erzählen, der selbst soviel ausgestanden hatte. „Dieser
Schuft", sagte sie, „hat seinen Vater halb zu Grunde gerichtet, seinen Verwandten
Schande gemacht, einen falschen Namen angenommen, und beständig schlechte Streiche
gemacht." Der kranke Gast, der- Genesung in der Luft von Wiltshire suchte,, bekam
jetzt plötzlich Bauchweh; er litt oft an demselben, und führte daher immer ein Flüsch-
chen Gin bei sich. Ob sie so gut sein wollte, Wasser heiß zu machen? Ob sie das
stärkende Getränk für ihn mischen wollte? Ob sie ein Tröpfchen zur Gesellschaft mit¬
trinken wollte, wie es seine Mutter gethan? Der Grog blieb natürlich nicht ohne
seine Wirkung, und wie die Gesprächigkeit der Alten zunahm, wurde Tom Provis ein
immer größerer Lump. Was, sie hatte gehört, daß er wegen Pferdediebstahl gesessen
hatte. Er hatte auch die Tante eines gewissen Ingram geheirathet, und sich sehr schlecht
gegen sie benommen; aber wer Ingram war, und wo er wohnte, davon hatte sie keine
Ahnung. Auf diese Weise schwatzte die Alte fort, bis es zehn Uhr schlug, und sie mit
manchem „Mein Gott, wie spät!" zu Bett ging. Am nächsten Morgen empfing Field
Briefe, die ihn abrieft», und mit Bedauern schied er von Warminster, dessen gesunde
Luft er nur wenige Tage hatte genießen können. Es galt jetzt, Ingram aufzufinden.
Field begab sich nach London und ließ von mehren Personen die Jngrams in der Haupt¬
stadt und in der Provinz auskundschaften, aber anfangs ohne Erfolg. Nun kehrte er
nach Warminster zurück, hörte dort, daß Ingram etwas bei einem Gefängniß in So¬
merset sein müßte; er eilte nach Taunton, hörte hier, daß ein Ingram beim Gras¬
schaftsgefängniß in Bath angestellt war. und faud in diesem den Mann, den er suchte.
Von Ingram erfuhr er viel mehr von Tom Provis, und Bath wurde jetzt der Mittel¬
punkt seiner Operationen. Während Field hier seine Nachforschungen fortsetzte, suchte
Ingram eine Gelegenheit, Sir Richard, der damals bei Ciiston wohnte, zu sehen; es
fand eine gegenseitige Erkennungsscene statt, und Ingram erhielt von dem Baronet
eine Einladung zum Thee. Einige Tage später aber kam Sir Richard zu Ingram
mit der Bitte, von ihm nichts zu erzähle», im Fall man sich nach ihm erkundigen
sollte. Mittlerweile hatte Field herausbekomme», daß Provis im Beisein von Jngrams
Vater in der Se. Michaelskirche unter seinem eignen Namen getraut worden, und daß
er eine Schule gehabt. Er suchte nun andere Personen auf, die Provis gekannt haben,
und entdeckte einen Schullehrer, einen Schüler und einige andere Personen, die schone
Geschichten von dem angebliche» Baronet erzählten. In, Jahr war Provis wegen
eines unnennbaren Attentats aus eine» seiner Schüler angeklagt worden, und der Unter¬
suchungsrichter hatte ih» gegen Bürgschaft vor die Assisen verwiese»; Provis hatte sich
aber aus dem Staube gemacht, und seine Bürgen bezahlen lassen. Beweise wurden
sofort für diese Geschichte» gesucht, und fanden sich uuter den Acten in der Richterstube
in der Guildhall vor, wo sie feit 40 Jahre» unter dem Staube begraben lagen. Jetzt
hatte Field genug entdeckt, denn gegen eine solche Kette von Beweisen konnte Sir R.
Sino,ess Erzählung von seiner Erziehung unter falschem Namen, seinen langen Aufent¬
halt aus dem Continent u. f. w. natürlich nicht Stich halten. Der Betrüger wurde
mit Glanz entlarvt und sitzt jetzt im Corrcctionshaus. Bei der Verhandlung der Assisen
kam no.es etwas vor, was den großen Nutzen der ausgedehntesten Oeffentlichkeit der Ge¬
richtsverhandlungen klar zeigt. Zwei Hauptstützen der Fabel des falschen Baroncts
Ware» el» altes Familieiisiegcl und eine Familicnbibcl, die in seinem Besitz waren, und
deren Echtheit die Familie selbst nicht anzuzweifeln wagte. Diese waren aber am erste»
Tage der Verhandlungen vorgekommen, und am zweite» Tage erschiene» der Graveur,
der das Siegel auf Provis Bestellung angefertigt, und der Antiquar, bei den: er die
Bibel gekauft, freiwillig vor Gericht. Sie waren beide durch die Mittheilung des Pro¬
cesses in den Zeitungen aufmerksam geworden, denen man ans diese Weise zwei der
wichtigsten Glieder in der Kette der Beweisführung verdankte.
Wer Dickens neue» Roman Blcakhouse gelesen hat, wird eine Familienähnlichkeit
mit Field i» dem Inspector Buckel entdecken, der eine so wichtige Rolle in der tra¬
gischen Entwickelung der Geschichte spielt. Und in der That hat diesem gelungenen
Charakterbild Field als Vorbild gedient, dessen merkwürdige Lebensgeschichte, wie wir
vernehmen, gegenwärtig Dickens schreibt.
Die Lage ist ernst, vielleicht
ernster als jemals, darüber täuscht sich hier niemand. Kein Wunder, wenn die hiesige
Diplomatie seit acht Tagen, denn am 18. d. Mes. (Sonntag Abends) langte hier die
erste Kunde von der Annahme-Verweigerung Rußlands an, sich in aufgeregtester Stim¬
mung befindet. Täglich wechseln Konferenzen der Gesandten der Großmächte unter¬
einander mit Unterredungen, die sie mit dem auswärtigen Minister — Neschid-Pascha-7-
habe», ab. Man sieht sich kaum noch anders, als in Geschäften. Und dennoch hatten
soeben erst jene kleinen, aber glänzenden Abendgesellschaften begonnen, mit denen die
Saison von Bujukdere zu schließen pflegt. Die letzte dieser geselligen Zusammenkünfte
war am Mittwoch beim preußischen Gesandten in dessen Landwohnung zu Arnaud-Koje.
Fragen Sie mich, was man in dieser neuesten Wendung der Dinge zu erkennen
hat. so ist meine Antwort: nichts Anderes, als einen eclatanten Sieg der russischen
Politik. Das Ganze sieht wie ein diplomatischer Fechtcrstreich aus, aber wohl ver¬
standen: wie ein äußerst geschickter. Man hatte wol nicht ohne Absicht die Herren
Kisseloff und Mayendorff, den einen zu Paris, den andern zu Wien, ans die cillercirg-
loseste Weise betheuern lassen, der Zar sei, ihres Wissens, mit seinen Anforderungen
nie weiter gegangen, als die modificirte Note der Pforte ihrerseits garantirt; es werde
darum — das sei kaum zweifelhaft — dieselbe ohne weiteres annehmen und der
Streit damit ausgeglichen sein. Ganz in demselben Sinne scheint ein Brief geschrieben
zu sein, den Herr von Brück vor vierzehn Tagen vom russischen Botschafter in Wien
empfing, und der von den letzten Tagen des August datirt ist. Herr von Mayendorff
trieb seine Maßnahmen zur absichtlichen Täuschung, aber noch weiter, indem er unter
dem 31. August an den Obergeneral der russischen Armee, Fürsten Gortschokoff zu
Bukarest einen für die Annahme der türkischen Modificationen zu Se. Petersburg
günstig lautenden Brief schrieb, den der Fürst — wol auf besondere Anweisung —
nicht zauderte, den daselbst residirenden Gcneralconsuln der Großmächte zu communi-
ciren. Während infolge dessen alle hiesigen Diplomaten des Vertrauens zu Rußland
und der Hoffnung auf eine nahe Befestigung des Friedens voll waren, erwies sich die
Psorte allein mißtrauisch und setzte ungenirt von dem Gerede um sie her, von stei¬
genden Bvrscncoursen und anderen Lappalien ihre Rüstungen fort. Sie nahm den
Aufruf zur Aushebung von 30,000 Mann neuer Nedis (den sie am 16. v. Mes.
erlassen), nicht zurück, ließ 13,i00 Mann Egypter nach Warna einschiffen und dirigirte
anderweitige 10.000 Mann nach dem Lager von Schumla. Das waren, wie sich
nunmehr herausgestellt und klar erwiesen hat, gerechte Vorsichtsmaßregeln. Ueberhaupt
kann man nicht in Abrede stellen, daß die Psorte in der gegenwärtigen Situation eine
Umsicht und Energie an den Tag legt, die in dem Maße niemand ihr zuvor zuge¬
traut hatte. Es war während einer lange Reihe von Jahren gleichsam als Axiom
der östlichen Politik angesehen, daß der Divan ein Sklave Rußlands oder Englands
sei und der Zar den besseren Theil erwähle, wenn er, anstatt unter Blutvergießen
seine Doppeladler an den Bosporus tragen zu lassen, den „türkischen Schattcnfürsien"
dort dulde und ihm durch einen Bukonieff oder Titoff (ü) seine Befehle vorschreiben
ließe —aber siehe da, eben dieser „Schattenfürst" ist jetzt selbstständig genug, um gewisse
Anforderungen Rußlands mit Entschiedenheit zurückzuweisen, ja selbst im Widerspruch
mit den Großmächten, die zu einer Nachgiebigkeit gerathen, welche Kaiser Nikolaus
acceptirt haben würde. Auch war es stehende Redensart geworden, daß die Pforte
nicht im Stande sei, einen Heercskörpcr von 150,000 Mann zu conceutnrcu — gegen¬
wärtig indeß hat sie in der Bulgarei allein über -100,000 Mann beisammen. Endlich
hielt man den Enthusiasmus sür den alten Glauben erstorben und er steht nichts
destoweniger im Begriff, wiederum in hohen Flammen aufzuschlagen.
Wenn man sich in diesen Punkten ohne Ausnahme täuschte, wird man sich auch
in Hinsicht auf den etwaigen Ausgang eines Krieges zwischen Nußland und der Türkei
täuschen können. Letztere ist noch nicht so schwach, ersteres nicht so übermächtig, als
daß ein solcher Kampf das russische Heer nothwendig nach Stambul führen müßte.
Mein Urtheil kommt dabei an und für sich wenig in Betracht, und ich würde es zurück¬
halten , wenn mein mehrjähriger Aufenthalt Hierselbst und meine Beobachtungen, die ich .
über die osmanische Armee anzustellen Gelegenheit hatte, mir nicht einige Berechtigung
gäben, es auszusprechen. Diese Armee ist nicht sür den Krieg im offenen Felde, und
wo die großen Manövrcs die Entscheidung geben, überhaupt nicht zu größeren taktischen
Evolutionen geeignet; ohne einen Feldherrn, der sich im Massenkampfe erprobt, ohne
Untcrbefehlshaber, die auch nur die Fähigkeit besäßen, einen taktischen Gedanken zu
erfassen, geschweige denn zweckentsprechend auszuführen, ohne Subalterne, durch welche
die Ordnung innerhalb der Truppenkörper selber garantirt wäre, darf kein Heer an
Erfolge in der freien Ebene denken. Bei einer, anderen Gelegenheit sprach ich es
bereits aus, daß die türkische Armee den Versuch, den Russen eine rangiren Schlacht zu
liefern, mit ihrer Zersprengung würde büßen müssen, und daß nur die Beigabe fremder
Truppen, ein starkes Mischungsverhältnis; mit französischer oder besser noch englischer In¬
fanterie, sie davor bewahren werde. Allein ganz andere und durchaus günstige Aus¬
sichten eröffnen sich für den Fall, wenn das osmanische Heer Position im starken vcr-
thcidigungssähigcn Berglande, also am Nordsnße des Balkans, bei Schumla, Warna
oder vor den Riffen der Bergkette selber nimmt. Alles kommt darum daraus an, daß
Omer Pascha, in dessen Händen, unumschränkt wie seit Bonapartes Zeiten vielleicht in
denen keines anderen Generals, der Oberbefehl über die türkische Waffeumacht ruht,
diese Wahrheit erkennt. Es ist ein tüchtiger, mit manchen Talenten ausgerüsteter Kops
und dabei ein Mann vo'n Charakter, von unbeugsamer und stahlfcster Willenskraft.
Allein die richtige Einsicht und das Vermögen, andere zum Gehorsam zu bestimmen,
was so wichtig in einem Falle sein würde, wo es darauf ankäme, den ins Feld ver¬
langenden türkischen Ungestüm zu bändigen und in einer abwartenden Stellung festzuhalten
wird bei ihm durch Eitelkeit und Ehrgeiz, durch eine stark vortretende egoistische Ruhm¬
sucht überboten. Er wäre sähig, so beurtheile ich ihn auf Grund persönlicher Be¬
kanntschaft, in einem Moment, wo die Leidenschaft, ihn übermannt, das Geschick des
Krieges aus einen einzigen Wurf zu setzen und es den Russen anheim zu stellen, ein
siegreiches Austerlitz auch in ihre Annalen einzutragen.
Vorgestern hatte der Großherr, was nur selten zu geschehen pflegt, den Minister¬
rath ins Palais von Tschcraghan berufen, wo er selber einer dreistündigen Sitzung (von
etwas vor 9 Uhr bis gegen 12 Uhr Vormittags) präsidirte. Bald daraus begab er
sich »ach seinem Kiosk (sprich Käschk) bei den süßen Gewässern. Wie es scheint, hat
er dort die Nacht zugebracht. Der Harem folgt ihm in solchen Fällen nicht nach.
Gestern Abend sah ich ihn mit großem Gefolge nach Tschcraghan zurückreiten. Er hing
ganz matt und schlaff, so schien es mindestens, aus dem arabischen Apfelschimmel. Wo
der Weg von dem Plateau, aus welchem der Reitplatz von Pera liegt, sich nach dem
kaiserlichen Palais niedersenkt, stieg der Monarch vom Pferde und »ahn in einer zwci-
spännigcn Galaequipage Platz, die seiner dort wartete. Die Zügel führte er selbst.
Je zwei Diener gingen rechts und links vom Wagcnschlagc. Während des Absteigens
besand sich das gesammte Gefolge ebenfalls zu Fuß, die Zügel in der Hand. Sie
stiegen erst wieder auf, als die Carrofse den Berg hinuntcrrollte.
Man redet hier viel von einer Conferenz, welche am vergangenen Freitag (den
22. d. Mes.) zwischen den Vertretern Frankreichs, Preußens und Oestreichs, wenn ich
nicht irre im Gesandtschaftsgebäude der letzteren Macht, stattfand. Die Aufforderung
dazu scheint von Herrn v. Brück, dem kaiserl. königl. Jntcrnuntins, ausgegangen zu
sein. Ob dieser den britischen Gesandten, Lord Stratford, absichtlich ausgeschlossen
oder letzterer die Einladung nicht angenommen hat, darüber vermochte ich nichts Zuver¬
lässiges in Erfahrung zu bringen. Nur soviel ist gewiß, daß Herr v. Brück an dem¬
selben Tage, und zwar ehe die besagte Conferenz stattfand, einen Courier aus Wien
mit Depeschen vom 17/18. September Nachts empfing. Dabei kann ich nicht umhin,
Sie miederholeutlich auf die Bedeutung Wiens als Hanptdurchgangspnnkt für die Ver¬
bindung Westeuropas mit dem Orient und insbesondere mit der hiesigen Capitale auf¬
merksam zu machen. Diese Bedeutung ist eine stetig zunehmende, seitdem auf der Donau
Schncllfahrtcn in Gang gebracht worden sind, und der elektrische Telegraph bis Semlin
in Wirksamkeit getreten ist. Letzterem hat man es zu verdanken, wenn man am ver¬
gangenen Sonntag vor acht Tagen (am 18. d. Mes.) Wiener Depeschen vom 13., am
21. dergleichen vom 16. in Stambul empfangen konnte.
Ni'-^M^/v
— Das höchst werthvolle Antiken- und Cnrivsitätencabi-
net von Peter Laven in Köln ist am i. October versteigert worden. —
Das Kunstblatt bespricht ein neues Unternehmen: „Die Geschichte des deutschen
Volks in 16 großen Bildern dargestellt von K. H. Hermann aus Dresden. Mit
erläuternden Text von R. Foß, nebst Vorwort von Dr. I. Stahl. Gotha, Perthes",
zwar lobend, aber doch so, daß man daraus sieht, die Massenhaftigkeit der Intentionen,
die neumodische Christianisirung der Form und die symbolisch- allegorische Behandlung
stimmen nicht recht mit dem überein, was man als eigentlichen Sinn der bildenden
Kunst zu betrachten gewohnt ist. Der Künstler ging nicht darauf aus, einzelne ergrei¬
fende Momente mit dramatischer Vollgewalt und im Fleisch und Blut geschichtlicher
Realität hervorzuheben und die Seele des Beschauers sympathisch hinzureißen. Er
dachte an die Zeiten, wo die Kunst sich gütig herbeiließ, kindlichen Geschlechtern Be¬
lehrung zu gewähren, und in diesem Sinn entwarf er in seiner Bilderschrift einen Com-
mentar zur Geschichte des deutschen Volks für das deutsche Volk." Diese „Güte" der
Kunst scheint doch für unsere Zeit nicht mehr recht zu'passen. —
Da das Programm des großen Musikfestes zu Karlsruhe (3. n. 6..
October) charakteristisch für die Schule der Zukunftsmusik ist, so theilen wir dasselbe,
hier mit. Außer der nennten Sinfonie von Beethoven, welche die Schule bekanntlich
als den Ausgangspunkt der moderne» Musik betrachtet, u S welche in keinem dieser
Tcndenzeoncertc fehlt, einem Violinconccrt desselben Meisters und einigen Soli für Ge¬
sang »ut Clavier, die nicht näher bezeichnet sind, enthält das Programm: von Wag¬
ner die Ouvertüre zum Tannhäuser und das Finale aus dem zweiten Act des Lohen-
grin; von Liszt einen Festgesang für Männerstimmen; von Berlioz den 1., 2. und 3.
Theil der Sinfonie zu Romeo und Julie; von Meyerbeer die Ouvertüre zum Struen-
see, und von Mendelssohn das Finale aus Lorcley und von Schumann die
Harald-Ouverture. —
Von dem „Wohlbekannten" ist das vierte Heft der „fliegenden Blätter für
Musik" erschienen (Leipzig, Baumgärtner), Es enthält nnter anderen eine Apologie für den
gesprochenen Dialog in der Oper, worin wir ihm wenigstens theilweise beipflichten, eine
Auseinandersetzung, daß Ottavio kein so Verlorner Posten im Don Juan ist, als mau
seit Hoffmann angenommen hat — jedenfalls ist man darin zu weit gegangen — »ut eine
Analyse Glucks, in der wir zu unserm Befremden eine ziemlich weitgehende Anerkennung
Wagners finden, von der wir wenigstens wünschten, daß sie näher motivirt wäre, d.h.
daß man genauer erführe, was der Wohlbekannte ein ihm billigt und was er mi߬
billigt. —
Im zweiten Gewandhausconcerte spielte das Orchester die Ouvertüre zum Sommer-
»achtstraum von Mendelssohn-Barihvldy und die dritte Sinfonie (ils >>ni) in fünf
Sätzen von Robert Schumann. Fräulein Ney' sang abermals 'und zwar el»c ^ii->
villes» von Stradella, die große Scene und Arie der Kunigunde aus Spohrs Faust
und drei Lieder mit Pianosortcbegleitung von Franz Schubert. AIS besonders gelun-
gene Leistung seitens der Sängerin ist die Spohrsche Arie hervorzuheben; richtiger mu'
Malischer Vortrag und vollständiges Durchdringen des Textes gingen Hand in Hand
und erzeugten so ein abgerundetes Ganzes, wie es nur selten gehört wird. Fräulein Ney
besitzt eine Kunst des Gesanges, die den strengsten Anforderungen Genüge zu leisten ver¬
mag. Ihr Ton bildet sich auf die natürlichste, freieste Weise, darum konnte er sich anch
zu dieser schönen, sinnlichen Kraft ausweite» und es liegt zu gleicher Zeit in dieser ein¬
fachen , vernünftigen Tonerzeugung die sicherste Garantie für eine lauge Dauer dieser
Stimme. Der Concertmeister Raimund Dreyschock spielte znerst Moliqucs Violinconccrt
in ^ et»- und sodann das ^»iluiUo (V alni) für Violine von L. van Beethoven mit
großer Fertigkeit und unter großem Beifall. —
, — Die beiden hervorragenden Stücke der Saison scheinen „Philipp
und Perez" von Gutzkow und „Macchiavelli" von Elise Schmidt (Dichterin von
„Ischarioth" und „Genius und Gesellschaft") zu werden, das erste von München und
Dresden, das zweite von Berlin aus. — Otto Noquette, der Dichter des „Wald¬
meister", hat ein sünsactiges Schauspiel, „das Reich der Träume" geschrieben. —
Also die Rachel siedelt sich nach Se. Petersburg über! Ob sie dort nichts weiter
sucht, als Erhöhung ihrer Einnahme? —
' Der erste Theil des „Deutschen Bnhnenwcscus" vom Director Franz v. Hol-
bein ist soeben erschienen. —
— Shakespeares Romeo und Ju¬
lie im englischen nach den besten Quellen berichtigten Text. Mit kritischen und erläu¬
ternden Anmerkungen von or. Hermann Ulrici. (Halle, Pfeffer.) — Diese Schrift
erscheint als erstes Bändchen einer Gesammtausgabe, die der Verfasser veranstalten wird,
sobald sich im Publicum die hinreichende Theilnahme dafür finden wird. „Schon längst",
sagt er in der Vorrede, „habe ich mich gewundert, daß trotz der Verchnmg Shakespeares
und des allgemein verbreiteten Studiums der englischen Sprache doch bisher noch keine
Ausgabe seiner Werke erschienen ist, die dem deutschen Leser gewidmet und zur Be¬
friedigung seiner besondern Bedürfnisse bestimmt wäre. Die englischen Ausgaben sind
theils sehr theuer, theils sehr unbequem, theils endlich gewähren sie nicht, was der
deutsche Leser grade braucht. Denn nicht nur wiederholen sie meist bei jeder einzelnen
zu erläuternden Stelle die ganze Reihe von verschiedenen Meinungen, die seit Rowe und
Theobald über sie vorgebracht wurden, so daß man sich durch eine Masse leeren Strohs
hindurcharbeiten muß, um das Körnlein Wahrheit zu finden, das darunter verborgen
ist, sondern sie lassen auch viele Stellen, die dem deutschen Leser ihrem Inhalt oder
Ausdruck nach Schwierigkeiten darbieten, gänzlich unberücksichtigt, sei es, weil die eng¬
lischen Herausgeber, die meist dem Gedanken des Dichters nicht tiefer nachgehen, die
Schwierigkeiten gar nicht merkten, oder weil sie dieselben für den englischen Leser nicht
als Schwierigkeiten erachteten, oder endlich weil sie sie nicht zu lösen wußten. . . .
Aber auch hinsichtlich der Kritik des Textes lassen die englischen Ausgaben manches zu
wünschen übrig, manches wenigstens, was die deutsche Wissenschaft der Kritik, deren
höhere Bildungsstufe die Engländer selbst bereitwillig anerkennen, zu fordern gewohnt
ist." — Herr Professor Ulrici, dessen langjährige und eindringende Studien über
Shakespeare allgemein bekannt sind, hat sich seit mehren Jahren mit den Vorberei¬
tungen zu einer Ausgabe beschäftigt, und der bekannte Fund Colliers hat ihn bestimmt,
damit jetzt heranzutreten. Er urtheilt von dem alten Corector, „daß er nicht nach
eigentlich authentischen Quellen, sondern nur nach den Aufführungen der Stücke, denen
er beizuwohnen vermochte, corrigirt hat, und daß er, wo ihn diese Beihilfe, was der
Natur der Sache nach häufig eintreten mußte, im Stiche ließ, nach subjektiven Grün¬
den mit bloßen Conjcctnren nachhals" —; ein Urtheil, dem wol die Mehrzahl der
Kritiker beipflichten werden. — Was nun die Anmerkungen betrifft, so müssen wir
erklären, daß Auswahl und Ausdehnung derselben im Verhältniß zu den Bedürfnissen
des deutschen Publicums allen Anforderungen, entsprechen. Herr Ulrici führt den Leser
soweit in die kritischen Studien ein, als es für das richtige Verständniß des Dichters
nothwendig ist, er verschont ihn aber mit allem kritischen Apparat. In einer kurzen,
aber vollkommen ausreichenden Einleitung gibt er die Quellen, die frühern Ausgaben
u. s. w. an. Was das kritische Urtheil betrifft, so pflichten wir in den meisten Punkten
dem Herausgeber bei; wir glauben wol, daß in manchen Stellen andere Kritiker zu
einem andern Resultat kommen werden, aber wir werden durch diese Ausgabe wenigstens
in den Stand gesetzt, uns eine eigne Ansicht zu bilden, denn das Material wird uns,
soweit es für diesen Zweck nothwendig ist, vollständig mitgetheilt. Wenn die Ausar¬
beitung der folgende» Theile in demselben Sinn fortgeht, so glauben wir dadurch die
beste Shakespeare-Ausgabe für Deutschland gewonnen zu haben. — In derselben Rich-
maudit hineingemischt, daß das Gepräge der Wahrheit schwindet. Das, ein vollkommen
tung führen wir an i den „Ergänzungsband zu allen englischen Ausgaben und zur Schlegcl-
Ticckschen Übersetzung von Shakespeares dramatischen Werken. Enthaltend die von
I. Payne Collier in einem alten Exemplare der Folio-Ausgabe von -I63A gesun-
denen und herausgegebenen handschriftlichen Bemerkungen und Textveränderungen, in
übersichtlich vergleichender Zusammenstellung bearbeitet und übersetzt von Dr, Julius
Frese. — Berlin, Franz Duncker. — „Mit der 3. Lieferung ist nun dieses Werk
vollendet. Der Versasser stellt in der Borrede die leitenden Gesichtspunkte zusammen;
er ist kein unbedingter Anhänger der Collierschen Verbesserungen, aber er verkennt nicht
die große Wichtigkeit seiner Entdeckung. Seine Polemik gegen Delius scheint uns sehr
richtig, namentlich hebt er den Punkt hervor, den wir auch besprochen haben: 329 Ver¬
besserungen jener alten Handschrift stimmen mit dem überein, was die Kritik seit Jahr¬
hunderten entdeckt hat. Da nun erwiesen ist, daß jene handschriftlichen Verbesserungen
aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts herrühren, so ist das wol der sicherste
Beweis, daß der alte Corrector sehr gute Quellen gehabt haben muß, und die sorg¬
fältigste Beachtung verdient. —
Die Shakespeareliteratur wächst zusehend. Indem wir das Obige niederschreiben,
kommt uns eine neue Sammlung zu Händen: „Sammlung englischer Schriftsteller mit
deutschen Anmerkungen, herausgegeben von Ludwig Herrig. Berlin, Enslin." —
Die bis jetzt erschienenen Bändchen enthalten Shakespeares Macbeth von L. Herrig,
Romeo von Henssi, Othello von Siepers und Browns Marino Falieri von Brocker-
loss. Da es sich glücklich trifft, daß auch ein Romeo darunter ist, so wird uns das
zu Vergleichungen mit der Ulricischcn Ausgabe Veranlassung geben. —
— Von John Taafc ist eine Geschichte
des Johanniterordens in i Bd. erschienen. — Jarcd Sparks hat eine Korrespon¬
denz der amerikanischen Revolution in i Bd. nach Originalmanuscripten gesammelt:
enthaltend die Briefe bedeutender Männer an General Washington von der Zeit seines
ersten Commando bis zum Ende seiner Präsidentur. — Eine Dame, Salima Bunbury,
hat Schilderungen aus dem schwedischen Leben, mit Abstechern nach Norwegen und
Dänemark, herausgegeben.— Von Throne Power sind Erinnerungen an einen drei¬
jährigen Aufenthalt in China erschienen, mit Wanderungen nach Spanien, Marokko,
Egypten, Indien und Australien. — Ueber die Türken erschienen eine Reihe von Mo¬
nographien, darunter zwei hervorragende von E. Crowe und Bayle Se. John. —
Oberst Churchill hat seinen zehnjährigen Aufenthalt am Libanon (3 Bde.) beschrieben,
mit einer ausführlichen Darlegung der Religion der Drusen. — Savonarola hat an
dem Pfarrer Matten einen neuen, begeisterten Biographen gefunden. —
^5^1"' ^» , !l> " -' "et . ^>>'i. !,^,s
— Der Irre von Se. James. Ans dem Neisetagebuch
eines Arztes. Vom Verfasser des JnselkvnigS (Philipp Galen), i Bd. Leipzig,
Kollmann. — Wirkliche Beobachtungen eines Arztes in einer Irrenanstalt würden zwar
kein sehr ästhetisches, aber doch ein lebhaftes psychologisches Interesse haben. Einzelne
praktische Beobachtungen scheinen hier in der That vorzuliegen, aber es ist soviel Ro-
gesunder und sogar geistreicher Mensch i Jahre — schreibe vier Jahre! hindurch in
einer gut organisirten, von drei tüchtigen Aerzten geleiteten und dem Publicum zu¬
gänglichen Irrenanstalt für wahnsinnig gehalten werden kann, ganz Iion» lib«, das ist
absolut unmöglich. Und in dem Gefühl dieser Unmöglichkeit gehn auch die zum Theil
nicht uninteressanter Beobachtungen für uns verlöre». —
Von der neuen Gesammtausgabe der Werke Andersens (Leipzig, Lorck) ist so¬
eben der 3. und i>. Band erschienen. Sie enthalten den Roman „Nur ein Geiger",
jene liebenswürdige Darstellung des dänischen Lebens, die Andersen nächst seinen Mär¬
chen am meisten in seiner Heimat populär gemacht hat, und „Des Dichters Bazar",
Reisebilder aus Deutschland, Italien, Griechenland und dem Orient. Bei allen Feh¬
lern, die man Andersen mit Recht vorwerfen kann, hat er doch eine Eigenschaft, die
ihn uns Deutschen immer werth machen wird, eine Eigenschaft, die wir gern für uns
in Anspruch nehmen, die wir aber bei unsern Schriftstellern nur sehr selten antreffen:
die Gemüthlichkeit. Und da kann man etwas übertriebene Selbstgefälligkeit schon hin¬
gehn lassen, um so mehr, da sie seine Freude an den Gegenständen und ein gutes, ge¬
sundes Ange nicht beeinträchtigt. —
Der Schalksknecht. Eine Berliner Stadtgcschichte von Friedrich Ebeling.
2 Bände. Leipzig, Merseburger. —>
Seitdem, Hebbel, Gutzkow und andere „kraft der Laute, die sie rühmlich schlagen",
ihr souveränes Mißfallen über den siechen und unehrerbietigem Tadel der Kritik ausge¬
sprochen haben, tritt ein Göttcrsohn nach dem andern ans, um die Ungläubigen, die
ihn nicht anbeten, in ihr Nichts zurückzuschleudern. Als ein solcher Göttersohn steht
uns in der Vorrede auch Hr. Ebeling gegenüber. Wir erinnern uns, daß dieser Herr
einmal ein Büchlein geschrieben hat, in welchem er die schmutzige Wäsche der literarischen
Persönlichkeiten öffentlich ausstellte. Wir erlaubten uns, das zu mißbilligen, weil wir
nicht glaubten, daß unsere Atmosphäre durch solche Ausstellungen verbessert würde.
Wir hatten nicht die entfernteste Ahnung davon, daß wir es mit einem „Dichter" zu
thun hatten; sonst hätten wir uns jedenfalls ehrerbietiger ausgedrückt, gewarnt wie wir
es waren, „die Göttlichen nicht zu schmähen!" In Deutschland wird mau bekanntlich
dadurch ein Dichter, daß man erklärt, man sei ein Dichter, und so sagen wir denn
auch zu Hrn. Ebeling, wie die Spartaner zu Alexander: weil er ein Gott sein will,
so sei er ein Gott! — Nachdem wir so unser Gewissen befriedigt und unsere Ehrer¬
bietung im allgemeinen an den Tag gelegt, bemerke» wir über die vorliegende „Berliner
Stadtgeschichte", daß sie in das Genre von Max Ring fällt, daß aber der Stil weni¬
ger gebildet ist, die erzählte» Geschichte» unwahrscheinlicher und die auftretende» Personen
widerlicher sind. Indessen begegnet man doch einzelnen treffende» Bemerkungen, z. B.
S. 3ä: „Man sehe nicht hochmüthig oder verächtlich ans die, welche fort und fort
Schulden contrahiren. Unsere moderne Versittigung bietet verzweifelte Lagen, die i»
gewisse» Lebensstellungen nur mittelst Anhäufung von negativem Vermöge» überwunden
werden können." —
Das kürzlich herausgegebene Werk des Herrn von Sybel: Geschichte der
Revolutionszeit von 1789 bis 179S (Band 1. 1863) gibt über die preußische
Politik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts um so anziehendere Aufschlüsse,
als der Verfasser für diesen Theil seines Buches eine äußerst reichhaltige Samm¬
lung von Briefen und Depeschen benutzt hat, welche zwischen 1790 und 1795
unter mehren der hervorragendsten deutsche» Staatsmänner und Feldherren
gewechselt worden sind. Es befanden sich in dieser Sammlung vertraute Briefe
des Herzogs von Braunschweig, Briefe des General Möllendorf aus dem
preußischen, des Grafen Tauenzien ans dem östreichischen Hauptquartier, Berichte
des Gesandten Buchholz aus Warschau, Haugwitzs aus dem Haag, Hardenbergs
aus Basel und die beinahe vollständige Korrespondenz des Marquis von Lucche-
sini und des General von Manstein. Letztere ist um so wichtiger, als im Jahre
1793 der Mittelpunkt aller Unterhandlungen im preußische» Hauptquartier war,
und Manstein sowol das Militärische als das Politische und selbst das Civile
allein dirigirte.
An der Ostgrenze des deutschen Reiches im Kampfe für die deutsche
Nationalität und für die evangelische Lehre gegen das katholische Polen wurde
der preußische Staat geboren. Jahrhunderte laug hatte» Deutsche und Polen
um die weiten Ebene» zwischen Elbe und Weichsel gerungen. Endlich wurde nach
der Vernichtung des deutschen Ordens in Preußen Ostpreußen ein polnisches
Lehen, Westpreußen polnische Provinz. Aber beide Länder waren protestantisch
und deutsch geworden. Ostpreußen hatte der große Kurfürst von der polnischen
Lehensherrlichkeit befreit und zu einem selbstständigen Staate gemacht. Branden¬
burgs dringendste Aufgabe war fortan, auch Westpreußen von Polen zu befreien
und dadurch die Mark Brandenburg und das Herzogthum Ostpreußen zu einem
zusammenhängenden Staatsganzen zu vereinigen.
Die nach außen gesicherte Staatseinheit arbeitete der große Kurfürst,
der Begründer der preußischen Souveränetät, auch im Jnnern durch. Er
und seine Nachfolger ordneten Sonderinteressen, confessionelle Spaltungen und
Standesvorrechte dem Gedeihen des Gemeinwesens unter. Dies war aber nur
durch eine strenge, absolute Monarchie möglich; denn die Stände zeigten der
Einheit des Staates sich feindselig und abgeneigt, und die Masse des Volks hatte
uoch kein politisches Bewußtsein.
Im Innern erstarkt, begann der junge Staat sofort die großen Interessen
der deutschen Nation, in denen er wurzelte, im Reiche wie gegen das übrige
Europa zu vertreten. Wie der große Kurfürst den deutschen Osten von Polen
befreit hatte, so unterstützte er den deutschen Westen und Holland gegen den
Zwingherrn des damaligen Europas, gegen Ludwig XIV. Nicht anders verhielten
sich seine Nachfolger. Bei Friedrich Wilhelm I. gingen die Selbstständigkeit
Preußens und die Erfüllung der Pflichten gegen das deutsche Reich Hand in
Hand. Friedrich II. verband das Streben nach eigener Vergrößerung mit dem
Plane einer deutsche« Regeneration. Sein Bündniß mit Kaiser Karl VII. beruhte
auf dem Gedanken, die alte morsche Reichsverfassung durch einen lebensfähigen
Staatenbund zu ersetzen. Im Kriege gegen Franz I. vereinigte er die kräftigen
Staaten Norddeutschlands zu einem militärischen Bündniß; endlich gründete er
den deutschen Fürstenbund, der alle deutscheu Lande modernen Bestandes umfaßte.
Persönlicher und preußischer Ehrgeiz wirkte bei ihm zusammen mit deutschem
Gemeinstnn und Patriotismus. Beider Interessen aber durchdrängen sich im
preußischen Staat, während sie in Oestreich sich widersprachen; dieser Umstand
grade entschied über Preußens Aufgabe und Dentschlands Zukunft.
Unter Friedrich II. erfolgte die endliche Befreiung Westpreußens von der
polnischen Herrschaft. Friedrich willigte in die erste polnische Theilung, weil, er
in ihr das einzige Mittel sah, einen europäischen Krieg auf deutschen Schlacht¬
feldern zu hindern und Rußland und Oestreich, welche sonst über türkische Händel
unfehlbar sich selbst bekämpft hätten, anf fremde Kosten abzufinden. Ueberdies
war die Republik Polen durch ihre Anarchie ein gefährlicher Nachbar. Jede der
innern Factionen wendete sich an eine auswärtige Macht, immer überwältigender
aber setzte sich der russische Einfluß und bald die russische Miliärgewalt dort fest,
und im ganzen siebenjährigen Krieg war der angeblich neutrale Boden der Republik
das Hauptquartier und die Operationsbasis der russische» Heere gegen Deutsch¬
land. Schlesien, Brandenburg, Ostpreußen, alles deutsche Laud zwischen Niemen
und Weichsel, zwischen Oder und Elbe waren dadurch gleich sehr gefährdet. Die
Sicherheit Deutschlands nud Preußens erforderte daher die Besetzung der niedern
Weichsel und Westpreußens.
Friedrich Wilhelm II. war nicht gesonnen, einen Fingerbreit aus der Stellung
seines großen Oheims zu weichen. Als -1788 Nußland und Oestreich eng ver¬
bündet zur Theilung des türkischen Reiches sich erhoben, schloß Preußen
einerseits mit England, das die Erhaltung der Türkei schon damals als einen der
ersten Grundsätze seiner Politik betrachtete, andererseits mit Holland ein Bündniß
das den beiden Kaiserhöfen namentlich in der türkischen Frage entschieden ent¬
gegentrat. In Polen rief der preußische Gesandte die patriotische Partei gegen
Nußland auf, in Belgien unterstützte Preußen den Aufstand gegen Joseph II.,
und ein Ausschuß der ungarischen Opposition kam Nach Berlin herüber; es war
die Rede davon, daß der Reichstag die Rechte des Königreichs Ungarn förmlich
unter preußische Gewährleistung stellen wollte.
z Indessen starb Joseph II. bereits 1790. — Leopold II. verzichtete zwar ans
die großen Eroberungsplaue seines Bruders, verlangte aber doch eine Entschädigung
für die im Türkenkrieg aufgewendeten Kosten. Hierbei fand er einen Hauptgegner
in dem preußischen Minister Herzberg. Herzberg, der Schüler Friedrichs II.,
hatte keine Frende und kein Gewissen, als die Sorge um Beförderung der
preußischen Interessen. Er lebte und webte in dem Vorwärtsschreiten Preußens
und verstand es, ganz Europa für seine Plane in Bewegung zu setzen. Er
wünschte Polen und der Pforte Vertrauen zu Preußen einzuflößen und sie dadurch
gegen die Kaiserhofe standhaft zu erhalten; in diesem Sinne kam er ihnen eifrig
entgegen, belebte die Kriegslust der Türken und begünstigte einige Aenderungen
in der polnischen Verfassung, die ebensoviel Schläge für den russischen Einfluß
waren, seine Absicht war, den an der Donau siegreichen Kaiserhöfen zwar einen Theil
ihrer Beute zu lassen, hierfür aber von beiden entsprechende Vortheile für Preußen zu
gewinnen, und zwar beanspruchte er Danzig und Thorn und einen Theil
schwedisch-Pommerns. Allein Leopold II. wollte lieber auf jede Erwerbung an
der Donau verzichten, als Preußen an der Ostsee sich stärken lassen, und es
gelang ihm durch persönliche Einwirkung auf den leicht bestimmbaren König die
Bestrebungen Herzbergs zu paralysiren. Ueberdies erklärten sich die Seemächte,
deren Handelsinteressen es zuwiderlief, den Preußen Danzig zu verschaffen, gegen
die Pläne Herzbergs. Unter diesen Umständen ließ der König von Preußen
seine Ansprüche auf Danzig fallen und ertheilte Herzberg den gemessenen Befehl,
bei Abschließung des Friedens ans strenge Erhaltung des Besitzstandes zu bestehen.
So kam der Neichenbacher Vertrag zu Stande.
In Berlin war darauf großer Jubel über die Abwendung der Kriegsgefahr.
Namentlich freuten sich die französischen Emigranten, für sie war es eine Lebens¬
frage, daß Oestreich und Preußen sich nicht untereinander befehdeten und gemein¬
schaftlich in Frankreich intervenirten. Der König zeigte sich geneigt, einen
Ritterzug zu Ehren des monarchischen Princips gegen das revolutionäre Paris
zu unternehmen, und sein Günstling, der Oberst Bischofswerder, der eifrig dem
östreichischen Frieden das Wort geredet, wußte das menschliche Mitgefühl des
Königs für die Emigranten vortrefflich für sein politisches System zu benutzen
Ein östreichisch-preußisches Bündniß erschien als eine große conservative Maßregel.
Der amerikanische Gesandte aber in Paris, Morris, schrieb damals seiner
Regierung: „Preußen ist, obwol es die Bedingungen des Reichenbacher Vertrages
dictirt hat, vollständig hinter das Licht geführt worden." Sofort sank in der
That nach allen Seiten das Ansehn Preußens, während der Einfluß Leopolds stieg.
Sachsen trat aus der preußischen Führung heraus und suchte sein altes Stich¬
wort vollkommener Neutralität hervor. Da hierdurch bei der Wahl Leopolds
zum Kaiser Brandenburg, Hannover und Mainz gegen die übrigen östreichisch
gesinnten Kurfürsten in die Minderheit kamen, so fielen alle Anträge ans
Verbesserung der Wahlcapitulation. Leopold setzte seine Anerkennung in Ungarn
durch und Belgien kam ohne Schwertstreich unter die östreichische Herrschaft zurück.
Preußen hatte die durchaus gerechte Sache der Lütticher gegen ihren Bischof
officiell und nachdrücklich unterstützt; jetzt rückten östreichische Regimenter ein und
warfen, ohne Rücksicht auf Preußens Proteste, die Opposition mit allen Mitteln
des Kriegszustandes nieder. Ungarn, Belgier und Lütticher beschuldigten Preußen
des Verrathes und die Polen sahen es über die Achsel an.
Indessen zögerte Leopold absichtlich den Frieden mit der Türkei abzuschließen.
Die Waffen des ihm verbündeten Rußlands hatten zu Lande und zu Wasser
glänzenden Fortgang und die Kaiserin Katharina wollte für sich von keinem
Frieden ohne Eroberungen wissen und lehnte alle Zumuthungen der drei ver¬
bündeten Mächte, England, Preußen und Holland, mit breitem Hochmuth ab.
Leopold erklärte, der in Reichenbach verabredete StatnSquo beziehe sich nicht blos
auf die Landesgrenzen, sondern auch auf andere Rechtsverhältnisse; so forderte
er die Erneuerung früherer Handelsprivilegien für die östreichische Schiffahrt im
schwarzen Meer. Unter diesen Umständen machte die Pforte von dem Bündniß
Gebrauch, das sie mit Preußen abgeschlossen hatte, und wandte sich Um Hilfe
nach Berlin. Der preußische Hof trat deshalb in Vernehmen mit dem englischen
und holländischen; die drei Mächte waren keinen Augenblick zweifelhaft, ihren
Verträgen nachzukommen und die Pforte zunächst gegen Rußland durch alle
Mittel zu schützen. In den englischen Kriegshafen wie in den ostpreußischen
Garnisonen verdoppelten sich die Rüstungen.
Unter diesen Umständen war der Einfluß des Obersten Bischosswerder aus
den König Friedrich Wilhelm II. entscheidend. Bischosswerder wünschte die
preußische Macht zur Herstellung' Ludwigs XVI. zu verwenden und wollte deshalb
Frieden mit Oestreich. Es war ihm widerwärtig, daß Preußen bis dahin alle
Rebellen, wie ihm Lütticher, Belgier und Ungarn erschienen, unterstützt hatte,
es dünkte ihm gleichgiltig, ob Preußens nationale Ehre und Förderung ein wenig
leide, wenn nnr ein Einverständnis; aller Kronen gegen alle Auflehnung erzielt
werde. Als er sich in Wien befand, um die Spannung mit Oestreich auszugleichen,
erklärte ihm der Kaiser Leopold, er sehe keine Möglichkeit, mit Preußen zusammen¬
zugehen, solange ein so entschiedener Feind Oestreichs, wie Graf Herzberg dort
an der Spitze des Cabinets "ehe. „Ich habe meinen Kaunitz, sagte er, Preußen
seinen Herzberg, man muß beide voneinander entfernen." Bischvfswerder fand
hierin ein erwünschtes Mittel, sich des längst unbequemer Nebenbuhlers zu ent¬
ledigen. Ueberdies hatte Herzberg durch Rechthaberei und Selbstgefälligkeit den
König mehrfach verletzt. Am 1. Mai -1791 erhielt er zwei neue College«,
die Herren von Alvensleben und Schulenburg, die zu seinen Nachfolgern bestimmt
waren.
Dazu kam, daß sich in England die Kriegslust gegen Rußland ganz plötzlich
abkühlte. Der Ostseehaudel war für London damals überaus einträglich und erhob
den lautesten Einspruch gegen seine Gefährdung dnrch einen russischen Krieg.
Das Ministerium wich vor der Geldmacht der City und knüpfte Vermittelungs¬
unterhandlungen mit Nußland an. So sah sich Preußen, Rußland gegenüber,
von England verlassen. Oestreich bot auf der eine» Seite, wenn Preußen sich
geschmeidig zeige, die Mitwirkung zu dem französischen Ritterzüge. . Ans der
andern Seite hatte Preußen, wenn es eigensinnig auf dem Neichenbachcr Vertrag
beharrte, die ungarischen Kräfte verfügbar, die ganze polnische Position einge¬
nommen und wahrscheinlich anch Sachsen auf seiner Seite. Unter diesen Ver¬
hältnissen entschloß sich der König zum zweiten Male zur Nachgiebigkeit. Er
unterstützte die englischen Vorschläge in Petersburg, welche im wesentlichen
Rußland im Besitz von Bizacvw und dem Bezirke zwischen Dniester und Bog
beließen. Die östreichischen Forderungen wurden ohne Vorbehalt erfüllt und ans
die Erwähnung des alten, wie ans die Erfüllung des neuen Vertrages verzichtet.
Preußen unternahm es selbst, in Konstantinopel für die Wünsche des Kaisers
zu wirken. Herzberg wurde zwar noch uicht entlassen, aber die wichtigeren
Depeschen wurden ihm nicht mehr vorgelegt. Der sofortige Friede schien
gesichert.
Allein Oestreich trat um mit neuen Forderungen hervor; es verlangte von
der Pforte Alterhora und ein Stück von Kroatien bis an den Unnafluß, und als
die Türken diese neue Zumuthung zurückwiesen, verließen die östreichischen Ge¬
sandten am 18. Juni den Friedenscongreß zu Sistowa. Die Nachricht von
diesem Verfahren Oestreichs rief in Berlin eine gewaltige Aufregung hervor.
Der König rüstete stark und übertrug dem Herzog von Biaunschweig, der längst
mit innerlichen Verdruß das Emporsteigen Oestreichs über Preußen verfolgt
hatte, die Entwerfung eines Operativnsplans gegen Oestreich.
In diesem Momente traf die Nachricht von der Flucht und Gefangenschaft
Ludwigs XVI. ein. Bei dem zerrütteten Zustande Frankreichs hatte eine energisch
gelenkte Armee von 100 oder 130,000 Mann ungehindert bis Paris vordringen
können. Aber Kaiser Leopold, der Bruder Marie Antoinettens, rührte sich nicht,
er machte das Zusammenwirken aller europäischen Mächte zur ersten Bedingung
auch seiner Thätigkeit. Der Grund lag in der türkisch-preußischen Verwickelung.
Leopold konnte nicht daran denken, sich in neue Weiterungen zu stürzen, wenn
Preußen nicht einen gleichen Theil der Lasten und Gefahren übernahm. Aber
die »enen Forderungen Oestreichs in der Türkeusrage hinderten ein solches
Zusammenwirke». Mit einiger Energie hätte Preußen ohne Zweifel alles durch¬
setze» könne». Allen, es entschloß sich zum dritten Mal in diesem Jahr einen
Schritt zurnckznthnn. Am S. Juli schied Herzberg aus dem Ministerium.
Bischofswerder und seiue Freunde siegten. Man unterließ nicht blos den Krieg
gegen Oestreich, man räumte nicht blos die türkischen Forderungen desselben ein,
sondern man wechselte das ganze politische System und suchte das Heil der
Monarchie in einem engen Anschluß an Oestreich. Der Wunsch, gegen die
Revolution in das Feld zu ziehen, trug es über alle andern Rücksichten davon.
Die alten Pläne der Tripleallianz und selbst die bescheidene Stellung von Reichen¬
bach gab man vollständig auf.
Wie stand es mit dem einzigen Gegenwunsch Preußens, mit der conservativen
Dazwischeukniift in Frankreich? Leopolds System war, durch umfangreiche
Drohungen die französischen Parteien möglichst einzuschüchtern, aber ganz gewiß
keinen Krieg zu beginnen. Hätte der NevolutionSkrieg auf Kaiser Leopold warten
müssen, er wäre bis zum heutigen Tage nicht begonnen. Es war dies mehr eine
schlaue, als eine weise Politik. Leopold übersah die unermeßliche Angriffslust
und Augriffskraft der Revolution. Er verschloß sich der Ansicht, daß, wenn die
Mächte das Schwert in der Scheide behielten, die französischen Demokraten den
Kampf eröffnen würden. Friedrich Wilhelm II. war bei weitem nicht so klug »ut
politisch gebildet, wie der Kaiser; aber in der Hauptfrage, Krieg oder Frieden,
traf es sein Gefühl richtiger, als aller Scharfsinn Leopolds.
Aber Leopold fürchtete mit einem Bundesgenossen wie Preußen einen Krieg
gegen Frankreich zu beginnen. Er wußte, wie sehr in Berlin die östreichische
und die Fridericianische Partei sich die Wage hielten, wie leicht letztere die Ober¬
hand gewinnen konnte, wie insbesondere Preußen nach der Nothwendigkeit der
Dinge sein Verlangen nach Danzig und Thorn nimmermehr aufgeben würde.
Er erkannte, daß uuter solchen Umständen die lothringische Politik, Deutschland
durch die militärischen Kräfte des östreichischen Gesammtstaates zu beherrschen un¬
möglich war, daß Preußen nicht auf die Dauer seine Zukunft einem sogenannten
conservativen System aufopfern würde. Es gab für ihn nnr eine Wahl: Ver¬
zicht auf die lothringische Hauspolitik oder Frieden in Westeuropa. Er wählt?
den letzteren. -
Die Kaisern Katharina von Rußland dagegen nahm sich nach dem Türken¬
frieden der Sache der Emigranten mit dem größten Eifer an. Im Bunde mit
dem ritterlichen König Gustav von Schweden bestürmte sie den Kaiser Leopold,
sich an die Spitze der gemeinsame» Sache zu stellen. Hierin gingen preußische
und russische Wünsche Hand in Hand. Leopold aber war zum französischen Krieg
umsoweniger geneigt, als derselbe seine mühsam wiedererrnngenen belgischen
Provinzen sofort ans das Spiel setzte. Zu Pillnitz unterzeichnete er mit dem
Könige Friedrich Wilhelm nnr eine Erklärung, welche in allgemeinen Ausdrücken
den bedrohten deutschen Grenzlanden Hilfe zusagte: sie verlor aber ihre Spitze
völlig durch die bestimmt betonte Voraussetzung, daß mau alle europäischen Mächte
zur Mitwirkung einladen, und „dann und in diesem Falle" ernstlich zu Werke
gehen wolle. Leopold schrieb an demselben Tage dem Fürsten Kaunitz, er habe
sich durchaus im allgemeinen und von jeder bindenden Zusicherung fern gehalten.
Einige näher präcisirte Artikel, welche der in Pillnitz anwesende Graf Artois
mitgebracht hatte, blieben uuunterzeichnet aus dem Tische liegen. Sowenig be¬
gründet ist die so oft wiederholte Ansicht, daß in Pillnitz die erste Kreditive zum
Angriff auf die französische Revolution beschlossen worden sei. Der Versuch der
nordischen Mächte und der Emigranten, Leopold zu sich hinüberzuziehen, mißglückte
vollständig. Nachdem Ludwig XVI. am 16. September die neue Verfassung an¬
genommen hatte, erklärte Leopold hiermit die französische Frage für erledigt. Der
König von Preußen dagegen, hiermit durchaus nicht einverstanden, wendete sich
an Ludwig selbst, bot ihm bedeutende Geldunterstützung an und erklärte sich bereit,
persönlich sein Heer gegen die Jakobiner zu führen. Ludwig, der Leopolds
Politik aus innerster Ueberzeugung billigte, ließ dies Schreiben geraume Zeit
ohne Antwort, und so kam i» Berlin ganz natürlich alles in Aufschub.
Indessen erklärte die Nationalversammlung in Paris am is. Januar sich
für den Krieg. Die Feuillants wurden gestürzt und die Gironde bildete das neue
Cabinet. Deutschland rüstete sich: am Rhein langten die Colonnen des preußi¬
schen Heeres an. König Friedrich Wilhelm II. sah in dem Abschluß des Februar-
Vertrags mit Oestreich gegen Frankreich den feurigsten seiner Wünsche erfüllt.
Die Bändigung der Revolution schien ihm zugleich ein wahrhaft fürstlicher Beruf
und ein erfrischender Wechsel in dem ewigen Einerlei. Er war entschlossen, per¬
sönlich sein Heer zu begleiten; „und wenn mir tausend Teufel in den Weg treten,
ich marschire doch," erklärte er einem Emigranten. Gleichwol war eine große
und mächtige Partei an seinem Hofe gegen den Krieg. Diese Partei war nicht
im Stande gewesen, dem König aus der langjährigen Opposition gegen Oestreich
in das östreichische Lager zu folgen. Ihr Vertreter war der augenblicklich etwas
zurückgesetzte Prinz Heinrich, in dem Friedrichs des Großen Ruhm fortlebte;
zu ihr gehörten fast alle höheren und älteren Offiziere der Armee, namentlich der
Feldherr selbst, der im Revolutionskriege den Oberbefehl führen sollte, der Herzog
Ferdinand von Braunschweig, damals unbestritten das erste kriegerische Talent
in Europa. Er war aber zugleich ein eifriger Theilnehmer und Beschützer jeder
geistigen Bildung und ein äußerst thätiger und bürgerlich einfacher Verwalter.
Er hatte seinen Staat mit einer Schuldenlast von 7 Millionen Thalern übernom¬
men und 4 davon in 11 Jahren getilgt. 1790 erließ «r seinem Volke alle
außerordentlichen Steuern. Er war vielleicht damals der populärste Fürst im
deutschen Reiche. Aber Stärke des Willens und Muth der Seele gingen ihm
ab. Er vermochte es nicht, dnrchzugreifen; „die Gewalt der Dinge," sagte er,
„ist stärker als ich selbst." (Lelg, est plus kort eine. mol.) Er paßte nicht zu der,
damaligen Weise des Berliner Hofes.
Seit dem Tode Friedrich des Großen hatte der preußische Staat sein mon¬
archisches Gepräge, die persönliche und stetige Einwirkung des Herrschers verlo¬
ren. Friedrich Wilhelm II. arbeitete weder gern, noch viel, und gab augenblick¬
lichen Stimmungen und Aufregungen nach. Die Parteien des Hofes gewannen
Einfluß auf die Geschäfte, die Beschlüsse waren nicht mehr die Schöpfung eines
lenkenden Willens, sondern die Summe entgegengesetzter Einflüsse auf das Ge¬
müth des Herrschers: Schwanken und Verwirrung griff um sich. „Wie aufsal-
land," klagte Graf Götz -1791, „ist der Unterschied des unsichern und combinir-
ten Ganges unserer Politik gegen das feste, bestimmte und nachdrückliche Beneh¬
men, wodurch Preußen sich vordem bei allen Mächten in Ansehen und Achtung
gesetzt hat." Im Innern verschwand die Sonderung der Geschäftskreise. Die
Offiziere mischten sich in kirchliche Dinge und die Theologen in die Politik; die
Diplomaten hofmeisterten die Feldherren und die Generale redeten in die aus¬
wärtigen Angelegenheiten ein. Man erhielt eine frömmelnde Verwaltung, eine
büreaukratische Kirche, eine politisircude Armee. Kraft der Regierung, Sorge
für das Gesammtwohl, freie Geistesbildung, nationale Politik ginge» verloren.
Die Quelle des Uebels lag in dem Mißverhältniß zwischen dem Princip der
Verfassung und dem Charakter des Königs. Dieser Militärstaat mußte einen
gebornen Feldherrn zu seinem Haupte haben: Friedrich Wilhelm II. aber hatte
keine Festigkeit; er konnte sich selbst nicht beherrschen, und der Staat, den er
allein regieren sollte, zerfiel.
Auf diesem schwankenden Boden bewegte sich nun der Herzog von Braun¬
schweig nicht blos als General, sondern als Parteihaupt. Der französische Krieg
war ihm verhaßt. Er fürchtete das Schlimmste, wenn man selbst in den revolu¬
tionären Krater hineinschritte. Er haßte überdies die Emigranten und die Oestrei¬
cher mit gleicher Stärke. Beide waren ihm die Vertreter aller mittelalterlichen
Mißbräuche, die in Frankreich die Revolution heraufbeschworen hatten und in
Deutschland alles Gedeihen erschwerten. Von einem französischen Kriege erwartete
er nichts als Unheil für die Monarchie Friedrichs 11.: Unheil, wenn man von
der gereizten Revolution geschlagen würde, Unheil, wenn man dnrch seine Siege
die Macht des lothringischen Erbfeindes verdoppelte. Dennoch nahm er den
Auftrag des Königs an, den Feldzugsplan zu entwerfen.
Was das bekannte Manifest des Herzogs von Braunschweig betrifft, so ist
die Entstehungsgeschichte desselben folgende.
Mallet du Pan unterhandelte vom 19. bis AI. Juli zu Mainz als Abge-
sandter Ludwigs XVl. mit dem östreichischen und preußischen Minister, den Grafen
Kobenzl und Haugwitz. Er betrieb auf das dringendste den Erlaß eines Mani¬
festes, durch welches der Charakter des Krieges dem französischen Volke feierlich
bezeichnet wurde. Er forderte kräftige Drohungen gegen die Jakobiner und
beruhigende Zusicherungen für die friedfertige Bevölkerung. Er war einverstanden
mit den beiden Ministern, daß der Krieg einmal keine deutsche Eroberung, sodann
aber, daß er nicht die Herstellung des Feudalstaats beabsichtige. Leider aber war
von dem letzten Punkte in dem Manifest nicht die Rede. Ueberdies fielen Mal-
lets Plane in die Hand eines eifrigen Emigranten, des Marquis Linon, der
statt gegen den Feudalstaat einen Zusatz zu macheu, alle Drohungen des Mani¬
festes nnr maßlos steigerte, so daß der Mangel jeglicher Würde nicht einschüchtern,
sondern nur erbittern konnte. Der Herzog von Braunschweig hatte nicht die
Kraft, seine Bedenken hiergegen dem Willen der Monarchen entgegenzusetzen: er
unterzeichnete das Manifest am 26. Juli. Es machte ans die französische Bevöl¬
kerung sast gar keinen Eindruck; aber grade daß es so spurlos vorüberging, war
ein großes Mißgeschick.
Endlich erfolgte der Angriff der Preußen; er war aber um so schwächer, als
30,000 Maun Oestreicher ausblieben. Der Herzog von Braunschweig hatte
wenig Freude am Kriege; der Zug des Heeres ging die Mosel aufwärts im
Schneckengange; man brauchte 20 Tage von Koblenz bis zur französischen Grenze.
Bei Valmy äußerte sich entschiedene Uneinigkeit zwischen dem König Friedrich
Wilhelm und dem Herzog. Der König wollte stürmen und schlagen, der Herzog
aber wollte ein für allemal auf eine Schlacht sich nicht einlassen, da sie auch bei
günstigem Ausgang Blut gekostet hätte, er aber jede Einbuße für unersetzlich und
den Marsch ans Paris in jedem Falle für verderblich hielt. So wickelte sich
Kellermann ans seinem gefährliche» Posten heraus und die preußische Demonstra¬
tion wurde eine leere Scheinbewegnng. Unter diesen Umständen fanden Dumou-
riezs Friedensvorschläge bei dem Herzog günstiges Gehör. Dumouriez hatte von
jeher sein politisches System auf Krieg gegen Oestreich und Friede mit Preußen
gestellt. Bei Valmy war der Privatsecretär des Königs, Lombard, nebst eini¬
gen andern Civilpersonen gefangen worden. Dumouriez setzte ihn am folgenden
Tage auf Begehren des Königs in Freiheit und gab ihm eine kurze Denkschrift
mit, in welcher namentlich ausgeführt war, wie Preußen kein Interesse habe, sich
für das ihm stets feindliche Oestreich zu opfern, und demnach ward ein Abkom¬
men ans dem Fuße der zuletzt im Frühling versuchten Unterhandlungen angeboten.
Der Herzog von Braunschweig ging lebhaft auf diese Vorschläge ein und fand
eine große Unterstützung bei dem Generaladjutanten des Königs, dem Obersten
Manstein. Dieser gehörte zu dem frömmelnden Kreise, der bei dem Könige
Einfluß übte. Manstein war sehr ehrgeizig; er war in militärischen Dinge» auf
den Herzog, in diplomatischen auf Bischosswerder eifersüchtig. Reiner Egoist und
Realist kannte er keine andere Forderung als den jedesmaligen Nutzen; er war
ebensowenig für ideale und ritterliche Bestrebungen, als für irgend eine Grund¬
satz- oder Tcndenzpolitik. Er machte kein Hehl daraus, daß er den Friedens¬
schluß für das dringendste Bedürfniß hielt, und war ganz der Ansicht Dumouriers,
daß Preußen sich ans unverantwortliche Weise von Oestreich benutzen lasse und
sich für eine ihm fremde, Oestreich allein betreffende Sache in Kosten und Ge¬
fahren stecke, während Oestreich dazu eine Handvoll Leute stelle und in Osteuropa
gegen Preußen intriguire. Er stellte als Bedingungen des Friedens Herstellung
Ludwigs XVl. und Verzicht auf revolutionäre Eroberung, Aber Dumouriez
mußte ihm zu seinem Bedauern antworten, daß der Convent in seiner ersten
Sitzung das Königthum abgeschafft habe. Indeß das französische Ministerium!
wünschte eifrig den Separatfrieden mit Preußen und durch denselben die euro¬
päische Koalition zu spalten. Dumouriez stellte dem Obersten Manstein eine
neue Denkschrift zu, in welcher er die Trennung Preußens von Oestreich zum
alleinigen Thema nahm. Aber er hatte den Augenblick schlecht gewählt. Tags
zuvor war der Marquis Lucchesini, der die diplomatischen Geschäfte des Haupt¬
quartiers besorgte, nach längerer Abwesenheit wieder bei dem König eingetroffen
und hatte den Stand der Dinge vollkommen verwandelt. Er war Bischofswer¬
ders Schwager, aber mit Manstein nahe befreundet. Obgleich er wie dieser das
östreichische Bündniß als eine Thorheit betrachtete, fand er doch, daß sein mili¬
tärischer College höchst unbesonnen auf bodenlose Wege sich einlasse und daß
Dumouriez allem von der bisherigen Waffenruhe Vortheil ziehe, ohne bei der
damaligen Anarchie in Paris seine Versprechungen halten zu könne». Der König
erwiderte Dumouriez, daß er als den höchsten Grundsatz die Treue gegen seine
Bundesgenossen betrachte und gab dem Obersten Manstein, als dem ersten Be¬
treiber der Unterhandlung, sein kräftiges Mißfallen kund. Auch der Herzog von
Braunschweig wurde von dieser Ungnade mit betroffen und mußte ein neues Ma¬
nifest erlassen, in dem er alle früheren Drohungen den Franzosen wiederholte.
Eine Schlacht zu liefern, hielt jedoch auch Lucchesini nicht für gerathen.
Inzwischen kündigte Dumouriez seinen Angriff ans Belgien stets bedrohlicher
an, und die Kriegönoth wurde für Oestreich immer dringender. Das preußische
Heer setzte seinen Rückzug zunächst auf Luxemburg fort und der König wollte sich
zu einem zweiten Feldzug nur dann verpflichten, wenn Oestreich seine Ansprüche
auf Polen anerkenne. Der östreichische Bevollmächtigte, Spielmann, ging auf
diese Bedingungen ein, und die preußisch-französischen Unterhandlungen hörten
unter diesen Umständen gänzlich ans. „Der Rhein muß die Grenze unseres
Feldzugs sein, erklärte Dumouriez, von Genf bis Holland, vielleicht bis an das
Meer. Komme dann, was kommen kann: die europäische Revolution hat immer
einen mächtigen Fortschritt gemacht."
Dieser Revolution gegenüber dachten die alten Regierungen nicht mehr auf
den Sturz der Anarchie, sondern suchte» ans dem Getümmel eigenen Vortheil zu
ziehen. Die Ende 1793 eingetretene Auflösung der Koalition verspricht uns Herr
von Sybel in dem zweiten Baude seines verdienstlichen Werkes in einem neuen
Licht
Die „Expedition des v. Arnimschen Verlags" in Berlin hat Arnims
gesammelte Werke, für die sie einen billigen Preis gestellt, aufs neue verschickt.
Wir haben zwar schon einige Male über diesen wunderbarsten deutschen
Dichter unsere Ansicht ausgesprochen, wir glauben aber, hier noch einmal darauf
zurückkommen zu dürfen, da er aus sehr begreiflichen Gründen dem größern
Theil des deutschen Publicums vollständig unbekannt geblieben ist, während sich
doch in seinen Schriften sehr vieles findet, was einen denkenden Beobachter der
deutschen Literatur zu fruchtbarem Nachdenken anregen, und ihm über einzelne
Phasen derselben, die ans den ersten Anblick ganz unbegreiflich scheinen, eine
gewisse Aufklärung, wenigstens eine concretere Anschauung der Frage nud des
Zweifels geben kann. Um so mehr glauben wir Entschuldigung zu finden,
da wir den „Nachlaß" noch nicht besprochen haben. Er enthält die „Päpstin
Johanna" und 2 Bände dramatischer Werke; mehres andere ist uns noch in
Aussicht gestellt, worunter wir namentlich ans den 2. Theil der „Kroncnwächtcr",
sowie ans, den i. Theil des „WunderhornS" begierig sind. Möchte nur Frau
v. Armin die Pietät gegen ihren Mann auch so verstehen, daß sie selber nichts
dazu thut, denn wie interessant die Leistungen des einen wie der andern sein
mögen, dem Leser ist es doch lieber, beide von einander zu scheiden.
Wir können uns die dichterische Eigenthümlichkeit Arnims nur daraus erklären,
daß er von zwei anscheinend ganz entgegengesetzten ästhetischen Principien bestimmt
wurde; nämlich einerseits von der Reaction gegen den poetischen Idealismus im
Sinn der Antike, welcher sowol bei Goethe und Schiller und bei den ihnen
befreundeten Dichtern und Philosophen, als auch bei der romantischen Schule
das leitende Motiv war; andererseits aber auch durch eine gesteigerte und erhöhte
Auffassung der Poesie, als einer weit über das wirkliche Leben hinausragenden
Kraft. Während er also auf der einen Seite mit einer gewissen Aengstlichkeit nach jenem
derben Realismus strebt, wie er ihm in dem altdeutschen Leben und der altdeutschen
Kunst entgegentrat, bemüht er sich auf der andern Seite ebenso einseitig, alle bestimmten
Gestalten in jene „mondbeglänzte Zaubernacht" der Poesie zu tauchen, in welcher
alle Unterschiede verschwimmen. Aus diesem doppelten Bestreben, welches trotz
seines augenscheinlichen Widerspruchs doch vielfach auf das nämliche Ziel hinlief,
wird uns bei Arnim vieles begreiflich, was wir durchaus nicht verstehen könnten,
wenn wir die Dichtung als den Ausdruck eigener Individualität erfaßten. Wo
er gesündigt hat, sündigt er ans Doctrin, wenn auch diese Doctrin häufig in
der Form des Jnstiuctes auftrat. Und er steht in dieser Doctrin keineswegs
allein; anßer den Dichtern, die ihm am nächsten verwandt sind, Brentano und
Bettine geht unter andern auch Heinrich von Kleist darin mit ihm Hand in Hand;
ja selbst Jean Paul, obgleich die natürliche Anlage dieses Dichters eine ganz
verschiedene war. — Wir wollen beide Seiten dieser Doctrin näher ins Auge
fassen, weil sie mit den allgemeinen ästhetischen Fragen im Zusammenhang
stehen.
Die Reaction gegen die Antike war durch die allgemeine Richtung der Zeit
bedingt; wir finden sie ebenso in der bildenden Kunst, in der Wissenschaft, in
der Geschichtschreibung, in dem gesellschaftlichen und politischen Leben. Sie war
völlig gerechtfertigt, denn durch ihre ausschließliche Hinneigung zur Antike hatten
Schiller und Goethe ebenso die deutsche Poesie von ihrem natürlichen Boden
entfernt, als es in der Baukunst, in der Plastik und Malerei geschehen war.
Sie war ferner keineswegs eine Abweichung von der natürlichen Entwickelung
unsrer Dichtkunst, denn sie setzte nur das fort, was Lessing und Goethe selbst in
der ersten Periode seines Schaffens angebahnt hatten. Der Götz von Berli-
chingen, der Faust in seiner ersten Anlage, der Werther, die älteren Gedichte und
die Fastnachtsspiele waren durchaus der alten nationalen Kunstform und dem
unmittelbaren Inhalt des deutschen Lebens entnommen, und erst später hat sich
der Geschmack für die Antike ausgebildet. Daß mau in der Reaction zu weit
ging, war sehr natürlich, es lag zu nahe, dem farblosen für die nationalen
Voraussetzungen nicht geeigneten conventionellen Idealismus das Princip des
Grotesken entgegenzusetzen, wie es später von Seiten der neu-französischen
Romantiker geschehen ist; die eckigen, ungelenken, aber in ihrer Naivetät zuweilen
sehr anmuthigen Formen des deutschen Meistergesangs, des Fastnachtsspiels, des
Ammenmärcheus und Volksliedes gegen die Grazie der griechischen Kunstform
emporzuheben, sich ans der gute» Gesellschaft, die nach Goethes eigenem
Ausdruck ,,zu dem kleinsten Gedicht keine Gelegenheit gibt", in die untern Schichten
des Volkes, in die Handwerkskneipeu und Spinnstuben zurückzusehnen, die schonen
aber einförmigen Linien der Antike dnrch gothische Schnörkel und Arabesken zu
ersetzen, an Stelle der idealistischen Typen die Genremalerei einzuführen und die
Originalität auch da aufzusuchen, wo sie zu einer reinen Fratze ausgeartet war.
Es lief auch hier, wenigstens zum Theil, der alte Uebermuth des Dichters und
Studenten gegen die hergebrachte Alltäglichkeit des Philistcrlebens mit unter,
jener Ton, den Goethe zuerst angeschlagen hatte, und den die Romantiker nach
einer andern Seite hin ausbeuteten.
So ist dieses Streben nach Realismus, trotz seines scheinbaren Wider¬
spruchs, in einem gewissen Sinn mit jener Uebertreibung des poetischen Jdealis-
in»s verwandt, der in der Kunst, grade wie die snpranaturalischcn Theologen in
der Religion, etwas Uebcrüdisches sieht und ihr nicht die correcte Buchstabenschrift,
sondern nnr die Hieroglyphe verstattet. Man kann es den damaligen Dichtern
nicht verdenken, daß sie den Werth und die Bedeutung der Kunst im Gegensatz
zum Leben übertrieben, weil damals die deutsche Kunst in der That mehr werth
war, als das deutsche Lebe», aber daß es eine Uebertreibung war, zeigte sich
angenblicklich in der romantischen Schule, die mit weniger Talent und größerer
doctrinärer Consequenz dieses Princip weiter ausbildete. Bei Schiller stehen
solche Aussprüche:
Was sich nie und nimmer hat begeben,
Das allein veraltet nie,
noch immer vereinzelt, und wenn er auch in vielen seiner didaktischen Gedichte
weiter nichts auseinandersetzt, als daß die Schattenwelt des Ideals und der Ein¬
bildungskraft etwas weit Höheres sei, als die Wirklichkeit, so führt er diese etwas
nihilistische Ansicht mit so lebendigen Farben ans, daß wir seine Abstractionen
kaum gewahr werde». Wenn sich aber z. B. Novalis der Sache annimmt, so
wird aus jener Schattcnwclt bitterer Ernst, wir werden in eine märchenhafte Däm¬
merung vertieft, in der wir nichts mehr unterscheiden, in der wir nnr noch ahnen
und uns sehnen. Novalis war daher ganz consequent, wenn er in Wilhelm
Meister, den die übrige Schule als den höchsten Ausdruck der deutsche» Poesie ver¬
ehrte, nichts anderes sah, als eine Verleugnung der Poesie: den» die irrationeller
Verhältnisse werde» in diesem Roman, wenn auch nicht immer auf eine ganz cor¬
recte Weise, dem Weltverstand geopfert. Aber Göthe selbst versenkte sich immer
tiefer in diese romantische Zaubermacht. Die weitere Ausführung des Faust, die
Wahlverwandtschaften, vor allem aber das berühmte Märchen, treten ganz aus
dem Princip des künstlerischen Realismus heraus und gehen in ihrer Mystik und
Symbolik Hand in Hand mit Tieck, mit Novalis und Schelling. — Bei Arnim
zeigt sich diese snpranatnralistische Wendung zuerst darin, daß er in seiner Rück¬
kehr zum nationalen Leben nicht die Geschichte, sondern die Sage aufsucht, daß
er also das lebhafte und starke sittliche Gefühl, welches in ihm lebte, nicht auf
concrete, sondern ans phantastische Gegenstände anwendete, zu denen es in der
Regel nur in ein künstliches Verhältniß gesetzt werden konnte; serner in der mär¬
chenhaften Behandlung der geschichtlichen Stoffe. Die kantische Philosophie hatte
solange und mit so großer Ausdauer die Begriffe „Raum" und „Zeit" zu bloßen
Gedankenforme» verflüchtigt, daß die Dichter, die wenigstens dieselbe Atmosphäre
athmeten, gar keine Ehrfurcht mehr vor Raum und Zeit hegten, worin sie umso-
mehr bestärkt wurden, als damals der teutonische Naturphilosoph Jacob Böhme
gewissermaßen neu entdeckt wurde, in dem diese Nichtachtung von Raum und Zeit,
die durch die kritische Philosophie erst künstlich hervorgerufen wurde, bereits im
Jnstinct lag. Wie aber Raum und Zeit die ersten nothwendigen Formen unse-
res Anschauens und Denkens sind, so sind sie auch die Grundlagen der künstle¬
rischen Gestaltung, und jeder Versuch, ohne diese Grundformen ein Bild zu ent¬
werfen, führt entweder zu einem schwärmerischen Traumleben oder zu jener be¬
rühmten romantischen Ironie, die alles Geschaffene augenblicklich wieder auflöst,
und vernichtet. In einem seiner Stücke sagt Arnim:
Es tritt der Traum geharnischt in das Leben,
Wer fasset ihn? —
und das ist ein vollkommenes Symbol-seiner Poesie. Sobald der Traum Macht
gewinnt über das Leben, verkehrt er dessen Inhalt und Gesetz und wird um so
verderblicher, je lebendiger in dem Gemüth des Dichters die Beziehung zu den
sittlichen Mächten und zu der Gegenwart ist.
Nun dürfen wir aber nicht vergessen, daß zur Erklärung dieser ganz unbe¬
greiflichen Poesie noch ein anderes Moment in Rechnung zu ziehen ist, als die
Doctrin, nämlich das Talent. Arnim hatte ein sehr lebhaftes, starkes und edles
Gefühl, eine leicht bewegliche Phantasie und ein empfängliches Auge, aber keine
feste Hand: wie es so häufig bei unsern Dichtern vorkommt, die Intention, die Ein¬
sicht und Empfindung ging bei ihm weit über die schöpferische Kraft hinaus.
Für ein solches Talent ist es verhängnißvoll, einer Doctrin zu verfallen, die es
gegen die Regel gleichgültig macht. Der wahre Genius wird sich allerdings über
die Regel erheben können, weil in seiner Natur und in seinem Schaffen jene
innere Nothwendigkeit liegt, welche die Regel vollkommen ersetzt; für die Leistun¬
gen eines Talents dagegen ist die launenhafte Nichtachtung der Regel verderblich.
Wir begegnen in Arnims Werken vielen Einzelheiten, die eine große Kraft und
Innigkeit verrathen, aber wir haben dabei immer das Gefühl, daß er mit viel
geringeren Gaben weit Größeres hätte leisten können, wie denn auch in der That
jüngere Dichter von weniger Anlage, z. B. Wilibald Alexis nach derselben Rich¬
tung hin viel dauerhaftere und volkstümlichere Werke hervorgebracht haben.
Wir haben bei andern Gelegenheiten an seinen Hauptwerken dieses bereits
erörtert, auch in dem „Nachlaß" können wir es wieder geltend machen. Den
Haupttheil desselben bilden zwei größere dramatische Werke: „der echte und
der falsche Waldemar," und „die Gleichen" (1819). In dem ersten
Stück ist das nordische, norddeutsche und seemännische Heldenleben in seiner rohen
Tüchtigkeit und seiner naiven Kraft, was die Farbe und den Ton betrifft, sehr
gut geschildert, viel besser als bei Fouquv, mit dem einige Aehnlichkeit vorhanden
ist. Auch die Schuld des Helden, die den Wendepunkt seines Lebens bildet,
ist energisch empfunden und kräftig ausgesprochen, aber die Geschichte selbst ist so
undeutlich erzählt, so stark durch possenhafte Episoden unterbrochen, und gegen
den Schluß hin mit so unklaren mystischen Spielereien durchflochten, daß uns
bald das Verständniß und die Geduld ausgeht. Die sittlichen Fragen werden
zwar im Anfange mit großem Ernst behandelt, aber sie werden an unklare Ver-
Hältnisse geknüpft und fallen endlich ganz auseinander. So verlieren auch die
an sich ganz vortrefflichen Maximen mit der bestimmten Anwendung ihren eigent¬
lichen Werth. Im Uebrigen sind sie sehr schon ausgeprägt, z. B. die Lehren,
die Waldemar im Anfange seinem Pflegesohn ertheilt: „die Freiheit ehren, wo
sie sich entfaltet, Gewalt zu hemmen, wo sie sich erfrecht, im eignen wie im frem¬
den Sinn die Zeiten zu erkennen und des Einzelnen Zusammenhang im Ganze»;
Vergangenes nicht vergessen, Zukunft ahnen, mit Vielen zu bedenken, was für
Alle soll geschehen, vor allem aber Wahrheit zu verstehen, zu ertragen, bis zur
eigenen Vernichtung!" — Wenn aber der Mann, der so vortreffliche Grundsätze
ausspricht und der sich zu Anfang in schwierigen Verhältnissen würdig be¬
wegt, einer einzelnen Schuld wegen, die ihm von der Vorsehung bestimmte
Stellung aufgiebt und sich in einer vieljährigen Bußfahrt zwecklos umhertreibt,
um endlich mit der Erklärung abzugehen: „Ich bin kein Geist des alten Waldemar,
nur Schatten seines Geistes, ich lebe und bin doch gestorben, ich bin mir selbst
und Andern ein Räthsel, Ihr seht mich nicht wieder, doch lernt die Lehre noch
von mir, daß aller Trug erst mit der Sünde in die Welt gekommen;" — so ist
das ein sehr unklarer und unbefriedigender Ausgang, der durch die angefügten
komödienhaften Genrebilder keineswegs versöhnt wird. — Ein noch viel düstereres
Bild gibt das zweite Trauerspiel. Es behandelt die bekannte Geschichte von dem
Grafen Gleichen, der durch eine morgenländische Prinzessin ans der Sklaverei
erlöst wurde, sie mit sich nach Europa nahm und nun mit ihr und seiner frühern
Gemahlin gemeinschaftlich in einer vom Papst anerkannten Doppelehe lebte. Der
Dichter hat der Sage dadurch eine originelle Wendung gegeben, daß zum Schluß
der Graf, nachdem er verschiedene andere Vorschläge gemacht, z. B. als Ge¬
schwister mit einander zu leben, von beiden verlassen wird, und daß beide einen
andern Gemahl finden. Wäre dieser Ausgang dnrch die innere Structur des
Drama's herbeigeführt, so würden wir vielleicht ein nicht uniuteressautes Problem
vor uns haben, aber er geht rein aus dem Zufall hervor, wie deun überhaupt
der Zufall in diesem Reich der Träume die unbedingte Herrschaft führt. Die
Formlosigkeit dieses Stücks ist ganz unerträglich. Die Ereignisse sind massenhaft
aufgehäuft, sehr romantisch und verwickelt, in großer Breite angelegt, aber ohne
eigentlichen Inhalt, sie verlaufen ohne Folge und die Motive werden vergesse».
Auch diejenigen Personen, die als g»t gelten sollen, handeln nach sehr zwei¬
deutigen Maximen; die Schuld ist uach allen Seiten hin so verwickelt und com-
plicirt, daß man nicht klug daraus wird, man weiß auch nicht einmal, wie sich
der Dichter dazu stellt, ob er die Schuld in den Gedanken oder in die That
verlegt. Die Charaktere verwandeln sich im Nu in ihr Gegentheil, man findet
für sie keinen Leitfaden. Eine Menge Personen wird umgebracht, ohne daß mau
irgend eine Theilnahme dafür empfindet, um so weniger, da sie alle Augenblicke
wieder aufwachen, und da man nie weiß, ob es mit dem Tode Ernst oder Spaß
ist. Es waltet in dem Ganzen ein dunkles Traumleben, zu welchem der durch-
kliugeude Gedanke der Vorsehung nicht stimmt, und daneben eine gewisse ängst¬
liche Scheu vor der eignen Romantik, vor dem ganz allegorischen Gespensterwesen,
das bald mit dem nüchternsten Rationalismus aufgelöst, bald aber auch mit dem
unbefangensten Aberglaube» festgehalten wird. So ist z. B. der Hanptbösewicht
von einem bösen Geist besessen, der zuweilen mit einer ganz fremden Stimme
aus ihm herausspricht und zuletzt in vollster Körperlichkeit aus ihm heraus¬
getrieben wird. Die Stellung des Dichters zum Glaube» der Kirche, el» höchst
charakteristisches Zeiche» für ihn, ist ganz unklar: vieles könnte der ärgste Frei¬
geist, vieles aber auch der gläubigste Schwärmer geschrieben haben. Daneben
sind einzelne Schilderungen, namentlich von der verschiedenartige» Erscheinung
der Liebe in den verschiedenen Klimaten von einem wunderbaren Geist der Poesie
durchbaucht. —
Die beiden historischen Genrebilder: „Gurte Bürgermeister von Stet¬
tin" und „der Strahlaner Fischzug" sind als solche vortrefflich, aber sie
haben den Fehler, daß sie eigentlich uus nur das unverarbeitete Material geben.
Wäre in diese bunten, dreisten Farben eine ordnende und gestaltende Zeichnung
gekommen, so würden sie nichts zu wünschen übrig lasse».
Die wunderbarste Dichtung dieses Nachlasses ist die Päpstin Johanna.
Der Dichter hat die mittelalterliche Sage, daß im 9. Jahrhundert, als die Kirche
auf das Aergste verwildert war, einmal ein Weib den päpstlichen Stuhl bestieg,
zu Grunde gelegt, und Einzelnes auch mit der Tendenz einer historischen Schil¬
derung ausgeführt. Aber im Ganzen herrscht doch wieder eine eingebildete Welt,
die zum Theil selbst durch Beziehungen auf die Gegenwart »»terbrvche» wird.
Schon die Form muß jeden Unbefangenen befremden. Alle möglichen Verfallen,
Prosa, Dialog und Erzählung sind ans das Burleske durcheinander geworfen, Le¬
genden, Balladen und rein lyrische Gedichte sind in großer Zahl eingemischt,
zum Theil sehr schön, aber ohne innern Zusammenhang zur Handlung. Da gleich
zu Anfang «icht blos der leibhaftige Teufel, sondern auch ein ganz allegorisches
Wesen, Melancholia, die Mutter der Johanna, auftritt, und noch dazu im Innern
deö Berges Hekla, so werden wir von vorn herein in die Stimmung versetzt,
daß uns nichts mehr befremden würde, auch wenn die Meuscheu anfingen, auf
dem Kopfe zu gehen »ud mit den Füßen zu spreche»; aber im Gegentheil werde«
wir zuweilen mitten in dem dunkelsten Märchenweseu durch eiuen sehr handgreif¬
lichen Nationalismus, durch verständige und eindringliche moralische Maximen und
durch eine holzschuittartige Genrezeichnung in Erstaunen gesetzt. Man sieht wohl,
daß der Dichter darauf ausgeht, deu Gestalten des mittelalterlichen Volksglaubens
Fleisch und Blut zu verleihen, und er verräth dazu auch alle Augenblicke ein
ganz ungewöhnliches Talent; manche burleske Schilderungen vom Teufel sind mit
einem köstlichen Realismus ausgeführt. Aber ans der andern Seite ist er wieder
viel zu reflectirt, um bei der Naivetät einer solchen Zeichnung stehen zu bleiben,
es spielt doch wieder Alles in's symbolische und Allegorische herüber, und die
Gestatte», kaum entworfen, lösen sich wieder in Beziehungsbegriffe auf. Das
Vorbild dieser Verirrung ist natürlich der Faust. Aber bei Göthe ist doch das
Costüm und die Genremalerei durchaus Nebensache, der ganz moderne philosophi¬
sche Gedanke bildet immer den Leitfaden. Bei Arnim fehlt ein solcher Leitfaden.
Zuweilen hat er offenbar die Absicht, zu Philosophiren, zuweilen aber vertieft er
sich blind und gedankenlos in den Stoss. So kommt es, daß meistens die höchst
vortrefflichen Maximen und Einfälle beziehungslos verlaufen, obgleich sie immer
viel zu denken geben. So wird einmal pa^. 31 von einer der auftretenden
Personen gesagt: „Er ist eine von den leichtsinnigen guten Seelen, mit denen
der Himmel am meisten wirken kann in Augenblicken, weil sie am wenigsten sich
kennen, weil Absicht und Grundsatz die reine Ansicht der lebendigen Welt ihnen
am wenigsten färben kann." — Ein andermal sagt Johanna:
Ich knie vor Gottes Thron, vor dieser Welt erschrocken,
Wie sie so schaudernd schön, wie sie so herzlich gut,
So voll von Spielerei und auch voll Uebermuth.
Sehr gut ist es auch wie Arnim die neutrale Stellung der Gelehrsamkeit in öf¬
fentlichen Gewissensfragen corrigirt: „Diese scheinbare Ruhe in einer Angelegen¬
heit des Gewissens, die alle bis zur Naserei erhitzte, ist die gefährlichste Aeußerung
der alles überschauenden Gelehrsamkeit, die in der Beurtheilung unendlich viel
umfaßt, das zu einer Thätigkeit des ganzen Lebens erhoben sich gegenseitig schreck¬
lich zerstören würde." — Das ist vollkommen richtig, nur ist der Gedanke un¬
fertig, es fehlt der eigentliche Abschluß, wie fast immer bei Arnim und so haben
seine Gedanken überall etwas Embryonisches. Auch wo er historische Ereignisse
analystrt, werden wir zuweilen von einem ganz auffallenden Verständniß über¬
rascht. So fragt er sich einmal, wie Marozia, ein durchaus verworfenes Weib,
Rom und das Papstthum beherrschen konnte: „Weil sie gemein, aber vollständig
gemein war und deswegen keine nothwendige Ansicht der Dinge, keinen Wunsch
der Noth und Gemeinheit übersah; dies aber bedarf jeder, der den Anfang einer
freien Volksverfassung leiten will,.....darin lag ihre Gewalt, die von der
Gewohnheit jetzt fester als je begründet war und gegen die aller Geist der Für¬
stin nichts vermochte, weil das Vergnügen und der Ueberdrusz sie den wechselnden
Leidenschaften hingab, welche ihr das allgemeine Zutrauen entrissen. Die Römer
strebten damals sehr ernstlich nach alter freier Verfassung, ihr Widerstand gegen
Päpste und Geister, die Feststellung ihrer Staatsverfassung gab vielleicht den ersten
Anstoß der großen Weltbewegung, welche im Freiheitsstreben der Städte
Deutschlands und Italiens eine neue Bildung über Europa führte." — Solche
Gedankenblitze treten zum Theil bei Gelegenheiten hervor, die eigentlich je¬
den Gedanken ausschließen sollten, weil sie in das Gebiet der inhaltlosen Er-
scheinung gehören, Johanna wird in Verlauf des Buches von einem isländi¬
schen Gelehrten, Namens Spiegelglanz, der trotz seines barocken Aussehens
und seiner intimen Bekanntschaft mit Lucifer sehr stark an den Tieckschen
Nestor erinnert, als Jüngling erzogen, sie wird von ihm sehr hart behandelt und
häufig geschlagen; einmal aber erwacht in ihr das Gefühl der Liebe z» einem
römischen Mädchen. Spiegelglanz, der dies erfährt, offenbart ihr erschrocken, daß
sie eine Jungfrau sei, worauf es sich freilich bald ergibt, daß jenes angeblich rö¬
mische Mädchen ein verkleideter deutscher Pfalzgraf ist. Darauf fällt ihr Spie¬
gelglanz zu Füßen und erklärt, daß sie eine Göttin sei. Es folgen Scenen, die
stark an die jungdeutsche Poesie erinnern, z. B. wie sie als Göttin die Statue
des belvederischen Apoll zerschlägt. Um ihre Götterkrast zu erproben, will sie
Wunder thu». Ein Gelehrter, der eigentlich der Mensch gewordene Lucifer ist,
widerspricht ihr, und sie befiehlt ihm zu erstarre». Warum sollte er uicht wirklich
erstarren? Es würde uns uicht im geringsten Wunder nehmen. Aber er thut
nur so, als ob er erstarrte, um sie in ihrem Götterwahn zu bestärken, und es macht
ihm sehr viel Mühe, in der künstlichen und gezwungenen Stellung zu verharren.
Bei dieser vollkommen absurden Gelegenheit werden wir durch folgende feine
Bemerkung überrascht: „Wir können es leicht gefühlt haben in unserer Kindheit,
wie den Menschen bei Wundern zu Muthe ist; sind sie wohlthuend, so umfängt
uns ein seliges Zutrauen zu aller Welt; sind sie blos schreckend oder wol gar
zerstörend, überkommt uns eine eigene Trostlosigkeit. Schwieriger ist es, sich in
das Gemüth eines Wnnderthäters zu versetzen, es muß der Gipfel lohnender
Thätigkeit sein, wenn es aus Güte nud Wohlwollen stammt, und es läßt sich
nicht beschreiben;. . . . aber ein Wunder, das ein Leben zerstört, ohne etwas zu
schaffen, kann nnr das gespenstige Gefühl eines Heerführers geben, der mit seinen
Schrecken Nationen vernichtet, ohne die Kraft zu haben, einen Menschen auf der
Welt zu beglücken, ein Gefühl, das wie in Alexander zuletzt in Brand und Mord
sich zu ersticken sucht." — Als sie dasselbe Experiment bei Spiegelglanz anwen¬
den will, prügelt dieser sie, obgleich er sie für eine Göttin hält, tüchtig durch.
Gleich darauf wird sie zum Papst gewählt nud führt ein sehr unheiliges Leben.
Eine vornehme liederliche Römerin, die eine Art Venusberg hält, lockt sie in
denselben, will sie zum Heidenthum verführen, anch wol opfern, und magnetisirt
sie endlich, worauf einige somnambule, spukhafte Erscheinungen folge». Der Teufel
selbst macht ihr häßliche Anträge, endlich aber bekehrt sie sich, heirathet ihren
Pfalzgrafen, und so schließt das wunderbare Werk mit einem lächerlich idyllischen
Ausgang. — Häufig finden wir Anklänge an Tieck, aber Arnim hat ein weit
größeres realistisches Talent. Wenn er z. B. die Naturgegenstände, von roman¬
tischem Licht verklärt, in den Lauf der Handlung einführt, so ergeben sich hänfig
daraus Scenen einer wunderbaren Poesie, und wir müssen uns aus das lebhaf¬
teste beklage», daß diese in dem übrigen Wust verloren gehen. Es ist die
Schönheit einer Sirene, die alle Augenblicke den widerlichen Fischleib her¬
vorkehrt.
Dasjenige Werk, durch welches Arnim wol am längsten im Gedächtniß
des deutschen Volks fortleben wird, ist des Knaben Wunderhorn. Auch in
dieser Sammlung deutscher Volkslieder macht sich die eigenthümliche Weise seines
poetischen Schaffens geltend. Sie ist keineswegs historisch correct, es kam Arnim,
der überhaupt keinen Sinn für Raum und Zeit hatte, nicht darauf an, die echten
Quellen herzustellen nud ihnen überall ihre historische Stellung anzuweisen, son¬
dern nur den Geist der Poesie, wie er sich in der Eigenthümlichkeit des deutschen
Volkes krystallisirt hatte, in einem lebendigen Bilde zusammenzufassen. Und dies
ist ihm in der That gelungen. Der Ton, der in diesen Volksliedern herrscht,
dem er häufig mit sehr unhistorischer Freiheit nachgeholfen hat, ist wirklich der
echt deutsche, er ist derselbe, der uns in den besten Liedern von Göthe, Novalis,
Uhland, Eichendorff, Heine, freundlich entgegenweht, und zu dem wir immer
werden zurückkehren müssen, wenn wir uns eine Zeitlang nach unserer gewöhn¬
lichen deutschen Art fruchtlos an fremden Weisen abgemüht haben. Darum
bleibt dieses Wunderhorn ein dauernder nud schöner Besitz unseres Volkes, und
wenn auch in der neuen, zum Theil noch durch die Gebrüder Grimm besorgten
Ausgabe das historisch-kritische Moment etwas mehr hervortritt, so bleibt doch
das Hauptverdienst des Buches jener poetische nationale Ton, der uns wie Gegen¬
wart anspricht und der gegen die zeitlichen Unterschiede gleichgiltig ist.
In der rheinischen Mustkzeitung finden wir einen Artikel über die Anforde¬
rungen, welche unsere Zeit an die Concertinstitute zu stellen berechtigt sein soll,
mit specieller Bezugnahme auf die Leipziger Gewandhausconcerte. Der Gegen¬
stand ist wichtig genng, um nach allen Seiten hin in Anregung gebracht zu
werden; wir müssen aber offen gestehen, daß wir wenigstens im allgemeinen
entschieden für die jetzige Leitung der Concerte gegen die Ansichten jenes Artikels
Partei nehmend
Uns scheint der Hauptzweck dieser großen Concertinstitute für die Gegenwart
ein konservativer zu sein. Das letzte Viertel der vorigen und das erste Viertel
des gegenwärtigen Jahrhunderts hat in Deutschland eine so unerhörte Fülle
musikalischer Schöpfungen vom ersten Range hervorgerufen, daß wir die Klage
über die Sterilität unserer heutigen Komponisten eigentlich nicht begreifen. Auf
jede übergroße Anstrengung des Schöpfnngsvcrmögens in einer bestimmten
Gattung folgt regelmäßig eine Periode der Erschlaffung, oder, um uns bestimmter
auszudrücken, der vorwiegenden Receptivität. Wir müssen uns hüten, eine solche
Periode des bloßen Verarbeitens unbedingt der schöpferischen Periode nachzustellen.
Wir sind zwar fest davon überzeugt, wenn wir darin anch einer großen Zahl von
Kritikern, die hochschwanger vom Geist der Neuzeit sind, widersprechen müssen,
daß Wagner, Meyerbeer und die übrigen Helden des Tages Haydn, Mozart und
Beethoven keineswegs an die Seite zu stelle» sind, daß es sogar ziemlich lächerlich
ist, diese Namen nebeneinander zu nennen, trotzdem müssen wir behaupten, daß die
musikalische Bildung unserer Zeit höher steht, als die musikalische Bildung der
Zeit Beethovens. Als Beethoven lebte, war der Genuß an seinen Werken das
Privilegium weniger Auserwählten, heute dagegen folgt die größte Masse des
Volkes mit Andacht, Begeisterung, ja wir möchten fast behaupten mit Verständniß
den kühnen Eingebungen seines Dämons. Zwar wissen wir recht gut, daß auch
hier die Mode sehr viel thut, daß nicht alle, die in das Gewandhaus gehen,
nicht alle, die mit anerkennenswerther, aber hoffnungsloser Beharrlichkeit ihren
Fingern eine Sonate von Beethoven einprägen, von unverfälschten Kunstinteresse
bestimmt werden. Wir wissen recht gut, daß für manchen Besucher der Concerte
die Toilette die Hauptsache ist, und daß er sich die Musik nur nebenbei als das
erträglichste und unschädlichste aller Geräusche gefallen läßt. Aber wir behaupten,
daß bei der weit überwiegenden Mehrzahl das Interesse ein echtes und naives
ist. Vielleicht würden sie Beethoven nicht bewundern, wenn sie nicht vorher gehört
hätten, daß Beethoven bewundernswerth ist, aber ein solcher Einfluß der Kritik,
der Autorität und der Tradition auf den Geschmack des Publicums ist bei allen
Künsten ebenso nothwendig als heilsam und stört nicht im mindesten die Wahrheit
des Eindrucks. Wir wollen ganz von dem Publicum der große« Concerte, in
denen durch den Ernst und die Feierlichkeit der ganzen Haltung die Seele schon
von vornherein poetischer gestimmt wird, absehen, und nur auf so unvollkommene
Leistungen hinweisen, wie man z. B. in Berlin in den Gartenconcertcn antrifft.
Wir haben dort das Publicum, das lediglich den Mittelclassen angehörte, mit
einer Aufmerksamkeit und Hingebung den Symphonien Beethovens folgen sehen,
die dem vornehmsten und gebildetsten Cvncertpublicum Ehre machen würde. Wenn
sich also auch das Unglück ereignete, daß kein einziger unserer neuen Componisten
etwas Anderes zuwegebrächte, als eine gebildete Verarbeitung der alten Ideen,
(wie das deun in der That zum großen Theil der Fall ist), so würde der Musik
doch noch immer eine große Aufgabe bleibe», nämlich, den alten Geist in das
Fleisch und Blut der Nation zu übertragen. Und als Träger dieser ehrenvollen
Aufgabe betrachten wir vorzugsweise die großen Concertinstitute.
Das Leipziger Gewandhaus hat seine Aufgabe vollkommen verstanden. Es
hat sich vorzugsweise durch Felix Mendelsohn-Bartholdi eine Schule und Tradi¬
tion angeeignet, die ganz und gar von dem jugendlichen Feuer und von der stren¬
gen Kritik dieses unvergleichlichen Meisters durchdrungen ist. Wir hören häufig
darüber klagen, daß es gegenwärtig nicht gelingen will, einen Leiter des Concer¬
tes zu gewinnen, der die Genialität Mendelsohns mit seiner vollkommenen Bildung
vereinigte: damit spricht man aber nur deu eitlen Wunsch aus, daß eine Com¬
bination zweier Eigenschaften, die einander gewöhnlich ausschließen und die sich
nur durch eine seltene Gunst des Geschicks einmal in einer Person vereinige»
können, sich fortwährend erneuert. Ohne eine solche Vereinigung aber würden
wir den treuen, eifrigen und intelligenten Künstler, der Ehrfurcht vor der Ver¬
gangenheit hat ohne eigentlich productions Vermögen, für diese Aufgabe dem ge¬
nialsten Erfinder vorziehen, der doch zunächst einen Kampfplatz für seine eigenen
Ideen suchen würde. Wir sehen es viel lieber, wenn der Geist Mendelsohns
von seinen hochgebildeten und im strengsten Stil der Kunst erzogenen Schüler»
gehegt, fortfährt, unsere Concerte zu durchdringen, als daß wir uns in el» ge¬
niales Experimentiren einlassen.
Wir sind daher vollkomne» damit einverstanden, daß uns das Orchester die
classischen Werke der Vergangenheit immer von neuem vorführt, und daß die¬
jenigen Versuche, deren Werth zur mindeste» gesagt »och ein streitiger ist, also
namentlich Wagner, Meyerbeer, Berlioz u. s. w. ausgeschlossen bleibe». Es ist
hier nicht unsers Amtes, irgend eine Ansicht über den absolute» Werth dieser
Kunstversuche anfzustelle» — daß ihre.relative Bedeutung sehr groß ist, zeigt
die allgemeine Theilnahme des Publicums; aber wir glauben, daß der Kampf¬
platz, ans dem sie ihre Erfolge zu erstreben haben, nicht das Concert sein muß,
sonder» das Theater. Richard Wagner hat sich auch beständig sehr ernsthaft da¬
hin ausgesprochen, daß seine Werke in ihrem innern Zusammenhang aufgefaßt
werden müssen, daß sie als Cvncertstücke ihren Sinn und ihre Bedeutung ein¬
büße». Wir sind mit dieser Ansicht durchaus einverstanden, und haben nichts
dagegen, wen» das Theaterpublicnm z. B. in der Tannhäuser-Ouverture in Be¬
ziehung auf den Inhalt des Dramas ein absolutes Meisterstück findet, allein im
Concert scheint uns der musikalische Gesichtspunkt ausschließlich in Anwendung
kommeu zu müssen, »ud wenn man uns jene Ouvertüre mitten nnter den Or-
chesterwerkeu von Havdn, Mozart, Bcthoven, Weber, Cherubini, Schubert, Men-
delsohn, Schumann u. s. w. vorführt, so kommt uns das, wenn auch aus einem
ganz andern Grunde, wie ein ehe» so schreiender Mißlaut vor, als wenn man
einmal zur Abwechselung eine Ouvertüre vou Flotow spielen wollte, der ja auch
dem Theaterpublicum sehr lieb ist.
Mit diesen Bemcrknnge» wollen wir keineswegs gesagt haben, daß wir der
gegenwärtigen Auswahl »ud Anordnung der Gewandheitscoucerte in allen Punk¬
ten beipflichten. Wir wünschten ein häufigeres Zurückgehen aus ältere weniger
bekannte Musikstücke; wir würden nicht unzufrieden sein, wenn die Waldnymphe
ein oder ein paar Jahre pausirte n. s. w. Aber das sind Ausstellungen se-
cundärer Natur, über die sich streiten laßt »ut in denen wir gern der erprobten
Kritik des Gewa»dhausdirectvri»ins, da wir in der Hauptsache mit ihm einver¬
standen sind, nachgeben wollen.
Aber über einen andern Punkt läßt sich nicht streiten, und in diesem stimmen
wir dem Kritiker der rheinischen Musikzeituug vollkommen bei. Es ist sehr schön,
daß wir in diesen Concerten Gelegenheit haben, bedeutende Gesangskünstler und
andere Virtuosen zu hören; wenn aber diese Gesangskünstler die Macht ihrer
Stimme »ud die Größe ihrer Technik uur in Arien von Donizetti zeigen kön¬
nen, so wollen wir sie lieber nicht höre». Donizetti mag ein sehr guter Kompo¬
nist sein, aber doch uur für das Theater, nicht für das Concert, und die Direk¬
tion glaube ja nicht, daß sie dem Publicum damit eine Concession macht, sie
möge es nur beobachten, sobald bei dem Uebergang aus dem Recitativ in die
Arie das herkömmliche geistreiche Accompagnement anfängt: es geht ein allge¬
meines Gelächter durch den gauzeu Saal, auch wenn die bedeutendste Sängerin
auf den Bietern steht. Und hier gerade hat die Concertdircction, die wir als
Träger des classischen Geschmackes betrachten, die heilige Verpflichtung gegen das
Publicum, nicht ihrerseits zur GeschmackSvcrwilderung desselben beizutragen. Noch
viel mehr gilt das von den eigentlichen Virtuosen, deren Blütezeit, Gott sei
Dank, vorüber ist. Wir finden es ganz in der Ordnung, wenn die tüchtigen
Mitglieder des Concerts, die mit so großer Aufopferung und mit so sehr geringer
äußerer Belohnung dem künstlerischen Gesammtwerk ihre Mitwirkung leihen, auch
einmal Gelegenheit finden, ihr Talent in einer Einzelleistung dem Publicum vorzu¬
führen, und bei denjenigen Instrumente», für die es keine Concerte gibt, und der Rakun
der Sache »ach »icht wol gebe» ka»», habe» wir auch nichts dagegen, wenn sie
sich ein eigenes Concert schreiben. Aber wo diese Rücksichten gegen Mitglieder
des Concertes nicht obwalten, und bei Instrumenten, für die es eine hinreichende
Auswahl guter Cvncertstücke gibt, z. B. Pianoforte und Violine, finden wir eine
Nachsicht gegen die Capricen compouirender Virtuosen »»verzeihlich, und es sind
in dieser Beziehung noch in den letzten Jahren ganz unglaubliche Dinge vorge¬
kommen. Wenn solche Virtuose» wirklich die Sympathie des Publicums für sich
haben, so mögen sie ein eigenes Concert geben. Das Gewandhaus hat durchaus
keine Veranlassung, dem absolut Schlechten und Geschmacklosen zur Folie zu dienen.
Man erlaube uns noch einige Bemerkungen über äußerliche Dinge. DaS
Interesse für Mttsik ist i» Leipzig, wie eigentlich in alle» größern Städten, in
stetem Wachsen. Es ist daher vora»sz»sehe», daß die Zahl der Concertbesucher
von Jahr zu Jahr steigen wird, und doch ist es bereits so weit gekommen, daß,
abgesehen von den geistigen Genüssen, deren man sich erfreut, der physische Zu-
stand, in den man durch die Concertatmvsphäre versetzt wird, ein's Infernalische
grenzt, zudem das gesammte Publicum verpflichtet ist, eine Stunde vor Anfang
des Concerts Sitzung zu halten. Diesem Uebelstande kann nur durch eine
Radicalcur abgeholfen werden, durch eine starke Erhöhung des Preises und durch
eine Nnmerirnng sämmtlicher Plätze. Wenn jedes Concertbillet, einerlei, ob es
ein persönliches oder unpersönliches, ein Familien- oder Hagestolzenbillet ist,
zwölf Thaler kostet, so wird der Zudrang sich in den ersten Jahren ohne den
geringsten Schaden für die Kasse ein wenig vermindern, in den nächsten drei
Jahren wird er eben so groß sein; man kann dann zu einer neuen Erhöhung
schreiten und den Ueberschuß dazu benutzen, nicht etwa neue Virtuosen herbeizu¬
ziehen, sondern die Mitglieder des Orchesters besser zu besolde». Zu dieser
Preiserhöhung ist aber die Concertdirectiou vollkommen berechtigt, weil dem
weniger bemittelten Publicum andere Concerte offen stehen, welche im Wesent¬
lichen dieselbe Tendenz verfolgen »ut unter denen sich seit den letzten Jahren
die Euterpe durch eine feste consequente Leitung, und, wenn man die Schwäche
der Geldmittel in Anschlag bringt, dnrch ganz vorzügliche Leistungen hervor¬
gethan hat. Und hier steht die Sache nicht etwa so, daß das eine Institut dem
andern Concurrenz macht, im Gegentheil dient jedes derselben, sobald es nur von
einem ernsten, strengen und redlichen Streben geleitet wird, dazu, den Geschmack
an guter Musik im Publicum zu verbreiten, und eben dadurch das Interesse für
den Ort, wo es dieselbe in der höchsten Vollendung antrifft, zu erhöhen.
Ganz damit beschäftigt, Sie möglichst genau über die hiesige» politischen
Vorgänge, die gegenwärtig den Brennpunkt des europäischen Interesses ausma¬
che», zu unterrichten, habe ich versäumt, eines damit i» keiner Verbindung stehen¬
den Ereignisses zu gedenken, das aber nichtsdestoweniger ans diese Capitale und
die gesellschaftlichen Verhältnisse in ihr einen tiefgreifenden Einfluß ausübt: ich
meine die plötzliche Ankunft des Herbstes, mit seinen Stürmen aus Nord, Ost
und Süd, mit deu abwechselnd kalten und warmen Regenschauer» und dem düstern
Wolkeuheere, das heute zumal, bis auf wenige blaue Stellen, die uoch frei geblie¬
ben sind, den sonst so hell strahlenden Himmel besetzt hält. Der Horizont zieht
sich enger um die sonst so weil schauenden AuSsichtSpuukte her, kaum die
Prinzeninseln, geschweige denn der bilhynische Olymp mit der weitgestreckten Kette
des Keschisch-Dagh, deren höchster Gipfel er ist, erblickt man über die »uumehr
gran gewordene und von Nebelschichten überzogene Flut der Propoutis hinweg.
An solchen Tagen treten alle Mängel Konstantinopels doppelt grell hervor, weil
das Einzige, was sonst im Stande ist, eine Entschädigung für sie zu gewähren,
fehlt oder mindestens dem Blick entzogen ist: der Zauber seiner Umgebungen.
Die engen Gassen, die zu beiden Seiten von elenden Holzhäusern eingefaßt sind,
werden von Stunde zu Stunde immer kothiger; weite Wasserlachen bilden sich
in der Mitte des Fahrweges und erfüllen stellenweise die ganze Breite der Straße;
die herrenlosen Hunde suchen gegen den kalten Sprühregen den Schutz der vor¬
ragenden Dächer, unter welche sich auch die Vorübergehenden hindrängen, denn
Regenschirme sind in den Massen der türkischen Bevölkerung noch wenig verbrei¬
tet; an ihrer statt bedient sich der muselmännische Einwohner des Baschlikö (Basch
heißt soviel-wie Haupt, Kopf, und ut hat die Bedeutung von Stück), einer Art
Kapuze, die über den Kopf dergestalt hinweggezogen wird, daß nur das Gesicht,
mit Ausschluß des Kinns, freibleibt, besonders aber Hals und Nacken bedeckt
werden. Besonders melancholisch sind die großen Kirchhöfe geworden, welche an
vielen Stellen das Häusermeer unterbrechen und ganze Stadtviertel voneinander
abgrenzen. Fast alle liegen am AbHange von Höhen und sind von breiten ge¬
pflasterten Straßen durchschnitten, welche verhältnißmäßig sehr reinlich erscheinen,
weil der' abschüssigen Lage wegen das Regenwasser hier schnellen Abfluß findet.
Rechts und links von diesen Pfaden, von einem Walde finsterer Cypressen über¬
dunkelt, dehnt sich das Gewimmel der türkischen Grabsteine. Ich mochte behaup¬
ten, daß Man nirgend anderswo die niedermähende Macht des Todes so ein¬
dringlich gepredigt erhält, wie ans diesen Ruhestätten. Grab an Grab, Stein
an Stein — Viertelstunden weit und weiter. Ja der Kirchhof vou Skutari hat
eine Meile im Umfang. Zwischen den dichtgedrängt stehenden Leichensteinen
wächst spärliches Gras. Einige weidende Ziegen sind alles, was den weiten
Raum belebt; vielleicht noch ein Bettler sitzt am Wege und bittet den Vorüber¬
gehenden unter der Verheißung, daß Allah es ihm lohnen werde, um ein Almosen.
Zu Vera hat man bereits begonnen, die Palais der Gesandten in Stand
zu setzen. Ungeheure Schutthaufen vor dem östreichischen Legationshotel verkün¬
den, daß für die dortigen Wohnungsräume des Herrn v. Brück große Verän¬
derungen im Werke sind; die diesjährige Saison wird allem Erwarten nach ihren
Mittelpunkt daselbst finden. Auch die türkischen Großbeamten, welche gleich den
auswärtigen Gesandten noch in Bospor wohnen, lassen zu Stambul ihre ge¬
räumigen Konacks (große türkische Häuser) in Stand setzen. Es wird für Ihre
Leser mehr Interesse haben, von der innern Einrichtung der letzteren zu hören,
als von derjenigen der Gesandtschaftspalais. Zumeist sind es dreistöckige Hänser,
die durchweg aus Holz gebaut siud. Ihre Große ist sehr beträchtlich, die Fenster
stehen dicht beieinander, so daß fast nirgends in den Zimmern eine sogenannte
Spiegelwand übrigbleibt; die Gemächer sind niedrig, selten über 10 Fuß hoch,
klein, und es fehlt ihnen an Verbindungsthüren, vermöge deren man eine ganze
Reihe von Zimmern unter sich communiciren lassen könnte, wie das bei uns in
allen größeren Gebäuden der Fall zu sein pflegt. Dagegen gibt es lange Korri¬
dore, die aber oft des nothwendigen Lichtes entbehren, n»d in den meisten Zim¬
mern selbst erkerartige Vorsprünge, vermöge deren man von einem oder mehren
Fenstern ans die Fronte des Hauses und einen guten Theil der Gasse entlang
schauen kann. Die Fußböden der Gemächer, bei reichen Hausbesitzern anch der.
des Korridors und die Stufen der Treppen, sind mit Strohmatten belegt. Man
hat deren, die in zierlichen Mustern geflochten sind und im Preise nicht niedriger
als unsere gewöhnlichen Wolldecken zu stehen kommen. Erst über sie hin, etwa
vor dem Divan, breitet man kleinere bunte Teppiche; nur die vornehmsten Türken
haben deren, die durch das ganze Zimmer reichen. Diese Teppiche kommen aus
Smyrna und sind durch den Handel auch wol bei uns in Deutschland bekannt
geworden. Bei genauerer Betrachtung der Zimmer fallt es auf, daß ihnen jede
Vorrichtung zum Heizen mangelt. Man wendet hier nämlich Oefen nur selten
an, und bedient sich in großen Gemächern, die dnrch Kohlenbecken nicht ausrei-
chend erwärmt werden tonnen, jener kleinen portativen gußeisernen Oefen, die
mau aus England und, wie mau mir erzählte, selbst ans den Vereinigten Staaten
Amerikas hier einführt. Das Rauchrohr wird nicht in einen Rauchfang, sondern
dnrch eines der Fenster ins Freie hinausgeleitet. — Tritt man in ein derartiges
Hans ein, so wird man unter in der Regel von mehren, uicht eben sauber ge¬
kleidete», oft mit zerrissenem Nock einhergehenden Dienern angehalten und nach
seinem Begehren gefragt. Die bloße Frage, ob der Herr zu Hause sei, genügt
indeß meistens, um die Diener zu bestimmen, den Fremden anzumelden, worauf
er ersucht wird, die Treppe Hinanzugeheu. Die Thür des Gemaches, in welchem
der Hausherr sich befindet, steht stets offen und ist im Winter nur mit einer Decke
verhangen. Beim Eintreten wird man seinen Wirth fast immer auf einem ein¬
fachen Hvlzlehnstuhle, der in alleu türkischen Zimmern hart am großen, nnter den
Fenstern hinlaufenden Divan steht, mit dem Rauchen eines Nargilee beschäftigt
finden. Es ist dies die orientalische Wasserpfeife, die aus einem Gefäße von
Krystall besteht, welches zu drei Viertel mit Wasser gefüllt ist, oben in einen
schmalen flaschenartigen Hals endigt, und dergestalt eingerichtet ist, daß ein seit¬
wärts einmündeuder Schlauch den auf der Mündung des Gefäßes angebrachten
Pfeifenkopf durch das Wasser hindurch mit dem Munde des Rauchers in Ver¬
bindung setzt. Der Schlauch ist sehr lang, und das außerhalb des Gefäßes be¬
findliche Stück liegt meistens wie eine dünne Schlange gewunden zu den Füßen des
Damvfmachers. Man behauptet, das Nargilee greife die Brust an; soviel ich bemerkt
habe, gibt mau ihm unter den Türken vor dem Tschibnck bei weitem den Vorzug.
Dagegen ist es nicht üblich, es einem Gaste anzubieten, es sei denn, daß derselbe
Hausfreund sei, oder daß man ihn besonders ehren wolle.
Die politische Krisis naht sich einer Explosion. Wenn der Krieg bislang
mehr wie eine entfernte Möglichkeit angesehen worden war, scheint er seit Anfang
der letztverflossenen Woche wahrscheinlich, und noch mehr als das, scheint er
unvermeidlich zu sein. Man fragt sich beklommen, welcher andere Ausgang als
der der Waffen noch verbleibe, nachdem die diplomatischen Verhandlungen in so
unglücklicher Weise geführt worden, daß es keine politische Position mehr gibt,
in der man einstweilen Wacht halten und eine günstigere Constellation abwarten
konnte. Denn nicht minder stark wie der Druck von außen her, drangen die
Gewalten von unter herauf. Die ganze muselmännische Bevölkerung ringsum
im weiten Reiche ist in Bewegung und in ihrer Tiefe erregt. Es hat sich dieses
Glaubens die Ueberzeugung bemächtigt, daß es einen Kampf um seiue Existenz
gelte, und der lang in Schlummer gelegene Fanatismus ist auf den lenken Noth¬
schrei der hvchobersten Imaus und Ulemas erwacht; in allen Kreisen und
Schichten, wo Alles unter Berufung auf Muhamed's Verkündigung verehrt wird,
kocht und gährt es. Käme dieser Sturm zum Ausbruch und fände er keinen
Ausweg, wie der Krieg ihn bieten würde, so dürste er mehr wie dieser selbst die
Existenz des osmanischen Reiches aufs Spiel setzen. Das fühlt man im Rathe
des Großherrn; unter den Staatsmännern, welche die oberste Leitung in Händen
haben, sind die meisten wohl von dem unheilvollen Ausgange überzeugt, den ein
Kampf, ohne Verbündete, Rußland gegenüber nehmen muß; wenn sie sich dem¬
nach für ihn entscheiden, so wählen sie ihn als das kleinere Uebel. Eine andere
Faction im Ministerium, es ist wahr, knüpft kindische Hoffnungen an den Krieg.
Der Chef dieser Partei ist Mehemed Ali Pascha, Kriegsminister und Schwager
des Sultans, während ein zweiter Schwager desselben, Achmed Foki-Pascha,
zur Zeit Großmeister der Artillerie, der zur Farbe Reschid-Paschas gehört, nach
wie vor den Weg der Waffen als verderblich bezeichnet.
Wie indeß die Dinge auch immer stehen mögen: das eine Zugeständniß
kann man der Pforte nicht versagen, daß sie eine noble Haltung im Laufe der
ganzen Krisis bewahrt hat, eine Haltung, die unendlich besser als diejenige
stärkerer und ungefährdeterer Mächte, als da sind England, Frankreich u. s. w.
war, und die, der Ausgang der Ereignisse mag sein welcher er wolle, ihr letzt¬
lich die Anerkennung der Geschichte verdienen wird, sollte anch diese alsdann un¬
parteiisch nicht mehr auf dem diesseitigen Gestade der Atlantis geschrieben werden
dürfen. Die gewaltige militärische Uebermacht Rußlands, und die in dichtester
Nähe an der unteren Donau sich zu entfalten begann, vor der ein Aberdeen,
seiner Nation und staatsmännischen Stellung doppelt unwerth, in den Staub sich
neigte und Louis Napoleon sich noch unter der Linie der früheren viel verachteten
orleanistischen Nachgiebigkeitspolitik hielt, ist nicht im Stande gewesen, den Sul¬
tan anch nnr einen Zoll weit von der Linie seines guten Rechtes abzudrängen.
Die Rüstungen, welche man für beendet hielt, weil sie längst die sonst inne
gehaltene Grenze erreicht hatten, sind seit der letzten drohenden Wendung der
Verhandlungen in eine neue großartigere Phase getreten. Man hat, zum Stau¬
nen aller hier anwesenden Ausländer, eine neue Redif- (Landwehr) Klasse aus¬
geschrieben und legt so eben die letzte Hand an die Ausrüstung von hundert
Stuck Feldgeschützen, die, mit allem Nothwendigen versehen, zu Ausgang dieser
Woche nach dem Lager von Schnmla abgehen werden. Gestern passtrte diese
Artillerie unter den Fenstern meiner Wohnung vorüber. Die äußere Fläche der
Geschützröhre, die soeben aus dem Bohrhanse gekommen waren, hatte noch nicht
polirt werden können und wies die rauhe Gnßfläche vor; als Nachzügler folgten
einige Batterien Berghaubitzen, eine jede nur von einem einzigen Pferde mittelst
einer Gabeldeichsel gezogen. Der Anblick war ein großartiger, denn selten er¬
eignet es sich, auch in unserer an militärischen Schaustellungen reichen Zeit, daß
man hundert bespannte Kanonen mit einem Blick übersehen kann.
Was die russischen Kriegsvorbereitungen anlangt, so stimmen alle mir darüber
bekannt gewordenen Nachrichten darin überein, daß eine Concentrirung von vier
Infanterie-Corps, d. h. der Hälfte der ganzen Wassenmacht des Reiches, in der
Ausführung begriffen ist. Dieselben repräsentiren inclusive Kosacken und der
ungeheuren großen Cavallerie-Reserve einen Bestand von mindestens 230,000 Manu.
So weit ich mich erinnere, hat Rußland in keinem seiner früheren Kriege eine
Armee von solcher Größe beisammen gehabt. Auch 1812 nicht, wo es um die
Frage des Seins oder Nichtseins seines Reiches sich handelte. Ans Jafsy und
aus den russischen Südprovinzen schreibt man von ungeheuren Massen, die sich
dem Pruth zu bewegen. Man steht weite Kolonnen von Tramwagen, ungeheure
Herden Schlachtviehs durch das Land ziehen, wahrend man am Rande der
Steppen grandiose Getrcidemagazine errichtet.
Man ist der Ansicht, daß Rußland aus mindestens drei Operations-Linien
zugleich in die Türkei einbrechen werde; ja eine solche Theilung ist durch die
Landesnatur, welche ein Marschiren mit gesammelten Massen in einer Direction
aus Gründen der Schwierigkeit der Verpflegung verbietet, zur Nothwendigkeit
gemacht. Im letzten Kriege trat Kaiser Nikolaus mit 100,000 Mann auf und
beschränkte seine Operationen im Wesentlichen auf das nordöstliche Viertel der
europäischen Türkei. Gegenwärtig indeß, wo man russischer Seits mindestens
200,000 Maun wird einrücken lassen können, mag man zwei Drittel des Ganzen
damit umfassen; indeß immer doch nnr unter der Voraussetzung, daß, wie es
freilich wahrscheinlich ist, die Türkei allein stehen wird. Hat sie das unerwartete
Glück, einen überseeischen Verbündeten zu finden, und entschließt sich derselbe
auch nur 30,000 Mann aus diesem Kriegstheater fechten zu lassen, so wird solcher
Umstand genüge», Rußland zu einer gedrängteren Zusammennähme seiner Heeres¬
kräfte zu veranlasse». Die nächste Folge dann ist aber unvermeidlich die, daß
die Verpflegung schwieriger, die Bewegung desselben langsamer »ut der Cha¬
rakter der ganzen Kriegführung zaudernder werden wird; daß ein verzögerndes
Element sich in dieselbe eindrängt, welches es zuwege bringe» dürfte, daß die
Entscheidung nicht im ersten, sondern erst in einem zweiten, vielleicht in eine»,
dritte» Feldzug gegeben werden wird.
Diese letztere Betrachtung möchte geeignet sein, »in anch Nußland zum ern¬
sten und sorgenvollen nachdenke» über das zu bestimmen, was es unternimmt.
Bei den unsteten »ut schwankenden Zuständen Europas sind zwei, drei Jahre
ein erciguißvvller Zeitraum. Wir haben es erlebt, daß Revolutionen innerhalb
dieser Frist Reiche der Auflösung nahe brachten und Dynastien, die sich zu Au-
fang desselben fest auf dem Throne wähnten, von demselben hinwegschnellten,
um andere darauf zu erheben. Was Kaiser Nikolaus im Jahre 1849 bewog,
von einem Zuge gegen Stambul Abstand zu nehmen, das war die glimmende und
funkensprühende Asche, die damals noch weithin über der Fläche Europas tag.
Was daun aber, wenn während seines jetzt zu unternehmenden Krieges dasselbe
Enropa wieder in Flammen lodern sollte?! Ich wiederhole es, die gegenwärtige
Situation macht Entschließungen schwer, und sie hat ihre Bedenklichkeiten selbst
für den russischen Zaren.
In der vergangenen Woche saß zu mehren Malen ein großes nationales
Mcdschliß, welches über die Frage, ob Krieg oder Frieden, zu entscheiden hatte,
und seine Sitzung währte das erste Mal K, n»d das zweite Mal 8 Stunden.
Man entschied sich nach sehr stürmischen Debatten dafür, der Negienmg eine
Kriegserklärung zu empfehlen.
Die hohe Diplomatie hat vergebens Anstrengungen gemacht, »in de» Sultan
zu einer Manifestation seines souveränen Willens, von dem man »»nimmt, daß
er dem Friede» geneigt sei, zu bestimmen. Ebenso erfolglos waren alle Be¬
mühungen beim Ministerium, in welchem »icht sowol die Kriegspartei als das
Gefühl, daß der Krieg der einzige Ausweg a»S der Krisis sei, überwiegt. In¬
folge dessen herrscht Bestürzung in Pera. Der Handel stockte seit lange und ist
nunmehr fast todt. Im Hafen liegen wenige Kauffahrer, dagegen eine Anzahl
englischer »ut französischer Depcschendampfer; nnter ihnen weht vom Mast der
preußischen Kriegsdampfcvrvctte Danzig der preußische Adler, eine hier zu Lande
kaum gekannte Flagge.
Der Krieg ist erklärt! Gestern in den ersten Bormittags-Stunden wurde
diese hochwichtige Nachricht durch das Journal de Cvnstantinople der Hauptstadt
verkündet, und in diesen: Augenblick tragen sie hundert und aberhundert berittene
Boten durch das weite Reich, dessen Provinzen Donau, Nil und Euphrat zugleich
bewässern. lieber die Meere tun fliegt dieselbe K»»de, die wichtigste die vou hier
ausging, man darf sagen seit Jahrhunderten. Denn der Krieg zu dem der Sul¬
tan heute seine Volker aufruft, wird sich vou allen vorhergehende» dadurch unter-
scheiden, daß er ein sympathetischer Kampf ist, ein Streit von doppelt heiligem
Charakter, weil diesmal die Hoffnungen des civilisirten Europas auf Seite der
Türken stehe».
Mau weiß »och »icht, wie Frankreich und England sich den kriegführenden
Mächten gegenüber verhalten werden. Wären vou diesen beiden Staaten bis da¬
hin der Pforte Vertrauen erweckende Zusicherungen gemacht worden, so würde das
Journal de Constantiuoplc kaum unterlasse» habe», mindestens darauf anzuspielen.
Allein es übergeht in seiner letzte» Nummer diese» Fragepu»le ganz.
Im Verlaufe des gestrigen Tages donnerten die Batterie» vo» Toppaua ohne
Unterlaß. Die ersten Grüße galten wol dem Linieiischifse Friedland, welches seine
Schäden ausgebessert »»d vorgestern das goldene Horn verlasse» hat, um sich in
die klarere Flut des Bosporus zu legen. Von den teilten Salven dagegen be¬
hauptete »ran, daß sie der Salut für ein anderes französisches Linienschiff gewesen,
welches am Nachmittag eingelaufen sei. Ich habe letzteres Fahrzeug nicht selber
gesehen, und berichte nur «ach Hörensagen. Sollte sich das Gerücht bestätigen,
so möchte das zweite Linienschiff vielleicht als Vorläufer der französische» Flotte
angesehen werde» können, und wir würden damit einen wesentlichen Fingerzeig
ans die fernere Politik der Seemächte erhalten haben.
Daß in Schumla hoher Besuch, (nämlich die Herzöge von Nemours und
Coburg) eingetroffen, wissen Sie bereits aus meinem vorletzte» Schreiben. Heute
hat man hier Nachricht bekommen, daß auch General Lamoriciöre dort weilt, und
bereits in türkische Dienste getreten ist. In dieser Eigenschaft habe er, will man
wisse», den Namen Teftk-Pascha angenommen. Die Sache erscheint noch ziemlich
»»gewiß, gradez» falsch dürfte es indeß nicht sei», wenn man behauptet, die Pforte
hege die Absicht dem General Ccivaignac den Oberbefehl über die türkische Armee
zu übertragen.
Die hundert neuen Geschütze, vo» denen ich Ihnen schrieb, sind geprüft
worden, und gehe» »unmehr, abtheilungsweise, nach ihrem Bestimmungsorte
Schumla ab. Sie sind nach dem »e»en prcilßischcn System (des Geiierals von
Radowitz, neues Material, sanctionirt in Preußen durch Cabinetsordre vom Febr.
1841) lafsetirt, und werden daz» beitrage», den Werth dieser Neuerung zu bestimmen.
Der Sultan passirte heute mit großem Gefolge unter meinen Fenstern vor¬
über. Er sah heiter ans. . Unter seiner Begleitung herrschte die alte gewohnte
Ruhe. Diese hohen Würdenträger wiese» den türkischen Gleichmuth in allen ihren
Mienen. Langsam bewegte sich der Zug dahin, bis wieder am Abhänge, der nach
Tscheraghan niedergeht, der Kaiser semen Wage» bestieg.
Ob es als gutes oder böses Omen für die kommenden Dinge zu deuten ist,
daß es seil 24 Stunden in den oberen Schichten der Atmosphäre heult und
braust? Ein wahrer Wirbelsturm weht ohne Unterlaß über Stambul her, und
läßt, dem bloßen Auge von meiner Wohnung aus sichtbar, die Wellen der Pro-
pontis hoch nud schäumend am Gestade von Skutari zerschellen.
i> Bde. Braunschweig, Bieweg und Sohn.
Anselm Feuerbach war der älteste Sohn des berühmten Juristen, der Bruder
des ebenso berühmten Philosophen Ludwig Feuerbach. Er war 1798 geboren
und hatte von der frühesten Zeit ein großes Interesse am Alterthum und nament¬
lich an der alten Kunst genommen. Ans der Universität Erlangen verfiel er durch
den Einfluß Kanne'S einer phantastisch-mystischen Richtung. Er trat zum Stu-
dium der Theologie über und vertiefte sich in ein krankhaftes Grübeln. „Kanne's
Vorträge waren mit vielem Geist und einem großen Apparat von Sprachgelehr-
samkcit ausgestattet. Dies, sowie Anselm's ganzes, sarkastisches und tief gemüth¬
liches Wesen, in Verbindung mit dem, durch die Dichter jener Zeit angeregten,
romantischen Geiste, der-sich überhaupt damals der deutschen Jngend bemächtigt
und sie für die Mystik empfänglicher gemacht hatte, dies Alles erklärte den mäch¬
tigen Einfluß, welchen Kanne ans Anselm's Geistes- und Scelenstimung ausübte.
Kanne rühmte sich sogar persönlicher Erscheinungen des Heilandes, und eiferte
seine Schüler an, sich desselben Glückes theilhaftig zu machen. So durchwachte
der arme Jüngling nun in wahnsinnigen Gebeten die Nächte, auf Erscheinungen und
Offenbarungen harrend, die er dem Himmel abringen zu müssen glaubte. Sein gan¬
zes Leben und Streben erschien ihm auf einmal in verdammenswerthen Lichte."
Diese religiöse Stimmung ging endlich in eine wirkliche Krankheit aus, und
namentlich durch deu Einfluß der Frau Elise von der Recke und ihres Freundes, des
Dichters Tiedge, wurde der Jüngling der Vernunft und dem Studium der Philo¬
logie wieder zugeführt. Ju Heidelberg, wo er seit 1820 studirte, übte namentlich
Schlosser einen großen Einfluß auf ihn ans, 182S erlangte er eine Anstellung
am Gymnasium zu Speier und wirkte dort ans eine sehr verdienstliche Weise, ob¬
gleich sein Leben durch beständige Krankheit, durch lästige Berufsgeschäfte, durch den
Tod seiner Frau und ähnliche Umstände getrübt wurde. 1833 erschien sein Haupt¬
werk, der „Vatikanische Apollo", eine archäologische Abhandlung, die einen
sehr großen Anklang fand und infolge deren er 1836 als Professor nach Freiburg
berufen wurde. 1839 gelang es ihm, ein lange mit der größten Sehnsucht ge¬
hegtes Vorhaben, die Reise nach Italien, auszuführen. Er brachte von dort ans
reiche Ausbeute zurück, aber eine immer mehr sich ausbreitende Krankheit hemmte
seine Wirksamkeit, bis sie ihn endlich im Jahre l8S-I wegraffte. — Der gegenwärtig
gesammelte Nachtrag enthält Briefe aus der Reise nach Italien, Gedichte, verschie¬
dene kunstgeschichtliche Abhandlungen und zwei Bände Geschichte der griechischen
Plastik, ans den Kollegienheften Feuerbachs von Hermann Heller zusammengestellt.
Dieses letztere Werk ist sehr interessant. Es ist nicht nur für Studirende ein nützlicher,
von vollendeter Bildung getragener Leitfaden, sondern es gibt anch dnrch seine
einzelnen Forschungen, durch eine gute Gruppirung des Stoffes, durch geistvolle Be¬
griffsbestimmungen und durch erweiterte Kritik Anregung, die weit über dieses
bescheidene Ziel hinausgehen, und die uns bedauern lassen, daß es ihm nicht
vergönnt war, diese Skizzen zu einem selbstständigen Abschluß und zur Vollendung
zu bringen. Doch hat der Herausgeber mit großer Einsicht und Pietät das Sei¬
nige gethan, uns diesen Mangel weniger fühlbar zu machen, und es ist ihm ge-
lungen, ein für alle Freunde der Kunst interessantes Werk daraus zu gestalten.
Wir fügen zu dieser Anzeige noch eine zweite, die sich auf einen ähnlichen Stoff
bezieht, nämlich die dritte und vierte Lieferung der kleinen Schriften und Stu¬
die» zur Kunstgeschichte, von Franz Kugler (Stuttgart, Ebner und seu-
bert.) Wenn auch diese einzelnen Recensionen des berühmten Verfassers nur durch
den gleichartigen Gegenstand, nicht durch die ebenmäßige Verarbeitung miteinan¬
der zusammenhängen, so ist doch das Unternehmen der Sammlung dnrch die Be¬
deutung des Einzelnen vollkommen gerechtfertigt, wenn es auch erst durch den zu
erwartenden Index seine vollständige praktische Brauchbarkeit erhalten wird, ba
der Sache nach seine Bestimmung vorzugsweise aufs Nachschlage» berechnet ist.
— Wie fühlte ich mich glücklich, Paris auf einige Wochen
den Rücken kehren zu dürfen, der Polizei und dem täglichen Zapfenstreiche, den Börse¬
schlachten zu entfliehen und noch obendrein die Hoffnung, die orientalische Frage, diese
egyptische Plage, in der Diplomatie selig entschlafen zu finden — das ist kein geringer
Gewinn. Wie habe ich mich getäuscht; nicht nur die Polizei und der Zapfenstreich,
auch die orientalische Frage tritt mir gesunder den» je entgegen, und wo man sie steht,
wo man sie hört, hüben und drüben. Der Orient ist noch immer der Mittelpunkt aller
Interessen, selbst Verons bürgerliche Memoiren und Dumas göttliche Aufschneiderei sind
unvermögend, unsere Aufmerksamkeit ernstlich in Anspruch zu nehmen.
Eine Antwort hat diese indirecte Frage zwar noch nicht gefunden, allein die Di¬
plomatie hat während meiner Abwesenheit eine derbe Lection erhalten. Die Kriegser¬
klärung der Pforte ist eins jener Ereignisse, welche beweisen, wie in dem Schachspiele,
bei den Regierungen die Philidors find und Nationen die Schachfiguren, auch noch an-
dere Umstände einwirken als Geschicklichkeit und Muth selbst in despotisch regierten Staa¬
ten. Und mit dieser Kriegserklärung hat die ganze Frage eine andere Gestalt bekom¬
men. Die Eile, mit welcher Oestreich seine Vorliebe für die Neutralität a» den Tag legt,
beweisen es genügend.
Der Krieg ist jetzt fast unvermeidlich. Die Pforte muß mit Nußland übereinander
kommen. Die Nachgiebigkeit Englands und Frankreichs hat es dahin gebracht. Ru߬
land hat zu sehr aus die Neigungen und die Macht der westlichen Diplomatie gerechnet,
es kann, ohne sich dem nachhaltcndsten Grolle seiner Armee auszusetzen, nicht mehr zu¬
rücktreten. England ist durch die öffentliche Meinung gezwungen, seine unbegreifliche
Haltung wieder gut zu machen und die französische Regierung sieht jetzt vielleicht mit
Schrecken, daß man sie in die Lage setzt, Wort zu halten. Die beiden Parteien, welche
im Rathe des Kaisers das Wort führen, haben die Waffen aus den Händen geworfen
und find einander hart an den Leib gerückt. Wird die diplomatische oder die Kriegs¬
partei siegen? Das wird die Art und Weise, wie die östreichische Neutralitätserklärung
hier ausgenommen ist, an den Tag bringen. Dulden die beiden westlichen Mächte, daß
Oestreich seine Hand aus dem Spiele lasse, dann hoffen sie augenscheinlich den Sieg
an der untern Donan zu begrenzen und ihre Rüstungen haben keine andere Bedeutung,
als das Bestreben, der Pforte wie Nußland Halt zuzurufen, so wie sich die beiden
Gegner nur den Arm geritzt haben. Zwingen sie hingegen Oestreich sowol als
Preußen, sich für oder gegen Rußland zu erklären, dann ist es mit dem Kriege ernst
und der vorzüglichste Schauplatz desselben in Italien und am Rhein.
Man darf nicht die Persönlichkeit vergessen, welche über Frankreichs Schicksal zu
entscheiden hat. Louis Napoleon mochte den Frieden wollen, er hatte gehofft, sich im
Schoße des Friedens und durch die rastlose Thätigkeit, die er zur Beschwichtigung und
Beschäftigung des Volkes in Frankreich an den Tag gelegt, fest genug zu setzen, um
die Ausführung seiner ferneren Pläne, die Wiederaufnahme der kaiserlichen Traditionen
aus eine fernere Zeit zu vertagen. Seit Anregung der orientalischen Frage hat sich
auch dies geändert. Das Land hat durch die Stockung der Geschäfte, durch die Theue¬
rung, durch die Finanzmanipulation und durch die Vorbereitungen zum Kriege so viel
schon gelitten, daß es dem Kaiser schwer fallen mag, die Solidüuug dieser Differenzen
dem Lande aufzuerlegen, ohne Anderes dagegen ausweisen zu können als einen mageren
Vergleich zwischen der Türkei und Rußland, als eine Zurückführung ans den StatnSquo.
Die Regierung hat ferner Gelegenheit gehabt, zu sehen, daß trotz aller Avancen an die
materiellen Wünsche der Massen das gegenwärtige Regiment doch nicht populär werden
will. Der Kaiser und viele seiner stimmgebcnden Räthe fühlen, daß sie sich das Land,
da sie ihm die Freiheit nicht geben können, durch eine nationale Erschütterung allein
aus der feindlichen Apathie und ironischen Gleichgültigkeit zu reißen vermögen. Hierzu
tritt noch ein anderer Umstand. Die Kinderlosigkeit des Kaisers und die größere oder
geringere Wahrscheinlichkeit, das; diese andauernd sein könnte, geben dem Prinzen Na¬
poleon Bonaparte ein Gewicht in den Augen der hervorragenden Anhänger Louis Bo¬
napartes, das er früher nicht gehabt, und Napoleon Bonaparte ist entschieden für den
Krieg. Er haßt Oestreich, er haßt Rußland und begreift, daß, soll er die einmal an¬
genommene Erbschaft des zweiten December ohne dringendste Gesahr antreten können,
der Bonapartismus Gelegenheit haben muß, die Makel abzuwaschen, die seit dem
Staatsstreiche an ihm klebt. Es heißt aber der französischen Anschauungsweise nicht
zu viel zumuthen, wenn von einem Kriege im Sinne der napoleonischen Propaganda-
macherei völlige Absolution erwartet wird. Was den Kaiser bisher abgehalten, das ist
die Furcht seiner reactionären Bundesgenossenschaft, ein Krieg »u'löse zugleich die euro¬
päische Revolution bedeuten und zugleich die Unmöglichkeit mit der Revolution sich ernst¬
lich zu verbünden. Diese Furcht ist jetzt geringer, weil man hier überzeugt ist, daß
nach dem östreichischen Regime eine Umgestaltung Italiens unter dem Drucke einer französi¬
schen Armee noch immer als Rettung von diesem Lande angesehen werden würde. Der
Kaiser hielt es sür möglich, im Auslande ebenso zu regieren und umzugestalten wie im
Inlande, durch eine Revolution, durch das allgemeine Stimmrecht zu demselben Resul¬
tate zu kommen, wie im Innern. Er hofft in Italien wie auch in Deutschland Regie¬
rungen zu finden, mit deren Hilfe die Reorganistrung der europäischen Verhältnisse
durchzusetzen wäre. Und sollen die etwaigen Endabsichten des französischen Ehrgeizes
ihren Ausdruck finden, so wäre dies die Eroberung Belgiens und die Gewinnung Sa-
voyens. Wenn es also auch jetzt nicht zum allgemeinen Losschlagen kommt, im näch¬
sten Frühjahre könne» wir daraus rechnen, eine Veranlassung entstehen zu sehen, welche
uns endlich des Pudels Kern zeigt. Vielleicht ist der Feldzugsplan schon entworfen —
vielleicht sieht sich Canrvbert schon mit 20,000 Mann in der Schweiz, vielleicht träumt
sich Magnam schon im Departement du Var mit andern 20,000 Mann und sieht sich
der Neffe und Nachfolger Napoleons an der Spitze von hunderttausend Mann am
Rhein.
Zu gewinnen ist viel — zu rächen nicht wenig und zu schützen Alles. Zu ver¬
lieren weniger als die Demokratie glauben mag. Was ich Ihnen da schreibe, wird Ihnen
vielleicht als müßige Conjecturalpolitik erscheinen, doch hoffe ich, daß Sie sich erinnern
werden, daß dies sonst nicht meine Art ist, und daß ich nicht gewagte Vermuthungen
anzustellen pflege. Ich mag mich täuschen, allein es geschieht hier vieles was mich zu
meinen Voraussetzungen berechtigt. Sie werden mir auch die Gerechtigkeit widerfahren
lassen, daß ich seit lange darauf aufmerksam gemacht, wie die continentalen Regierungen
von ihrem Standpunkte aus eine ganz verkehrte Politik dem Kaiser gegenüber beobach¬
ten. Die Zukunft wird auch lehren, ob mein von Ihnen zurückgewiesener Tadel der
belgisch-östreichischen Heirath gegründet gewesen oder nicht.
Die Politik soll uns nicht so ausschließlich in Anspruch nehmen, daß wir nicht
auch den Bekenntnissen Vcrvn's einige Worte gönnten. Ich gestehe es, ich habe dieses
Buch in die Hand genommen, mit der Ueberzeugung, sehr interessante und intime Auf¬
schlüsse über die Persönlichkeiten der letzten vier Dezennien zu finden. Ich habe mich
getäuscht. Die Memoiren Vervu's haben ihren Ursprung blos in der Selbstüberschätzung
eines literarisch-politischen Handlangers und in der Zeitkrankheit der Büchermacherci.
Veron hat wol zu einem Brustteigc ein eigenes Recept gefunden, in feinen Memoiren
folgt er dem allgemeinen französischen Küchcnreeepte unserer Büchermacher. Es genügt
ihm, daß er, auf einem Ecksteine stehend, eine Revolution an sich vorüberziehen sieht,
um sich als Helden derselben zu betrachten und die Schilderung derselben als uner¬
läßlichen Bestandtheil seiner Erlebnisse anzusehen. Ob dasselbe schon hundert und aber
hundertmal geschrieben und gesagt worden, das kümmert ihn nicht, die Hauptsache ist,
ein Paar Kapitel mehr zu bekommen. So lesen wir ein Stück Geschichte des Kaiser¬
reichs, eine kurze Geschichte der Rückkehr der Bourbonen. So finden wir noch die
Literatur und Kunstgeschichte unter dem Kaiserreiche und zu Anfang der Restauration,
wie sie jeder kennt, und wenn uns nicht der eigenthümliche spießbürgerlich barocke Stil
und ein ziemliches Orandum nicht allgemein bekannter Anekdoten mit unterliefen, wir
glaubten, Veron habe außer den citirten Büchern und Broschüren noch verschiedene
andere abgeschrieben. Das erste Kapitel hingegen ist nicht veronisch. Dasselbe
soll eine gedrängte Schilderung seiner Artikel geben, und es wird dem Leser
so recht der Mund wässerig gemacht, durch Mittheilung von Briefen von Balzac,
Georg Sand, Dumas, Sue, Thiers und Louis Napoleon. — Natürlich sind
alle diese Autographen mehr oder weniger eine Huldigung für das große Genie,
das bescheiden^ genug ist, noch mehr aus sein Glück stolz zu sein. Die Geschichte
Guizot's wird uns erzählt im Tone des Pancgyrikers, was wohl eine indirecte
Rache gegen Thiers ist, und wir können nicht im Zweifel darüber sein, da Veron uns
selbst belehrt, daß einen Staatsmann nichts so sehr quäle, als das dem Nebenbuhler
und Gegner gespendete Lob. Was uns über die Musiker gesagt wird, verdient keiner
Erwähnung, es wäre denn die, daß der gute Doctor verspricht, bei der Geschichte sei¬
ner Opcrndirection ausführlicher und interessanter zu werden. Originell ist das Kapitel,
in welchem uns der offenherzige Apotheker seine Spielsündeu berichtet, und bei dieser
Gelegenheit erfahren wir aufs genaueste, wie es in den Spielhäusern unter dem Kai¬
serreiche und der Restauration hergegangen ist. Veron will ein warnendes Beispiel für
die Jugend aufstellen; er ist von eindringlicher Moral, wie es sich für den ehemaligen
Constitutionell schickt, und er spricht sich auch gegen die Wiedereinführung der öffent¬
lichen Spielhäuser aus. Dies wird wol die bösen Zungen verstummen machen, die
bisher behaupteten, das Mitglied des gesetzgebenden Körpers habe sich zum Pachter
der Spielbanken angeboten, falls diese wieder erlaubt würden. Das letzte Kapitel han¬
delt von der Medizin des neunzehnten Jahrhunderts, enthält aber blos einige lang¬
weilige Portraits verschiedener Professoren und Aerzte, eine trockne Aufzählung der
Aerzte, die in Frankreich auch sonst eine Rolle gespielt haben. Er spricht auch von der
Hygienik und sagt hier viel Vernünftiges neben Läppischem und schließt endlich mit
einer Kunst alt zu werden, die darin besteht, alt geworden zu sein, denn wir haben
nur so viel daraus entnehmen können, daß von den alten Personen, die Veron kannte,
es jede auf ihre eigene Weise geworden. Die Hauptmaxime ist, wenn man einmal alt
geworden, nichts an seinen Gewohnheiten zu ändern. Gegen das Tabakrauchen
sieht sich Veron zu einer sehr warmen Philippina veranlaßt. So wie das Buch
ist, liest es sich nicht ohne Interesse, und die charakteristische oft ganz zusammenhanglose
Weise des Doctors, seine naive Selbstgefälligkeit, mit welcher er einen groben
Gemeinplatz ausspricht, die Gewissenhaftigkeit, mit der er jede Anekdote contro-
lirt, die ihm zu Ohren gekommen, von oder über die Mars, Talma, Cherubini, Meyer¬
beer, Hale-op, Ander, Dupuytren, Larrey, Thiers, Napoleon u. s. w. Das alles gibt
diesem ersten Bande Interesse genug es zu Ende zu bringen und wir glauben, daß die
spätern Bär.de Neueres und Ancrkennswertheres enthalten werden. Die Coulissen der
großen Oper sind kein schlechter Standpunkt manches zu sehen, und die langjährige Ver¬
bindung mit den vorzüglichsten Schriftstellern, Künstlern und Staatsmännern müssen
dem Exdircctor des Constitntioncl, der jedes Papier sorgfältig aufgehoben, jede Anek¬
dote, jedes Witzwort in sein Buch geschrieben, Gelegenheit geben zu dankenswerthen
Mittheilungen.
- Elise Schmidts Macchiavelli, den wir
gestern Abend im Schauspielhause an uns vorübergehen sahen, ist eine so unerhörte
Travestie der Wahrheit, daß, wer ihr einen Abend geopfert hat, nicht umhin kaun,
gegen eine solche Umkehrung aller historische» Voraussetzungen zu protestiren. Die Ver¬
fasserin hat von Shakespeares chronologischen Ungenauigkeiten gehört und ist fest über¬
zeugt, sie dürfe nur aus dem Conversationslexikon einen beliebigen leuchtenden Namen
herausgreifen und damit anfangen was sie wolle. Shakespeare hat aber doch nicht
die Schlacht von Azincourt unter König Johann schlagen lassen, und er dachte nicht
daran, Richard III. zu dem sorgsamen Erzieher und Protector der Kinder Eduards IV.
zu machen. Hätte Shakespeare einen Macchiavell geschrieben, es wäre ihm nicht ein¬
gefallen, den Freund Cäsar Borgias, der später gegen die Medicis conspirirte und von
ihnen gefoltert, abgesetzt und fortgejagt wurde, gegen Borgia mit den Medicis und für
sie intriguiren zu lassen. Bei Shakespeare würde vielleicht die spätere Apostasie Mac-
chiavells zu Gunsten der Medicis ein an Combinationen reiches Moment geboten haben,
aber der Dichter hätte um keinen Preis zugegeben, daß der gefangene Schriftsteller
das Buch, in das die Phantasie der Verfasserin Macchiavell seinen ganzen Seelcnhafi
gegen den schrecklichen Bastard pressen läßt, unter Phrascngeklirr und patriotischen
Floskeln im Sinne und im Interesse des Borgia widerrufen und umstcmpeln konnte.
Er hätte endlich noch weniger das Schicksal dieses Buches, des „Fürsten", an die Ge¬
schichte des Mannes geknüpft, der längst verfault und von den Würmern zerfressen war,
als das Buch, in der Stille des Exils, wer weiß in welcher fieberhaft ambitiösen
Absicht geschrieben und Lorenzo ti Piero de Medici gewidmet wurde.
„So poetisch erscheint dem großen, die Tiefen des Lebens mehr als je ein Sterb¬
licher in Poesie übertragenden Dichter die Geschichte, daß sie ihm, je wahrer sie ist,
je weniger seines Schmuckes zu bedürfen scheint, und nur die Poesie hält er für würdig
die Geschichte zu behandeln, die ihre Zwecke zu erreichen weiß, indem sie die Begeben¬
heit nur abzuschreiben scheint.' Wie die größten Historiker des Alterthums die Adern
ihrer Werke von poetischen Säften schwellen ließen, ohne daß sie darum aufhörten,
Geschichte zu sein, so sind Shakespeares Schauspiele voll von Geschichte, ohne weniger
Poesie zu sein."
Es bedarf nach diesen Worten Loebells in einem trefflichen Aufsatz über die
Epochen der Geschichtschreibung und ^Verhältniß zur Poesie kaum noch der Erinnerung
an den Eindruck, den Shakespeares vereinzelte Abweichungen von der Tradition auf
Niebuhr gemacht, bei dem, wie er bekennt, die Natur der von dem Dichter vor¬
geführten Personen und ihre Schicksale sich von Jugend aus so tief und mächtig ein¬
geprägt hatten, daß die vermeintliche Erfindung unbeschadet der historischen Wahrheit
über die Ergebnisse der Forschung in der Vorstellung die Oberhand behielt.
Von jener inneren Treue, die sichs zum Ziel setzt, das Mark der Begebenheit zu
erfassen und die Idee vermöge ihrer wirklichen Erscheinung zur Anschauung zu bringen,
ist aber bei diesem Macchiavell nichts zu entdecken. Der Titel ist eine reine Reclame,
danach angethan, harmlose Spaziergänger ins Theater zu locken und ihnen die Milch
beschaulicher Denkungsart in ein Gefühl zu verwandeln, das zwischen Langeweile und
Erstaunen umhergeworfen wird. Man denke sich einen Theaterzettel: „Friedrich der
Große" überschrieben und drinnen auf der Bühne statt des Königs, dessen Leben fast
die ganze preußische Geschichte umfaßt, irgend einen deutschen Duodezfürsten, einen
kläglichen Apanageprinzcn, als Hendrichs ausgestopft und mit höchst trivialen Exclama-
tionen im Munde! Wenn an einem Schaufenster unter den Linden irgend ein weiblicher
Kupferstich den Namen Pamcla oder Arabella oder Louisa trägt, so ist nichts dagegen
einzuwenden. Unerträglich aber erschien der schlechte Spaß, der ein verzerrtes, mit
dicken, plumpen Fingern versehenes Frauenbild Marie Antoinette, die die schönsten
Hände der Welt hatte, zeichnen möchte, oder einem ätherisch schwindsüchtiger Keepsake-
gestcht die Etiquette Katharinas II., dieser gi-vittssl. ol' -ni sovei-eiAns -mal . . . .«,
um mit Byron zu reden, aufheften würde.
Macchiavelli also hat als Gesandter der Republik Florenz bei Cäsar Borgia (in
der Geschichte 1302) seinen „Fürsten" (geschrieben nach 1313) als eine furchtbare
Satyre gegen Borgia (umgekommen 1307!) geschlendert. Er ist übrigens weder
conservativ, noch Republikaner, denn er beleidigt nacheinander die Borgias und die
Florentiner Demokraten durch unpolitische Redensarten, die er ihnen in ganz überflüssiger
Weise an den Kopf wirft. Zu gleicher Zeit beherbergt er heimlich den jungen Lorenzo
von Medicis, den daraus Borgias crzdumme Polizei, obgleich sie von seiner Anwesenheit
unterrichtet ist, entwischen läßt. Der Polizeiminister Don Namiro spürt auch vergebens
nach der Urschrift des „Fürsten" umher. Macchiavell hat sie nämlich in der Tasche
und es kommt der Polizei nicht in den Sinn, bei dem Gesandten, den sie gleich ver¬
haften wird, rechtzeitig eine Haussuchung zu halten. Borgia ist außer sich über das
Verschwinden des Buches. Dasselbe ist unter Bürgern und Bauern zwar schon vielfach
verbreitet, aber, um Macchiavell zu verderben, bedarf Borgia, bedarf Cäsar Borgia
des Originals! Nicht einmal der diplomatische Charakter Macchiavells rechtfertigt dies
durchaus unwahrscheinliche Motiv, von dem sast drei Acte ihre Nahrung ziehen. Wir
erinnern uns aus Alfred von Rcumonts Beiträgen zur italienischen Geschichte, daß noch
im Jahre 1326 Messer Paolo von Arezzo, welchen Clemens VII. mit Aufträgen nach
Frankreich und Spanien sandte, von Franz I. mit beinah offener Gewalt festgehalten
ward. Sowenig wurden die völkerrechtlichen Bestimmungen geachtet. Und wer denkt
nicht unwillkürlich an den doppelten Meuchelmord, der den Schluß des Nasiadter Con-
gresses gegen den Ausgang des achtzehnten Jahrhunderts befleckte. Cäsar Borgia jedoch,
der rücksichtsloseste Verbrecher und Politiker, den die Geschichte kennt, spielt Versteckens
mit Machiavells Buch und Handschrist!
Unterdeß läßt er den Verfasser in den Kerker werfe», erhalt das Buch durch des
Gesandten unvorsichtige bethörte Frau, besinnt sich dann auf einmal eines andern und
statt Macchiavelli, wie er gedroht, zu zertreten, erpreßt er durch die einfache und
einmalige Androhung ewiger Hast den schon oben gewürdigten Widerruf. ,
Jetzt mordet Borgia, mit dem Fürsten als einer Art Handbuch des Todtschlags
vor Augen, daraus los. Die Orsinis werden inmitten eines Balles und der gröblich-
lichsten Theatercoups niedergemetzelt. Dabei läuft der freigelassene und unzufriedene
Macchiavelli ungehindert am Hose umher. Borgia will eine Proclamation aus seiner
Feder an das Volk und spart deswegen den mittelalterlichen Gentz für den Dolch oder
den Giftbecher noch auf.
Da soll Cäsar als König der Romagna gekrönt werde». Im Thronsaal aber
revolutionirt Macchiavell das Volk mit der Nachricht, daß im Nebenzimmer die Orsinis
erschlagen worden und das vergossene Blut gegen den Tyrannen zeugen werde. Bor-
gias Haushofmeister hatte also seit der Ballnacht jene Mordstellc in demselben scheu߬
lichen Zustande gelassen und die drei oder vier Orsinis, darunter ein feister Lebemann
mit einer Falstaffmiene, sind mitten im Ball, dicht neben dem Tanzsaal, nach hartem
Widerstand (der Zuschauer hört das Dcgcngeklirr) elendiglich umgekommen und ver¬
schwunden, ohne daß eine Spur davon unter das für Borgia begeisterte Volk gedrungen!
Nun steht es aus. Lorenzo von Medicis, der unterdeß in Florenz (geschichtlich min¬
destens zehn Jahr zu früh) zur Herrschaft gelangt war, erscheint, wirst Borgia ins
Gefängniß und verbannt seinen treuen Erzieher und Anhänger Macchiavelli — weil
die edle, Macchiavelli schwärmerisch anbetende und sich jetzt erstechende Lucrezia Borgia
den vergeblich Geliebten eine Schlange im Paradiese genannt hat und weil der also
Beschimpfte im Angedenken seines Widerrufs eingesteht, daß er die bedenkliche Kritik
wohl verdient haben möge. Ihn begleiten ins Exil die Freundschaft Lorenzo von Me¬
dicis und seine geliebte Gattin Marietta, mit der Macchiavell die einzig erträgliche und
poetischer Momente nicht ganz ledige Liebesscene des zweiten Actes aufgeführt hatte.
Dieses unglaubliche Marionetten- und Puppenspiel hat die Verfasserin eine Tra¬
gödie genannt, wahrscheinlich, weil die gute Seele Lucrezia und der heimlich von Ge¬
wissensbissen gepeinigte und überhaupt verkannte Cesar Borgia gestürzt werden, weil
der engelgleiche Lorenzo von Medicis den Sieg davon trägt und der Justemilieupolitiker
Macchiavelli mit seiner schönen jungen Frau (Fräulein Lina Fuhr ist in der That eine
liebliche Erscheinung) und mit Livius poetischen Geschichten auf einer Villa in der
Nähe von Florenz leben muß.
— Es ist eigentlich gegen unsere Sitte, die ästhe¬
tische Kritik über neue Dramen unsern geehrten Correspondenten zu überlassen. Allein
wir sind dazu genöthigt. In früherer Zeit beeiferte sich das Leipziger Theater, alle
Neuigkeiten von Bedeutung zuerst zu bringen; ja es gab eine, freilich nur sehr kurze
Zeit, wo es sie besser gab, als irgend eine deutsche Bühne, die berliner nicht ausge¬
nommen. Jetzt fällt es ihm nicht ein, sich um neue Stücke zu bekümmern. Der
Erbsörster und die Makkabäer von Ludwig, Antonio und Perez, und der Königs¬
leutnant von Gutzkow, Michel Angelo und Agnes Bernauer von Hebbel, Olden-
barneveldt von Dingelstedt, der Genius und die Gesellschaft von Elise Schmidt
Reginald Armstrong von A. Meißner, u. f. w., das alles ist sür Leipzig nicht
vorhanden. Man wird sagen, daß die Kräfte fehlen. Aber man giebt ja Schiller'-
sche Stücke!! man giebt ja den Faust!! Und gerade die Stadttheater haben den Be-
ruf, in dergleichen Dingen voran zu gehen, weil sie weniger mit äußeren Hindernissen
zu kämpfen haben. Die Kritik mag noch soviel an jenen Versuchen auszusetzen haben,
sie gehe» doch immer von unsern ersten Kräften aus, und das Publicum hat das
Recht, zu verlangen, daß man ihm Gelegenheit zu einem selbstständigen Urtheil ver¬
schaffe. — Was die obige Kritik betrifft, so müssen wir bemerken, daß uns, abge¬
sehen von dem absoluten Kunsturtheil, der relative Werth dieses Stücks im Verhältniß
zu ähnlichen noch nicht ganz klar geworden ist. ,^Der Genius und die Gesellschaft"
war unzweifelhaft ein verfehltes Stück, aber ebenso unzweifelhaft sprach sich ein nicht
gemeines Talent darin aus.
Berlin — Preußens Politik läßt sich ganz richtig und genü¬
gend in zwei Rathschläge zusammenfassen: Nehmt Euch nach Außen vor Rußland und
im Innern vor der Partei Gerlach-Stahl in Acht! Wir meinen, wohlverstanden, die
Politik wie sie sein sollte, das Ideal der Politik. Es war daher kein geringes Er-
eigniß, als es hieß, der König gehe nach Warschau. Gesteigert wurde die Sensation
durch den russischen Gegenbesuch in Potsdam. Aber die Freude der russischen Partei,
wenn anders eine solche bei uns existirt, war von kurzer Dauer. Nicht nur die halb-
offiziellen Journale, sondern die „bestunterrichteten Leute" versichern, daß von einem
Vertrage, einer Coalition, einem activen Verlassen der Neutralitätspolitik auf Seiten
Preußens nicht. im entferntesten die Rede sei. Es giebt freilich eine Geschichte und
eine Politik außerhalb der Uebel einkommen, Staatsdocumciite und Verträge. Im Pri¬
vatlebe» wie i» de» öffentliche» Angelegenheiten brauchen Freundschaften, Verbindungen
und gegenseitige Hülfleistungen nicht immer verabredet und in contractliche Formen aus-
geprägt zu werden. Wir wären daher jeder Besorgniß über eine leise Schwankung
unseres Systems, das nur i» der inneren Restauration eine gewisse Consequenz gezeigt
hat, noch nicht enthoben. Dazu kommt, daß wie in früheren und in nicht minder be¬
deutungsvollen Zeiten in den ministeriellen Kundgebungen sehr wohl ein Mißverständ¬
nis; walten könnte. In einer allgemeinen europäischen Erschütterung, inmitten eines
europäischen Krieges, wird Preußen bis auf's äußerste neutral bleiben: daran zweifelt
Niemand. Wir glauben noch weniger, daß ein partieller und localer Kampf Preußen
veranlassen dürfte, seine Truppen an den Balkan oder seine Flotten in den Bosporus
zu schicken. Wie jedoch verhält es sich mit der in diesem Moment noch immer so hoch¬
wichtigen diplomatischen Stellung? Ist diese nach den Zusammenkünften der Mon¬
archen noch immer ganz dieselbe, wie vor denselben? Lauten die Depesche» a» die
preußischen Gesandte» im Auslande noch immer so zurückhaltend, abwehrend, neutral, ja
über Rußlands Hartnäckigkeit bekümmert, wie sie in Paris und London, wie sie wäh¬
rend des Sommers in einem Grade gelautet haben, der Nesselrode's Verwunderung
und Tadel in seinen Unterredungen mit dem preußischen Bevollmächtigten in Se. Pe¬
tersburg Hervorries? Wir wollen es hoffen und glauben, lasen aber gern eine ent¬
schiedene, unbestreitbare ministerielle Versicherung, dahin gehend, daß nicht nur in'einem
Kriegsfalle, an den man in den oberen Regionen, wo die Ereignisse so oft mit den
Berechnungen durchgehen, vielleicht nicht glauben mag — sondern auch in den diplo¬
matischen Unterhandlungen, die voraussichtlich während des Winters wieder eine große
Rolle spielen werden, Preußen unwandelbar mindestens neutral, kühl gegen
Rußland, nicht beirrt durch falsche, heuchlerisch conservative Tendenzen, in un¬
abhängiger Selbstbestimmung sprechen und handeln werde! Das wäre populäre
Politik und geeignet, jeden böswilligen Zweifel zu lähmen. Die Versicherung müßte natür¬
lich in beglaubigter Weise, nicht durch irgend eine discreditirte und zehnmal verleugnete
Offizin erfolgen. Man könnte ja wohl eine neuere Depesche in irgend einem passenden
Moment veröffentlichen. England, Frankreich, Rußland sind hier mit gutem Beispiel
vorangegangen. Preußen aber wäre durch ein ähnliches offenes Verfahren angesichts
seines von russischem Einfluß emancipirten Auftretens eine weit dankbarere Position vor¬
behalten.
ES darf übrigens als kein geringer Vortheil betrachtet werden, daß das Cabinet
i» seiner gegenwärtigen Zusammensetzung zur Wahrung seines eigenen Interesses auf
eine möglichst vorsichtige Reserve gegenüber den russischen Forderungen und Verlockungen
angewiesen ist. Die Krenzzeitungspartei hat sich durch ihre Parteinahme sür die
Ncsselrodesche Auffassung, zu deren nachträglicher Berichtigung erst in ganz jüngster Zeit
einige schwache Versuche gemacht wurden, zu sehr mit den russischen Theorieen identi-
ficirt, als daß nicht ein offenes Hinübcrtretcn der Regierung auf den von Rußland
eingenommenen Boden ihren intimen Feinden den größten und gefährlichsten Vorschub
leisten müßte. Und so wird auch auf diesem Gebiete vielleicht der Streit zwischen
den beiden gegnerischen Parteien der unsrigen und der Sache der Civilisation in eini-
nigc» bescheidene» negativen Resultaten zu Gute kommen.
— In Berlin ging die neue komische Oper von Taubert: „Joggeli"
mit glücklichem Erfolg über die Bühne. — Franz Lachner, der bekanntlich seine
Stelle in München aufgegeben hat. und Kapellmeister in Hamburg geworden ist, hat seine
Direktion mit dem „Fidelio" eröffnet; sein Vorgänger Barbieri hatte- seine Amtsthä¬
tigkeit mit Rossini's „Belagerung von Corinth" geschlossen. — In Reichenbach bei Zit-
tau ist am 29. September ein schönes Musikfest gefeiert, zu Ehren des hochverdienten
Kirchcncomponisten I. G. Schicht d' -1823 als Cantor an der Thomasschule zu
Leipzig), der -1733 in Reichenbach geboren war. — In Bezug aus die Ausführung der
„Stummen" in Berlin, die zuerst von Fräulein Marie Tagliom, dann von Fräulein
Arms gegeben wurde, behandelt Jul. Schäffer in der „Neuen Berliner Musikzeitung"
die Frage, ob die Stumme überwiegend eine Spiel- oder eine Tanzpartie sei (Tanz in
dem von Wagner zuerst aufgestellten erweiterten Sinne genommen, wo es rhytmisch-cha-
rakteristische Bewegung nach dem Maß der Musik bedeutet), und entscheidet sich für das
letztere. Wir stimmen ihm im wesentlichen bei, müssen aber hinzusetzen, daß uns eben
darum der Werth dieser Pariser Erfindung sehr zweifelhaft erscheint. Im Ballet ist
die conventionelle Voraussetzung, man spreche mit dem Körper, ganz in der Ordnung,
in der Oper dagegen soll man mit Tönen sprechen, und die rhytmische Körperbewegung
kann nur etwas secundäres sein. —
— In Turin erscheint als Montagsnummer des liberalen Psi-I-»-
mento die Beilage: volle «.Uno c>i seien/e, lettere, urri, Industrie ilslianne e
ulei-e , welches sehr zweckmäßige Uebersichten über die italienische und fremde Literatur
gibt, In der Nummer vom 22, August sind u, a> die Arbeiten des Prof, L, S. Blanc über
italienische Literatur, namentlich der Voeulmluric, d.'iMssco, mit gebührendem Lob besprochen.
Bilder aus den Jahre» 1813, 1814, 1813. Der preußische» Jugend ge¬
widmet von or. Eduard Grosse, Lehrer an der höhern Bürgerschule zu Aschersleben.
Ascherslebe», Berger. — Sorgfältig ausgewählte u»d für ihren Zweck sehr anschaulich
und verständig erzählte kleine Geschichten, die.de» Zweck haben, den patriotische» Sinn
z» stärke» u»d dabei wenigstens ein ungefähres Bild von dem allgemeinen Gange der
Kriegsbegebenheit-» zugebe». Jene Zeit enthält soviel große und schöne Züge, daß
man sie nie genug zurückrufen kann. —
Peregriue Platte. Humoristischer Roman von Smollett, bearbeitet für die Ju¬
gend vo» Moriz Gans. Pesth, Hcckenast. — Das ausgelassenste Product einer
ausgelassenen Literatur für die Jugend zu bearbeite», ist eigentlich eine sonderbare Idee.
Der Herausgeber hat eine Menge sehr origineller und drolliger Scenen weggeschnitten,
weil sie in der That zu conisch wäre», um der „Jugend" in die Hättde gegeben zu
werde», aber es ist doch ge»»g übrig geblieben, u»d so hat man das peinigende Ge¬
fühl, daß dem Dichter Gewalt angethan und der Zweck doch nicht erreicht wird. Aber
auch so bleibt in dem Buch noch immer sehr viel naturwüchsiger Humor, und wer den
alten Percgriue nicht in seiner Urform kennt, oder wem diese zu laug ist, wird sich
auch an diesem Auszug genug ergötzen. —
Neue Kalender. — Trewcndts Volkskalender, 10. Jahrg. Breslau, Trewendt,
— und: Volkskalender von K. Steffens, Berlin, Simiv».—Beide sind, abgesehen
von dem gewöhnlichen Kalendcrapparat, mit el»er Reihe vo» Stahlstiche» verziert, die
zum Theil recht hübsch find, ferner mit belletristischen Beiträgen. Im ersten finden
wir u. a. Erzählungen von W. O. von Horn, G. Nieritz, Beschreibungen, serner
eine'Reihe vo» Gedichten; darunter ein recht hübsches schlesisches von Holtet; — im
zweiten Erzählungen von G. Nieritz, F. Budy, F. Geistäcker, Eben. Höfer, M. Ring
und zahlreiche Notizen. —
— Die Weihnachtszeit naht heran und mit ihr die kleinen
Ausgaben in Goldschnitt und zierlichem Einband, bestimmt, die Toilettentische zu ver¬
zieren. Was könnte sich für einen solchen Zweck mehr eignen als die deutsche Lyrik?
Und so sehen wir denn einem fruchtbaren lyrischen Nachwuchs entgegen. — Eine Samm¬
lung: „Stunden am Meere." Von Laurian Morris. (Erfurt, Bartholomäus).
zeichnet sich durch eine stille, bescheidene Gemüthlichkeit aus, die einen recht guten Ein¬
druck macht, sowie durch eine wohlklingende Melodie; eine zweite: „Christus-Sagen,
Dichtungen, gesammelt und herausgegeben von F. Bruuold." (Erfurt, Bartholomäus),
gibt uns die beliebtesten religiösen Gedichte von Spitta, L. von Plönnies, Mosen,
Rückert u. s. w.; eine dritte: „Gedankenblitze von Oswald Anton (Görlitz,
Heinze), ist mehr individueller Natur, sie nähert sich dem Heineschen Stil, und gibt
Liebesempfindungcn aus verschiedenen Gelegenheiten, häufig mit einer komischen Wendung.--
Die beiden Bücher gehören zu jener Gattung, die Gott sei Dank noch nicht
so selten ist, und die uns einen Trost geben kann, wenn wir aus vielen nahe¬
liegenden Gründen an der Zukunft unseres Volks zweifeln. Obgleich sie zwei
verschiedenen Generationen angehören, geben sie uns doch ein zusammenhängen¬
des und erfreuliches Bild von der Continuität des Lebens in der deutschen
Wissenschaft. In dem einen gibt uus der Altmeister der deutschen Sprache die
höchsten Resultate seiner Forschungen, die bereits weit über ein Menschenalter
Hinausgehen, in dem andern tritt ein junger Gelehrter, in demselben Geist der
Bildung aufgewachsen, mit einem kühnen aber erfolgreichen Wagniß ebenbürtig in
den Kreis der deutschen Wissenschaft.
Als Jacob Grimm seine „Geschichte der deutschen Sprache" vollendete
mitten im Ausbruch der Revolutionssturme, am 7. März -1848, schrieb er am
Schluß seiner Vorrede: „Ich arbeite zwar mit ungeschwächter innerer Lust, aber
ganz einsam, und vernehme weder Beifall noch Tadel, sogar von denen, die mir
am nächsten stehend, mich am sichersten beurtheilen können. Ist das nicht ein.
drohendes Zeichen des Stillstandes oder gar der Abnahme gemeinsam sonst froh
gepflogener Forschungen, für die sonst kein Ende abzusehen schien?" Dab er
sich in dieser Befürchtung getäuscht hat, dafür wird ihm die neue Auflage seines
Werks, sowie die begeisterte Aufnahme seines Wörterbuchs von Seiten des
gesammten deutschen Volks ein erfreuliches Zeugniß sein. Es hat sich seitdem
vieles abgeklärt, was das deutsche Leben in ein wüstes Chaos zu vertiefen
schien, wenn auch viele schöne Illusionen damit aufgelöst siud. Wenn Grimm
damals (11. Juni 1848) noch während des Drucks an Gervinus schrieb: „Es
kann komme», daß nun lange Zeit diese Studien darnieder liegen, bevor das
wühlende öffentliche Geräusch ihnen wieder Raum gestatten wird; sie müssen uns
dann wie ein edler und milder Traum hinter uns stehender Jugend gemuthcn,
wenn aus Ohr der Wachenden ein roher Wahn schlägt, alle unsere Geschichte
von Arminins an sei als unnütz der Vergessenheit zu übergeben und blos am
eingebildeten Recht der kurzen Spanne unserer Zeit mit dem heftigsten Anspruch
zu hänge»;" — so ist eine solche Verirrung des politischen Strebens, und das
ist keiner der geringsten Erfolge jener Zeit, jetzt vollständig überwunden. Es
gibt keine Partei in Deutschland mehr, die einem flachen, weltbürgerlichen
Liberalismus die Eigenthümlichkeiten des deutschen Lebens und der deutschen
Geschichte opfern mochte, und die Demokraten wetteifern mit den Constitutionellen
und Absolutisten, sich in den Strom des vaterländischen geschichtlichen Lebens zu
vertiefen, von dem uns kein Sturm von außen mehr hinwegwehen soll. Und
wie die Wissenschaft überall Hand in Hand geht mit den vernehmlichen Aeußer¬
ungen der allgemeinen Gesinnung und Thätigkeit, so ist anch jetzt vorauszusehen,
daß die germanistischen Studien, deren großer Begründer I. Grimm gewesen ist,
grade wie nach der französischen Schreckensherrschaft, einen neuen Aufschwung
nehmen, und befruchtend auf alle weiteren historischen Untersuchungen, auf unsere
Kunst und unsere Sittlichkeit einwirken werden. Gervinus, den man von Seiten
unserer Absolutisten und Demokraten jetzt, einiger nicht mit der gewöhnliche»
Schärfe hingestellten Wendnnge» wege», gern zu el»em Vertreter der unhistorischen
Fortbewegung stempeln möchte, hat in der neuesten Ausgabe seiner „Geschichte
der deutschen Dichtung" mit der ungebrochenen sittlichen Stärke deutschen National-
gefühls und mit neuen, sehr reichhaltigen Forschungen in unser geschichtliches
Leben zurückgegriffen; und wen» mau sich in Berlin, obgleich nach langem
Zögern, entschlossen hat, an Lachmann, des Unvergeßlichen, Stelle den einzigen
Gelehrten zu berufen, der in dem Geist der strengen Methode dieses großen
Kritikers in der deutschen und classische» Philologie fortwirken konnte, Moritz
Haupt, trotz aller politische» Bedenken, die mau geschäftig war, dagegen anzu¬
regen, so ist dies immerhin ein Zeichen, daß mau auch in jenen Regionen ent¬
schlossen ist, die deutsche Wissenschaft, die für die Ewigkeit schafft, den kleinlichen
Rücksichten des Moments nicht zu opfern. So erkenne» wir anch in der drücken¬
den Atmosphäre unserer heutige» Zustände noch immer einzelne Spuren, ans
denen wir das Dämmern einer bessern Zeit empfinden dürfen. Um dieser bessern
Zukunft eine sichere Grundlage zu bereite», ist, da die Poesie uns völlig im
Stich gelassen hat, nichts so berufen, als die deutsche Wissenschaft, und wir
nehme» es als ein schönes Symbol, daß ein großes Werk, welches mit seiner
Gründung in die Zeit fällt, wo mau uach sausculottischer, zerfahrener nngeschicht-
licher Freiheit strebte, jetzt zum zweiten Mal ans Licht tritt, wo man sich in
ebenso ungeschichtlichen, «»deutsche», inhaltlosen „conservativen" Tendenzen bewegt.
Solange der deutsche Geist, die productive Kraft unserer Geschichte, noch fortwirkt,
können uns die Schwankungen in der augenblicklichen Erscheinung nicht irren.
Die zweite Auflage der „Geschichte der deutschen Sprache" ist ein schönes
Zeichen. Denn Grimm hat es dem Volk nicht leicht gemacht, den unerschöpflichen
Reichthum bedeutendster und folgenreichster Forschungen, den er darbietet, sich
anzueignen. Was ihn vorzugsweise befähigt hat, die bereits zu einem so un¬
übersehbaren Umfang angewachsene deutsche Sprachwissenschaft wie aus dem Nichts
zu schaffen, seine Methode nämlich, aus dem Einzelnen anzufangen, und aus der
massenhaften Anhäufung des Einzelnen erst das Allgemeine aufzubauen, ist für
die Wissenschaft ersprießlicher als für den Leser, der nach Resultaten eilt. Er
drückt sich selber in der Vorrede sehr schön darüber aus: „Jede Wissenschaft hat
ihre natürlichen Grenzen, die aber selten dem Auge so einfach vorliegen, wie das
Stromgebiet des Bachs, in dessen Mitte nach unsern Weisthümern ein schneiden¬
des Schwert gesteckt wird, damit das Wasser zu beiden Seiten abfließe. Willige
Forscher sollen also den verschlungenen Pfaden folgen, und bald leichteres, bald
schwereres Geschühe anlegen, um sie betreten zu können. Wer nichts wagt, ge¬
winnt nichts, und man darf mitten unter dem Greifen nach der neuen Frucht
anch den Muth des Fehlens haben. Ans dem Dunkel bricht das Licht hervor,
und der vorschreitende Tag pflegt sich ans seine Zehen zu stellen. Von der großen
Heerstraße abwärts liebe ich durch enge Kornfelder zu wandeln und ein verkroche-
nes Wicsenblümchen zu brechen, nach dem andere sich nicht niederducken würden."
Nun will uns bedünken, daß bei dieser Anlage der Forschung es nur einen Weg
gab, dem suchenden Schüler die Folge zu erleichtern, nämlich Hauptweg und
Nebenpfad mit starke», sinnlich wahrnehmbaren Strichen zu scheiden. Daß Grimm
diese, in der deutschen Wissenschaft sonst übliche Scheidung verschmäht, vielleicht
in dem gerechten Gefühl, daß im höhern Sinn alles, was er gibt, eine gleiche
Berechtigung beanspruchen dürfe, erschwert hauptsächlich das Studium seiner
Schriften; weniger der eigenthümliche Stil, der uus zwar zu Anfang fremdartig
entgegentritt, der uus aber bald wegen seines geiht- und gemüthvollen Gehalts
auf eine wunderbare Weise fesselt und in den wir uns endlich ganz hineinleben.
Und wenn in irgend einem Werke schon die Schwierigkeit des Inhalts groß ist,
so ist es dieses, dessen Horizont sich weit über den gewohnten Gesichtskreis seiner
Forschungen erstreckt. Das Wörterbuch beschäftigt sich ausschließlich mit dem neu¬
hochdeutschen Sprachschatze, dessen unermeßliche Fülle es uns zum ersten Male
aufgeschlossen hat; die Grammatik mit den verschiedenen Zweigen des germanischen
Stammes; die „Geschichte" dagegen taucht sich mit einer erschreckenden Kühnheit
in den Ocean jener Sprachverwandtschaft, die man als die indogermanische zu
bezeichnen pflegt, und unternimmt es, innerhalb derselben dem germanischen Strom
sein Bette anzuweisen, in historischem Zusammenhang, oft nur durch einzelne, un¬
scheinbare Malzeichen geleitet. Trotz aller dieser Schwierigkeiten hat sich das
Buch seinen Weg gebahnt, seine Resultate sind in den Organismus der Wissen¬
schaft eingedrungen, während es selbst als ein unvergängliches Zeugniß deutschen
Strebens fortbestehn wird.
Nur auf diese Thatsache haben wir hier hinweisen wollen; fern aber soll es
von uns liegen, in irgend einer Weise uns an eine Kritik wagen zu wollen, die
vor ein ganz anderes Forum gehört. —
Das zweite Werk, dem wir die höchste Ehre anzuthun glauben, indem wir
es neben das Grimmsche stellen, steht dem Verständniß ungleich näher. Wir
kannten Heinrich Rückert, den Sohn des Dichters, bisher nur aus historische»
und deutschphilologischen Arbeiten von geringerem Umfang; sie zeichneten sich, so
namentlich seine compendiarische Geschichte des deutschen Volks, durch jene eigen¬
thümliche Mischung von Stolz und Bescheidenheit aus, die mau bei deutschen Ge¬
lehrten so häufig antrifft, und die uns so wohl ansteht: Stolz auf die solide Be¬
gründung der Kenntnisse, zaghafte Bescheidenheit in der Aufrichtung der Resul¬
tate. Der Ton der vorliegenden Schrift weicht wesentlich ab. Es ist in dersel¬
ben eine Unerschrockenheit der Combination und eine Zuversichtlichkeit des Ur¬
theils, die sür manche etwas schneidendes haben wird, an die man mehr bei
unsern Philosophen als bei unsern Historikern gewöhnt ist. Auf uns hat dieser
Ton einen sehr angenehmen Eindruck gemacht, denn wir lieben die feste männliche
Hand, die ihrer Geschicklichkeit in der Leitung des Zügels gewiß ist, und die kei¬
nen Augenblick zaudert und schwankt. Die Philosophie der Geschichte oder die
constructive Geschichtschreibung ist bei uns etwas in Verruf gekommen, weniger
ihres Inhalts als ihrer Form halber; denn wenn auch ihre Behauptungen häufig
eine überraschende, in die Augen springende Wahrheit hatten, so fühlte man doch
heraus, daß in der Motivirung derselben etwas Unangemessenes sei, daß man hi¬
storische Thatsachen unmöglich aus einer ideellen Dialektik herleiten könne. Das
wissenschaftliche Gewissen sträubte sich, Folgerungen anzuerkennen, die an und für
sich sehr annehmbar schienen, deren Beweisführung aber lückenhaft war. Aber es
gibt in der That eine Philosophie der Geschichte, eine Kunst, nach streng histo¬
rischem Gesetz ans genau bekannten Thatsachen auf Unbekanntes zu schließen,
und diese Kunst hat Herr Rückert auf eine Weise ausgeübt, die ihm nach unserer
Ueberzeugung eine sehr bedeutende Zukunft verspricht. Denn er verliert sich nir¬
gends in lustiges Räsonnement, er macht vielmehr überall zunächst den Eindruck
eines umfangreichen und tiefen Wissens, und das Gewebe der Thatsachen ist so
sest in einander gefügt, daß man hänfig die Kühnheit der Schlüsse gar nicht be¬
merkt. Wir wagen auch keineswegs zu behaupten, daß sich diese Construction in
allen einzelnen Punkten als stichhaltig bewähren wird, aber die Hauptzüge stehen
unerschütterlich fest,' und auf das Detail läßt sich wieder das schöne Wort I.
Grimms anwenden: „Wer nichts wagt, gewinnt nichts, und man darf mitten
unter dem Greisen nach der neuen Frucht auch den Muth des Fehlens haben."
Die Aufgabe, welche sich unser Geschichtschreiber stellt, ist nämlich der Hauptsache
nach folgende. Man hat von dem deutschen Heidenthum, namentlich seit den
großen Forschungen I. Grimms, ein sehr reichhaltiges und in einzelnen Zügen bunt
und lebensvoll ausgeführtes Bild. Aber man hat noch nicht den Versuch gemacht,
in dieses Gemälde eine geschichtliche Gliederung einzuführen. Man hat die Zeug¬
nisse der römischen Schriftsteller seit Cäsar, die Traditionen, Märchen und die
übrigen Quellen, soweit sie auch der Zeit nach auseinander liegen, nur nach dem
einzigen Unterschied gefragt, ob sie heidnisch-germanische oder christlich-römische
Momente enthielten; man hat das römische Christenthum, wenigstens im Gro¬
ßen und Ganzen, als ein äußerliches Schicksal aufgefaßt, welches die heidnisch-
germanische Weltanschauung ereilte, und bis auf einige dunkle Spuren, die sich
in das Reich der Sage und Poesie flüchteten, begrub. Nach einem innern Zu¬
sammenhang zwischen beiden hat man nicht gesucht: vielleicht zum Theil, weil man
trotz seiner Opposition gegen den Rationalismus vulgaris im Christenthum doch
hauptsächlich nur die rationalistischen Momente hervorkehrte. Herr Rückert geht
dagegen von einer unbefangenen nud zugleich eindringenden Auffassung des Christen¬
thums ans. „Man kann behaupten, sagt er S. 27, daß das Christenthum in
seiner allgemeinsten Fassung zwar nicht aus eiuer totalen Verzweiflung an der bis
zu seiner Zeit giltigen religiösen und sittlichen Weltauffassung hervorgegangen
ist . . aber daß es eine solche voraussetzte als die nothwendige Bedingung,
um seinen positiven Gehalt wirksam werden zu lassen." Mit diesem Gesetz, wel¬
ches den innersten Lebensnerv des Christenthums berührt, in der Hand, prüft er die
geschichtliche Entwickelung der Germanen in ihrem Kampf gegen das Römerthum,
theils nach den Berichten der gleichzeitigen Schriftsteller, theils nach den ganz nothwen¬
digen Voraussetzungen, welche die veränderte Art und Weise der Beziehung bedingt.
Er findet in dem Heidenthum, parallel mit der übrigen Cnltnrbildnng, eine
successive Entwickelung und zwar immer mehr zum Düstern und Verzweifelnden
hin; er zeigt, wie sich allmälich die Götter, — die idealen Lebensbilder des
Germanenthums, die jedes Verständniß der christlichen Dogmatik und Moral aus¬
schlossen, weil sie der absolute Gegensatz derselben waren — theils in dämonische,
den Menschen feindselige Kräfte auflösten, theils sich diesen Kräften gegenüber als
schwach erwiesen; wie also der Proceß, den man gewöhnlich erst in die christliche
Zeit verlegt, welche die Götter zu bösen Wesen herabgedrückt habe, zum Theil
bereits innerhalb des Heidenthums selbst sich vollzieht. Die Anschauungsweise
des Volksgeistes kehrte sich auf dem Wege des allernatürlichsten, rein von innern
Momenten beherrschten EntwickelnngsprocesseS um. (S. 1i2.) „Während früher
der Volksgeist sich in Freundschaft zu den Mächten der Natur gefühlt und nur
in zweiter Reihe auch eine Ahnung von ihrer Wildheit und Tücke empfunden
hatte, die gelegentlich losbrechend den Menschen und seine Werke vertilgen konnte,
so war jetzt die Natur wesentlich mit feindseligen Mächten erfüllt, die dem Mer-
sehen auf jedem Schritt und Tritt Verderben bereiteten; ja das schmerzgestimmte
Gemüth ging noch weiter: diese Machte lauerten nicht blos auf das Verderben
des Mensche», sondern sie strebten nach einer Zerstörung der ganzen vorhandenen
sichtbaren und unsichtbaren Welt, soweit sie nicht schon von ihnen erfüllt und
beherrscht war, und vor allen Dingen nach einer Vernichtung der höhern Götter.. .
Ja es lag sogar in dem Hintergrunde der menschlichen Empfindung der trostlose
Gedanke, daß eine Zeit kommen werde, wo dieser ruchlose Streit zu Gunsten
der Feinde der Menschen und Götter sich wenden müsse." . . (S. 1S3>) „Niemals
ist die Idee der Endlichkeit dieser Weltordnung und der sie beherrschenden Götter
mit einer solchen schreckhaften Rückhaltlostgkeit ausgesprochen; aber gewiß ist diese
Vorstellung zu ihrer concreten Lebendigkeit erst allmälig emporgewachsen, denn
sie verträgt sich durchaus innerlich nicht mit der Stimmung des Gemüths, welches
lichtere Götterwesen als Symbol der für ewig an sich glaubenden Menschheit er¬
zeugt."— (S. 1S9.) „An Versuchen zur Losung fehlte es natürlich nicht. Als
einer der merkwürdigsten davon muß der angeführt werden, welcher dadurch
über den allcrfnrchtbarsien Conflict des menschlichen Geistes mit sich selbst hin¬
wegführen sollte, daß der Geist die Existenz der Götter preisgab, aber seine
eigene zu rette» sich bemühte." Ferner dadurch (S. 161.), „...daß man sich
über das eigentliche Jenseits und die dort giltigen Bedingungen des Diesseits
und der wirklich vorhandenen Welt, der materielle» wie der immateriellen, hinaus
noch eine Phase des Weltdaseins vorzustellen versuchte." Trotzdem (S. 166.)
,,. . stand das Gemüth zuletzt immer rettungslos der Negation seiner tiefsten
Forderungen gegenüber, ohne die Mittel zu besitzen, aus sich heraus eine Macht
zu entwickeln, welche diese seine eigne» krankhaften Ausgeburten zu beschirmen
im Stande war." —
Nachdem der Verfasser so gezeigt, wie innerhalb des Heidenthums selbst jene
Stimmung sich erzeugte, welche eine neue Religion zwar nicht hervorzubringen,
aber eine gegebene, eine der Art, wie sie das Bedürfniß erheischte, aufzuneh¬
men und geistig zu reproduciren im Stande war; nachdem er ferner gezeigt, daß
der Arianismus, den die deutschen Völker annahmen, nur ein Kompromiß war,
nnr eine letzte, schwache Abwehr gegen den specifisch christliche» Geist, die eben
darum, weil sie in ihrer Hanptbeziehung negativ war, jenes Verlorne Selbstgefühl
nicht ersetzen konnte, entwickelt er in der Bekehrung der Franken zum Katholicis¬
mus eine zwar zunächst durch zufällige Umstände veranlaßte, aber in der Natur
der Umstände mit Nothwendigkeit gebotene Wiedergeburt des deutschen Geistes,
in einer Wärme und Anschaulichkeit, die auch in psychologischer Beziehung großes
Lob verdient.
Wir müsse» gestehen, daß wir in neuerer Zeit selteu ein Buch mit einer so
hohen Befriedigung gelesen haben, und daß wir mit großer Spannung das Er¬
scheinen des zweiten Theils erwarten, der uns voraussichtlich auch in die potiti-
sche Organisation der christlichen Kirche im fränkischen Reich einführen wird : eine
Seite der Frage, die in diesem Band mehr zurücktritt, weil der geistige Inhalt
des Christenthums ausschließlich die Aufmerksamkeit auf sich zieht, obgleich schon
jetzt über den Gegensatz der zum großen Theil ans romanischen Grundlagen auf¬
gerichteten katholischen Kirche gegen die arianischen oder heidnischen Landesherren
einzelne sehr bedeutende Winke gegeben werden.
Da die Kritik es sich nicht versagen kann, ihre Anerkennung durch einige
Ausstellungen zu modificiren, so wollen wir noch eine Bemerkung über den Stil
nachschicken. Er hat den Fehler, der sich seit Schiller und Schilling bei unsern
Historikern häufig vorfindet: er ist sowol in der Darstellung als in dem Rä-
sonnement zu rhetorisch, und, wenn man den Ausdruck nicht mißverstehen will,
zu pathetisch: ein Fehler, der sich ebenso in die Philosophie eingeschlichen hat.
In dieser Beziehung sollte man die Engländer, namentlich Macaulay und Grote,
studiren: wenn sie einmal rhetorisch werden, so übt das eine ganz wunderbare
Wirkung ans, da es durch deu Contrast gegen die gewöhnliche ruhige und nüchterne
Darstellung die Seele spannt und anregt. Für jede Gattung der Rede eignet
sich ein besondrer Stil, die Kritik muß sich hüten, an das Gefühl zu appelliren,
wenn auch nur in der Form, denn dadurch ermüdet sie leicht. Ani so passender
scheint es hier, Herrn Rückert darauf aufmerksam zu machen, da er noch keinen
ausgeschriebenen Stil hat, da man im Gegentheil hin und wieder »och eine ge¬
wisse Schwerfälligkeit und Unbehilflichkeit der Sprache wahrnimmt. —
Da es in denselben Kreis der deutschen Mythologie fällt, ziehen wir hier
noch ein kleineres Werk herbei:
Es ist eine interessante und mit großem Fleiß ausgebildete Monographie über
einen Gegenstand der christlichen Sage, die genetisch von ihrem Ursprung an
verfolgt, und in ihrem innern Zusammenhang mit altheidnischen Vorstellungen be¬
leuchtet wird, im Sinn und Stil der Grimmschen Schule, doch mit einer lebhaf¬
teren sittlichen Abneigung gegen die Erfindungen der katholischen Kirche, als mau
grade in jener Schule gewöhnt ist, die es liebt, die poetische Seite des Aber¬
glaubens hervorzuheben, und die sittliche, denn doch immer sehr ernsthafte und
bedenkliche, erst in zweiter Linie zu betrachten. Es ist mit den Heiligengeschichten
viel arger Unfug getrieben, und man muß einmal die glänzenden Flitter bei Seite
werfen und auf den Kern der Sache eingehen. — Wenn auf diese Weise
die deutsche Sage nach allen ihren Details gründlich durchforscht sein wird, so
werden wir uns eines lebensvollen Gemäldes unserer Vorzeit rühmen dürfen, dem
keine andere Nation etwas AelMches an die Seite zu stellen hat.
Endlich führen wir noch ein Werk an, welches wenigstens einigermaßen in
das Gebiet der deutschen Geschichte streift:
Die Vollständigkeit und die äußerst elegante Ausstattung dieses Werkes —
das Einzige was man an einem derartigen Unternehmen zu fordern berechtigt ist
— kennt das betreffende Publicum schon aus dem 1. Bde. Die schwarze Aus¬
gabe des 1. und 2. Bandes kostet, in englisch Leinen gebunden, 12 Thlr.; die
colorirte, in prachtvollster Ausstattung, 90 Thlr.
Es war im Jahre 1848 eine große Thorheit von der demokratischen und
zum Theil auch vou der liberale« Partei, eiuen erbitterten Krieg gegen die Wappen
und Adelstitel zu führen. Wenn wir vom Biirgerstand für die Gleichstellung in
allen politischen und bürgerlichen Rechten mit der vollen Siegesgewißheit kämpfen,
weil diese Gleichstellung nur die Form ist, die dem Wesen unserer gegenwärtigen
Lage entspricht, so wird sich an diesem Kampf bald jeder Widerstand brechen;
und wenn wir die socialen Unterschiede aufzuheben uus bemühen, ^'so kommt uns
auch hier die Sitte aus halbem Wege entgegen, solange wir nnr nicht Vorzüge
beneiden, die lediglich auf dem Gebiet der Imagination sich bewegen. Aber
den Adel an sich sollten wir nicht anfechten. Zwar können wir uns recht gut
einen Staat ohne Adel denken, aber wo dieser existirt, ist es ein Vorzug, denn
er versinnlicht uns die Continuität unsers geschichtlichen Lebens. Die Thaten
unserer Ahnen, die uns selbst ein freieres und edleres Gefühl unserer Würde
verleihen, knüpfen sich an bestimmte Namen, und es ist ganz gut, wenn diese
in den Geschlechtern fortleben. Die Helden des siebenjährigen Kriegs mit ihren
alten Namen sind ja am Ende auch unsere eigenen Ahnen, und wir sollten ganz
damit zufrieden sein, daß sie in unmittelbarer Tradition noch fortleben, wenn wir
auch den imaginären Vorzug, den das „Blut" daraus herleitet, an den Ort hin¬
stellen, wo er hingehört.
Die östreichische Journalistik steht auf einer ziemlich niedrigen Stufe und ist
theils aus diesem Grnnde, theils wegen ihrer localen Färbung, außerhalb der
östreichischen Grenzen so gut wie unbekannt. Fragt mau nach den Ursachen, so
wird diese Frage in Deutschland, — den» in Oestreich selbst wird sie kaum'auf¬
geworfen werden, — in der Regel damit beantwortet, daß die Presse sich in
Oestreich nicht frei genug bewegen dürfe, um einen Aufschwung nehme» zu könne»,
daß sie sich i» amer gedrückten Lage befinde, von oben herab auf alle mögliche
Weise überwacht, beschränkt und in ihrer freien Entwickelung gehemmt werde.
Das ist nicht unbedingt wahr. Der Grund liegt einmal darin, daß das östrei¬
chische Publicmu, als Konsument der Zeitungen, seinem bei weitem größten Theile
nach ein leicht zu befriedigendes ist, anderntheils in dem Maugel an glänzenden
pnblicistischeu Talenten. Die wenigen, die man dahin rechnen könnte, sind poli¬
tisch compromittirt, außer Landes, oder schweigen theils nothgedrungen, theils
aus Abneigung.
Einen großen Theil der östreichischen politischen Tagespresse bilden die Ne-
gieruugsorgaue, deren jedes Krvnland eins besitzt. Sie werden zum Theil von
Beamten redigirt, beschäftigen sich in ihrem politischen Theile vorzugsweise mit
dem „Inlande" und erhalten von den betreffenden Stellen amtliche und halb¬
amtliche Mittheilungen über alle zur Veröffentlichung geeigneten Ereignisse im
Bereiche der Verwaltung, der Gesetzgebung ze. Außerdem bringen sie in ihren
Amtsblättern alle Regieruugsannoncen, officielle Knndmachnngen, Edicte, La¬
dungen :c. und finden also auch größtentheils in den Kreisen der Beamten,
Militärs, Geistliche» ihre Leser, während die große Masse der bürgerlichen Be¬
völkerung zu andern Blättern greift, die aus jenen Ncgiernngsorganen nur das
Wesentlichste in verkürzter Form reproduciren und ihren sonstigen Inhalt mehr
dem Geschmack ihres Publicums zu accommodiren wissen.
Wien hat außer dem Negieruugsorgaue, der „Oestreichisch Kaiserlichen
Wiener Zeitung" mit ihren verschiedenen Beiblättern, drei große politische
Zeitungen, die „Ostdeutsche Post", den „Wiener Lloud" und den „Wanderer".
— Die Ostdeutsche Post, im Geroidschen Verlage und im Mitbesitz ihres
früheren Redacteurs, Ignaz Kurauda, hat deu unleugbaren Vorzug, mehr als die
andern beiden, eine Zeitung nach „deutschem" Begriffe sein zu wollen, sie bringt
mitunter lesbare Leitartikel, oftmals gute Korrespondenzen, auch ans nicht östrei¬
chischen Hauptstädten, und liefert in ihrem Feuilleton zuweilen gediegene Be¬
sprechungen literarischer Erscheinungen und dramatischer und musikalischer Novi¬
täten; ihren Beurtheilungen der Oper ist entschieden der Vorzug zu geben vor
denen des Dramas. In diesem Augenblicke bringt das Feuilleton, als dessen
Redacteur Friedrich Abt gilt, einen — Breierschen Roman, „der Kongreß zu
Wien" und macht damit — vielleicht sehr eontrs coeur, aber nothgedrungen
— eine Concession dem Geschmack des Wiener Publicums, und selbst dem Ge¬
schmack des Publicums, welches vorzugsweise die Ostdeutsche Post liest: denn
man muß wissen, daß Herr Breier, der Wiener Eugene Sue, nicht blos von den
Köchinnen und Schneidermamsells, sondern bis in die höchsten Regionen hinauf
mit Begierde gelesen wird.
Der Wiener Lloyd hat nicht mehr soviel Abonnenten wie früher, aber
immer noch mehr, als Post und Wanderer. Man liest ihn > nicht eben wegen
seines Feuilletons, in dem die Redactrice, Frau oder Fräulein Betty Paoli, Be¬
sprechungen von ihrem Standpunkte über Bnrgthcateraufführuugen, Ausstellun¬
gen des Wiener Kunstvereins und diejenigen literarischen Novitäten, welche ihr
zu diesem Zwecke eingesandt werden, zu liefern pflegt, in denen gar curiose Ur¬
theile zu Tage gefördert werden; die Mehrzahl seiner Leser, namentlich unter
der Kaufmanns- — Wienerisch-Großhandluugs - — und Börsen-Welt, verdankt
der Lloyd, dessen Benennung noch ans seiner frühern Triester Periode stammt,
den Leitartikeln des Herrn Warreus, die durch ihre Klarheit, ihr gesundes, stets
den Nagel ans den Kopf treffendes Urtheil und durch ihre fast niemals politischen
Theorien, sondern stets praktischen Fragen geltende Tendenz, sich in allen intel¬
ligenten Kreisen eine wohlverdiente Anerkennung erworben haben. Herr Warrens
hat überdies durch eine glückliche Wendung, die er binnen verhältnismäßig kurzer
Zeit seinen früher keineswegs glänzenden Vermögnngsverhältnissen zu geben gewußt
hat, den Beweis geliefert, daß seine Ansichten von der Lage der Dinge, sein
Urtheil über politische Konstellationen und seine Kenntniß von dem, was in den
höhern Regionen im Werke und geeignet ist, auf den Geldmarkt, auf die Börse
Einfluß zu üben, von mehr als blos relativem literarischen Werthe sind, wenn
man, wie er, das Talent besitzt, praktischen Nutzen daraus zu ziehen.
Der Wanderer des Herrn von Seyfried hat, wenn ich recht vermuthe, von
diesen drei Zeitungen die Minderzahl der Leser. Weder der politische Theil,
noch daß Feuilleton sind von der Art, daß sie die Neugierde des Lesers reizen
könnten. Oder wäre es vielleicht die Rubrik: „Theaternachrichten von gestern",
in welcher der Redacteur zwar niemals eine eigentliche Kritik, aber alltäglich,
namentlich über Oper, Ballet und Concerte, eine gewissenhafte Aufzählung der
Hervorrufe und ü-z, e-ipo's, der in Aussicht stehenden Gastspiele, der Beurlau¬
bungen, Kunstreisen, Heiserkeiten, kurz aller jener kleinen öffentlichen Conlissen-
geheimnisse gibt, mit denen doch wol mir dem für die betreffenden Persönlich¬
keiten speciell sich interessirenden Theaterenthusiasten gedient sein kann, die aber
in einer großen politischen Zeitung kaum am Platze sind.
Allen diesen drei Zeitungen ist ein Uebelstand gemeinsam. Ihnen fehlt ein
hauptsächliches Erfordernis; zur frischen Lebensfähigkeit: die Annoncen. Eine
Zeitung die keine Annoncen hat, hat anch keinen großen Leserkreis, mag nun
das erstere die Ursache des letzteren sein, oder umgekehrt; wenigstens gilt dies
stets für den Absatz in loco. Die letzte Seite ist zwar auch in diesen Zeitungen
meistentheils mit Inseraten angefüllt, aber Buchhändleranzeigen, stehende Dampf¬
schifffahrtsannoncen, Revalenta-Empfehlungen, sind gar sehr verschieden von den¬
jenigen tausenderlei Annoncen, die der tägliche Verkehr der dichten Bevölkerung
einer Residenz mit jedem Morgen neu werden läßt. Diese finden ihr Organ
in zwei anderen Bläteru, im Fremdenblatt und, freilich in geringerem Maße,
auch in der Presse. — Fremdenblatt und Presse sind die beiden Journale, welche
sozusagen jedermann liest, deren Auflage eine bedeutende ist und die für ihre
Unternehmer eine reiche Erwerbsquelle abgeben. Das Fremdenblatt, Eigenthum
des Herrn Gustav Heine, eines Bruders oder Vetters von Heinrich Heine, ist
das populärste Blatt in Wien; es erscheint außer Montags täglich in Quart¬
format und meistens in mehren Bogen, widmet die erste Seite den Landes-, die
zweite den Welt- und die dritte den Stadtbegebenheiten, die vierte den ange¬
kommenen Fremden, die folgenden den Annoncen in bunterster Reihe, und die
letzte den Theater- und Vcrgnügungsanzeigen und — den Coursberichten. Fast
alle Neuigkeiten, politischen oder localen Inhaltes, werden im Fremdenblatt in
der Form kurzer Notizen gegeben und diese Form, gegen welche sich viel ein¬
wenden läßt, trägt gewiß nicht wenig dazu bei, dem Publicum den Stoff mund¬
gerecht zu machen und zugleich durch die Masse des Dargebotenen zu imponiren.
Die Presse, Eigenthum des Herrn August Zang, befolgt dieses System nur bei
den Localsacheu, die Politik gibt sie in der Form von Korrespondenz- und Leit¬
artikeln; Annoncen hat sie bei weitem weniger, als das Fremdenblatt und höchst
wahrscheinlich auch überhaupt weniger Leser, als jenes, wenn auch deren mehr
außerhalb Wiens. Was sie für das Minus an Anzeigen ihren Lesern als Ersatz
mehr bietet, als das Fremdcublatt, ist ein Roman-Feuilleton aus dem Franzö¬
sischen mit endlosen „Forschung folgt", und — der Theaterzettel des Carl¬
theaters, den das Fremdenblatt, infolge persönlicher Differenzen mit Herrn
Carl, seit geraumer Zeit ausgeschlossen hat. Theaterkritiken liefern beide Blätter
über alle Novitäten, aber wie? — —
Daß Fremdenblatt und Presse geschworene Feinde sind, wird niemand Wun¬
der nehmen. Nicht uninteressant ist es, wenn sie einander von Zeit zu Zeit,
namentlich gegen den Beginn eines neuen Quartalabonnements, „beim Kragen
nehmen und ganz gehörig verarbeiten", wobei sie sich in der Regel in nicht allzu-
feinen Worten ihre politischen Antecedentien vorwerfen, die namentlich der Presse
schwache Seite sein sollen, die uns aber in ihren Details hier nicht weiter inter-
essiren könne»; — wo gab es nicht seit dem Jahre 1848 „Umschwunge" in der
öffentlichen Meinung und in deu Organen, die ihr zu huldigen augewiesen waren! —
„Morgenpost" und „Nenigkeitsbote" sind noch zwei ähnliche Blätter,
doch als schwache Schattenbilder von Fremdenblatt und Presse und vermöge ihres
geringen, nur den untere» Klassen angehörenden Leserkreises, hier nur beiläufig
zu erwähnen.
Der „Verschleiß" dieser und auch der beliebtesten nicht politischen Zeitungen
wird in Wien und überhaupt in der östreichischen Monarchie in eigenthümlicher
Weise gehandhabt. Ein Theil der Exemplare wird im Wege der Pränumeration
an feste Abonnenten abgesetzt, ein großer Theil aber in einzelne» Nummer» für
wenige Kreuzer theils von den Expeditionen, theils in den Gewölben der Tabaks-
trafikantinueu, Lvttocollectenrs und Bricfmarkeuverschlcißer debutirt. Auswärtige
Abonnenten bestellen die inländischen Zeitungen nicht wie überall in Deutschland
bei der Post, sondern in frankirten, an die Redaction oder Expedition gerichteten
Briefen, denen der Abonnementsbetrag beigefügt sein muß. So kommt es, daß
gegen den Schluß des Quartals oft an einem Tage an tausend Geldbriefe und
darüber für eine einzige Zeinmgsexpeditiou bei der Post einlaufen. Ebenso liefert
die Expedition den Bedarf für die Monarchie nicht an die Pvstamts-Zeitungs-
expedition, die sich nur mit dem Debit der Zeitungen vom Auslande und für
das Ausland befaßt, sondern sie versendet per Briefpost jedes einzelne Exemplar
nnter gedruckten Streifbande mit der Adresse des Empfängers und beklebt mit
einer Zeituugsfreimarke in blauer Farbe, die deu Kopf der Austria als Vignette
trägt und deren man hundert sür einen Gulden C.-M. erhält. Ob diese schwer-
fällige Art des Zeitungsdebits der Post an Geldbrief- und Zeitungs-Porto mehr
einträgt, als der in Deutschland übliche Postaufschlag? — Daß zahllose Confu-
floneu und Reclamationen ihre Folge find, daß steht fest.
Der politischen Journale in den Provinzen sind mehr, als mau denken sollte.
Nach dem jetzt, am Schlüsse des Jahres, freilich schon ein wenig veralteten Zei-
tnugspreiöcouraut, deu die Post zunächst für den Zeituugsdebit an ausländische
Postanstalten drucken läßt, existiren deren 28 in deutscher, 11 in sechs verschie¬
denen slavischen Sprachen, 20 in italienischer, 2 in ungarischer, eine in romani¬
scher nud eine in armenischer Sprache.
Von nicht politische», oder doch nur zum kleinsten Theile der Politik ge¬
widmeten Blättern sind i» Wie» die verbreitetste» und mit Ausnahme des letz¬
teren auch die bekanntesten: Saphirs Humorist, Bäuerles Theaterzeitung
und Langers Hans Jörgel von Gray oldskirchen.
Das Saphirsche Blatt, an dem Herr M. G. Saphir eigentlich nur Mit¬
arbeiter, dessen Redacteur aber ein ehemaliger Buchhandlnngscommiö, Herr
Alexander Patuzzi ist, hat nur durch Saphirs eigene Artikel einiges Interesse,
alles übrige in demselben, sowie auch namentlich in der damit zusammenhän¬
genden Moutagsbcilage, ,,der Wocheukrebs", ist höchst langweilig und nicht
selten abgeschmackt; es besteht in Novellen, Theaterrecensionen und den Wiener
Tagesneuigkeiten, mit denen das Cvrrespondenzburcau die Mehrzahl der dortigen
Blätter in gleichlautenden Abschriften täglich'versorgt. Das Interesse an Saphirs
eigenen Artikeln ist Geschmackssache. Daß er ein witziger Kopf ist, bestreitet
ihm niemand, daß er aber seinem Witze eine gefällige Form zu gebe», daß er
den malcontente», malitiösen Griesgram, der selbst hinter der Maske jugendlicher
Pepita-Schwärmerei hervorguckte, ein wenig zu cachircu verstände, und daß seine
zahllosen Wortwitze nicht meistentheils »»endlich geschmacklos genannt werden
müßten, sind Dinge, die ich nicht behaupten möchte; mir z. B. und gewiß vielen
andern ist der Berliner Kladderadatschwitz tausendmal lieber.
Bänerles Theaterzeitnng sucht ihr Heil in der Mannigfaltigkeit ihres bunten
Notizcnkrams, bei denen sie viele französische und dem größeren Publicum unzu¬
gängliche Quellen, wie z. B. die Gazette des Tribuneaux, namentlich für Mord¬
thaten, Vergiftungen, Ehestandömisercn und dergleichen Pikauterien zu be¬
nutzen pflegt.
Der Haus Jörgel von Gnmpoldskirchen, wohl zu unterscheiden vou seinem
jüngeren Concurrenten, dem Hans Jörgel von Speising, ist, wenn nicht die
Revue des deux mondes, doch in der That die Chroniqne de la Quinzaine der
Fiacres, Hausmeister, Köchinnen und aller alte» Weiber, el» literarisch-politisch-
svciales „Geplausch", ein Kaffeeklatsch im Wiener Dialekt über alle möglichen
Stadtbegebenheiten. Alle vierzehn Tage erscheint solch ein rothes, doch aber sehr
konservatives Heft und soll reißenden Absatz finden.
Ich kau» unmöglich aufzählen und charakterisiere», was Wien sonst noch an
Blättern »»d Blättchen besitzt und schweige daher von Herrn Johannes-Nordma»»-
Numpelmciers „Salon", vom „Wiener Feuilleton", zu dessen Begründung
vor Jahresfrist ein Cafitier in nobler literaturfreundlicher Anwandlung dem Heraus¬
geber, einem Herrn Baruch Märzroth (!), die nöthigen Gelder — man sprach
von 10,000 Fi. C.-M. — vorgestreckt haben soll, von Ebersbergs „Zuschauer",
vom „Soldatenfreund", von Herrn John Greis oder mit anagrammatischem
Antoruamcn: Rcyhougs „Oesterreichischer Illustrirter Zeitschrift" und
von so manchen andern Producten der Wiener Tagespresse, deren Herausgeber
durchaus keinen Grund haben, mir ob dieses Schweigens gram zu sein.
Man sollte denken, daß um so begieriger nach den ausländischen Zeitungen
gegriffen würde. Dem ist aber nicht so. Von ausländischen, d. h. zunächst von
deutschen Zeitungen, wird die Augsburger Allgemeine Zeitung allerdings stark
gelesen; es sollen »kehre tausend Exemplare nach Oestreich, und »ach Wien allein
7—800 gehen. In der Allgemeinen Zeitung liest man aber — wenigstens das
große Publicum in den Cafes — fast ausschließlich die östreichischen Artikel, und
betrachtet sie also gewissermaßen als Ergänzung der Rubrik „Inland" i» den
eigenen Landeszeitungen. Der übrige Theil der Zeitung wird weniger allgemein
beachtet, wie man überhaupt allem, was „draußen" vorgeht, entweder gar nicht
oder doch nur in seinen Beziehungen aufOestreich einiges Interesse scheust.
Daher werden auch andere deutsche Zeitungen, die sich nicht so umfassend wie die
A. A. Z. mit Oestreich beschäftigen, dort nur wenig gelesen. Man findet sie
wol,^ aber zerstreut an verschiedenen Orten. Hier hält ein Cafe— denn die
Cafis sind, einige Clubs abgerechnet, die ausschließlichen Lesecabiuets — den
Hamburger Korrespondenten, weil etwa ein alter Buchhalter, aus Hamburg ge¬
bürtig, hier als Stammgast seinen Nachmittagskaffee trinkt, der ihm ohne'seinen
Jugendfreund, den Korrespondenten, uicht schmecke» würde; dort wieder findet
man, einigen jüdischen Frankfurter Commis zu Liebe, das Frankfurter Journal
nebst der unvermeidlichen Didaskalia, wieder an einem andern Orte die Tante
Voß, oder gar die Zeitung für Norddeutschland, fast nirgend die öfter verboten
gewesene, augenblicklich glaub ich wieder erlaubte Kreuzzeitung und niemals die
Kölnische, die Weser-, die Spenersche, die Breslauer und die Schlesische Zeitung,
am allerwenigsten den alten ewig lächelnden Berliner Freund, den Kladderadatsch.
Verboten sind von namhafterer deutschen Zeitungen, soviel mir bekannt, eben
nnr diese. Und weshalb? Nicht weil sie überhaupt sich einer für Oestreich zu
freisinnigen Tendenz rühmen dürften, sondern weil sie sich speciell mit östreichischen
Angelegenheiten in einer Weise beschäftigt haben, die der Regierung nicht zusagen
konnte: die Weserzcitung in der preußisch-östreichischen Zolleinigungssache, die
Kölnische in ihren Schererschen Artikeln „von der Adria", der Kladderadatsch in
unzähligen Bonmots und Bildern u. s. w. Daß auf solche Ausfälle ein Verbot
folgt, kann man in der That der Regierung kaum übelnehmen; hat doch noch
jüngst der preußische Handelsminister in weit auffallenderer Weise die Zeitung für
Norddeutschland wegen ihrer Elbinger Korrespondenz vom Postdebit in Preußen
ausgeschlossen, eine Zeitung, die, obwol sie über manche Dinge ein offenes Wort
zu reden sich nicht genirt, dennoch in Oestreich nach wie vor offen aufliegen darf,
weil sie speciell in Beziehung auf Oestreich diejenigen Grenzen zu respectiren
weiß, die die dortige Regierung für die Besprechung ihrer inneren Angelegen¬
heiten in Anspruch nimmt. Dasselbe gilt von Times, Punch und andern engli¬
schen und auch vou französischen Blattern. Unterliegen sie — wie nicht zu be¬
zweifeln — einer Ueberwachung, so bin ich doch fest überzeugt, das nur das,
was sie über Oestreich sagen, einzig und allein für oder gegen ihre Zulässigkeit
entscheidet, im übrigen können sie sämmtlich so ziemlich schreiben was sie wollen;
es ist also eine irrthümliche Ansicht, wenn man glaubt, daß in Oestreich auf jedeZ
gedruckte freie Wort vigilirt werde. Dem ist — wenigstens gegenwärtig — in
der That nicht so, und es wäre anch überflüssig bei dem Indifferentismus, der
leider im allgemeinen gegen die ausländische Tagesliteratur dort herrscht.
Die erste türkische Druckerei in Konstantinopel gründete Sultan Ahmed III.
am S. Juli 1727 uach langem Widerstreben der Ulemas. Vor dieser Zeit
bestanden in der Hauptstadt mehre hebräische, griechische und armenische Druckereien,
die bereits kurze Zeit nach der Erfindung der Buchdruckerkunst augelegt waren.
Die ersten Werke, welche aus der kaiserlichen Druckerei hervorgingen, gaben das
Bestreben der türkischen Regierung kund, durch historische Studien über die Be¬
ziehungen sich aufzuklären, in denen sie von ihrem Ursprung an mit den Mächten
des Occidents, insbesondere mit den Seemächten, gestanden. Es sind fast aus¬
schließlich historische oder geographische Werke, theils Übersetzungen, theils
Originale, die Geschichte der Seekriege des türkischen Reiches von Hadji-Khaifa,
die Geschichte von Westindien und von der Entdeckung Amerikas, die Geschichte von
Egypten, die der Afghanen, die von dem polnischen Jesuiten KrnsiuSki ursprüng¬
lich lateinisch abgefaßt war und von ihm selbst ins Türkische übersetzt wurde,
endlich das werthvolle Werk Hadji-Khalfas: Tawwimeth-Tekarikh oder Geschichts¬
tafeln, das erste und wol das einzige universal-chronologische Buch, das die
Osmanen besitzen.
Jedoch war die Zahl dieser Druckwerke nicht eben groß: 1736 hatten die
kaiserlichen Pressen erst 18 Werke oder 2SB aude gedruckt, im ganzen 16,600 Exemplare,
deren von der Regierung festgesetzter Preis 10 bis 30 Piaster (30—90 Francs.)
betrug.
Die Kriege und auswärtigen Verwickelungen unter den Sultanen Mustapha til.
und Abdul-Hamid waren Ursache, daß vou 1736 bis 1783 ein Stillstand in der
kaiserlichen Druckerei eintrat. Durch Abdul-Hamid wiederhergestellt, veröffent¬
lichte sie von 1783 bis 1828 80 neue Werke in 91 Bänden. Diese Werke sind
ausschließlich wissenschaftlichen, historischen und geographischen Inhalts; Divanis
oder Sammlungen von Poesien, an denen die türkische Bibliographie so reich ist,
fehlen gänzlich; sie haben nur eine untergeordnete Bedeutung für das Werk
der Reform, an welchem die Regierung in neuerer Zeit arbeitet.
Vou 1830 bis Ende 1842 wurden 108 Werke ebenfalls wissenschaftlichen
Inhalts gedruckt. Erwähnenswerth ist unter denselben ein Abriß der Reichsannalen
von Said-Efendi (1837) und die türkische Uebersetzung eines Drama: Belisar,
von einem unbekannten Versasser, welches 1842 in Pera aufgeführt wurde und
wahrscheinlich der erste dramatische Versuch bei deu Türken ist. Seitdem wurden
mehre Stücke von Moliöre, »uter andern der „voui'xöciig ssenMwmms" und
der „Nalaäiz uns^maire" auf besondern Befehl des Sultans übersetzt und vor
demselben im Palast Tchvragau ausgeführt.
In der Friedenszeit, namentlich seit 184-3, stieg allmälig die Zahl der
gedruckten Bücher, neue Druckereien wurden in Konstantinopel und in einigen
großen Städten des Reichs angelegt. Während die alte Druckerei, welche Sultan
Selim in Scntari angelegt hatte, wiederhergestellt wurde, erforderte die
Gründung der ,, Staatszeitung " eine neue Typographie, welcher jetzt die kaiser¬
liche Druckerei sich bedient und vermöge deren sie Druckwerke in den Hanpt-
sprachen Europas und des Orients ausführen kaun.
Indessen beträgt doch-die Zahl der Bände, welche alle diese Pressen zusammen
in verschiedenen Sprachen gedruckt haben, bis zum Jahre 18S0 nicht mehr
als -100. Unter dieser Zahl sind freilich nicht die speciellen Werke über die Theorie
und Kunst des Krieges, sowie die geographischen Karten und Plane begriffen.
Diese werden dem Druck übergeben dnrch das permanente Uebersetznngsbureau,
welches im Seraskerat sitzt, und zwar nachdem seitens des obern Kriegsraths
die Genehmigung erfolgt ist. Dieses Bureau besteht ans acht Beamten, den
fähigsten Mitgliedern der Amedjis, welche fortwährend die besten kriegswissen-
schaftlichen Schriften übersetzen, die in Europa und besonders in Frankreich er¬
scheinen. Etwa 30 Bände dieses Inhalts sind seit 20 Jahren herausgegeben
worden. Später wurden auch Schulbücher gedruckt. Kanal-Effendi, Director
des öffentlichen Unterrichts, hat seit der -18-16 erfolgten Reorganisation der
Schulen 22 Erziehuugsschriften, meist Übertragungen ans dem Französischen, in
7S,000 Exemplaren durch die lithographischen Pressen von Galata-Serai anfertigen
lassen.
Zu deu türkischen Druckereien muß anch die große typographische Anstalt
von Boulac in Aegypten gerechnet werden, zumal da jetzt Aegypten einen in-
tegrirenden Theil des ottomanischen Reichs bildet. Diese ägyptische Druckerei,
welche 1822 von Mehemed-Ali gegründet wurde, hat bis -18-42 243 Werke
veröffentlicht. -is derselben etwa sind arabische oder türkische Uebersetzungen
europäischer Werke und von den jungen Leuten der ägyptischen Mission in
Frankreich angefertigt, welche der Vicekönig 1823 gründete. Es sind dies meist,
Werke streng wissenschaftlichen Inhalts, doch findet sich unter ihnen anch ein
Theil von Bvttas Geschichte Italiens, der erste Band der Memoiren des Herzogs
von Rovigo (türkisch), ein Auszug aus dem Memorial von Se. Helena, ebenfalls
türkisch, eine arabische Geschichte der alten Philosophen, Voltaires Charles XII.,
endlich eine sehr bemerkenswerthe Schrift über Ursprung und Fortschritte der
socialen und politischen Verhältnisse in Europa, welche dnrch den Chef des Ueber-
setzungsbureaus aus europäischen Werken zusammengestellt ist.
Die übrigen Schriften sind Originalwerke, 298 an der Zahl. Sie sind theils
wissenschaftlichen, theils belletristischen Inhalts, und enthalten auch 20 Divans
persischer und türkischer Dichter.
Diese ägyptische Literatur überflügelt in auffallender Weise die türkische in
Konstantinopel, und diese Erscheinung ist um so merkwürdiger, als die Bemühungen
der türkischen Negierung, die periodische Presse in ihre Staaten einzuführen,
vollständig gelungen sind und die Versuche, welche in dieser Beziehung in Aegypten
angestellt sind, weit hinter sich gelassen haben. Bianchi, der Dolmetscher Louis
Philipps für die orientalischen Sprachen, erklärt diesen Unterschied folgender¬
maßen: „Wenn die hohe Pforte, nach dem Beispiel des Vicekönigs von Aegypten,
seit 20 Jahren eine Mission junger Ottomanen in Paris gegründet hätte, so
würde die Türkei seit dieser Zeit nicht nur mit Schriften sich bereichert haben,
welche ihre geistige Bildungsstufe erfordert, sondern der Sultan würde anch
gegenwärtig über eine Menge fähiger und unterrichteter Leute verfügen, welche
er den Feinden der Reform entgegenstellen konnte und die ihm in seinen Ver¬
wickelungen mit der europäischen Politik die nützlichsten Dienste leisten würden.
Vereinzelte Sendungen einiger jungen Leute »ach Paris und London waren
eine Maßregel, die ein so großes und wichtiges Resultat nicht herbeiführen konnte."
Wir kommen ans die periodische Presse der Türkei. Obgleich Pre߬
freiheit in der Türkei nicht besteht, so begünstigt die Regierung die periodische
Presse doch insofern, als sie neue Ideen verbreitet, ohne der Regierung Schwierig¬
keiten zu bereiten, und was die Hauptsache ist, ohne den Gesandten der fremden
Mächte in Pera Anstoß zu geben.
Der Gründer des Journalismus in der Türkei war ein Franzose, Alexandre
Blacqne, der -I82S in Smyrna den „Spectatenr de lOrient" gründete. Diese
Zeitung, welche sich bald „Courier de Smyrna" nannte, war das erste periodische
und politische Blatt in der Türkei und übte als solches einen entschiedenen Einfluß
auf die Ereignisse in den letzten Zeiten des griechischen Aufstandes von -I82S
bis -1828. Damals, als die ganze europäische Presse für die Unabhängigkeit
Griechenlands leidenschaftlich Partei nahm und den Kreuzzug gegen die Türken
predigte, vertheidigte allein der Courier vou Smyrna die Rechte und Interessen
der Pforte und trug durch seiue heftige Opposition gegen die hellenische Negie¬
rung nicht wenig zum Sturze und vielleicht zum Morde Capo dIstrias bei.
1831 wurde Blacqne vom Sultan Mahmud nach Konstantinopel berufen
und gründete dort den „Moniteur Ottomar", die officielle Zeitung der hohe»
Pforte in französischer Sprache. Am -I-i. Mai -1832 erschien der Tciqvimi
veqna'i, (Tafel der Ereignisse), gewissermaßen die Reproduction des Moniteur
Ottomar in türkischer Sprache. Dieses Blatt wird mit großer Sorgfalt redigirt
und steht nnter der Leitung des Reichshistoriographen.
Mehre fremde Gesandte in Pera freilich geriethen über dies Ereigniß in
Unruhe, die einen aus Besorgniß über das geistige Erwachen der Türkei, die
audern aus Eifersucht gegen Frankreich und den französischen Einfluß. Es wurden
sogar deshalb Noten an die Pforte gerichtet. Aber Sultan Mahmud blieb
standhaft, der Moniteur Ottomar hielt sich trotz der Schwierigkeiten, welche ihm
die Mißstimmung der Gesandtschaften bereitete. Aber-1836 starb Blacqne plötzlich
in Malta, als er im geheimen Auftrag des Sultans nach Frankreich reiste. Zwei
andere Personen, Franceschi, ehemals dänischer Consul, und ein gewisser Egyptier,
die Blacqne nacheinander in der Redaction folgten, starben im Laufe zweier
Jahre ebenfalls plötzlich. Die Redaction des Moniteur Ottomar ging daraus
aus Lucieu Novet über, der sie bis -1818 führte, wo er Kanzler der französischen
Legation in Konstantinopel wurde.
Als Blacqne den Courier von Smyrna aufgab, trat er ihn Herrn Bouö-
qnet-Deschamps ab, der ihm den Name» Journal de Smyrna gab. Die Stadt
Smyrna erhielt kann uach einander fünf Zeitungen. Die zweite war das
„Echo de lOrient" in französischer Sprache, gegründet von dem toskanische»
Generalconsul Bargigli, dann redigirt von Couturier, einem französischen Kauf¬
mann. Das dritte Blatt gründete unter dem Titel: „LJmpartial de Smyrne"
ein Mitarbeiter Deschamps, Namens Edwards. Es erschien erst in englischer,
dann in französischer Sprache. Es ist die einzige französische Zeitung, die sich
in Smyrna behauptet hat. Das Journal de Smyrne und das Echo de lOrient
wurden bald nach Konstantinopel verlegt, wo sie sich vereinigten und seit 1846
als ein einziges Blatt nnter dem Titel: Journal de Cvnstautiuople, Echo de lOrient
erschienen. Dafür entstanden in Smyrna vier neue Blätter: zwei in griechischer
Sprache, die Amalthea und das Journal von Smyrna, eins in armenischer
Sprache, der ArchaloniS oder Aurora; endlich das vierte, Chakhar Mihrah oder
Morgenröthe des Orients, in hebräischer Sprache.
Ebenso stieg in Konstantinopel die Zahl der Zeitungen in dem Maße, als
neue Ideen, neue Interessen im Lande sich geltend machten. Gegenwärtig zählt
Konstantinopel dreizehn periodische Blätter in den verschiedenen Sprachen des
Landes. Zwei erscheinen in türkischer Sprache: der Tagvimi-vcqna'i oder Staats?
zeituug, wöchentlich einmal und gleichzeitig in armenischer Uebersetzung. Sodann
der Djeridei-Havadiß MeuigkeitSregister), gegründet 18i3, erscheint wöchentlich,
ohne officiellen Charakter und hat, wie die Staatszeitung, wenig Bedeutung für
die auswärtige Politik.
Vier Zeitungen erscheine» i» französischer Sprache: das Journal de Cou-
stantinoplc, Echo de lOrient, kommt am i., 9., 19., und 29. jedes
Monats heraus; der „Courier de Constantinople, wöchentlich; der Commerce
de Constantinople erscheint am i., l i. und 2i, jedes Monats; endlich die Gazette
Mvdicalc, ein wissenschaftliches Journal, erscheint monatlich.
Vier Zeitungen erscheinen in italienischer Sprache: der Omnibus zweimal
wöchentlich, Dienstag und Sonnabend, der Jndicatore bisantino, ein reines
Handelsblatt, wöchentlich; das Album bisantino wöchentlich; die Ginrisprudaza
bisantina, eine juristische Zeitschrift.
Eine Zeitung erscheint in griechischer Sprache: Telegraphos ton Bosporvn,
wöchentlich; eine in armenischer: der Haiasdc» oder Armenien, wöchentlich;
eine in bulgarischer Sprache: Noviua bulgarska, mit russischen Lettern, zweimal
wöchentlich.
Der Tciqvimi vcqua'i erscheint a»f Kosten der Negierung. Die meisten
andern Zeitungen, wenigstens die, welche sich mit Politik beschäftigen, der Dje-
ridei, das Journal de Constautinople, der Courier, Telegraph, selbst der Jm-
partial de Smyrna erhalten jede eine jährliche Subvention von 30000 Piaster,
(6,900 Franken). Die Subvention des Journal de Constautinople beträgt das
Doppelte wegen seiner Vereinigung mit dem Echo de lOrient.
Mehre andere Journale erscheine» »och in den Provinzen, theils in fran¬
zösischer, theils in der Landessprache; 7 in Belgrad, 5 in Bukarest und in deu
Dvnaufürstenthümcru, nnr eins in Alexandrien. Im ganzen zählt man 3 Jour¬
nale im ottomanischen Reich.
Obgleich diese Zahl im Verhältniß zu der Bevölkerung der Türkei
(33,350,000 Einwohner) sehr unbedeutend ist, so zeigt sie doch in Hinblick auf
frühere Zeiten von einer bemerkenswerthen geistigen Bewegung. Wenn seit
dreißig Jahren die Ideen und Sitten des Occidents, seine Sprachen und
Civilisation Eingang in der Türkei gefunden, wenn die durch deu Hattischerif von
Gclhane begonnene Reform nunmehr mehr Fortschritte macht, so ist dieses Resultat
großentheils der Presse zu verdanken, die für die Regierung zugleich Stütze nud
Nachgeben» ist. Mehr als einmal hat sie nur nöthig gehabt, der Pforte gewisse
Mißbräuche zu bezeichne», um die Abstellung derselben sofort zu erlangen. Sie
ist für den Fortschritt der Türkei in zwiefacher Weise thätig, einmal im Innern,
indem sie durch Vertheidigung der Gleichheit der Rechte und der Gemeinsamkeit
der Interessen die verschiedenen Nationalitäten, welche das große Gebiet der
Türkei bewohnen, zur Einheit zu verschmelzen sucht; svdan», indeni sie die Türkei
und ihre Regierung unter die Angen Europas bringt >ab ihr mehr und mehr
dessen Sympathie erwirbt.
Louis Gallait »ut die Malerei in Deutschland. Eine Episode aus der modernen
Kunstgeschichte. Nebst einer Abhandlung über den Begriff des Malerische» u»d
das Wesen der Malerei. Von A. Telchinin. München, Kaiser. —
Eine kleine, aber sehr bedeutende Schrift, auf die wir unsere Leser nicht ernstlich
genug aufmerksam machen können. Man möge sich durch einzelne Jncouvcnienzen i»
der Form nicht irren lassen. Der Versasser liebt es, in „philosophischen" Aus¬
drücken zu sprechen, wo Man mit dem gewöhnlichen Deutsch auskäme; er wieder¬
holt sich und wird nicht selten breit. Aber von diesen Ausstellungen kann mau
leicht absehen, da der Inhalt gediegen und durchaus gesund ist. Es ist eine
Apologie des deutschen Idealismus auf durchaus naturgemäßen und künstlerischen
Grundlagen. „Mau weiß wol," heißt es S. 7, „daß modernes Kunstinteresse...
den Rang eiues Kunstwerks lieber nach dem Grad seiner formellen Durchbildung
als uach der Auffassuugsstufe seines ideellen Gehalts ermißt. . . Dabei hat man
den Schein des vollsten Rechts, denn allerdings handelt es sich in der Kunst
zuletzt immermehr nur um das Wie, als um das Was, nur ist nicht zu ver¬
gessen, daß die (ideale) Auffassung nichts anderes ist, als grade das wichtigste
künstlerische Wie." — (S. 9) „Greifen die Franzose» und Belgiernach Gegenstände»,
bei welchen es daraus ankommt, mit innerlich und äußerlich bewegten Menschen eine
gehaltvolle Handlung . . . darzustellen; baun wird es erlaubt sein, zu fragen, ob
sie auch die vollendete und ausdrucksvolle Realität ihrer Gestatte» zur Darstellung
des ideellen Kunstgchalts der Handlung zweckmäßig verwenden, oder etwa nur
eine malerische Außenseite abconterfeien-" — (S. iii). „Was man längst an
jedem guten alten Bilde hätte lernen können, sollte dnrch dies neue (Gallaits
„Abdankung Karls V." 1853) plötzlich klar werden. Man begriff nun, daß das
Geheimniß, Farbe und Beleuchtung zu malerischer Wirkung abzurunden, auf
keinen andern Bedingungen beruhe, als die Wirksamkeit der Composttion. Wie
hier die einzelnen Figuren und Episoden der Haupthandlung sich unterordnen,
und im strengsten Bezug auf sie gedacht sein müssen, so unterordnen sich die
einzelnen Farbenindividnen durch Schatten und Helldunkel der Hauptlichtkatastrophe.
Liegt es in der Natur des Kunstwerks, daß es die Menschen gruppirt und ihre
Gedanke» und Handlungen auf einen Zweck, der eben sei» Inhalt ist, concentrirt,
so sind cvucentrirtes Licht, harmonischer Ton und zweckmäßige Stimmung nur
der letzte specifisch malerische Ausdruck des formellen und ideellen Concentrireus."")—
(S. SS) „Das höchste künstlerische Wie ist die Auffassung, welcher sich die Be¬
handlung, wenn es ihr nicht an principieller Kenntniß und mechanischer Fertigkeit
gebricht, wie von selbst anschmiegt . . . Man braucht uur, wie Hamlet dem
Schauspieler räth, daß er die Geberde dem Wort und das Wort der Geberde
anpassen soll, die gesammten malerischen Ausdrucksmittel dem Inhalt und den
Inhalt den malerischen Ansdrucksmitteln anzupassen: „wobei ihr sonderlich darauf
achten müßt, niemals die Bescheidenheit der Natur zu überschreiten." —
Dieses sind die leitenden Grundsätze des Buchs, und der Verfasser hat sie
was die Hauptsache ist, mit Geist und Gründlichkeit im einzelnen' durchgeführt.
Nur in einem Punkt müssen wir von ihm abweichen, und dies wird umsomehr
befremden, da es der am häufigsten ausgesprochene und fortwährend wiederkehrende
ist. Der Verfasser legt nämlich mit Recht el» großes Gewicht auf die Rein¬
haltung des Stils, in dieser wie in jeder andern Kunst. Die Individualität
des Stils aber identificirt er mit der Nationalität, und darin liegt ein Irrthum.
Die Einheit eines Kunststils hängt allerdings mit den nationalen Eigenthümlich¬
keiten zusammen, wie überhaupt jede Leistung eines Volks, hauptsächlich ent¬
wickelt sie sich aber in der Einheit der Schule; wo diese einmal unterbrochen ist,
kann sie nicht künstlich wiederhergestellt werden. Alles was wir leisten wird ein
nationales Gepräge haben, denn wir können in der Kunst ebensowenig als im
Leben aus unserer Haut heraus; aber einen praktischen Einfluß wird diese Be¬
trachtung nicht haben. Albrecht Dürer liegt uns ebenso fern, oder noch ferner,
als Rafael und Rubens; wenn wir nach Vorbildern aus der alte» Zeit suchen,
so werden wir nicht nach ihrer Nationalität fragen, sondern nach ihrer Ueber¬
einstimmung mit sich selbst und mit den Gesetzen der Kunst. Ein Kunstwerk will
ans sich selbst beurtheilt sein, uicht durch Vergleichungen mit anderweitigen natio¬
nalen Leistungen. Der Verfasser fühlt das im Grunde auch selbst, denn nachdem
er lange auseinandergesetzt, daß Gallait und die übrigen von ihrem nationalen
Standpunkt recht haben, daß aber der Deutsche ihnen ein eigenes Kunstideal
entgegensetzen müsse, stößt er doch auf die Frage: (S. 36) ,,ob uicht eine Ursache
des geminderten Gallait-Enthusiasmus darin zu finden sei, daß dieses blutige
Schaugericht des patriotischen Virtuosen uicht allein gegen deutsche Kuustgruud-
sätze, sondern auch gegen den gesunden Geschmack verstößt." — Warum nicht
mit dieser Frage, die doch zunächst liegt, und die sich einfacher lösen läßt, als
die sehr verwickelte Untersuchung, ob etwas national ist oder nicht, beginnen,
anstatt zuerst einen Umweg zu machen, der doch zu keinem bestimmten Ziel führt? —
Jeder handle nach seinem künstlerischen Gewissen, dann wird sich schon ein
nationaler Stil finden; ihn aber als solchen suchen, ist verlorene Mühe.
Jede neue aus dem Nordpvlarmeere kommende Nachricht macht das
Auffinden des nun schon seit sechs Jahren vermißten Nvrdpolreisenden,
Sir John Franklin, unwahrscheinlicher. Der neueste Ankömmling aus jenen
unwirthlichen Meeren ist Commandeur Jnglefield vom Schiffe Phönix, der
Depeschen von Sir E. Belcher, Capitain Kellet und M'Clure überbringt,
und wenigstens den Besorgnissen über das Schicksal der den Vermißten auf¬
suchenden Schisse und namentlich des Jnvestigator, Capitain M'Clure, von dem
man seit August 18S0 keine Nachricht hatte, ein Ende macht. Letzterer hat auch
das geographische Problem, das Seefahrer und Gelehrte seit Jahrhunderte»
beschäftigt hat, gelöst, und die Nvrdwcstdnrchfahrt entdeckt, indem er von der
Behringsstraße her bis zur Guadenbucht 74" 6' n. B. 117° Si' w. L. vordrang,
und hiermit einer Explorationspartei des Capitain Kellet, der von der andern Seite
herüber kam, zusammentraf. M'Clure war früher erster Lieutenant auf Sir
I. Roß Schiff Entreprise, und erbot sich als Freiwilliger zur Theilnahme an
der Anfang 1830 ausgerüsteten zweiten Expedition nach der Behnngstraße unter
Capitain Collinson. Er erhielt den Befehl über den Jnvestigator, und die
Expedition war schon bis in die Nähe von Point Barrow vorgedrungen, als
Collinson, vom Packeis am Weiterfahren verhindert, nach Hongkong zurückkehrte,
um dort zu überwintern. M'Clure aber reizte die Aussicht ans eine, sich nach
Osten öffnende Durchfahrt, und er setzte auf eigene Faust seine Reise fort, ohne
die Nückberufuugssiguale seines Vorgesetzte» zu beachten. Im ersten Jahre über¬
winterte er in einer Durchfahrt zwischen der neuentdeckten Insel Baringsland und
Prinz Albert Land (72" 4«V n. B., 117» 30 w. L.) Im nächsten Sommer
versuchte er vergeblich die nördliche Küste der Insel zu umfahren, und konnte
später auch an der südlichen nur bis 74° 6"'n. B. und 117° w. L. vordringen,
wo er im September 1831 eiuftvr und gegenwärtig noch festsitzt. Die ununter¬
brochene Fortsetzung fahrbaren Meeres von der West- nach der Ostküste Nord¬
amerikas ist jedoch festgestellt und Capitain M'Clure beabsichtigt über die Mel-
villeinsel nach England zurückzukehren. Er räth jedoch ab, Schiffe nach ihm
auszuschicken, im Fall man nichts wieder von ihm hören sollte, da er dann, aller
Wahrscheinlichkeit uach, in das Polarpackeis eingeschlossen sei, wo jedes Schiff
unfehlbar zerdrückt würde. Nachrichten von Sir John Franklin hat man nirgends
entdeckt, wenn mau nicht eine sehr unbestimmte, von den Eskimos erlangte
Auskunft dahin deuten will. Bei Point Warren nämlich, in der Nähe des
Makenzie Nivers zeigten die Eskimos eine feindliche Stimmung. Als M Clure
aus Land stieg, erfuhr er, daß sie sämmtlich, mit Ausnahme des Stammober-
haupteö und seines kranken Sohnes, geflohen waren, ans Furcht, daß das Schiff
komme, um, Rache für den Tod weißer Männer zu nehmen, die vor längerer
Zeit in einem Boot hier gelandet wären, und eine Hütte gebaut hätte».
Den eine» hätten sie erschlagen, die andern wären entflohen. Die Stelle,
welche die Eskimos als das Grab des Erschlagene» bezeichnete», konnte
M'Clure wegen plötzlich eintretenden schlechten Wetters leider nicht besuchen.
Diese Nachricht würde bei der großen Unzuverlässigkeit der Eskimos gar nicht zu
berücksichtigen sein, wenn nicht der Umstand dazu käme, daß der Häuptling gar
kein Interesse hatte, eine Nachricht, die ihm nnr Schaden bringen konnte, zu
erfinden, und daß schon im Jahre 1848 eine ganz ähnliche Nachricht nach England
gelangt ist. Herr MPHerson, Oberfactor der HndsonSbaicompagnic berichtete nach
England, Eskimos von Peels River hätten erzählt, es wären zwei Boote oder Schiffe
mit Weißen, östlich von Makenzie River gelandet und von den Eingeborenen er¬
mordet worden. Die Hypothese, daß Franklin nach dem Polarl'assin vorgedrungen,
hat man jetzt aufgegeben, weil seine Jnstructionen nicht dahin lauteten" und er
jedenfalls auf seinem letzten Rastort, am Cap Ulley, Nachricht hinterlassen hätte,
wenn er von ihnen abgewichen wäre. Eher glaubt man, daß er versucht hat,
nach Westen vorzudringen, und in einem der zahllosen Kanäle, welche die
Behrings- von der Davisstraße trennen, rettungslos vom Eise eingeschlossen oder
gesunken ist. Von praktischem Nutzen kaun selbstverständlich die Nvrdwestdurchfahrt
nicht sei», da sie mehre Sommer in Anspruch nimmt, und nur dnrch schmale,
seichte Kanäle, wo beständig widrige Wiude herrschen, und die häusig von Eis
verstopft werden, dicht am nördlichen Rande des Festlandes von Amerika hin
möglich ist.
Der russische Adel, früher ans die Hauptstadt Moskau eingeschränkt, hat sich
gegenwärtig uuter einer Anzahl Gouveruementöstadte vertheilt, obgleich anch Mos¬
kau jetzt noch Hauptsitz des reichere» unabhängige» Adels ist, während in Peters¬
burg fast n»r der Dienstadel sich befindet.
Als Rurik mit seinen Brüdern und Gefolgschaften über das Meer kam, und
Großrußland unterjochte, vertheilte er das Land unter die ihn begleitenden War¬
äger. DaS war der Anfang der Monarchie und des Adels, der Bojaren oder
edle Krieger genannt wurde. Der erste Adel Rußlands ist el» eingewanderter,
fremder Dienstadel. Später entstände» Classen im Adel. Eine eigene Classe
bildeten die Krähe oder Fürsten, die theils von Rurik nud seinen Nachkommen
theils von vornehmen Warägergeschlcchtern oder fremden Fürstengeschlechter», wie
die Galizin, K»raki», Zagari» und Trubetzkoi abstammten. Eigentliche gesetzliche
Vorrechte und Privilegien hatte der Adel nicht. Auch Steuerfreiheit bestand nicht.
Die Tartaren besteuerten selbst Bojaren nud Krähe; mir die Geistlichkeit war
steuerfrei.
Unter den Romanows theilte sich der Adel in zwei Hauptclassen, in den
Hvfdienstadel und in den Stadtadel. Nur die Stellung im Hof- oder Staatsdienst,
nicht die Abkunft, gab dem einzelne» seine» Rang. Jeder Adelige war mit -18
Jahren dienstpflichtig, er erhielt dann aber auch Dieustgüter oder Geldeinkommen.
Zugleich wurde der Adel steuerfrei.
Die bisherige Adelsverfassiing aber, die zu steten Rangstreitigkeiten und in¬
neren Zerwürfnisse» führte, löste Zar Fevdor, der Bruder Peters des Großen,
ans. Er setzte völlige Gleichheit uuter dem Adel sest. Der Zar konnte unde-
schränkt in den Adel erheben und dieser Adel hatte fast ausschließlichen Anspruch
auf alle Staatsämter. Peter der Große hob zwar die Militär- und Hofdienst¬
pflicht des Adels auf, aber wenn zwei Generationen einer Familie nicht dienten,
so verloren.sie den Adel und seine Vorrechte. Nur derjenige hat in Nußland
Geltung in der Gesellschaft, der dient oder gedient hat. Der Adel ist die Pepi-
niere für den Offizierstand der Armee. Das russische Gesetzbuch, das Swod sagt:
„Der Adel ist eine Folge der Eigenschaften und Tugenden der im Alterthum
mit Staatswürden bekleideten Männer, die sich durch Verdienste ausgezeichnet,
wodurch sie den Dienst in Verdienst umwandelnd, ihrer Nachkommenschaft den
Titel „Wohlgeboren" erworben haben. Wohlgeboren heißen alle diejenigen,
welche entweder von wohlgeborner Vorfahren abstammen oder denen dieser Titel
von dem Monarchen verliehen worden. Der Adel wird eingetheilt 1) in den erb¬
liche» 2) in den persönlichen." Als Grundlagen alles Dienstranges in Nußland
gelten die 14 Gradationen im Offizierstande, denen die Rangstufen im Civildienst
entsprechen. Die Erwerbung des Fähnrichranges gewährt den persönlichen, die
Erwerbung des Stabsvfftzierranges erst den erblichen Adel. Im Civildieust ge¬
währt die Erwerbung der 4 i. oder Fähnrichsrangclasse nur den Rang eines per¬
sönlichen Ehrenbürgers, die der 9. Classe den persönlichen und erst die 3. Classe
den erblichen Adel.
Die Kaiserin Katharina 1l. gab dem Adel korporative und politische Rechte.
Der Adel jedes Gouvernements bildet seitdem eine Corporation unter einem ge¬
wählten Adelsmarschall und so vielen Kreismarschällen, als Kreise im Gouverne¬
ment. Alle drei Jahre versammeln sich die Mitglieder der Corporation zu freien
Berathungen, denen der Gouverneur nicht beiwohnen darf. Die Corporation hat
ihr Siegel, ihr Archiv, ihr Secretariat, ihre Kasse. Sie kann Strafen über ihre
Mitglieder verhängen. Sie führt Geschlechtsregister und Adelsbücher. Sie hat
eine permanente Deputation, welche mit der der Städte zur Prüfung und Ver-
theilnng der Landessteucrn zusammentritt. Sie controlirt auch das Verhalten der
Gutsherrn gegen ihre Leibeigenen. In ihren Händen liegen fast alle administra¬
tiven und polizeilichen Functionen des Gouvernements. Sie wählt den größeren
Theil der richterlichen und Verwaltungsbeamten, leitet das Necrutirungswesen
und erhebt die Staatsabgabeu.
Es hat dies darin seinen Grund, daß der russische Adel kein Landadel, son¬
dern ein Dienstadel ist. Er besitzt keine Landsitze, keine Oekonomien. Aller
Grund und Boden, der ihm gehört, ist einer bäuerlichen Dorfgemeinde überlassen,
die ihn einhaut und dem Herrn dafür steuert. Die Adeligen leben als Rentner
in der Stadt und besuchen ihre Landhäuser uur ans Wochen und Monate. Sie
veräußer» ihre Landsitze, sobald sie irgend einen Vortheil dabei sehen; die west¬
europäische Anhänglichkeit an das Vatcrerbe kennen sie nicht. Ueberdies wird
der Landbesitz durch die gleiche Theilung unter sämmtliche Söhne ungemein zer-
splittert. Bei dem unermeßlich gestiegenen Luxus werden die Güter stark mit
Schulden belastet und dann meist an Parvenus verkauft; selten kommt ein großes
Vermögen auf den dritten Erben. Von dem Rechte und der Pflicht, seinen
Grund und Boden im Staate zu repräsentire», hatte die Mehrzahl des russischen
Adels keinen Begriff.
So hat die ständische Gonvernementöverfassnng in Rußland nur eine sehr
geringe Wirksamkeit, der gebildetere, wohlhabendere und bessere Adel nimmt an
ihr nnr wenig Theil. Die ständischen Rechte, namentlich die Wahlen zu den
ständischen Beamten, werden von den rohen, ungebildeten, meist corrnmpirten
Adeligen ausgeübt und die Wahlen fallen häufig grade ans die allerschlechtesten
Subjecte, in deren Händen dann die ganze Verwaltung, Polizei und Justiz liegt.
Um diesem Unwesen etwas zu steuern, hat denn die Regierung neuerdings dies
Wahlrecht auf einen Besitz von -100 Seelen oder 1000 Dessätinen eingeschränkt.
Der Jsprafnick, ein ständischer Beamter, dessen Stellung der eines frühern preu¬
ßischen Landraths entspricht, erwirbt sein Amt dadurch, daß er den reichsten Ade¬
ligen seines Kreises völlige Gefügigkeit und AnttsgefMgkeit verspricht. Diese
verschaffen alsdann durch ihren Einfluß dem Candidaten die Stimmen der berech¬
tigten Wähler. Der Jspravnick benutzt dann sein Amt möglichst, um sich Geld
und Nutze» zu verschaffen; er weiß, daß er nach 0 Jahren sein Amt niederlegt
und dann schwerlich wieder gewählt wird. Seine Gönner und deren Bauern
schont er; desto mehr plagt und plündert er die kleinen Besitzer und ihre Bauern,
besonders die ganz kleinen, die keine Wahlberechtigung haben und deshalb von
ihm nicht zu fürchten sind. Er ist der in Rußland am meisten verhaßte und
verachtete Beamte. Die von der Negierung angestellten Beamten, die Tschin-
ofacks sind im allgemeine» schlimm genug, doch nicht so verderbt wie die Mehr¬
zahl der vom Adel gewählten Beamten.
I» dem jünger» russischen Adel ist freilich schon ein bedeutender Umschwung
der Gesinnung bemerkbar. Er zeigt mehr wissenschaftlichen Sinn, mehr Fleiß
im Lernen. Die Mehrzahl desselben fängt an, den Staatsdienst (Pschin), zu dem
ein jeder verpflichtet ist, der eine« gewissen Rang einnehmen will, mehr als
Durchgangsperiode anzusehen, tritt nach einigen Jahren zurück und wird Landwirth
oder Fabrikant. Sie legt Oekonomicn an, setzt die frühern Obrvckbanern ans
Frohnden und ist dadurch genöthigt, persönlich die Aufsicht zu führen und auf
dem Lande zu leben. Namentlich sind es die Fabrikanlagen, die den Aufenthalt
ans dem Lande fordern. Es herrscht übrigens in Rußland kein Adelstolz, wie
man ihn im übrigen Enropa findet. Der Adel scheidet sich nicht vom Gewerb-
stande ab, sondern läßt sich in die Anfnahmsgildeu einschreiben, wodurch er zu¬
gleich das Recht erlaugt, Wechsel auszustellen, während er sonst nnr auf Con-
tracte seine Geschäfte basiren kann.
Der russische Edelmann kann nur von seines Gleichen gerichtet und das
Urtheil muß vom Kaiser bestätigt werde». Nur durch ein solches Urtheil kann
er Leben, Vermögen oder Ehre verlieren. Es kaun ihn keine körperliche Strafe
treffen. Er ist frei von persönlichen Abgaben, von Recrnteupflichtigkeit und von
Einquartirung. Auf seinen Gütern kann er Fabriken und Industrieanlagen aller
Art frei anlegen, in den Städte» jedoch muß er zu dem Eude erst in die be¬
treffenden Gilden eintreten. Seine eigene» Producte und Fabrikate darf er frei
verkaufe».
Mehr als die Hälfte alles wirklich cultivirten Grund und Bodens gehört
ihm als uubeschräuktes Eigenthum. Ueber die Hälfte der Bevölkerung des eigent¬
liche» Rußlands, 24 Millionen Köpfe, sind seine Leibeignen.
Ungeachtet dieser großen materiellen Macht ist aber sein Einfluß auf die
Zustande seiner Leibeigene» n»d die Masse des Volkes höchst »»bedeutend, und
nach oben hin stehen die Adelscorporationen völlig unter dem Einfluß der Re¬
gierung. Der Wunsch des Zaren ist ihnen Befehl. Es steckt in dem russischen
Adel durchaus kein corpvrativer Geist. Das Bestreben der Kaiserin Katharina II.
den russischen Adel als Aristokratie »an zu gestalte» und in ihm dem Beamten-
thum el» Gegengewicht z» gebe», mißlang vollständig.
In neuern Zeiten hat man die Rechte nud Pflichten des Gvuvernemeuts-
adels uoch vermehrt. Man hat ihm auch der Wahl der Mitglieder des Civil-
uud Crimiualgcrichts für das Gouvernement, der Hypvthekenbehörde ^Graschdanki
Palate) und das Gewissensgericht übertrage». Das Landgericht besteht aus dem
Jsprafnik als Vorstand und zwei Beisitzern, von, Adel gewählt, »»d zwei bäuer¬
lichen Beisitzern, von der Regierung ans Vorschlag des JSprafnik ausgewählt.
Es herrscht in dem russischen Adel der kleine Besitz vor. Derselbe entsteht
theils durch den Grundsatz der gleichen Erbtheilunge», theils durch das Eindrin¬
gen des Tschmofuik- oder Dienstadels. Man findet hänfig Dörfer von i bis 300
Seele», die unter 30 bis 40 Herrn vertheilt sind. Eine große Zahl vou Tschui-
samilicn legt ferner ihre Ersparnisse in Ankauf von Bauern an. Die Beamten
ans diesen Familien kaufen 3, -10 oder 20 Bauern mit deren Gemeindeantheileu,
setzen sie auf Obrvck und sangen sie möglichst aus.
Auf die obere Leitung des Staates, auf den Staatshaushalt, die Fiuanz-
und Kriegöeinrichtungen, die Reichsgesetzgebung und Politik hat der Adel sowenig
als irgend ein anderer Stand den geringsten Einfluß: die Monarchie ist rein au¬
tokratisch »ut Patriarchat. Patrimonialgerichtsbarkeit hat der Adel nicht, sondern
mir das Strafrecht über seine Leute bis zu S Prügel. Die Gerichtsbarkeit wird
von dem Kreiögericht ausgeübt.
Wie kein Staub i» Rußland, so darf auch der Adel sich nicht kastenartig
abschließen. Ueberall sind die Uebergänge in die verschiedene» Classen, Stände
und Gewerbe leicht. Die Edelleute lasse» sich in die Kaufmannsgilde» einschrei¬
ben; die Kaufleute erster Gilde erhalte» nach 12 Jahre» die Rechte persönlicher
Edelleute, ihre Kinder könne» in, Dienst leicht den erblichen Adel erhalten. Die
Ehrenbürger haben viel reelle Rechte des Adels, Kvpfstcnerbefteiung, Militär-
hefreinug, Befreiung von körperlichen Strafen. Eine ständische Gliederung besteht
in Rußland nicht, und Rußland hat für dieselbe wenig Sympathie.
!>>?^'/l,»<^.»seh...s.pi,s.^;..>i<«--«.'.^.ö^-..i :
— Böckhs Rede gegen Stahl »ut gegen dessen
Aufforderung zur wissenschaftlichen Umkehr ist uns, offen gestanden, weniger interessant
in sich selbst als durch den Eindruck erschienen, den sie in den politischen Kreisen her¬
vorgebracht hat. Als Stahl jenen feierlichen Unsinn von seiner künstlichen Höhe hcruuter-
sprach, mochte er wol kaum darauf rechnen, daß der mystische Paradoxale Einfall eine
nachhaltige Polemik hervorrufen werde. Man kann sich doch nur zu einer Discussion
angeregt fühlen, wo der gesunde Menschenverstand von vornherein mit Ja! oder Nein !
entscheidet, oder wo die Frucht der Jahrhunderte nicht längst gepflückt ist. Wenn Herr
I>>-, Schöpfer eine Lanze gegen Kopernicns bricht, so mag sich der verrückte Prophet
Karl Jacobi vom Kölner Fischmarkte dafür interessiren. Das Publicum hat Besseres
zu thu», als bei Stahl und Leo wissenschaftliche Romantik zu hören. Stahls Wirkung
i» den öffentlichen Vorlesungen über Staats- und Kirchensachen war stets dieselbe: be¬
wies er, daß das constitutionelle Regiment eine Unmöglichkeit und eine Lüge, da nahmen
ihn die von vornherein überzeugte» jungen Leute gern beim Wort, und zogen daraus
ihre hochrothe» Consequenzen. Schloß er aber mit einem mittelalterlich feudalen Also
— da lächelten sie und wußten, was davon zu halten war. Die Republikaner sollten
Stahl gewähren lassen! nnr die Mittclpartei könnte sich beunruhigen, wüßte sie nicht, daß
der Radikalismus der Studenten in der Regel mit dem letzten Semester absolvirt wird.
Es hat daher wol nicht leicht ein vernünftiger Mensch darüber eifrig nachgedacht,
wie Stahls Theorien zu widerlegen wären. Nur in der Kammer, wo er seine ein¬
geschulte Dialektik dem praktischen Egoismus der Rechte» zu Gebote stellte, wo Leiden¬
schaft, Ehrgeiz n»d politische Gewinnsucht mit ihm conspirirten, mir dort forderte er
die Debatte heraus. Ans der Universität, i» dem Reiche der Ideen, konnte Böckh's
Rede kaum einem dringende» Bedürfniß entgegenkommen. Sie war auch wol nicht
für die Universität gehalten. Die Se»satio» war aber jedenfalls keine geringe, bei
den Zuhörer» wie drauße», als der Auszug in den Zeitungen erschien kund dann auch
bei denen, die es nicht Wort haben wollen, die sich in der gewöhnliche» blasirten Art
der Berliner darüber vernehmen lassen. Indem diese amüsanten Kritiker den Eindruck
vo» sich abwehre», beweise» sie, wie er ihnen zu schaffen macht.
Ob es überhaupt wohlgethan ist, solche Demonstrationen leichthin wie veraltet
oder abgethan zu behandeln, erscheint u»S mehr als zweifelhaft. Einer unsrer bedenk¬
lichsten deutsche» Fehler besteht darin, als fertig anzusehen, was wir im Geiste, wie die
Phrase geht, überwunden haben. Die Engländer hatten ihre Äasis der Constitntio»,
als noch nicht anderthalb Jahrhunderte, ihr erstes Haus der Gemeine», als »och nicht
zwei Jahrhunderte seit der normänmschen Eroberung verflossen waren. Wer ihnen
heutzutage die Segnungen der Feudalherrschaft predigen würde, könnte vielleicht, gelänge
es ihm gehört zu werden, ein von Cornwall bis Northumberland schallendes Gelächter
hervorrufen. Dagegen machen ihnen die sonderbarsten philosophischen und theologischen
Vorurtheile noch viel zu schaffen, mehr vielleicht, als uns, die wir neben ihnen wie politische
Liliputcr uns aufnehmen. Sie arbeiten aber rüstig an ihrer wissenschaftlichen Eman¬
cipation und gehen dabei, wie bei allem, was sie thun, sehr ernst zu Werke. Wir
haben in der Politik, theils in philosophischem Hochmuth, theils in sittlicher Frivolität
unsere gute» Anfänge verzettelt, und lächeln, wenn im Lande der Hegel und Fichte für
die freie Wissenschaft ein Wort verloren wird. Der Jnstinct des Publicums urtheilte
richtiger. Die Ausnahme, die Böckhs Rede zu Theil wurde, zeigte deutlich, wie die
Besorgnis), hinter der verkehrten Theorie seines Gegners möchte der Gewissenszwang
und der weltliche Groll gegen die Lehrfreiheit, sowie gegen freisinnige Schulmeister und
Pastoren lauern, überall nicht verschwunden ist.
Das allein erklärt die Bedeutung, die man der Rede zuschrieb, und darin liegt
ihr Vorzug. Der gelehrte Mann begnügte sich nicht, über die ausgestellte Absurdität
die Achseln zu zucken, und er zog es bei der feierlichen Gelegenheit des königlichen Ge¬
burtstages vor, statt mit der hellenischen Nationalökonomie sich lieber mit den alltäg¬
lichen Angelegenheiten der Wissenschaft zu beschäftigen. Er sagte sich, wer die Freiheit
der Forschung hemmen will, der ist nahe daran, die unabhängigen Geister zu knechten,
das heißt einfacher, auf deutsch, sie durch Entziehung des Avancements, durch Discipliuar-
vcrfahrcn u. s. w. zurApvstasie ihrer Ueberzeugung zu drängen. Darum nahm Böckh das Wort
für die Wissenschaft, die ihren Zweck in sich habe und sich keinem äußeren positiven
Zwang unterwerfe. Der Grundsatz ist auf dem Gebiete der Wissenschaft selbst einfach
wie das Einmaleins, aber in seiner Anwendung auf das reelle Leben ist er es keines¬
wegs, und es war gewiß gut, daß er an jener Stelle, in einem Augenblick gehobener
Stimmung, mit Wärme und in allgemein verständlicher Fassung ausgesprochen wurde").
— Herr Baron v. Cotta, der reiche Buchhändler, gab
kürzlich zur Einweihung seiner erweiterten Buchdruckern den Angestellten des Geschäfts
ein Fest, und hielt bei der Gelegenheit in seinem und seines Herrn Schwagers, des
Barons Hermann v, Ncischach, als Mitbesitzers der I. G. Cotta'sehen Buchhand¬
lung, Namen eine im „Schwäbischen Mercur" und der „Augsburger Allgemeinen
Zeitung" abgedruckte Rede, welche bei der einflußreichen Stellung des Redners, als
Chefs der Cottaschen Familie und Verlagshandlung, vielleicht eher Besprechungen in
den öffentlichen Blättern verdient hätte, als die Thronrede manches kleinen Fürsten.
Daß Herr v. Cotta eine solche Rede hielt und drucken ließ, können wir nur loben.
Dem Cotta'sehen Verlage gehören nicht allein die ersten deutschen Klassiker an, son¬
dern es kann dem deutschen Publicum gewiß auch nicht gleichgiltig sein, öffentlich aus
dem eigenen Munde des Herrn v. Cotta zu vernehmen, in welchem Sinne er das
Erbe seines berühmten Vaters bis jetzt verwaltet habe und künstig verwalten werde.
Wir wollen hier weder die Klagen erneuern, welche wol über diese Verwaltung laut
geworden sind, noch an dem gerechten Selbstgefühl mäkeln, womit Herr v. Cotta seine
bekannte ehrenwerthe thätige Theilnahme an den Arbeiten seines Geschäfts hervorhebt;
dagegen tragen wir auch kein Bedenken, ein paar andere Stellen seiner Rede freimüthig
zu commentiren. So können wir, offen gesagt, nur eine Phrase darin erkennen, wenn
er die Kräfte seiner Untergebenen und Arbeiter nie zu etwas gebraucht zu haben be¬
hauptet, das gegen Christenthum, gute Sitte und gesellige Ordnung gegangen sei, und
sie hieraus stolz zu sei» ermahnt. Etwas gegen die genannten höchsten Güter zu unter-
nehmen, daran würde Herr v, Cotta nicht nur durch seine Gesinnung, sondern auch
schon durch seine gesellige Stellung ganz und gar verhindert sein, mit gerechtem Stolz
würde er sich also nur aus den positiven Gewinn und die Opfer berufen könne»,
welche er denselben gebracht hätte. Auch das erscheint uns als Uebertreibung, daß er
nur dem „bleibend Schönen, Wahren und Guten" diene. Dies ist eine Anforderung,
die kein Verleger erfüllen kann. Als „bleibend Schönes, Wahres und Gutes" besitzt
Herr v. Cotta großentheils von seinem Vater her die Werke Goethes, Schillers,
Herders u. s. w., und er eifert jenem würdig nach, wenn er diese in wohlfeilen,
kritischen und correcten Ausgaben fort und fort unter die Leute bringt. Solche
Geister' können nicht zweimal in einem Jahrhundert erstehen, und wir werden Herrn
v. Cotta gewiß keinen Vorwurf macheu, wenn anch das neue Gute, Wahre und
Schöne, was seine Pressen uns liefern, größtentheils ephemer sein sollte.
Mit Befriedigung lasen wir in der Rede, daß Herr v. Cotta sich den unabhän¬
gigen und freien Herrn seiner Handlungen nennt. Er schlägt hiermit die Vorwürfe
nieder, welche man ihm besonders in Beziehung aus die „Allgemeine Zeitung" macht.
Dann erlauben wir uns aber die Frage an ihn zu richten: ob er nicht die Haltung,
um nicht zu sagen Haltungslosigkeit der „Allgemeinen Zeitung" seit ->8i8, denn weiter
wollen wir nicht zurückgehen, für einen Irrthum halte? Die Zeit ist eine andere ge¬
worden und die „Allgemein- Zeitung" ist — wir sind so billig, dies zuzugeben —-
dieselbe geblieben.
— Die rheinische Mnsikzeitung gibt von dem großen Musikfest zu
Karlsruhe (2. und ö. October) einen ausführlichen Bericht, aus dem wir die große
Bedeutuug dieses Ereignisses für jene Gegenden ersehen; der Berichterstatter sagt näm¬
lich: „seitdem ich das musikalische Leben in hiesiger Stadt mitlcbe und sämmtliche Con¬
certe besuche, d. h. seit 16 Jahre« habe ich noch nicht alle Sinfonien Beethovens (die
neunte gar nicht mitgerechnet), nur drei von Mozart und gar keine von Haydn gehört."
Das ist ja schauderhaft! Wozu schreiben wir noch immer neue Musikstücke, wenn die
alten großen zum Theil dem deutschen Volk »och ganz unbekamit sind! Fr. Liszt hat
sich also kein geringes Verdienst erworben, daß er die musikalische Cultur diesen ver¬
wahrlosten Gegenden genähert hat, wenn auch die Auswahl seiner Stücke etwas zu stark
dem Zukunftsgcschmack angehört. Es ist nämlich aufgeführt worden: die neunte Sin¬
fonie und die Concert-Arie i>e>ki,!o! von Beethoven; die Arie I'»no ans Titus
von Mozart; ein Violinsolo von S. Bach (vorgetragen von Joachim, der auch
ein eignes Concert gespielt hat); das Finale ans Lorcley von Mendelssohn; die
Ouvertüre zu Struensee und die Balspriester-Arie aus dem Propheten von Meyerbeer;
die Manfred-Ouvertüre von Schumann; Theile aus der dramatische» Sinfonie „Romeo
und Julie" von Berlioz; die Ouvertüre zum Tannhäuser (zweimal) und Orchestervor¬
spiel, Brautzug und Hochzeitmusik aus Lohengrin von Wagner; endlich Fcstgesang
aus Schillers Künstler» und Clavier-Phantasie über die „Ruinen von Athen" von F.
Liszt. Ueber die beiden letzten, die uns nicht bekannt sind, sagt der Berichterstatter: „Liszts
Festgcsang war das einzige Stück, das deutliches Mißfallen erregte. Dissonanzen wer¬
den durch Dissonanzen ausgelöst, chromatische unklare Fortschreitungen, ohrzerreißende
Vorhalte füllen das Ganze und lassen den Hörer nicht zur Ruhe komme«. Mau konnte
nie sagen, ob falsch gesungen wird, oder ob die Komposition so gemeint sei." Und vom
zweiten: „Von Durchführung eines Motivs, von Verbindung der verschiedenen Themas
ist keine Rede; man findet nur lose Aneinanderkettnng oft ganz heterogener Dinge." —
Die neue komische Oper von Taubert, „Jvggcli" (der Text nach Jerem. Gotthelf
von H. Köster bearbeitet) scheint in Berlin kein Glück gemacht zu haben. In einem
Artikel, der anscheinend das Gepräge der Wahrheitsliebe trägt, sagt darüber die (Ber¬
liner), deutsche Theatcrzcitung-. „Taubert ist ein gründlicher Musiker, die Grammatik
der Musik hat er vollständig inne, er kennt Jnstrnmentaleffccte ebenso wie alles was in
das Fach der Harmonielehre schlägt, er zeigt sür ihre Anwendung einen feinen Sinn,
eine geschickte Hand, als musikalischer Dichter besitzt er endlich das Talent sür das
Naive — nur mitunter etwas forcirt und süßlich angewendet — und für das ober¬
flächlich Sentimentale. Mit diesem Talent kann ma,n allenfalls ein kleines Singspiel,
niemals ein dreiactigcs Werk schreiben, welches den Namen Oper prätendirt. Hierzu
fehlt Herr» Taubert zunächst die Fähigkeit, mannigfaltig zu individualisiren, musikalische
Charaktcrgcgcnsätze zu schaffen, welche nur aus der Erfindung, nicht aus der Modula¬
tion hervorgehen können, denen die Modulation uur als Unterstützung dient. Hier
entschädigt alle Kunst des Satzes und der Behandlung, alle Feinheit und Reichthum
der Form nicht für den mangelnden innern Nerv, das wirkliche und eigentliche musika-
lische Leben. Wie arm Taubert hieran ist, hat er in seinem neuesten Werk hinlänglich
bewiesen. Er ist keineswegs ohne Melodie, wenn diese in vielen Fällen auch
weniger Frische als Geziertheit besitzt; allein diese Melodie ist nur da von Wirkung,
wo sie naive und etwa idyllische Momente wiederzugeben hat, eS ist der Liedercom-
pvnist, welcher überall durchklingt. In Momenten, wo humoristische oder weitere cha¬
raktergemäße Färbungen erfordert werden, wird der Componist entweder widrig, oder
steif, trocken und schwerfällig im Ausdruck." —
Ein neues Lehrbuch der Zukunftmusikcr ist erschienen! „die Melodie der Sprache"
von Louis Köhler. (Leipzig, I. I. Weber). Es ist ziemlich komisch. —
Berlioz führt am 22. October in Braunschweig seinen „Faust" auf. -—
Im dritte» Concerte des Gewandhanscs wurden von Orchesterwerken eine Sinfonie
von Haydn (it tiur), eine Lustspielonvcrtnre von Julius Nietz und die Ouvertüre zum
Freischütz aufgeführt. Als eine interessante Neuigkeit aus alter Zeit kann ein Concert
für Clarinette von Mozart gelten, das von dem Orchcstcrmitglicde Herrn Landgraf sehr
brav vorgetragen wurde. Das Werk scheint aus der frühern Zeit Mozarts zu stammen,
denn diese etwas zopfigen Motive und die theilweis noch dreistimmige Orchesterbchand-
lnng finden sich in den spätern Arbeiten seltener vor. Hinsichtlich der contrapnnktischcn
Behandlung überrascht die Komposition an vielen Stellen, besonders im letzten Satze;
es finden sich hierin Feinheiten, wie sie in den Streichquartetten desselben Meisters sich
nicht subtiler nachweisen lassen. Ein Fräulein Bcrgauer aus Prag, die dem Gerüchte
nach für eine Anzahl Concerte engagirt ist, sang die große Sopranarie von Beethoven
und später das Sopransolo in Gabe's Frühlingsfantafie> für L Solostimmen, Piano-
forte und Orchester. Die übrigen Solostimmen waren durch gute hiesige Kräfte besetzt.—
Mit großem Vergnügen sahen wir in Leipzig die Aufführung des „Wasserträger"
(I,<;s ilvux Mimvll8, 1800) von Cherubini, so vieles auch die Ausführung zu wün¬
schen übrig ließ. Was uns bei dieser Oper zunächst so unendlich wohlthätig berührt,
wie eine Oase in der Wüste, ist, daß man es mit bestimmten Formen zuthu» hat:
was man bei unserer Zukunftsmusik vollständig verlernt. Man kommt sich gradezu in
eine neue Welt versetzt vor, in die wirkliche Welt der Kunst, aus dem Chaos von
dampfenden Schmelzofen, Hospitälern und Garküchen, das man heutzutage Poesie zu
nennen versteht. — Wenn dieser wesentliche Vorzug sich auch in der ganzen Oper mehr
oder minder geltend macht, so treten doch vorzugsweise einzelne classische Nummern her¬
vor, namentlich die Ouvertüre und das erste Finale; in den übrigen, wenn man an die
ungefähr gleichzeitige» nur durch ein Jahrzehent getrennten Opern Mozarts denkt, stört
eine gewisse Armuth in der Erfindung. Der Text ist der Anlage nach gut, er konnte
aber weit besser sein, wenn das roh Anekdotische vermiede» wäre, das namentlich im
letzten Act einen halb lächerlichen halb widerwärtige», jede»salls unzweckmäßige» Ein¬
druck macht.
'y....
— Seit dem 1. August hat der Kunsthändler Sachse in
Berlin eine permanente Kunstausstellung eröffnet, welche gegenwärtig als Hauptzierde eine
Copie der „Apotheose der Künste" vo» Paul Delaroche enthält. Von diesem wun¬
derbare» Gemälde, das sowol durch die Mannigfaltigkeit seiner Figuren als durch die
unzähligen sinnigen und geistvollen Beziehungen ein ungewöhnliches Interesse hervorruft,
gibt das „Kunstblatt" eine ausführliche und eingehende Beschreibung. — Kaulbach hat
die Schlufigrnppc für den Fries im „Neuen Museum" vollendet; sie ist von demselben
tiefsinnigen Humor wie die übrigen Arabesken dieser unvergleichliche» Schöpfung. Auch
die Oelskizze zu seiner „Hunnenschlacht" ist fertig. Wir müssen gestehen, daß wir über
die FarbeuauSsühruug dieses im Carton so tiespoetischen Gemäldes stets unsere Be¬
denke» gehabt haben, und daß wir sie auch jetzt uoch nicht ganz aufgeben können, trotz
der glänzenden Beschreibung des Kunstblatts. „Nie vielleicht, sagt der Berichterstatter,
sahen wir das Element der Farbe mehr durchgeistigt, mehr verklärt: die Beleuchtung
hat einen grünlich fahlen Ton, so daß wir einen gespenstischen Geisterrcigen, ein spuk¬
haftes Nebelbild beim Schein eines Blitzes zu erblicken glauben. Ja es liegt in der
Farbe etwas Metcorhastcs. und es wird dem Beschauer dadurch die Empfindung gegeben,
als husche das Ganze nur momentan an ihm vorüber. Man sieht deutlich die ver¬
schiedenen Localtöne, aber man erkennt sie rein dnrch das Medium einer von der Ein¬
bildungskraft erzeugten, sagenhaften Grundstimmung; man glaubt Traumgestalten zu
erblicken." Ob solche romantische Intentionen sich mit dem classischen Farbenton, dem
jedes Gemälde der höher» Gattung nachstreben sollte, und von dem Tcichliu in dem
oben angeführten Werk eine so vortreffliche Darstellung gegeben hat, in Einklang zu
bringe» sind, wolle» wir vorläufig dahingestellt sein lassen. — Nebenbei wolle» wir
niisere Leser ans die vortreffliche Leitung des „Deutschen Kunstblattes", das für jede»
Freund der Kunst ein unentbehrlicher Leitfaden ist, noch einmal aufmerksam machen. —
Am 16. October ist in Weimar eine Ausstellung von Cranachschen Werken eröffnet
worden. —'
<,/-.->.»/.?.K.^
— In Weimar ist ein neues Lustspiel von Berger: .Maria vou
Medicis" mit Erfolg aufgeführt. — In Leipzig haben wir jetzt „Ein Lustspiel" von
Bcuedix gesehen, und können dem Urtheil unseres Frankfurter Korrespondenten uur
beipflichten. — Die Aufführung von Hebbels „Judith" veranlaßt uns zu einigen Be¬
merkungen. Zunächst halten wir eine verbindende Musik, welche die Zwischeuacte aus¬
füllt, für unangemessen. Gegen eine Ouvertüre haben wir nichts einzuwenden, aber
die Zwischeuacte sind dazu da, daß man die Aufmerksamkeit einen Augenblick abspannt
und sich den Eindruck, den man mitgenommen, klar macht, um auf das Folgende vor¬
bereitet zu sein. Wird aber die Aufmerksamkeit nach einer andern Kunstleistung gewalt¬
sam hingelenkt, so kommt in die Spannung etwas Unruhiges und Fieberhaftes, das
deu Kunstgenuß nur stören kann. Die Musik zum Egmont hat zuerst dies Unwesen
hervorgerufen, aber auch in Beziehung auf dieses Stück wird jeder Unbefangene uns
beistimmen. Ferner macht die „Judith" wegen der Unzahl mithandclndcr Personen
Noth; es ist unmöglich, daß ein Stadttheater einige zwanzig männliche Personen besitze,
die sprechen können, ohne Anstoß zu geben. Es wendet also Statisten an. Dadurch
macht aber z. B. der ganze erste Act, der überhaupt ziemlich lose gearbeitet ist, einen
durchaus lächerlichen Eindruck. Diesem ist uur dadurch abzuhelfen 1) daß dieselben
Personen 2 Rolle» übernehmen, eine im jüdischen, die andere im assyrischen Lager, 2)
daß einige Rollen zusammengezogen werden, was auch leicht geschehen kann. Wer eine
Tragödie als Kunstwerk aufnehmen will, wird uns zugeben, daß diese Bemerkung nicht
unwichtig ist. — Was die Rolle der Judith betrifft (Holofernes spielt sich von selbst),
so ist es natürlich, daß nicht das zur Anschauung kommen kann, was dem Dichter
vorgeschwebt, und was er mit einer dämonischen (wir möchten eigentlich einen andern
Ausdruck gebrauchen) Kraft wenigstens angedeutet hat — und, ehrlich gestanden! wir
danken dafür den Musen und Grazien. Daß übrigens das Publicum das Stück nicht
in seiner ursprünglichen Gestalt sieht, ist bekannt. Eigentlich wird Judith wirklich die
Beute des Holofernesz sie vergißt ihre erste Absicht, und rächt, indem sie dem Holo-
fernes das Haupt abschlägt, ihren befleckten Leib an dem trunkenen Heiden. Ihre
Landsleute müssen ihr das Versprechen ablegen, sie zu todten, wenn sie dem Holofernes
einen Sohn gebäre. — Dieser Schluß mußte geändert werden, und der Dichter hat
ihn in der That geändert, aber damit allerdings dem Stück die Pointe abgebrochen.
Was jetzt die Geschichte mit dem Manasse, der sein Weib in der Hochzcituacht nicht
berührt, weil das Gespenst Asmodi zwischen sie tritt, eigentlich soll, versteht niemand —
in der ersten Fassung hatte es einen sehr realen Sinn, aber einen abscheulichen. —^
— Wir haben bereits erwähnt, daß die Behandlung
der orientalischen Frage einen großen Raum in der neuen englischen Literatur
einnimmt. Fast überall sind die Ansichten entschieden gegen Rußland. So in einem
neuen Werk: „Die Grenzlande der Christen und Türken; eine Reise in den Ländern
der »ndem Donau in den Jahren 1830 und 1831." Von einem Mann, der 20 Jahre
hindurch britischer Resident im Orient gewesen ist. Ebenso eine „Korrespondenz zwischen
D> Bratiano und Lord Dudley Stuart uhn die Donaufürstenthümer", und das von
uns bereits erwähnte Werk: „Die Griechen und die Türken; oder Mächte und Aus¬
sichten des Morgenlandes" von Eyre Evans Crowe, das aber mehr descriptivcr Natur
ist, und sich bei der Neigung des Verfassers, zu Philosoph,«», nicht selten in ge¬
wagten Paradoxie» ergeht. — Reisebeschreibungen nach allen Gegenden der Welt
sind gleichfalls in einem ziemlich großen Umfang vorhanden. Vortrefflich ist eine spanische
Reisebeschreibung: „Castilien und Andalusien", von Lady Louisa Tenison, die sich zwei
Jahre in jenen Gegenden aufgehalten hat. Ferner „Abenteuer einer Dame in Tar-
tarei, Thibet, China und Kaschmir", von Mrs. Hervey. Ferner eine Reise durch Nord-
uud Mitteldeutschland selon« I.ne in kLi-mun)') von Charles Lvring Bracc, der 1831
auch eine Beschreibung Ungarns herausgegeben hat. Der Gegenstand seiner Darstellung
ist lediglich unser häusliches und geselliges Leben, mit der Politik beschäftigt er sich
nur insofern, als sie auf die socialen Zustände Einfluß ausübt. Ein zweijähriger
Aufenthalt hat ihm vielfache Gelegenheit gegeben, sich mit unsern Sitten bekannt zu
machen, und er gibt z. B. von dem Hamburger Kausmannstreiben, von dem Stu-
dentenleben u. s. w. Darstellungen, die auch den deutschen Leser interressiren müssen,
denn es kann für uns nur nützlich sein, wenn wir unsere eigenen Fehler und Vorzüge
einmal mit einem unbefangenen, an andere Verhältnisse gewohnten Auge betrachten. —
— Aus dem Gebiet der Geschichte heben wir nur eine Monographie über Wyeliffe
hervor, von Robert Vanghan, der sich schon seit einer Reihe von Jahren mit diesem
Gegenstand eifrig beschäftigt hat. — In die Mischgattung zwischen Poesie und Prosa
gehöre» zwei Schriften: 15>«e>,>-!!. ^. 8l,c»-^ ol' Hlodc?,'» 'I'mich. Von dem Verfasser
von' „Rockingham" und: Charles Deiner. ni' ».^. Beide geben sehr in¬
teressante Beobachtungen über berühmte Zeitgenossen, zum Theil hinter allerlei roman¬
tische Umhüllungen versteckt. — Aus dem Bereich der eigentlichen Dichtung führen
wir an: Munclw <Jo IZourlw». Ein episch-historisches Gedicht von William Jones,
in dem von W. Scott geschaffenen romantischen Stil. — Endlich gehen wir ans die
Shakespeare-Literatur über. Wir beginnen mit einem englischen Werk: Hie
Oimsllli 8IiuI<8>ioiU'L. Notes uni llmeixlittions o» et>« I'In^s ot 81>ulisp<:i»'o, kron
>i i-liconl,!)' — lliscoverötl larve»te>> ec>>^ 1^ Ule into .sosonli t^rimaldi,
^omolliiin, einer bittern Satire gegen Colliers Entdeckungen, und wenden uns dann
zu der deutschen Literatur über denselben Gegenstand. — „Ueber Shakspeares
religiöse und ethische Bedeutung. Eine praktische Studie von I. I. Rictmanu."
(Se. Gallen, Huber u. Comp.). Der Verfasser gibt in der Vorrede selber an,
daß diese Vorlesungen lediglich für Geistliche bestimmt sind, und daß sie „den Lite-
raten vom Fache nichts, jedenfalls nichts Neues sein wollen und sollen." Und
von diesem Standpunkte wollen wir sie auch auffassen: ein Geistlicher, der auf seiner
Landpfarre wenig Gelegenheit hat, mit der Literatur gleichen Schritt zu halten, wird
in diesem Büchlein viele nützliche und verständige Bemerkungen finden, und daraus er¬
kennen, daß auch aus dem großen profanen Schriftsteller der echt christliche Geist sich vieles
Gute aneignen kann. — Wir kommen noch einmal aus die beiden von uns bereits er¬
wähnten Ausgaben von Professor Ulrici (Halle, Pfeffer) und Prof. Hcrrig (Berlin,
Enslin) zurück. Wir haben die beiden Bearbeitungen von Romeo und Julie verglichen,
und würden unsererseits entschieden der Ulricischen den Vorzug geben. Sie geht ge¬
nauer ans die Kritik ein, ist vorzugsweise philologisch, wie das bei einer derartigen Aus¬
gabe nothwendig ist, und macht etwas mehr Voraussetzungen an den Leser. Aber auch
die andere Ausgabe (von Henssi besorgt) ist brauchbar, sie stimmt in vielen Punkten ganz
mit jener überein, und da in solchen Dingen eine so naheliegende Concurrenz aus die
Ausgaben selbst nur nachtheilig wirken kann, so Würden vielleicht die beiden Herausge¬
ber am zweckmäßigsten handeln, wenn sie miteinander in Verbindung träten. Herr
Prof. Herrig würde keinen bessern Bearbeiter finden, als Hrn. Prof. Ulrici, und die
Theilung der Arbeit würde die Schnelligkeit des Erscheinens und die Brauchbarkeit der
Ausgabe befördern. Das Unternehmen scheint uns mehr als irgend ein anderes zur
Association aufzufordern. — Die Hcrrigsche Ausgabe enthält außer Romeo den Othello
von Siepers und den Macbeth von Hcrrig. Die ästhetisch-philosophischen Einleitungen
könnten süglich wegbleiben. — Warum aber auch Byrons Marino Falieri (bearbeitet
von Brockerhoff) in diese Ausgabe mit ausgenommen ist, noch dazu mit sehr zahlreichen
Anmerkungen, begreisen wir nicht. Bei neuern Schriftstellern setzt man voraus, daß
wer überhaupt Englisch treibt, sie auch versteht, daß wenigstens die gewöhnlichen Hilfs¬
mittel ausreichen. Statt dessen wären Ausgaben von Schriftstellern, wie Chaucer,
Spencer u. s. w. viel zweckmäßiger. Für Byron scheint uns Tauchnitz (wenn nur die
Korrespondenz hinzugefügt würde!) vollkommen auszureichen. Die Ausgabe kann doch
nur den Zweck haben, 1) wohlfeiler zu sein, 2) sprachliche Schwierigkeiten zu erläutern;
beides fällt bei den neuen Schriftstellern, von denen wir schon Ausgaben besitzen, weg.
Mit großer Genugthuung bemerken wir in England wie in Frankreich eine allge¬
meine Reaction des gesunden Menschenverstandes gegen die romantischen Formen, welche
der überschwengliche Idealismus in der Kunst hervorgerufen hat. Wir haben in unsern
Berichten über die englische Literatur mehrfach auf die Formvcrwirrung hingewiesen
welche in der Prosa durch Carlylcs, in der Poesie durch Shelleys Beispiel hervorge¬
rufen ist, und welche der gefunden Natur des englischen Volks Hohn spricht. In dem
Octoberheft von Fräsers Magazine finden wir einen ganz vortrefflichen Aufsatz:
^lexuiulvi- Linn.1» »ni ^>>zx»in><!i' I>c>p<>, in welchem die altclassische Schule gegen die
Neuerungen Vertreten wird, die im wesentlichen darauf ausgehen, alle Kunstformen durch¬
einander zu werfen. Den talentvollen jungen Dichter, der zu dieser Kritik Veranlassung
gegeben hat, haben wir bereits erwähnt. Da wir die Sache des gefunden Menschen¬
verstandes für eine gemeinsame betrachten, die alle Nationen gleichmäßig angeht, werden
wir von Zeit zu Zeit aus verwandte Erscheinungen in der englischen »ut französischen
Kritik aufmerksam machen. — Das Octoberheft von Ventleys Miscellany gibt
eine kurze Anzeige neuer Romane: den oben erwähnten „Charles Deiner", ferner
„Christie Johnstone" von Charles Reate (Verfasser von „Peg Woffington"), welche
Novelle sich uusern Dorfgeschichten nähert, „sitas Barnstarke", ein historischer Roman
aus den Zeiten Cromwells, und „Bleak House." —
Wie die für Deutsche eingerichteten Ausgaben englischer Werke, so mehren sich auch
die poetischen Uebersetzungen. Es liegen uns gleichzeitig drei neue Werke vor: „W.
Scotts poetische Werke. Deutsch von Alex. Neidhardt. 1. Bd." (Das Fräulein
Vom See) (Darmstadt, Leske). Jeder Versuch, diese schönen Werke dem deutsche»
Publicum näher zu führen, kann uns nur willkommen sein, schon als Symptom der
wiedererwachenden Neigung für diese echte Poesie, die noch lange fortleben wird, wenn
der Schwulst der modernen Weltschmerzdichter lange vergessen ist, — Ferner: „Gedichte
von Alfr. Tennyson. Uebersetzt von W. Hertzberg." (Dessau, Katz.) Tennyson ist
eine hoch poetische Natur, seine Empfindungen find edel, stark und bewegt, und der Fluß
derselben melodisch. Aber er gehört zu jener Schule der Shelley, Bailey, Browning
n. s. w., die geflissentlich jeden Stil und jede Kunstform abwirft, die Gestalt und
Physiognomie in eine reizende, aber zerflossene romantische Dämmerung begräbt und sich
die unmögliche Aufgabe stellt, bloße Stimmung ohne Object zu entwickeln. Aber Ten¬
nyson ist der bedeutendste dieser Schule, und verdient wol in Deutschland näher be¬
kannt zu werden. Dem Uebersetzer ist es wenigstens theilweise gelungen (ganz ist es
bei einer so ausgedehnten'Sammlung nicht möglich), den zarten poetischen Duft des
Originals festzuhalten. — Endlich: „Rose und Distel, Poesien aus England und
Schottland, übertragen von GiSbert Joh. Vincke." (Dessau, Katz). Eine schöne
Auswahl historisch interessanter Gedichte und Volkslieder, meistens gut übersetzt; mir
hätte der Uebersetzer das bekannte Gedicht „Eward! Edward!" nicht an die Spitze stel¬
len sollen, denn die Hcrdcrsche Uebertragung ist in ihrer Einfachheit viel schöner und
ausdrucksvoller. —
Noch machen wir aus eine deutsche Monatsschrift aufmerksam, die seit dem -I. Januar
d. I. in London erscheint: „Deutsches Athenäum. Zeitschrift für deutsche Litera¬
tur und Kunst." Der Leitartikel der ersten Nummer beginnt mit folgenden Worten:
„Wie verrottet und vollständig abgenutzt das ganze poetisch litterarische System Dentsch-
lands ist, wird ein jeder bemerken, der nur einigermaßen im Staude ist, unsere Ver¬
hältnisse zu verfolgen. Daß die Zeitungen jetzt sämmtlich von den Regierungen cdidirt
<M. das Wort kommt später noch einige Male vor) und geschrieben werden, kann man
unmittelbar behaupten; denn die Erbärmlichkeit der deutschen Zeitungsprcssc, mit Aus¬
nahme einiger Nord- und Westdeutschen Zeitungen, ist zu offenbar, als daß es sich
von irgend einer Seite in Frage stellen ließ. . . Die Nationalzeitung ist in
Preußen verboten, so daß die Presse jetzt in der That in Regierungsbauten ist"
u. s. w. — Wenn man erfindet, sollte man das Gesetz der Wahrscheinlichkeit beobach¬
ten, und der Redacteur einer Zeitschrift für deutsche Literatur sollte wenigstens soviel
wissen, daß die Nationalzeitung in Berlin erscheint, daß Berlin in Preußen liegt, und
daß ein Verbot sür Preußen also das Aufhören der Nationalzeitung überhaupt bedin¬
gen würde. — Uebrigens erfahren wir bereits im 3. Hefte, daß die Ansicht von der
Erbärmlichkeit der deutschen Literatur nicht über die Zeitungen hinausgeht; so werden
S. i „die Ritter vom Geist" der großartigste Roman Deutschlands genannt, ,,in wel¬
chem deutsches Leben mit großer männlicher Kraft, lebendig, geistreich und künstlerisch
dargestellt worden ist. Gutzkow hat in diesem Meisterwerk den Roman endlich in jene
Höhe gebracht, wonach wir (Göthe u. s. w.) hundert volle Jahre vergeblich gestrebt
haben." Was wollen wir also noch weiter? —
— Mit dem 'K.Bande hat Barante seine aus¬
führliche und, wenigstens im ganzen, objectiv gehaltene Geschichte des Nationaleonvcnts
beendet. — Auch die vortreffliche Monographie von Charles de Remusat über
Bolingbrokc und seine Zeit hat ihre Vollendung gesunden. — Gustave Planche
hat seinen Streifzug gegen das nensranzösischc Theater fortgesetzt und nachgewiesen,
daß die antitisircndc Schule: Ponsard, Angler u. s. w. nach derselben Richtung sün¬
digt, wie die gothische Schule V. Hugos, daß sie nämlich das Costüm und andere
Zufälligkeiten über den einzig würdigen Stoff der Poesie, über die menschliche Seele
hervorhebt; und daß die Komödie durch das Ausgebe» der Charakterzeichnung zu Gun¬
sten der Intrigue nahe dabei ist, in denselben Irrthum zu verfallen. —
Gvtthold Ephraim Lessings sämmtliche Schriften. Herausgegeben
von Karl Lach manu. Aufs Neue durchgesehen und vermehrt von Wendelin von Malt-
zahn. Erster Band. Leipzig. G. I. Göschcnsche Verlagshandlung. 18S3. K37 S.
in gr. 8. -— In dem Prospectus, worin die in einer Hand vereinigten I. G. Cotta«
sehe und G. I. Göschcnsche Buchhandlungen vor etwa einem Jahre die wohlfeilere
Ausgabe der bekannten 9 deutschen Klassiker ankündigten, mußte zweierlei auffallen, er¬
stens! daß „niemand durch die Subscription zu Abnahme einer bestimmten Anzahl von
Bändchen verbindlich gemacht werde", daß „jeder zurücktreten könne, wenn es ihm be¬
liebe", während es doch zugleich hieß: „Einzelne Autoren oder Bände werden nicht ab¬
gegeben", während also niemand nach Belieben zurücktreten konnte, falls er nicht von
einzelnen der 9 Autoren einige beliebige Bändchen besitzen und sein Geld hierfür weg¬
geworfen haben wollte. Zweitens verdiente es an diesem für das große Publicum be¬
stimmten Prospectus Tadel, daß darin „Lessing" ebenso wie „Goethe", „Schiller" n. a. in.
ausgeführt wurde, während die beiden Buchhandlungen von ihm doch nur die Auswahl
in acht Bänden in Schillcrfvrmat geben wollten, und dies auch in dem dem großen
Publicum nicht zugänglichen Buchhändlcrbörsenblatt ankündigten.
Nichtsdestoweniger freuen wir uns über die obige zweite Auflage der Lachmann-
schcn Ausgabe sämmtlicher Lessiugscher Werke. Dieselbe war dringendes Bedürfniß
geworden, da die erste, Berlin 1838 bis 1849 erschienene Ausgabe längst vergriffen
und einzelne Exemplare davon zu hohen Preisen gesucht waren.
Die dem ersten Bande vorgedrucktc Buchhändleranzeige gibt die nicht unbedeutenden,
zum Theil bisher uoch nie gedruckten „Vermehrungen" dieser zweiten Ausgabe an, die
wir also mit vollem Dank gegen den Herausgeber, wie gegen den Verleger zu begrüßen
haben. Da sie aber in derselben Druckerei der I. G. Cottaschen Buchhandlung in
Stuttgart gedruckt wird, wie die große Ausgabe der Goethe scheu Werke in XXX.
Bänden, 1859 — 1831, diese aber bekanntlich übermäßig von Druckfehlern entstellt ist,
so hielten wir es für Pflicht, uns zu überzeugen, ob diese Auflage der Lessing seht»
Werke eine sorgfältigere Correctur erfahren habe; denn was hilft aller Fleiß des ent¬
fernt wohnenden Herausgebers, was das Tilgen früherer Druckfehler, wenn in Stuttgart
die Correctur Goethescher oder Lcssingscher Werke den in den Cottaschen Drucke¬
reien auch sür alles Andere angestellten Corrcctoren anvertraut ist. Nach dcmjeurgen,
was wir daher in diesem ersten Bande nachgelesen, zu urtheilen, scheint seine Correctur
besseren Händen anvertraut gewesen zu sei», da aber die Correctur der Goethescher
Werke mit jedem Bande nachlässiger wurde, so wollen wir nicht verfehlen, diejenigen
Druckfehler zu bemerken, welche dieser erste Band der zweiten Ausgabe auf den von
uns verglichenen Blättern vor der Lach manu sehen voraus hat: S. 418,, Z. 6 v. o.
ist falsch gedruckt Sorgen se. Sorge; S. 423, Z. 8 v, o. Einwillung se. Ein¬
willigung; S. 321, Z. 21 v. o. steht mich worden falsch ein Punktum se. des
Fragezeichens bei Lachmann; S. 392, Z. 13 v. v. steht daran, während Lachmann
dran hat. S. 608, Z. 9 v. v. steht wen» es se. wenn er; S. 613, Z. 11 v. u.
völlig se. nicht völlig; S. 613, Z. 11 v. u. muß statt des auch bei Lachmann
stehende» vernehme wahrscheinlich vornehme gelesen werden. S. 260, Z. 2 v. o.
se. Färbepfcrd l. Färbcrpscrd; S. 266, Z. 20 v. o. se. <?, or- l. ö,rrt;
S. 267, Z. 27 v. o. se. Minen l. Mienen; S. 283, Z. 13 v. u. se. ihnen l.
Ihnen; S. 288, Z. 8 v. u. se. keusst l. keifst; S. 331, Z. 20 v. v. se. Rübben-
stoße l. Nibbcnstoße; S. 343, Z. 7 v. o. se. daß l. da; S. 367, Z. 12 v. o.
se. verschnupft l. verschnupft; S. 430, Z. 2 v. o. se. wvhlgeachtetsten l.
wohlgcmachtesten (welches nach Analogie des französischen >ni,j. Iren l'>ni, und nach
dem Zusammenhange wohlgestaltetsten bedeutet); S. 469, Z. 14 v. v. se. Ihnen
l. ihnen; S. 479, Z. 2 v. u. se. herschreiben l. herschricbcn; S. 483, Z. 4
v. v. se. bedaure l. bedaure (ein mehrmals vorkommender Druckfehler oder Verstoß
gegen die von Maltzahn wie von Lach manu beibehaltene Lessing sehe Rechtschrei¬
bung). Alle diese Druckfehler, welche nur in dem von uns verglichenen prosaischen Theile
dieses ersten Bandes, S. 259—637, vorkommen, finden sich nicht in der ersten Auflage von
Lachmann. S.446, Z. 12 v. o. Schuldner se. Gläubiger steht auch bei diesem,
wird also ein Lessingscher Schreibfehler sein. Ebenso haben beide (Maltzahn
S. 449, Z. 7 v. o.) Losungswort -se. Losungswort. Den poetischen Theil,
S. 3—236 haben wir nicht verglichen. Von allen diesen Druckfehlern ist nur der
eine, das ausgelassene nicht, des Rennens werth, und sollte der ganze Band, den
wir nur an zwei kürzern Stellen gelesen haben, keine weiter» Druckfehler e»thalte».
so darf ma» gewiß zufrieden sein. Dagegen wolle» wir zur Rechtfertigung unseres
Mißtrauens und zu künftigem Nutze» nachträglich einige »cuc. Bemerkungen über die
Ausgabe der Goethescher Werke von 1830 »ut 1831 in XXX. Bänden in gr. 8.
machen: Band I, Seite 89, Zeile 12 von oben lies Vertraue statt Vcrtraure;
S. 102, Z. 3 v. o. l. Du se. Da; S. 143, Z. 14 v. o. dar' se. dar; S. 184,
Z. 1. v. o. nichts se. nicht; S. 183, Z. 6 v. o. leert' se. leert; S. 223, Z. 2
v. u. l. reichem se. reichen; S. 237, Z. 3 v. o. sie se. jeu'; S. 279, Z. 3 v.
u. Winkte se. Winkt; S. 280, Z. 9 v. u. l. Munter se. Mutter; S. 283, Z.
3 v. o. l. gegrüßet se. gegrüßt; Z. 6 v. u. biß se. bis; S. 316. Z.
18 v. o. l. Sprichst se. sprachst; S. 317, Z. 1 v. u. l. von Hause se. von,
Hause; S. 340, Z. 12 v. u. verwundert se. verwundet; S. 346, Z. 7 v. o.
bcforschet se. erforscht; S. 349, Z. 3. v. u. l. es se. er. Alle diese Fehler fin¬
de» sich nicht in der Aufgabe letzter Hand. In der Ausg. l. H.. sowie in frühern
hieß es auch in der Ballade Der Säuger: „Ließ, ihn zu ehren für sein Spiel, Eine
goldne Kette reichen" und: „O wohl dem hochbeglückter Haus", was dK Ausgabe von
1830 nach dem Vorgänge der Stereotypausgabe von 18ä0 willkürlich verändert und
verschlechtert hat. Aus der Ehre ist el» Lohn und das hochbeglückte Haus ein dreimal
hochbeglücktes geworden.
— „Die Verfassungsfrage in Kurhessen auf ihrem
jetzigen Standpunkte. Den deutschen Stände-Mitgliedern gewidmet". (Leipzig,
Nemmelmann) setzt mit Würde und gründlicher Durcharbeitung der Thatsachen die ge¬
genwärtigen Conflicte über die neuen hessischen Vcrsassuugsprojccte auseinander, die noch
in diesem Monat zum Auftrag kommen müssen. Einen ernsten und bittern Rückblick
auf die Vergangenheit thut eine zweite Broschüre: „Die angebliche Steuerverweigerung
in Kurhessen und der Proceß gegen die Mitglieder der aufgelösten Ständeversammlung.
Beleuchtet 'aus Grund der Landcsprvtocolle und anderer officieller Actenstücke."
(Braunschweig, Vieweg u. S.) Wir fürchten, die Sache des Gesetzes und der Conti-
nuität politisch conservativer Interessen ist dort hoffnungslos, aber man thut doch
recht daran, dafür zu kämpfen, solange noch zu kämpfen möglich ist. — Ein „Votum
über die neuesten Vorlagen der k. Negierung an die allgemeine (Hannoperschc) Stände-
versammlung, die Abänderung des Vcrfassungsgcsctzcs vom S. Sept. betreffend",
vom Prof. Zachariä in Göttingen (Göttingen, Vandenhoeck und Ruprecht), entscheidet
sich wenigstens theilweise für jene Abänderungen, gegen unsere Ueberzeugung, obgleich
wir das Gewicht der angeführten Gründe nicht verkennen wollen. — „Die Schweiz
nach ihrer Vergangenheit und Gegenwart. Studien von Severus." (Se. Gallen
in Bern, Huber) beleuchtet einige stark hervortretende Schattenseiten in historischer Auf¬
einanderfolge mit patriotischem Eifer. — Bei dieser Gelegenheit erwähnen wir als ein
brauchbares Büchlein: „Das Postwesen unserer Zeit. Abhandlungen und Mitthei¬
lungen über alles Wissenswerthe in den Einrichtungen und Reformen des PostWesens
aller Länder, des Postzeitungsvcrtricbs und aller dahin einschlagenden Zweige." Von
Heidemann und Hüttncr. 1. Heft. (Leipzig, Geibel). —
Deutsche Bibliothek. Sammlung auserlesener Original-
Romane. Von O. Müller. (Frankfurt a. M., Meidinger). — Der erste Roman
dieser Sammlung: „Asraja" von Th. Mügge ist nun vollendet. Wir können ihn im
ganzen als gelungen bezeichnen. Herr Mügge hat sich wieder der Schule W. Scotts
zugewendet, und er hat recht daran gethan, da er nebenbei die neuen Errungenschaften
von Immermann (im Hofschulzen) und Sealsfield (im Nathan u. s. w.) nicht unbenutzt
gelassen hat. Der Roman spielt in der Mitte des vorigen Jahrhunderts in den nörd¬
lichen Gegenden Norwegens. Alles was zur Schilderung und Beschreibung gehört, ist
ganz vortrefflich, auch die Menschen, insofern sie beschrieben sind; ebenso Sitten, allge¬
meine Charaktertypen u. s. w. Die gelungenste Figur ist der verschmitzte Kauf¬
mann Helgestad, wenn er anch nach unserm Geschmack ein wenig zu sehr ins Häßliche
schillert. Wo dagegen der Roman in das innere Seelenleben übergeht, ist die Arbeit
flüchtig, die Motive gehen auseinander, wir finden keinen Zusammenhang. Die Frauen
sind schlecht: bei ihnen ließ sich jenes äußerlich description Talent nicht anbringen. Die
etwas übersehn'-engliche Samgeden-Romantik, die sehr stark an ähnliche Sünden W.
Scotts erinnert, hätte etwas mehr in den Hintergrund treten sollen. Bei alle dem ist
der Roman eine dankenswerthe Bereicherung unserer Novellen-Literatur, und gibt dem
Genre der Dorfgeschichten dnrch Beziehung auf ein neues Gebiet (das Handels- und
Fischerlcben) und auf geschichtliche Verhältnisse einen neuen Inhalt.
Libussa. Jahrbuch für 1834. Herausgegeben von P. A. Klar. Is. Jahr¬
gang, mit dem Porträt des Fürsten F. Schwarzenberg und zwei gestochenen Knnst-
blättern. Prag, Calpe. Leipzig, Hühner. — Die Haltung dieses Taschenlnichs im
allgemeinen ist bekannt. Der diesjährige Jahrgang enthält, außer einer „Mvrgeuprome-
nadc in Wien" vom Fürsten Schwarzenberg (dem „Lanzknecht") lyrische Beiträge von
Rvßler, Egon Ebert, Seidl, Hansgirg, Schcda, Habel, Muck, Uffo Horn, Rcitzcnbeck,
I. Bayer u. s. w. und Novellen von Proschko, Schloenbach, und Kittl. — Was uns
in diesem Taschenbuch unangenehm berührt, ist der zudringliche Servilismus, namentlich
in den Gedichte» von Nößlcr. Es war schlimm genug' im Jahre 1848, als jeder
Vagabund, der reimen sonnte, tyraunenmördcrischc Gedichte machte, aber dieses verzückte
Jmstaubcliegcn vor der Macht ist doch noch widerwärtiger.
Falk. Eine Erzählung von Siegfried Kapp er. (Dessau, Katz). — Eine
Novelle aus dem specifisch jüdischen Leben, mit verschiedenen episodischen Erzählungen
und Märchen durchflochten, übrigens im ganzen einfach und gemüthlich dargestellt, und
zwar so, daß man für das jüdische Familienleben, wie es hier geschildert wird, keine
besondern Sympathien gewinnt. Unrecht thut der Verfasser, wenn er S. 43 die Art und
Weise, wie nach seiner Versicherung unter den reichen Juden die Heirathen geschlossen
werden, auf die ganze civilisirte Welt ausdehnt. Die Romantik, oder besser die Natur,
spielt in solchen Dingen bei uns doch noch immer eine nicht zu verachtende Rolle. —
Originale. Genrebilder aus der Wirklichkeit von Arnold Schloenbach.
2 Bde. (Breslau, Trewendt und Granier.) — „Noch einige Zeit, sagt der Verfasser
in der Vorrede, und wir haben keine Originale mehr. Dampf, Politik und kohlensaures
Wasser machen die Menschen sich einander ähnlich, langweilig ähnlich. Da wollte ich denn
nun einige der frappantesten aus dieser vergehenden Welt der Originale rasch noch fest¬
halten, gleichsam als Studien für diese vergehende Zeit." — Inwiefern trägt das
kohlensaure Wasser dazu bei, die Menschen einander ähnlicher zu machen? Wir dächte»,
durch vieles Biertunken wird die Individualität auch nicht grade gefördert. — Was
den Werth von „Originalen" betrifft, so kommt es wol vorzüglich darauf an, daß sie
entweder einen starken sittlichen Inhalt mitbringen, oder daß sie komisch zu idealisiren
sind. Beides findet sich in den „Originalen" von Dickens, Gotthelf, Auerbach und
ähnlichen Dichtern in hohem Maße verbunden. Dem Verfasser ist es nur stellenweise
gelungen, das eine oder das andere zu erreichen, wenn wir auch den Fleiß, mit dem
er individuelle Züge gesammelt hat, gern anerkennen wollen. —
— Wir sind jetzt in ein Stadium gekommen,
in welchem der Krieg zwischen Rußland und der Türkei unvermeidlich erscheint, wenn es
auch noch zweifelhaft ist, ob das übrige Europa darin verwickelt wird. Da wir also
noch vorläufig neutral sind, und bis zu einem gewissen Grad ein^ freie Meinung über
die Sache aussprechen können, müssen wir diese Frist rasch benutzen, um über das ruhmvolle
Benehmen der türkischen Regierung einige Worte der Anerkennung nuSzusprcchen. Vor
solchen Thatsachen sollte das Gefasel von türkischen Barbaren doch endlich verstummen!
Diese Verbindung von Heloenmnrh — denn es gilt einen Verzweiflungskampf gegen
einen zehnfach überlegenen Feind, dabei eine Ueberzahl erbitterter Griechen im Rücken
und sehr zweideutige Verbündete zur Seite —, Mäßigung — denn die feinste» For-
wen des diplomatischen Auslandes sind beobachtet, und in Bezug auf den Verkehr die aner-
kenncuSwertheste Humanität ausgeübt, — Ansdauer und Entschlossenheit, denn die
Rüstungen sind, bei schwächeren Kräften, etwas anders betrieben, als gewisse Rüstungen
von 18ö0, — und Gerechtigkeit — denn wenigstens bis jetzt hat die Pforte nur
Unrecht erlitten, nicht Unrecht gethan: — welche europäische Nation seit dem Jahre
->81ö hat sie wol gezeigt? — Es bleibt allerdings noch die Hauptprobe übrig, wie
sie sich schlagen werden; im übrigen kommt auf den Nusgang nichts an. Wir haben
nie daran gezweifelt, daß die Türkei ihrem allmäligen Untergang entgegengeht, denn ein
Staat, in dem die herrschende Minorität kein Mittel hat, die Majorität allmälig zu sich
heranzuziehen, ist auf die Dauer nicht haltbar: aber wenn sie so untergeht, wie es jetzt
den Anschein hat, so sollte sie wol mancher stolze Staat um das edle Verhängnis! be¬
neiden, der jetzt mit Achseluzcken auf sie herabsieht.
— Malerische Feierstunden. Jllustrirte Volks- und Familien-
Bibliothek zur Verbreitung nützlicher Kenntnisse. Mit vielen in den Text gedruckten
Abbildungen. (Leipzig, O. Spanier.) Der -I.Band enthält das „Buch der Erfindun¬
gen" von L. Thomas und L. Bergmann, und zwar: die Buchdruckerkunst, das Schie߬
pulver, den Blitzableiter, Magnetismus und Elektricität, den Telegraphen, den Luftballon,
Mikroskop und Teleskop, Daguerreotypie, die Dampfmaschinen, Eisenbahnen und Dampf¬
wagen und die Baumwollen-Spinnerei.
Wegweiser nach und in Australien. Seereise-Tagebuch von Hamburg nach
Sidneu im I. 1832. Praktischer Rathgeber und Reisehandbuch für deutsche Auswan¬
derer nach Australien, insbesondere nach den Goldminen. (Verlags-Comptoir in Pots¬
dam). — Die beste Empfehlung für das Büchlein ist, daß sich A. v. Humboldt günstig
darüber ausgesprochen hat. —
Der Schweizerische HauSbotc. Kalender a. d. I. 18si von Theod.
Meder-Merian. Mit SO Holzschnitten. Basel, Schweighäuser. — Enthält eine Reihe
entsprechender schweizer Dorfgeschichten. —
Briefsteller für die weibliche Jugend. Vom Consistorialrath Hartmann,
3. Aufl., nach des Verfassers Tode bearbeitet vom Oberlehrer Winter. Leipzig, Möller.
— Ein Handbuch von anerkannter Brauchbarkeit. —
Ueber das Immergrün unserer Gefühle, von Jean Paul. Neuer Ab¬
druck. Berlin, Enslin. — Eine sehr elegante, zu Weihnachtsgeschenken geeignete kleine
Ausgabe. —
Dr. G. A. Jahr in Leipzig, bekannt dnrch seine astronomischen Schriften, wird
vom Ä9. October an jeden Montag Abends 8—9 Uhr Vorlesungen über Witterungs-
lehre halten. —
Der namentlich in philosophischer Beziehung ausgezeichnete hinterlassene Bücherschatz
Gottfried Hermanns wird noch vor Ostern zur öffentliche» Versteigerung kommen.
Der Katalog ist bereits unter der Presse. —
Die russische JnvasionSarmce bestand im Jahre 1828 aus 8 Divisionen
Infanterie und i Divisionen Cavalerie unter dem Oberbefehl des Feldmarschalls
Grafen Wittgenstein, dem Diebitsch als Chef des Generalstabs zur Seite stand.
Sie zählte drei Armeecorps: das dritte unter General Nadzewitsch mit 30,!>00
Manu und 228 Geschützen; das sechste unter General Noth mit 23,300 Mann
und 90 Geschützen; das siebente unter General Vviuof mit 29,300 Mann »ut
Geschützen. Diese Armee, welche zusammen aus 103,300 Mann und 462
Geschützen bestand, war in Bessarabien concentrirt.
Die türkische Armee hatte sich noch nicht vereinigt, als die Nüssen auf dem
linken Donanufcr erschienen. Sie sollte mit allen Garnisonen an der Donau »ud
am schwarzen Meere aus -100,000 Mann bestehen. Albanesen, irreguläre Asiaten,
türkische Reiterei waren ans dem Wege sie zu verstärken. Den Oberbefehl führte
der unerschrockene und strenge Scraskier, Husseyn-Pascha.
Nach dem russischen FeldzugSplane sollte das dritte Corps in dem östlichen
Theile der Bulgarei, in der Dobrndscha operiren, das ganze Litorale des schwar¬
zen Meeres besetzen und sich alsdann mit dem siebenten Corps vereinen, um die
Belagerung von Schnmla und Warna zu unternehmen.
Die Dobrudscha liegt zwischen Silistria, Schnmla, der Donau und dem
schwarzen Meer. Dieses Land ist eine Einöde. Es kommen auf die Onadrat-
mcile höchstens 300 Einwohner. In dem nördliche» Theil erheben sich die
schroffen Gebirge von Matschin, die zum Theil schön bewaldeten Beschtepe oder
„Fünf Berge" und die Höhen von Babadagh oder „Mvatcrgcbirge". Weiter
südlich hingegen bildet das ganze Land ein niedriges wellenförmiges Hügelterrain,
welches sich nnr wenige 100 Fuß über dem Meere erhebt. Der Boden
besteht a»S einer feinen grauen Sandmasse, in welcher alles Wasser versiegt und
selbst dnrch die darunterliegende Kaltsteinschicht durchsickert. Vergebens sucht man
in den Thälern nach Bächen oder Quellen und das spärliche Trinkwasser in den
weit auseinanderliegenden Dörfern wird oft an 80 bis 100 Fuß langen Bast¬
seilen ans wenigen Brunnen emporgezoge». Der Ackerbau ist unter diesen Um¬
ständen sehr genug: man findet in den Dörfern ebensowenig Getrcidevorräthe
als Nanhfntter, denn das Gras verdorrt schon im Frühsommer und bildet un¬
absehbare wogende Flächen von hohen aber dürren Halmen. Nirgends ein
Baum oder Strauch. Ebenso wüst ist der Theil der Bulgarei jenseits des
Trajamvalls bis gegen Basardschik: längs einer Strecke von 23 Meilen hat hier
ein Heer mit dem Mangel an allen Lebensmitteln zu kämpfen.
Das sechste Corps überschritt den Prnth, besetzte Jassy und traf am
13. Mai in Bukarest ein, es sollte hierauf die Donau überschreiten und Silistria
belagern.
Das siebente Corps war bestimmt, die auf dem linken Donanufer gelegene
Festung Jbrail zu nehmen. Mau durfte, ohne die größte Unvorsichtigkeit zu be¬
gehen, einen so bedeutenden Platz nicht im Rücken liegen lassen.
DaS dritte Corps, die eigentliche Angriffscolonne, sollte die Donau bei
Jsaktschi zwischeu Jbrail und Ismail überschreiten, nach dem schwarze» Meere
zu vorrücken und einige Hafenplätze besetzen, welche den Russen vom Meere her
die Zufuhr von Lebensmitteln und Verstärkungen sicherten. Die russische Flotte,
unter Admiral Greigh beherrschte damals das ganze schwarze Meer, weil die tür¬
kische Seemacht in der Schlacht bei Navarin fast gänzlich vernichtet war. Da
also die Russen die feindlichen Schiffe nicht zu fürchten brauchten, hatten sie be¬
schlossen, statt, wie in den frühern Kriegen, durch das Innere des Landes vor¬
zudringen, sich ans die Küste des schwarzen Meeres zu stützen und hier ihre
Operationölinien einzunehmen. Von hier ans sollte das dritte Corps mit dem
siebenten Corps nach der Einnahme von Jbrail sich vereinen und alsdann zu¬
sammen die festen Positionen von Schumla und Warna angreifen. Diese beiden
Festungen waren der Schlüssel der europäischen Türkei. Nach ihrer Eroberung
sollten die russischen Truppen gegen den Balkan vorrücken und die Hanptdefilec»
des östlichen Theils dieser Bergkette besetzen. Wenn dies noch vor Ende der
guten Jahreszeit gelungen war, hatte Graf Wittgenstein den Auftrag, von dem
Gebirge herabzusteigen und in die Ebenen Thraciens einzudringen.
Am 13. Mai wurde die Belagerung Jbrails durch den Großfürsten Michael
eröffnet. Die Türken zeigten mehr Tapferkeit und Entschlossenheit, als man von
ihnen erwartete. Die Breschen, welche die feindlichen Kanonen rissen, worden
von ihnen rasch wieder ausgebessert. Häufige und zahlreiche Ausfälle unter¬
brachen die Arbeiten der Belagerer, tödteten viele der Ihrigen und nöthigten sie,
die durch die Belagerte» zerstörte» Verscha»z»ugeu wieder aufzubauen. Nach¬
dem die Belagerung einen Monat gedauert, versuchte der Großfürst Michael am
13. Juni eine Erstürmung. Aber er stieß ans energischen Widerstand. Dreimal
worden die Russen zurückgeschlagen und bei ihrem Rückzug erfolgte el» allge-
meiner Ausfall der Türken. Die Russen zählten bei diesem Sturm nach ihren
eigenen amtlichen Berichten 700 Todte und 1S00 Verwundete: zwei Generale
blieben in der Bresche. Aber auch die Türken hatten große Verluste erlitten.
Ihr Commandant verlangte am 17. Juni einen Waffenstillstand von 10 Tagen
und versprach, wenn vor Ablauf dieser Frist Verstärkungen nicht eingetroffen
wären, den Platz zu übergeben. Der Großfürst bewilligte ihm nur eine Waffen¬
ruhe vou 24 Stunden, uach deren Ablauf ihm Jbrail übergeben wurde. Es
fand sich in der Festung eine große Menge Kanonen und Kriegsmunition vor.
Man muß sagen,- daß die Türken zu Jbrail einen ehrenvollen und kräftigen
Widerstand leisteten. Der Platz ohne Außenwerke hielt sich gegen den regel¬
mäßigen Angriff 27 Tage nach Eröffnung der Laufgräben, aber nur 2 Tage,
nachdem eine gangbare Bresche in den Hauptwall gelegt war. Ihren Verlust
vor Jbrail geben die Russen selbst auf 4 Generale, 18 Stabsoffiziere, über 100
Offiziere und 2261 Gemeine an. Hierunter können aber die Kranken und Ver¬
wundeten uicht mit begriffen sein, da allein der Sturm am Is. Juni mehr als
2000 Maun kampfunfähig gemacht hatte. Es darf daher wol angenommen
werden, daß die Eroberung vou Jbrail das siebente Corps mindestens um 4000
Combattantcn schwächte.
Die kleine, gegenüber Jbrail ans dem rechten Douauufer gelegene Feste
Matschin ergab sich nach schwachem Widerstande. Der Fall Jbrails und Mat-
hesius machte den Uebergang über die Donau frei und leicht. So überschritt
das siebente Corps den Fluß, nachdem es in Jbrail eine Garnison zurückgelassen
und rückte in raschen Tagemärschen durch die Bulgarei, um seiue Vereinigung mit
dem dritten Corps zu bewerkstelligen, das bei Karassn lagerte.
Dieses Corps hatte die Donau bei Satnnowo überschritten, ungeachtet dort
das Herankommen ans dem linke» Ufer ebenso schwierig, als das Debonchiren auf
dem rechten ist. Satnnowo liegt zwischen dem Kagel- und Kartalsee aus einer
Landzunge, die dem linken Donannfer sich einigermaßen nähert, »»weit der Festung
Jsaktschi. Obgleich das Gerücht verbreitetet war, der Uebergang der Russen
werde bei Ismail erfolgen, hatten die Türken doch bei Satnnowo sich verschanzt.
Ihre Werke bestreben theils das jenseitige Ufer, theils den Donanspiegel. Sie
hatten 12 Kanonen, 2 Haubitzen, 1 Mörser, sämmtlich von schwerem Kaliber und
waren 10—12,000 Mann, meist Cavalerie, stark. Die Russen bauten zunächst
dnrch die weiten Sümpfe auf dem linken Donannfer einen 7000 Schritt langen
Damm. Sodann näherte sich ein Theil ihrer Donanflotille nebst dem Brnckcn-
geräth, von Ismail die Donau aufwärts steuernd, und führte zugleich eine Jäger¬
brigade zur Verstärkung mit sich. Hierbei befanden sich anch die Zagoreger
Kosacken, die unter der Kaiserin Katharina aus Rußland in die Dobrndscha ein¬
gewandert waren, griechische Religion und russische Sprache bewahrt und am
27. Mai zu Ismail für Nußland sich erklärt hatten. Bei dem Donanübergaug
war ihre Mitwirkung von der größten Wichtigkeit. Mit ihre» leichten Kähnen
setzte» sie hinter der Flotille, und vo» dieser dem Auge des Feindes entzogen,
am 8. Juni die Jägerbrigade ans dem rechten Dvimuufer aus Land. Diese
Jäger und Kosacken erstürmten sofort die nächstgelegene Schanze und hier¬
über erschreckt, verließ das türkische Corps alle andern Schanzen, ohne irgend
Widerstand zu leisten und floh theils nach Basardschik, theils nach Jsardschi.
In einigen Stunden waren die Nüsse» Meister der ganzen Position, bei deren
Vertheidigung die Türken nicht nur viel Ungeschicklichkeit, sondern auch wenig
Tapferkeit bewiesen hatten.
Nach dem Uebergang bei Satnnowo nahm das dritte Corps zuerst die Fest¬
ungen Jsaktschi und Hirsowa, dann Pnltscha, welches Ibrahim Pascha mehre
Tage mit der größten Hartnäckigkeit vertheidigte, endlich den Seehafen Kustcudsche.
Kustendsche war ihr erster Stützpunkt an der Westküste des schwarzen Meeres und
sicherte ihnen die unmittelbare Verbindung mit ihrer Flotte.
Bis zum V, Juli waren alle Festungen an der Donau von Silistria abwärts
in der Gewalt der Russen und diese Herrn des ganze» Laudes bis zum troja¬
nischen Wall. Eine TrauSportflotte vou 26 Segel» mit Lebensmittel» und
Kriegöbedarf belsiden lief in Kusteudsche el».
Die im allgemeinen schlechte Vertheidigung sowol der zuletzt erwähnten vier
Plätze, als der von Matschin, der guten von Jbrail gegenüber darf nicht befrem¬
den. Kleine Festungen in der Türkei werden niemals lange widerstehen, wie
haltbar sie auch durch ihre Lage oder ihre Werke sein mögen. Die Pforte ist
nicht in der Lage, einen beträchtlichen Theil ihres Heeres zur Besatzung der
Festungen zu verwenden »ut die Vertheidigung bleibt den Einwohnern meist selbst
überlassen. Eine größere Bevölkerung der Städte ist daher wesentliche Bedingung
für die nachhaltige Behauptung ihrer Wälle.
Das dritte Corps bei dem inzwischen der Kaiser Nikolaus in Person ein¬
getroffen war, vereinigte sich nunmehr bei Karassn mit dem siebente» Corps,
»»d rückte mit diesem in Bazardjik ein. Von hier entsendete der Kaiser eine
Division nnter dem General Suchtelen zur Belagerung Warnas: er selbst zog
mit dem dritten und siebente» Corps über Knstendsche und ^)mi-Bazar gegen die
Festung Schumla.
Somit verließ mau die Dobrudscha und betrat ti^ Bulgarei. Die bulga¬
rische Ebene, die vo» der Donau bis zum Balkan sich erstreckt, ist weniger ver¬
ödet als die Dobrudscha. Die Wände der tiefen Thäler sind mit Linden und
wilden Birnbäumen besetzt; breite Wiesen fassen die Bäche ein; wo der Boden
urbar gemacht ist, erheben sich blühende Kornfelder und. selbst die weiten, unbe¬
bauten Strecken prangen mir üppigem Graswuchs. Die Dörfer, in welche die
Bewohner sich zusammendrängen>, sind selten weit auseinanderliegend, aber groß
und enthalten meist nicht unbedeutende Vorräthe. Der fruchtbare Lehmboden
»nicht die Wege in der nassen Jahreszeit grundlos, und das Hinabsteigen in
die tiefen Thäler, über deren Wasser fast nirgends Brücken liegen, ist dann mit
den größten Schwierigkeiten verbunden. Im Winter fällt der Schnee in so
großer Menge, daß die Straßen oft gar nicht aufzufinden sind. Während des
Spätsommers verdorrt die Vegetation und der Massermaugel wird fühlbar; ein
Umstand welcher zuweilen nöthigt, die Märsche namentlich für die Cavalerie sehr
lang zu machen. Da überall die meisten Gcfechtsstellnngen am Rande der Thäler,
mit dem Wasserlauf vor der Front sich finden, Wasser aber ein dringendes Be¬
dürfniß ist, so ist man, um die Truppen nicht übermäßig zu ermüde», fast immer
gegen seinen Willen genöthigt, das Nachtlager am Wasser selbst vor der eigent¬
liche» GefechtSstcllnng zu nehme».
Schnmla liegt im Mittelpunkte der östlichen Bulgarei und beherrscht die
Hanptcommnnicationen derselben. Es hatte damals eine Besatzung von is,»00
Mann unter dem SeraSkier Hnsscyn-Pascha, und war umgebe» mit einer Ring¬
mauer, die etwa eine Meile im Umfang hatte und mit Thürme» und Bastionen
besetzt war. Die Stadt ist im Halbkreise auf den, Abhang eines Berges, dessen
Gipfel mit Fortificativnen besetzt ist, sa daß man nur von den sie beherrschenden
Höhen ans sich ihr näher» kann.
Ein am 23. Juli geliefertes Vvrposieugcfecht bezeichnete die Ankunft der
Russen vor Schnmla. Sie trieben die Türken a»S einigen äußern Positionen,
die sie a»f den Höhe» innehalten, und bliebe» Meister derselben. Zwei russi-
sche Divisionen besetzten überdies die Straßen von Schnmla nach Konstantinopel
und Silistria und schnitten diese wichtigen Communicationen ab.
Aber die Türke» verlöre» de» Muth nicht. Täglich machten sie Ausfälle
gegen die N»sse», die zuweilen erfolgreich waren. Sie zerstörten einen Theil der
feindlichen Werke und es war vorauszusehen, daß die Belagerung sich in die
Länge ziehen werde.
Inzwischen wurde die Lage der russischen Armee vor Schnmla immer schlim¬
mer. Sie campirte ans einer Schutz- und baumlosen Fläche und bei einer Som¬
merhitze, welche sich Mittags in der Sonne zu it> bis Grad Neaumur erhob.
Die Entbehrungen i» dieser gänzlich erschöpften Gegend, die Anstrengniigen des
SchanzenbaneS und des täglichen Dienstes hatten den physischen, die sichtbare
Erfolglosigkeit des langen Harrens, der üble Ausgang der meisten kleine» Ge¬
fechte de» moralischen Zustand des Heeres wesentlich erschüttert. Die Armee
lebte nnr von Zwieback und Fleisch, letzteres aber war sehr schlecht, da die mit¬
gefühlten Ochsen durch deu Transport abgemagert und krank waren. Schwie¬
riger noch war die Beschaffung des Futters für die Pferde. Die Fonragirnngcn
mußten, nachdem man die nächste Umgegend verwüstet, auf Entfernungen von
mehr als 3 Meilen ausgedehnt werden. Fast täglich löste sich die ganze Reiterei
in Fouragcurö auf und konnte doch nicht das nöthige Futter auftreiben. Der
Abgang von Pferden war ungeheuer: man verlor von der überhaupt uur noch
3000 Mann starken Cavalerie täglich 100 und später bis zu 1S0 Pferde. Zwei
Drittel der Cavaleristeu waren bereits zu Fuß und man konnte auf die Reiterei,
weder in der Schlacht noch bei dem Borpostendienst kaum mehr rechnen. Dieser
Dienst lastete daher wesentlich auch noch auf der Infanterie. Ueberdies erzeugten
die mangelhafte Ernährung, das schlechte kalkhaltige Wasser, die Anstrengung der
Arbeiten und Wachen, endlich die Hitze der Tage und die verhältnismäßige Kälte
der Nächte, zahlreiche Krankheiten, welche die Lazarethe übermäßig füllten. Na¬
mentlich griffen Scorbut und Krätze um sich, den» es fehlte an Wasser zum
Waschen, da mau kaum zum Trinken genug hatte. Dabei war die Lage der
Kranken höchst beklagenswerth, denn bis ans 20 Meilen rückwärts besaß man nir¬
gends einen Punkt, welcher auch uur gegen einen Handstreich sicher gewesen wäre.
Die türkische Cavalerie streifte im Rücken der russischen Stellung bis-Jenibasar
umher, wo die Depots der Russen waren: sie fand in den langen Zügen von
beladnen Wagen und Saumpferden eine willkommene und sichere Beute.
Dennoch behauptete Graf Wittgenstein mit Festigkeit seine Position. Aber
die Türken machten am 28. Angust einen allgemeinen Ausfall, erstürmten eine
große Redoute, deren Besatzung sie über die Klinge springen ließen und nöthigten
den General Rüdiger, die Position von Eski-Stambul zu verlassen, wo er die
Communication Schnmlas mit Konstantinopel abschnitt.
Somit war die Hauptcvmmuuicatiou der Türken mit Thracien wieder ge¬
öffnet. Graf Wittgenstein setzte die Einschließung Schumlas nur zum Schein
fort und verwandelte die Einschließung völlig in eine Beobachtung. Zugleich
regte sich nnn endlich der Grvßvezir, welcher von Adrianopel gegen Altos vor¬
rückte und 14,000 Mann brachen aus Schumla ans, um sich mit ihm zu ver¬
einigen.
So war im September der Zustand der Dinge vor Schumla. Um eben
diese Zeit drohten die türkischen Garnisonen der Donanfestnngen Widdin, Niko-
polis und Nustschuk mit einem Einbruch in die Wallachei. Von Silistria ans
berichtete Geueral Noth über die Unzulänglichkeit seiner Hilfsmittel, den Platz ein¬
zuschließen, in welchen türkische Reiterei aus Schnmla sich geworfen hatte. Die
Belagerung von Warna endlich sollte jetzt eben erst beginnen, da das bisher dort
aufgestellte Corps kaum halb so stark als die Besatzung der Festung war.
So befand sich'das russische Heer während des ganzen Monats Angust und
September in einer äußerst kritischen Lage, und bei größerer Thätigkeit seitens
der türkischen Generale und bei zuverlässigerer Beschaffenheit ihrer Truppe» würde
der Feldzug für die Russen den verderblichsten Ausgang genommen haben.
Das 6. Corps unter General Noth stand Anfang Juli noch am linken
Douauufer. Der bei Oltogitza beabsichtigte Uebergang mißlang, weil die Türken
sich gegenüber in Purtukai verschanzt hatten. Pnrtnkai ist ein Hauptübergaugs-
Punkt und zugleich der Schlüssel einer Straße, die durch das Innere der Bul¬
garei über Basgrad nach Schnmla führt. In diesem Augenblick unterhalten die
Russen ein zahlreiches Cantonnement vor Pnrtnkai und Omer Pascha läßt den
Ort durch europäische Ingenieure befestigen.
Der Uebergang über die Donau war außerdem für das sechste Corps nutzlos
und selbst höchst bedenklich, solange das dritte Corps nicht in gleicher Höhe vor¬
rücken konnte und solange die starke Besatzung von Silistria durch ein Eiuschlie-
ßungöcorps uicht auf seine Mauern beschränkt war. Erst als alle Donaufestungen
von Silistria abwärts in der Gewalt des dritten und siebenten Corps waren, setzten
10,000 Mann vom dritten Corps auf einen Umwege bei Hirsowa über die Donau
nud rückten gegen Silistria vor. Am AI. Juli erschien General Roth selbst
vor diesem Platz.
Silistria ist eine der besten Donaufestnugeu und zählte 1828 gegen 24,000
Einwohner, während sie gegenwärtig freilich kaum 4000 hat. Die Stadt bildet
ziemlich genau die Hälfte eines Kreises, dessen Durchmesser vou 2000 Schritt der
Donau zugekehrt ist: sie wird von 10 Fortificationsfronlcn, jede S30 Schritt
lang, umschlossen und hat zwei Schanzen, welche den Anschluß an die Donau
bilden und hauptsächlich zur Bestreichung des Flusses bestimmt sind. Die Be¬
satzung war zahlreich; die bewaffnete» Einwohner mochten wol 6—7000 Gewehre
zählen, und außerdem hatte sich der größte Theil der Besatzungen von Jbrail,
Tnldscha, Matschin und Hirsowa nach Silistria begeben. General Roth hatte
nicht Truppen genug, um die Festung von allen Seiten einzuschließen und ihre
Communication mit Nustschuk abzuschneiden, von wo sie ihre Lebensmittel bezog:
er mußte sich begnüge», die Ausfälle der tapfern Besatzung zurückzuweisen. Über¬
dies griffen Krankheiten uuter seinen Truppen immer furchtbarer um sich und ein
förmlicher Mangel an Lebensmitteln stellte sich ein. In 2 Tagen, am 4. und ö.
November, sollen S00 Mann innerhalb der russischen Verschanzungen gestorben sein.
Inzwischen wurde die Belagerung Warnas, die bereits am l i . Juli begonnen
war, im September mit verstärkten Kräften fortgesetzt. Warna liegt am Ausfluß
der Devna und ihrer Seen in das schwarze Meer, in einer breiten Thalebene, deren
sanfthügeliger Boden mit Obstgärten und Weinbergen bedeckt ist. Der nördliche
Thalrand jenes Flüßchens erhebt sich über 1000 Fuß: die flache bulgarische Ebene
stürzt hier plötzlich felsig und senkrecht hinab und verflacht sich dann mit stets ab¬
nehmender Steilheit. Der Abstand dieser Höhen von Warna beträgt ^ Meile.
Der südliche Thalrand rückt dem Platze näher, steigt sogleich stetig auf und zeigt
die Kuppeubildung und die schönen Waldungen des eigentlichen Balkan. Indeß
bleiben auch hier die nächsten, die Festung einsehenden Höhen noch über 3000
Schritt von derselben entfernt. Aus der nähern Umgebung ist daher der Platz
nirgends dominirt, beherrscht aber auch selbst nicht überall vollständig das Terrain
im Bereich der Schußweite.
Die ersten Unternehmungen der Russen gegen diese Festung waren nicht
glücklich gewesen. Infolge eines Ausfalls der türkischen Garnison hatte der Ge¬
neral Suchteleu mit seiner Division nach Derbend sich zurückziehen müssen. Er
verschanzte sich hier und erwartete die Ankunft der Flotille des Admirals Greigh,
die bei der Belagerung von Warna mitwirken sollte. Dieser Umstand erlaubte
dem Kapndan-Pascha, Jzzet-Mehemed, Warna zu verproviantiren nud selbst mit
L000 Manu, zum Theil regulären Truppen, angesichts der Nüssen, einzuziehen.
Er übernahm sofort das Commando.
Erst Ende Juli traf die vou Auapa kommende Flotte des Admiral Greigh
mit Verstärkungstruppen vor Warna ein. Der Viceadmiral Fürst Meuschikoff, der
nunmehr den Oberbefehl über die Belagerungstruppen übernahm, rückte wieder
von Derbend vor, schloß Warna eng ein nud schnitt der Festung alle ihre Com-
municationen ab. Bald aber wurde er schwer verwundet und mußte die Leitung
der Belagerung aufgeben.
Sein Nachfolger Graf Woronzoff traf eben el», als die Türken am 31. Au¬
gust einen wüthenden Ausfall machten, mehre Redouten der Russen erstürmten
und einen großen Theil der Belagerungswerke zerstörten. Erst am andern Tage
nach einem furchtbaren Kampfe gelang es den Russen, der ihnen entrissenen Ver-
schanzungen sich wieder zu bemächtigen.
Am 8. September traf der Kaiser im Lager vor Warna ein. Am 14. war
die von den Russen angelegte Bresche gangbar und das Heer zum Sturm bereit.
Der Kaiser ließ den Kapudau-Pascha auffordern, sich zu ergeben. Abex,Jzzet-
Mehemet erwartete eine starke Division Türken nud ein Corps Albanesen von
10,000 Mann unter Omer-Vrioues, welche Truppen Husseyn-Pascha von Schumla
ans ihm zur Verstärkung sendete. Gegen sie sendeten die Russen eine starke Ko¬
lonne nnter General Bistrom.
Zugleich hatte der Sultan Mahmud, die ganze Bedeutung von Warna wür¬
digend, von Konstantinopel seinen Großvezier Selim Pascha mit 12,000 Mann
abgesendet. Hätte der Vezier seinen Marsch beschleunigt und nicht acht Tage ge-
braucht, um vou Konstantinopel nach Warna zu kommen, so würde er rechtzeitig
angelangt und ohne große Schwierigkeit in die belagerte Stadt eingezogen sein.
So aber stellte sich ihm der General Gvllowkin zwischen Warna und dem See
Devna in einem verschanzten Lager entgegen. Der Vezier griff zwar die Position
Gollowkinö an, wurde aber mit sehr großem Verlust zurückgeschlagen und bezog
ein festes Lager vor Kamtschik, wo er sich zwar gegen die Angriffe der Russen
vertheidigte, aber Warna seinem unglücklichen Geschick überlassen mußte.
Das beständige Feuer der Batterien und die Explosionen der Minen zerstörten
allmälig die Wälle von Warna. Aber die Vertheidiger waren entschlossen, unter
den Trümmer» der Festung sich zu begraben. Fortwährende Kämpfe hatten ihre
Zahl beträchtlich verringert: aber ihr Muth und ihre Thätigkeit war ungeschwächt.
Am 7. October schlugen sie einige russische Tirailleurs, die bei dem an
diesem Tage erfolgten Sturme in Warna eingedrungen waren, wieder heraus und
der Verlust der Russen war an diesem Tage größer als der der Türken. Der
Kapndan-Pascha wies jede Aufforderung zur Übergabe energisch zurück.
Am 10. October aber kam Jussuf-Pascha, der zweite Commandant der Fe¬
stung, in das russische Lager, erklärte dem russischen General, das; der Platz sich
nicht länger halten könne, und daß er wegen Uneinigkeit mit seinem Vorgesetzten
denselben verlassen habe, um sich unter russischen Schutz zu stellen. Die Russen
meldeten dies sofort der Garnison in Warna, und die Truppen Jussufs gingen als¬
bald in Masse in das russische Lager über, um sich mit ihrem General zu ver¬
einigen.
Von dem größten Theil der Besatzung verlassen, zog sich der Kapudau-Pascha
mit 300 Maun, die ihrer Pflicht treu blieben, am 10. October in die Citadelle
zurück. Die Russen rückten sofort in die Stadt ein. Nach zwei Tagen erhielt
der Kapudan-Pascha mit den schwache» Resten seiner tapfern Soldaten einen
ehrenvollen Abzug.
Jussuf-Pascha war ein Verräther. Die Beweggründe seines Verrathes sind
in einer Palastintrigue zu suchen. Seine Absetzung und die Einziehung seines
ausgedehnten Grundbesitzes in Rumelien war bereits beschlossen, als er noch Warna
heldenmüthig vertheidigte.
Sultan Mahmud war sehr unzufrieden über den Verlust von Warna. Er
nahm dem Großvczier die Siegel des Reiches wegen seiner Unthätigkeit während
des letzten Theiles der Belagerung, und gab ihm zum Nachfolger Jzzet-Mehemed,
der so viel Muth und Festigkeit bei der Vertheidigung Warnas bewiesen hatte.
Die Türken hatten bei dieser Vertheidigung gezeigt, daß ihnen die Kenntniß
von dem regelmäßigen Gange einer Belagerung fehlte. Sie versäumten, ihr Ge¬
schütz ans der angegriffenen Front zu verstärken, bevor die feindlichen Batterien er¬
baut waren, und zersplitterten das Feuer derselben. Ebensowenig wußten sie
vou den Contreminen einen richtigen Gebrauch zu machen. Aber sie zeigten
die unerschütterlichste Tapferkeit hinter den schwachen Verschanzungen, welche, ohne
System und regellos, angelegt, von ihnen bis zum letzten Augenblick behauptet
wurden. Ihr Widerstand im Graben ist über alles Lob erhaben und das Aus¬
halten der Garnison noch drei Wochen, nachdem zwei gangbare Stnrmlücken in
den Hauptwall gelegt, gewiß ein selten eintretender Fall. So urtheilen ausge¬
zeichnete Kriegskundige.
Die Einnahme von Warna endigte den Feldzug von 1828.
Die vor Schnmla stehende russtche Armee verließ ihre Positionen und con-
centrirte sich vor Warna. Aber unablässig von dem Seraskier Husseyn-Pascha
bedroht, zogen sich die Russen von Warna, nachdem sie hier und in Pravady eine
Garnison zurückgelassen, gegen die Donau zurück.
Inzwischen waren alle Anstrengungen des General Noth, Silistria zu nehmen,
vergeblich gewesen. Als nnn beschlossen war, daß die große Armee die Bulgarei
verlassen sollte, wo sie wahrend des Winters nicht snbsistiren konnte, machte er
einen letzten Versuch. Zwei Tage und zwei Nächte lang bombardirte und kauo-
nirte er die Stadt. Aber die Garnison und die Einwohner ließen sich nicht ein¬
schüchtern; sie wiesen jede Aufforderung zur Uebergabe zurück. Das sechste Corps
mußte, wie die beiden andern Corps, die Bulgarei verlassen und ging am 20.
November über die Donau, nachdem es ans dem Rückzüge wegen der schlechten
Wege viel Pferde und Gepäck verloren hatte.
Der Winter von 1828 trat frühzeitig ein und war sehr streng; er steigerte
die Entbehrungen und Krankheiten im russischen Heere und war demselben außer¬
ordentlich nachtheilig. Erwägt man diesen Umstand und die ungeheuren Opfer,
welche der Feldzug den Nüssen gekostet hat, so ist es in der That zweifelhaft, ob
sie oder die Türken denselben gewonnen haben. Vergleicht man aber die Lage
der Dinge im Jahre 1828 mit der gegenwärtigen, so ist dieselbe für die Türken
ungleich günstiger, 1 828 hatten sie kaum 100,000 Mann, die in der Befestigungs-
nnd Gcschützesknnst wenig erfahre« waren. Heute ist an der Donau eine türkische
Armee von 200,000 Manu versammelt, die anerkanntermaßen eine tüchtige Ar¬
tillerie und ausgezeichnete Ingenieure besitzt. Im Jahre 1828 beherrschte die
russische Flotte das ganze schwarze Meer, und war die türkische Seemacht durch
die Schlacht bei Navarin fast gänzlich vernichtet; gegenwärtig zählt die türkische
Flotte 7i Fahrzeuge mit 4000 Geschützen und einer Bemannung von 16,000
Manu, so daß die Nüssen nicht im Staude sein werden, die Basis ihrer Opera¬
tionen an der Westküste des schwarzen Meeres aufzuschlagen. Endlich hat die
türkische Armee an Omer-Pascha einen tüchtigen General und ist von um so grö¬
ßeren Kriegsmnthe beseelt, als sie weiß, daß der Kampf um den Bestand des
osmanischen Reiches geführt wird. Alles dies läßt erwarten, daß die Russen
noch einen weit schwierigeren Staub als im Jahre 1828 haben werden.
Buxton, geboren den 1. April 1786, gestorben den 19. Februar 1865,
arbeitete im englischen Parlamente für die Verbesserung des Gcfäuguißweseus,
für die Umgestaltung des Strafgesetzbuches, für die Abschaffung der Verbrennung
der Wittwen in Indien, für die Befreiung der Hottentotten in Südafrika und
vor allem für die Emancipation von 800,000 Sklaven in den britischen Colonien.
Nachdem er in diesem letzter» großen Unternehmen nach zehnjährigen heißen
Kampfe an dem denkwürdigen 1. Angust 1834 den Sieg errungen, widmete er
seine Kräfte der Abschaffung des Sklavenhandels in Afrika durch Einführung
von Ackerbau und Handel und Verbreitung des Christenthums. Die dankbare
britische Nation hat diesem Wohlthäter Englands und der Menschheit eine Mar-
morbildsäule in der Westminsterabtei errichtet.
Buxton wurde geboren zu Carls Bolne in Essex und war der Sohn eines
Sheriff der Umgegend. Mit sechs Jahren verlor er seinen Vater. Da MrS.
Buxton Aussicht hatte, ihre» Sohn einmal in Irland einen bedeutenden Läuder-
complex erben zu sehen, über welchem noch ein Proceß schwebte, so wurde er
in Dublin erzogen. Er machte seine Studien ans der dortigen Universität mit
solchem Erfolg, daß die betreffenden Wähler ihn ersuchten, bei der Wahl eines
Parlamentsglieds für die Universität alö Candidat aufzutreten und den Erfolg
ihm verbürgten. Er lehnte jedoch den Antrag ab, vermählte sich mit Johanna
Gurney, der Tochter eines Quäkers John Gurney und der Schwester der nach¬
mals allgemein bekannt gewordenen Mrs. Fry, und trat, da die Aussicht auf die
irische Erbschaft geschwunden war, in die Verwaltung von Prnmans Brauerei
zu London ein, die seinem Oheim Hanbury gehörte. Seine Mutter hatte ihm
von Kindheit an die Pflicht der Wohlthätigkeit eingeschärft; in London suchte er
Gelegenheit, sich seinen Mitmenschen mißlich zu machen und er wurde in diesem
Bestreben kräftig unterstützt durch den ihm eng befreundeten Quäker, Philo¬
sophen und Philantropen William Allen. Bereits -1808 wurde er Mitglied einer
Gesellschaft, welche die Aufmerksamkeit des Publicums ans die Nachtheile lenkte,
die dadurch entstanden, daß auf eine Menge verhältnißmäßig geringer Verbrechen
Todesstrafe stand. Er nahm an allen Wohlthätigkeitsbestrebungen in seinem
Stadtviertel Spitalstelds theil, besonders an denen zur bessern Erziehung, zur
Verbreitung der Bibel durch die Bibelgesellschaften und zur Milderung der Noth
der armen Weber.
-181-I wurde Buxton Compagnon der Brauerei und widmete sich in den nächsten
sieben Jahren ausschließlich den Geschäften derselben, und gestaltete das ganze,
bisher befolgte Wirthschaftssystem um. Den bei der Brauerei beschäftigten Ar¬
beitern ging fast alle Schulbildung ab. Buxton berief sie zusammen und erklärte
ihnen: „Heut über sechs Wochen entlaß ich einen jeden aus dem Dienst, der
nicht lesen und schreiben kann." Er sorgte dann für Lehrer und Lehrmaterial
und brauchte nach sechs Wochen nicht einen einzigen Bauernknecht zu ent¬
lassen. Ebenso bemühte er sich, jegliche Sonntagsarbeit in der Brauerei abzu¬
schaffen, und die von ihm eingeführte strenge Sabbathfeier besteht noch hente
in derselben.
In demselben Jahre hörte er die Predigten John Pratts. Sie legten in
sein Herz das Samenkorn zu allem, was er später für Afrika that.
Der Winter des Jahres 18-16 trat sehr früh ein und mit großer Strenge.
Der Seidenhandel stockte fast gänzlich und die Weber des Spitalftcldsbezirks
kamen dadurch dem Hungertode nahe. Das Elend wurde noch vermehrt dnrch
den Andrang derjenigen Armen nach diesem Stadtviertel, die in den übrige»
Theilen der übervölkerten Stadt keine Wohnungen finden konnten. Unter diesen
Umständen wurde über die Sache ein Meeting im Acausiou-House gehalten.
Buxton schilderte in ergreifender Weise das Elend der Armen. „In gewöhn¬
lichen Zeiten, sagte er, sind der Armen beste Freunde — die Armen. Der
Arme ist aber gegenwärtig nicht im Stande, für sich selbst etwas zuthun, darum
vermag er es auch nicht für andere. Und dennoch sind selbst in dieser Zeit
Beispiele vorgekommen, daß der Arme seine spärliche Brotrinde mit einem
Bruder theilte, der noch elender ist, als er selbst. Lehrt das nicht den Reichen,
etwas mehr als den Abfall seines Tisches den Elenden zu geben, die seine Thür
umlagern? Woher jenes Erbarmen in der Brust des Nothleidenden? Er hat es
in der Schule eigener Bekümmerniß gelernt. Er weiß, was darben heißt,
und darum sucht er dem Darbenden zu helfen, er weiß, was es heißt, frieren,
nackt, bloß, ohne Obdach sein, darum hat er Mitleid mit dem mangelhaft Be¬
kleideten, dem Obdachlosen. Das alles weiß der Reiche nicht. Er weiß es nicht
aus eigener Erfahrung, wenn der Arme, welcher bereit ist, ans Leibeskräften zu
arbeiten, die Beschäftigung nicht findet, welche die Thränen seiner Fran und das
Geschrei seiner Kinder nach Brot stillen könnte."
Diese Rede machte in allen Kreisen einen gewaltigen Eindruck. Durch
das Meeting kamen 43,369 Pfd. Se. ein, der Prinzregent wies S000 Pfd. an.
Mit diesen erfolgreichen Bemühungen war Bnxtons spätere Laufbahn eröffnet.
1816 trat er in die von Mrs. Fry gegründete „Gesellschaft zur Verbesserung der
Gefängnisse", 1817 besuchte er die vortrefflich eingerichteten Gefängnisse zu Gent
und Antwerpen, und veröffentlichte im Februar 1818 seine Arbeit: „Unter¬
suchung der Frage, ob die Verbrechen dnrch unser gegenwärtiges
System der Gefängnißdisciplin erzeugt oder verhütet werden? Das
Werk erregte das größte Aussehn. Gleich im Laufe des ersten Jahres erschienen
fünf Auflagen desselben, es wurde ins Französische übersetzt und auf dem Con-
tinent, selbst nach der Türkei und Ostindien verbreitet.
Im Frühling 1818 trat nun Buxton als Parlamentsccmdidat für Weymouth
auf. Das Parlament schien ihm der Ort zu sein, wo er „im Dienste des Herrn
vielleicht am wirksamsten zu sein vermöchte." Nach seiner Wahl sprach er zuerst
gegen die damals bestehenden Gesetze für Capitalstrafen, und zeigte, daß diese
Gesetze, welche die Verbrechen verhüten sollten, nichts als Gewcrbscheiue für
Spitzbuben und Betrüger seien; während viele ehrliche Leute durch dieselben um
ihr Leben und Eigenthum kämen, ohne daß jenen, die man nicht zum Tode ver-
urtheilen wollte, ein Haar gekrümmt würde. Buxton wurde in beide Ausschüsse
gewählt, sowol in den für die Gefängnisse, als in den für das Strafgesetz.
Durch seine Bemühungen, durch die Annahme seiner Grundsätze sind die Ge-
fängnisse Englands aus Pflanzschulen des Verbrechens, in denen jeder verdorben
wurde, der sie betrat, zu Anstalten geworden, worin die Bestrafung mit der
Besserung des Verbrechers Hand in Hand geht.
Am 23. Mai 182-1 brachte Sir James Macintosh eine Bill zur Abschaffung
der Todesstrafe auf Fälschung ein. Buxton zeigte in einer Rede, daß das
Strafgesetz in seinem damaligen Zustande zugleich unmenschlich und unwirksam
sei, daß die Strenge der Strafe, Richter und Geschworene zur Freisprechung
veranlasse, und daß die größeren Verbrechen mit ihren unsichern, großen
Strafen häufiger begangen würden, als die geringeren mit ihren kleinen,
aber sicheren Strafen.
Die Bill fiel durch und erst Robert Peel, nachdem er -1826 ans Ruder
gekommen war, nahm die wichtige Arbeit der Umgestaltung des Strafgesetzes in
seine Hand.
Als Buxton ins Parlament trat, lenkte ein Schreiben seines Schwagers
William Forster seine Aufmerksamkeit ans die Sklavenfrage. „Die Bemühungen
der Guten nud Weisen, sagte Förster, sind bisher ans die Abschaffung deö
Sklavenhandels gerichtet gewesen und — Gott sei Dank — nicht ohne
Erfolg; jetzt aber ist es Zeit, an diejenigen zu denken, welche sich in der
Sklaverei befinden." Die 1823 gegründete „Amel-Sklaverei-Gesellschaft wählte
Buxton zu ihrem Vizepräsidenten. Für den 16. Mai 1823 kündigte er im
Parlamente die Motion an, daS Hans wolle den Zustand der Sklaverei in den
britischen Kolonien in Betracht ziehen." Es stellte dann die Motion „die
Sklaverei widerspreche sowol den Grundsätzen der britischen Konstitution, als
denen der christlichen Religion, sie sei daher allmälig, jedoch mit derjenigen
Beschleunigung in deu britischen Kolonien abzuschaffen, welche mit den Interesse»
der betheiligten Parteien vereinbar ist." In der diese Motion einleitenden Rede
erklärte er offen: „das Ziel, nach dem wir streben, ist die Abschaffung der
Sklaverei in dem ganzen britischen Reiche, jedoch nicht plötzliche Eman¬
cipation der Neger, nicht augenblickliche Aufhebung jenes Zustandes, sondern
Beseitigung desselben durch solche Schritte und solche Vorsichtsmaßregeln, welche
im Laufe der Jahre die Sklaven zum Genuß der Freiheit heranbilden und die
Abschaffung der Sklaverei ermöglichen. Obgleich die Emancipation der Negerkinder
nicht erreicht wurde und selbst die in Aussicht gestellten Maßregeln nicht einmal
compnlsorisch sein sollten, so war dnrch die Debatte doch ein bedeutender Schritt
geschehen, und Burtons Worte bewährten sich: ,,Es hat der Proceß begonnen,
der mit der Ausrottung der Sklaverei in den britischen Ländergebieten enden wird."
Im Jahre 1826 wendete Buxton einer neuen, obwol verwandten Frage
seine Aufmerksamkeit zu. Die schöne - und reiche Insel Mauritius war erst im
Jahre 1810, drei Jahre nach der Abschaffung des Sklavenhandels in den
britischen Besitzungen, von Frankreich an England abgetreten worden. Theils
von diesem Umstände, theils von der Leichtigkeit, mit welcher man von der nahen
afrikanischen Küste Neger sich verschaffen konnte, rührte es her, daß der Sklaven¬
handel auf dieser Insel eigentlich niemals geruht hatte. Byam, Generalcommissar
der Polizei auf jener Insel, erzählte Buxton von der großen Ausdehnung des
Sklavenhandels auf derselben, die Pflanzer und die Behörden seien in gleichem
Maße dabei betheiligt und die Sklaven würden mit der größten Grausamkeit
behandelt. Auf Bnxtons Veranlassung ernannte das Parlament einen Ausschuß
zur Untersuchung der Sache, die indeß bis 1829 ruhte. Damals mußte die
Negierung selbst die Existenz des Sklavenhandels in Mauritius eingestehen, und
in die Abschaffung desselben einwilligen. Sir George Murray, der Gouverneur
von Mauritius, erklärte, jeden Sklaven auf der Insel freigeben zu wollen, dessen
Herr nicht im Stande sein würde, einen giltigen Besitztitel auszuweisen. Sein
Nachfolger Lord Goderich indeß bestand darauf, das Ours probandi nicht dem
Herrn, sondern dem Sklaven aufzuerlegen, was eine große Härte für die Neger
war. Nichtsdestoweniger vermochten viele Sklaven den Beweis zu führen, un-
gesetzmäßig eingebracht worden zu sein und sich dadurch frei zu machen. Das
Geschäft wurde im Jahre 1830, freilich nach großem Widerstände der Pflanzer,
abgewickelt.
Als 1827 Lord William Bentinck zum Generalgouvemeur vou Indien ernannt
wurde, legte ihm Buxton dringend die Abschaffung des grausamen Gebrauchs des
Verbrennens der indischen Wittwen ans Herz. Bereits 1820 hatte der aus
Jndien zurückgekehrte Missionar Peggs seine Aufmerksamkeit auf diesen Gegen-
stand gelenkt, und bereits damals hatte Buxton zwei ans denselben bezügliche
Motionen im Parlamente gestellt. Bei der- letzteren wies er nach, daß in den
letzten vier Jahren allein in der Residenz Fort William 2366 Wittwen den
Flammen übergeben worden waren, daß die Franzosen, die Holländer und andere
Nationen in Indien diese barbarische Sitte in ihren Gebieten abgeschafft hätten,
während die Schmach einer solchen Grausamkeit an dem Namen der englischen
Nation noch immer haste, und er bewies, daß jenes Verbrennen von Wittwen
durchaus nichts Freiwilliges sei, sondern daß dies grausame Märtererthum
ihnen zum Theil durch fanatische Priester, zum Theil durch erbschastslüsterue Ver¬
wandte aufgebürdet würde. Im Jahre 1827 hatte Buxton die Genugthuung,
daß Lord Bentinck bald nach seiner Ankunft in Indien diesem barbarischen Gebrauch
mit einem Schlage ein Ende machte.
1828 that Buxton Schritte zu Gunsten der Hottentotten, die mit voll¬
ständigem Erfolge gekrönt wurden. Die Bewohner der Capcolonie, namentlich
die Holländer hatten die Hottentotten in den traurigsten Verhältnissen gehalten
und die Engländer das System von Rauben und Morden, welches die Holländer
begonnen, fortgesetzt, bis die Hottentotten zum elendesten Volke der Welt herab¬
gesunken waren. Nichts kann schmerzlicher sein, als die Beschreibung Dr. Philips
von dem Zustande, in welchem er sie bei seiner ersten Anwesenheit in der Cap-
colouie 1820 traf. Ihre fruchtbaren Ländereien und zahlreichen Herden waren
längst der Raub ihrer Unterdrücker geworden. Nach der Lanne der holländischen
Boors wurden sie zu den schwersten Arbeiten und zu den empörendsten, härtesten
Züchtigungen verdammt. Durch dies namenlose Elend war ihre Anzahl zusammen¬
geschmolzen, ihre Gestalt verkrüppelt, ihr Geist verdummt worden, so daß selbst
die Negersklaven der Kolonie mit Verachtung auf sie herabblickten.
Buxton stellte nun 1828 eine Motion in Betreff einer zu Gunsten der
Eingeborenen von Südafrika an den König zu richtenden Adresse. Sofort er¬
klärte der Staatösecretär der Kolonien, Sir Georg Murray die Zustimmung der
Regierung. Das Haus nahm die Adresse einstimmig an und die Hottentotten wurden
frei. Bereits zwei Tage vor dem Durchgehen der Motion hatte der gerechte
und menschenfreundliche Gouverneur des Caps, Generalmajor Bourke seine
„Fnnfzigste Ordonnanz" erlassen, durch welche die Hottentotten mit den übrige»
Bewohnern der Colonie auf gleichen Fuß gestellt wurden. Ein Geheimraths¬
befehl vom 13. Januar 1829 ratificirte die Ordonnanz und verbot jeder künftigen
Colonialbchörde die Abänderung derselbe«. Das Colonialgouvernement gründete
darauf in dem reichen Weidelande des Kat-Nivers eine große Hottcntottencolouie
und Backhouse der dieselbe -1839 besuchte, fand diese Kolonisten „so gut angezogen,
wie die ackerbautreibende Classe in England und in den 16 Schulen des Kat-River-
districts 1200 Schüler."
In der Katholikcufrage stimmte Buxton 1829 für die Emancipation der
Katholiken, obgleich seine Committenten in Weymouth dagegen waren und er
dadurch seine Wiederwahl in Gefahr brachte. „Aber ich muß dafür stimme»,
erklärte er, denn das Wohl Irlands hängt vo» der Durchführung der Eman¬
cipation ab." Demnächst beschäftigte ihn wieder die Reform der Strafgesetze.
Peel hatte 1830 manche Mißbräuche in derselben abgeschafft, aber bei dem
Verbrechen der Fälschung doch für mehre Fälle die Todesstrafe beibehalten.
Buxton war längst der Ansicht gewesen, daß die Todesstrafe auf Verbrechen am
Eigenthum sowol deu Interessen als den Gefühlen der Handeltreibenden in England
zuwiderlaufe. Damals entwarf er eine Adresse im Namen der Bankiers an das
Parlament, in welcher er sagte, „wie die Bittsteller aus Erfahrung wissen, daß
die Todesstrafe oder selbst die Möglichkeit derselben die Anklage und Bestrafung
des Verbrechens verhindert, und so das Eigenthum, anstatt es zu schützen, in
Gefahr bringt. Die Petition erhielt sehr bald die Unterschriften einer Anzahl
von Firmen, die 1000 Bankiers repräsentirten, und wurde am 2t. Mai 1830
von Brougham überreicht. Buxton stellte eine Motion zu diesem Zweck und
diesmal war die Majorität gegen Todesstrafe wegen Fälschung. Dus Oberhaus
verwarf zwar diese Entscheidung, aber im Grunde war die Frage doch erledigt.
Seit der Zeit hat in Großbritannien keine Hinrichtung wegen Fälschung stattgefunden.
Später wurden die Capitalstrafen immer mehr beschränkt und die hierauf
abzielenden Anträge von Buxton angelegentlich unterstützt, so daß gegenwärtig
die Anzahl von Verbrechen, die mit dem Tode bestraft werden, von 230 ans 8
oder 9 herabgesetzt ist und in England und Wales nur Hinrichtungen wegen Mord
und Mordversuch stattfinden.
1830 trat anch die Sklavenfrage in ein neues Stadium. Noch vor we¬
nigen Jahren war die Emancipation der Sklaven sowol dem Volke als dem Par¬
lamente verhaßt. Nun aber hatte sich die Abneigung gegen die Sklaverei schon
ziemlich Bahn gebrochen. Die Sympathie für die Pflanzer war durch die unbe¬
siegbare Hartnäckigkeit derselben bedeutend erkaltet und sie verloren von Tag zu
Tag mehr Boden. Bnxto» selbst war anfangs nnr für eine allmälige Ab¬
schaffung der Sklaverei gewesen: bald aber überzeugte er sich, daß alle Versuche
eiuer allmäligen Abolition bei der entschiedenen Weigerung der Pflanzer zur
Hebung der Neger mitzuwirken, in das Reich der Unmöglichkeit gehörten. Die
Führer der Sklavensache mußten es endlich aufgeben, zunächst nnr an Mil¬
derungsmittel zu denken. Dies geschah freilich nicht ohne Kampf: denn der
Satz: „Kein Volk darf frei sein, bevor es nicht geschickt ist, seine Freiheit zu ge¬
brauchen" schien zu einleuchtend. „Aber dieser Satz, sagt Macaulay, ist jenes
Narren in der Fabel würdig, der beschloß, nicht eher ins Wasser zu gehe», als
bis er schwimmen gelernt. Wenn der Mensch auf die Freiheit warten soll, bis
er in der Sklaverei gut und weise geworden, so kaun er bis in alle Ewigkeit
warten."
So legten die Führer der Abolitionisten die Axt an die Wurzel, während sie
bisher nur die Zweige des Giftbaums beschnitten hatten. Im Mai 1830 wurde ein
zahlreich besuchtes Meeting in der Freimanrerhalle unter dem Vorsitz von Wilber-
force abgehalten. Die erste von Buxton vorgeschlagene Resolution ging dahin,
„keine geeignete Maßregel unversucht zu lassen, um in der kürzesten Zeit die Skla¬
verei in dem britischen Reiche abzuschaffen." or. Andrew Thomson erklärte auf
einem Meeting zu Edinburg: „Wir müssen der Legislatur ernst und offen sagen,
daß keinem Menschen ein Eigenthumsrecht auf seine Mitmenschen zusteht — daß
800,000 Individuen in der Sklaverei schmachten, die denselben Anspruch auf
Freiheit haben wie wir und daß sie befreit werden sollen und müsse»'" Buxton
richtete einen ernsten Aufruf an die Wähler des ganzen Königreichs, in welchem
er sie an Cannings Worte aus dem Jahre 1823 erinnerte: „daß der erste Schritt
zur Abolition die Abschaffung der Peitschenhiebe für die Sklavinnen sein müsse."
Er wies nach, daß bisher noch nicht einmal dieser erste Schritt gethan sei und
daß alle andern Grausamkeiten und Mißbräuche in den Kolonien, die 1823 existirt
hätten, auch jetzt noch ungestört fortdauerten.
Die folgenden politischen Ereignisse waren der Forderung der Abolition nicht
günstig. Die berühmte Erklärung des Herzogs von Wellington gegen jede Re-
form hatte die Auslösung des Ministeriums zur Folge gehabt. Das Ministerium
Grey, vollkommen mit der Reform beschäftigt, nahm die Sklaveufrage nicht in
die Hand. Da wies Buxton im Parlamente nach, daß, während die Negerbe-
völkernng in der Sklaverei in auffallender Weise abnehme, sie sich im Zustande
der Freiheit verdoppelte. In der That belief sich im Jahre -1807, zur Zeit der
Abschaffung des Sklavenhandels, die Anzahl der Sklaven in Westindien auf 800,000,
nud im Jahre 1830 betrug sie nnr 700,000. Sie halte sich also in 23 Jahren um
100,000 vermindert. Wenn nnn anch Bnxtonö Motion auf Abolition im Jahre
1831 fiel, so muß mau doch dem Beweise von der Abnahme der Negerbevöl-
kernng mehr als irgend etwas Anderem die 1834 erfolgte Abschaffung der Sklaverei
zuschreiben. Wie sehr übrigens die nachfolgenden Ereignisse Buxtous Behaup¬
tungen unterstützten, beweist der Census von 1844, nach welchem in den zwölf
vorangehenden Jahren die schwarze Bevölkerung auf 14 der Juseln um 34,000
Seelen sich vermehrt hatte.
Im Jahre 1833 endlich nahm die Regierung die Emancipation.der Sklaven
in die Hand. Sie erklärte, die Sache durch eine sichere und befriedigende Ma߬
nahme erledigen zu wollen. Ueberdies riefen die Führer der Abvlitionistcnpartci
die Nation auf. Auf Buxtous Veranlassung gab Whitely seine Schrift „drei
Monate in Jamaika" heraus, in der er die Schrecknisse der Peitsche und die
Abnahme der Negerbevvlkernng ebenso wahr als ergreifend schilderte. Die Schrift
fand eine beispiellos schnelle Verbreitung: Whitely war die Losung des Tages.
Die Drucker konnten kaum die Nachfrage befriedigen und in 14 Tagen wurden
gegen 100,000 Exemplare abgesetzt. Andererseis bemühten sich die Abolitionisten,
der Regierung jedes nur mögliche Zugeständnis; zu machen. Die erste Concession,
welche die Minister verlangten, war die Unterstützung der Abolitionisten für den
Vorschlag, den Pflanzern eine Entschädigung zu gewähren. Buxton wußte die
Amel-Sklaverei-Gesellschaft für diesen Plan zu gewinnen.
Inzwischen setzte die Sklavenfrage das ganze Königreich in Bewegung. Ue¬
berall hielt man über dieselbe Vorlesungen und Vcrsammluugcii, die Zeitungen
und periodische» Blätter theilten den Eifer, die Geistlichen predigten über das
Sündhafte der Sklaverei von den Kanzeln; aus allen Theilen des Landes trafen
Petitionen ein, aus Devonshire S00, ans West-Essex 300, die Unterschriften wur¬
den im ganzen aus IV2 Million geschätzt. In diesem Momente der Gährung
erließen die Abolitionisten ein Circular an alle Freunde der Sache, Dclegaten zu
ernennen, die sich am 18. Mai in London einfinden sollten. 330 Delegaten
traten in der That in Exeter-Hall zusammen; in ihren Reihen befanden sich die
ausgezeichnetsten Männer aller Stände, Kaufleute, Gutsbesitzer, Bankiers, Geist¬
liche, Richter, Dissenters. In feierlichem Zuge begaben sie sich zu den Ministern,
denen Buxton sie vorstellte. Diese Manifestation machte großen Eindruck auf die
Negierung: Lord Stanley erklärte, die Sache nicht weiter hinausschieben zu wollen.
In der That wurde die Abolitionsbill am 14. Mai -1833 von der Regierung ein¬
gebracht. Vor dem Beginn der Debatten überreichte Buxton dem Hause eine
Petition der Frauen Großbritanniens zu Gunsten der Bill, eine Petition, die wäh¬
rend eines Zeitraums von 10 Tagen mit 187,000 Unterschriften bedeckt wurde. Die
Bill, wegen gänzlicher Abschaffung der Sklaverei in den Kolonien passirte beide
Häuser, mit der Maßgabe, daß den Pflanzern eine Entschädigung von 20 Mil¬
lionen Pfund Se. gewährt wurde und die gegenwärtigen Sklaven eine gewisse
Zeit bei ihre» früheren Herren in der Lehre bleiben sollten, d. l). drei Viertel
des Tages für den Herr» arbeiteten, wofür dieser sie beköstigte und kleidete. Am
28. August 1833 erhielt die Bill die Sanction des Königs und am 1. August 1834
erfolgte die Befreiung der Neger in allen Kolonien. Am Abend des 31. Juli hatten
daselbst in allen Kirchen und Kapelle» die Sklaven in dicht gedrä»gten Schäre»
sich versammelt. Bei dem Herannahe» der Stunde der Mitternacht sanken alle
aufs Knie und harrten dem Augenblick der Befreiung in stillem Gebet entgegen.
Als aber die Glocken die zwölfte Stunde verkündigten, sprangen sie auf, und durch
die Jusel tönte das freudige Daukgcschrei z» dem Vater aller, denn mit dem 1. August
waren die Fesseln zerbrochen, die Sklaven frei. Auch für England und insbesondere
für Buxton war der 1. August ein Freudentag. Die unmittelbaren Resultate
der Emancipation waren, daß Ehefrauen und Ehemänner, die bisher in verschie¬
denen Pflanzungen gelebt, wieder zusammenzogen, daß die Ehen bedeutend zu¬
nahmen; der Schulbesuch sich mehrte; die jungen Frauenzimmer weibliche Be¬
schäftigung erlernten; die Gesellschaften zu gegenseitiger Unterstützung zunahmen;
die Geschäfte der Geistlichen sich verdoppelten. Die Neger verlangten nach Re¬
ligionsunterricht und ihre Kinder lernten ebenso schnell und fleißig wie die weißen.
Gewaltthätigkeiten seitens der befreiten Neger wurden nirgends verübt; die Neger
zeigten sich sanft und gefügig.
Dieses große Ereigniß in der Geschichte der Menschheit war hauptsächlich
Buxtous Werk. Er wendete sich fortan dem Sklavenhandel fremder Nationen zu,
der zwischen der Küste von Afrika und der Insel Cuba betrieben wurde. Am
12. Mai 1833 bewies Buxton dem Parlamente, daß, obwol Spanien und Por¬
tugal aus dem Wiener Kongreß mehr als eine Million Pfund Sterling für die
Verpflichtung erhalten hatten, den Menschenhandel aufzugeben, dieser Handel doch
noch immer in gleich großer Ausdehnung fortgeführt werde, indem während des
kurzen Zeitraums vom 1. Jan. 1827 bis zum 30. Octbr. 1833 nicht weniger als 264
für den Sklavenhandel bestimmte Schisse den Hasen von Havana verlassen hätten, der
nur einen kleine» Theil dieses abscheulichen Gewerbes repräsentire. Er beantragte
eine Adresse zur Consolidirung der mit den Mächte» rücksichtlich des Sklavenhandels
abgeschlossenen Verträge. Der Sklavenhandel solle für Seeraub erklärt und auch
diejenigen Schiffe sollten genommen werde», welche, ohne Sklave» an Bord zu
haben, zum Sklavenhandel eingerichtet seien. Die Adresse wurde angenommen.
Zugleich war Buxton Vorsitzender des -I83i niedergesetzten Aborigener-
Ansschusses. 1837 erstattete dieser Ausschuß dem Parlamente seinen Bericht,
in welchem er die vernichtenden Grausamkeiten nachwies, denen die Eingebotenen
in den britischen Colonien bisher ausgesetzt gewesen, nud zweitens, daß überall,
wo sie mit Menschlichkeit und Gerechtigkeit behandelt worden wären, sie sich ver¬
mehrt und die Beschäftigungen des civilisirten Lebens sowie die Segnungen des
Christenthums angenommen hätte». Dieser Bericht scheint es besonders gewesen
zu sein, welcher die Regierung zu der von jetzt ab beobachteten milden und ge¬
rechten Behandlung der Eingeborenen in den Colonien veranlaßte.
1838 ging Buxton mit einem neuen Platt zur Abschaffung des Sklaven¬
handels um. Seine Idee war „Afrika müsse dnrch Entwickelung seiner eigenen
Hilfsquellen frei gemacht werden, ohne daß jedoch die bisherigen äußeren Gewalt¬
mittel ganz ausgeschlossen würden." Er hatte dabei eine doppelte Aufgabe,
einerseits die Große des Uebels nachzuweisen, welches für Afrika aus dem Skla¬
venhandel erwächst, andererseits die Hilfsquellen Afrikas zu zeigen und daraus die
Möglichkeit herzuleiten, es dnrch Handel und Verkehr zu einem productiven, fried¬
lichen und blühenden Lande zu machen. Zwölf Stunden des Tages arbeitete er
an diesem Werke. Das Ergebniß desselben war das nur für die Mitglieder des
Ministeriums in 20 Exemplaren gedruckte „Schreiben an Lord Melbourne",
das er später in einem besonderen Buche „der Sklavenhandel und sein
Heilmittel t/I'l>s Slave Oracle ana les lismeeiv) näher ausführte und
begründete. Der britische Sklavenhandel war längst durch Wilberforccs Be¬
mühungen abgeschafft. Buxton griff nunmehr den Sklavenhandel der Spanier,
Portugiesen und Brasilianer an, der unglücklicherweise noch gegen¬
wärtig besteht. Er wies aus authentischen Documenten nach, daß jährlich
in Brasilien und Cuba mindestens -160,000 Negersklaven eingeführt werden. Er
wies die Verbrechen nach, die dabei begangen würden, die Schrecknisse bei dem
Einfangen der Sklaven, dem Marsche dnrch die Wüste nach der Meeresküste,
dem Aufenthalt in den Häfen, dem Transport aus den Sklavenschiffen. Er
wies nach, daß auf jeden Neger, der als Sklave verkauft wird, immer mindestens
zwei Todte gerechnet werden müssen. „Bei keinem Handel geht von dem Roh¬
material soviel verloren, wie beim Menschenhandel. In welchem andern Handel
läßt man wol zwei Drittheile der Waare verderben, um mit dem dritten Theil
den Markt zu erreichen?"
Er empfahl zwei Hauptmaßregelu: die Concentration von größeren navalen
Streitkräften an der Küste von Afrika und den Abschluß von Verträgen mit den
Häuptlingen des Innern. „Das wahre Mittel, die wirkliche Erlösung Afrikas
aber, sagt Buxton, liegt in der Fruchtbarkeit seines. Bodens." Er entwickelte
demnächst, wie auch die Konfiguration dieses Erdtheils dem Handelsverkehr höchst
günstig sei. Er erwähnte in dieser Beziehung die großen Ströme, welche der
Westküste zufließen, den Niger, auf welchem Lander 500 engl. Meilen von der
Mündung aus vorgedrungen, sowie seinen Nebenfluß die Pschadda; er zeigte, wie
besonders Fernando del Po dnrch seine Lage zu einem Handelsplätze sich eigne.
Centralafrika besitze alle Mittel zu einem ausgebreiteten, selbstständigen Handel;
an.gewissen Punkten der Westküste, wo die Eingeborenen Schutz gesunden, hatten
Ackerbau und legitimer Handel den Sklavenhandel verdrängt. Mit gleichem Ernst
hob er die Nothwendigkeit hervor, den Charakter der Eingeborenen durch Unter¬
weisung im Christenthum zu mildern. „Missionar und Lehrer, Pflug und Spaten
müssen in einer Linie gehen." Die Bibel und der Pflug sind es, die Afrika
regeneriren müssen."
Bnxtons Denkschrift hatte zur Folge, daß 1839 die Gesellschaft zur Ab¬
schaffung des Sklavenhandels und zur Civilisation Afrikas (African Civili¬
sation Society) sich bildete. Es war eine glorreiche Versammlung: Whigs,
Torys, Radicale, Dissenter, Kirchliche, alle Parteien waren vertreten. Die
Gesellschaft theilte sich in zwei Vereine. Der eine bezweckte, die Segnungen des
Christenthums, der Civilisation und der freien Arbeit in Afrika einzuführen. Der
andere war commercieller Art und verband mit den Zwecken des ersten, gewinn¬
bringende Handelsunternehmungen. Wenige Tage, nachdem sich die Gesellschaft
constituirt, eröffnete Lord Normauby eiuer Deputation desselben, die Regierung
habe beschlossen, eine Fregatte und zwei Dampfschiffe zur Erforschung des
Niger und — wenn thunlich — zur Anknüpfung von Handelsverbindungen mit
den Negerstämmen an seinen Ufern auszusenden. So entstand die Niger¬
expedition.
In dem Jahre 1839 reiste Buxton dnrch Frankreich nach Rom und »ahn
großes Interesse an den römischen Gefängnissen und öffentlichen Anstalten. Zurück¬
gekehrt, nahm er wieder seiue Plane zur Abschaffung des Sklavenhandels auf.
Am. 1. Juni 1840 wurde in dieser Sache ein großes Meeting zu Exeter Hall
gehalten, bei welchem Prinz Albert, zur großen Genugthuung der afrikanischen
Gesellschaft, deu Vorsitz übernahm. Bald darauf wurde Buxton zum Baron et
erhoben. Seit 18i>2 kränkelte Buxton und am 19. Februar 18i5 endete er
sanft sein thatenreiches, dem Wohl der Menschheit gewidmetes Leben. Seine
irdische Hülle ruht in dem verfallene» Thor der kleinen Kirche von Ovcr-
strand. Sein Standbild aber prangt in der Westminsterabtei. Die ausgezeichnet¬
sten Männer aller Parteien in Staat und Kirche, Prinz Albert an der Spitze
trugen zur Errichtung desselben bei. Was aber noch mehr ist, die Neger in
Westindien, Cape Coast und Sierra Leone und unter den Kaffern brachten dnrch
Beiträge von einem und einem halben Pence, is0 Pfd. Sterl. zusammen. Die
Anzahl der in Westindien und Afrika gesammelten Unterschriften belief sich
auf S0,000. Die befreiten Neger von Sierra Leone aber, die bereits
100 Pfund zu dem Denkmal in der Westminsterabtei eingesendet, wünschten in
Afrika gleichfalls ein Monument zu besitzen und brachten daher eine Summe von
80 Pfd. zusammen, für welche sie von John Bell eine schöne Büste anfertigen
ließen, die in der Kirche zu Sierra Leone aufgestellt worden ist.
Auf den ersten Anblick macht dieses Werk einen ganz sonderbaren Eindruck.
Bereits in der Vorrede, wo der Verfasser") die Befürchtung ausspricht, seine
Schrift könne eine Revolution auf dem Gebiet des Privatrechts herbeiführen, wo
er das Urtheil der eigentliche» Juristen perhorrescirt, und der „deutschen juristi¬
sche» Jugend", welcher die Schrift gewidmet ist, auch durch den eigenthümlich
colorirten Stil entgegenkommt, wird mau zu Zweifel« über die wissenschaftliche
Haltung veranlaßt; diese steigern sich noch, wenn man im weitern Verlauf auf
weitläufige geschichtsphilosophische Auseinandersetzungen über alle möglichen Gebiete
der Geschichte stoßt, deren Zusammenhang mit dem eigentliche» Gegenstand der
Untersuchung wenigstens nicht klar hervortritt. Aber bald wird man durch ein¬
zelne, neue und bedeutende Auffassungen überrascht; dann merkt man, daß das
springende und UnverlMnißmäßige lediglich in der Form liegt, und daß eigeUt-
lich ein sehr ernster und nach allen Seiten hin durchdachter Gedankengang den
Leittvn bildet, und je weiter man hineinliest, destomehr steigert sich das Interesse.
Ob der Verfasser mit seinem Grundgedanken recht hat, das wollen wir noch
dahingestellt sein lassen; uns kommt eS zunächst darauf an, die Leser aus das merk¬
würdige Buch aufmerksam zu machen, und ihnen mitzutheilen, was der Verfasser
eigentlich beabsichtigt.
Zunächst geht er darauf aus, zu zeige», was das leitende Princip und die
Berechtigung der historischen Schule war. Während das > achtzehnte Jahrhundert
darauf ausging, ein sogenanntes Naturrecht, d. h. ein absolutes, für alle Menschen
geltendes, an Ort und Zeit nicht gebundenes Recht zu finden; während dieses
Bestreben nicht blos bei deu Philosophen, sondern auch bei den Gesetzgebern
(z. B. bei den Verfasser» des preußischen Landrechts und des östreichischen
Gesetzbuchs) vorherrschend war, lehrte die historische Schule, das Recht sei «icht
ein Ergebniß der menschlichen Willkür, Ueberlegung und Weisheit, sondern es
habe in jedem gegebenen Zustand, als positives Recht, ein schon wirkliches Da-
sein i» dem Volk und für dasselbe. Jedes positive Recht sei Volksrecht: nicht,
als ob es die einzelnen Glieder des Volks wären, dnrch deren Willkür das Recht
hervorgebracht wurde, vielmehr sei es der in allen Einzelnen gemeinschaftlich
lebende Volksgeist, der das positive Recht erzeuge, grade wie die Sitte und
die Sprache. Die Gestalt, in welcher das Recht zunächst i» dem gemeinsamen
Bewußtsein des Volks lebe, sei nicht die der abstracten Regel, sondern die leben¬
dige Anschauung der Rechtsinstitute in ihrem organischen Zusammenhang, und
offenbare sich durch die symbolischen Handlungen. Die Tradition bewirke die stete
Erhaltung des Rechts und verleihe ihm eine von dem Leben der jeweiligen Volks¬
glieder unabhängige Dauer. Die organische Fortentwickelung des Rechts finde
aus innerer Kraft und Nothwendigkeit, ebenso unabhängig von Zufall und indi¬
vidueller Willkür, wie die ursprüngliche Entstehung, in steter Continuität statt.
Das Recht, als ein Theil des Volkslebens, entwickele sich mit dem Volk, dem
Charakter desselben auf seinen verschiedenen Bildungsstufen sich anschließend, sich
seinen wechselnden Bedürfnissen bequemend. Am freiesten »ut kräftigsten erscheine
die Erzeugung, Entwickelung und Veränderung des Rechts in der Jugendzeit der
Volker, in welcher der Nationalznsammenhang noch inniger, die Lebensstellung
und Bildung der Vvlksangehörigen noch eine wesentlich gleiche ist, weshalb alle
an der Entwickelung des Rechts, namentlich auch in den Volksgerichten, theil-
nehmen. In demselben Grade aber, in welchem die Bildung der Individuen un¬
gleichartiger und die Lebensstellungen verschiedener werden, werde auch die ur¬
sprünglich auf der Gemeinschaft des Volksbewußtseins aller beruhende Rechtser-
zeugung in den Hintergrund gedrängt. Die weitere Entwickelung, Erzeugung
und Veränderung des Rechts geschehe von da an immer mehr durch besondere
Organe, die Gesetzgebung und die Rechtswissenschaft, die aber nur dann frucht¬
bar sein könnten, wenn sie treu und gewissenhaft aus jeuer ursprünglichen Quelle
des Rechts und der Gewohnheit und Sitte schöpfte«.
Der Verfasser zeigt nnn, wie die natürliche Consequenz dieser Lehre zur
Wiederaufnahme und zum Ausbau des germanischen Rechts führen mußte, wie
aber ein Theil der historischen Schule auf diese Consequenz nicht einging, sondern
beim römischen Recht stehen blieb, so daß innerhalb der Schule selbst sich ein
Gegensatz zwischen Romanisten und Germanisten herausstellte. Er zeigt ferner,
wie die Gegner der Schule, Feuerbach, Thibaut"), Gans, keineswegs ans das
alte überwundene Princip des Naturrechts zurückgingen, sondern das neugewon¬
nene Princip der Geschichte nur nach alle» Seiten hin zu erweitern suchten.
So hebt Gans hervor, „daß überhaupt in deu positive» Wissenschaften, .. . seit
sie, sich vo» der der Wirklichkeit feindlich gegenüberstehenden, nach einem abstrac-
ten Ideale strebenden Philosophie völlig getrennt fühlend, auf ihre« eignen Füßen
zu stehen begonnen, ein allgemeines Streben nach Vergleichung erwacht sei,
in deren Bedürfniß schon die Anerkennung liege, daß nicht das Einzelne eine
Wahrheit habe, sondern daß sich diese einzig und allein in der Totalität finde,
wovon jedes Einzelne mir el» Moment sei." — Es stimmte das mit der Grund-
lehre der Hegelschen Geschichtsphilosophie überein, daß die Völker zwar in sich,
in Kunst, Religion, Philosophie, namentlich auch in der ihnen gemäßen Verfas¬
sung, eine in sich abgeschlossene Individualität bilden, daß sie aber andern Trä¬
gern des Weltgeistes gegenüber nur ein Moment der Entwickelung bilden. So
verhält sich also die Geschichte der positiven Rechte zum Naturrecht, nicht wie die
Aufzählung unendlicher provisorischer Zustände zu dem einen endgiltige» perem-
torischen. Das Naturrecht ist nichts weiter, als die Philosophie des Rechts der
Gegenwart; es hat keinen andern Inhalt, als das positive Recht selbst, das in
ihm nnr sein Aeußerliches abgestreift hat und seinen rein abgeschälten Kern, als
das wahrhaft Inwendige, erscheinen läßt. Jede Zeit hat ihr Naturrecht, welches
sie selbst, in Gedanken gefaßt, ist. Die Universalgeschichte darf deshalb keinem
Volke und keiner Zeit eine ausschließliche Wichtigkeit zugestehen, sondern jedes
Volk uur berücksichtigen, insofern es eine Stufe in der Entwickelung der allgemei¬
nen Rechtsidee einnimmt.
Nachdem der Verfasser diese Conflicte sehr anschaulich im Einzelne»
verfolgt hat, stellt er seine eigene Thesis ans, in der die Gegensätze gleichsam
ihre Versöhnung finden sollen (S. 35): „Das Recht ist, wie das Naturrecht des
vorigen Jahrhunderts lehrte, ein absolutes; das Recht ist, wie die historische
Schule lehrt, geschichtlich entstanden; seine Entstehung hat aber nicht stattgefun¬
den in und mit irgend einem Volk, sondern das Recht entstand und konnte uur
entstehen bei einem Vereine von Menschen, der kein Volk war." Mit andern
Worten: „Das absolute Recht ist das römische."
Um diesen Sajz zu begründen, hebt der Verfasser (S. 66) den Unterschied
zwischen dem traditionellen und dem bewußten Recht (tas und Ms) schärfer hervor.
„Es ist eine, wenn nicht mystische, doch nichts erklärende Weise der Be¬
trachtung, wenn man, wie das Lied, die Sagen, das Epos, so auch das Recht
eines Volkes als das Erzeugniß des „Nolksgeistes" hinstellt, ähnlich wie ma-n
dem „Weltgeist" das Geschäft übertragen hat, die Politik zu besorgen: als ob
man das Product begreifen könnte, ohne seine Factoren zu keimen; ja, als ob
es etwas erklären hieße, das Product bringe sich selber hervor; als wenn die
Naturnothwendigkeit anch in deu Kreisen, wo sie wirklich waltet, sich nicht in
gewisse, dem Nachdenken zugängliche und von dem Nachdenken wirklich gefundene
Gesetze auflöse, kraft deren sie sich, in Nothwendigkeit und Freiheit zugleich,
vollzieht.--" (S. 67): „Das Volksbewußtsein ist die überwältigende Macht,
welche die Volköangehörigen hindert, daß sie aus der Kindheit heraustreten, . . .
ihr Bewußtsein, ihre Auffassung von Gott, Welt und Natur kommt nie über das
Lkrwoeinari wmMiuri ex vmeuUs hinaus. Daher ist die Form, in der sich alle
geistige Volkserrungenschaft offenbart, nicht die krystallene Durchsichtigkeit des lo¬
gischen Gedankens, in dem sich Inhalt und Form decken, sondern die träumerisch¬
ahnungsvolle der Poesie: mau hat daher in Wahrheit vou der Poesie im Recht
sprechen dürfen.—" (S. 69): „. . Gemütherfrischend, sinnig, poetisch sind diese
RechtSbcstimmuugen: nur muß mau sich hüten, in ihnen, die bestimmen wollen
und solle», ohne Bestimmtheit in Form und Inhalt, die allein der Gedanke hat,
wenn er in der Form deö Gedankens auftritt, aus poetisch-historischem Vorurtheil
eine weit deutlichere und gründlichere Fassung zu erblicken, als die Sprache der
Gesetze und der Fortschritt juristischer Bildung sie zu geben im Staude sind. —"
(S. 78): „Was im Laufe der Zeit mit unablässiger Steigerung an dem untersten
Lebensnerv der überlieferten volksmäßigen RcchtSsitte nagt und in ihr eine Zer¬
störung von innen heraus bewirkt, ist das Leben selbst. Das Leben bringt sich
täglich neu hervor; neue gesellige und damit neue rechtliche Beziehungen tauchen
unaufhörlich im Laufe der Zeiten auf; Frage», die unabweislich ihre Beantwor¬
tung fordern, werden stets von neuem gestellt. . . . Der Schatz der überliefer¬
ten Rechtssitte : . . reicht nicht mehr immer aus, die Combinationen des sich
mehr und mehr ent- und verwickelnden Lebens zu lösen. ... In diesem Sinn
sind die Ncchtsübenden auch in späteren Zeiten . . . dahin geführt, Finder und
Schöffen deö Rechts zu sein. In solcher Thätigkeit sind sie aber gehemmt durch
die objectiv ihnen gegenüberstehende, von den Altvordern überlieferte Rechtssitte,
mit der sie ihr Neugefuudenes in Einklang zu bringen haben . . . das Gefühl
der Unzulänglichkeit des traditionellen Rechts für die Gegenwart erzeugt dann die
bittere Empfindung, daß das, was Rechtens ist, nicht mehr den Bedürfnissen der
Zeit entspricht. . . .
Es erben sich Gesetz und Rechte
Wie eine co'ge Krankheit fort u. s. w." —
Nachdem also der Versasser gezeigt, daß in der Existenz der Volksrechte zu¬
gleich ein Hinderniß für die organische Entwickelung des Rechts liegt, geht er zu
dem römischen Recht über, welches in einem künstlichen Volk entstanden, allmälig
durch organische Fortbildung für die Bewohner des gesammten Erdkreises verarbeitet
wurde. Er geht die ganze römische Geschichte durch, und weist uach, daß sie eine
unausgesetzte Ueberwindung des traditionellen ki'as zu Gunsten deö ^us xentium
war, und daß das so erwachsene Recht als ein absolutes, der Menschheit auge-
höriges betrachtet werden muß. Diese Ausführung ist sehr geistreich, wir ver¬
weisen auf das Buch selbst, da wir hier nicht weiter darauf eingehn können.
Und nun die Schlußfolgerung.
(S. 2ö2.) Es war den Deutschen vorbehalten, „den überlieferten massen¬
haften römischen Stoff... theoretisch zu sichten, systematisch zu ordnen und be¬
grifflich zu fixiren", während gleichzeitig die deutschen Praktiker naiv die vorhan¬
denen modernen Rechtsinstitute auf das Maß und die Form römischen Rechts
zurückführten. „Eine Unterbrechung dieser, im wesentlichen ans ein Ziel hin¬
steuernden Thätigkeit unserer gemeinrechtlichen Praktiker und theoretischen Juristen
ist nur da eingetreten, wo die drei bekannten Codificationen der neuern Zeit ein
absolutes Recht hinstellen wollten, während sie doch in Wahrheit die noch im
Fluß begriffene Masse nur zu einer vorzeitigen Erstarrung brachten." — Es hat
sich gezeigt (S. daß jene Gesetzbücher weiter nichts sind, „als officielle
Handbücher der zur Zeit ihrer Entstehung gange und geben Theorie." Gerade
die Theorie hat dnrch sie neue und sehr erhebliche Fortschritte gemacht, und durch
sie befähigt drängt es uns (S. 2S8) „von allen Seiten, bewußt und unbewußt,
zu einem neuen Zwvlftafelgesetz.. Die neue Codification, die darauf zu verzichte»
hat, in einem abstract casuellen Detail eine Vorausentscheidung für die unendliche
Fülle des täglich sich neu gebärenden Lebens und seiner Verwickelungen zu geben,
und ebenso nicht Anspruch darauf macheu darf, als Lehr- und Lesebuch für das
Volk in den Feierstunden gelten zu wollen, hat die begrifflichen Keime des prak-
ticabeln Nechtsstoffs gesetzgeberisch zu sauctionireu, an welche der Stand der Ju¬
risten .. seine Extensivinterpretation von neuem anzuknüpfen hat. Die Ncchts-
eutwickeluug hört mit dieser Sanction nicht aus, im Gegentheil, sie kaun von da
ab erst wahrhaft beginnen: der neue Codex. . ist erst der centrale Focus, eins
den alle rechtlichen Erscheinungen convergiren. . Wenn er aber nnr Principien
enthalten soll, so kann er nichts Anderes umfassen, als das römische Recht." —
Dies der Inhalt des interessanten und bedeutenden Werks, auf das wir un¬
sere Leser aufmerksam machen. —
Die beiden ersten Bände dieser guten Uebersetzung haben wir bereits an¬
gezeigt; wir machen unsere Leser noch einmal darauf aufmerksam. Möchte doch
der Gesundheitszustand des großen Geschichtsschreibers es bald möglich machen,
daß wir über eine neue Lieferung dieses Werkes berichten könnten! —
Mit der i. und ü. Lieferung ist nun der >I> Be>ut dieses höchst interessanten
Werkes, auf das wir bereits bei seinem Entstehen hingedeutet, vollendet. Wir
behalten uus vor, nach dem vollständigen Erscheinen desselben, das in nächster
Zeit in Aussicht gestellt ist, ausführlich darauf zurückzukommen. —
Die zahlreichen Mandatsnicderlegungen in beiden Kammern verdienen wol
auch die Aufmerksamkeit der liberalen Partei anzuregen. Man versichert, alle
Fractionen seien davon betroffen. Ist um auch unter denen, die ihre Demission
eingereicht haben, soviel wir wissen, kein bedeutender Name aus den Reihen der
Opposition genannt worden, so war doch die Linke seit den letzten Wahlen keines¬
wegs zahlreich genug vertreten, um irgend welchen Verlust gleichmüthig ertra¬
gen zu können. Sie zählte, wenn das Gedächtniß nicht trügt, ungefähr sechs
bis zehn Mitglieder in der ersten Kammer und fünfzig bis sechzig in der zweiten.
Die Opposition im allgemeinen, verstärkt durch die altpreußischen und die in
manchen Fällen bedenklichen katholischen Bundesgenossen, war natürlich um vieles
stärker. Ob die Katholiken auch diesmal nnter allen Umständen zu den Unsrigen
halten werden, wer möchte es mit Sicherheit behaupten. Was innerhalb der ka¬
tholischen Fraction (wir meinen hier immer die klerikale) vorgeht, tritt nicht so
schnell und deutlich zu Tage. Die Katholiken haben vermittelst der Opposition,
die ihnen, wie sie dessen selbst wol kein Hehl haben, stets nnr Mittel zum Zweck
war, ihre Absichten nicht durchgesetzt und es ist keine Bürgschaft dafür gegeben,
daß sie es nicht einmal auf einem anderen, diesmal gouvernementalen, Wege ver¬
suchen werden. Die Polemik zwischen den Organen der politischen Rechten und
den ihrigen ist während der letzteren Zeit in auffallender Weise milde, gemäßigt,
abgeschwächt erschienen. Sie machte zuweilen, auf der Seite der Rechten, den
Eindruck verhüllter Avancen und leiser Versuche zur Aussöhnung. Wie dem nun
auch sein mag, es kann sich zwischen der Linken und den Katholiken doch nur um
eine auf bestimmte Punkte gerichtete und in diesen allein zuverlässige Koalition
handeln. Die katholische Fraction wird in mehren politischen Haupt- und Le¬
bensfragen stets auseinanderfallen und der Rechten ein nicht unbedeutendes
Contingent zuführen. Die Linke thut daher jedenfalls wohl daran, auf ihrer Hut
zu sein und die nothwendig gewordenen Ersatzwahlen, deren Zahl sich schon jetzt
auf sechsundzwanzig beläuft, ins Auge zu fassen.
Die Wachsamkeit und Energie der Linken bei den bevorstehenden Einzelwah-
im werden um so dringender in Anspruch genommen, als ihr einerseits die Mittel
der politischen Action durch ihre eigene Schuld sehr spärlich zugemessen sind und
die Rechte neue Stürme auf die VerfassnngSreste theils klar theils auf Umwegen
angekündigt hat.
Es fehlen der Linken die Mittel politischer Action, denn sie hat ihr Blatt,
selbst als es in der letzten Phase ganz in ihrem Sinne und auch sonst sorgsam
geleitet ward, eingehen lassen, und es ist keine Aussicht vorhanden, daß diese in
der Geschichte politischer Parteiung wol unerhörte Lücke während der bevorstehen¬
den Session ausgefüllt werde. An liberalen Organen ist sonst freilich kein Man¬
gel, aber sie haben sich von dem thätigen Kampfe fast überall zurückgezogen.
Sie leisten in den großen europäischen Fragen, dem russischen und französischen
Einflüsse gegenüber, gute Dienste, aber in unseren häuslichen Angelegenheiten, die
neben der orientalischen vielleicht noch immer einige Bedeutung haben dürften,
wird ihre Theilnahme selbst innerhalb der von der preußischen Verwaltung aller¬
dings ziemlich eng gesteckten Grenzen oft zum Schaden der liberalen Interessen
vermißt. Wir glauben nicht, daß ein Kandidat der constitutionellen Partei im
Kampfe mit einem Beamten oder einem Kreuzzeitungsmaun auf die nachdrückliche
Unterstützung eines Blattes, das sein Programm theilt, rechnen konnte, ja daß
auch nur während der Wahlen eine einigermaßen lebhafte Regsamkeit der libera¬
len Presse im allgemeinen zu erwarten wäre. Schlimm genug, daß es so mit
uns steht und es würde wenig fördern, wollte man die Wahrheit verhehlen, die,
offen und wohlgemeint ausgesprochen, hie und da vielleicht einer guten Ausnahme
begegnet.
Die Rechte weiß es besser anzusaugen. Sie zählt ihre Leute, hält sie wach¬
sam und rüstet sich zur Debatte. Einen großen Erfolg hat sie schon wieder
durchgesetzt. Die erste Kammer bleibt provisorisch erhalten, bis die Provinzial-
nnd Krcisordnungen definitiv geregelt und noch andere Gegenstände, die den
Gegnern Vortheile bringen sollen, erledigt sind. Vor der neuen Pairie scheint
man sich wie vor eiuer unbekannten Größe nachträglich zu fürchten und es sieht
fast so aus, als hätten die Bethmann-Hollwegiauer und mehre Mitglieder der
Linken sich für die Pairie, dieses vermeintliche Schiboleth conservativ-liberaler
Politik, umsonst abgemüht. Man darf auch uicht daran zweifeln, daß die zwei¬
jährige Berufung der Kammern, die Aenderungen des Preßgesetzes, die verstei¬
nernde Concentration des Grundbesitzes und soviel« andere Entwürfe in demselben
Sinne wieder in Angriff genommen werden sollen.
Betrachtet man neben dieser Rührigkeit die Apathie eines Theiles der Op¬
position, so sollte man glauben, diese ruhe schon auf politischen Lorbeeren und sei
durch die unpoetische und kühle Aufgabe eiuer leichten Defensive etwas entnervt.
Und doch liegen die Dinge in der Wirklichkeit anders. Wir haben das Meiste
wieder zu gewinnen und das Letzte, das heißt alles zu verlieren. In solchem
Falle werden Energie, Muth und Kampfeslust gewöhnlich ans der Seite derjenigen
angetroffen, die mit dem anvertrauten Gut zugleich ihre politische Existenz und
ihre Ehre zu vertheidigen haben. — (Anmerk, der Red.) In den vorigen
Brief unsers Correspondenten hat sich ein sinnentstellender Druckfehler eingeschlichen.
Bei „Man kann sich doch nnr zu einer Discussion angeregt fühlen, wo der ge¬
sunde Menschenverstand von vornherein mit Ja oder Nein entscheidet, ist ein
„nicht" weggefallen.
Der Moniteur brachte uns heute die erste offtcielle Anzeige vom Anfange
der Feindseligkeiten im Osten, nachdem er gestern durch eine diplomatische Note
das diplomatische Stillschweigen gebrochen, in welchem er seit Wochen beharrte.
Die lustigen Jagden im Costüme Louis XV. von Compiegne verliehen dieser
Schweigsamkeit einen gewissen Schein von Berechtigung, und die fröhliche Sorg¬
losigkeit des Hofes machte die Zurückhaltung des offtcicllen Blattes selbstver¬
ständlich. Was Wunder, wenn es hier viele Diplomaten unter den Staatsmännern
wie unter den Börsehändlern gibt, die bis zum letzten Augenblicke glaubten, es
werde ein Wunder geschehen und der Zusammenstoß der Türkei mit Rußland
verhindert werden. Dieser Glaube ist um radical geheilt, aber die Zuversicht
ans einen baldigen friedlichen Ausgleich ist auch der Thatsache des bereits aus-
gebrochenen Krieges noch nicht gewichen. Die Börse hat den Muth nicht ver¬
loren und das Fallen der Course heute steht in keinem Verhältnisse zu der Wich¬
tigkeit des Ereignisses, das es veranlaßte. Die obenerwähnte Note im gestrigen
Moniteur mag zu diesem Umstände nicht wenig beigetragen haben, denn diese
Note ist so friedlich gehalten, als dies jetzt noch möglich ist. Die Note zeigt
uns das Einlaufen der beiden Flotten ins Marmorameer und gibt zugleich den
Standpunkt, auf den sich die Regierung stellen möchte, verworren genng, aber
doch verständlich an.
Frankreich will den Frieden, I'empire e'est ig, Mix, aber es kann nnr den
Frieden, der sich aufs europäische Gleichgewicht stützt, wollen. Dieses Gleichge¬
wicht ist durch die Besetzung der Donaufürstenthümer gestört worden, und die
Pforte konnte ihrer Würde entsprechend nicht anders handeln, als indem sie den
Krieg erklärte.
Nun möchte man glauben, die beiden Flotten hätten als logische Folge dieser
Voraussetzungen den Auftrag, die Pforte zu unterstützen, allein hiervon schweigt
der Moniteur, er gibt uns vielmehr zu verstehen, daß England und Frankreich
sich noch immer nicht als vereinzelt und getrennt von Oestreich und Preußen
betrachten, und daß vielmehr die beiden östlichen Mächte in Ermangelung einer
Flotte dnrch ihren diplomatischen Einfluß in Konstantinopel das Werk fortsetzen
helfen werden, das in Wien an der famosen vierspännigen Note verunglückt war.
Diese Fricdcusausficht wird noch durch die in Form einer Hoffnung ausgesprochene
Drohung verstärkt: es stehe zu erwarten, daß die durch den Mangel von Kriegs¬
schiffen hervorgerufene Neutralität Oestreichs und Preußens keiner sträflichen
Gleichgiltigkeit gleichkommen werde.
Soll diese Note irgend einen Verstand haben, so drückt sie, wenngleich ver¬
blümt, die Localisirnngshoffnung der Aberdeenschen Politik aus, und insofern muß
man allerdings dem Moniteur beistimmen, daß Frankreich und England eine ebenso
rührende als bewunderungswürdige Eintracht in der orientalischen Angelegenheit
an den Tag gelegt haben. Es kann uns daher auch nicht befremden, wenn Lord
Aberdeen bereit ist, die Königin zu einer förmlichen Einladung des Kaisers und
der Kaiserin nach London zu bewegen. Diese Note, sowie die eben ausgesprochene
Verlängerung der Parlamcntsvertagung sind nun allerdings geeignet, solchen Spe-
culanten und Politikern Muth einzuflößen, welche trotz der bis zur Evidenz er¬
wiesenen Untauglichkeit und Ohnmacht der europäischen Diplomatie noch immer
die Losung dieses großen Ereignisses von Paris und London ans erwarten. Wir
gehören nicht zu diesen gläubigen Seelen. Wir sind im Gegentheile fest über¬
zeugt, daß die Entscheidung nunmehr blos am Kriegsschauplatze selbst zu suchen
sei, und wir glauben ferner, daß auch die fernere Politik Englands und Frank¬
reichs von dem bedingt ist, was im Oriente geschieht. Lord Aberdeen und
Dronyn de Lhuys mögen wol heute noch hoffen, die Flotten werden nur Schild¬
wache zu stehen brauchen im Marmorameer oder in den Gewässern von Konstan¬
tinopel, die Ereignisse werden es anders erheischen. Die orientalische Angelegen¬
heit ist seit Menschikoffs Abreise eine chronische Krankheit geworden und hat als
solche ihre regelmäßige Entwicklung genommen. Trotz aller diplomatischen Me¬
dicamente konnte diese nicht verhindert werden, und England und Frankreich sahen
sich heute gezwungen, die Kriegserklärung, den Ausbruch des Krieges zu billigen,
nachdem sie» vergebens alles aufgeboten hatten, beides zu hintertreiben.
Der fernere Verlauf muß aller Wahrscheinlichkeitsberechnung nach ein ähn¬
licher sein. Man wird solange bewaffnete Diplomatie treiben, bis die Dinge so¬
weit gedeihen, daß die Diplomatie ganz über Bord fällt und nnr die Waffen
bleibe». England und Frankreich verwickeln sich allmälig in das uuauflösbare
Gewinde ihrer diplomatischen Fehlgriffe so fest, bis sie ohne Schwertstreich nicht
mehr herauskönnen. Die römischen Artikel der Times werden es nicht anders
gestalten, und zur Ehre des englischen Handels sei es gesagt, die City ist jetzt
weniger kriegschcu als ihr sonst getreues Organ. Die Times ist katholischer als
der Papst. Man fühlt es in England, im Lande besser als im Kreise seiner
Staatsmänner, daß die Zukunft des britischen Handels weit mehr von der feigen
Nachgiebigkeit der Abcrdecnschen Politik zu leiden hätte, als die Gegenwart durch
eine zeitweilige Stockung des Absatzes im Falle eines Krieges. Wir meinen also,
daß sich die westliche Friedenspolitik sachte in die Nothwendigkeit des Krieges
hineinarbeitet und wir sind überzeugt, daß dem offenbaren Versuche von Paris und
London, die bloße Zuschauerschaft abzugeben, ein glänzendes Fiasco bevorstehe.
Die Gerechtigkeit müssen wir jedoch der svanzöstscheu Regierung widerfahren
lassen, sie scheint die Möglichkeit einer solchen Eventualität zum Bewußtsein sich
geführt zu haben, wenn wir anders nach verschiedenen, bis jetzt blos angekün¬
digten Maßregeln so urtheilen dürfen. Die Ersetzung de la Cours durch
einen französischen General und einige sonstige Militärmaßuahmen, die mir
von guter Quelle als im Werke begriffen angekündigt werden, deute» auf die Ge¬
faßtheit der srauzöstschen Regierung, es könne denn doch auch zum Schlage kom¬
men. Und hierbei wird sich die neue Lage Frankreichs seit dem zweiten Dezember
in entscheidender Weise geltend machen. Die Parteien in der Regierung oder,
um diesem Begriffe die erforderliche Ausdehnung zu lassen, im Hofe, haben inso¬
fern ein leichteres Spiel, als sie ohne Controle eines einflußreichen Parlaments
und eiuer freien Presse auf den Willen des Staatsoberhauptes wirken können.
Es darf daher bei Beurtheilung und Abschätzung zukünftiger Eventualitäten nicht
außer Acht gelassen werden, wie sich jetzt über Nacht alles anders gestalten könne.
Ich habe in meinem jüngsten Briefe angedeutet, mit welchen Plänen die Kriegs-
partei sich herumtrage, und so entschieden anch der Wille und die persönliche
Ansicht des Kaisers sein mögen, er kann sich vom Einflüsse seiner Umgebung doch
nicht fern halten. Noch muß bedacht werden, daß, sowie die Ereignisse im
Oriente bis zu einem gewissen Punkte gereift sind, derjenige der westlichen Groß-
staaten den andern ins Schlepptau nimmt, der zuerst eine entschiedene Politik
befolgt. Lord Aberdeen kann daher unsern Kriegslustigen nicht immer als Hinder¬
niß entgegengehalten werden. Es muß auch bald zur Entscheidung kommen.
Die Türkei, welche in der letzten Zeit nicht blos die würdigste Haltung eingenom¬
men, sondern zugleich auch die gesündeste Politik durchgeführt, fühlt dies. So
ungeheure Kraftanstrengungen wie die ihrigen lassen sich nicht auf lajige in dem¬
selben Grade erhalten, und die Pforte muß durch alle ihr zu Gebote stehenden
Mittel darauf hinarbeiten, das Hinausschieben der Entscheidung, wie es in Ru߬
lands Absicht liegen mag, unmöglich zu machen. Es ist nicht genug, das Banner
des Propheten zu entfalten, es muß rasch vorwärts getragen werden. Solange
die Begeisterung der Nation so groß ist wie jetzt, kann ein gefährlicher Angriff
nicht so verderbenbringend werden, anch im schlimmsten Falle nicht, als es das
allmälige Verglimmen des heiligen Feuers im Busen der Nation wäre. Hier¬
durch wird aber auch die Haltung der beiden westlichen Mächte sich bald ändern,
denn entweder ist die Türkei die Besiegte, und dann müssen England und Frank¬
reich Rußland die Zähne zeigen oder nöthigenfalls dreinschlagen, wenn sie sich
nicht ganz der Großmuth, oder besser gesagt, dem Uebermuthe Rußlands preis¬
geben sollen. Oder aber Rußland zieht den Kürzern, und dann dürfte England
die Gelegenheit kaum versäumen, seinen gefährlichen Feind stark genug in die
Enge zu treiben, an auf lange Ruhe vor seinen Plänen im Osten zu bekommen.
In diesem Falle wurde sich weder Oestreich noch Preußen beeilen, Rußland mit
Aufopferung ihrer klarsten Interessen zu Hilfe zu kommen, da eine Schwächung
Rußlands ohne directe Stärkung der Revolution beiden Mächten nicht unwill¬
kommen sein muß. Ist die Türkei die Besiegte, dann ist Englands »ut Frank¬
reichs Hilfe auch ans dem Grunde voraussichtlich, weil sonst die Türkei in ihrer
Verzweiflung Brandstoff genng in der Umgebung hat, ihren falschen Alliirten,
sowie ihren Gegnern große Verlegenheiten zu bereiten. Die englische und
französische Negierung werden von der Furcht vor revolutionären Ereignissen
und selbst von der Furcht eines allgemeinen europäischen Krieges zur bewaffneten
Theilnahme hingedrängt, sowie Oestreich und Preußen durch dieselbe Furcht da¬
von abgehalten werden. Hierin liegt nur ein scheinbarer Widerspruch, weil, wie
bemerkt, die Türkei, von ihren Alliirten verlassen, zu allem greifen muß und
uur durch den Beistand Englands und Frankreichs von der Allianz mit der
Revolution abgehalten werden kann. Oestreich und Preußen aber, sollen sie, die
Waffen in der Hand, einschreiten, können, so wie die Sachen in Europa stehen,
nur auf Rußlands Seite treten, und dann ist der europäische Krieg fertig. Die
Vereinzelung der Türkei scheint mir daher vom Gesichtspunkte der westlichen Re¬
gierungen ans ebensowenig thunlich, als sie den Sympathien der westlichen
Nationen entspricht, und ich kann mir, wie ans dem Ebeugesagten erhellt, eine
kriegerische Mitwirkung Englands und Frankreichs denken ohne europäischen Krieg.
Daß es aber so kommen werde, ist nicht wahrscheinlich, weil weder England
noch Frankreich bisher die nöthige Entschiedenheit gezeigt, um zu vermeiden, was
sie gern vermeiden mochten; wie aber auch die Verwickelung im Osten jetzt en¬
det, es wäre denn doch nur der Anfang vom Anfange. Das europäische Gleich¬
gewicht von 181ü, oder vielmehr was von der damaligen sogenannten Pondc-
rirnng noch übriggeblieben: ist eine bloße diplomatische Fiction, und erlauben
Sie mir dre persönliche Ueberzeugung auszusprechen: ohne eine allgemeine Um¬
gestaltung der europäischen Verhältnisse, also ohne europäischen Krieg, kommen
wir nimmer und nimmer zur Ruhe. '
Die Ulemas spielen, in den neuesten türkischen Verwickelungen wieder eine so
große Rolle, daß es von Wichtigkeit erscheint, ihre Stellung und Bedeutung
kennen zu lernen. Bei den Türken umfaßt der Kora», wie die Bibel bei den
Hebräern, alle Beziehungen des religiösen und bürgerlichen Lebens. Quelle jedes
Rechtes, Princip jeder Pflicht, ist er der Führer und die beständige Richtschnur
des Muselmanns, die einzige Regel, die er in allen seinen Lebeiismomente»
befragt. Aber diese Regel ist nicht immer verständlich. Der Koran wimmelt von
Lücken und Widersprüchen aller Art. Schon im 8. Jahrhundert nach Christus
widmete sich daher eine besondere Classe von Muselmännern dem Studium und
der Auslegung des heiligen Buches. Mau nannte sie Ulemas oder Gelehrte,
zum Unterschiede von der Masse deö Volkes, die in Unwissenheit blieb und kaum
das Alphabet kannte. Bald erhielten die Ulemas auch eine politische Bedeutung.
Die Kalifen waren ursprünglich, wie die Hohenpriester bei den Juden, zugleich
Oberpriester, Gesetzgeber und Richter. Später nahm sie die Sorge für die
weltlichen Angelegenheiten des ausgedehnten Reiches ausschließlich in. Anspruch,
und sie überließen den Ulemas an ihrer Statt die priesterlichen und richterlichen
Functionen. Von der Zeit bildeten die Ulemas einen besonderen Priesterstand,
dessen Oberhaupt mittelst seines gefürchteten Fetva der Autorität der Sultane
mehr als einmal Schranken setzte. Die Nachfolger Mohameds pflegten nämlich
den wichtigsten Acten ihrer Regierung dadurch eine religiöse Weihe zu geben, daß
sie ihnen das heilige Siegel ausdrückten. Mit dieser Function, die ursprünglich
nur eine Formalität war, wurde das Oberhaupt der Ulemas, der Cheik-elMam,
betraut. Solange nnn energische und kriegerische Sultane an der Spitze des
Reichs standen, war der Cheik-el-islam ohne bedeutenden Einfluß. Murad IV.
ließ einen solchen Cheik enthaupten, oder, wie einige erzählen, in einem Mörser
zerstampfen, weil er es gewagt hatte, sich seineu Anordnungen zu widersetzen;
obgleich das Gesetz verbietet, das Blut eines Ulema zu vergießen. Als aber
die Sultane entarteten, versagten die Cheiks nicht allein ihr Siegel oder Fetva
den kaiserlichen Hatticherifs, sondern griffen sogar die Person des Herrschers selbst
an; hinter der Ehrfurcht, die dem Gesetz und ihrer eigenen Unverletzlichkeit
gcbürte, sich verschanzend, stürzten sie die Sultane vom Throne und überlieferten
sie den Dolchen der Janitschaaren.
Der Ulema oder die Körperschaft der Ulemas theilt sich in zwei Classen:
in die richterliche, die ans Auslegern des Gesetzes, Mnftis, und den Richtern,
Katlo, besteht, und in die religiöse, zu der die Diener des Cultus, Jmcnns,
gehöre». Ursprünglich waren diese beiden Classen vereint, der Kadi konnte
priesterliche Functionen übe» und der Imam, nachdem er die Moschee verlassen, Recht
sprechen. Aber bald bildete» die Kadis eine besondere Körperschaft und beschränkten die
Imaus auf die Predigt und denDienst in derMoschee. DieMacht, welche sie ausübten,
der Umstand, daß zu ihrer Körperschaft die Großwürdenträger und das Haupt der Ule-
maö gehörten, das stets wachsende Ansehen dieses Hauptes, dessen Functionen meist
mehr richterlicher als priesterlicher Natur sind, die große» Einnahmen, die ihnen ihre
Aemter und das Recht des Vierzigster gewährten, den sie von allen ihnen unter¬
breiteten Processen erhoben; die Verwaltung der Gnkafs oder des Grundeigen-
thums der Moscheen; die Sorgfalt, mit der sie nur die fähigsten Mitglieder des
Ulema in ihre Körperschaft aufnahmen: alles dies verschaffte ihnen ein bedeuten¬
des Uebergewicht über die Imaus, welche ans den Dotationen der Moscheen
schlecht besoldet, arm, unwissend, mit dem Volke verschmolzen, oft genöthigt, zu
Handarbeiten ihre Zuflucht zu nehmen, um ihr unzureichendes Einkommen zu ver¬
bessern, den- letzten Rang im Ulema einnahmen. Diese Ungleichheit stieg noth¬
wendig mit der Zeit und führte zu der gegenwärtigen Lage der Dinge, wo die
Diener des> Cultus dem bürgerlichen Richter untergeordnet find, der über sie die
Rechte eines Diöccsanbischvfs hat. Das Princip der Einheit der richterlichen und
geistlichen Functionen besteht jedoch noch immer: der Mufti hat sich das Recht vor¬
behalten, bei der Thronbesteigung des Sultan das Gebet zu halten und die beiden
Almoscniers des kaiserlichen Palastes gehören zur ersten Classe des Nichterstandcs.
Die äußerst verwickelte Hierarchie und Verfassung des Ulema ist selbst in
der Türkei wenig bekannt. Von den drei Classen desselben, den Richtern oder
Kadis, den Lehrern und Auslegern des Gesetzes, Muftis, und den Dienern des
Cultus, Imaus, bekleiden die Mitglieder der ersten Classe sämmtliche Nichterstclleu
in der europäischen und asiatischen Türkei.
Die Muftis folgen in der Hierarchie unmittelbar ans die Mollas, die Mit¬
glieder der Appellationshöfe und Vorsteher der Landgerichte. Sie bilden eine
Körperschaft von etwa 200 Mitgliedern, die ans Lebenszeit von dem Cheik-el-islam,
dem Oberhaupte der Ulcmas, dem türkischen Justiz- und Cultusminister, ernannt
werden, alle in gleichem Range stehen, und deren Beruf es ist, FetvaS oder Con-
sultationen zu ertheilen, welche das Recht der Parteien feststellen und den Richter
aufklären, ohne ihm Zwang anzuthun. Der Mufti ist nur der Ausleger des Ge¬
setzes: der Richter dagegen wendet es an »ud erkennt über den Thatbestand.
Bei einem jeden Landgericht ist ein Mufti angestellt. Er kann auf die höheren
Nichteräinter keinen Anspruch machen und hat nur Aussicht, von einer kleineren
in eine größere Stadt mit vermehrtem Einkommen versetzt zu werden.
Die Imaus zerfallen in fünf Classen: 1. Die Cheiks oder Prediger der
Moscheen. 2. Die Khatibs, Vorleser, welche als Vertreter des Sultans im Imam
in seinem Namen das Freitagsgebct vor dem Altare abhalten. 3. Die Imaus,
welche die gewöhnlichen Dienste in der Moschee verrichten nud die Heiraths- und
Leichenfeicrtichkeiten vollziehen. 4. Die Mnezzins oder Ausrufer, welche die Stunde
der 5 Namaz ankündigen. S, Die Caylus, die den innern Dienst in der Mo¬
schee verrichten. Das Personal der verschiedenen Moscheen richtet sich nach ihrer
Bedeutung und ihrem Einkommen. Die kaiserlichen Moscheen haben in der Regel
einen Cheik, einen Khatib, 2—S Imaus, 12 Muezzins und- 20 Caylus. Kon¬
stantinopel allein besitzt 14 solcher Moscheen.
Die Cheiks stehen wie die Muftis auf der zweiten Stufe in der Hierarchie
des Ulema. Sie und die Khatibs erfreuen sich allein einer gewissen Achtung
im Ulema. Die übrigen drei Classen der Imaus werden kaum als zum Ulema
gehörig betrachtet. Bei armen Moscheen verrichtet oft dieselbe Person die Dienste
eines Cayim, Muezzin nud Imam: sie spricht das Gebet, ruft zu demselben die
Gläubigen, reinigt die Strohmatten und hält Wache an der Kirchthür.
Der Ulema ergänzt sich in der Regel ans den armen Ständen und fordert
ein weniger mühevolles als langes Noviziat. Wenn der Aspirant den Melech
oder die Elementarschule verlassen hat, in welcher die armen Kinder jedes Stadt¬
viertels bis zum 11. oder 12. Jahre unentgeltlich unterrichtet werden, so tritt er
in eins der Medresses oder Kollegien, die zu den großen Moscheen gehören und
gewissermaßen die Seminarien des Islams sind. Hier bleibt er als Svfta oder
Phaleb zehn bis zwölf Jahre und lernt arabische Grammatik und Syntax, Logik,
Moral, Rhetorik, Theologie, Philosophie, Jurisprudenz, Koran und Sunna. Die
Moschee gibt ihm Wohnung und Nahrung. Seinen übrigen Unterhalt verdient
er sich als öffentlicher Schreiber, Kiatib, oder indem er türkische und arabische
Handschriften für die Kaufleute des Bazar abschreibt oder indem er dem Cayim
bei der Reinigung der Moschee hilft. Hierauf wird er Danischmend (begabt mit
Wissenschaft) und kann nun Imam oder Melech, Lehrer, werden. Damit aber
verliert er jeden Anspruch ans den Ulema. Will er diese höhere Laufbahn ver¬
folgen, so muß er n'alte Studien machen und dnrch eine Prüfung den Rang eines
Mnlazim, (Vorbereitn') die erste Stufe des Ulema sich erwerben. Nun kann
er die Stelle eines Raid, eines ErgänznngS- oder Friedensrichters in der Provinz
erhalten. Treibt ihn aber sein Ehrgeiz weiter, so muß er abermals sieben Jahre
dem Studium der Jurisprudenz, der Dogmatik und der Gesetzanslegung sich wid¬
men und sich deu Grad eiues Mndvri (Professors) erwerben, der von dem Cheik-
el-islam selbst verliehen wird und die zweite Rangstufe im Ulema bildet. Nun
stehen ihm die beiden Carieren des NichtcrstandcS offen: er kann entweder eine
Anstellung als Mufti an einem Landgerichte fordern, in welchem Falle er aber
jedem Anspruch auf Beförderung entsagt, oder er kann allmälig die zehn Stufen
des Professorats bis zu der des Snleimaniö durchmachen. Dann tritt er in die erste
Rangstufe des Ulema und des Nichterstandes ein, erhält den Titel eines Mokka
makredji und ist zu den hohen und höchsten Würden der Justiz befähigt.
Man begreift, wie eine solche Körperschaft, die alle lebendigen Kräfte des
Islamismus an sich gezogen hat und eine wahre Aristokratie nicht der Geburt,
sondern der Stellung bildet, ihrer Natur nach jeder Reform abgeneigt ist. Die
Reform würde der Untergang ihrer Macht sein. Was würde ans der religiösen
Gesellschaft in der Türkei werden, wenn jeder Muselmann so gebildet wäre, daß
er selbst ohne Vermittlung des Ulema seine religiösen Pflichten erfüllen könnte!
Und nicht allein die geistliche Gewalt der Moschee ist alsdann bedroht, sondern
auch ihr Vermögen. Dem Sturze ihrer Privilegien würde nothwendig auch der
Verlust ihrer Einkünfte folgen. Wenn, wie es der Hattischerif von Gulhane will,
die richterlichen Functionen, statt ein Privilegium und Monopol des Ulema zu
bilden, den übrigen Staatsämtern gleich gestellt und mit einem festen Einkommen
dotirt werden, wo bleibt dann der ungeheure Gewinn, den die Kadis eins den
Processen ziehen? Wo bleiben dann die Gnkafs, welche mehr als zwei Drittel
des Grundeigenthums in der Türkei ausmachen und die lediglich der Moschee zu¬
fallen, ohne dem Staate etwas einzubringen? Würden sie nicht mit den Staats¬
domänen vereinigt oder mindestens wie alles übrige Eigenthum dem allgemeinen
Steuergesetz unterworfen werden?
So liegt jetzt die Frage für die Ulemas. Wohl wissen sie, daß die Macht
ihnen entfällt und sie thun alles Mögliche, um sie zu behalten. Es besteht ge¬
genwärtig ein Kampf zwischen der Regierung, welche in allen Reformen die Ini¬
tiative ergreift, »ut den Ulemas, die den alten Stand der Dinge anfrecht erhal¬
ten wollen. Sie werden freilich in diesem Kampfe unterliegen, aber ihre Nieder¬
lage würde rascher erfolgen, wenn sie nicht mächtige Bundesgenossen an den Der¬
wischen, den Mönchen des Orients, hätten.
— Im vierten Gewandhausconcerte sang Fräulein Bergan er eine
Arie aus Figaro und zwei Lieder von Veit, und zwei Brüder, Wieniawski aus
Warschau, spielten Solo auf der Violine und Pianoforte. Schumanns neueste Sinfonie
(Ur. z, 0 moll) wurde hier zum ersten Male gegeben, nachdem sie vorher schon im
Laufe dieses Sommers auf dem Düsseldorfer Musikfeste vorgetragen worden war. Wie
dort, so fand sie auch hier vielen Beifall, dessen Grund wol besonders darin zu suchen
ist, daß das Werk in klarerer Weise geschrieben ist, als viele der letzten Kompositionen
desselben Meisters, und daß in ihm sich eine Menge Momente finden, die bei dem
ersten Hören ergreifen und fesseln. Wie bei manchen andern Sinfonien der Neuzeit
sind die einzelnen Satze nicht geschieden, sondern gehen durch die nöthigen harmonischen
Cadenzen ineinander über. Es läßt sich dagegen bei einem Werke von so geringer
Dimension nichts Erhebliches einwenden, obgleich das Wesen der sinfonischen Kunst¬
form in das einer Phantasie umgewandelt wird. Am meisten zeigt sich dies in den
Uebergängen zwischen den einzelnen Theilen, die sowol in ihrem Ausgange von dem
vorhergehenden und in ihrer Ueberleitung zu dem folgenden Satz nothwendigerweise in
das Gebiet der freien Phantasie übergehen müssen. Man darf mit dem Componisten
nicht rechten, wieweit er seiner künstlerischen Laune hierbei den Zügel schießen lassen
darf, das kann man aber verlangen, daß er ein dem Inhalte der Sätze sich anpassen¬
des Maß anlege und nicht soweit ausschweife, daß die einleitenden Gedanken sowol
an Tiefe der Combination, als an Bedeutsamkeit der Motive die Hauptsätze selbst über-
treffen, wie es hier der Fall war, in dem Verhältnisse zwischen der Ueberleitung zum
vierten Satze und diesem Satze selbst. Die Motive der einzelnen Thrilc zeichnen sich
durch keinen besonders tiefen Inhalt aus; sie erfreuen mehr durch den Wohlklang und
die Faßlichkeit, auch mangelt ihnen die sinfonische Breite und in dieser Beziehung
stimmen sie vollständig mit der jetzigen Mode überein, kleine Motive auszuwählen und
diese aus dem Prokrustesbette themathisch auszurenken oder zusammenzuschnüren, wie es
grade der vorliegende Fall verlangen und gutheißen mag. An diesem Gebrechen kränkelt
namentlich der erste Satz und besonders auffällig tritt hier das unbedeutende Gegcu-
motiv der Dominate in seiner Schwäche entgegen, welches erst im zweiten Theil des
ersten Satzes, in der großartig angelegten Durchführung einen bedeutungsvollerer Rem-
playant findet, der dann in der Wiederholung selbst auf befriedigendere Weise angewendet
und festgehalten wird. Die Romanze (zweiter Satz) schließt in loser Weise, nur durch
den gehaltenen »-moll Accord dem ersten Allegro an; sie ist kurz, beginnt mit einer
klagenden Mollcantilcne und erheitert sich dem Gegensatze (I) alni) mit einem Violin¬
solo, das sehr gut klingt. Die gleichen Gegensätze finden sich in dem Scherzo, das
in einem contrapunktisch ausgeführten schweren Dreivierteltakt anhebt und in seinem
Trio wieder die entgegengesetzte freundliche Stimmung in den Vordergrund stellt. Ueber
die Einleitung zum letzten Satze ist schon oben gesprochen, der Satz selbst setzt zwar
in schwerem, bedeutungsvollen, obwol wieder kurzem Motive an, tritt aber später aus
diesem Charakter heraus und nähert sich mehr dem Zierlicher, Leichtfüßigen und Pi¬
kanten. Man erinnert sich dabei an die vergangenen Zeiten Schumanns, an seine
erste Sinfonie, sein Quintett und an ähnliche Sätze in den Streichquartetten. — Einen
großen Vorzug besitzt die Sinfonie in ihrer vortrefflichen Instrumentirung, sie überragt
darin fast alle seine früheren Arbeiten, und es ist kein Zweifel, daß der durchaus vor¬
waltende WvlMang und das daraus entstehende Behagen der Sinfonie überall Freunde
erwerben wird.
In einem zum Besten der Armen von dem tüchtigen Organisten Schellenberg ver¬
anstalteten geistlichen Concerte kamen neben mehren Orgelstücken (Sstimm. Fuge von
Bach, L tiur, und Fantasie von Schcllenbcrg) eine Cantate von Seb. Bach (O Ewig¬
keit, du Donnerwort ze., Ausgabe der Bachgcsellschaft, S. Band, letzte Cantate) und
Wilsings Psalm (Aus der Tiefe ze.) für i größere, i kleinere Chöre und Orchester
zur Aufführung. Je seltener in unserer Zeit größere polyphonischc Werke geschrieben
werden , um so größere Aufmerksamkeit mußte dieses erregen, und freundschaftliche Kri¬
tik hatte auch schon nach Kräften gewirkt, um den Ruhm des Autors zu verkünden.
Die so hoch gespannten Erwartungen hat die Vorführung des Werkes nicht in jeder
Weise befriedigt, am meisten deshalb nicht, weil die Wirkung dem beabsichtigten Zwecke
gänzlich entgegengesetzt war und das in den Vordergrund gestellte polyphonische Ele¬
ment nur in den coutrapuuktischen und sugirten Sätzen hier und da bemerklich wurde.
Es ist kein Zweifel, daß mit Benutzung von i- Chor- und 4 Solostimmen, unterstützt
durch dos Orchester, eine gleiche Wirkung erfolgen muß. Noch kommt hinzu, daß das
Orchester, obwol eine gute Hilfe für die Gesangchörc, doch uur dahin wirken kaun, die
Selbstständigkeit der. Chöre zu verdecken oder eigentlich zu unterdrücken, besonders wenn
es mit so geringer Discretion auftritt, wie dies hier so oft der Fall ist. Eine Or-
chesterbegleitung tritt in jedem Falle einem in so großem Umfange gedachten Polypho¬
nischen Werke hindernd entgegen und jede noch so sorgfältig ausgeführte Arbeit auf
dem Papiere bleibt solange eine Täuschung und am Ende sogar eine Schulmeisteret,
wenn die Wirkung sür den verständigen Hörer eine entgegengesetzte ist. Außerdem lei¬
det das Werk an einer übermäßigen Ausdehnung und besonders im ersten Satze an
einer Gleichförmigkeit des Ausdrucks und der Modulation, daß das Zuhören wirklich
eine schwere Aufgabe wird. Interessanter gestaltet sich der Mittelsalz mit den solos,
obgleich auch hier die nach einem langen dazwischen geschobenen Chorsatzc angebrachte
Wiederholung und das nochmalige Herbeiziehen des Chorsatzcs über das ästhetische Maß
hinausgeht. Der dritte, eontrapunktisch gehaltene Satz bietet viele gute Züge und läßt
den Fleiß des Componisten am meisten erkennen, er schließt aber mehre Male vollstän¬
dig ab, aber grade bei dem wirklichen Schlusse am unvollständigsten und unbedeu¬
tendsten. Wirklich geistreiche Züge und außerordentlich musikalisch diese Züge sind uns
nirgends entgegengetreten, wir können hier nichts Weiteres sagen, als daß die Stim¬
mung des Psalmen gut festgehalten und in edler, sinniger Weise musikalisch wiedergege¬
ben war, ein Vorzug, den wir hier mit großer Bereitwilligkeit anerkennen.
— In Berlin hat man ami>. October Uhlands „Ernst von Schwa¬
ben" ans die Bühne gebracht, und die dortige Kritik ist voll von Entzücken über dieses
Meisterstück. Wir glauben nicht, daß man dem edlen Dichter, dessen Lyrik ein unver¬
gängliches Denkmal des deutschen Geistes bleiben wird, mit der Wiederaufnahme eines
Stücks einen großen Gefallen ihre, das schon lange, und mit Recht, zu den Todten
gelegt war. — Zu Königs Geburtstag hat man Grctrys Richard Löwenherz aufgeführt.
Bekanntlich war zur Zeit der französischen Revolution das in demselben vorkommende
Lied: „0 liieliaicl, o mon i-ol! I'univers l'ulzainlonne!" u. s. w. das Parteilich der
Royalisten.—
Von Eduard Franke ist (Cassel, Hotop) ein drciactiges Drama erschienen:
„Der Wortbruch". Es behandelt eine Episode aus dem Vcndvekrieg -1793. —
Von Arnold Schloenbach sind erschienen: „Dramatische Werke" (Dresden,
Schäfer). Sie enthalten die drei historische» Stücke: König Gustav III., Burgund und
Waldmann, und Ein spanischer Eid. Derselbe Verfasser hat in öffentlicher Vorlesung
ein neues Drama: „Der letzte König von Thüringen" vorgetragen, welches den Kampf
zwischen dem Christenthum und Heidenthum in diesem Lande behandelt. Doch wollen
«ir mit der Besprechung auf die wirkliche Aufführung warten. —
Von Otto Roquette, dem jungen Dichter, der sich durch „Waldmeisters Braut¬
fahrt" so schnell einen Namen gemacht, ist ein dramatisches Gedicht in 3 Acten erschienen:
„Das Reich der Träume" (Berlin, Schindler). — Es zeichnet sich, wie auch die übri¬
gen Schriften des Dichters, durch das Streben nach einem correcten und edlen Stil
aus, was man in unserer Zeit sehr lebhast anerkennen muß. Die Wahl des Stoffes
dagegen ist ein Mißgriff. Es ist wieder „ein Ritt ins alte romantische Land", in
jene poetische Nebelwelt der romantischen Schule, deren Wesen darin besteht, daß sie
gesetzlos und also eigentlich mich nicht darstellbar ist. Zunächst hat dem Dichter „Kö¬
nig Mros Tochter" vorgeschwebt. Wieder ein Prinzessin-Dornröschen, die einigermaßen
behext, somnambül, nervenschwach ist, und die theils durch Liebe, theils durch verstän¬
dige Velchrnng curirt wird; außerdem Sitten und Gebräuche, die trotz der Costüm-
"ngabc auf dem Titel an keine bestimmte Zeit, an kein bestimmtes Land erinnern, für
die man also auch, was doch sür das Drama nothwendig ist, keinen bestimmten sitt-
lieben Maßstab mitbringt. Jene Erinnerung an das Drama von Herz stört um so
mehr, da dieses in der Technik musterhaft und sehr geistreich, wenn auch nicht grade
poetisch ausgeführt ist. — Möge der junge Dichter, dessen Talent auch hier an einzel¬
nen Stellen hervortritt, von diesem romantischen Leben ablassen, das man wol in
einer Zeit gelten lassen konnte, wo die deutsche Wirklichkeit sich in Jffland uns
gab und wo man in allen Gebieten fest davon überzeugt war, das Ideal liege in
irgend einem wunderbaren Jenseits. Jetzt, wo die Philosophie von diesem Wahn zu¬
rückgekommen ist, wird -sich auch die Dichtung der neuen Wendung bequemen müssen. —
— George Finlay, der sich seit längerer Zeit
mit dem Studium der byzantinischen Geschichte beschäftigt, und bereits zwei Bruchstücke
derselben veröffentlicht hat, nämlich 1) eine Geschichte Griechenlands unter den Römern
(umfassend die Zeit vou -I-!6 v. Chr. bis 717 «ach Chr.), und 2) eine Geschichte
Griechenlands von 1204 bis -Il6-I, hat jetzt eine weitere Vervollständigung dieses
Unternehmens herausgegeben: Geschichte des byzantinischen Reichs von 7-16 bis -I0S7;
ein Werk soliden Fleißes und gründlicher Forschung. — Biddnlph Parker, der sich
mehre Jahre in Spanien aufgehalten und dort eine große Vorliebe für das ncu-
spauische Drama eingesogen hat, bemüht sich gegenwärtig, wenn auch ohne erheblichen
Erfolg, für diese Vorliebe bei seinen Landsleuten Propaganda zu machen. Er hat
zu diesem Zweck ein neues Stück: „Die Blüte eines Tages" von Don Francisco
Camprodon ins Englische übersetzt, und zwar, was wir sehr vernünftig finden, in dem
herkömmlichen dramatischen Jambus (IilanK verso). Das Stück hat denselben novelli¬
stischen Charakter, den wir schon im älteren Drama finden. Don Diego und Lota sind
verlobt; am Tage der Verlobung muß Diego auf längere Zeit nach Amerika. Nach
einigen Jahren heirathet Lota einen andern, einen Marquis; Diego kehrt zurück, Her¬
ausforderung, er schont das Leben seines Gegners, unter der Bedingung, daß dieser
sich scheiden läßt, aber in diesem Verfahren entwickelt der Marquis soviel Takt, daß
Lota ihn lieb gewinnt. Die Scheidung wird nicht vollzogen, und Diego kehrt allein
nach Amerika zurück. —
— Aus den Familien - Papieren derer von H.....
Herausgegeben von einem Familiengliede. 2 Bd., Leipzig, Herbig. — Eine Reihe in¬
teressanter Ereignisse und Charakterbilder, wahrscheinlich dem wirklichen Leben entnommen,
nur leider zu lose aneinander gereiht, so daß man häufig eine Person, für die man
sich eben zu interessiren anfängt, alsbald aus den Augen verliert. Der Stil ist an¬
sprechend und natürlich. —
Die Buschmühle, oder: Aeltcrnsegen — Gottessegen. Erzählung zur Unterhaltung
und Belehrung für Jung und Alt. Von Otto bald Bischofs. Mit Stahlstich.
Leipzig, Möller. — Eine gemüthliche Erzählung mit vorwiegend moralischem Charakter
und erbaulicher Tendenz. —
Los veillvv-Z ils NoLl (Weinachtsbilder). Simxlos rviils du ko^er pour le« Mil,s
öl. les Arsnels. ?»nur Nil-o^et. Leipzig, Michelsen. — Die Haltung und
Tendenz dieser kleinen WeihnachtSbildcr ist bereits aus dem Titel ausgesprochen. Sie
zeichnen sich durch warmes Gefühl und durch eine feine, graziöse Haltung aus. Am
sorgfältigsten ausgeführt ist die Erzählung: I.<z ilei-nor lies eil-uizuux.
schön-Minncle. Erzählung von Josef Rank. Leipzig, Herbig. — Der an
das Genre der Dorfgeschichte streifende Roman enthält eine große Menge sachlicher Beo¬
bachtungen, die zuweilen den Eindruck der Naturwahrheit machen, wenn sie sich auch
meistens in einer Sphäre bewegen, deren Berechtigung innerhalb der Welt der Kunst
wenigstens fraglich ist. In dem Stil finden wir keine Verbesserung; noch immer den
Wechsel von Schwulst und vulgären Ausdrücke», noch immer Wichtigkeit der Betonung
ohne richtige Auswahl des Gegenstandes. Seite 17 wird von einem Dorfmädchcn ge¬
sagt, die sich in der Stadt als Magd vermiethen will: „Wie eine Heilige, die bedacht
ist, ihr äußeres und inneres Auge, alle ihre Gedanken und Sinne auf die reinen
Düfte ihres betenden Gemüths zu leiten, auf daß sie ohne Erdenschwere gegen Him¬
mel stiegen: also blickte Schön-Minnele gesenkten Auges vor sich hin und nieder und
ging vorüber." Wenn doch unsere Dichter endlich zu der Einsicht kommen wollten, daß
jedes Ding seine eigene Form erheischt. —
— Unsere jungen Componisten sind gewöhnlich in Verlegenheit
um Texte; sie greisen meistens zu den Liedern von Uhland und Heine, die nun schon
hundertfach componirt sind. Das ist für die Musik nicht vortheilhaft, denn aus dem
Bestreben, die Reminiscenz zu vermeiden, geht in der Regel die Neigung zu schwülstigen
oder barocken Formen hervor, wobei es nicht selten vorkommt, daß grade wegen jenes
ängstlichen Bestrebens die Reminiscenz sich um so unangenehmer aufdrängt. Und doch
fehlt es nicht an neuen guten Liedern, die nicht eigentlich in den Kreis der Literatur-
geschichte gehören, die aber für diesem Zweck sehr verwerthbar sind. So finden sich z. B.
in den „Liedern von Julius von Rodenberg" (Hannover, Rümplcr) zahlreiche kleine
Melodien, in denen die Stimmung vortrefflich gehalten ist. Die Sprache ist rein und
edel, die Weise einfach und ansprechend. Von demselben Dichter liegen uns noch vor
„der Majestäten Felseubier und Rheinwein lustige Kriegshistorie" (Hannover, Rümplcr),
und „König Haralds Todtenfeier. Ein Lied am Meere." (Marburg, Elwert). Nament¬
lich in den letzteren ist die Färbung ganz vortrefflich. — Unbedeutender sind die „Poe¬
tischen Kränze" von Emilie Leccrf (Dessau, Katz) aber es findet sich darunter doch
ein und das andere sangbare und gemüthliche Lied.
Von Simrocks trefflicher Uebersetzung des Walther von der Vogelweide
ist soeben (Leipzig, S. Hirzel) eine neue, vermehrte und vervollständigte Ausgabe
erschienen, mit einem seinen Geschmack ausgestattet, an welchem sich die gewöhnliche
Goldschnittliteratur ein Muster nehmen könnte. Wir haben sie mit der Weiskcschen
Übersetzung verglichen und geben ihr entschieden den Borzug: denn eine solche Über¬
tragung kann doch nur den Zweck haben, die alte Dichtung in der neuen Zeit ein¬
zubürgern, und das erreicht sie nur durch eine freie, verjüngte poetische Form. Daß
Walther, der liebenswürdige Sänger der Liebe und des Frühlings, auch durch seine
politischen Anspielungen auf die damalige Gährungspcrivde der kirchlichen Entwickelung
Interesse verdient, ist bekannt.—
— Transatlantische Federzeichnungen von Eduard Pelz.
1. Band. Mit einem Plane von Neuyork. — Rudolstadt, Fröbel. Es ist in diesem
Büchlein vieles für den deutschen Leser angenehm. Wir find immer der Ueberzeugung
gewesen, daß eine gesunde Natur durch die amerikanische Luft von einer Menge von
Vorurtheilen befreit werden muß, denen man in Deutschland in der Hitze der Parteiung
um zu leicht verfällt. Herr Pelz gehörte in den Jahren der Bewegung zu den ent¬
schiedensten Radicalen, der Ton aber, in welchem er hier von Deutschland spricht, ist
sehr anständig und macht ihm Ehre. Die Lebensbilder aus dem Neuyorker Treiben
(aus dieses beschränkt sich das Buch) sind gute Portraits, und die Farben, die er
anwendet, uicht übertrieben schmeichelhaft für die Amerikaner. Sehr ergötzlich ist die
Schilderung eines Abenteurers, der die demokratischen Sympathien der Amerikaner
schwindelhaft ausbeutet. Der Stil des Verfassers hat sich natürlich nicht sehr geändert;
er ist zu nachlässig. —
Goethes vaterländische Gedanken und politisches Glaubens-
bekenntniß. Frankfurt a. M., Bröuncr. — Enthält eine Sammlung der zerstreuten
Aussprüche Goethes über Politik und verwandte Gegenstände. Ob in der unerme߬
lichen Gotheliteratur bereits eine ähnliche Sammlung existirt, ist uns nicht bekannt. —
Aus der Natur. Die neuesten Entdeckungen ans dem Gebiet der Naturwissen¬
schaften. 3. (Leipzig, Ambr. Abel). — Das gegenwärtige Heft enthält folgende Ab¬
handlungen: das Nordlicht — Gasbeleuchtung — Wasser als Brenn- und Lcncht-
material — Jnfusoncn. Die Darstellung ist zweckmäßig, sehr ausführlich, aus
Benutzung der besten Quellen gegründet, und geht, was bei dergleichen das Jnteressanteste
ist, mit besonderer Vorliebe auf das Geschichtliche der Entdeckungen ein. —
— Wir haben von Seiten unserer Korrespon¬
denten verschiedene Urtheile über den gegenwärtigen Stand dieser Frage mitgetheilt;
wir wollen unsererseits uoch einige Bemerkungen hinzufügen. Wenn wir auch in dem
Verhalten sämmtlicher europäischer Mächte die uicht sehr erfreuliche» Symptome einer
Friedensliebe ü rnui, prix wahrgenommen habe», und von diesen Zeichen der allgemei¬
nen Unbestimmtheit nicht sehr erbaut sei» konnten, so müssen wir doch sagen, daß »ach
der Warschauer Zusammenkunft und nach der Potsdamer Reise des Kaiser Nikolaus
die Sachen besser stehen als früher. Preußen und Oestreich habe» de» Lockungen des
mächtigen Nachbar» widerstanden und die wirkliche, nicht blos fictive Neutralität Deutsch¬
lands ist gewahrt. Weiter hinaus konnten billigerweise unsere Hoffnungen nicht reichen,
denn die Traditionen und alten Sympathien sind immerhin mächtig genug, um dem
wirkliche» Interesse nicht einen ganz freie» Ausdruck zu verstatte». Frankreich und Eng¬
land habe» »u» freie Hand, ihre» Einfluß dahin zu wenden, daß in der Türkei die
Sachen nicht die schlimmste Wendung nehmen, »ut daß ferner nicht in Europa der
Grundsatz geltend wird: der Mächtige darf sich gegen den Schwachen alles erlauben;
el» ruchloser Grundsatz, i» dem sich die directe Politik der östreichischen Korrespondenz
und die indirecte des Herr» Cobden begegnen. Und so sehen wir der Zukunft einiger¬
maßen beruhigter entgegen.
Zu den großen Löwen- und Tigerjägern der Engländer und Franzosen,
welche am Cap, im Atlas, in Centralamerika Jagdbeute und unsterblichen Weid-
mannSruhm erworben haben, ist jetzt mich ein Deutscher in Ostindien zu zählen,
Capitän Baron von Meyern, Offizier in englisch - ostindischen Diensten, gegen¬
wärtig Commandant der englischen Militärstation Boorhanpore, an einem
Grenzfluß gegen das Penjanb. Die folgenden Mittheilungen sind ans seinem
Jagdtagebuchc und dürften nicht blos für Jagdliebhaber von Interesse sein. Wir
geben sie, wie sie uns überliefert worden, und sprechen hierdurch dem geehrten
Einsender unsern Dank aus.
„Gwalior (Maharatteustaat), 1ü. Juli -I8Ü3. Es sind eigenthümliche In-
spectionsreisen, die unsere Brigadiere hier machen. Manch deutscher Bundes-
iuspectiousgeneral mochte sie trotz seiner guten Diners darum beneiden. Von
einer Garnison zur andern geht es hier viele Tagereisen weit durch dichte Wild¬
nisse ohne Ahnung von Wegen, geschweige von Chausseen, über Stocke und
Steine, durch Jungeln, Urwald, Gebüsch, Bäche und Ströme ohne Brücken;
aber der Jnspcctionsgeneral, begleitet von seinem Gefolge, seiner Dienerschaft
und den von einer Station zur andern durch ihn eingeladenen Offizieren, mit
seinen Pferden, Elephanten und Neitkamcelen, versteht es, den Juugelu und
Waldungen ihre interessante Seite abzugewinnen, und die Beschwerden in einen
Genuß zu verwandeln, aus der Reise wird eine Jagdexpedition. Diesmal
hatte ich die Ehre, von ihm mitgenommen zu werden. Gewöhnlich wurden
den Tag zwölf Meilen zurückgelegt, Sonntag ausgenommen, an welchem wir
immer rasten und für eine Stunde Gebete lesen. Mit Tagesanbruch wird auf-
marschirt, zu Pferd und zu Fuß, auf Elephanten und Neitkamcelen — ich
habe ein sehr hübsches, beinahe schwarzes Dromedar —, und wo sich Wildpret
blicken läßt, wird sicherlich darauf gefeuert. Wenn wir gegen 8 Uhr Morgens die
vorausgeschickten Zelte, — jeder führt ein Exemplar bei sich, — erreicht hatten,
wurde gefrühstückt, mit so ein Frühstück von wilde» Schweinsköpfen und Wild-
pret aller Art ist gar nicht zu verachten! Dann ging es wieder auf »ut davon
zum Treibjage», und das nicht etwa auf Hasen oder Füchse, nein auf Tiger,
Leoparden, Bären, Elennthiere. Diesmal machten wir keine so gute Jagd wie
wir erwarteten, da in der kalten Jahreszeit die Waldungen zu dick siud, und die
Raubthiere zu sehr umherwandern, so daß man ihres Aufenthaltsortes nie sicher
ist. Auch sind diese Bestien jetzt nicht so träge, wie in der heißen Zeit, im
April, Mai und Juni, wo sie fest liegen, sondern sie schleichen sich durch den
Trieb zurück oder drücken sich unter Büsche, wo die oft furchtsamen Treiber sie
gern ungestört liegen lassen, was ich ihnen auch gar nicht verdenken kauu. In¬
dessen schössen wir doch im ganzen 1 Tigerin, 2 sehr große und 1 halberwachsenen
Leoparden, 3 Hyänen, S Bären, 14 Hirsche (Sander), 3 Neilghai und 1!i Antilopen
und Gazellen (ravinc; nichr). Eigentlich soll man bei diesen Treibjagden ans dem
Elephanten bleiben, allein ich kletterte gewöhnlich ans einen Baum oder eine»
perpendicularen Felsen, der vor dem Tiger sichert. Von solchem Stande ans
schoß ich den größten der Bären, erst durch den Hinterkopf und daun, um ihn
für die Treiber »»schädlich zu machen, durchs Herz, ebenso mehre Hirsche
in vollem Galopp und ein superbes wildes Schwein mit 8^/2 Zoll langen Hauern,
dessen halbe» Kopf, mit einer schonen Sauce präparirt, nur der Brigadier
zum Frühstück geschickt hat. Vom Elephanten ans erlegte ich eine» Leoparde».
Ich sah ihn von einem wenig bebuschten Hügel langsam vor den Treibern herunter¬
könne» »ut avancirte mit meinem Elephanten in der Richtung, wo ich ihn gesehen,
als ich ihn auf einmal unter einem Busche, kaum 3 Schritt von mir, versteckt
sand. Ich feuerte und traf ihn zwischen beide Schultern; mit zwei donnernden
Granier passirte er, wie ein Betrunkener, bei dem Rüssel des Elephanten vorbei
und legte sich nnter einen Busch, wo er erst nach einem allgemeinen Feuer auf
ihn verendete. Die interessanteste Scene gaben uns die Tigerin und eine Bärin.
Tiger und Bär sind nämlich in diesem Lande Erbfeinde. Als nun die Tigerin
schwer verwundet, sich blutend und ächzend in einem kleinen Moraste herumwälzte,
"kam, von dem Lärmen der Treiber aufgeschreckt, eine Bärin mit einem Jungen
in voller Flucht bei ihr vorbei. Aber größer noch als der Trieb zur Rettung
war in ihr der des Hasses. Denn kam» gewahrte sie ihren Feind, als sie mit
grimmigem Gebrumm ans ihn losstürzte — freilich »ur für wenig Augenblicke;
denn als sie das Blut und den kampfunfähigen Zustand der Tigerin sah, setzte
sie, gleichsam verächtlich sich abwendend, ihre Flucht fort, und wurde »ach wcmge»
Schritte» gleichfalls niedergestreckt. Dasselbe Schicksal hatte denn auch das Junge,
das sie nicht verlassen wollte.
Eine andere Jagdfahrt hatte Capitän Dcwar arrangirt, für die ich vom
1. April auf einen Monat Urlaub genommen. Ich ritt in der Nacht auf einem
Reitkameele ab, bestieg nach 12 Meilen mein Pferd, das ich als Nelai gelegt
hatte, und nach weiteren 11 Meilen meinen Pvnny, worauf ich Morgens in
meinem Zelte, bei einem Dorfe, Namens Somra, ankam. Hier traf ich mit
Capitän Dewar zusammen, und Nachmittags legten wir weitere 20 Meilen zurück,
zur Hälfte auf Ponnys, zur Hälfte auf einem Elephanten, welcher mir für diesen
Monat vom Maharaj Syajce sembla geliehen war. Unser Halt war ein Dat
Bungalow (Haus für Reisende), Namens Byrahi. Unterwegs hatte ich vom
Elephanten aus einige weite Schüsse nach Rehen gethan, genug, um dem Mahout
(Elephantentreiber, der auf dem Nacken, in Front meines Haudas, NeitstuhleS,
sitzt) Zutrauen zu geben, so daß er vor einem Tiger nicht davonlaufen möchte.
So weiter reisend, trafen wir am dritten Tage die ganze Jagdgesellschaft an: Lieu-
tenant Mac Andrew von Cawnpore, Herr Philipps von Jhansee, Resaldar Ageez
Khan, ein prächtiger Mensch. Nun fingen wir unsere Treibjagden an, Tag für
Tag, fanden aber lange gar nichts. Immer tiefer marschirten wir in die kleinen
Gebirge und Waldungen. Am 8. April schoß ich einen Sander (großer Hirsch);
am 9. verwundeten wir zwei Bären, ohne hiezu bekommen; am 11. Nachmittags
aber hatten wir interessante Jagd. Eine Tigerin war verwundet worden, sie ließ
vier Junge in der Höhle zurück; zwei davon wurden leider von einem Sepoy
erschossen, die beiden anderen aber — einer mit abgeschossenen Schwänze —
gefangen; wir selbst gingen während dessen ans unseren Elephanten an dem mit
Gras und Büschen bedeckten Rande eines Abhangs der Tigerin nach. Zwei oder
dreimal wüthete sie dicht bei uns herum, und als sie ans Philipps Elephanten
lossprang, wurde sie nochmals von ihm verwundet nud verkroch sich baun unter die
Büsche. Während ich nun so der Tigerin nachsuchte, treibe ich einen großen
schwarzen Bären auf; der Bursch kommt auf mich los und hält 6 Schritt vor meinem
Elephanten hinter einem Busche; ich feure, und auf meine Kugel stürzt er auf
den Bauch und schreit und brüllt wahrhaft fürchterlich. Das gefiel meinem
Elephanten aber gar nicht; kaum hatte ich Zeit, »och einen Schuß zu thun, als
er wie toll über Stock und Stein, Hügel und Abgründe hinunter, davon lief.
Nichts konnte ihn zum Stehen bringen; vergebens brach ich ein Gewehr über
seinem Kopf; erst nach einer Meile ging er ruhiger, und nach vier Meilen erst
brachte ich ihn zum Stehen. Nachdem ich mich aus einer kleinen Quelle unter
einem Feigenbäume voller Früchte erfrischt hatte, ritt ich, bei Sonnenunter¬
gang, um nicht zu spät zu den andern zu kommen, in kürzester Direction zurück.
Dabei trug mich der Elephant über eine fast perpendiculare Felswand von wol
100 Fuß Höhe; es ist wunderbar, wie dieses kolossale Thier überall, wo ein
Mensch steigen oder gehen kann, mit seiner Last fortkommt; er unterstützt sich und
erforscht den Grund mit seinem Rüssel, kriecht, wo es zu steil ist, auf den
Hinterbeinen, bricht Bäume und Zweige danieder, wo sie im Wege sind und
überwindet sicherer alle Hindernisse des Bodens, als ein. Gebirgspferd. So kam
ich denn glücklich zu unserem Nachtquartier zurück, wo ich zu meinem Aerger
erfuhr, daß sich mein Bär noch in eine Felsenspalte verkrochen hatte., aus der
er nicht herauszubringen gewesen war^ —- Am 14. erlegten die anderen zwei
Bären; leider trug sich jedoch ein Unglück dabei zu; beide Bären waren blos
verwundet; der größere fiel einen Treiber und einen meiner SepvyS an; der
Sepvy, der gegen mein Anrathen sein Bajonnett nicht mitgenommen hatte, traute
seinem schlechten eisernen Pnlwar (Scimetar) und wurde, da die Klinge sich bog,
mit Bissen und Krallen furchtbar an Hand und Schulter beschädigt; der Treiber
aber kam noch schlechter davon. — Am 17. schoß ich von einer Felsenwand in
Gemeinschaft mit Mac Andrew einen schonen Tiger, nicht sehr lang, aber
ungeheuer mächtig, ans SO Schritt. — Am 19. trieben wir eben das Bett eines
kleinen Flusses, welches mit schönen grünen Sanmvutecbüscheu bedeckt war, um
»ach einem Tiger zu suchen, den wir verwundet hatten, als ich in der Entfernung
zwei kleine Thiere sah, die ich für junge Tiger hielt: ich that einen Schuß und
fehlte — was aber erblickte ich!: In kurzer Entfernung, ungefähr 200 Schritt
vor mir stand, den Kopf aufgerichtet und fest wie aus Felsen gehauen, ein süperber
hoher Löwe. Sofort rückte ich aus dem Elephanten gegen ihn an, als plötzlich
ein anderer, noch größerer Löwe mit gewaltiger Mahne ans einem Busche, ungefähr
SO Schritt vor mir, aufsprang und in mächtigen Sätzen davoneilte. Ehe ich den
Elephanten halten und zum Schuß kommen konnte, war er schon über 100 Schritt
entfernt; meine Kugel traf ihn in den Vvrarm, aber nicht hinreichend, und
mein zweites, eben a»f die Jungen abgeschossenes Rohr, war leer. Nach wenigen
Augenblicken mußte ich ihn im Walde verschwinden sehen! Noch immer aber
stand der erste Löwe da. Auf ihn versuchte ich es mit der Doppelflinte, aber,
wie ich befürchtete, fiel die Kugel zu kurz, und nach vergeblicher Verfolgung
von über drei Meilen waren beide für immer verschwunden. Nun erst fiel mir
ein, daß die Jungen, welche ich gesehen, junge Löwen gewesen sein möchte».
schleunigst schickte,ich daher meinen Diener mit einem Sepvy und mehren Treibern
vorauf, um sie auszusuchen; aber zum Unglück hatten die Leute, noch ehe ich
selbst kam, den einen schon gefunden und ihn, als er zähnefletschend sich gegen sie
umwandte, mit BambnStnitteln erschlagen; den andern aber suchten wir ohne
allen Erfolg. In den nächsten Tagen wurden einige Bären und el» Sander
geschossen. Am 23. hatte ich mich ein wenig von den anderen separirt, als ich
plötzlich eine reguläre Kanonade hörte und de>S Feuer von dem Elephanten sah.
Von einem Kuhhirten insttnirt, hatten sie in einer buschige» Felsemvand zwei
Leoparde» n»d drei Bäre» zusammen gefunden und el»e» Bäre» »ut eine»
Leoparden davon erlegt. Gage» Abend setzte ich mich ans einem günstige» Platze
auf de» Anstand. Nach kaum einer Viertelstunde höre ich die Bewegung eines
Steines und spanne meine Büchse; plötzlich sehe ich vor mir etwas Schwarzes,
wo es vorher weiß war, und schicke, ohne mich zu bedenken, eine Kugel hin —
da seufzt es tief und stürzt todt nieder; was war es? kein anderer, -als Herr Braun
und zwar ein Riesenexemplar, lebendig ohne Schwanz (weil er nämlich keinen hat),
3 Fuß 9 Zoll lang, der größeste Bär, den man hier gesehen. Die Haut mißt
7 Fuß 2 Zoll.
Meine Trophäen aus dieser Jagdexpedition sind: die Tigerhant, die Bären¬
haut und die kleine Löwenhaut. Die Tigerhant ist leider wieder von ungeschickter
Gerk'erbaut verdorben; auf die Bärenhaut dagegen werde ich mich mit eurer
Erlaubniß bald legen und aus der Löwenhaut wird, wenn gut präparirt, ein
Muff nicht übel sein. Eine vierte Trophäe endlich besteht aus einem jungen
Papagei, von guter, grün und rother Art, dem ich nächstens deutsche Stunden
zu geben, und von dem ich darin das wieder zu lernen gedenke, was ich, wie ihr
merken werdet, bereits vergessen habe.
Bvorhaupore. In den ersten Tagen des Juni ging ich mit einigen meiner
Sowars bis 20 engl. Meilen von hier zu den Usern des Pvorna, um Treibjagd
ans Tiger zu machen; da wir keine fanden, wurde Zuflucht zu einem andern Mittel
genommen. Wir banden Abends eine« zahmen Buffalo an einen Baum, und
richtig, am andern Morgen fanden wir ihn erschlagen und halb aufgezehrt. Nach¬
dem ich mich so meiner Sache vergewissert, ließ ich mir sofort aus Laub und
Strauchwerk eine Laube machen und bewachte, darin versteckt, deu Carcaß den
ganzen Tag — vergebens, die Tiger waren zu vorsichtig; nur einmal hörte ich
sie in der Ferne brüllen. Gegen Abend aber hatte ich eines der merkwürdigste»
Schauspiele. Wir kennen wol die Sage unter deu Eingeborenen, daß der Tiger
und der Pfau große Freunde seien, und wissen auch, daß beide oft zusammen
gefunden werden, allein die Freundschaft war mir doch bisher sehr zweifelhaft
gewesen. Gegen Abend sah ich nun plötzlich zu meiner Linken zwei Pfauen ans
dem Dickicht treten, die bald, wie sich selbst bewundernd, still standen, bald ab-
und zugehend, erwartungsvoll nach dem, Waldrande blickten. Dies mochte eine
halbe Stunde bis gegen Sonnenuntergang dauern, als ich mit einem Male ein
starkes Hissen hörte, von dem ich nicht unterscheiden konnte, ob es von einer
Schlange oder von einer Katze komme. Endlich zeigte sich ein Tiger, nur viel
dunkelfarbiger, als sonst Tiger sind. Er stand 200 Schritte zu meiner Linken,
sich auf eigenthümliche Art amüstrend, Deu groben Flußsand mit den Füßen
knirschend, rieb er seine Beine damit, krümmte den Rücken zu großer Höhe, den
Kops niedergebogen, die lange Zunge bis ans den Sand hängend, und schüttelte
sich dann wie ein Hund, der a»S dem Wasser kommt. Die dunkle Farbe setzte
mich in Erstaunen, doch überlegte ich mir, daß er sich wahrscheinlich im Wasser
ober Sande gerollt habe. Das merkwürdigste aber war, daß die beiden Pfauen
und bald noch mehre, wie Trabanten um ihn standen, ans ihn zugingen und
daß, wie ich deutlich sah, eiuer vou ihnen unter oder an seiner Zunge etwas ans¬
pielte. — Dieses Schauspiel nun betrachtete ich beiual) eine halbe Stunde laug in
großer Ungeduld und i» der Hoffnung, der Tiger werde zu dem erschlagenen Buffalo
komme», eitlem er l'lieb, wo er war, und fuhr fort, sich mit Gymnastiks zu
amüsire». Endlich verließ ich mein Versteck und versuchte unter dem Schutze von
Bäume», ihm Schußnähe zu schleichen, allein bald verschwanden erst die Pfauen
und dann der Tiger; ich aber fühlte mich reichlich bezahlt durch das Schauspiel,
das ich gesehen und das vielleicht wenige zu erleben Gelegenheit haben werden,
Zehn Tage später gelang mir die Jagd besser. Colonel Smee und Major
Drummond von Asseerghur hatten mir ihre angenehme Gesellschaft geschenkt.
Erstern lud ich ein, mich zu deu Tigern zu begleite»; anfangs schwankte er, weil
über Nacht am 16. Juni die Regenzeit angefangen hatte, allein da es sich auf¬
klärte, marschirten wir, Zelte und Sache» vorausschickend, fort. An einem an¬
geschwollenen Fluß, der Moona, hatten wir zwei Stunden zu halten und beim
Hinüberreitcn verschaffte mir mein gutes Pferd, das über einen Felsen stolperte,
noch ein amüsantes Bad. Endlich in Shapvre angekommen, erfuhren wir, daß
i» der Nacht ein Tiger eine Kuh ans der Heerde erschlagen hatte, und daß nieine
zwei SowarS schon voransgegaiige» waren, um ihm mit zwei meiner Doppel¬
büchsen aufzulauern. Der gute alte Smee war von Ritt und Rheumatismus zu
fatiguirt, und so eilte ich allein die i> Meilen meinen Sowars uach und fand sie
auf zwei Bäumen über der erschlagenen Kuh, von der kann, ein Bissen verzehrt
war. Ich schlüpfte, ohne ein Wort zu verlieren, auf eine» dritten Ban,».
Nach kaum einer Stunde sah ich, gegen Erwarte» nicht vor mir, sondern hinter
mir eine» Tiger anschleichen; ich mußte mich drehen und stieß dabei mit dem
Gewehr ein wenig aus Horn; der Tiger, ein mittelgroßer, hielt, gab ein Burrur
und verschwand im Nu zu meinem großen Aerger. Ich corrigirte nun meinen
Sitz und sah auch bald ans dem rings »»bedeckten Boden den Tiger ans dem
Banche wieder heranschleiche». scho» wollte ich einen weite» Schuß versuche»,
als viel näher ein großer Kerl Schritt für Schritt, seinen Kopf rechts und links
drehend und wie eine Ente schreitend, in gerader Linie langsam ankam; ich schoß
ihn durch Schulter und Herz und rollte ihn unter die Bänme der Sowars, welche
ihm der Sicherheit wegen »och zwei Kugel» mittheilten. Wir schickten nach einem
Wagen, ließen zwei Leute dort und kehrte» verg«ügt nach Shapvre zurück.
Nachdem wir hierauf in zwei Regentage» fünf Chcctuls und einen Hirsch
mit laiigem, schönem Gezweige geschossen, anch ein kaum 3 Tage altes Cheetul
im hohen Grase lebendig gefangen hatte» (eine Ziege nimmt sich seiner jetzt mütterlich
an), verließ mich Oberst Smee wegen stärkerem Rheumatismus. Ich niber schickte
von neuem zu den Knhherden und erhielt die Nachricht, daß sich wieder Tiger
gezeigt hätten. Unverweilt eilte ich mit einem Sowar trotz Schlamm und Regen
zu dem Platze, wo eine erwürgte Kuh lag, und da nahebei keine Bäume
wäre», zogen wir sie ungefähr 60 Schritt weiter in die Nähe von zwei großen
belaubten Maua-Bäumen, schlüpfte» auf dieselben so hoch als wir konnte», hielten
ein Stückchen Wachstuch über die Percnssivnskappe» und machten uns „fertig".
Es war nahe an Sonnenuntergang, und nicht lange, so sah ich auch eine Ti¬
gerin kommen. Sie ging langsam grade auf den Platz zu, wo die Kuh zuerst
gelegen hatte; als sie aber ihren Irrthum gewahrte, änderte sie ihre Manier
ganz und gar — sie hielt, horchte, drehte sich, umkreiste seitwärts meinen Ban»,, in
der vorsichtigsten Weise fortschreitend, und versuchte dann, ans den Zehen stehend,
mit aufgerichtetem Nacken und Kopfe, dnrch das Laub zu spähen; wie sie so da¬
stand, das Haupthaar mit großem, langem Backenbart unter den Ohren, z» Berge
stehend, sah sie ans, wie wenn der Vollmond zwei Spitzohren trüge. Allmälig
naher gekommen, stand sie endlich nur noch dreißig Schritt von mir und wollte
eben mit aufrechtem Haupte die Zehe noch einen Schritt vorwärts heben, als
sie im Moment mit einem regulären Flapp todt auf die Seite kam — meine
Kugel hatte ihr das Genick gebrochen; eine zweite Kugel meines Sowars ging
ihr noch dnrch Bauch und Rücken. Sie hat die schönste, obgleich nicht sehr
große Haut, die ich je gesehen, nicht strohfarbig, wie sonst die Tiger, sondern
röthlich dunkelgelb mit vielen kohlschwarzen Streifen und Punkten, und schnee¬
weiß unter dem Leibe. Die Haut mißt zehn Fuß; ich habe die größte Schwie¬
rigkeit gehabt, sie zu präpariren; drei Tage lang tauchte ich sie in Alaun und Salz,
streckte sie dann aus und bedeckte sie mit gestoßener Kreide oder auch mit Saffran;
das Trocknen mißlingt in dieser Jahreszeit sehr leicht.
Bald darauf horte ich wiederum von einem Tiger, der zwei Bullochseu getödtet
habe, und zog mit 6 Sowars und 12 Treibern nach ihm aus. Kaum war ich
am Orte, wo er sich aufhielt, angekommen, so sprang er dicht zwischen zwei Sowars
durch; sie feuerten von ihren Bäumen, er überschlug sich, aber galoppirte weiter;
auch ich schickte ihm noch einen weiten Schuß nach, worauf er sein zweimaliges
Gebrüll ausstieß und verschwand. Vergebens verfolgten wir seine Bluispur, bis
durch Zufall einer von meinen drei Dienern, die an einem Hügel beisammen
saßen, das Gebrüll des Tigers täuschend nachahmte, um die Treiber zu er-
erschrecken, und sofort zum eigenen Schrecken von dem wirklichen Tiger Antwort
hielt. Dicht bei ihnen ans dem Gebüsch springend, verschwand derselbe in einer
Nulkas (Schlucht) — ich sprang sofort, ihm den Weg abzuschneiden und sah dabei
einen prächtigen schwarzgezeichncten (black tÄLLÜ) Tiger ruhig des Wegs schreitend.
Ich schoß und traf ihn durch die Schulter, da setzte er mit zweimaligem furcht¬
baren Gebrüll anf mich ein, daß ich kaum das „8-rupe <M pone" rufen und wir
alle uns aus die Bäume retten konnten. Bald darauf sahen wir deu Tiger auf
der freien Ebene; da es aber zu gefährlich gewesen sein würde, ihm jetzt nach¬
zugehen, so verschoben wir es bis aus den nächsten Tag und kehrten einstweilen
ins Cantonnement zurück. Am andern Tage fanden wir den Tiger fast an der¬
selben Stelle im Gebüsch, trieben ihn in eine Nulkas und bestiegen Bäume am User,
um ihn zu erspähen. Mein Svwar sah ihn zuerst und feuerte; der Tiger machte
einen 20 Fuß hohen Satz aus Ufer, da streckte ich ihn mit einer zweiten Kugel
nieder. Es ist ein enormes Thier; die Haut mißt mit dem Schwanz 11 Fuß,
und die Muskeln seiner Schulter sind so hart und dick, daß die erste Kugel nur
durch eine Schulter gedrungen war, und nicht, wie sonst bei einem Buffalo, durch
und durch. Die Haut bereite ich selbst.
Für die nächsten fünf Monate hat die Jagd ein Ende, da man der Ge¬
sundheit halber nicht in die Waldung darf.
Auf die frühere Ebbe in den Gefängnissen Preußens ist eine so überströ¬
mende Flut gefolgt, daß sich an diese Erscheinung Staunen und Befremden knüpfen.
Mögen auch die Straßen deS Landes, die Schlupfwinkel des Verbrechens gereinigt sein,
so liegt doch die Frage nahe, ob in diesem Lande die Achtung vor dem Gesetze
geringer geworden, das sittliche Gesammtbild der Bevölkerung verändert und etwa
die Gesellschaft genöthigt sei, außerordentliche Mittel anzuwenden, um sich in ihrer
gefährdeten Grundlage zu stärken und zu befestigen. Folgen wir deshalb ruhig
und leidenschaftslos der Erscheinung und versuchen wir die nach und nach einge¬
tretene Ueberfüllung der Gefängnisse in ihren Gründen z» erkennen. Zwar liegen
uns ans dem vorigen Jahrhunderte keine Tabellen der preußischen Criminalstatistik
vor und auch für die Gegenwart sind diese nicht wie in Frankreich veröffent¬
licht worden, indeß würde anch die übersichtlichste Zahlenreihe die Vergleichung
zwischen der frühem und jetzigen Zeit nicht deutlich hervortreten lassen, da die
Sicherheits- und Rechtspflege eine völlige Umgestaltung in Preußen erlitten hat.
Wer diesen Gesichtspunkt nicht festhält, gelangt anch nach andern Seiten zu
ganz falschen Resultaten. Als so Jemand vor längerer Zeit die Vergehen und
Verbrechen in Preußen „lawinenartig" anschwellen sah, kam er bei einer Parallele
zwischen der Criminalstatistik Preußens und Rußlands zum Resultate, daß dieses
Land trotz seiner größeren Bevölkerung, seiner mangelhafteren staatlichen Einrich¬
tung, weit günstiger stehe als Preußen, bis der voreilige Splitterrichter zum Ge¬
ständnisse seines Irrthums geführt wurde. Denselben Standpunkt nehmen hente
die Männer ein, welche, von kirchliche» Vorurtheilen ausgehend, in ihrem Lichte
dieselbe Erscheinung beurtheilen und die frühere Zeit in einem so verklärten Lichte
sehen, weil sie ihr so fern stehen und sie unrichtig betrachten. Die ältesten
schriftlichen Urkunden des Menschengeschlechts enthalten ans den ersten Blättern
einen Brudermord, grobe Vergehen in punel.» puncti, die Zerstörung zweier Oer-
ter, eine radical strafende Flut und wenn man die bedeutendsten Männer des
alten Bundes nach den Paragraphen eines deutschen Strafrechtes beurtheilt, so
wird man zweifelhaft, ob es die Tugenden der Heiden allein sind, welche in den
Augen eines Gerechten Laster genannt werden müssen. Und es steht zu befürch¬
ten, daß die meisten Helden des alten Testaments, an deren Thaten sich unsere
Jugend immer noch bilden soll, nach dem Maßstab unserer Gesetzgebung gemessen,
Kandidaten des Zuchthauses und Zellensystems werden müßten. Wer mit der
culturhistorischen Geschichte aller Zeiten ein wenig vertraut ist, auch die Mühe
nicht scheut, die saftigen Buß- und Strafpredigten der hervorragendste» Kanzel-
redner der letzten Jahrhunderte zu lehren, wird über die sittliche Reinheit der
Väter richtigere Vorstellungen gewinnen.
Fassen wir nun unsere Aufgabe näher ins Auge, so läßt sich die wachsende
Zahl der Strafgesaugenen, namentlich in den preußischen Zuchthäusern, als eine
Folge der großen Umgestaltung aller Verhältnisse in Preußen seit dem Jahre
1807 genau crkcuiieu. Vor dieser Zeit standen unter den Fahnen viele beschol-
tene Menschen, welche ans den verschiedensten Ländern herstammten. Sie bewie¬
sen ans dem Schlachtfeld?, daß Todesverachtung und Tapferkeit mit einer »»sitt¬
lichen Lebensanschauung oft vereinigt sind. Körperliche Züchtigungen, besonders
das Spießrutheulaufeu, die Einstellung in die Garnisonregimenter ersetzten die
Gefängniß- oder Zuchthausstrafe. Die Familien und Communen befreiten sich
damals durch Einstellung in die Armee ihrer sittlich heruntergekommenen Ange¬
hörigen, wie man sich heilte durch Auswanderung von ihnen zu befreie» sucht.
Die meiste» Hinrichtungen kamen damals in der Armee vor. Nach der Umge¬
staltung des Heeres blieb dieses keine Fontanelle mehr und was sittlichen Banke¬
rott machte, füllte allmälig die Gefängnisse.
Die Verwilderung, als eine Folge jedes Krieges, ließ auch nach den Be¬
freiungskriegen einen kleinen Theil der entlassenen Soldaten zu einem geordneten
Leben nicht zurückkehren und die dnrch den Krieg entstandene Verarmung wirkte
hier und da nachtheilig auf die Vermehr»ng der Verbreche».
Mit der Stein-Hardenbergschcn Reorganisation des Staates veränderte sich
völlig die Lage der Bevölkerung. Unter der Leibeigenschaft, bei der strengen
Scheidung von Stadt und Land, konnte von einer Freizügigkeit, einer freien Wahl
der. Arbeit und des Berufes nicht die Rede sein. Die an die Scholle gebunde¬
nen Bewohner des flachen Landes standen unter der Botmäßigkeit ihrer Grund-'
Herren. Das alte Jn»u»gswese» mit seinem Zwange, die Zoll- und Handels¬
schranken hinderten außerdem die freie Bewegung nach allen Seiten und mit
Aufhebung dieser unnatürlichen Fesseln trat ein Kommen und Gehen, ein Steigen
und Sinken, ein Berühren und Abstoßen ein, durch welches Ackerbau und Industrie,
der Wohlstand des Volkes gefördert wurden. Wenn auf diesem Felde der Arbeit
auch ein Theil der Kämpfer zu Grunde ging, in seiner materiellen Verstümmelung
in Armenarbeitshäusern und Gefängnissen untergebracht werden mußte, so ist es
nicht ausfallend, daß diese Anstalten die letzte traurige Versorgungsanstalt für die
gesunkenen Invaliden der Arbeit blieben.
Im einzelnen führte die Verbreitung der Schreibekunst, des Steindruckes,
der Lithographie und anderer hierhergehöriger Kunstfertigkeiten zur Fälschung von
Staatspapieren, Banknoten und Wechseln, welche erst in der neuern Zeit ange¬
fangen habe», eine so wichtige Rolle zu spielen. In einem der bedeutendsten
jetzigen Handelsplätze Deutschlands war nach dem französischen Kriege ein Wechsel
ein selten vorkommender Gegenstand, heute ist er bereits als Tauschmittel in die
Dörfer eingedrungen. Mit der Ausbildung der Lieferungsgcschäfte, der Schein¬
käufe vermehrte sich die Zahl der Bankerotte, die Sorge für die Erhaltung
eines ehrlichen Namens kehrte sich bald uicht mehr an den Makel eines Banke-
rotts, er gehörte wie eine Verlorne Schlacht oft zu den Mitteln desto kühner und
dreister wieder hervorzutreten.
Mit den Vortheilen und dem Nutzen des Versicherungswesens, der Feuer-
und Lebensversicherungsgesellschaften trat auch bald der Mißbrauch ein. Die Brand-
stiftnngen zur Ausbeutung der Assecuranzgesellschaften mehrten sich anffallend und
wenn es nur selten gelingt, diese oft üppig und stolz von ihrem Verbrechen leben¬
den Brandstifter aller Stände zur wohlverdienten Strafe zu ziehen, so haben doch
die erfolgten Verurtheilungen beigetragen, die Zuchthäuser mit langzeitigen Ge¬
fangenen zu füllen.
Vor der von uns geschilderten Zeit seinen die meisten Menschen bei dem
schlechten Zustande der Landstraßen nicht über den Jahrmarkt der nächsten Stadt
hinaus, nach dem Baue der Chausseen und Eisenbahnen wurde ein großes Ge¬
biet für die Arbeit und den Verkehr erst zugänglich. Mit der Erweiterung des
Blickes für den redlichen Erwerb schärfte sich zugleich das Auge, diese Neiseer-
leichteruug auf unredliche Weise auszubeuten. Schon die öffentlichen Arbeiten
an Eisenbahnen und Chausseen zogen viele Arbeiter aus allen Gegenden an sich,
ein nicht kleiner Theil wurde deu gewöhnlichen Verhältnissen entwöhnt, der höhere
Arbeitslohn hatte sie bei Entfernung vom häuslichen Herde die einfache und
billige Hauskvst aufgeben lassen, der Gedanke an die in der Entfernung schlechter
lebende Familie trat in den Hintergrund und die Nachtheile dieses Lebens wirkten
nach Aufhörung der öffentlichen Arbeiten sichtlich auf die Vermehrung der Ver¬
brechen ein.
Der frühere Zustand der Verkehrsmittel machte Handels- und Börsennach¬
richten nnr auf kostbare und schwerfällige Weise deu Geschäftstreibeubeu zugänglich,
wieviel Korrespondenz ersparen jetzt die Zeitungen; die Cours-, Börsen- und
Marktberichte verbreiten sich jetzt anch in das Haus des kleinen Landmannes, die
Fieberhitze und der Frost ans einer großen Börse verbreitet sich durch die Drähte
des Telegraphen über den ganzen Körper der Geschäftswelt, Schwindel- und Wech-
selfieber verbreiten sich gleichmäßig und die Eisenbahnen erleichtern im Guten und
Bösen die Benutzung dieser glücklichen Veränderung. Der Schwindler, der Gau¬
ner, der Betrüger, der Dieb findet ein reiches Feld seiner Thätigkeit, er sucht
nicht selten en xros zu arbeiten und beim Fehlschlagen seiner Thätigkeit öffnet
sich ihm die Zelle.
Von wesentlichen Folgen für die Ueberfüllung der Gefängnisse waren in
Preußen jene weitgreifenden Maßregeln, welche die Anhaltspunkte für die
selbstständige Existenz der kleinen Leute zerstörten, so daß diese in saurem Kampfe
um das liebe Brot in Kollision mit dem Gesetze geriethen. Solche Maßregeln
waren die Gemeindethcilnng und Separation. Viele kleineLeute benutzten iudenStäd-
ten und ans dem Lande die gemeinsame Weide. Des Morgens trieb der Kuhhirt, der
Schäfer, der Ziegenhirt, der Gänse- und Schweinehirt ins Freie, in die Eichel- und
Bnchcnmast der Wälder trieb man das Borstenvieh. An das Gedeihen einer Znchtsan
mit ihren Ferkeln, an das Fettmachen eines Schweines, an das Aufziehen einer
Mandel Gänse knüpfte sich die Gegenwart und Zukunft eiuer Familie mit an, mit
der Aufhebung der gemeinsamen Weide wurde der früher aus der Viehzucht ge¬
zogene Nutzen beschränkt oder aufgehoben und die Folgen blieben nicht ans. In
Pommern ist uns eine kleine Stadt wohl bekannt, welche dem Gerichte von Jahr
zu Jahr lästiger wird, die Verwaltungsbehörden belästigt und die Umgegend im
Winter durch Betteln beunruhigt, der Ort zeigt diese traurige Physiognomie erst
seit dem Beginne der von uns angegebenen Veränderungen.
Auch die wachsende Vereinzelung menschlicher Wohnungen hat ans die Ver-
mehrung der Verbrechen eingewirkt, da ihre ungeschützte Lage von außen zu Ver¬
breche« anregte und ebenso ihre Bewohner bei der fehlenden Controle, ungestörter
gegen Entdeckungen, Felddiebstähle, Einbrüche ze. in der Nähe und Ferne auszu-
führen versuchte».
Mit dieser Umgestaltung der socialen Verhältnisse ging eine angemessene Um¬
gestaltung der Polizei und Rechtspflege Hand in Hand, der strafende Arm wurde weit¬
greifender nud kräftiger. Früher vereinte» in den kleinen Städten und Dörfern die
Magistrate und Gutsherren die Polizei und Rechtspflege, viele Vergehen wurden
ohne ein ordentliches Gerichtsverfahren bestraft, körperliche Züchtigungen vertraten die
Freiheitsstrafe, viele Verbrechen wurden nicht zur Abnrthcilung gebracht, da eine
patriarchalische Polizei in ihre» Leistungen mit der heutigen nicht gleichgestellt werden
kann. Die Nachbarstaaten lieferten keine entsprungenen Verbrecher aus und erst
durch besondere Verträge suchte mau diesem Uebelstande abzuhelfen, da man als
Vergeltung für diese Humanität die entsprungenen Verbrecher anderer Staaten
aufnahm.
Durch die Bestrafung des vierten Diebstahls mit lebenslänglicher Zuchthaus¬
strafe veränderte sich insbesondere das Niveau der ein und ausgehenden Ge¬
fangenen so sehr, daß ein höchst unbequemer Grundstock von Sträflingen sich bil¬
dete, welche auf viele Jahre die Räume in Beschlag nahmen. Für Diebe von
Profession läßt sich eine solche lebenslängliche Einkerkerung vertheidigen, für Per¬
sonen jedoch, welche zu diesen uicht gehören, ist die Strafe viel zu hart und der
Staat hat sich mit ihnen eine schwere Last aufgebürdet, von der er sich nnr durch
das Begnadigungsrecht allmälig befreien kann.
'Als diese lebenslänglichen Züchtlinge den Znchthansdirectorcn immer lästiger
wurden, begann die große Umgestaltung des ganzen preußischen Gerichtswesens,
welche trotz der kurzen Zeit ihres Bestehens eine nicht erwartete Ueberfüllung der
Gefängnisse besonders herbeigeführt hat.
Seit der Einführung öffentlicher Ankläger in der Person der Staatsanwalte
kommen weit mehr Vergehen und Verbrechen zur richterlichen Kenntniß, weil diese
Beamte mit Eiser und Sorgfalt die Thatsachen sammeln und feststellen, welche
irgend eine Untersuchung begründen können. Wenn bei der Verfolgung politischer
Verbrecher ein blinder Eifer oft zuviel entdeckte, so wurde dnrch die Gerichte sel¬
ber die Ausgleichung bewirkt. Die vielfache und getheilte Thätigkeit der Gerichte
ließ sie früher uicht jene Erfolge erreiche», wie sie in der Thätigkeit der Staats¬
anwaltschaft so auffallend hervortritt.
Durch die Verwendung der Beweistheorie in dem jetzigen Verfahren, durch
die Einführung des AnklageprocesseS mit öffentlicher Verhandlung und Geschwor¬
nen hat die frühere Entbindung von der Instanz, die vorläufige Freisprechung
aufgehört, und während sonst gewandte Verbrecher dem strafenden Arm der Ne¬
mesis sich zu entwinden wußten, wenn die gesetzlichen Zeugen, die erforderlichen
Jndicien, das Eingeständnis) fehlte, ist ein solches Durchschlüpfen jetzt eine Sel¬
tenheit geworden.
Hat das neue Strafgesetz manche Strafen für Vergehen und Verbrechen
ermäßigt oder ganz fallen lasse» — wir nennen unter andern die Verheimlichung
der Schoa»gerschast »»d Entbindung — so sind andrerseits die Strafen für Ver¬
gehen und Verbrechen ans Eigennutz, insbesondere für Diebstahl, Betrug und
Meineid bedeutend geschärft worden, und da die meisten Verbrecher in diesem
Genre arbeiten, so liegt auf der Hand, daß die Zahl laugzeiligcr Züchtlmge sich
entsprechend vermehrt hat. Das frühere höchste Strafmaß beim ersten gewalt¬
samen Diebstahle ist von 3 Jahren auf 10 Jahre erhöht, die höchste Strafe der
Fälschung von 4 Jahren ans 10 Jahre, die des Meineides von 3 Jahre» ans
10 Jahre. Fügen wir »och hinzu, daß die Festungsstrafcompagnien z»r Auf¬
nahme von Landwehrmännern eingegauge» sind, ihr Ersatz ebenfalls den Zucbt-
hänsern zugeht, so wird man es erklärlich finden, daß jetzt Exspeclantenlisten wie
zum große» Avancement angelegt sind, »in die Aufnahme i» die Zuchthäuser zu
ermöglichen »»d daß mau jetzt Konnexionen haben muß, um dahin gelangen
zu könne».
Es entsteht deshalb schließlich die Frage, wenn das Niveau in der Ebbe
und Flut, eine beruhigende Ausgleichung zwischen ein- und abgehenden Gefange¬
nen wieder eintreten wird.
Die Strafen wegen Vergehen sollen gesetzlich in den Gefängnisse» und nicht
in den Zuchthäusern verbüßt werden. Da erstere dem Gesetze gemäß großen-
theils erst errichtet werdeu und die Zuchthäuser ihrer Räumlichkeit nach
jene vertreten müssen, so kaun eine Entleerung der Zuchthäuser erst dann eintre¬
te», wenn die ausreichende Beschaffung jener erfolgt ist. Daß die Ausführung
einer solchen Maßregel mit vielen Schwierigkeiten verknüpft sein muß, beweisen
die Einleitungen, welche von den Behörden begonnen sind. Bis dahin kann das
Zusammenleben einer Musterkarte verschiedener Gefangenen ohne strenge Zucht,
ohne ausreichende Beschäftigung, ohne eine Ausbrüche und Excesse verhindernde
Beaufsichtigung, nur traurige Folgen haben. Es läßt sich deshalb ein bestimmter
Zeitpunkt nicht angeben, in welchem die Aufnahme und Entlassung von Strafge¬
fangenen jeder Classe sich ausgleichen wird. Das Begnadigungsrecht kann in¬
zwischen eine ausgedehntere Anwendung finden, wo es Verbrechern aus Leiden¬
schaft zugutekommen darf. Daß die erhöhten Strafen selber eine Verringerung
der Vergehen oder Verbrechen durch Abschreckung bewirken werden, dürfen wir
in Zweifel ziehen, wenn wir besonders noch hinzufügen, daß bei der großen fast
beispiellosen Theuerung kurz nach der Ernte ein trüber Winter bevorsteht, der bei
der fehlenden Ausgleichung zwischen Lohn und Lebensmitteln den Verwaltungs¬
behörden eine schwere Sorge und den Gerichten eine erhöhte Thätigkeit in Aus¬
sicht stellt. Ein rebellireuder Magen ebnet bekanntlich am leichtesten den Richt¬
steig zum Zuchthause.
Unsere gute Stadt ist ziemlich uovembergrau. Der Börse ist von den
vvieutalischeu Angelegenheiten flau und matt zu Muthe, so daß selbst die trocknen
Börsenberichte fast humoristisch verwundert klingen, wenn einmal dieses oder jenes
Papier eine halbe Stunde lang „begehrt" ward, um schließlich dennoch wieder
„zurückzuweichen." Was sich politisch nennt in der Staatsbürgerschaft, ist ver¬
stimmt vom Kampfe zwischen den „Schwarzen" und „Gothaiiern", während nnr
der „Volksfreund für das mittlere Deutschland" aus seinem Bornheimer Obser¬
vatorium in demokratischer Gesinnungstüchtigkeit mit souveräner Verachtung auf
alles niederschaut, was überhaupt geschieht. Das ganze Publicum ist in Bangen
und Sorge ob der immermehr steigenden Theurung, welche übrigens hier bereits
weit über die Lebensmittel hiuausgegriffeu hat und fast jedes Lebensbedürfniß
umfaßt. Bei den Zunft- und Jnnuugsverhältuisseu, welche wieder in üppigerer
Blüte stehen, als vor -1846, ists wol natürlich. Der Consumeut ist an verhältni߬
mäßig wenige Producenten gebunden und diese sorgen dafür, daß ihre gegenseitige
Concurrenz nicht wachst. Hier bilden in der That nnr die> Messen eine kurze
Frist, in welcher man sich durch wohlfeilere Ankäufe vou Kleidern, Hausgeräth,
Geschirr ze. vor der Uebertheuerung des übrigen Jahres einigermaßen bewahren
kann. Aber dazu gehört vvrräthiges Geld und einzelnen Handwerkern, wie den
Maurern, Weißbindern, Tischlern ze. bleiben Hans- und Familieneinrichtuugen
dennoch unausweichlich verfallen. —
In dieses herbstliche Mißbehagen ist die Bundesversammlung nach dem Ende
ihrer Erholnngsmonate wieder eingezogen. Auch der Bundespräsidialpräsideut,
Hr. Prokesch Freih. v. Osten, ist nun wirklich da, nachdem ihn diensteifrige Korre¬
spondenzen hiesiger und fremder Blätter schon früher verschiedene Mal hatten an¬
kommen lassen, ohne daß er gekommen war. Diese Ankunftsnachrichten erinnerten
recht patriarchalisch an die vormärzlichen Berichte eines hiesigen Correspondenten der
A. A. Z., welcher blos von den wahrscheinlichen, bevorstehenden, erfolgten, verscho¬
benen, abgeänderten, widerrufenen Ankünften und Abreisen des Hrn. v. Münch-
Bellinghausen zu leben schien. Damals wars eine harmlose Privatspeculatiou, heute
vermuthet man weitere Absichten dahinter. Die Welt ist gar so mißtrauisch geworden
und die Revelatious der Natioualzeituug über hiesige Correspondcuzensabricatiou hat
sie nicht eben zutraulicher gemacht. Jetzt hört man nun in denselben Organen
wieder eine Menge von Dingen, zu deren unbefangener Annahme ebensowenig
Lust vorhanden ist. Vor allem gehört dazu die Versicherung, für eine neue Be¬
arbeitung des Buudespreßgesetzes sollten neue Fachmänner einberufen werden und
zwar ans den mittlern und kleinern Staaten. Damit scheint weiter nichts cachirt
werden zu sollen, als das zuversichtliche Fiasco, welches der letzten baierischen
Bearbeitung bei der Abstimmung bevorsteht, denn nur zu genan hat sich ergeben,
wie die Bestimmungen des Entwurfs uicht nur gegen die Auswüchse der Presse,
sondern gradezu gegen das gesammte Leben der Presse gerichtet sind. Aehuliche
Preßzustäude, wie in Baiern, Oestreich, Kur- und Darmstadt-Hesse», sind aber
in anderen deutschen Staaten nicht wol möglich, weil da die Presse ein Lebens¬
element ist, dessen man nun einmal nicht mehr entbehren kann. Und wenn man
außerdem auf die Handhabung der Preßbeaufflchtiguug in den genannten Staaten
hinblickt, so kauu man sich der Ueberzeugung nicht entschlagen, daß ihr propouirtes
Prcßgesetz wol ein treffliches Mittel wäre, jede literarische Stimme zu erdrücken,
die ihnen mißliebig ist, dagegen keinerlei Gewähr gebe, daß die Angriffe auf
andere politische Systeme mit gleichem Maß gemessen würden. Ebenso verhält
es sich mit dem Vereinsgesetz. Auch dieses würde nur dazu dienen, dem ultra-
montanen und Coalitiousprincip freien Spielraum zu geben, dagegen die Ver¬
einigung von Vertretern anderer Ueberzeugungen gradezu unmöglich zu machen. Im
baierischen Vereinsgesetze steht man das Vorbild. Dort können kaum drei oder
vier Menschen zusammenkommen, ohne der polizeiliche» Überwachung als politischer
Verein oder ander» Maßregelnnge» zu verfallen, wahrend die Bonifacius-, Pius-
u. tgi. Vereine ungehindert ihr Wehe» treiben, indem sie behaupten, sie seien
nicht politischer Natur. Verschiedene Zeitnngsstimmen haben es auch schon in
ihren Kritiken über die propvnirten Entwürfe ganz unumwunden ausgesprochen,
daß dieselben einfach einer neuen Machterwciterung des Cvalitions- und anti-
protestautischcu Princips die Wege bahnen sollen. Böte dazu ein norddeutscher
oder protestantischer Staat die Hand, so könnte er nur sich selber anklagen, wenn
sogar seine besten Jntentionen fernerhin ohne Fürsprache in der Presse, wie in
der öffentlichen Meinung blieben. Glücklicherweise gehört nun zum Zustandekommen
des Preß-, wie des Vereinsgesetzes, Einhelligkeit der Stimmen beim Bundestage
und vielleicht geschah es eben darum, daß dem Publicum früher vou gewissen
Seiten fortwährend eingestritten werden sollte, die Stimmenmehrheit könne ent¬
scheiden. Das demokratische Princip der Abstimmung nach Köpfen, sonst so tief
verachtet, schien doch grade in diesem Falle sich großer Beliebtheit in den mittel-
staatlicheu Regionen zu erfreuen. —
Welches die zuerst von der Bundesversammlung zu behandelnden Angelegen¬
heiten sein werden, steht wol noch nicht fest. Jedenfalls scheint aber gewiß, daß
die hiesige, sehr kleine Fraction der „Schwarzen" den Bundestag ganz direct
zur Intervention gegen unser Verfassungslebeu auffordern wird. Die diesfällsige
Eingabe liegt fertig, und von dem Präsidialgesandten soll deu betreffenden Leuten
sogar die mündliche Versicherung geworden sein, daß ihre Jntcrveutiousbitte vollste
Gewähr finden werde. So wenigstens erzählt mau sich in der Stadt. Allerdings
könnte man es östreichischerseits auch nur gern sehen, wenn die dortigen Principe
gegen die Jude» wenigstens annäherungsweise in deutscheu Staaten ihre Nachfolge
fänden. Und wenn für Frankfurt eine derartige Sentenz des Bundestags vorläge,
ließe sich wol allmälig für ganz Deutschland eine ähnliche authentische Inter¬
pretation des Artikel 16 der B. A. erreichen, worin es heißt: „Die Bundes¬
versammlung wird in Berathung ziehen, wie auf eine möglichst übereinstimmende
Weise die bürgerliche Verbesserung der Bekenner des jüdischen Glaubens
in Deutschland zu bewirken sei, und wie insbesondere denselben der Genuß der
bürgerlichen Rechte, gegen die Uebernahme aller Bürgerpflichten, in den Bundes-
staaten verschafft und gesichert werden könne." Persönlich gehört ihr Bericht¬
erstatter nun allerdings keineswegs zu deu Verehrern des jüdischen Elements im
Staatsleben. Ebenso fest ist er jedoch überzeugt, daß nur eine rückhaltlose Eman¬
cipation dessen racenhafte und in dieser Nacenhastigkeit corrodireude Einwirkung
wohlthätig für beide Theile auszugleicke» vermag. Speciell in Frankfurt erscheint
aber der Eintritt eines solchen dritten Elements in den StaatsorganisninS ganz
besonders nothwendig, wenn »usere politische» Parteien nicht allmälig vollkommen
i» co»fessio»ellen Gegensätzen aufgehen sollen.
Es ist traurig, aber es ist wahr, daß wir hier knapp an dieser Grenze
stehe». Noch vor wenigen Jahre» war eine derartige Scheidung fast unbekannt.
Einer Ihrer Eorrespo»de»ten vom Main hat n»n neulich geäußert, man dürfe
eS Herrn Beda Weber nicht zum Vorwurfe machen, daß er in seinen „Charakter¬
bildern" sowol „Uebertreibungen und gemeine Ausfälle", als bcwcislose Ver¬
dächtigungen von Personen, unwahre Datirungen seiner Aufsätze u. s. w. ange-
wendet habe. Solange er nur nicht als Geistlicher anch so predigt, hat niemand
ein Recht, ihm einen Vorwurf zu machen, wenn er sich mit dem Chorrock a»es
des lästigen Zwanges entledigt, den ihm seine Kirche auferlegt." Diese Meinung
können wir nmsomeniger theilen, als grade seit der geistlichen Wirksamkeit des
Herrn Weber in hiesiger Stadt jene Spaltungen zwischen Katholiken und Prote¬
stanten ins Leben getreten sind. Ueberall trat er als Soldat der Koelssio, rrMwns
in den Vorgrund und also ist zwischen dem Geistliche» und dem politischen Par¬
teimann keine Grenze zu ziehen. Ja, wenn man der allgemeinen Meinung eini¬
ges Gewicht beilegen darf, so hat dieser Mann gradezu die meiste Schuld an
jenem Hervordrängen der confessionellen Spaltungen. Freilich „predigt" er sie
nicht von der Kanzel. Aber in der katholischen Kirche ist die Predigt überhaupt
Nebensache und die Wirksamkeit des Geistlichen als Gewissensrath und Beicht¬
vater die Hauptsache.
Es ist darum gewiß von großer Bedeutung, daß hier, wie anderwärts, das
starrkatholische Element mit dem blind reaktionären fast identisch genannt werden
muß. Und in gewisser Art ölige sich daran die Bemerkung, daß bei den Ur-
wähler zu der gesetzgebenden Versammlung (— bei welchen nach dem neuen Ge¬
setz die israelitischen Staatsbürger wahlfähig sind —) nicht nnr die starre Reaction
christlichen Stammes neben der extremen Demokratie, sondern auch die Mitglieder
der altglänbigen Judengemeinde sich der Abstimmung enthielten. So sinds aller¬
dings Minoritätswahleu geworden, aus denen die gesetzgebende Körperschaft, bis
auf die nen hiuzugewählten z Jsraeliten, in der unveränderten Gestalt ihrer vorigen
Zusammensetzung wieder hervorging. Anzufechten sind aber trotzdem die Wahlen
nicht, und ein hiesiges Blatt weist sogar nach, daß in A2 Jahren (—also auch
unter der Herrschaft jener Leute, die sich conservativ oder gar „Reformer"
nennen—) neunmal noch minder zahlreiche Minoritätswahlen stattgefunden haben.—
Daß wir noch nicht am Ende der Wirkungen in unserem Staatsleben ange¬
kommen sind, verhehlt sich niemand. Ebensowenig kann aber anch jemand
daran zweifeln, daß eine Intervention des Bundestags nnr denjenigen Principien
zugute kommen könnte, welche Südwestdeutschland immer mehr vom Gesamml-
dentschland loszutrennen und anßernationalen Einflüssen anheimzugeben streben.
Die Neutralität des Frankfurter Bodens würde bald aufhören und die Ver¬
tretungen deutscher, paritätischer, dem Fortschritt huldigender Interessen, konnten
bald nichts weiter sein, als vorläufig geduldete Gäste, Fremde, Untergeordnete.
Geschichte des Fürstenthums Montenegro Von der ältesten Zeit bis zum Jcihre 1832.
Von Alexander Andre, Wien, I. V. Wallishanser. 1833.
Das angezeigte Werk enthält in chronologischer Reihenfolge eine trockene
Aufzählung der Erinnerungen ans der Geschichte Montenegros, zusammengetra-
gen aus slawischen und italienischen Geschichtschreibern, ohne wissenschaftliche Kri¬
tik, aber mit viel Patriotismus, Das Jnteressanteste darin sind die Berichte über
das Verhältniß Montenegros zu Rußland, welche auch einige neue Notizen
enthalten.
Das kleine Bergland Montenegro, dessen serbische Bevölkerung als eine
Völkercnriosität in den letzten 20 Jahren oft von Touristen geschildert, dessen letz¬
ter Vladika als eine merkwürdige, ziemlich abenteuerliche Erscheinung in der euro¬
päischen Presse öfter porträtirt worden, fängt an, die Rolle, welche ihm dnrch
seine merkwürdige Lage und dnrch Rußlands Einfluß zugetheilt worden ist, auch
in der Lösung der orientalischen Frage zu spielen. Während man dnrch Jahr-
hunderte die Montenegriner ungefähr so betrachtete, wie die Türken selbst noch
hente thun, als eilten Stamm von Heiducken, von Nindviehdiebcn und Kopfab¬
schneidern, hat mau in neuester Zeit angefangen, ihnen sogar eine größere politische
Bedeutung und eine kräftigere Volkspersönlichkeit beizumessen, als sie beauspruchen
können. —Sie selbst haben sich in ihrer Weise tüchtig gerührt, um sich alö Vvlknud jun¬
ger Staat zu legitimiren. Bereits seit dem Jahre 1711 wurden ihre Raubzüge und
Kämpfe gegen die Türken von Nußland offen oder heimlich unterstützt, diese Unter¬
stützungen verwandelten sich allmälig in ein festes Schntzverhältniß, welches den russi¬
schen Einfluß auf sichere Grundlage, eine jährliche Subvention, brachte. Aus
Petersburg erhielt der Vladika den größten Theil seiner Einnahme, dort wurde
er zu seiner geistlichen Würde geweiht. In der neuesten Zeit hat Rußland
Montenegro als unabhängiges Fürstenthum anerkannt und sich ein ergebenes
Fürstengeschlecht dadurch begründet, daß eS die wirkliche Herrschaft von der ober¬
sten geistlichen Würde trennte, und dadurch eine Succession in gerader Linie
möglich machte.
Gegenüber diesen schlauen Maßregeln Rußlands hatte Oestreich bis auf die
neue Zeit mit den türkischen Slaven nichts zu machen gewußt, seine Politik war,
deu Sltttvs quo in der Türkei zu erhallen, und die östreichischen Autoritäten in
Cattarv sehen mit nichts weniger als mit freundlichem Blick ans die unzuverlässigen
Nachbarn. Jetzt aber ist ein Plan in Oestreichs Verfahren sichtbar. Zunächst,hat es
erkannt, daß die schwarzen Berge aus dreifachem Grunde auch für seine Politik von
Bedeutung sind; erstens deshalb, weil sie bei jeder Operation gegen die Türken
unentbehrliche Verbündete werden müssen, dann, weil sie ein Mittelpunkt sind für
die christliche Volksbewegung, welche jetzt in den türkischen Slawenländern unauf¬
haltsam gegen das Leben der Pforte arbeitet, und endlich, weil die Herrschaft über diese
Berge, welche naturgemäß nutcrOestrcichS Einfluß stehen müßten, in einer nicht fernen
Zukunft die Möglichkeit gefährlicher Conflicte auch mit Nußland darbietet; denn
obgleich nicht zu zweifeln ist, daß Rußland jetzt die Montenegriner, die Herzego¬
wina und vielleicht Bosnien nud Albanien dem östreichischen Adler als Beute
überlassen würde, wenn ihm Oestreich den Besitz von Konstantinopel als Bundes¬
genosse durchsetzen Hälse, so ist doch selbst in diesem Falle die enge, mehr als
100jährige Verbindung Montenegros mit Rußland, welche durch die griechische
Religion und slawische Traditionen auch in der Zukunft erhalten werden würde,
keine augenehme Aussicht für die östreichische Politik.
Es ist gegenwärtig schwer für die östreichische Politik, mit der Sicherheit
und Consequenz zu Werke zu gehe», welche einem alten System, wie dem
russischen, möglich ist. Durch die Ereignisse der letzten Jahre ist ein neues Leben
und sind neue Grundsätze in die östreichische Politik gekommen, welche die
inneren und äußeren Verhältnisse des Staates vollständig umgestalten — eine
Menge neuer Schwierigkeiten bereite». Es sei erlaubt, diese Veränderungen hier
kurz anzudeuten.
Seit Oestreich durch die Revolution und durch die Reformen von Alexander
Bach seine mittelalterlichen Königreiche in Provinzen eines centralisirten Beamten¬
staates verwandelt hat, sind große Fortschritte in der Entwicklung seiner natio¬
nalen Kraft möglich geworden. Die alten Provinzialstände, in denen wenig
Möglichkeit einer heilbringenden Thätigkeit vorhanden war, sind über den Hau¬
sen geworfen worden, die Privilegien des Adels sind zum größten Theile ver¬
nichtet, die Hörigkeit, der Landbewohner ist aufgehoben, Frohnen, Servitutcu und
Dienste mit radicaler Energie annllirt worden, die Eigenthumsrechte des Landes
klar gemacht, die Aviticität abgeschafft, Grund und Boden vermessen, die Gerichte
neu organisirt, die Verwaltungsbeamten und der Mechanismus der Negieruugs-
maschine gekräftigt worden, die mercantilische Abgeschlossenheit gegen das Aus¬
land, sowie die der einzelnen Provinzen gegeneinander verringert. Daneben hat
das Heer durch seine Erfolge nicht nur selbst einen höchst kriegerischen und im-
ponirenden Aplomb bekommen, sondern auch den Völkern ist dnrch die Erfolge der
östreichischen Diplomatie und Geschütze etwas gegeben worden, was sie bis dahin
wenig gekannt hatten: die Anfänge eines staatlichen Selbstgefühls.
Ob es nothwendig war, das viele Gute, welches dnrch die Bachschen Re¬
formen für Oestreich gewonnen worden ist, grade ans diesem Wege zu erreichen,
ist vielfach bezweifelt worden. Auch dies Blatt gehörte zu den Zweiflern. Viel¬
fach wurde von der Opposition die Ansicht geltend gemacht, daß eine dauerhaf¬
tere Verjüngung des Staates möglich gewesen wäre, wenn man weniger centra-
lisirt und mehr der Selbstthätigkeit der einzelnen Völker überlassen hätte. Bis
etzt ist diese Ansicht durch die Praxis nicht widerlegt. Es ist wahr, sehr nöthige,
durch viele Jahrzehnte versäumte Verbesserungen sind durch die Energie eines
Einzelnen bewirkt worden; es ist wahr, daß der Werth des Landbesitzes sich in
manchen Gegenden verdoppelt hat, daß Handel und Industrie bereits jetzt einen
unerhörten Aufschwung nehmen, aber es darf doch noch gefragt werden, ob diese
mächtigen Fortschritte, weniger schnell auf weniger radicalen Wege>erreicht, nicht bes¬
sere Garantien für die Consistenz des Staates gegeben hätten. Denn das gegen¬
wärtige System ist immerhin für Oestreich theuer erkauft, es war nur durchzusetzen
dnrch einen Ausgabeetat des Staates, welcher selbst bei der furchtbar hochgespannter
Besteuerung der Unterthanen dnrch die Einnahmen noch auf viele Jahre nicht ge¬
deckt werden kann. Es war serner nur durchzusetzen durch ein vollständiges Vernichten
alles politischen Lebens in den Völkern, durch die größte polizeiliche Bevormundung,
durch einen militärischen und BeamtcndcSpotiSmus, wie er in Deutschland seit einzelnen
Erscheinungen des vorigen Jahrhunderts nicht stattgefunden hat. Es ist gelungen,
jede laute Opposition zum Schweigen zu bringen, ja auch die Stimmung der
Gemüther ist in diesem Augenblicke wenig zu fürchten. Der Adel grollt und
haßt einzelne Persönlichkeiten, aber seine Existenz ist zum Theil mit der des Kai¬
serhauses verbunden, zum andern Theil sein Wohlstand mit den verhaßten Re¬
formen. Widerwillig, aber gehorsam muß er sich der Willenskraft des bürgerlichen
Advocaten fügen. Der großen Masse in den Völkern ist so gründlich impo-
nirt, die sichtlichen Erfolge des gegenwärtigen Systems haben soviele Privat¬
interessen begünstigt, und das weiche, leicht bewegliche Gemüth der deutschen Oestrei¬
chs ist so sehr durch die geschickt zur Schau getragene Macht des neuen Krieger¬
staates angezogen, daß die einzelnen Unzufriedenen in den dentschen, ungarischen
nud slawischen Provinzen kaum »och irgend eine politische Bedeutung haben, um-
soweniger, da ihr eigener Standpunkt häufig geringere Berechtigung hat, als die
Handlungen der Regierenden. Aber alle die gegenwärtige Loyalität und Fügsam¬
keit wird die Regierung nicht schützen vor einer Erscheinung, welche überall und
zu allen Zeiten im Leben der Völker nach bestimmten, für uns erkennbaren Ge¬
setzen hervortritt, vor der Thatsache, daß vermehrter Wohlstand und vergrößerte
Ausdehnung der einzelnen praktischen Lebenskreise die entsprechende Extensio« po¬
litischer Wünsche und idealer Interessen zur Folge haben. Jemehr Wohlstand
und Selbstgefühl die Einzelnen einer Nation in ihrem Haushalt entwickeln, desto-
mehr Antheil am Staate verlangen sie. Ein reicher Adel ist noch durch Theil¬
nahme an der Prärogativen des Hofes und der Administration zu befriedigen, und
wenn er so zahlreich ist, wie z. B. in Ungarn, so bereitet schon er der Regierung
Verlegenheit. Der reiche Bürger und Bauer aber, welcher gelernt hat, dnrch
eigne Thätigkeit, und Speculation seinen Reichthum zu vermehren, macht den
Staat im Lause der Zeit unaufhaltsam konstitutionell, deun er verlangt mit im¬
mer gesteigerter Energie einen Antheil an der Staatsregierung; und dieser Wunsch
ist nicht mehr durch das Hervorheben Einzelner ans der Masse zu befriedigen.
Auch für Oestreich wird der Tag kommen, wo Reichthum und praktische Intelli¬
genz von unten heraus gegen die Regierung arbeiten werde», und so unwahr¬
scheinlich grade jetzt dem Oestreicher eine solche Annahme erscheinen mag, der
Tag ist nicht so fern, daß eine Regierung das Recht hätte, ihn als eine Even¬
tualität ungewisser Zukunft zu betrachten. Wie jede radicale That ungeahnte
Folgen nach sich zieht, so auch die reformatorische Thätigkeit der Regierung.
Sie hat mit einem Schlag die Eigentumsverhältnisse von vielen Millionen um¬
geändert, hat sie aus dem alten Gleise des gewohnten Lebens herausgedrängt,
und hat ihnen den Zwang aufgelegt, eine neue energische Thätigkeit zu entwickeln,
das alles wird seine Folgen auf den Charakter, die politischen Ansichten der
Massen still, aber mit unwiderstehlicher Kraft ausüben. Die Regierung ist im
Irrthum, wenn sie in ihren Verhältnissen ans Dank der Völker rechnet. Die
großen Maßregeln, durch welche die Einzelnen zu selbstständiger Kraft gekommen
sind, werden sehr bald von der ganzen Nation als etwas sich von selbst Verste¬
hendes, Nothwendiges betrachtet werden, n»d mir die Erinnerung wird bleiben,
daß die Regierung diese Reformen in peinlichen Krisen, im Drange der Begeben¬
heiten, nicht um das Volk zu befreie», sondern um sich selbst zu erhalte», gegeben
hat. U»d doch ist es eine merkwürdige Thatsache, daß anch die verständigsten
und kräftigsten unter den östreichischen Staatsmänner», selbst Bach, diese Gefahr
für sich und den Staat nicht sehen oder viel zu gering anschlagen. Weil die ge¬
genwärtige Opposition in Oestreich, wo sie sich etwa uoch zeigt, beschränkt, schwach
und unfähig erscheint, sind sie geneigt, ihr Kraft und Berechtigung anch für die
Zukunft abzusprechen, und weil gegenwärtig aus dem Bürger- und Bauernstand
so zahlreiche Klänge gemüthlicher Loyalität und frommes Zutrauens in ihr Ohr
tönen, sind sie in der Gefahr, auf eine vollständige und dauerhafte Ergebenheit
der Massen zu vertraue». Es ist dies el»e verba»g»ißvolle Folge ihres Systems.
Sie werden mit Zwang und Kraft fortrcgicren, vielleicht noch viele gute Insti¬
tutionen i»S Leben rufen, sicher aber für ihre Principien ein Beamte»- und Svl-
dateuheer gebrauchen, welches eine vernünftige Balance der Einnahmen und Aus¬
gaben im Staatshaushalte unmöglich macht, sie werden dadurch die wohlhabender,
strebsamer und eigenwilliger gewordene Bevölkerung fortwährend leiten, reize»,
endlich aufregen, und die Augriffe der Opposition werden wahrscheinlich zuerst bei
dem wundesten Fleck des Staates, seinen Finanzen, sichtbar werden und von da
alle übrige Thätigkeit der Negierung erfassen.
Eine vorsichtige Regierung müßte solche Erscheinungen als unvermeidlich betrach¬
ten und ihre Maßregeln treffen, die Herrschaft über dieselbe» zu behalten, uicht
durch ein schlagfertiges Heer, uicht dadurch, daß sie dem Unzufriedenen die Mög¬
lichkeit abschneidet, sich in der Presse zu äußern und das Feld parlamentarischer
Thätigkeit verschlossen hält, auch nicht dadurch, daß sie die einzelnen Lebensäußerungen
durch eine ausgedehnte, gut organisirte Polizei bis in das Familienleben hinein über¬
wachen läßt, sondern dadurch, daß sie sich die Möglichkeit offen läßt, mit den Völ¬
kern das Unvermeidliche zu vereinbaren, und an die Stelle polizeilicher Bevormun¬
dung allmälig, mo dies irgend möglich, eine freiere Bewegung der Korporationen
und Gemeinden treten läßt, ES ist wahr, daß ein solcher Fortschritt in diesem
Staate die allergrößten Schwierigkeiten hat, weil jedes Selbstregiment der Völker
auch in den kleinsten Kreisen antikaiserlich zu werden droht, denn der Patriotis¬
mus der meisten Völker ist gegenwärtig immer noch in erster Linie ein provin¬
zieller, und Liebe und Verständniß für den Staat der Habsburger sind noch durch¬
aus uicht in den Herzen der Völker herausgebildet. Auch deshalb erscheint es
der östreichischen Regierung als ungereimte Forderung, daß sie den Stämmen, welche
sie durch Diplomatie oder Waffengewalt sich vou neuem unterworfen hat, irgend¬
welche Selbstständigkeit geben soll. So wirken Haß und Verachtung gegen die
besiegten Revolutionäre und deren politische Tendenzen und Furcht vor Re¬
volutionen selbst zusammen, die Negierung des ' Staates in ihrem Wege,
und die Gefahren der Zukunft unvermindert zu erhalten. Diese Gefahren werden
sich anch durch die großen und weisen Finauzmaßrcgelu der Regierung, die Verän¬
derung der Zollgesetzgebung und die Reduction der Armee uicht beseitigen lassen.
Es ist sicher, daß die Annäherung an den Zollverein der östreichischen Industrie
in vielen Branchen einen jetzt ungeahnten Aufschwung geben wird, aber das schnelle
Neichwerden einer Anzahl vou Einzelnen ist für den Staat noch kein großer Vor¬
theil. Im ganzen betrachtet wird es der Intelligenz und Productivität des Lan¬
des trotz allen natürlichen Hilfsgnellen des Bodens, der Lage n. f. w., schwer
werden, die Concurrenz mit dem Zollverein auszuhalten. Denn der Steuerdruck,
unter welchem das Land producirt, ist un'verhältnißmäßig stark. Wenn der Erwer¬
bende von seiner Einnahme 2V, ja über 30 pCt. sür Staats- und Communal-
zwecke abgeben muß, wird es ihm auf die Länge unmöglich, bei dem billigsten
Einkauf und der besten Handelslage mit Energie und Erfolg, zu arbeiten. Selbst
die Reduction der Armee, so großartig und geschickt dieser Entschluß kam, wird
den gehofften Erfolg, Ausgabe und Einnahme in Einklang zu bringen, nicht
durchsetze». Der Staat hat in den letzten Friedensjahren ein jährliches Deficit
vou wenigstens 40 Millionen Gulden gehabt, er scheint in diesem Augenblick wieder
in der Lage, diese Summe durch eine Anleihe decke» zu müssen. Eine Reduction
des Heeres um 100,000 Ma»u kau» allerdings gegen W, vielleicht 30 M. Gulden
ersparen. Aber t'el» Staat i» Europa hat weniger Garantie, daß er die Früchte
dieser Reduction auch nur ans ein Jahr genießen wird. ES ist die Aufgabe
des jetzigen Oestreichs, stets geharnischt und in Waffen dazustehn. Und solange
das gegenwärtige System dauert, wird sich das schwerlich ändern.
Wenn es bei diesen großen innern Schwierigkeiten, mit denen die östreichische
Negierung zu kämpfen hat, derselben doch gelungen ist, durch eine zu gleicher Zeit
mäßige und energische Politik ihr Ansehn bei den Südslawen und in der Türkei
zu steigern, sich bei den Serbenstämmcn in Respect zu setzen, und der Pforte
zu gleicher Zeit zu imponiren und Zutrauen einzuflößen, so ist das ein großer und
sehr ehrenwerther Erfolg, der größten Anerkennung würdig. Und man darf
sich in dieser Anerkennung nicht irren lassen, wenn hier und da die würdige
Consequenz dnrch einen gelegentlichen Einfall, eine kleine Lanne, auf kurze Zeit
unterbrochen würde. Dergleichen kommt überall vor.
Für das gegenwärtige Oestreich wäre der Besitz der Vorländer Dalma-
tiens, die Herrschaft über Serbien, Bosnien, die Herzegowina und vielleicht Al¬
banien der Anfang einer Reihe von großen Berlegenheiten. Wenn es noch
möglich ist, Serbien bei seiner freien Cvmmunalverfassnng und verhältnißmäßig
guten Organisation mit geringen Kosten zu verwalten, so würde dagegen das dc-
pravirte Bosnien und noch mehr Albanien ans viele Jahre wahrscheinlich mehr Ad¬
ministrationskosten verursachen, als es einbrächte. Schon jetzt leidet Oestreich an
einem großen Mangel zuverlässiger Beamten und dieser Mangel erscheint häufig
seinen reformirenden Staatsmännern als das größte Leiden. Für Bosnien aber
müßte alles neu geschaffen werden, Communen, Gesetze, Behörden, Abgaben,
denn dies merkwürdige Land besitzt nichts von alle dem, was nach europäischem
Maßstab brauchbar ist. Da nun Oestreich jetzt alle Hände voll zu thun hat, in
seinem Terrain einen autokratischen Beamtenstaat man zu schaffen, so müßte es
mit Recht in dem neuen Erwerb zunächst eine Zersplitterung seiner Kräfte, eine
Quelle für Beamtencorruption und Verwilderung fürchten, die ihm grade jetzt
verderblich sein könnte. — Auf der andern Seite ist es für Oestreich unmöglich,
diese Länder in der Hand einer fremden Negierung zu sehen, welche Kraft und
Lust hat, sich auszubreiten. Denn sie werden nur durch den schmalen Küstenstreif
des östreichischen Dalmatiens vom Meere getrennt, von dem ihre ganze Entwick¬
lung, ihre schnelle Civilisation abhängt. Sie berühren an einzelnen Punkten fast
die See, und ein einziger Schritt macht sie zu Theilhabern des adriatischen Meers,
zu Nachbarn Italiens-, zu Rivalen Oestreichs in seiner Lieblingspolitik. Am we¬
nigsten aber darf Oestreich den Russen die Herrschaft darüber gestatten, denn die¬
ser griechische Staat würde, abgesehen von seinem furchtbaren Wachsthum über
Europa, auch auflösend auf die griechisch-slawischen Theile des gegenwärtigen
östreichischen Grenzgebietes wirken.
So ist die natürliche und vernünftige Politik Oestreichs: die gegenwärtige
Herrschaft der Türken über die Südslawen zu erhalten, und dem Überhandneh¬
men russischen Einflusses auf die Serbeustämme dadurch entgegenzuarbeiten, daß
es sich selbst den Serben von Zeit zu Zeit als mächtig, gebietend, einflußreich
zeigt, und dadurch die in irgend einer Zukunft vielleicht nöthige Occupation dieser
Länder vorbereitet.
Es läßt sich nicht leugnen, daß die östreichische Diplomatie für diese Zwecke
seit den letzten Jahren geschickt, und, wenn der profane Ausdruck hier erlaubt
ist, mit einer gewissen Eleganz gearbeitet hat. Nur das kurze etwas jugend¬
liche Gelüst nach der Besetzung Serbiens war eine Abweichung, welche schnell
reparirt wurde. Seit dem Streit über die Flüchtlinge, während dem böhmischen
Aufstand, in dem letzten montenegrinischen Kriege, durch die Sendung des Für¬
sten Leiningen bis zur gegenwärtigen Neutralitätserklärung ist Schritt für Schritt
das Zweckmäßige gethan worden. Und in guter Form. Die östreichische Diplo¬
matie, oft überschätzt und für schlauer gehalten, als sie grade war, hat der Tür¬
kei gegenüber ihre alten Vorzüge geltend gemacht: große Forderungen, Zähigkeit
im Behaupten, bequeme und liebenswürdige Formen im Verkehr und den An¬
schein eines harmlosen gutmüthigen Nachgebens, wenn es nicht anders sein konnte,
und dazu noch eine neue Eigenschaft gezeigt, welche dem jetzigen Oestreich eigen
ist, gewandte dramatische Wirkung.
Den heikeligen Streit wegen der Flüchtlinge hat das kaiserliche Cabinet mit
soviel Entschlossenheit und Festigkeit geführt, als ein Staat irgend aufwenden
konnte, der unter keinen Umständen als Rußlands Bundesgenosse wegen der Tür¬
kei mit England und vielleicht mit Frankreich Krieg führen durfte. Selbst als
man in der Hauptsache mit bitterem Gefühl der englischen Ansicht nachgeben
mußte, geschah das mit Würde und Haltung. Diese männliche Haltung hatte
den Orientalen imponirt; sie war das sicherste Mittel, ihre Achtung zu gewinnen.
Seit der Zeit bestand zwar für die nächste Folge noch ein gespanntes Ver¬
hältniß, das officielle Schmollen, aber bei der Pforte war die lebhafte Ueber¬
zeugung entstanden, daß es höchlich in ihrem Interesse liege, mit Oestreich wie¬
der auf besseren Fuß zu kommen. Als darauf die Hetzereien der russischen
Agenten in Bosnien und der Tod des Vladika die türkischen Südslawen zu Auf¬
stand und Krieg brachten, sah man in Wien sehr deutlich, daß es jetzt darauf
ankam, den Südslaweu zu imponiren und sich den Türken zu nähern. Oestreich
zeigte ein lebhaftes Interesse an dem Schicksal der Christen, zumal der Lateiner
in Bosnien, und nahm sogar den Anschein an, als ob ihm die Vernichtung der
Mvuteuegriuer ebenso unzweckmäßig erscheine, als den Russen. Es gab die
nöthigen Erklärungen und sendete den Fürsten Leiningen nach Konstantinopel,
um außer einigen kleinen Forderungen mildere Behandlung der böhmischen Christen
und eine Sistiruug der Feindseligkeiten durchzusetzen. Die würdige und geutile
Weise, in welcher diese Forderungen dnrch den Gesandten vertreten wurden,
machte ans die Pforte den gewünschten Eindruck. Sie benutzte die dargebotene
Gelegenheit, sich Oestreich nachgiebig zu zeigen; es fand eine entschiedene diplo¬
matische Annäherung zwischen beiden Regierungen statt und das Ansehn der
östreichischen Regierung stieg plötzlich hoch an der save und Unna und sogar in
den schwarzen Bergen.
Es ist sehr wahrscheinlich, daß die glückliche Mission des Fürsten Leiningen
die Aufmerksamkeit, ja die Besorgniß Rußlands erregte, wenigstens wurde die
unmittelbar darauf folgende brüske Sendung Menschikoffs in Konstantinopel und
anderswo als gewagter Versuch angesehen, die Wirkung dieser diplomatischen
Action zu überbieten. Was darauf folgte, ist bekannt. Die russischen Diplo¬
maten hielten die Frucht für gereift, sie waren« in bedenklicher Täuschung über
die Beschaffenheit des Moments. Die Besetzung der Fürstenthümer erwies sich
als ein übereilter Schritt.
Oestreich kam dadurch in eine schwierige Lage. Die Verpflichtungen von
-1849, der ganze Zug der Politik, fesselten an Rußland, die Interessen in diesem
Kampfe waren direct entgegengesetzt. Für Rußland war die Hauptfrage, ob es
ihm gelingen werde, Oestreich als Bundesgenossen durch persönliche Einwirkung
und die Macht der Verhältnisse fortzureißen. Auf Preußens Neutralität konnte
mau bei der genauen Kenntniß der dort maßgebenden Persönlichkeiten mit ziem¬
licher Sicherheit rechnen, Frankreichs Gewinn erschien wenigstens nicht unmöglich.
Mit Oestreich konnte Rußland einen Streit gegen England wol aufnehmen. —
In Wien war in diesem Sommer der stille Schauplatz eines geheime» Kampfes
zwischen Ost- und Westeuropa, lind es scheint allerdings Tage gegeben zu
haben, wo das östreichische Cabinet dem stürmischen Nachbar nachzugeben bereit
war. Aber bereits vor der Zusammenkunft von Olmütz hatte die Regierung sich
entschlossen, und es wird wol noch auf Jahre ungewiß bleiben, wieviel Antheil
an diesem Entschluß die entschiedene Abneigung des preußischen Gouvernements
gegen ein Bündniß mit Rußland, die zwingende Rücksicht auf die Finanzlage des
Staates oder die volle Einsicht in das für Oestreich Nützliche hatten. Genug, die
Regierung wurde fest in dem weise» Entschluß, neutral zu bleiben, und erklärte
dies in höchst wirksamer, ja großartiger Weise dnrch die Entlassung von-100,000
Soldaten.
Durch diese ruhige, beobachtende Politik ist Oestreichs Stellung entschieden
besser geworden, als sie vor dem russischen Einfall in die Herzogtümer war.
Der Staat hat seine Selbstständigkeit in der auswärtigen Politik wiedergewonnen,
er steht ans dem richtigen Boden seiner Interessen, und was Nußland durch sein
übereiltes Losbrechen, durch die diplomatischen Niederlagen dieses Sommers an
Ansehn und Einfluß eingebüßt, das fällt zum großen Theil Oestreich zu. Auch
bei den Südslaweu wird, soweit überhaupt von einer selbstständigen Politik bei
ihnen die.^Rede sein kann, diese beobachtende sichere Haltung Oestreichs »lebt
verloren gehn. Denn so roh auch dort die Masse deu KriegSlärm des Tages
beurtheilt, so habe» doch die Führer Einsicht genng, um in kurzem zu begreifen,
daß Nußland eine stille Einbuße erlitten hat, den» der Maugel großer Resultate
ist bei dei» gegenwärtigen Kriege für Rußland -eine Niederlage.
Es läßt sich nnter diesen Uniständen hoffe», daß der türkische Krieg mehr
el» blutiges Wasserspiel, als ein Terrain großer Entscheidungen sei» wird. Was
«in Todeskampf für die gebildeten Völker Europas hätte werden können, wenn
Oestreich seine wahre Politik verkannt hätte, das wird jetzt ein seltsames Phä¬
nomen, das man mit verhältnißmäßig geringem Schaden ertragen kann; ein
Wiederaufleben der Völkerkämpfe des Mittelalters. Die Welt des griechischen
Kreuzes und des Halbmonds im Streit! Auf der einen Seite die Srämme der
Slawen, die Kinder der russischen Steppe, der sibirischen Wüste, Großrusse, Klcin-
russe, Pole, Kosack, Tartar, Samojede, Tunguse, welch ungeheure Masse,
durch europäische Disciplin und die Macht eines Einzige» zusammengebun-
den! Auf der andern Seite neben dem Türken und Albanier der Barbarcske
des Mittelmeers, der Fellah des alten Aegyptens, der schwarze Abesstnier,
Araber, Kurden, Drusen, die meisten Stämme des Korans, zusammengeflossen
ans drei Welttheilen. Ans beiden Seiten ein heiliger Krieg voll Eifer und
Fanatismus.
Wenn die furchtbare Masse dahinschmilzt in unnützem Kampfe, wenn der
Winter mit seinen Leiden sie auslöst, wenn die Dämonen: Erschlaffung, Hunger,
Seuche über sie herfalle« und sie vernichten, so werden wir den Untergang vou
Tausend und Tausenden mit finsterem Blick und ohne Freude ansehen, aber daß
wir nicht selbst hingerissen werden in die Greuel eines Krieges, daß wir sicher
stehen an unserem Heerde, und unsere Hände rühren können bei der heimischen
Arbeit, das verdanken wir der verständigen Politik der deutschen Großmächte,
Oestreichs und Preußens.
Es ist schwer, sich einen Begriff zu machen, von dem was hier vorgeht, und
wer die Verhältnisse nicht genau kennt, der kann ans den Journalen, wie sie sich
über die orientalische Frage äußern, gar nicht klug werden. Die Feinde der Re¬
gierung fürchten, Louis Napoleon könnte die Gelegenheit benutzen und sich durch
seine auswärtige Politik den Halt im Innern verschaffen, der ihm trotz seiner
ungeheuren Anstrengungen bisher fehlt. Sie stehe» daher auf Seite der Russen
und verkündigen alle den Frieden. Die Börsenspeculanten, die Geschäftsleute, die
Ruheliebenden überhaupt schließe» sich begreiflicherweise auch dieser Politik an,
weil sie am meisten ihre» Hoffnungen entspricht. Die Regieruugsjournale, die
den geheimen Gedanke» Louis Napoleons ebensowenig keime» als dessen Minister,
reden der Türkei Trost zu, sie sind aber heute für den Krieg und morgen für den
Friede», jenachdem ihnen Andeutungen von oben aus gemacht worden'. Die zwei
republikanischen oder, um besser zu sagen, die zwei Journale, weiche allein die
Interessen der Demokratie verfechten, soweit dies die Negierung und ihre wach¬
same Censur erlaubt, siud nicht nur beide für den Krieg, sondern vertreten auch
die Ansicht, England und Frankreich werden die Türkei nicht im Stiche lassen.
Am entschiedensten gegen die Russen spricht sich der Univers ans, das Jesuiten¬
blatt. Es erlaubt sich mehr deun die andern Journale, weil es eine mächtige
Partei hinter sich hat und es wagt den Spaß, mit Konsequenz für das katholische
Interesse gegen die russische Hetcrodoxie in die Schranken zu treten, weil es über¬
zeugt ist, daß die westlichen Mächte ihn nicht beim Worte nehmen werden. Die
demokratischen Journale sind für die Türkei, weil sie erstens hoffen, ein europäischer
Krieg müsse den liberalen Ideen zugute kommen und weil ihre anscheinende Un¬
terstützung der Regierung in diesem Punkte ihnen einigen, wenngleich geringen
Spielraum zur Opposition in anderer Beziehung offen läßt, und man muß es
gestehen, weil die öffentliche Meinung hier wie in ganz Deutschland anch ent¬
schieden ans Seite der Osmaulis steht. Aus diesem Zusammenstoße der verschie¬
densten Interessen geht nothwendigerweise ein Chaos hervor, das nicht wenig
durch die Widersprüche in den von allen Seiten ans uns einstürmenden Nachrich¬
ten vergrößert wird. Die Confusion ist eine greuliche, und wenn man nicht
gradezu von allem absieht, was man hier liest und hört, so kann man sich unmög¬
lich zurecht finden. Die Lage der Dinge ist an und für sich verwickelt genug
und es ist auch so schwer, einen leitenden Faden in diesem Labyrinthe von sich
gegenseitig aufhebenden Thatsachen zu entdecken. Die eigentliche Lösung ist jetzt
in den Händen der beiden Armeen und so sehr anch die Diplomatie bemüht ist,
den Ausbruch der Kriegsflammen durch den Wust ihrer Noten zu dämpfen, so
ist an ihren diesfällsiger Erfolg nicht mehr zu denken. Die Frage ist blos, ob
England und Frankreich wirklich so einig sind, als uns der Moniteur bisher ver¬
sichert, oder ob Frankreich nicht vielmehr in den Fall gesetzt ist, sich auf eine ein¬
seitige Thätigkeit vorzubereiten. Wohlgemerkt, wir glauben nicht, daß, wenn
Frankreich factisch zu Gunsten der Türkei mit den Waffen intervenirt, England
sich von ihm zurückziehen könne, allein wir glauben, daß der von uns schon be¬
rührte Zeitpunkt herangekommen, in welchem es sich für Frankreich darum handelt,
so entschieden vorwärts zu gehen, daß England kein Zweifel mehr über seine Ab¬
sichten bleiben dürfe. Der Kampf ist nämlich durch den schnellen Umschlag der
russischen Politik wieder hauptsächlich ein französisch-russischer geworden. Rußland
zeigt sich plötzlich bereit, Zugeständnisse zu machen, die zur Zeit den Ausbruch des
Krieges unmöglich gemacht hätten, und es wählt zu seinem Agenten den König
der Belgier, der seiner Stellung nach am meisten geeignet ist, England zu impo-
niren und dessen Intervention, Napoleons Empfindlichkeit reizend, diesen möglicher¬
weise zu einem falschen Schritte verleiten könnte.
Daß Rußlands Bestrebungen wenigstens im Westen nicht ohne Folgen ge¬
blieben, beweist die Haltung der englischen und französischen Presse, insofern aus
ihnen russischer Einfluß zu erkennen ist. Aberdeens Partei hat neuerdings die
Kriegspartei überflügelt, und Frankreich muß nicht nur gesteigerte Jmpvpnlärität
im Innern befürchten, sondern mehr noch, im Falle eines übereilt zu Stande kom¬
menden Arrangements wieder in seine alte Isolirung, dem Auslande gegenüber,
zu verfallen. Welches daher anch immer die Endabsichten Frankreichs sein mö¬
gen, es bleibt ihm in diesem Augenblicke kein anderer Ausweg, als sich kriegerisch
zu geberden und im schlimmsten Falle in den Augen des Landes seine Ehre
zu retten. Wir sehen diese Politik auch in der That in gesteigertem Maße be¬
folgt, sowie die Presse und die Gesandtschaften in ihren Mittheilungen Fricdc-
vcrküudende werden. Ans jede neue Aussicht zum Vergleiche folgt eine krie¬
gerische Maßregel. Rußland hat eine Note angenommen: Baraguay d'Hillicrs
wird mit einem zahlreichen Gefolge uach Konstantinopel geschickt. Der König
der Belgier hat sich für die guten Absichten Rußlands verbürgt, und England
von dessen eroberungsfremden Bestrebungen überzeugt: Admiral Bruat veröffent¬
licht eine kriegerische Proclamation. Die Türken haben eine Niederlage erlitten,
und die vier Gesandten haben neuerdings ihren vermittelnden Einfluß geltend
gemacht: im Moniteur erscheint ein Erlaß, welcher die zweckmäßige Vertheidigung
der Kriegshafen im Auge hat. Das ist sonnenklar und wir können, ohne weiter
ans die Canards und Börseufinten der Jvumal- und der Privattelegraphie zu
achten, mit Bestimmtheit annehmen, daß entweder die Sache der Türken ganz
aufgegeben sei und in einigen Tagen ein Sieg der russischen Diplomatie
Europa wieder eine Ueberraschung a la Vit-rgos bereiten dürfte, oder wir sehen
Frankreich das Schwert ziehen. Mit der Temporisirnng ists nun zu Ende, die
Sache muß zur Entscheidung kommen. Welche von beiden Eventualitäten ein¬
treffen wird, ist um so schwerer zu bestimmen, als der Kaiser der Franzosen sein
altes System der Verheimlichung seiner Gedanken diesmal noch genauer be¬
folgt, als je zuvor. Was mau sich von Baraguays Jnstructionen erzählt, beweist
dies zur Evidenz. In der Umgebung des einen Ministers hören Sie, daß der
General den Auftrag habe, rasch vorwärts zu gehen und seine Menschikoffrolle
ohne Rücksicht zu spielen. Der Moniteur stehe hinter ihm und ein aliena von
zwei Zeilen, das den französischen Nationalitäten Schutz verheißt, sei im Satze.
In der Umgebung des andern Ministers flüstert man Ihnen geheimnisvoll ins
Ohr, Baragnay d'Hilliers sei geschickt worden poa- <zri Kur avec Iss ^ures.
Die Russen seien bereit nachzugeben, und man müsse den Türken den Kopf zu¬
rechtsetzen. Der General selbst sagte einem Freunde beim Abschiede: so^ox
traiuMlö, ^ korai in-rrolrizr los Inres; ein Ausspruch, der natürlich nach den
Wünschen eines jeden beliebig gedeutet werden kann. Machen Sie daraus, was
Sie wollen. Positiv ist blos die kriegerische Haltung Frankreichs, und es ist
leicht möglich, daß der Moniteur, einmal zum Schweige» gebracht, uns bald wie¬
der eine neue Ueberraschung in Bereitschaft hält. Die Frage ist jetzt, wie gesagt,
blos, wohin diese Rüstungen zielen, ob sie blos dem guten Leumund geopfert
werde», oder eine ernste Bedeutung haben.
Die Stimmung hier hat sich insofern geändert, daß man jetzt im allgemei¬
nen sich für den Orient zu interessiren anfängt, und nicht blos auf der Börse
— vielleicht aber auch, weil jetzt fast alles auf der Börse entweder selbst oder
dnrch Freunde interessirt ist. Aber auch in den untern Volksschichten fängt man
an, sich mit deu Kriegscvcntualitätcn zu beschäftigen; eS gibt fast weder oben noch un¬
ten ein anderes Gespräch, eine andere Neugierde, als was wird im Oriente
herauskommen. ES ist mit ein charakteristischer Unistand für unsere Verhältnisse,
daß, während die Journalistik seit sechs Monaten aus der orientalischen Salba¬
derei nicht herauskommt, die Masse» sich erst jetzt dafür zu interessire» beginne»,
wie überhaupt die Masse» nur dann rege werden, wenn ihr Jnstinct ihnen sagt,
daß es voraussichtlich zum Dreinschlagen komme.
So kaun auch in diesem Augenblicke kein wirkliches Kunstinteresse aufkommen,
alles wird vom Oriente absorbirt. Die Theater werden nnr leidlich besucht und
sehen dem Winter nicht ohne Besorgniß entgegen. Die große Oper und der
»me Directnr der italienischen Oper haben es am schlimmsten, wenn das öffent¬
liche Interesse von den Kunstgenüssen abgelenkt wird. Abgesehen davon, daß die
Franzosen überhaupt keine fanatischen Liebhaber der Musik sind, haben diese beiden
Institute überhaupt an Anziehungskraft verloren. Die französische Oper hat nnr
über wenig gute Kräfte zu verfügen und die italienische bringt uns neben einer
Collectio» abgesungener Stimmen noch ein abgespieltes Repertoir. Dies italie¬
nische Theater konnte sich in seinen glänzendsten Zeiten nnr als Versammlungsort
der Fashion halten, und nicht weil man die italienische Musik hier liebt, »ud doch
waren damals die besten Sänger, die das Jahrhundert auszuweisen hat, in ihrer vollen
Blüte; wie soll es uun erst werden, wo alles gegen und nichts für diese kost¬
spielige Unterhaltung spricht. Die Franzosen sind aber keineswegs freigebig für
Kunstgenüsse, und wenn schon Geld ausgegeben werden soll, so will man sich
amnstren. Der Franzose amnstrt sich aber blos im Drama, im Vaudeville, in
der Tragödie, wenn die Rachel spielt und allenfalls auch in der komischen Oper.
Mit den Concerten ist es ebenso. Das Conservatorium hat einen großen Zu¬
spruch, weil seine Concerte sich in der Mode zu halten wußten durch die Schwie¬
rigkeit, einen Platz zu finden, »ud wenn mau hente einen großen: Raum diesen
Concerten anwiese, i» einem Jahre würde die Hälfte der jetzigen Stammgäste die
classische Musik verlassen. ' Mit den Virtuoseuconcerten ist es noch viel ärger,
denn die Virtuose» kommen eben nach Paris nicht um Geld, sondern um dnrch
die hiesige Sanction in England, in Deutschland, in Rußland ihr Glück zu mache».
-Das ist bekannt hier, »ud ein Pariser sieht sie mit ironischem Lächeln an, wenn sie
ihm zumuthen, einen Logensitz zu bezahlen — hat er doch dem Künstler Ehre
genng erwiesen, wenn er einwilligt, seinem Club oder seiner Maitresse eine Stunde
zu entziehen. Seit zwei Jahren haben wirklich bezahlte Concerte nnr zwei Künstler
hier zuwege gebracht, Vienxtcmps und Wilhelmine Clanß — alle andern sind
im besten Falle auf ihre Kosten gekommen. Sie werden aus diesen Praemifsen
folgern wollen, daß die Concerte im Abnehmen sein dürften, und doch ist grade
das Gegentheil der Fall. Man gibt jetzt Concerte, wie man zu einer Zeit in
Deutschland Verse machte oder hier ein Proverb. Wer hat sich nicht wenigstens
einmal diesen unschuldigen Zeitvertreib gemacht?
Die Literatur ist auch apathisch geworden, und selbst die Nomanliteratur
scheint im Feuilleton ihren seligen Tod gefunden z» haben. Unter den unzähligen
Romanen, die täglich unter der Presse hervorgehen, ist kaum ein einziger, von dem
einige Erwähnung gemacht wird, und selbst George Sands letzte beiden Romane:
lMIeul und ZVIont roveede gingen ganz spurlos vorüber. Die geniale Schrift¬
stellerin hat auch ihre Vorliebe seit lange dem Drama zugewendet, und trotz
ihrer unentschiedenen Erfolge bleibt sie mit anerkennenswerther Beharrlichkeit ans
der zuletzt betretenen Bahn. Wir glauben, sie hat Recht, »ut sind überzeugt,
sie wird anch in diesem Zweige endlich Bedeutendes leisten. Was mich am meiste»
in meiner Hoffnung bestärkt, ist, daß George Sand unangefochten von der Kritik
das Dorfgcure solange festgehalten, bis sie es nach allen Seiten hin erschöpft
hatte. Sie sprang nicht wie die andern von der Tragödie auf die Komödie, von
der Dorfgeschichte zum Salvudrama. Mit Ansnahme der Dramen du Foyer
und der Vacances de Paudolphe, welches letztere auch nicht mehr als eine Idylle
ist — hat George Sand sich ihre dramatischen Stoffe im Landleben gewählt und
mit dem Pressoir, der trotz vieler Mängel eine höchst interessante und anziehende
Arbeit genannt werden muß, diese Phase, die nach ihr anch in die Oper über¬
ging, geschlossen. Nun will sie mit Mauprat eine neue Reihe von Versuchen be¬
ginnen, und wer sich an den merkwürdigen Roman erinnert, wird zugeben, daß
daraus allerdings ein Drama zu machen ist, besonders ein Saudisches, das zwi¬
schen Balzacs analysirendcr und der französischen überstürzenden Manier die Mitte
hält. > Am meisten Dank wissen wir es den dramatischen Beiträgen von
George Sand, daß sie sich nicht blos mit einem dramatischen Gerippe,
mit überraschenden Situationen, mit auffallenden Schlagworten begnügt, son¬
dern als wahrer Poet und Künstler auf Ausarbeitung des Details soviel
Fleiß und Liebe verwendet. Bei dem vortrefflichen Spiele der hiesigen Schau¬
spieler muß auch der halbanfmertsame Zuschauer die leiseste Intention deö Dichters
inne werden, und es scheint uns immerhin mehr der wahren Kunst würdig, dnrch
solche Mittel auf das Publicum zu wirken als durch dies grobe Fabrikverfahren
unserer dramatischen Lampieukünstler, die »ur auf die optische Täuschung eines Mo¬
mentes rechnen. Heute Abend sehen wir ein fünfactiges Drama: l^riL Mu-nov
Ä'^xrippö ä'/wbiKi^ im Theater FranyaiS zum ersten Male. Agrippe d'Aubigny
war bekanntlich ein Freund Heinrich IV., ein eifriger Hugcnot, später Flüchtling
in der Schweiz und Großvater der gottesfürchtigen katholischen Königin von Frank¬
reich, der heiligen Maintenon.
Vielleicht hat kein Land solche Prodnctions- und Consumtionsfähigkeit wie
Oestreich. Dies gilt nicht nur in handelspolitischer Beziehung, auch vom Theater.
Wie» hat fünf Theater in der Stadt und in den Vorstädten und zwei Sommer-
bühueu, sogenannte Armen; und wenn es noch einmal soviele hätte, so würden
sie wahrscheinlich auch bestehen können. In Wien „speist" man drei bis vier¬
mal täglich warm und geht Abends inS Theater, oder zu irgend einer andern
Sehenswürdigkeit oder Lustbarkeit, und verausgabt dabei für sein Amüsement
durchschnittlich mindestens noch einmal soviel Geld als in Norddeutschland, aus
dem einfachen Grnnde, weil man mehr und leichter Geld verdient als dort, und
eben soviel Mal weniger ans Zinsen legt und seinen Erben hinterläßt.
Die beiden Stadtbühnen Wiens, daS k. k. Burgtheater, unter Heinrich
Landes trefflicher Leitung, für Drama und feineres Lustspiel, und das k. k.
Hofoperntheater nächst dem Kärnthnerthore, unter Julius Comer, für
Oper und Ballet, leisten wie bekannt Bedeutendes, und diese beiden unterscheiden
sich auch in ihrem ganzen Wesen nicht so sehr von norddeutschen Hofthcatern
ersten Ranges. Daß das Repertoir hier ein anderes ist, als z. B. in Berlin,
Dresden, Hamburg ze. liegt in den Localverhältnissen; daß die Usancen in der
technischen und artistischen GeschüftSführnng zum Theil andere sind als im Norden,
daß man an manchem Hergebrachten, Traditionellen festhält, das sind mehr oder
weniger Unwesentlichkeiten, die dem fremden Beschauer, der sich die Sache ober¬
flächlich ansteht, fast entgehen. Dagegen springt zweierlei bei diesen Theatern
in die Augen, ein Vorzug und ein Uebelstand. Ersterer: daß mau, namentlich
im Burgtheater und theilweise anch in der Oper mit den gegebenen Mitteln das
Beste zu leisten sich bemüht und in der That auch das möglichst Gute leistet.
Dies der Vorzug vor mancher großen norddeutschen Bühne. Ein Uebelstand
aber sind die beiden viel zu kleinen Räumlichkeiten. Mau erstaunt, wenn man
in das Burgtheater eintritt, und schon eine halbe Stunde vor dem Beginn der
Vorstellung sich überzeugt, daß nach dem Sprichwort „kein Apfel zur Erde
fallen kann"; wenn man vernimmt, daß schon um neun Uhr Morgens kein „Sitz"
mehr zu haben ist, oder wenn man im Fremdenblatt die zehnmal erfolglos wieder¬
holte Anzeige liest, daß von einer „distinguirten Frau" ein Logenplatz im zweiten
oder dritten „Stock" für jede vierte oder fünfte Vorstellung gesucht wird, —
denn für jeden Abend einen solchen sich zu wünschen, grenzt an Vermessenheit,
da bis nnter den Plafond alles abonnirt ist, Jahr aus, Jahr ein, und daher
auch Logenplätze nicht auf dem Theaterzettel nnter den Kassenpreisen figuriren.
Die Zuschauerraume sind aber nicht blos eng, sie sind anch ungenügend beleuch¬
tet, denn sie sind noch mit Oellampen erhellt, während man sich liberal! an Gas¬
licht gewöhnt hat. Zwar hat ein nicht allznheller Zuschauerraum sein Gutes, aber
bei so vielen Schönheiten,- so eleganten Toiletten, reizenden Gestalten in allen
Logen, ist da der Wunsch wenigstens verzeihlich, daß das Lampenlicht weniger schwach
sein möchte! — So beschränkt der Raum im Publicum ist, noch viel enger muß
er oben bei den Schauspielern sein, denn wenn man kurz vor sieben Uhr eintritt
in das Burgtheater und sich durch lauge Korridors und verschiedene flanellbe¬
schlagene Klappthüren den Weg zur Kaffa sucht, so sieht man Kriegsknechte,
Ritter, Masken, Longobarden, Tectosagen, oder was sonst der Abend an Statisten
bieten soll, vollständig costümirt und geschminkt an sich vorüberschlüpfen. Das
Ankleidezimmer dieses Völkchens liegt ganz vorn am Eingang, und sie haben oft
Mühe, in ihren seltsamen Costümen dnrch den Strom des Publicums bis an
die Bühne vorzudringen. Und das im Burgtheater in Wien! Sollte man da
nicht endlich ein neues Haus bauen? Anderswo würde das längst geschehen sein,
aber hier hält man fest am Ueberlieserte», und das Bewußtsein, „im Hause des
Kaisers" — in der Burg.— zu spielen, gilt den Bühnenveteranen bei weitem
mehr, als ein bequemes Ankleidezimmer. ,
Schöner, eleganter, geräumiger und Heller sind die drei Vorstadttheater, —
aber auch nur dieses habe» sie vor den beiden kaiserlichen voraus. Wenn das
Burgtheater so voll ist, daß ein Theil des Publicums in den Corridors an den
Thüren horchen muß, und man versetzte diese Menschenmasse in das Theater
an der Wien, so würde man hier glauben, diese „Leute" zählen zu können.
Das Theater an der Wien, — berühmt durch Mozarts Anfänge, — ist das größte
der Residenz; es ward im vorigen Jahrhundert auf der Leimgrube von einigen
Adligen erbaut. — Dies Theater, früher wenn ich nicht irre von Carl, später vom
alten Pockorny bewirthschaftet, steht jetzt, nach des Alten Tode — wenigstens no¬
minell — nnter des letzteren Sohne, dem jüngern Pockorny.
Nur im Winter oder bei schlechtem Wetter wird hier gespielt, im Sommer
aber in der Regel in der zu diesem Theater gehörigen großen Arena zu Fünfhaus
(einer entfernteren Vorstadt an der Straße nach Schönbrunn). Das Publicum
dieses Theaters und seiner Arena ist ein sehr großes, zahlreiches: leere Häuser
sieht man selten. Die Wirksamkeit dieser Bühne ist eine doppelte, eine östreichische
und eine norddeutsche, anch das Personal ein östreichisches und ein deutsches.
Das häugt so zusammen. An diesem Theater geschieht wenig für die Kunst,
soudern alles sür das Amüsement des Publicums und für den Beutel des Directors
oder der Beteiligten. Es sind an diesem Theater etwa sechs bis acht fest en-
gagirte Theaterdichter, deren füniehmster Herr L. Feldmann aus München, der
bekannte Lustspieldichter, ist; Berta, Böhm, Bittner, Elmar, Banernfeind :c.
heißen einige der übrigen. Jeder dieser Herren macht sich anheischig, in
bestimmten Fristen der Direction ein neues Stück einzuliefern, zu welchen dann
Herr von Suppö »der Herr Müller die Musik schreibt. — Vou Wahrheit der
Handlung, vou Charakteren, von Poesie, von allem, was für ein „Stück"
wünschenswerth ist, ja selbst von sogenanntem gesunden Menschenverstand braucht
ein solches Opus nicht nur gar nichts zu enthalten, sondern der absolute Unsinn
ist sogar für die besonderen Zwecke dieser Bühne sehr erwünscht. Es muß mir
eben ein Localstück sein, welches einen Abend füllt und ein paar gute Rollen für
den Hauptkomiker, Herrn Rott, und für die „Localsängerin", Fräulein Schiller,
enthält. Diese guten Rollen brauchen aber anch wiederum nichts weniger, als
gute Rollen in unserem Sinne zu sein, sie müssen eben n»r der niedrigen
Wiener Komik möglichst freien Spielraum lasse» und als Hauptingredienz drei bis vier
Couplets mit unzähligen Nepetitivnsversen haben. Wenn nur eins dieser
Couplets bei der.erste» Vorstellung „durchschlägt", so ist das Stück gerettet und
dreißig Wiederholungen an den dreißig unmittelbar folgenden Abenden sind ihm
sicher, mag es im übrigen sein, wie es will. Das sind wurf as toros der
Wiener Localkvmik, die sich a» diesem Theater etwa zehn- bis zwölfmal im Jahre
wiederholen. Ist ein Stück auf solche Weise zu Tode gehetzt, so ruht es für
immer und ein neues Spectakel beginnt. Es ist die alte Hanswurst- und Steg-
reifkvmödie in modernem Costüm.
Vou dieser Art Wiener Localpossen hat man im Norden nur einen sehr schwachen
Begriff, denn ihr eigenthümliches Wesen kommt erst dnrch die Darstellungsweise,
durch den Dialekt, die localen Beziehungen, die Improvisationen, ein Augen¬
zwinkern, ein Naserümpfen, ein Rießer des Komikers zur Geltung, welches solchen
Vorführungen bei uns natürlich abgeht und anch nicht verstanden werden würde.
Moral im Gewände der Zote ist in der Regel die Tendenz dieser Possen, die
sich gern „Charakterbilder" nennen und deren stereotype Figuren ein schurkischer
Großhändler oder Fabrikant, ein edelherziger Jüngling als Liebhaber seiner
Tochter, ein Wucherer oder ein seine „Parteien steigernder Hausherr" und endlich
ein patziger Bedienter in rothem Frack mit blauem Ueberfallkragen — Hans-
wnrsts leiblicher Sohn — wie man solchen in der Wirklichkeit wol vergebens
suchen würde, zu sein pflegen.
Während solcher localer Knnststrebungen gehen an diesem Theater etwa
zwanzig fest engagirte, norddeutsche Schauspieler spatzieren und lassen sich Voll¬
bärte wachsen. Ein solcher Gagenetat, wie hier, und ein Personal, mit dem
man quantitativ drei größere norddeutsche Stadttheater complet formiren könnte,
ist eben nur in Wien möglich. Nun aber kommen anch Abende, wo endlich der
Hauptträger einer solchen lnngenangreifendcn Posse heiser geworden, wo Tags
zuvor eine Novität bei der ersten Aufführung durchgefallen, oder wo der Regen
einen Strich durch die anberaumte Arenavorstelluug macht, so daß plötzlich in der
Stadt eine Vorstellung improvisirt werden muß. Dann schlägt für die nord¬
deutschen Mimen die Stunde temvorärer Erlösung aus dem üblichen Ferienlcben.
Dann gibt man mit höchstens einer Probe eins jener alten Neservestücke, welche
an diesem Theater vorhanden sind: entweder ein Rührspiel im Dialekt wie etwa
„Da Lori und sei Burgei", oder aber „die Räuber", „Griseldis", „das Tur¬
nier zu Kronstein", „das Käthchen", „die deutschen Kleinstädter", ja auch wol gar
ein Gntzkowsches Drama, wenn es grade in der Bibliothek vorräthig und ausge¬
schrieben ist. Und wie gibt man diese Sachen! — Leer findet man aber auch
an solchen Abenden das Theater nicht, denn auch für diese Stücke und für diese
Darstellungsweise gibt es Liebhaber, sei der Grund ihres Besuches auch nur die
Gewohnheit, grade in dieses Theater zu gehen, weil zu deu andern der Weg zu
weit, die Preise zu hoch ze. Ist aber trotz alledem einmal ein ganz leeres Haus
zu erwarten, so gibt man, um doch wenigstens den Schein zu retten und um sich
nicht sagen zu lassen, es sei leer gewesen, auf der Stelle eine Portion Frei¬
billets ans, wobei es auf ein paar Hundert mehr oder weniger nicht ankommt.
In der Josefstadt ist das kleinste Theater Wiens, in seinen innern Räumen
neu und recht freundlich decorirt und seit dem vorigen Jahre mit Gas beleuchtet.—
Dies Theater hält sich am schwersten, den» seine Winterräume fassen wenig, seine
Sommerarcua in Hernals liegt am äußersten Ende der Vorstädte Wiens, sein
Publicum ist das weniger bemittelte und seine Leitung läßt selbst bescheidenen
Ansprüchen gar vieles zu wünschen übrig. Herr Megcrle, oder eigentlich seine
Gattin, Frau Therese Megerle, steht an der Spitze dieser Bühne und versieht
zugleich, als Schriftstellerin von einigem Ruf in gewissen süddeutschen Kreise»,
auch den Posten als Theaterdichterin und Dramatnrgin dieser Bühne. Auch
hier schreibe» außer ihr, wie an den übrigen Wiener Vorstadttheatern, fest besoldete
Dichter Stücke, die an keinem-der andern Theater gegeben werden dürfen und
deren Erfolg hier uoch mehr als dort eine Lebensfrage für den Unternehmer zu
sei» pflegt. Spectakelstücke, Rührspiele, Possen sind auch hier an der Tages¬
ordnung und ein neu hinzukommendes Element bilden hier noch: das Ballet, —
früher namentlich das Weißsche Kinderballet, — hie und da Akrobaten, Taschen¬
spieler, Seiltänzer, Herr Klischnigg als Affe, das -1000 Wochen alte „Wunderkind",
Fräulein Constanze Geiger, und neuerdings die Zwerge Jean Piccolo und Jean
Petit, als Taschcuausgaben der Herren Nestroy und Scholz vom Carltheater. —
Das Publicum der Josefstadt ist ein eigenthümliches: Die Grisetten, Schneider-
mamsellö und andere Vertreterinnen des weiblichen Geschlechts sind hier HabitnicS,
und es gehört zum guten Ton, entweder überhaupt dieses Theater nicht zu be¬
suchen, oder doch nicht viel davon zu sprechen, wenn man einmal drin gewesen.
Einen talentvollen Schauspieler besitzt diese Bühne in ihrem Helden und ersten
Liebhaber, Herrn Leuchert, er ist aber hier für ernste Kunst wahrscheinlich schon
verdorben worden. Es ist aber auch sehr viel verlangt, wenn ein solcher Manu
in der Arena vier Wochen lang jeden Abend in dem Megerlcschcn Ausstattungs¬
stücke: „eine Bauernfamilie" die beiden Rollen zweier Zwillingsbruder, eines
Biedermannes und eines Hallunken spielen und sich dabei heiser schreien muß!
Aber wer einmal festsitzt in Oestreich und sich den dortigen „Ductus" des Ko¬
mödienspiels zu eigen gemacht hat, der kommt sehr schwer an bei einer besseren
Bühne „draußen in Deutschland".
Im Carltheater, in der freundlichen Leopoldstadt, einem Gebäude etwa
wie das Hamburger Thaliatheater, nur größer und eleganter als jenes, mit roth-
braunen sammetnen Fauteuils möblirt, herrschen Nestroy, Scholz und Groiö, und
ihnen zur Seite als norddeutsches Element steht Carl Treumaun, früher am
Theater an der Wien Notes Nebenmann. Hier blüht die Nestroysche Posse und
andere Stücke, die von Flerx, Juiu, Graudjean und andern Theaterdichtern den
betreffenden Mitgliedern wie ein neues Kleid auf deu Leib geschneidert werden.
Auch hier finden unzählige Reprisen durchschlagender, namentlich Nestroyscher No¬
vitäten statt, aber im gauzeu herrscht doch eine gewisse Abwechselung im Reper-
toir und wenn norddeutsche Schauspieler von Ruf, wie neuerdings Döring, nicht
in der Burg gastiren, so gastircn sie „beim Carl". Carls Leitung ist jedenfalls
die talentvollste unter allen in Wiens Vorstädten; er führt seinem Publicum auch
die meisten norddeutschen und französischen kleinen Stücke und Vaudevilles vor,
und thut wohl daran. Freilich muß hier allem ein Wiener Mäntelchen umge-
hangen werden, um es den Leuten mundgerecht zu machen. So gab man neu¬
lich: ,,Ein Stündchen in der Schule" und hinterher: „Guten Morgen, Herr
Fischer!" Ersteres aber hieß ans dem Theaterzettel: „Die schlimmen Buben",
und das andere: „Servus, Herr Stutzcrl!" — Der Name thut hier nichts zur
Sache, das Geschäft blüht, und Herr Carl ist ein reicher Mann. Gehört ihm
doch in einem benachbarten Landstädtchen eine ganze Straße, die der Volkswitz
mit einer Anspielung auf jene Posse, welche ihm stattlichen Gewinn abgeworfen
hat, die „Lumpacigasse" nennt!
So verschieden nun die Wirksamkeit und das Repertoir dieser Wiener Büh¬
nen ist, an einem Tage im Jahre kommen sie alle auf einen Gedanken, dies ist
am Vorabende des Allerseelentagcs. Man gibt dann hergebrachterweise an al¬
len Theatern, von der Burg bis zur Josefstadt, das alte Nanpachsche Rührspiel:
„Der Müller und sein Kind". Auf dem einen besser, auf dem andern weniger
gut. Ludwig Löwe soll in dem alten Müller eine Forcervlle besitzen, und es
bleibt an diesem Abend kein weibliches Auge thräueuleer.
Die Provinzicilbühnen in Oestreich sind der Abklatsch derer in der Re¬
sidenz. Sie recrutiren ihr Personal auch meistens von dort her, wo eine Anzahl
Theateragenten, die Herren Holting, Adalbert Prix, Schreiber, Böhm ?c. den
Provinzialdirectoren, die fast alle im Laufe des Sommers einmal nach Wien
kommen, die geeigneten Subjecte überweisen, wobei außer den Sängern für die
Oper die ersten Komiker und die „Localsängerinnen" die gesuchtesten und bestbe¬
zahlten sind. Eine „Localsängcrin" ist ungefähr das, was bei uns die Soubrette
ist. Sie muß eine frische Stimme, ein gewandtes Spiel und die Fertigkeit
„weanrisch z'plauschen" besitzen und braucht weniger tugendhaft, als hübsch zu sein.
— Die gedruckten Contractformulare dieser Proviuzialdircctoren mit ihren Mit¬
gliedern zeichnen sich vor andern, z. B. denen des Bnrgtheaters, die in anerken-
nenswerther Einfachheit nur die Grundzüge des gegenseitigen Verhältnisses fest¬
stellen, durch eine Menge von Klauseln und Strasparagraphen aus. Die letzteren
fehlen namentlich nicht für die Fälle „selbstverschuldeter Unpäßlichkeiten" der Herren
und temporärer UnVerwendbarkeit der „unverheirateten" Damen. — Als merk¬
würdig ist beiläufig noch zu erwähnen, daß keiner der Wiener TheaterageMn
ein „Blatt" als „Gesammtorgan" herausgibt, wie wir deren bei uns mehre
besitzen. Sie haben das wahrscheinlich nicht nöthig, ihr Geschäft geht auch ohnedies.
Das böhmische Theater in Prag, das ungarische Nationaltheater
in Pesth zu besuchen, gehörte zeitweise zum guten Ton, jetzt grade nicht. Dazu
kommt hier, daß eine Art Nationalitätsdemonstration in dem Besuche dieser
Theater liegen würde, die der Gebildete aus guten Gründen gern dem „Volke"
überläßt. Eine solche Rücksicht fällt natürlich weg bei dem italienischen Theater,
welches für Oestreich in Mailand, Venedig, Trieft und in einigen Sommermo¬
naten anch in Wien repräsentirt wird, und auf welches wir schließlich noch einen
Blick werfen.
In Italien, auch schon im östreichischen Italien, ist das Theaterwesen ganz
anders zugeschnitten, als in Deutschland. Alle italienischen Gesellschaften sind
reisende Truppen unter einem Impressario. Das Theaterjahr ist in mehre Saisons
— StaU'olu — eingetheilt, und auf derselben Bühne, wo vielleicht noch vor we¬
nigen Tagen eine Schauspielertruppe spielte, finden wir hente eine Oper und in
drei Monaten ein Ballet. Einer der bedeutendsten Jmpressarios für Italien ist
Herr Domenico Ronzani, dessen Wohnsitz in Tuche ist. Dieser z. B. verpflichtet
sich als Pächter contractlich, der prosiäen^a teatral-r, den Verwaltern des der
Stadt gehörenden ?<zg,t,ro Fr-mas, für die Carnevalssaison, vom Januar bis zum
März „Oper und Ballet", dann drei Monate hindurch Schauspiel, und vom
October bis zum December Opera hören herzustellen. Während der drei Sommer¬
monate Juli, August und September wird entweder pausirt, oder aber, wie in
diesem Jahr, eine Opera, ZtraorcUn-irlg, zusammengebracht.
„Oper und Ballet" heißt: eine oder höchstens zwei Opern während des
ganzen Carnevalsquartals, mit Ballet im Zwischenact und am Schluß, wobei die
Oper die Nebensache, das Ballet die Hauptsache ist und wozu mindestens eine
erste Tänzerin wie die Plunkett, die Maywood :c. um hohen Preis aus Paris
und noch eine oder zwei andere Tänzerinnen „mit dem Range einer fran¬
zösischen", wie jedesmal ausdrücklich auf dem Theaterzettel gedruckt steht, ver¬
schrieben werden müssen. Gelingt es dem Impressario angeblich nicht, solche
herbeizuschaffen, so ist das Theatercomitü befugt, das Unmögliche auf seine — des
Impressario — Kosten möglich zu macheu. Auch bei der Opera sczrla im Herbst
ist eine Anzahl Opern „ü'odbliAo", d. h. sie müssen gegeben werden, andere
— ,,äa eichenen'si" — sind in das Belieben des Impressario gestellt. Um bei
dem leatro xrcmäe in Triest stehen zu bleiben, so gibt es hier, wie überhaupt
in Oestreich und in Italien, keine „Range", sondern vier „Stock" mit Logen,
die sämmtlich um hohen Preis abonnirt sind. Man zahlt für eine kleine Loge
im dritten Stock an tausend Gulden Münze jährlich und erwirbt dadurch nicht etwa
wie bei uns das Recht, der Vorstellung überhaupt beiwohnen zu dürfen, sondern
nur die Vergünstigung, nachdem man den Eintritt mit drei Zwanzigern an der
Kasse wie alle übrigen Nichtabonnentcu entrichtet hat, anstatt wie jene, sich ins
Parterre zu stellen, in seine Loge sich setzen zu dürfen, und auch nur einen Abend
um den andern, denn die pari — die geraden Vorstellungen — sind von den
äisxari — deu ungeraden — streng geschieden, und wer in dieser Saison einen
Sitz oder eine ganze Loge für die pari hatte, der hat sie in der nächstfolgenden
für die al8x>Ari. Das Galeriepublicum hat seiue eigenen Volkstheater, in denen
Sonntags anch bei Tageshelle gespielt und ein Zwanziger Eltern bezahlt wird.
Ebenso eigenthümlich wie dieses Verhältniß ist anch das zwischen dem Im¬
pressario und den Säugern. Der oben erwähnte Herr Nonzani z. B. engagirt
> die berühmte Sängerin Albina Marray — eine Pseudonyme Deutsch-Bohmiu —
auf fünf Jahre mit zwölfhundert Gulden monatlicher Gage. Er kann sie aber
nur jährlich zwei bis drei Mouate für Triest gebrauchen. Was dann? Dann
schickt er sie — ohne dabei ihre eignen Neigungen zu berücksichtigen — nach Mai¬
land, nach Neapel, zur Sommermesse uach Siuigallia, nach Paris oder, wie eben
jetzt, uach Se. Petersburg, und die Gage, die sie dort erhält, erhält nicht sie,
sondern er, der ihr monatlich ihre 1200 Gulden zahlt. Er hat auf diese Weise
fast das ganze italienische Theatergeschäft jetzt in Händen und dabei wahrscheinlich
einen hübschen Gewinn.
Dies ein Blick hinter die Coulissen italienischer Theater! Nun noch einen
vom Sperrsitz auf die Bühne. Da fällt zuerst der späte Anfang der Vorstellung
dem Deutschen ans: im Winter um acht, im Sommer um neun Uhr. Der Be¬
ginn der Vorstellung, sowie die Verwandlung bei offener Scene zeigt nicht wie
bei uns die Glocke an, sondern eine schrille Pfeife; der Souflenr erscheint in der
offenen Luke und hält es oft nicht für nöthig, den zurückgeschlagene» Fallschirm
über sein Hinterhaupt zu ziehe», auch fällt dieser manchmal wieder zurück durch
sein lebhaftes Agircn während der Vorstellung, denn nicht selten gibt der Souf-
leur auch den Sängern das Tempo an, während der im Hintergrunde des Orchesters,
hart an dem Sperrsitze stehende Kapellmeister sich fast ausschließlich um die In¬
strumentalmusik kümmert. Die Ouvertüre wird — auch wo sie existirt und sonst
in hohen Ehren steht, wie z. B. zum Barbier von Sevilla, i» der Regel ganz
weggelassen; man wird sogleich in das Stück versetzt — eine dem Deutschen we¬
nig zusagende Sitte!
Soll ich Ihnen noch eine Beschreibung dieser grenzenlosen, an Verrücktheit
grenzenden Beifallsbezeugungen machen, dieser wüthenden Bravos, dieses ewigen
bi8, dis, dieses Heransrufeus, dieses Kränzewerfcus, dieser kostspieligen Monstre-
bouquetö, die eine Sängerin todten konnten, wenn sie der „Cnstvde", der das
Amt hat, die im Laufe des Benefiztages bei der Kasse eingelaufenen und Abends
daselbst paraäs aufgestellten Hnldigungsbcweise im dritten oder vierten Acte
nach der Hauptscene der betreffenden Sängerin aus der ProsceninmSloge des
vierten Stocks herabzuschleudern, nicht mit Geschick zu werfen verstände. — Das
muß man selber sehen, um sich zu unsern ruhigen Theaterzuständen zurückzusehnen.
— Wir haben häufig
Gelegenheit, bei der auswärtigen Literatur zu beobachten, wie sie eine Phase durchmacht,
die bei uns gewissermaßen schon abgethan ist, wie sie aber eben deshalb, wenn sie zu
unserer Kenntniß kommt, den Eindruck von etwas Neuem hervorbringt. Bei der eng-
lischen und französischen Literatur, mit denen wir in täglich fortlaufender Verbindung stehen,
liegt diese Beobachtung auf der Hand, aber auch bei den übrigen Völkern werden wir
darauf aufmerksam, wenn ihre neuen Versuche uus durch das Medium der Engländer
oder Franzosen überliefert werden. So ist z, B. die neue spanische Literatur uns fast
ganz unbekannt und nur von Zeit zu Zeit, wenn irgend ein französischer Kritiker uns
darauf hinweist, bemerken wir, daß die Regungen des deutscheu Geistes, mittelbar oder
auch unmittelbar, sich dort gleichfalls vernehmlich machen. Welches Aufsehen machten
vor einigen Jahren die neukathvlischen Ideen des kürzlich verstorbenen Donoso Cortes,
Marquis von ValdcgamaS! Und doch hatten wir dieselbe längst viel besser, gedanken¬
voller und selbst bequemer von unserm Schlegel u. s. w. gehört. Neuerdings hat die
französische Kritik einen spanischen Philosophen entdeckt, der uns noch näher steht, und
dessen Beziehung zu unserer eigenen Philosophie viel deutlicher in die Augen springt. Herr
Blanche-Raffin hat die Schriften des catalonischen Priesters Don Ja'i'me Balmes
ins Französische übersetzt und mit einer biographischen Einleitung versehen. Balmes war
1810 geboren und starb im Juli 18i8 an der Schwindsucht. Er ist ein Symptom
von der Reaction gegen den Liberalismus, der zwar nicht in den Thatsachen, aber in
der Bewegung der Gedanken seit der Napoleonischen Periode auch in Spanien vor¬
herrschte. Er begann im Jahre 1840 mit einer Schrift über die Einziehung der geist¬
lichen Güter, gegen die er sich sehr lebhaft erklärte, nicht aus eigentlich klerikalen Mo¬
tiven, sondern weil sie dem Geist der Nation zuwider sei. Sein Standpunkt war also
ein reflcctirtcr, er schöpfte nicht unmittelbar aus seinem eigenen Bewußtsein, sondern
er zog die geschichtlichen Neigungen seines Volkes zu Rathe, und suchte aus diese» das
Bedürfniß einer constituirten und mächtigen Kirche herzuleiten: ähnlich wie es bei uns
das Streben der sogenannten historischen Schule war. Zwar gehörte er nicht zu den
Legitimisten im deutschen Sinne, er betrachtete vielmehr die ganze Karlistische Erhebung
nur als eine nothwendige Reaction gegen die anarchistische Zerfahrenheit in der Haupt¬
stadt, aber er sah in ihr ein relativ berechtigtes Moment, das man, wo möglich, in
den neuen Staatsorganismus aufnehmen müsse, und verfaßte in diesem Sinne die Pro-
clamation des Grafen von Montemolin, in der sich dieser um die Hand der Königin
bewarb. In seiner ästhetischen Verklärung des Katholicismus erinnert er zuweilen an
Chateaubriand, aber er er hat mehr Gehalt und Tiefe. Er ist gegen den modernen
Constitutionalismus, d. h. die Theilung der Souveränetät, er will die Stände auf das
Recht der Steuerbewilligung beschränken. Zwei Dinge sind es, die beständig bei ihm
wiederkehren: einmal die Sehnsucht aus dem bcstimmungsloscn Skepticismus der Gegen¬
wart heraus nach einem recht handgreiflichen Autoritätsprincip, worin er zuweilen mit
Denkern von ganz entgegengesetzter Richtung, z. V. mit Carlyle, Hand in Hand geht;
sodann die Beziehung aus den I'ensamienio dö I» uft-ion (der leitenden Grundidee
des Volkes), welche insofern etwas Mystisches hat, als sie den doch auch nationalen
Liberalismus willkürlich von dem Inhalt des nationalen Bewußtseins sondert. Zuwei¬
len sind aber seine Anschauungen bedeutend, so hat er z. B. die Februarrevolution be¬
reits ein Jahr vor ihrem wirklichen Eintreten mit großer Bestimmtheit vorausgesagt. —
Seine Hauptwerke, deren Polemik sich zum Theil unmittelbar gegen die deutsche Philo¬
sophie richtet, sind: LI I'mi^eslunUswo camparaclo con ki K:>tolle:ismo en sus retum-
ones con la eiviligüoiou europeu (Vergleichung des Protestantismus und Katholicismus
in ihren Beziehungen zur europäischen Cultur); I^ilosolia lunclameinul; L«ri»s a un
IZseepiieo (Briefe an einen Zweifler) und Ki Oiierio (das Wesen der Kritik), ein sehr geist¬
reiches Werk. Als mit dem Regierungsantritt Pius IX. sich allgemein die Ansicht verbrei¬
tete, der Katholicismus werde sich selber verjüngen, und dann noch einmal eine belebende
Kraft aus die Welt ausüben, schloß sich Balmes mit großer Leidenschaft dieser Idee an, und
wurde deshalb von der streng klerikalen Partei seines Landes als Verräther angefochten. —
Eine entgegengesetzte Bewegung nehmen wir in der italienischen Literatur wahr.
Vor sechs Jahren herrschte dort allgemein die Ueberzeugung, das Papstthum werde die
Fahne der Nationalität aufpflanzen, Italie» von den Barbaren befreien, und eine neue
Kirche ins Lebe» rufen, die ebenso den alten Traditionen als dem neuen Geiste gerecht
werden würde. Es waren bedeutende Schriftsteller, welche diesen liberalen Katholicis¬
mus predigten, vor allen Vincenzo Gioberti, Pater Ventura und Nosmini
Serbati (actio ein^u« piagds civil-» 5»,ni> c-Kiosg, 1849). Alle drei forderten große
Veränderungen im System der Kirche, ungefähr wie früher der Ubbo Lamcimais, aber
alle glaubten an die Zukunft der Kirche; das Jahr 1848 hat alle Welt darüber ent¬
täuscht; eS hat sich gezeigt, daß das Papstthum seit seiner Restauration nur noch durch
den Schutz der absolutistischen Mächte und im Interesse derselben bestehen kann, daß es
eine eitle Vorstellung ist, von ihm etwas für die Erneuerung Italiens zu erwarten.
Diese Ueberzeugung hat Gioberti noch vor seinem Tode in der Schrift alvi rimwva-
menlo c-ivilö ä'Uuliu ausgesprochen, noch viel entschiedener aber tritt sie in den: neuen
Werk von Ausonio Franchi (eigentlich Bonaviuo, ein Geruche, der die Priester¬
kleidung abgelegt) hervor: I» lilosoll» civile seuole lwliiwe. Er spricht mit dürre»
Worten die Ueberzeugung aus, daß es mit dem Katholicismus in dem Geist Italiens
vorbei ist. Diese Ueberzeugung konnte sehr fruchtbar auf die allgemeine Entwickelung
Europas einwirken, wenn sie nicht i» der Negative stehen bliebe, wenn sie namentlich
nicht zu dem Napoleonischen Staatsmechanismus, der in Italien noch sehr deutliche
Spuren hinterlassen hat, zurückkehrte. —
^ Auch in der englischen Theologie erkennen wir den'deutschen Geist mehr und
mehr heraus, was keine Kleinigkeit ist, wenn wir an die alte, verknöcherte Staatskirche
und an das fanatische Sektcnwcscn zurückdenken. Francis Newmcni, ein geist-
und gemüthvoller Priester, auf den wir bereits hingewiesen haben, erinnert uns fort¬
während an unser eigenes Denken, namentlich an Schleiermacher; nicht in der apho¬
ristisch formlosen Weise CarlyleS, sondern in der hergebrachten nationalen Form des
Ausdrucks. Seine I'Kusvs ol ?-.ilIi (Phasen des Glaubens) und seine Geschichte der
Juden von Samuel bis zur babylonische» Gefangenschaft haben soeben die i. Auflage
erlebt; in seiner neuesten Schrift: Krime« ok Uio Ilouse ok II-ipsKui-F i>g»lust it8 mon
I.i(!go 8ni>,jeel8 tritt er als liberaler politischer Schriftsteller aus. — Alle englischen Journale
sind angefüllt mit Untersuchungen über die deutsche Philosophie, und wenn sie auch mit¬
unter in sonderbare Mißverständnisse verfallen, z. B. über die Kantsche Auffassung von
„Raum" und „Zeit" als Gcdankcnbcstimmungcn, so darf uns das nicht Wunder neh¬
men, denn es geht damit bei uns nicht besser. — Sehr bedeutend breitet sich auch
die Bewegung gegen die ausschließliche Anwendung der classischen Studien im Er-
ziehungssystem aus, zu Gunsten der neuern Sprachen, namentlich der deutschen, und
es läßt sich auch in dieser Richtung eine allmälige Umgestaltung der öffentlichen Mei¬
nung erwarten. —
Zur Abwechselung tritt in Amerika eine Schule conservativer, gewissermaßen
torystischcr Politiker auf, an deren Spitze sich der Geschichtschreiber der Vereinigten
Staaten, Richard Hildrcth, in seinem neuen Werk: 'I'Keoi^ ol I>oliues, gestellt hat.
" Bei Sauerlättdcr in Frankfurt erschien in höchst eleganter Aus¬
stattung „die Sommernacht" von Ludwig Tieck als Supplement zu dessen Wer¬
ken. Es ist eine mehr literarhistorisch merkwürdige, als sonstwie ausgezeichnete drama¬
tische Arbeit des 1 jährigen Dichters. Der Knabe Shakespeare entschlummert im Walde
und wird von den Elsengcstalten seines „Sommernachtstraumes" mit den Gaben des
Dichters ausgerüstet; erwachend sühlt er sich als Dichter. Dies der trockne Inhalt.
Bülow starb, indem er im Begriff stand, diese zuerst im Rhein. Taschenbuch für -I8ö1
erschienene, wol früheste poetische Production Tiecks zu veröffentlichen. Ein Herr
I. D. Walter hat an seiner Stelle die Einleitung geschrieben.
Unsere Kalenderliteratur steht ebenso ans dem Punkte, in die wilden Blätter zu
schießen, wie die fade Almanachslitcratur, der sie entstammt. Wenig erfreulich ists über¬
dies, daß die Parteien particularistischer Beschränkung, hyperorthodoxer Färbung, und
anderer derartiger, mit unserer Zeit, wie unserem Culturstand in Widerspruch stehenden
Richtungen sich vorzugsweise der illustrirten, sogenannten volkstümlichen Kalender be¬
mächtigen konnten, um unter diesem neutralen Schilde Propaganda zu versuchen. Leider
gehört auch Webers sonst vortrefflicher illustrirter Kalender in seinen tagesgeschichtliche»
und gemeinnützigen Darstellungen einer specifisch-östreicherndc» Richtung an. Die Ten¬
denz der nationalen gesetzmäßigen Entwickelung hat keinen Volkskalcnder auszuweisen.
Freilich bedarf sie solcher Hilfsmittel nicht, aber zu wünschen wäre wenigstens, daß ein
Kalender modernen Stils ins Leben getreten wäre, welcher ohne politische und konfes¬
sionelle Parteinahme die Aufgabe populärer Belehrung und unbefangener Unterhaltung
zu lösen versuchte. — In der deutschen Schweiz, deren literarischer und geistiger Zu¬
sammenhang mit den deutschen Entwickelungen überhaupt erfreulicherweise sich immer
lebhafter zeigt, begegnet nus nun ein „Illustrirter Kalender für die Schweiz", 18!ii.
(Se. Gallen, Scheitlin und Zollikofer). Er ist, was er zu sein verspricht: . ein Hand-
nnd Familienbuch für alle Stände, aber natürlich nicht ohne das Gepräge des Bodens
dem er entstammt. Außer dem eigentlichen Kalender, der von vielen unserer Kalender
fast ganz als Nebensache behandelt wird, finden wir darin eine ziemlich vollständige
Statistik des schweizer BnndeSorganismns, einen Hans-, Garten- und Landwirthschasts-
kalcudcr, eine höchst interessante Uebersicht der landwirthschaftlichen Productenbeweguug
an der schweizer Grenze, kurze Biographien mit Portraits (darunter Tieck, Hebbel, Mo-
sen), naturgeschichtliche Belehrungen und endlich einige vortreffliche Erzählungen, abwech¬
selnd mit belehrenden Darstellungen z. B. über Gnggcnbühls Wirken zur Heilung des
Kretinismus ze.
Flora im Winterkleide v. E. A. Roßmäßler (ISO Abbild, in Holzschnitt
und 1 Titelb. in Tondrnck v. C. Merkel) Leipzig, Costenoble 183i. Dies kleine
Weihnachtsgeschenk des populären Schriftstellers enthält eine lebhafte und faßliche Be¬
schreibung solcher Pflanzen, welche bei uns im Winter fortleben. Zuerst die Krvptoga-
men: Flechten, Algen, Pilze, Moose, hübsch und anschaulich in ihrem merkwürdigen Bau
dargestellt, dann einiges über die Nadelhölzer! Fichte, Tanne, Kiefer und zuletzt über
das stille Leben der Blatt- und Vlütcnkuvspen bekannter Laubhölzer. Das Buch er¬
fordert keine besondern Vorkenntnisse, ist wol dazu gemacht, Interesse an dem Behan¬
delten zu erwecken und kann empfohlen werden. Die Abbildungen sind gut.
Von der Direktion des Frankfurter Stadttheaters ist der bisherige Mit-
director und Schauspieler Mack zurückgetreten und Hr. Hoffmann alleiniger Director, wie
Unternehmer geblieben. Das diesjährige Repertoir ist jedenfalls gewählter als das vor¬
jährige, nnr entbehrt man dabei, wie an andern Mittelthcatern aller bedeutenden Novi¬
täten, welche nicht ans den bekannten Officirer hervorgehen. Die jüngeren Dichter
und Dichtungen sind fast ausschließlich durch Apels „NälMhchen" und Hcidrichs „Prinz
Lieschen" vertreten. Selbst von „Lady Tartüffe" keine Spur. Im Opernrepcrtoir
sind neuerdings „das unterbrochene Opferfest" und „Euryanthe" wieder eingerichtet. Dem
Vernehmen nach soll Hr. Hoffmann zu dem bisherigen, allerdings sehr geringen Zuschuß
von Seite der Stadt noch Heizung und Beleuchtung des Theatergcbändes erhalten.
Indessen beabsichtigt derselbe im nächsten Jahre die Errichtung einer Sommerbühuc,
und dienstfertige Jonrnalstimmen befürworten dies Vorhaben.
Am 3-1. Oct. wurde das Heidelberger neue Theater eingeweiht. Der Prinzrcgent
von Baden war anwesend. Die erste Vorstellung war „Maria Stuart". Wöchentlich
einmal spielt die Heidelberger Gesellschaft in Bruchsal.
Zu Giurgewo steigen die Donaureisenden" aus, deren Endziel Bukarest ist.
Wir waren um 11 Uhr Nachts angekommen und mußten gegen eine halbe Stunde
vor einem Thore warten, bis dieses uns nach einer heftigen, zwischen einigen
Reisenden und einem walachischen Beamten in romanischer Sprache geführten
Debatte geöffnet wurde. Klappernd vor Frost brachte ich die Nacht in einem
sogenannten Hotel auf einem Bretergestelle zu, welches die ruhmvollen Functionen
eines Sophas, Divans und Bettes in einer Person vereinigte. Federbetten sind
beinahe unbekannt und Decken erhält man keine. Des Morgens holte ich mein
Gepäck aus einem großen, einer Scheuer ähnlichen Gebäude, wo es der Unter¬
suchung halber hingekommen war. Der Zoll für alle Waaren ohne Unterschied
ist S Proc., und die Donaufürstenthümer müßten der östreichischen Industrie ein
bereichernder Markt sein, wenn nicht anderartige Hindernisse vorhanden waren,
ans die ich später zurückkomme.
Meinen Koffer nahm ich mir, ohne eine Karte vorzeigen zu müssen; die
Koffer und Kisten der Reisenden standen umher am Boden, man schloß auf, ein
Beamter warf einen Blick hinein, man schloß wieder zu und war fertig. Auf
dem Rückwege ins „Hotel" traf ich einen Burschen, der wol zu seinem Privat¬
vergnügen Ketten an den Füßen trug, da der ihn begleitende Soldat sich recht
heiter und gemüthlich mit ihm unterhielt.
Ich hatte den Postwagen nach Bukarest versäumt, und blieb bis zum andern
Tag in Giurgewo, dem ich einige Zeilen widmen will, da es, Rustschuk gegen¬
überliegend, gegenwärtig ein wichtiger Punkt geworden ist. Die Stadt breitet
sich ans einer kleinen Anhöhe ans und ist einer der gesundesten Orte in der
Walachei. Hierher Pflegen viele Familien ans Bukarest zu flüchten, wenn daselbst
die Fieber in gefährlicher Weise grassüen. Von dem unergründlichen Kothe, dessen
sich die Hauptstadt erfreut, ist man hier, obgleich nnr der Marktplatz gepflastert
ist, befreit, weil der leichte Kalkboden alles Wasser schnell aufsaugt. Die
Hänser der Stadt sind einstöckig und mit Hohlziegeln, einige wenige mitZink gedeckt.
Schlächtereien, Bäckereien und Weinpressen sind aus freier Straße. Von
Rustschuk herüber bringt man eine große Menge Trauben, die hier gekeltert
werden. Die Beeren 'sind, wie alle, die ich in der Walachei gesehen, etwas
größer als Taubeneier, aber sehr wässerig. Trotzdem wird ungewöhnlich guter
und starker Wein daraus gepreßt. Wäre die ganze Behandlung, von der
Pflanzung der Reben an, bis zur Füllung der Fässer nicht so unzweckmäßig und
vcruuuftwidrig, die Walachei würde einen Wein liefern, der den berühmtesten
europäischen Sorten an die Seite gestellt werden konnte.
Die Berichte der Zeitungen von einer Beobachtung „der russischen Truppen
in der walachischen Ebene" von Rustschuk aus, und den Kunststücken der russischen
Generale zur Vereitelung dieser Beobachtungen — scheinen mir in den Redactions¬
zimmern vor großen walachischen Landkarten geschrieben zu sein. Denn hinter
Ginrgcwo steigt der Boden allmälig, und ich konnte, trotz eines guten Fernglases,
uicht weit ins Land hineinsehen, weshalb es mir unbegreiflich ist, wie man das
vom gegenüberliegenden Rustschuk vermögen soll, welches nicht höher als
Giurgewo liegt.
Die auf deutschen Landkarten fabricirte Straße von Giurgewo nach Bukarest
war bei meiner Reise nach der Hauptstadt (Ende October vorigen Jahres) noch
nicht an Ort und Stelle angekommen, und ich mußte mich begnügen, ans einem
Wege zu fahren, der als solcher sich nnr hier und da durch einige Wagenspuren
documcutirte. Vor der Stadt mußten ich und meine Reisegefährten in eine tiefe,
mit Stroh gedeckte Grube, wie man, sie hie und da zur Aufbewahrung von
Kartoffeln angelegt hinter, hinabkriechen, um unsere Pässe visiren zu lassen. Etwa
zwei Stunden von Giurgewo kreuzte ein Wolf unsern Weg.
Wir kamen in ein Dorf, wo wir eine kurze Rast hielten. Auf der Straße
gabs eine große Versammlung nicht salonfähiger Vierfüßler, die sich im tiefsten
Baß bei einem Frühstück unterhielten, welches aus etwa einem Centner Rinds¬
lebern bestand. In dem Dorfe, das ungefähr aus der Hälfte des Weges liegt,
ist nämlich eine jeuer großen Schlächtereien, wo viele tausend Stück Rindvieh
jährlich geschlachtet werden. Ich trat in einen Hof, der etwa die Größe des
StcphanSplatzeS in Wien hat. Weltherrn lagen, wie mir schien, zahllose Ochsen¬
leichen. Es waren jedoch nur die mit Talg ausgefüllten Felle. Talg ist das
Hauptproduct, da die Felle, wenn sie als Emballage dienen, gänzlich unbrauchbar
werden, und das Fleisch blos ein Nebenprodnct abgibt, welches, in dünne Scheiben
geschnitten, an der Luft getrocknet, und vou der ärmeren Classe verzehrt wird.
Ans dem größten Theile des Weges erblickt das Ange weit herum nichts,
als jungfräulichen Boden. Es gibt zu wenig Hände für den Ackerbau, und die
vorhanden sind, rühren sich ans angeborener Trägheit nicht. Der Romane sitzt
seit Jahrhunderten oft ganz vereinzelt zwischen Sachse», aber seiue Hütte ist
auf den ersten Blick in einem sächsischen Dorfe aus den netten Steinhäusern der
Sachsen herauszuerkennen: sie ist aus Lehm, mit Schilf gedeckt; das alte Kenn¬
zeichen des Volks hängt immer noch seinen, ein massenhafter echt nationaler
Schmuz. —Zwar gab mir ein hochgestellter walachischer Beamter die Bevölkerungs¬
zahl der Walachei auf mehr als 3 Millionen an; er war jedoch zu patriotisch,
als daß ich ihm hätte Glauben schenken können.
Ist die Angabe jedoch richtig, so ist das nur ein Zeugniß mehr von
der Fruchtbarkeit und Wichtigkeit dieser Länder, die in Oestreichs Händen und
bei deutscher Einwanderung in wenigen Jahrzehnten einen vielfach größeren
Werth, als das lombardisch-venetianische Königreich erhalten hätten. Es hätte
ebensowenig wie jetzt in Siebenbürgen schwer gehalten, dem germanischen Elemente
das Uebergewicht zu verschaffen. Bereits hatten die Sachsen ihre Einwanderungen
begonnen. In Bukarest wohnen mehre tausend; ans der Straße von hier nach
Kronstäbe finden sich einzelne Colonien, wie freundliche Oasen in der Wüste.
Vielleicht, daß jetzt Rußland den Germanisirnngsproceß fordert; denn brauchbare
und treue Leute sind die Deutschen; sie sind in Rußland russischer, als der Zar
und in Ungarn magyarischer, als die Magyaren. Der Boden gehört größten-
theils den Bojaren; sie wohnen zum Theil in Paris, der größte Theil jedoch in
Bukarest, wo er seine kostbare Zeit und seine oft großen Einkünfte ganz auf
jene Politik wendet, die sich um i- Könige, 4 Damen, 4 Ritter und einige
Nebenpersonen dreht. Mit untergeordneten Nebendingen, wie Ackerbau und
Industrie befaßt er sich nicht. Nur ein Bojar hat sich so sehr vergessen, eine
Fabrik roher Tücher, daun eine Stearinkerzen- und eine Seifenfabrik anzulegen,
die alle gut rentiren.
Bei der herrschenden Handels- und Gewerbefreiheit, dem Mangel an Con-
currenz, und der Billigkeit der Rohstoffe und Lebensmittel hätten sich große und
gewinnbringende Jndustrieanstalten schaffen lassen, wenn nicht der Adel zu faul
und dem Ausländer der Name „Walachei" zu abschreckend wäre. Ich will nur ein
Beispiel von dem absoluten Mangel an speculations- und Unternehmungsgeist hier¬
orts anführen. Die Talgkerzenerzeugnng ist in Bukarest, im Widerspruch mit der
allgemeinen Gewerbefreiheit, Monopol. Die Erklärung für diese abnorme Er¬
scheinung liegt darin, daß sich die Negierung durch die Klagen des Publicums
genöthigt gesehen hat, die Erzeugung zu verpachten, und dem Pächter die Be¬
dingung aufzulegen, stets 100,000 Oka Kerzen (die Oka ^ Wiener Pfd.) vor-
räthig zu haben. Denn bei freier Production der Seifensieder kamen die Bukarest«
öfter in die Lage, im Finstern sitzen zu müssen. Der Handel Bukarests ist bedeutend,
aber fast nur Einfuhrhandel; die Ausfuhr ist zwischen Braila und einigen minder
bedeutenden Donaustädten getheilt. Am besten stehen gegenwärtig die serbischen
Kaufleute und die fränkischen Juden. Diese, auch Espaguoleu genannt, gehören
den aus Spanien und Portugal in die Türkei eingewanderten Juden an; sie
bilden eine Art Aristokratie und vermischen sich fast nie mit den polnischen Juden,
die die Majorität in den walachischen Gemeinden bilden und sich wieder nach
ihrer Schutzangehvrigkeit in walachische, östreichische, preußische und russische
theilen. Die meisten Waaren, Leder-, Galanterie-, Luxuswaaren, Kleiderstoffe,
Meubeln, Bücher:c>, werden aus Frankreich bezogen.
Theils die außerordentliche Vorliebe für dieses Land, theils die wirkliche
Vorzüglichkeit der französischen Waaren in Qualität, Eleganz und Preis, theils
auch die gänzliche Unzuverlässtgkeit der Donaudampfschiffahrtsgcscllschaft, haben
dem Export aus Oestreich große Hindernisse in den Weg gelegt. Sollten die
Donauprovinzen wirklich Rußland einverleibt werden, so würde Frankreich eiuen
weit größeren Schaden dabei erleiden, als England; denn es ist leichter ein
Land zu finden, wo man Getreide kauft, als einen Verlornen Markt für Industrie-
producte zu ersetzen. Der Luxus in der Hauptstadt steht von den höchsten bis
zu den niedrigsten Schichten herab in keinem Verhältnisse zum Einkommen und
Vermögen der Leute. Die kothigen Straßen werden von prächtigen Fiacres und
Equipagen durchfahren. In den niedrigen Häusern herrscht Pracht, Eleganz
und zuweilen holländische Reinlichkeit. In letzterem Punkte zeichnen sich
besonders die fränkischen Juden aus. Aber auch polnischer Schmuz ist nicht
selten, und schwere Seidenstoffe über schmuziger und zerrissener Wäsche. Der
Luxus ist theils überwiegend oecidentalisch, ans das Vergängliche und Modesachen
gerichtet, theils orientalisch, und nur dem immer Werth Bchaltenden, wie Gold,
Perlen, Edelsteinen, zugewendet. Bei vielen Familien ist der größte Theil des
Vermögens in Bernsteinspitzen und Schmuck angelegt. Diese Art, sein Geld
anzulegen, theilt jedoch die Walachei mit allen Ländern, deren Verhältnisse
schwankend, deren Zukunft ungewiß ist. Doch war es ein Zeichen von Hebung
des Landes, daß bis zum Einmarsch der Russen der Zinsfuß blos 12 Proc., der
gesetzliche 10 Proc. betrug.
Die Regierung der Walachei war bis zur russische» Occupation nach den
Ansichten Ihres Korrespondenten immerhin eine der besten in Europa. Allerdings
ward dieselbe von den Bojaren für nichts Anderes angesehen, als eine Einnahms¬
quelle, welche vou der jedesmal siegenden Partei unter die Mitglieder vertheilt
und aufs beste ausgebeutet wurde; allerdings waren die Steuern sehr unzweck¬
mäßig und ungerecht vertheilt, so daß der Grad der Leistungen mit dem Ver¬
mögen in umgekehrtem Verhältnisse stand (so z. B. mußte mein Diener, der
einen jährlichen Gehalt von 14 Ducaten hatte, 2 Ducaten Kopfsteuer zahlen),
im Durchschnitte waren jedoch die Steuern gering, und in vieler Beziehung
herrschte in der Regierung ein liberaler Sinn; es konnte jeder thun, treiben und
reden, was er wollte. Kein Finanzbeamter guckte in die Töpfe, kein Polizeispion
konnte auf gute Geschäfte rechnen, Person und Eigenthum waren im ganzen
Lande gesichert. Es gab keine Vexationen, keine Demagogenriecherei und eine
fast nur nominelle Censur gegen Schriften aus dem Ausland. Kurz, es wurde
sowenig regiert als möglich und das Land fing dabei an aufzubinden.
Aber die Nachbarschaft Rußlands ist der Fluch der Walachei. Mehre Mal
hatte das Laud begonnen, sich zu heben, da kamen immer die russisch-türkischen
Conflicte dazwischen und zerstörten alle guten Anfänge. Das sich hebende
Schulwesen und die beginnende Literatur wurden durch den Einmarsch der Russen
1848 vernichtet. Die wenigen guten und für die Hebung der Nation thätig
wirkenden Köpfe mußten das Land verlassen. Das war unter Bibeskos Ver¬
waltung. Sein Bruder Stirbei kam 1849 zur Regierung. Er ist ein Fünfziger,
über mittle Größe, Franzosen- und Frauenfreund. Er soll viel Bildung besitzen,
einige behaupten sogar Geist. Zur Charakteristik, wie auch als Beitrag zur
Beurtheilung der Bildung und Anschauungsweise der höhern Schichten folgendes.
In einer Gesellschaft gerieth ich mit einem jungen Bojaren in Wortwechsel über
den Werth von Franzosen und Deutschen. Letztere sollten nicht einmal Philosophen
haben. Ich zählte einige Koryphäen auf. „Hin" sagte mein Gegner zu meiner
Widerlegung, „es hat jemand vor dem Fürsten einen Satz citirt, dieser fragte,
von wem iber Satz sei, und entgegnete ans die Urwort, er sei von Kant: Bah,
ein Deutscher!"
Man erzählt von dem Fürsten, daß er schon bei der Wahl seines Bruders, wo
auch er auf der Kandidatenliste stand, sich in der festen Ueberzeugung, daß er
gewählt werden würde, einen Thron habe fertigen lassen, ans welchem er sich
täglich ewige Stunden in Stellungen versuchte.
Aber nnter diesen Fürsten ist doch mehr geschehen für das Land, als jemals
uuter dem genialsten russischen Statthalter geschehen dürfte. Die Landesschuld
war Anfang 18S3 von 30 Millionen Piaster (31 Vs Piaster ^- 1 Ducaten) auf
sechs herabgebracht worden; eine sehr schöne Straße in der Richtung nach Kronstäbe
war im Ban begriffen; die Hauptstadt hatte ein großes, prachtvolles Theater
erhalten, ein großer Sumpf war in den prächtigen Volksgarten Tschischme-Jon
umgewandelt, das Schulwesen unter der Leitung des humanen, vielseitig und
gründlich gebildete» Cnltnsministers or. Arsakje, eines reichen Griechen, Gründers
des Arsakäums zu Athen, wieder organisirt worden.
Ob die fürs Armeebndget bestimmte Summe wirklich, zur Unterhaltung der
gesetzmäßigen Trnppcnzahl verwendet wurde, oder ob der Fürst sich selbst den
Werth einer Armee zuschrieb und den Sold für einige tausend Mann zu seinem
Einkommen schlug — konnte dem Lande bei seinen gegenwärtigen Verhältnissen
im Grunde ziemlich gleichgiltig sei», da die Soldaten für die Walachei von keiner
Bedeutung sind, und höchstens zur Verstärkung der russische» Macht diene». Die
Soldaten sind entschieden russisch gesinnt. „Warum kaufst du nicht das Bild des
Sultans?" fragte ein Bilderhändler einen Soldaten, der ein Bild des Zaren
forderte. „Dem gehört das Land, wir aber dem Zaren", lautete die Autwort.
Soviel kann man der walachischen Regierung nachsagen, es ist viel Böses im
Verhältniß zu andern Ländern unterlassen, nichts Gutes gehindert, manches sogar
befördert und einiges wenige gethan worden.
Wenn die in jeder Richtung gestattete freie Bewegung, wenn die reichen
Hilfsquellen des Landes unbenutzt blieben —so liegt die Schuld fast ausschließlich
an der Bevölkerung. Der Bojar, der Pope, der Bauer und der Zigeuner wett¬
eifern miteinander an Trägheit, Unwissenheit, Aberglauben und Ausschweifung.
Einem Wiener Arzte, der eine Anstellung in einem walachischen Dorfe an der
Donau bei der Quarantäne erhalten hatte, trug in den ersten Monaten, die
nach der Göttin von Paphos benannte traurige Krankheit — in anderen
Krankheiten wird selten ein Arzt befragt — 30 Dukaten ein. Die ehelichen
Verbindungen sind sehr lax; Ehescheidungen an der Tagesordnung. Ich wohnte
einst einem Proceß bei, wo ein Ehemann seine Frau verklagte, sie komme erst
gegen Morgen nach Hause. „Seit wie lauge geht das so?" frug der
Richter. „Seit unserer Verheirathung." Und warum haben Sie nicht früher
geklagt?" Früher pflegte sie mir Geld zu geben, jetzt aber kauft sie sich lauter
Duhassen (türkische Leckereien). — Und das ist keine Ausnahme.
Der große Mangel an Moralität und Charakter ist Schuld daran, daß
die an 2000 Geviertmeilen umfassenden Donaufürstenthümer selbst so ganz und gar
keine Stimme in dem russisch-türkischen Conflicte haben. Der Bojar hat ebenso¬
wenig Freiheitsgefühl als der Pope und Bauer. Jener kümmert sich nur um
sein Privatinteresse, den Tschibuk, die Karten, Parteiumtriebe und Intriguen.
Der Pope ist russisch gesinnt, weil es seinem Stolze mehr schmeichelt, einer gro¬
ßen Kirche anzugehören, und der Bauer läßt sich vom Popen lenken. Die
Hoffnung auf Erhaltung einiger Selbstständigkeit ist im Lande längst aufgegeben.
„Warum verwendet ihr den größten Theil des Landeseinkommens auf Verschö-
nerung der Hauptstadt?" frug ich einen Bojaren. „Die Hauptstadt bleibt immer
unser; sür das Land mögen die sorgen, die nach uns kommen und den Nutze»
haben werden." Wenn unter den Gebildeteren der Hauptstadt, Kaufleuten, Gelehrten^
Beamten, den verständigeren Bürgern von einer Parteinahme die Rede sein kann^
so ist es sür die Türkei, gegen Rußland. Bezeichnend dafür ist das Urtheil des
Bukarester Publicums über die Kriegstüchtigkeit des russischen und türkischen Sol¬
daten, welches entschieden günstig für den letztern ist. Er ist bei weitem beweg¬
licher nud flinker als der russische Soldat. Man hat im Jahre -I8i9 Gelegen¬
heit gehabt Vergleiche anzustellen; der türkische Soldat ladet fünfmal, während
der Russe kaum mit drei Ladungen fertig wird.
Der russische Generalconsul, Staatsrath Chalcinski, ein jäher, aufbrausen¬
der, herrischer Mann, war längst factischer Gebieter im Lande, ehe noch Fürst
Menschikoff nach Konstantinopel gekommen war. Gegen Ende vorigen Jahres hatte
der Redacteur der deutschen Bukarestcr Zeitung, Hr. Schweder, in einem denk-
scheu Consulate eine Nachricht erhalten, die er in sein Blatt aufnahm. Der
russische Consul lud ihn vor sich, und zog ihn darüber barsch zur Rechenschaft.
Noch gäbe es eine Hoffnung für die Donaufürstenthümer, wenn man sie
auf einige Jahrzehnte von fremdem Einfluß frei halten könnte, da unter den
jüngeren Bojaren sich ein viel besserer Geist zu regen anfängt. Aber seit Er¬
findung der Solidarität der conservativen Interessen gehören Hoffnungen aufs
Eonserviren ins Reich der Träume. Glücklich jene Länder des europäischen
Südost, wo der Türke schon keine und Rußland noch keine Macht besitzt, wie Ser¬
bien und Griechenland. Eine ähnliche Stellung aller europäisch-türkischen Pro¬
vinzen wäre die einzige Lösung, die Beruhigung und gute Hoffnung für die Zu¬
kunft geben könnte, wenn Rußland nicht immer ihr unmittelbarer Nachbar bliebe.
So aber ist die Walachei ihrem Schicksal verfalle», gleichviel ob Rußland
sie diesmal behält, oder — wie mau hoffen muß — wieder herausgibt. Schon
seine Nähe tödtet.
Alle Bewohner der Länder zwischen den Karpaten, dem schwarzen, ägäischen
und mittelländischen Meere haben das Gemeinschaftliche, daß sie aus Trümmern
großer Völkerstämme zusammengesetzt sind, welche sich bis heut nicht vollständig
vereinigen und zu großen neuen Völkern, wie etwa die Engländer, die Spanier
und zum Theil die Deutschen verschmelze» konnten. Ein solch auseinanderge¬
rissener, in zahllose Trümmer zersplitterter Stamm ist der walachisch-romanische.
Obwol stärker als die magyarische Race, da er über 8 Millionen Seelen zählt,
hat er doch seit Trajan keine andere Bedeutung in der Geschichte gehabt, als zu
vegetiren. Die zersprengten Glieder haben das Bewußtsein ihrer Zusammen¬
gehörigkeit verloren, und selbst in der Neuzeit haben die vier Hauptgruppen des
Volkes, Walachen, Moldauer, stebenbürger und bnkowinaer Romanen, statt eine
Gleichheit in Schrift und Sprache anzustreben, die zwischen ihnen bestehende
Kluft durch Feststellung verschiedener Schriftarten und grammatischer Normen noch
erweitert. Die Verschiedenheit wurde durch die mannigfaltigen Einflüsse der
Umgebungen und durch die verschiedene Mischung der Bestandtheile hervorgebracht,
ans denen der romanische Stamm erwachsen ist, als alte Daler, römische Colo-
nisten, Zigeuner, Slawen und kleinere Völkerbruchtheile. Erst in der letzten
Zeit ist der Versuch gemacht worden, Bukarest zum Brennpunkt und zur Capitale
des Nomanenthums dadurch zu machen, daß mau ein romanisches Lyceum stiftete,
das zu einer Nationaluniversttät erwachse» sollte. Bukarest, als Hauptstadt des
Landes, welches de» compactesten Theil der Ratio» enthält, als Sitz des Adels
und große Handelsstadt mit wenigstens 200,000 Einwohnern*) wäre der geeignetste
Punkt für diesen Zweck gewesen; aber die Sache konnte kein rechtes Gedeihen haben,
da man sie in derselben verkehrten und kindlichen Weise angegriffen hatte, wie die
Rnthenen, Südslawen, selbst die Czechen. Man wollte geschwind eine nationale
Bildung, Literatur und Wissenschaft schaffen, und ließ daher in aller Eile von
dem polnischen, seit neun Jahren im Lande ansässigen Dr. B. Handbücher der
Naturwissenschaften, von andern Professoren Compendien ihrer Fachwissenschaften
anfertigen, d. h. größtentheils übersetzen. Jetzt konnte man allen Studirenden
die Wissenschaft in der Muttersprache vortragen, die Nation und das Vaterland
waren gerettet. Umsonst stellte man den Leitern des Unterrichts das Fehlerhafte
dieses Systems dar, wies auf die Völker Europas, die sich nnr dadurch national
entwickelten, daß zuerst fremde Cultursprachen, die lateinische und griechische, bei
den Czechen die deutsche, Unterrichts- und Gelehrtensprache wurde, worauf aus
den vielen Tausenden gründlich gebildeter Männer, endlich Schriftsteller auftraten,
die vom Drange zur Mittheilung getrieben, ihre Gedankenschätze und poetischen
Erfindungen dem Volke mitzutheilen strebten und dadurch zur Cultivirung der
Muttersprache gedrängt wurden; umsonst warnte der östreichische Ministerial-
consnl, v. Laurin, der früher in Aegypten gewesen war und ein ähnliches Ex¬
periment unter Mehemed Ali mit der unendlich hoher stehenden arabischen Sprache
fehlschlagen gesehen hatte: man wollte einmal durchaus eine nationale Cultur.
Jedenfalls war ein erst wenige Jahre im Lande wohnender Fremder der wichtigste
Repräsentant dieser nationalen Treibhansliteratur.
Diese Nationaleitelkeit ist fast nur beim Adel zu finden; auffallend ist übrigens
bei diesem, daß er, besonders durch Haar und Auge, stark an den Zigeuner erinnert.
Die Reinheit der Bojarcufamilicn wird sehr in Zweifel gezogen.
Beim Bauern hat sich durch die Türkenkriege weit mehr das Bewußtsein
eines religiösen als nationalen Gegensatzes herausgebildet. Er ist ebenso wie der
Bojar sehr fromm und erfüllt mit kleinlicher Pünktlichkeit alle Vorschriften der Kirche;
aber von einem Zusammenhang der Moral mit der Religion haben die frommen
Leute keine Ahnung. „Was habt ihr mit der gebratenen Gans gemacht?" wur¬
den vor einigen Jahren zwei vor Gericht stehende walachische Bauern gefragt,
die einen Reisenden erschlagen und ausgeplündert hatten und vom Richter über
die Verwendung der geraubten Gegenstände verhört wurden. „Die haben wir
weggeworfen."
„Warum?"
„Walls grade Freitag war, wir durften sie also nicht essen und konnten uns
auch uicht damit schleppen."
Der Walache nimmt für den griechischen Rechtgläubigen allein das Prädicat
Christ in Anspruch, alle andern Religiousgeuossen sind ihm Heiden. Doch ist
unbeschadet der Rechtgläubigkeit ein großer Fortschritt seit wenigen Jahrzehnten
geschehen. Ebenso wie das früher von Räuberbanden wimmelnde, von Raub und
Mord erfüllte Land seit einigen Jahren vollständige Sicherheit genießt, so daß
man die Donaufürstenthümer mit weit weniger Gefahr als Ungarn und Sieben¬
bürgen durchreisen kann: so hat sich in gleicher Art der Fanatismus gegen An¬
dersgläubige gelegt, und einer anerkcuuenswerth.er Toleranz Platz gemacht.
Während vor etwa dreißig Jahren ein Walache eine Jüdin mit dem Kinde auf
dem Arme auf offener Straße mit dem Säbel zusammenhieb, weil sie sich weigerte,
das Zeichen des Kreuzes zu machen, ist mir während meiner Anwesenheit in der
Walachei nur ein einziger Fall von Religionshaß vorgekommen. Sehr wohlthä¬
tig hat in dieser Beziehung die Revolution von 18i8 wenigstens in der Haupt¬
stadt gewirkt.
Unter den religiösen Gebräuchen sind mir die Art des Kreuzschlagens und das
Schminken der Leichen besonders aufgefallen. Ersteres findet mit blitzartiger Schnel¬
ligkeit unzählige Mal hintereinander beim jedesmaligen Vorübergehen vor einer
Kirche oder einem Heiligenbilde statt. Die geschminkten Leichen werden offen zu
Grabe getragen; der Anblick ist widrig, ja schauerlich. Schminke wird gar viel
in der Walachei consumirt; wer sich daraus nicht versteht oder kurzsichtig ist, muß,
wenn er durch die Straßen von Bukarest geht, glaube», die Walachei bringe lauter
Schönheiten hervor.
Aechtfarbig sind die Jüdinnen; aber anch die Männer, besonders die alten,
sind ungewöhnlich schön. Doch ist — was vielleicht nur noch an einigen Punkten
Galiziens der Fall sein dürfte — die Liederlichkeit und Prostitution bei diesem
Stamme noch größer als bei den andern Classen. Der Grund liegt zum
Theil in dem gar zu frühen Heirathen, da Walachen und Juden ihre Kinder
oft schon mit 13—14 Jahren verheirathen. Der Juden finden sich nicht viele in
der Walachei, und meines Wissens nur in den ö Gemeinden Bukarest, Ginrgewo,
Pikesche, Krajova und Braila. Ju der Hauptstadt dürfte ihre Zahl an 12,000
Seelen betragen; sie sind größtentheils Handwerker. Unter diesen ist ein Sie¬
gelstecher Namens Karfunkel eine merkwürdige Erscheinung, er ist eine wahrhafte
Künstlernatur, hat einen im ganzen Land berühmten Namen und wird sehr
theuer bezahlt.
Besondere Anlagen für bestimmte Thätigkeiten des menschlichen Geistes scheint
der Romane nicht zu haben; außer daß er wie die Slawen und Griechen viel
Sprachtalent besitzt. Mit den meisten Südvölkern hat er anch die widerlich süße
Freundlichkeit im Umgange gemein; dem Nordländer wird ganz unbehaglich und
beengt, wenn er sich so hold und schmeichlerisch anlächeln steht, während der Körper
des Sprechenden ununterbrochen gewisse Schlangenbewegungen macht. Während
die Freundlichkeit des Franzosen aufheitert, empfindet der Fremde bei dieser süd¬
lichen Freundlichkeit die Unwahrheit fortwährend, glaubt man sich von einem Hin¬
terhalt umstellt, und jedes neue Lächeln macht die Frage aufsteigen: „Was mag
der Schelm im Schilde führen?"
Im Jahre 1828 haben die Russen den Krieg gegen die Türken in Europa
und in Asien geführt. In Asien waren ihre Erfolge glänzend, aber wenig ent¬
scheidend. Ju Europa hatten sie zwar die Festung Jbrail am linken Donannfer
und den starken Hafenplatz Warna am schwarzen Meer erobert, aber die Einnahme
des Lagers in Schumla nud der Donaufestung Silistria war ihnen mißlungen.
Die Tapferkeit der Türken in fast allen Gefechten, ihre Hartnäckigkeit in der
Vertheidigung der festen Plätze hatte die Ausführung des russischen Jnvasions-
pla.us verhindert.
Der Widerstand der Türken grenzte ans Wunderbare nud setzte um so mehr
u Erstaunen, als man ihn nicht erwartete. Es regten sich wieder zu ihren Gun¬
sten Sympathien in Europa. England, welches die Angelegenheit von Navarino
getadelt hatte, ergriff Maßregeln zur Rettung der Türkei. Frankreich, welches
ein Beobachtungscorps uach Morea geschickt hatte, um diese Halbinsel vollends
von den Türken zu säubern, ließ daselbst seine Truppen, ebensowol um die Lan¬
desregierung zu schützen und die Ordnung aufrecht zu erhalten, als um die mili¬
tärischen Operationen im Donaubassin z» beobachten und nach Umständen zu handeln.
Oestreich verstärkte seine Armee an der Grenze Ungarns auf 80,000 Mann und
nahm eine Anleihe von 100 Millionen Gulden auf, um zur Rettung des türki¬
schen Reiches, wenn die Umstände es forderten, mitzuwirken.
Der Kaiser Nikolaus hatte den Winter von 1828 auf 1829 dazu benutzt,
seine Truppen zu verstärke» und nen zu organisiren. Er brachte den Essectivbe-
stand der Armee auf 160,000 Kombattanten. Auch die Türken hatten ihr Heer
in der Bulgarei mit ncuausgehvbenen, nach europäischem System organisirten
Truppen vermehrt.
Aber statt 100,000 Mann in nud bei Schumla aufzuhäufen, hätten sie den
Südabhang des KamtckMhales, welches im Norden die Ostseite des Balkan
schützt, hätten sie alle Küstenplätze des schwarzen Meeres besetzen müssen. Sie
hätten die Gebirgspässe und die Städte, welche vor und nach dem Uebergang
über den Balkan ans dem Wege des Feindes lagen, befestigen müssen. Der Sul-
tan hatte allerdings seinen Generalen befohlen, ein wachsames Auge ans die Städte
der Seelüfte zu haben und sie stark zu besetzen: aber die Paschas glaubten nicht,
daß die Russen ihr früheres System aufgeben und von der Seite des schwarzen
Meeres in Thracien eindringen würden. Ihre Nachlässigkeit war so groß, daß
eine russische Flotte unter Admiral Kumauy am 4. Februar 1829 die Festung
Sizeboli und das kleine Fort Aya-Oglou einnahm, welche am Eingange der
weiten Bucht von Burgas einander sich gegenüberliegen. Husseyu-Pascha versuchte
zwar mit S000 Maun Infanterie und 1ö00 Mann Cavalerie diese Position wieder
zu nehmen, wurde aber zurückgeschlagen und mußte nach Burgas sich zurück¬
ziehen.
Die Divisionen der russischen Armee verließen Mitte April ihre Winterquar¬
tiere, setzten bei Hirsowa und anderen nahe gelegenen Punkten über die Donau und
bezogen Anfangs Mai das Lager von Czernovada. Von hier ans setzte der Ober¬
befehlshaber Graf Diebitsch am 13. Mai mit 21 Jnfanteriebataillonen, 16 Cavalcric-
cscadrons und einigen Kvsackcnregimentern sich in Bewegung, um Silistria zu be¬
lagern. Er traf die Türken vor der Stadt ans einer Höhenlinie verschanzt, welche
die Russen im vorigen Feldzuge augelegt hatten, er schlug sie aus dieser Position
heraus, nöthigte sie, sich nach Silistria zurückzuziehen- und schloß nunmehr die
Festung ein.
Da beschloß der Großvezier Neschid-Pascha, der dem strategisch unfähigen
Jzzet-Mehemed-Pascha im Oberbefehl gefolgt war und mit 43,000 Mann bei
Schumla stand, die Communication zwischen der russischen Armee vor Silistria und
den Truppen des General Noth, die Warna und Pravadi besetzt hielten, abzu¬
schneiden. Mit 13,000 Manu stieß er bei Eski - Arnantlez ans General Noth,
der nur 3000 hatte. Roth vertheidigte sich hartnäckig, mußte aber, als die Tür¬
ken Verstärkungen aus Schumla erhielten, nach blutigem Kampfe jenseits Pravadi
sich zurückziehen. Sofort belagerte der Großvezier Pravadi.
In dem Gefechte bei Eski-Arnantlez (17. Mai), welches siebzehn Stunden
dauerte, hatte die neue türkische Infanterie sich glänzend hervorgethan und einen
vortrefflichen Gebrauch ovo dem Bayonnet gemacht, welches bis zur Abschaffung
der Janitscharen die türkischen Militärs nicht hatten einführen wollen.
Graf Diebitsch verließ nunmehr das> Lager vor Silistria und eilte zum Ent-
satze Pravadis herbei. Er vereinigte sich am 10. Juni mit General Noth und
suchte dem Großvezier deu Rückzug nach Schnmla abzuschneiden. Neschid-Pascha,
fahrlässigerweise in völliger Unkenntniß über die Operationen des Grafen Diebitsch,
hielt das Corps von Diebitsch unter Pahlcw für eine der Divisionen des General
Roth, gab. sofort die- Einschließung von- Pravadi- aus und eilte nach Kulectscha,
um diese vereinzelte Division zu vernichten. Bei Marasch' aber zeigten sich ihm
die Truppen von Diebitsch in ihrer ganzen Stärke. Gleichwol behielte er seine
Fassung. Die türkische Armee rückte ordnungsmäßige vor: sie war in regelmäßige
QuarrsS getheilt, welche, in den Zwischenräumen durch eine zahlreiche Artillerie
und durch Cavaleriecolonncn unterstützt wurden.
Die beiden Armeen waren ungefähr von gleicher Stärke, und es entspann
Slahl ein blutiger und hartnäckiger Kampf. Die Explosion mehrer türkischer
Pulverwagen -durch das Feuer der zahlreichen russischen Haubitzen entschied die
Niederlage der Osmanlis. Sie zogen sich eiligst und in Unordnung nach dem
Dorfe Marasch-zurück und ließen 36 Geschütze und einen großen Theil ihres Ge¬
päcks und ihrer Munition dem Feinde.
Nach den amtlichen Berichten der Russen verloren die Türken in dieser Schlacht
bei Kulectscha 2000 Todte, 3000 Verwundete und 1500 Gefangene. Dieselben
Berichte sagen, daß das Feuer der Türken lebhaft, wohl unterhalten und gut geleitet
war und daß der Verlust der Russen 1500 Todte und 1000 Verwundete betrug.
Der Großvezier entkam nach Schumla. Mehre Redouten, welche die Tür¬
ken ans ihrem Rückzüge dorthin errichtet hatten, sowie die Schlechtigkeit der Wege
hemmten ihre Verfolgung durch den Feind.
Der erste Schritt des Grasen Diebitsch nach seinem Siege bei Knlectscha
war, dem Vezier Friedensunterhandlungen vorzuschlagen. Die Russen haben dieses
Mittel oft grade in dem Augenblick, wo der Krieg am heftigsten geführt wurde,
angewendet und dadurch bewirkt, daß das kriegerische Feuer der OsmaNlis sich
dämpfte und sie in ihre gewöhnliche Trägheit zurückfielen.
Die damaligen Unterhandlungen führten zu keinem Resultat. Diebitsch nahm
seine Stellung so, daß er Schumla beobachten und die russische Armee vor Sili-
stria unterstützen konnte.
Die Garnison von Silistria, 8000 Mann stark, leistete fortwährend tapfern
Widerstand. Aber Mitte Mai wurde die dritte Parallele der Belagerer vollendet
und begannen die Breschbatterien ihr Feuer. Die Wallkanonen von Silistria,
von der russischen Artillerie demontirt, wurden unbrauchbar und die Belagerten
mußten auf MuSketenfcuer sich beschränken. Am 30. Mai endlich explodirte eine
große Mine der Russen und eröffnete eine bedeutende Bresche in der Festung.
Der Commandant von Silistria, der jede Hoffnung, dnrch den Großvezier entsetzt
zu werden, verloren hatte, sah sich genöthigt, zu capitulireu. Die Garnison wurde
kriegsgefangen, lieferte ihre Waffen und Munition und überdies die türkische
Douauflotille ans.
Zehn Wochen hatte die Belagerung gedauert: sie kostete den Russen IIS
Offiziere und 2366 Maun. Die Türken hatten bei Silistria aufs neue ihre be¬
kannte Tapferkeit und Hartnäckigkeit in der Vertheidigung fester Plätze, zugleich
aber auch eine große Unkenntniß und Ungeschicklichkeit bewährt. Silistria hatte sich
seit der Einschließung 44, seit Anlegung der ersten Parallele 36, nach Vollendung
der dritten Parallele 25, und nachdem durch die Mincnspreugungen ein ersteig¬
barer und sturmrechter Aufgang gewonnen war, noch 9 Tage gehalten. 29,576
Schüsse waren gegen Silistria gethan worden und diese mußten um so verheeren¬
der wirken, als Besatzung und Einwohner ans einen engen Raum zusammenge¬
drängt waren. Die größte Ungeschicklichkeit aber zeigten die türkischen Contremi-
neurs; sie ließen sich überall von ihren Gegnern, oft nur um wenige Augenblicke
zuvorkommen. Die Minen, welche sie wirklich sprengten, sprangen zur unrechten
Zeit und am unrichtigen Ort, so daß sie fast gar kein Resultat hatten. Mehre
angefangene Minenschachte blieben ganz unbenutzt, da die Belagerten die Hoffnung
aufgaben, den russischen Mineurs Widerstand zu leisten.
Durch die Einnahme von Silistria war das dritte Corps disponibel. Die-
vitsch, im Besitz von Silistria und Warna, das im vorigen Feldzuge erobert war,
beschloß, statt das befestigte Lager in Schumla anzugreifen, wo der Erfolg sehr
zweifelhaft war, den Balkan und zwar ans der Ostseite zu überschreiten. Die
Donaufestung Rustschnk lag ihm freilich noch im Rücken, aber sie wurde von
einer nur schwachen Garnison vertheidigt.
General Kvassofsky sollte mit 23 Bataillonen Infanterie, 40 Escadrons Ca-
valerie und 4 Kosackenregimentern und einer zahlreichen Artillerie vor Schnmla
zur Beobachtung des Platzes zurückbleiben. Die Truppen, welche deu Balkan
überschreiten sollten, wurden in 2 Colonnen getheilt: die rechte unter Rüdiger sollte
in der Richtung von Kinprikevy in das Kamtchikbassin eindringen, die linke unter
Roth unterhalb und östlich von Kinprikevy den Kamtchik überschreiten. Graf
Pahlen folgte in geringer Entfernung mit der Reserve.
Der Grvßvezier, der die ganze russische Truppenmacht vor Schnmla concen-
trirt sah, erwartete einen ernsthaften Angriff ans die Festung. - Er berief deshalb
nach Schumla eiuen großen Theil der türkischen Truppen, welche in dem östlichen
Theile der Bulgarei standen und schwächte dadurch beträchtlich das Corps, welches
insbesondere zur Vertheidigung des KamtchikübergangS bestimmt war.
Dieser Fehler entschied über den Ausgang des Feldzuges.
Diebietsch ließ deu Grvßvezier in seiner falschen Befürchtung. Sobald Ge¬
neral Kvassofsky mit seinen Truppen von Silistria angekommen war, ließ er die
Balkanarmee allmälig und in größter Stille nach dem Kamtchik abziehen.
Der Kamtchik entspringt in dem hohen Contrefort/ welches westlich die
Position von Schnmla beherrscht. Er fließt in einem schmalen, aber sehr tiefen
Bette, das nur äußerst wenig Furte» darbietet, die überdies beim ersten Regenguß
verschwinden. Das rechte Ufer des Flusses überragt bedeutend das linke, auf
welchem die Russen den Uebergang unternehmen mußten.
Die Türken hatten auf dem rechten Ufer grade bei den gangbarsten Furten
Schanzen errichtet und sie mit Kanonen versehen. Aber ihr Vcrthcidigungscorps
war durch deu Grvßvezier zu sehr geschwächt worden: nur 3000 Türken verthei¬
digten den Uebergang bei Kinprikevy. General Rüdiger ließ einen Scheinangriff
auf sie machen, ging währenddessen eine halbe Meile unterhalb über den Kamt¬
chik und rückte alsdann gegen Kinprikevy vor. Hnssuf-Pascha, der diese wichtige
Position mit 3000 Mann schützen sollte, zog sich zurück.
General Roth schlug mehre Brücken unterhalb der von den Türken besetz¬
ten festen Punkte und zerstreute die Feinde. Am 20. Juli langte Noth in Pa-
lisbcmo, Rüdiger in Erketsch an. Beide Orte liegen am Fuße des Nordabhaugs
des Balkan. Diese hohe Gebirgskette, das Hauptbollwerk Thraciens, wurde vou
den beiden Corps der Generale Roth und Rüdiger ohne Schwierigkeit über¬
schritten. Ein allgemeiner Jubel brach ans, als die Russen, vom Gebirge herab-
steigend, auf dem weiten, glänzendem Becken des Meerbusens von Burgas die
Wimpel ihrer Flotte flattern sahen. Admiral Greigh lag hier mit 3 Linien¬
schiffen, 6 Fregatten und einer großen Anzahl Transportschiffen vor Anker, die
mit Lebensmitteln beladen waren.
Die Türken hatten sich theils nach der am Meere gelegenen Festung
Misstvri, theils nach dem an der Bucht liegenden Burgas geflüchtet, und wurden
hier vou der Land- und Seeseite eingeschlossen. Missivri mit seiner Besatzung
von 2000 Mann ergab sich am 22. Juli an Diebitsch, und Burgas, dieser wich¬
tige Platz, der »ach dem Uebergang über den Balkan der Sammelplatz der russi-
schen Flotte und der Stützpunkt einer neuen Opcrativuslinie werden mußte, hatte
unbegreiflicherweise nur eine ganz ungenügende Garnison von ebenfalls 2000
Mann. General Noth eroberte die Festung nach kurzem Kampfe.
Diebitsch hatte dem Großvezier in dem Grade seine» Balkanübergang ver¬
borgen, daß dieser Generalissimus, der ottomanischen Armeen erst am 21. Juli
ein beträchtliches Corps von Schumla nach dem Kamtchik absendete, um den Po¬
sten von Kievprikuy zu vertheidigen, welchen die Russen bereits am 19. Juli über¬
schritten hatten. Die Befehlshaber dieses Corps, die Paschas Ibrahim und Me-
hemed, gingen nun durch den Paß von Nadir-Derbend über den großen Balkan
und trafen am 21. Juli in'Altos ein.
Altos ist eine offene Stadt am Flusse gleiches Namens, der auf den Höhen
des Balkan entspringt und in den See Muugris strömt» der mit dem Meerbusen
von Burgas in Verbindung steht. General Rüdiger erhielt Befehl, am 23. Juli
gegen Altos vorzurücken. Die beiden Paschas griffen ihn an, wurden aber gänz¬
lich geschlagen. Die Russen drangen mit den Flüchtigen in, die Stadt und rich¬
teten ein furchtbares Blutbad an. Die schwachen Neste des türkischen Corps
flohen in den kleinen Balkan.
Diebitsch schlug nunmehr sein Hauptquartier in Altos auf und schickte sich
an, gegen Adrianopel vorzurücken. Um sich gegen das in Schumla stehende ot-
tomauische Heer zu- decken,, setzte er demselben eine zwiefache Linie entgegen: die
eine von Eski-Stambul bis Marasch, unter General Kocissofsky, im Süden van
Schnmla,; die andere im Süden des Balkan und parallel mit demselben-von Se-
limia über Mluboli uach Carnabat, unter. General Chcremetoff.
Der Großvezier griff zwar den General Kvassossky bei Marasch an, wurde
aber geschlagen und mußte sich uach Schumla zurückziehen. General Cheremetoff
seinerseits schlug mit ejner weit, geringeren Trnppenmacht bei Uamboli 12,000
Türken unter Haut-Pascha aufs Haupt.
Der Großvezier erkannte nunmehr, daß, wenn er in Schumla bliebe, er das
siegreiche Vordringen der Russen gegen Adrianopel nicht hindern könne.. Er
entschloß sich, seine Position zu verlassen und den Balkan zu überschreiten. In
Selimia machte er mit- dem Gros seiner Armee Halt. Von diesem.dominirende^-
und hochgelegenen Punkte wollte er Flanken und Rucken des russischen Haupt-
heeres bedrohen. Selimia, eine bedeutende Handelsstadt, liegt oberhalb des Js-
landgy-Thales. Der Jslandgy ist el» Nebenfluß des Pundscha, welcher unter den
Mauern von Adrianopel in die Marizza sich ergießt.
Diebitsch hatte die Bewegung des Großveziers nicht hindern können, be¬
schloß ihn aber in Selimia anzugreifen. Er verwendete zum Angriff -12,000
Mann, die er als Verstärkung vom schwarzen Meere her über Sizeboli erhalten
hatte, und 18,000 Mann seiner alten Truppen, ohne irgendwie die Garnisonen
der genommenen Plätze zu schwächen. Am -I S. August erfolgte der Angriff. Der
Kampf war keinen Augenblick zweifelhaft. Die Türken verließen zuerst ihre äu¬
ßeren Verschanzungen, dann die Stadt selbst, und zerstreuten sich Nach allen Rich¬
tungen. An die Stelle des kriegerischen Feuers, das sie zu Anfang des Feldzugs
beseelte, war bei ihnen eine vollständige EntMnthignng eingetreten, veranlaßt
durch den Schrecken über den kühnen Balkanübergang der Russen und durch die
vielfache» Erfolge derselben in Thracien. Reun Geschütze, 3000 Gefangene, eine
große Menge von Lebensmitteln und Kriegsbedarf fielen den Rossen bei Selimia
in die Hände.
Nichts hinderte fortan den Grafen Diebitsch an seinem Marsche ans Adria¬
nopel. Am -19. August erschienen die Russen vor dieser zweiten Stadt des otto-
manischen Reichs.
Adrianopel liegt am Zusammenfluß der Marizza, des Pnndscha und der Arda,
drei beträchtlicher Ströme, welche nur auf Brücken passirt werden können, in der
Stadt fast unter einem rechten Winkel zusammenstoßen und dann vereinigt ab¬
fließen. Die Stadt war mit einer hohen, starken und von Thürmen flaukirteu
Mauer umgeben. Ihr Graben konnte leicht vertieft und mit dem Wasser der
drei Flüsse gefüllt werden. Die Bevölkerung betrug mehr als 80,000 Einwohner,
von denen °>/s Muhammedaner waren. Die ^Besatzung zählte -16,000 Manu,
darunter dreiviertel reguläre Truppen, und eine große Zahl Geschütze füllte die
Wälle. Uebrigens ist der Anblick von Adrianopel von überraschender Schönheit.
Die weißen Minarets und die bleigedecktcn Kuppeln der Moschee», die Bader und
Karavanserais erheben sich in großer Menge über die endlose Masse der flachen
Dächer und die breiten Gipfel der Platanen. Prachtvolle steinerne Brücken wöl¬
ben sich über die schnellfließenden Ströme: die blendenden Banmwvllensegel der
Schiffe zeichnen sich auf breite, grüne Wiesen ab und vergoldete Halbmonde
blitzen an allen Spitzen in der dunkelblauen Luft. Zur Rechten jenseits deö
Pnndscha ragen über düstere Cvpressen die Thürme deö alten serais, in welchem
die osmanischen Herrscher residirten, als sie vor 400 Jahren das byzantinische
Reich bedrängten, und soweit der Blick über die unbegrenzte Landschaft schweift,
entdeckt mau uur üppige Fluren, Wälder von Obstbäumen und wohlhabende
Dörfer.
Die russischen Soldaten hofften in Adrianopel auf Erholung nach so langen
Anstrengungen und Gefahren: die Kranken auf Nuhe und Genesung, obgleich
die meisten daselbst nur ein Grab fanden. Wer aber die Verhältnisse übersah,
mußte einsehen, daß die Russen hier am Anfange ihres Verderbens standen.
Deal mir mit 20,000 Mann hatten sie Adrianopel erreicht. So sehr hatten
Wechsel- und Nervenfieber, Dyssenterie, Skorbut, endlich die Pest in dem rus¬
sischen Heere gewüthet. Man kann sich einen Begriff von dem Zustande dieses
Heeres machen, wenn man in officiellen Berichten liest, daß allein in den ö Mo¬
naten vom März bis zum Juli nur in den stehenden Hospitälern (über die Ne-
gimentslazarethe fehlen genane Nachrichten) 81,2-Il Kranke ausgenommen wurden,
von denen 28,7i6 starben und man wird hinter der Wahrheit gewiß nicht zurück¬
bleiben, wenn man die Einbuße der Russen während ihres letzten Feldzugs aus
60,000 Mann veranschlagt. Höchstens -16,000 Kombattanten sind über den Pruth
in ihre Heimat zurückgekommen.
Unter diesen Umständen ist es unbegreiflich, daß Adrianopel den Russen keinen
hartnäckigen Widerstand leistete. Die Stadt hätte mindestens 20,000 bewaffnete
Einwohner zur Vertheidigung stellen können: die im Balkan zersprengten türkischen
Corps zogen ans den verschiedensten Wegen nach Adrianopel heran und ein neues
osmauischcs Heer war von Sophia her in Anmarsch.
Allein Staunen und Schreck hatte sich der Besatzung und der Einwohner
bemächtigt. Die Türken hatten überhaupt während des ganzen Feldzugs die über¬
triebensten Vorstellungen von der russischen Streitmacht: ihre Befehlshaber glaub¬
ten allgemein, das Corps des General Diebitsch sei wenigstens 100,000 Mann
stark. „Man könne eher die Blätter im Walde, als die Köpfe im feindlichen
Heere zählen", rapportiren ein zur Recognoscirung abgeschickter Offizier dem
Osman-Pascha.
Sobald die Russen vor Adrianopel anlangten, erschienen im Lager türkische
Parlamentärs, um zu unterhandeln. Diebitsch bewilligte der Garnison Abzug,
verlangte aber Auslieferung der Waffen, der Artillerie, der Fahnen, Lebensmittel
und der Kriegsmunition. Bereits am folgenden Tage (20. August) nahmen die
Türken diese Bedingungen an, und ohne einen Schuß zu thun, rückte die russische
Armee in Adrianopel ein. Welche Schmach für die stolzen Osmanen, vor denen
einst die Christenheit gezittert hatte!
An demselben Tage als Adrianopel ergab sich einer russischen Division die
Stadt Kirkilissia (vierzig Kirchen). Sie liegt auf der Spitze eines westlichen
Contreforts des kleinen Balkan, zwischen den Thälern des Salsd^rv und Tekedvrv
und beherrscht die directe Straße, welche von Schumla über Falls nach Kon¬
stantinopel führt, und bei Kirkilissia ö Meilen östlich von Adrianopel entfernt ist.
Die russische Flotte unter Admiral Greigh hatte sich längs der Westküste
des schwarzen Meeres mit der vordringenden Landarmee auf gleicher Höhe gehal-
den und nacheinander die Seeplätze Bafilikos, Agathopolis (Akte'holl) »ut Alnada
eingenommen.
Die wichtige Seestadt EuvS, welche nahe der Marizzamündung am ä'gäischen
Meere liegt, ließ Diebitsch dnrch ein Detachement Landtruppen einnehmen, und
um Eros mit Adrianopel zu verbinden, die Städte Demotica und Jpsala besetzen.
Demotica liegt im Norden, Jpsala im Süden des Engpasses von Prajaropvliö,
wo die Marizza vor ihrer Mündung in den Archipel das Gebirge Rhodope
durchbricht.
So war die Position der Russen eine wahrhaft militärische und sehr starke.
Ihr linker Flügel stützte sich auf das schwarze Meer, der rechte dehnte sich bis
zum ägäischen Meer ans: das Centrum in Adrianopel war in der Front dnrch
Kirkilissia und durch Pchatal-Burgas auf dem directen Wege nach Konstantinopel
gedeckt. Die beiden Endpunkte dieser Linie waren unterstützt durch die russischen
Flotten in dem ägäischen und in dem schwarzen Meere.
Die Russen waren nnr noch einige Tagemarsche von Konstantinopel entfernt.
Keine türkische Armee stand ihnen gegenüber und die Türkei schien dem Willen
des Siegers verfallen zu sein.
Aber Konstantinopel war durch die Stärke seiner Lage, durch seine krie¬
gerische Bevölkerung, durch alle die Vertheidigungsmittel, mit denen die Natur
den Raum zwischen der Hauptstadt und den Seen von Pschekmedjö ausgestattet
hat, im Stande, nicht allein die Armee von Diebitsch aufzuhalten, sondern noch
bei weitem größere Streitkräfte zu bekämpfen und zurückzuwerfen. Der hart¬
näckige Widerstand dieser Hauptstadt würde überdies die Flotten und Heere der
europäischen Großmächte, die bei der Erhaltung des osmanischen Reiches bethei-
ligt waren, zu kräftigem Beistand veranlaßt haben.
Aber die Türken waren nicht mehr die alten: Furcht und Schrecken be¬
herrschte die Bevölkerung Konstantinopels und Thraciens und dnrch die Thätig¬
keit der Diplomaten, namentlich des preußischen Generals Müffling, die natürlich
ganz andere als rcintürkische Interessen berücksichtigten, und dem General Die¬
bitsch mit seinein erschöpften und zusammengeschmolzenen Heere in die Hände ar¬
beiteten, kam der für die Pforte so nachtheilige Friede von Adrianopel zu Stande,
nach welchem der Sultan eine Kriegsentschädigung von -10 Millionen holländischer
Ducaten an Rußland, von l'/s Millionen Ducaten an die russischen Kaufleute
zahlte, alle seine Besitzungen im Norden und ans dem linken Ufer der Donan
verlor und über die Donaufürstenthümer nur eine nominelle Souveränetät behielt.
Eine nach allen Seite» hin sorgfältig ausgearbeitete Geschichte der Provinz
Preuße» würde ein höchst reiches und interessantes Cnlturmoment des deutschen
Lebens darstellen; den» nirgend waren die Verhältnisse so complicirt und doch,
trotz aller Widersprüche, die sie enthielten, ja, um uns so auszudrücken, trotz
ihrer innern Unmöglichkeit von eine», so eigenthümlichen politischen Verstände
durchdrungen, daß sie wenigstens für einen Zeitraum deö Mittelalters als Muster
dastehen. Ein solches Werk ist bis jetzt nicht vorhanden. Denn so unendlich
große Verdienste sich Voigt um die Geschichte Preußens erworben hat, so hatte
er doch mit zu großen Schwierigkeiten zu kämpfe», als daß ihm el» abgerundetes
Bild gelingen konnte. Seine Darstellung der größeren Verhältnisse des Ordens
ist vortrefflich, wen» auch zu breit und weitläufig angelegt und in manchen Punkten
dnrch neuere Forschungen berichtigt. Von dem eigentlichen Cnltnrleben des
Landes dagegen, von der Kolonisation desselben durch deutsche Einwanderer erhalten
wir eigentlich nnr zerstreute Notizen. Man hat sich jetzt allgemein davon über¬
zeugt, daß für die wirkliche Durchführung eines solchen Geschichtlverkeö zunächst
ein solider Unterban nöthig ist und man beschäftigt sich vorzugsweise mit der
Aufsuchung, Herausgabe und Kritik der Quellen.
Für diese Kritik ist das vorliegende Buch el» höchst bedeutender Beitrag.
Der Verfasser hat zunächst die vorhandene» Ordenschrvnikeu, die Landeschrvnikcn
und die Anfänge gelehrter Geschichtschreibung bis auf Kaspar Schütz bearbeitet.
Als Muster dieser Kritik hat ihm die Nankesche Methode gedient, welche dieser
zuerst aus eine so glänzende Weise in dem Anhange zu seiner Geschichte der
romanisch-germanischen Völker angewendet hat. Sogar bis in die Aeußerlich-
keiten der Form findet man Spuren von diesem Vorbild. ES ist dagegen um-
soweniger einzuwenden, da die Methode in der That die absolut richtige ist.
Ganz abgesehen von dem Gewinn in der Entdeckung und Feststellung neuer
Thatsache» und in der Wegräumung von Vorurtheilen macht es eine unmittelbare
Freude, zu sehen, wie eine gründliche und überlegene Bildung alte uns g"»z
fernliegende Verhältnisse überwältigt. Jene alten Zeiten treten uns viel näher,
als früheren Geschichtschreibern möglich war, denen zwar manche Quelle zur Hand
war, manche Tradition, die für u»S verloren ist, denen aber der sichere Maßstab
der Kritik fehlte. Wir sind überzeugt, daß auch derjenige Theil deö Publicums,
für den die alte Ordeusgeschichte nicht das geringste Interesse hat, diese feine
Analyse mit großem Wohlgefallen verfolgen würde. Die Lügen und Windbeute¬
leien eines Simon Grünau, die Art und Weise, wie er aus allgemeiner Un¬
wissenheit seine Quellen mißverstand und dann keinen Anstand nahm, nicht blos
ans Parteisucht, sondern zuweilen lediglich ans Ruhmredigkeit, seine Erstudnngen
an Stelle der Thatsachen zu setzen, das alles wird.mit strenger Methode und doch
mit einem gewissen Witz nachgewiesen. Freilich steht dieses Interesse immer erst
in zweiter Linie. Die Hauptsache ist der reale, positive Gewinn für die Geschichte
selbst. Im Anhange gibt der Verfasser einige Beiträge zur genaueren chronologischen
Feststellung der Ordeuögcschichte. Mochten nur diesem trefflichen Anfang bald
eine Reihe ähnlicher Vorarbeiten folgen, damit dann die eigentliche Geschicht¬
schreibung, die ins Mark des Volkes einzudringen bestimmt ist, auf sichern Grund¬
lagen ihr Werk beginnen könne.
Der Verfasser hat selber gefühlt, daß aus seinem Stoffe etwas Anderes ge¬
worden ist, als er ursprünglich beabsichtigte. Es fehlt nicht blos der Compost-
tivn dieses Buches, sondern auch der wissenschaftlichen Methode jene Einheit, die
allein eine vollständige Befriedigung hervorbringen kann. Das Leben Konstan¬
tins selbst ist durchaus skizzenhaft behandelt, und wenn in der politischen Ge¬
schichte bis auf deu Tod des Mark Aurel zurückgegangen wird, so scheint dazu
umsoweniger Grund vorhanden zu sein, da diese kurze Darstellung der römischen
Kaisergcschichte bis ans Diocletian, einzelne treffende Bemerkungen abgerechnet,
nichts Wesentliches enthält, was nicht eigentlich schon seit Gibbon feststände. Mit
der Zeit des Diocletian wird die Darstellung etwas ausführlicher, allein es ge¬
lingt dem Verfasser nicht, uns ein anschauliches, übersichtliches und in allen Thei¬
len fest begründetes Bild von jener merkwürdigen Staatsverändernng zu geben,
dnrch welche das alternde Rom, um eine letzte Stütze zu finden, sein eigenes
Staatsprincip auch in der Form zu Gunsten des orientalischen aufgab. Der
Verfasser hat eine große und gerechte Vorliebe für Diocletian, aber die Art und
Weise, wie er ihn gegen die verschiedenen Vorwürfe seiner Gegner zu rechtferti¬
gen sucht, ist wenigstens in der Form keineswegs correct. Man kann es z. B.
mit dem richtigen Begriffe einer historische» Kritik nicht vereinbaren, wenn der
bekannten Christenverfolgung dnrch bloße Muthmaßungen eine audere Wendung
gegeben wird, obgleich es wol möglich ist, daß in der Sache der Verfasser voll¬
kommen recht hat. — Lassen wir die politische Geschichte bei Seite und nehmen
das Buch als eine Sittenschilderung des Konstantinischen Zeitalters, so finden
wir zwar reiche Beiträge im einzelnen, zuweilen auch eine concrete und gut
durchgeführte Schilderung bestimmter Culturverhältnisse, allein es fehlt auch hier
die Vollständigkeit und die Methode, und dieser Mangel an wissenschaftlicher
Vollendung wird wenigstens nur sehr theilmeise durch die künstlerische Komposition
ersetzt.
Der eigentliche Kern des Buches ist der Versuch, den Selbstauflösungsproceß
des römischen Heidenthums darzustellen, der die Einführung des Christenthums,
ganz abgesehen von den Gründen politischer Opportunist, zu einer innern Noth¬
wendigkeit machte. Und hier entwickelt der Versasser eine so reiche Belesenheit,
ein so seines Verständniß für den Uebergang der einen Culturform in die andere,
eine so große Unbefangenheit des geschichtlichen Blickes, daß wir es lebhaft be¬
dauern müssen, daß er sich nicht ans diesen Gegenstand beschränkt, und ihn noch
mehr vervollständigt und vertieft hat. Freilich hätte dann nach einer anderen
Seite hin wieder eine Erweiterung stattfinden müssen. Die Einflüsse des orien¬
talischen Geistes auf die römischen Ideen, die Zerbröckelung der alten sittlichen
Principien durch die unnatürliche iveltbürgerliche Ausdehnung des römischen
Reiches und die dadurch herbeigeführte Verwandlung der religiösen Vorstellungen
mußte bis auf viel frühere Zeiten verfolgt werden, und daneben mußte auf der
anderen Seite die innere Entwickelungsgeschichte des Christenthums in Parallele
gestellt werden. Wie die Sache jetzt steht, haben wir doch nur eine Reihe von
Bildern und Zuständen, die zwar dnrch die Idee und die Reflexion in einen we¬
sentlichen Zusammenhang gebracht, die aber nicht zu einer natürlichen, organischen
Gliederung verarbeitet siud. Und doch hätte der Verfasser dazu vollkommen die
Bildung und das Talent gehabt, während wir jetzt seine Darstellung zwar mit
großem Interesse verfolgen und wichtige Belehrungen daraus schöpfen, aber uns
doch eines gewisse» Gefühls der Unbefriedigung nicht erwehren können.
Die Verdrängung der heidnischen Weltanschauung dnrch die christliche ist ohne
Zweifel der wichtigste und für die Natur des menschlichen Geistes lehrreichste Act
der Weltgeschichte. Daß bis jetzt trotz der großen Ausdehnung und Vertiefung
der historischen Forschung für diesen Zeitraum nicht viel geschehen ist, hat einen
sehr natürlichen Grund. Es haben sich bis jetzt mit jener Zeit mir entweder
strenggläubige Christen oder Feinde des Christenthums beschäftigt, und die einen
wie die andern brachten ihre bestimmten Vorurtheile mit, welche es ihnen un¬
möglich machten, die Thatsachen unbefangen auf sich wirken zu lassen nud ihren
innern Zusammenhang herauszufühlen. Ein strenggläubiger Christ kann eine
solche Geschichte nicht schreiben, denn er sieht in einer Reihe von Thatsachen
Wunder der göttlichen Allmacht, d. h. absolute Unterbrechungen des historischen
Zusammenhangs; und wo man aufhört, dem innern natürlichen Verhältnisse von
Ursache und Wirkung nachzugehe», hört auch die Geschichtschreibung auf. Außer¬
dem bringt jeder bibelfeste Christ eiuen gewissen Vorrath von dogmatischen Vor¬
aussetzungen mit und es ist nur zu natürlich, daß er diese bereits in der
ersten Form des Christenthums realisirt zu finden erwartet, und aus diesem In¬
teresse den Thatsachen Gewalt anthut. Auf der anderen Seite wird aber der
Gegner des Christenthums, der durch den Fortbestand dieser Religion, der er sich
innerlich entfremdet hat, sich fortwährend verletzt fühlt, ebenso unfähig sein, der
Geschichte des Christenthums gerecht zu werden. Denn er wird nur zu geneigt
sein, überall nach endlichen kleinen Motiven, uach bestimmten Interessen zu fragen,
und verführt durch die Irrationalität der Form, die ihm in der Gegenwart einen
so gerechten Widerwillen einflößt, das wirkliche Wunder des Geistes nicht be¬
greifen, das einen mächtigeren Eindruck macht, als die kleinen Wunder des Jen¬
seits, die doch weiter nichts sind, als vorausgesetzte Abnormitäten. Nun ist aber
bis jetzt nur höchst selten ein Schriftsteller zu finde» gewesen, der nicht entweder
zu den Enthusiasten oder zu deu Feinde» des Christenthums gehörte; denn eine
dritte Classe, die Nationalisten des vorigen Jahrhunderts, welche die Analogie
ihrer eigenen kleinen Verhältnisse in die ganze Weltgeschichte übertrugen, war am
allerwenigsten befähigt, sich von diesem großen Ereignisse eine Vorstellung zu
machen. Jetzt scheint indeß der Zeitpunkt gekommen zu sein, wo eine objective
Darstellung des Christenthums als möglich gedacht werden kann. Die Philoso¬
phie der Geschichte und die historische Kritik haben uus darauf vorbereitet: die
erste, indem sie uns auf die großen ursprünglichen und schöpferischen Ideen
im Laufe der Weltgeschichte aufmerksam machte, die andere, indem sie un¬
sere Angen für die Thatsachen schärfte. Das Eine ohne das Andere wäre
unfruchtbar geblieben, denn die Philosophie verführt uns sehr bald, uus
auf die Ideen allein zu stützen, »ut der Einbildungskraft und Combination
Raum zu geben, wo nur die Forschungen mit sprechen dürften; und die
historische Kritik vertiefte sich so ins Detail, daß sie den ideellen Zusam¬
menhang darüber ganz aus den Augen verlor. Jetzt ist aber glücklicherweise die¬
ser Gegensatz versöhnt, es wird keinen Philosophen mehr geben, der sich, wenn er
Geschichte schreibt, der historischen Kritik, und keinen Historiker, der sich der Spe-
culation entschlagen zu dürfen glaubte: oder wo es solche gibt, gehören sie nicht
mehr der Wissenschaft an. Nachdem die Grundideen der religiösen Bewegung
durch die Philosophie wenigstens soweit festgestellt sind, daß sie als Leitfaden für
die Forschung dienen können, kommt es darauf an, mit diesem ideellen Maßstabe
an der Hand Schritt für Schritt den historischen Quellen zu folgen und überall
die Spuren wiederherzustellen, aus denen endlich die vollkommne Gestalt hervor¬
gehen kann. Es versteht sich von selbst, daß ein solches Werk nicht im ersten
Wurf gelingen wird, es kommt nur darauf an, daß nach einer strengen Methode
verfahren wird, daß man stets genau unterscheidet, wieviel man weiß und wieviel
man uicht weiß, und sich daher nie in der Lage sieht, einen Schritt zurückthnn zu
müssen. Wenn wir jetzt in derselben Methode, wie Jacob Grimm den Organis¬
mus der deutschen Sprache festgestellt hat, den Organismus des religiösen Den¬
kens und Empfindens herzustellen verständen, so würde uns sehr bald gehol¬
fen sein.
Das Werk des Herrn Burkhardt ist dazu eine sehr interessante Vorarbeit,
es ist aber noch keine ganz solide und gesicherte Grundlage. Der Grundgedanke,
den er durchführt, ist geistreich und wahr; er entspricht ziemlich genau demjenigen,
den Heinrich Rückert in seiner kürzlich von uns erwähnten deutschen Kultur¬
geschichte verfolgt hat. Es wird nachgewiesen, wie alle Göttergestalten der alten
Welt dnrch ihre Beziehung aufeinander ihre ursprüngliche Physiognomie verloren,
wie sie theils in allegorische Traumwesen sich aufgelöst, theils in unheimlichen Spuk er-
wartete hatten; wie aber die Grundstimmung des suchenden Gemüths, das vou einer
Religion zur andern fortstürmte, sich jeder von ihnen mit fanatischer Zuversicht in die
Arme warf, aber jede wieder unbefriedigt verließ, genau die nämliche war, welche
im Christenthume ihre wirkliche Gestaltung fand; nämlich die Sehnsucht nach einer
überirdischen Welt, nach einem ewigen Leben, welches der absolute Gegensatz des
irdischen Lebens sein sollte, weil dieses irdische Leben des römischen Weltreichs
in der That ein Reich der Lüge geworden war. Diese Romantik des abster¬
benden Heidenthums, wenn man uns diesen Ausdruck verstatte» will, hat im
Anfang des gegenwärtigen Jahrhunderts unsere Naturphilosophen und Mystiker
dazu verführt, als den Beginn der Religion dasjenige anzunehmen, was nur der
Auflösungsproceß derselben war. Die bestimmten plastischen Göttergestalten, die
eine klar ausgesprochene Physiognomie hatten, mußten erst durch vielhundertjährige
Anstrengung des Denkens und des Empfindens ausgelöst und verarbeitet werden,
um jene Mystik daraus hervorgehen zu lassen, die man in den Zeiten der mo¬
dernen Romantik als die höchste Weisheit der Urreligion anzustaunen geneigt war.
Diesen Wahn aufzuklären und das Verhältniß in das richtige Licht zu setzen ist
das vorliegende Werk ein dankenswerther Beitrag.
Das erste Heft enthält vierzig Tafeln und erstreckt sich bis auf die Zeit des
Jul. Cäsar und seiner unmittelbaren Nachfolger. Der Verfasser geht mit Recht
von dem Grundsätze ans, daß die wichtige historische Hilfswissenschaft der Genea¬
logie nicht blos ans Königsgeschlechter ihre Anwendung finden darf, und gibt da¬
her in der Hälfte der vorliegenden Tafeln die Abstanimnngsvcrhältnisse der bedeu¬
tendsten römischen Familien. Die Einrichtung des Werks ist von der Art, daß
auf der einen Folioseite die Tafel selbst steht, auf der ihr entgegenstehenden der
kritische Apparat, nämlich der Nachweis der Quellen, wo über jede in der Ge¬
schlechtstafel vorkommende Person, namentlich die weniger bekannten, nähere Aus¬
kunft zu finden ist. Was die Chronologie betrifft, so hat der Verfasser überall die
nationale zu Grnnde gelegt und so finden wir in diesen Tafeln sieben verschiedene
chronologische Systeme, nämlich die Jnlianische Periode, die jüdische Zeitrechnung,
die Nabv»assariscbe Aera, die Olympiaden, die Aera der Seleuciden, die Jahre
der Stadt Rom und die christliche Zeitrechnung. Das Werk zeichnet sich durch
die beiden Verdienste aus, die bei einem feinden Unternehme» die Hauptsache find,
nämlich durch Vvllstä»digkcit und Genauigkeit der Daten und dnrch eine große
Bequemlichkeit für den praktische» Gebrauch. Alle früheren Versuche der Art blei¬
ben weit dahinter zurück und es wird für alle Historiker und Freunde der Ge¬
schichte sich als ein unentbehrliches Hilfsmittel herausstellen.
Lord Castlereaghs Denkschriften, Depesche», Schriftenwechsel und sonstige amt¬
lich-diplomatische oder vertrauliche Mitthcilimgc» sind von seinem Bruder, Char¬
les William Vaue, Marquis vo» Londonderry, i» zwölf vol»mi»sser Bänden
im Laufe der drei letzten Jahre (1830 —18S3) herausgegeben worden. Castlereagh
hat das heutige europäische Staatensystem: das dermalige politische Gleichgewicht
vo» Europa großentheils mit geschaffen oder zu Sta»de gebracht. Sei»e De»k-
würdigkeiten enthalten zunächst die officielle» und diplomatischen Schriftstücke und
Korrespondenzen von 1798 an, über die irische Rebellion, die fra»zöstscheu Juva-
stousversuche, über die Union, die brennende Frage der Katholikenemancipation,
die dabei stattgehabten religiösen Zwiste und Lösuuge», über die irischen Flücht¬
linge und Staatsgefangene», und den abschließende» Ga»g der Unionssrage.
Die folgende» Bände bringe» Gege»Sta»de, die vo» europäischem Interesse
siud: Acten und Schriftstücke über alle vou 1800 an stattgehabte» Beziehungen
Englands zum Auslande: sie verbreite» sich über Castlereaghs Auftreten in A»>e-
rika, i» Ostindie», i» Ko»sea»tinvpel und vor Kopenhagen: sie geben ausgedehnte
und werthvolle Mittheilungen über den Krieg auf der spanische» Halbinsel gegen
Napeleon, die Gr»»dlage sei»eS späteren Sturzes. Sie bringe» zugleich einen
Depeschenwechsel »ut Stein und Hardenberg, Wilhelm v. Humboldt,
Metternich, Nesselrode, Talleyrand und den bedeutendste» Staatsmäimcrn
der Periode. Es folgen dau» Depesche», Actenstücke nud protocvllarische Auf¬
zeichnungen, die sich aus die Zeit nach der Schlacht bei Leipzig, ans die Ver¬
handlungen zu Chatillon, den Pariser Friedensvertrag und deu Wiener Kongreß
beziehen; Mittheilungen über Talleyrands nachnapolevnische Thätigkeit, über
Ludwig XVIU., über den Aufenthalt der Verbündeten in Paris, über die Lage
Fraiikreichs, über die Absichte» »»d Entschlüsse der Verbündeten bei Napoleons
Rückkehr von Elba und bei seiner Verbannung; werthvolle Angaben über die da¬
malige» Verhältnisse der italienische» Staaten, Spa»le»s, Skandinaviens und
Amerikas. Die Schlußbände endlich bringen Documente über den Gaug der
europäischen Cabinetspolitik und über die fernere Entwickelung der Staatenver-
hältnisse von 1816 bis 1822, insbesondere über den Kongreß von Aachen 1818,
über die Karlsbader Ministerialconferenzen, die Konferenzen zu Troppau 1820
und den Congreß zu Laibach 1821: gesandtschaftliche Berichte über die Stimmung
der Landstände und Bevölkerung, namentlich in den süddeutschen Staate», nehmen
unser besonderes Interesse in Anspruch. Die ganze Publication ist um so wich¬
tiger, als sie eine Menge seltener Aufsätze, welche der englischen Negierung ans
GeHeimwegen zugegangen sind, und noch unbekannter Angaben enthält, welche zum
großen Theil die geheime Geschichte jener Zeitepoche bilden.
Lord Castlereagh war der zweite Sohn Robert Stewards, Discount Castlereagh
und Marquis von Londonderry, und wurde am 18. Juni 1769 geboren. Be¬
reits auf der Universität erhielt er in den mathematischen, philosophischen und
philologischen Wissenschaften die ersten Preise. 1790 trat er ins Parlament:
1797 wurde er Geheimsiegelbewahrer von Irland und 1799 erster Secretär des
Vicekönigs von Irland, Marquis von Cornwallis. Durch sein Streben, die
Union zwischen England und Irland herzustellen, machte er sich unpopulär. Seine
Absicht war, durch eine legislative Einverleibung Irland aller der Wohlthaten
der Ordnung, des commerciellen Gedeihens und gesicherter Zustände theilhaftig
zu machen, die der britische Theil des Reiches bereits genoß. Daß diese Union,
obgleich sich ihr das irische Parlament anfangs widersetzte, doch endlich zu Stande
kam, ist hauptsächlich dem Takte, der Schonung, Beharrlichkeit und Anstrengung
Castlereaghs zuzuschreiben.
1802 wurde Castlereagh an die Spitze des Controlamtes gestellt und 180S
zum Staatssecretär des Kriegs- und Colouialdepartemeuts ernannt. Mit dem
Tode seines Freundes und Gesinnungsgenossen Pitt trat er mit seinen übrigen
Kollegen zurück und übernahm erst 1807 unter dem Ministerium Percival wieder
das Kriegsministerium, in welchem er bis zu seinem Duell mit Canning 1809
verblieb. Dieses Duell machte seiner Zeit großes Aussehe». Castlereagh be¬
schuldigte seinen College» Canning des Mangels an Treue und Ehre in seinem
Benehmen gegen ihn, weil Canning heimlich seine Entfernung aus dem Ministe¬
rium betrieben habe. Infolge des Duells traten sowol Castlereagh als Can¬
ning aus ihren Aemtern, ersterer, nachdem er noch dem jungen Sir Arthur
Weitesten mit Uebergehung so mancher älterer Generale das Commando der Ar¬
mee in Spanien und Portugal verschafft hatte. Aber uoch vor Ablauf des Jah¬
res 1809 erhielt Castlereagh das bis dahin von Canning verwaltete Ministerium
des Auswärtigen, in welchem er von da an bis zu seinem Tode verblieb. „Er
war Minister der auswärtigen Angelegenheiten, sagt der Herausgeber seiner Denk¬
würdigkeiten, zu einer Zeit als unsere militärischen und diplomatischen Angelegen¬
heiten die ausgedehntesten und erfolgreichsten waren: er war unser Unterhändler,
als Europa, das sich auf unsern Ruf erhoben und angefeuert ward durch unser
Beispiel, den britischen Rathschläge» den vorwicgendstcn Einfluß verstattete." —
Seinem Rathe war es hauptsächlich zuzuschreiben, daß das britische Cabinet den spa¬
nischen Unabhängigkeitskrieg aufrichtig und wirksam unterstützte. Mit festem Willen
stand er zu dem Oberbefehlshaber Wellington und förderte ihn nachdrücklich in
seinen kühnsten und entscheidendsten militärischen Anordnungen. So legte er die
Grundlage zu dem Sturze Napoleons.
181 i veranlaßte der zu Fontainebleau abgeschlossene Vertrag seine Sen¬
dung nach Paris. Castlereagh hielt diesen Vertrag für unpolitisch und gefährlich,
weil er Bonaparte den Kaisertitcl ließ, den England nie anerkannt hatte, und ihm
ein souveränes Gebiet verlieh, das Frankreich viel zu nahe lag und die Möglich¬
keit gewährte, zurückzukehren und den Frieden Europas abermals zu stören.
Als Vertreter Großbritanniens ans dem Wiener Kongreß machte er die äußer¬
sten Anstrengungen, die Abschaffung des Sklavenhandels durchzusetzen und schlug
sogar zu dem Zwecke vor, die Einfuhr der Colonialproducte aller derjenigen Län¬
der, wo dieser Handel fortgesetzt würde, zu verbiete». Dieser Vorschlag schei¬
terte jedoch a» dem Widerstand Spaniens: nur eine allmälige Abschaffung war
zu erreichen.
Nach seiner Rückkehr in England erhielt er unzweideutige Beweise der Aner¬
kennung für sein Verhalten ans dem Kongreß; aber auch die Opposition, an
ihrer Spitze Withbrcad, ließ es an Angrissen nicht fehlen. Castlereagh erwiderte,
die Monarchen Europas hätten bei dem Wiener Kongreß sich den Zweck gesetzt,
die zwei großen europäischen Monarchien, die als solche von Napoleon fast ver¬
nichtet waren, Oestreich und Preußen, wiederherzustellen; die beiden Flanken
der zwei Staaten, welche das unmittelbare Bollwerk von Europa bilde» solle»,
dauernd z» sicher». Ebenso sei es wünschenswerth gewesen, eine starke Barriere
zwischen Italien nud Frankreich zu ziehen, der Schweiz ihren Einfluß und ihre
Unabhängigkeit wiederzugeben, die Verbiudungökette beizubehalten, nud Deutsche
land wieder nach dem gleichen System zu consöderireu, um es als unüberwind¬
liches Bollwerk zwischen den großen Staaten des Osten und Westen Europas
herzustellen.
Man hatte Castlereagh vorgeworfen, daß er die Unabhängigkeit Italiens ge¬
gen Oestreich nicht aufrechterhalten habe. Er erwiderte, daß die Italiener
nicht einen Arm gerührt hätten, um das Napoleonische Joch abzuschütteln, daß sie
ihre Freiheit den Alliirte» allein verdankten. Die Allianz Englands mit Oestreich
hätte es unmöglich gemacht, Italien als ein besonderes Königreich unabhängig
zu erhalten. England hätte gegen Oestreich die Verpflichtung gehabt, im vollen
Umfange ihm diejenige territoriale Bedeutung wieder zu verleihen, die es vorher
in Italien innegehabt hätte.
Was speciell Oestreich nud Preußen betrifft, so wies Castlereagh nach, daß
das bei deren Reconstruirung leitende Princip der Stand ihrer Besitzungen im
Jahre 1805 gewesen sei. Keiner von beiden Staaten habe mehr erlangt, als
was sie bei der stricken Festhaltung dieses Princips verlangen konnten. Preußen
habe auf Grund genauer Berechnungen nur 30,000 Seele» mehr erhalten, als
es im Jahre 1803 besessen, während Oestreich bei seineu geringeren Besitzäude-
rnngen nicht mehr als 3 bis 400,000 neue Unterthanen gewonnen habe.
Castlereagh hatte in Wien auf das nachdrücklichste die Einverleibung ganz
Sachsens in die preußische Monarchie bekämpft. Dennoch erklärte er, daß nie¬
mals das Princip der Eroberung legitimer nud berechtigter erschienen sei als in
Bezug auf Sachsen. Der König von Sachsen sei beharrlich bei Napoleon bis zum
letzten Augenblick verblieben — erst am dritten Tage der Schlacht bei Leipzig
ging die sächsische Armee zu den Alliirten über ^— und Sachsen sei mithin ein
erobertes Land im strengsten Sinne des Worts. Aber, sagte er, Preuße» würde
durch den Besitz Sachsens mehr Schaden als bleibenden Vortheil erlangt haben.
Die öffentliche Meinung wäre durch eine so bedeutende und vollständige Aufopferung
der alten sächsischen Königsfamilie verletzt worden, das allgemeine Gefühl der
Menschheit hätte sich gegen solch ein Verfahren aufgelehnt und Preußen durch
diese Einverleibung in der allgemeinen Achtung Europas sich geschadet. Deshalb
habe er soviel als möglich mindestens gegen die Incorporation von ganz Sach¬
sen gestimmt.
„Sollen die Volker der Welt die Waffen erheben »ut sich einander zer¬
fleische» oder solle» sie dieselbe» niederlegen »ut ihr gegenseitiges Gedeihen för¬
dern? Solche Fragen sind es, die gegenwärtig i» Frankreich zu entscheiden sind
—^ Fragen von der größten Bedeutung, denn wer kann bei wiederhergestellter
Autorität Bonapartes zweifeln, daß mit ihr gleichzeitig anch dessen destructive
Militärgewalt wieder ins Leben gerufen wird? Können wir nach Wiederherstellung
der Militärgewalt in Frankreich unsern Blick auf Friede» u»d Wohlfahrt lenke»,
wenn wir sie nicht rin u»ser» Schwerter» erringe»?" Mit diese» Worte» schloß
Castlereagh seine hier zum ersten Mal gedruckte Rede gegen Withbread.
Bei den Unterhandlungen, die dem zweiten Pariser Frieden vorangingen,
hatte Castlereagh den wichtigsten Antheil daran, daß die Werke der Kunst, die
durch Plünderung in Europa in den Galerien und Museen zu Paris angesam¬
melt waren, zurückgegeben würden. Als der Papst die von seinem Vorgänger er¬
preßten unschätzbaren Meisterwerke zurückerhalten hatte, sendete er dem Prinzregenten
Copien derselben nud Lord Castlereagh sehr werthvolle Zeichen der Anerkennung.
Was den zweite» Pariser Friede» selbst betrifft, so hatte Lor'd Castlereagh bereits
1814 das Princip aufgestellt, daß die Sicherheit Europas unzertrennlich mit der
Wiederherstellung des Hauses Bourbon verbunden sei. Er zeigte zugleich gegen
Frankreich eine Art Mißtrauen und war der Ansicht, daß der Vertrag von 1813
es Noch zu mächtig gelassen habe, eine Ansicht, die er anch auf dem Kongreß zu
Aachen 1818 noch näher darlegte. 1821 griff er zu nachhaltigen Repressivmaß-
regeln, gegen die gesetzwidrige» Ausbrüche der arbeitenden Classen, die, durch schwär¬
mende Demagogen »erführe, dem Einflüsse sich ergaben, welcher so leicht sich in
Zeiten geltend machen kann, wo man ans dem Zustande des Krieges in den des
Friedens zurückkehrt; ein Umstand, der seine UnPopularität nur noch vermehrte.
Lord Castlereagh verwaltete in der letzten Zeit seines Lebens das Departement
des Innern und der auswärtigen Angelegenheiten: der Zustand von Europa in der
ersten Hälfte des Jahres 1822 erheischte fortwährende Communicationen mit den
verschiedenen Höfen, aber keine Depesche ging vom auswärtigen Amte aus, die
nicht von ihm geschrieben wäre. Der Masse der Geschäfte, den Anstrengungen
der parlamentarischen Feldzüge, in denen er die Hanptbnrde trug, erlag endlich
sein Geist und Körper. Am 12. August 1822 durchschnitt er sich mit einem
Federmesser die Halspulsader, nachdem er »och am 9. Angust bei dem Könige
Audienz gehabt. Die Geschwornen der Cvroncrs thaten den Ausspruch, daß
diese Katastrophe durch geistige Zerrüttung herbeigeführt worden sei. Der Be¬
stattung wohnten alle Personen von Rang und Auszeichnung und aller Parteien
bei, und die Volksmassen in den Straßen verhielten sich achtungsvoll und lo¬
benswert!).
Lord Castlereagh war Freund und Rath der Armen und Unglücklichen, und ein
Verehrer und Förderer wissenschaftlicher und künstlerischer Bestrebungen. Er,begrün-
dete die Belfast-Akademie und die Gallsche Gesellschaft (Kaolie Soeietx) in
Dudu», die Schriftsteller in der alten Hersischen Sprache (deö schottischen Hoch¬
landes) und Uebersetzungen vou seltenen Werken herausgab. Im Privatleben
war er freundlich, mäßig in den Genüssen, einfach in seiner äußern Erscheinung.
In seinen Amtsfnnctiouen beobachtete er eine ununterbrochene Thätigkeit. Es
war ihm dabei Grundsatz, daß der Departemcntschef verpflichtet sei, die ihm Un¬
tergebene» zu schirmen und zu stützen, daher namentlich bei diesen sein Tod eine
tiefe Theilnahme erregte.
Als Staatsmann ist Lord Castlereagh von Brougham in den „Historischen
Skizzen der Staatsmänner unter der Regierung Georgs IU." hart getadelt worden.
Castlereagh war ein Reaktionär - der erklärte Feind alles dessen, was man Parlaments-
reform nannte. Sein Bruder, der Marquis vou Londondcrrv, sagt von ihm: „ Stets
blieb er dabei stehen, daß in einem Repräsentativstaat die Präponderanz des
Eigenthums und der höheren Stellung nützlicher sei, als die der Massenrediier oder
armseliger Abenteurer (!). Nach seiner Ansicht war die Ernennung einer gewissen
Anzahl von Wahlflecken minder gefährlich, als die Verdoppelung der Anzahl
corrupter (!) Wahlbürger, und die legislative» Maßregel» würden wahrscheinlicher
sich gut und vortheilhaft in den Händen dessen erweisen, der an dem Lande einen
materiellen Antheil besäße, als in denen, die keinen solchen habe». Er war kein
Freund eines Systems, das von Menschen geleitet wurde, deren Einfluß nur in
der Verkuppelung mit den niedrigen Interessen und den noch niedrigeren Leiden-
schalsten eines irregeführten Haufensbestand (!). Er wußte, daß die Regierung sei¬
nes Landes nur sicher und erfolgreich dnrch eine Verwaltung geführt zu werden
vermochte, welche sich des bestimmten und unzweideutigen Vertrauens des Parla¬
ments und Souveräns erfreute, und er war nicht Willens, seine Hand zur Be¬
schleunigung des Zeitpunktes zu reichen, in welchem die beiden Parlamcntshäuser
nothwendig in einen Zustand beständiger Mißhclligkeit über Lebensfragen gerathen
würden, welche die Ruhe und den Bestand des Reiches bedingten."
Die Erfolge der Türken haben den Moniteur redselig gemacht nud er bringt
uns heute eine Widerlegung des russischen Manifestes vom 1. November. Es
gehörte eben nicht viel Dialektik dazu, diese diplomatische Transscription von Aesops
Fabel: „der Wolf und das Lamm" zu entkräften. Die Forderungen des Za¬
ren geschahen ohne Veranlassung von Seite der Türkei. — Die Großmächte
selbst haben erkannt, daß die Note der Wiener Conferenz nach der von Rußland
veröffentlichten Deutung unannehmbar werde, und es ist nicht wahr, daß Ru߬
land zu den Waffen greife, um die Türkei zu zwingen, die Verträge zu beobach¬
ten. Rußland allein habe die Verträge verletzt, indem seine Armeen den Prnth
überschritten, und die Türkei antworte dnrch ihren Uebergang über die Donau blos
auf einen rechtswidrigen Angriff. Der Moniteur setzt dies in einfacher historischer
Weise auseinander, und darum nur um so schlagender und treffender. Der Mo¬
niteur mag selbst erstaunt sein, einmal uicht mehr und nicht weniger als die reine
Wahrheit gesagt zu haben. Das ist eine donne tortnire, welche den diplomati¬
schen Canzleicn selten genug widerfährt. Die Folgen dieser Erklärung sind noch
nicht zu ermessen, und wir sprechen unsere bescheidenen Zweifel gegen die Annahme
ans, Baron Kiselcss werde sich dadurch veranlaßt sehen, seine Pässe zu fordern.
Rußland ist vorläufig nicht in der Lage, eine so stolze Haltung zu beobachten.
Jedenfalls wird es dazu vorerst einer Weisung von Seite der russischen Re¬
gierung bedürfen, und diese kann erst in einigen Tagen hier sein. Herr von
Kiselcss hat zwar schon eine Erklärung wegen des GencralstabeS, welcher Baragnay
d'Hillicrs begleitet, gefordert, allein dies geschah nur in Form einer Unterhal-
tung, und der russische Gesandte gab sich auch vollkommen zufrieden mit der aus¬
weichenden Antwort des Herrn Drouyn de l'Hills. Rußland kann in der That
den westlichen Regierungen gegenüber nichts über das Knie brechen, da es ?v
den Vortheil der östreichisch-preußischen Neutralität zu verlieren Gefahr liefe.
Man darf sich nämlich über die Haltung der beiden deutschen Großmächte, und
insbesondere Oestreichs, nicht täuschen. Wenn sie sich zu völliger Neutralität be-
reit erklären, so ist das wesentlich keine Kundgebung gegen Rußland, weil man
so allein' einige Hoffnung haben kann, die westlichen Mächte und namentlich Eng¬
land von thätigem Einschreiten abzuhalten. DaS Geheimniß der merkwürdigen
Erscheinung auf deu europäischen Börsen im Momente einer politischen Krise,
eines Mißjahres, die feste Zuversicht auf ein baldiges Ende nicht zu verlieren,
liegt in diesem Umstände allein. Die Börse wird jetzt durch die Diplomatie
gehalten, und man kann sagen, Aberdeen und Brot-Schauenstein üben fast mehr
Einfluß auf den europäischen Cours der Effecten, als Rothschild und die anderen
Finanzkönige. Wenn Rußland durch allzugroße Empfindlichkeit die westlichen Re¬
gierungen in den Fall setzt, sich bestimmt zu erklären, dann käme die Sache noth¬
wendig schneller zum Brüche, als seinen Plänen lieb sein kann. DaS letzte Ma¬
nifest und die Antwort des Moniteur müßten von Rechtswegen als die Demis-
sivusacte vou Aberdeen betrachtet werde», und wenn dieser ergebene Freund deö
Zaren seine Zähigkeit nicht bis zur Unverschämtheit bewährt, so müssen wir in
den nächsten Tagen die Einberufung des Parlaments und den Rücktritt Aberdeens
Vernehmens?). Leider hat uns der englische Premier das Maß seiner Ausdauer
schon gegeben, und es ist möglich, daß er auch einer solchen Niederlage noch
nicht weichen wolle.
Hier in Frankreich fängt die öffentliche Meinung an, weniger friedensgewiß
zu sein als die Meinung auf der Börse, und man fängt an zu begreifen, daß der
Kaiser der Franzosen der Grenze immer näher rückt, über welche hinaus seiue
thätliche Enthaltung unmöglich wird. Die militärische Partei vollends zweifelt
nicht mehr, daß sie beim Kaiser durchdringen werde und betrachtet den Krieg mit
Nußland ,a!s eine ausgemachte Sache. Sie wissen, wie schnell hier die Hoffnun¬
gen der Parteien umschlagen, allein sie dürfen auch nicht vergessen, daß jetzt in
Wirklichkeit mehr Aussicht ist für die ruhmsüchtigen Bonapartisten pur sanK denn
je. Die Hanptschwierigkeiten kommen von England, aber wenn die Türken glück¬
lich genug sind, einige bedeutende Vortheile über die Russen zu erringen, wird
auch die englische Regierung gezwungen sein, vorwärts zu rücken. Dies kann
umsoweniger ausbleibe», als Rußland durch seiue Niederlagen in Asien genöthigt
sein dürfte, England directe Verlegenheiten zu bereiten.
Ueber die schließliche Politik der deutschen Fürsten kann man sich schwerer
eine entschiedene Meinung macheu, doch wollen wir wenigstens nicht unerwähnt
lassen, daß hier in Negiernngskreiseu davon gesprochen wird, Preußen habe seine
Neutralität dahin erläutert, im Nothfälle für England und Frankreich gegen
Rußland einstehen zu wollen. Wir haben in der preußischen Politik der letzten Jahre
von hier aus keinen Act entdecken können, der dieser Hypothese Wahrscheinlichkeit
verschaffte; doch werden wir auch nicht soweit gehen, von vornherein die Mög¬
lichkeit einer solchen Wendung in Abrede zu stellen.
Uebrigens lange können wir nicht mehr in Zweifel bleiben über das, was
uns bevorsteht. Dank sei es der entschlossenen Taktik des türkischen Generalissi¬
mus. Die Situation wird bald eine klarere Gestaltung gewinnen.
Der Proceß deö Attentats vor der komischen Oper nimmt seit einigen Ta¬
gen seinen Verlauf vor deu Assisen. Soviel aus dem Verhöre der Angeklagten
und der Zeugen hervorgeht, muß man zugeben, daß, wenn auch einige Isxers
provoLuttons mit im Spiele gewesen sein mögen, doch die Verschwörung und das
Attentat eine wirkliche, eine traurig wirkliche Grundlage hatte. Man kann nicht
ohne Wehmuth über die Zustände dieses schönen Landes die Verhandlungen ver¬
folgen. Nach welcher Seite man hinsieht, es wird nnr Betrübendes zu Tage
gefördert. Ganz abgesehen von der Verwerflichkeit der Grundansicht, ein Land
durch einen Mord zu retten>, wird man durch die Hirulvsigkeit empört, mit welcher
diese bedauernswerthen Meuscheu in ihren Plane» wie bei bereu Ausführung zu
Werke gegangen. Polirische Persönlichkeiten darf mau unter diesen Leuten nicht
suchen, aber auch die Annahme der Polizei, daß die Häupter der politischen Flüchtlinge
in London und Brüssel dabei ihre Hand im Spiele gehabt, fällt als offenbar
nichtig von selbst zusammen. Die Polizei und die Justructionsjnstiz kann sich
weder über Mangel an den nöthigen Mitteln beschweren — öffnet man doch alle
Briefe, die verdächtig scheinen — noch über die allzugroße Verschwiegenheit der
Angeklagten. Die meisten von ihnen haben alles gestanden, was nur zu gestehe»
war, und wenn auch nnr das geringste Factum vorgelegen, das ans eine Mittheil-
nahme der französischen Emigration hindeutete, man hätte es aufgedeckt. Der
öffentliche Ankläger wußte aber bisher nichts vorzubringen als ausgehobene Stel¬
len aus den Pamphleten von Charraö und Victor Hugo. Es war vo» jeher
Taktik der herrschenden Regierungen gewesen, bei sogenannten Tendenzprozessen
immer die ganze Partei verantwortlich zu machen, »ut es wird hierdurch in Frank¬
reich niemand mehr getäuscht. Die Negierung will der Bougeoisie nochmals ins
Gedächtniß rufen, was der zweite December für sie gethan, indem sie das unsin¬
nige Vorhaben dieser Unglücklichen als Parteinnternehmen sämmtlicher Republi¬
kaner darstellt. Als ob die Erfahrung, als ob namentlich Ludwig Philipps
Geschichte uicht genügend dargethan hätten, daß Verschwörungen niemals auch
nur der Ausdruck der Pläne einer Majorität irgend einer Partei gewesen. Als
Ludwig Philipp gestürzt wurde, hatten die geheimen Gesellschaften wenig Einfluß
auf die Februartage, ja nach dem Zeugnisse der Führer glaubten einige gar nicht,
der Zeitpunkt zu einem Schlage sei gekommen. Ich weiß nicht, ob dieser Proceß
der Regierung die Sympathien erringen werde, die sie zu gewinnen hofft, den
Verschwörungen wird sie hoffentlich schaden und das ist alles, was man im Interesse
der Freiheit wünschen kann. Napoleon III. hat jetzt eine bessere Gelegenheit, sich
Anhänger im Lande zu verschaffen, als durch die tcrrorisireude Taktik einiger seiner
Advocaten. Lehrreich ist dieser Proceß auch noch ans einem andern Gesichtspunkte,
mau kann daraus nämlich über die Zustände, wie sie der zweite December gefür-
den und geschaffen, sehr merkwürdige Beobachtungen schöpfen. Wir wollen nach
Beendigung derselbe» eine zustimmenstellende und erläuternde Uebersicht davon
versuchen,- die, wir glauben es, nicht ohne Interesse für den deutschen Leser sein
dürfte.
— Die orientalische Frage hat zu einer großen Zahl Flug¬
schriften Anlaß gegeben, aus denen wir ihrer Originalität wegen die von David Urqnhart
verfaßte: 'i'Iio pi-ogi-e»!; ni Kusüin in >>>e >Vi?5l, IVanb >'»u> 8>u>Ul, hervorheben. Sie
ist wie gewöhnlich voller Paradoxien, fantastisch in ihrer Politik, aber da Hr. Nrquhart
Kühnheit genug besitzt, über die politischen Verhältnisse des Continents anders zu den¬
ken, als die große Mehrzahl seiner Landsleute, und da er, wenn seine beiden fixen
Ideen nicht in Frage kommen, frei von den Vorurtheilen und Voreingenommenheiten ist,
die seine Landsleute oft so merkwürdig unfähig zur Beurtheilung politischer Zustände des
Auslandes mache», so ist die Broschüre nicht ohne ihre Verdienste und kann den kriti¬
schen Leser manches lehren. Die beiden ebenerwähnten fixen Idee» sind eine ganz
ausschweifende Ueberschätzung des Einflusses der russischen Politik, und die bewußte
Mitschuld Lord Palmcrstons an den Siege», die sie während seine» verschiedene» Amts¬
führungen erfochten hat. Niemand wird die Geschicklichkeit der Diplomatie, und die
Consequenz der Politik Rußlands bestreiten wollen; um zu sehen, was sie erreicht hat,
reicht ein einziger Blick auf die Landkarte hin. Aber Hr. Urqnhart geht soweit, jedes
politische Ereignis), welches in de» letzten SO Jahren direct oder indirect zur Erwei¬
terung des russischen Einflusses oder zur Ausdehnung seiner Macht beigetragen hat,
der tiefen Berechnung des russischen Cabinets zuzuschreiben, und in den Vortheile» die
Rußland der Gunst der Zeit und den Verhältnissen zu verdanken hat. die Früchte ei¬
ner allwissenden und allmächtigen Politik zu scheu. Sein Glaube an die Untrüglichkeit
ihrer Berechnungen ist so unerschütterlich, daß sich selbst die Thatsache» ihm anbequemen
müssen. So behauptet er, die russische Politik habe Preußen das langhiugestreckte Ge¬
biet, das seine militärische Lage so unsicher macht, und die Grenze, welche es beständig
Frankreichs Angriffen aussetzt, mir in der Absicht verschafft, diese jüngste der europäi¬
schen Großmächte ganz in Rußlands Arme zu werfen. Bekanntlich ist ganz das Gegentheil
der Fall. Rußland unterstützte anfänglich Preußen in seiner Forderung des ungetheilten
Sachsens, das ihm eine gute Grenze gegeben hätte, und Oestreichs Widerstand »ut seine
Umtriebe in Süddentschland ein Gegengewicht gegen Preußen zu bilden, machte wie ge¬
wöhnlich jede auf die Dauer haltbare Rcconsttuction Deutschlands — der besten Ge¬
währ gegen Rußlands Uebergriffe am Sund und a» der Donau — unmöglich. Die
Schwäche der deutsche» Westgrenze ist ebenfalls kein Werk der russischen Politik. Daß
Deutschland nicht wenigstes den Elsaß zurückbekam, ist vielmehr Oestreichs Politik,
daß zwar Preußen keine» Einfluß i» Süddeutschland ausüben lassen, aber auch keinen
süddeutsche» Staat so vergrößern wollte, daß er dein Kaiserstaate in seinen Plänen unbe¬
quem werden konnte. Der Antheil, de» Rußland an dieser Beraubung Deutschlands
hatte, ist nicht der Berechnung seiner Diplomatie, so»der» der Seiitimeittalität und der
Eitelkeit Kaiser Alexanders zuzuschreiben, den die Schmeicheleien Talleyrands sehr rasch
zum Franzosenfreund gemacht hatten. Überhaupt scheint Hr. Urqnhart ganz zu verges¬
sen, welchen gewaltigen Einfluß die Persönlichkeiten und die Launen des Fürsten in
einem vollkommen absoluten Staate aus die Politik haben, einen Einfluß, der einer
Politik die mit so wunderbarer Conseauenz, wie Hr. Urqnhart befürchtet, nach ihrem
Ziele strebt, entschieden ungünstig ist. Nicht ans kalter Berechnung, sondern aus mysti¬
scher Schwärmerei wurde Kaiser Alexander der Begründer der Neactionspolitik, welche
allerdings in den geschickten Händen der russischen Diplomaten zur Schwächung ihrer
Nachbarn benutzt, aber nicht von ihm erfunden wurde. Die vom Kaiser Nikolaus
in ähnlicher Stimmung übernommene Rolle eines Ritters der Legitimität ist ebenfalls
nicht unter allen Verhältnissen den Plänen der russischen Politik förderlich. Sie machte
die Fortdauer der Allianz mit Frankreich unmöglich, auf die Rußland in den letzten
Jahren der Restauration so ehrgeizige Pläne gebant hatte, und das Julikönigthum
zu einem Bundesgenossen Englands, dessen antirussische Politik seitdem Frankreich
überall unterstützt hat. So gut unterrichtet, unermüdlich, und geschickt geleitet auch
die russische Diplomatie ist, so ist sie doch nicht die Hauptquelle der Macht Rußlands.
Diese sind vielmehr die große Dcfcnsivkraft des Reichs infolge der weiten Entfer¬
nungen und der dünnen Bevölkerung, die Getheiltheit und innere Schwäche Deutsch¬
lands, und die Ohnmacht Oestreichs, das sich erst mit Deutschland und Preußen aus¬
einandersetzen muß, ehe es hinreichende Kraft zur Erfüllung seines Berufs im Osten zur
Verfügung haben kann. So sehr wittert Hr. Uranhart überall russische Intriguen,
daß er ihnen nicht nur die französische Expedition nach Spanien 1823 — die allerdings
eine Folge der Tcudenzpolitik Alexanders war -— sondern auch die englisch-französische
Intervention von 1834 für die Constitutionellen beimißt, blos um die westlichen Mächte
zu beschäftigen, und ihre Augen und ihre Kräfte vom Orient abzulenken!!
Wenn Hr. Urquharts Ansichten manchmal von den allgemein herrschenden soweit
abweichen, daß sie wunderlich genannt werden müssen, so schützt ihn diese Unabhän¬
gigkeit von dem Urtheil der großen Menge doch zuweilen vor jenen epidemischen Irr¬
thümern, die manchmal das politische Urtheil ganzer Nationen anstecken. Er ist einer
der wenigen Engländer, die die wahre Bedeutung der Schleswig-holsteinischen Frage er¬
kannt, und den Muth gehabt haben, sich, im Widerspruch mit den einflußreichsten
Organen der Presse,' für die Herzogthümer und gegen Dänemark auszusprechen. Aber
wenn er in seinem Hasse gegen Lord Palmerston auf diesen die Hauptschuld der so
unglücklichen Beilegung des Streites schiebt, so thut er ihm entschieden Unrecht. Lord
Palmerston zeigte sich im Anfange der Schleswig-holsteinischen Sache insofern günstig,
als er Englands Vermittelung auf Grund einer Theilung Schleswigs antrug — ein An¬
erbieten, welches die Statthalterschaft in allzu sanguinischer Hoffnung auf einen günsti¬
gen Ausgang leider zurückwies! Sollte dann später als die Sache Dänemarks von der
ganzen englischen Presse als die gerechte angepriesen wurde, als der Krieg, wegen der
von ihm verursachten Handelöstörnng, in England höchst unpopulär geworden war, Lord
Palmerston als Verfechter der Herzogthümer auftreten, während doch der Staat, der
sich so gern der erste deutsche nennt, Oestreich, diplomatisch und zuletzt auch militärisch
Dänemark unterstützte, während Preußen, das erst das deutsche Recht verfochten, sich
zurückzog, weil es sich in Europa isolirt und von den deutschen Staaten angefeindet sah?
Der Abschnitt über Ungarn sollte dem Grasen Fiauclmont zur Durchsicht empfoh-
im werden. Während dieser ehemalige östreichische Minister in jedem kleinen Aufstand
ein Werk des englischen Staatssecretärs sieht, weiß Urquhart, daß Lord Palmerston
bei dieser ganzen ungarischen Angelegenheit den absolutistischen Höfe» systematisch in die
Hände gearbeitet hat. Dieselbe zur fixen Idee gewordene Ansicht wiederholt sich bei
der Behandlung der türkischen Frage, soweit sie Lord Palmcrstvns Obhut anvertraut'
gewesen ist. Diese Einseitigkeit und die Verschrobenheit mancher Ansichten abgerechnet,
hat das Buch doch das Verdienst, daß es wichtige politische Fragen von einem höhern
Standpunkte auffaßt, als die Mehrzahl des englischen Publicums, das oft nur den
Maßstab seiner materiellen Interessen anlegt, in Fragen auswärtiger Politik einzunehmen
gewohnt ist.
Seit länger als zwei Monaten haben wir unsere Berichte
suspendirt. Wir verließen das Cabinet Lcrsnndi ans dem gefährlichen Abhang des
Staatsstreiches, zu dem es sich gleichwol nicht zu entschließen vermochte. Eine ent¬
scheidende Wahl mußte indeß getroffen werden; die wichtigsten Fragen blieben unerle¬
digt oder wurden, wie die der Eiscnbahnconcessionen, durch königliche Decrete, denen
der gesetzliche Charakter mangelte, ans eine ungenügende und die öffentlichen Interessen
bloßstellcnde Weise gelöst. Die Zeit nahete heran, wo die Einberufung der Cortes
schwer zu umgehen war, wollte man nicht offen mit der Verfassung brechen. Die Un¬
fähigkeit der Mitglieder des Cabinets. trat außerdem i» der kläglichsten Weise hervor.
Zur ungelegensten Zeit hatte der Minister des Innern, Egana, dnrch Decrete über das
Begräbniß der Protestanten, denen aus Devotion gegen den Klerus die empörendsten
Beschränkungen dabei auferlegt wurden, ein heftiges diplomatisches Zerwürfnis« mit
England hervorgerufen, dessen Freundschaft, gegenüber der drohenden Haltung Amerikas
in der Cubasragc, für Spanien von der größten Wichtigkeit ist. Der Marineminister
Doral hatte in einem Contract über die Stcinkohlenlicfcrung für die Dampfschiffe,
welche die Verbindung mit den Philippinen besorgen, den Staatsschatz in einem Grade
geschädigt, der den dringenden Verdacht erweckte, er habe dabei seinen persönlichen
Vortheil im Auge gehabt, und einen wahren Sturm von Angriffen in der öffentlichen
Meinung und der Presse hervorrief. Selbst seine eigenen Kollegen fanden für gera¬
then, ihn zu desavonircn; da er sich hartnäckig weigerte, seine Entlassung einzureichen,
wurde er durch königliches Decret seines Postens entsetzt. Dies Opfer fristete indeß
die Existenz des Cabinets nur wenige Tage. Die Gunst der Königin, deren Ver¬
trauen in die Tüchtigkeit ihrer Minister völlig erschüttert war, hatte sich von ihm ab¬
gewendet. Die Abwesenheit Marie Christinens, die noch immer in Paris ihre finan¬
ziellen und Hcirathsentwürfe betrieb, machte Jsabcllas Ohr weiseren Rathschlägen offen,
als bisher Zugang bei ihr gefunden hatten. Sie mochte endlich die Gefahren erkennen,
die eine Politik für ihre Krone heraufbeschwor, deren Träger weder den Muth zum
Guten, noch zum Schlimme.» hatten, die weder mit der Verfassung zu regiere», »och
dieselbe zu beseitige» wußten. Der Graf von San Luis, das Haupt der modcrirten
Mittclfractivn, die sich während des letzten Wahlkampfcs von der entschiedenen Oppo¬
sition abgelöst hatte, weilte am Hoflager. und gewann sichtlich an Einfluß und Ver¬
trauen bei der Königin. San Luis, der sich selbst beharrlich geweigert, einen Platz
im Ministerium Nvncali anzunehmen, hatte seit einigen Wochen eine» seiner Anhänger,
Esteban Collantes, als Minister der öffentlichen Bauten in dasselbe gebracht, und da-
durch einen wirksamen Hebel für seine Operationen gewonnen. Gleich nach Dorals
Absetzung traf Calderon de la Barna, bisher spanischer Gesandter in Washington und
zum Minister des Aeußern ernannt, dessen Portefeuille Lcrsnndi seit Einsetzung des Ca-
binets provisorisch verwaltete, in Madrid ein. Es scheint, daß er, die Lage richtig
beurtheilend, wenig Neigung empfand, einer in jeder Hinsicht moralisch bankerotten Ver¬
waltung beizutreten, und sich mit San Luis und der Königin verständigte, während
er äußerlich sich Willens stellte, seinen Posten einzunehmen. Als Lcrsnndi die Königin
bat, den Tag zur Eidesleistung des neuen Ministers des Aeuszern zu bestimmen, ent-
gegnete Jsabella kalt, dieselbe könne ausgesetzt bleiben, bis Lersundi im Stande sei, ihr
auch einen neuen Marineminister vorzuschlagen. Lersundi, hierzu augenblicklich außer
Stande und erkennend, wie die Stimmung der Königin gegen ihn sei, deren Gunst
die einzige Stütze seiner Macht gewesen war, versammelte sofort seine College» und be¬
schloß mit ihnen, da ihnen das königliche Vertrauen entzogen, iure gemeinschaftliche
Demission einzureichen, die auch sofort angenommen wurde.
Die Bildung des neuen Ministeriums erfolgte so unmittelbar darauf (19. Sept.),
daß es klar wurde, es sei bereits alles dazu vorbereitet gewesen. Der Graf von Sau
Luis, der den Austrag dazu von der Königin empfing, übernahm, nebst dem Vorsitz,
das Ministerium des Innern, das er schon früher drei Jahre lang in der letzten Ver¬
waltung des Marschall Narvaez geführt. Calderon de la Barna trat in das Cabinet
als Minister des Aeußern ein, und Esteban Collantes behielt das schon unter Lersundi
von ihm innegehabte Portefeuille der öffentlichen Bauten, was die Rolle, die beide bei
dem Ministerwechsel gespielt, genugsam documentiren. Für die Finanzen wurde Domcnech
ernannt, früher gemäßigter Progressist nud 185-3 College Olozagas in dessen nur
fünftägigen Ministerium. Die Justiz erhielt der Marques von Gerona, ein Neffe des
berühmten Mariano Alvarez, Vertheidigers von Gerona im Unabhängigkeitskriege, und
Verwandter Castro y Orozcos, eines ehemals hervorragenden Modcradvchefs, der 18i7
in der Blüte des Lebens von einem jähen Tode hinweggerafft wurde. Marineminister
wurde Roca de Tvgorcs, Marques de Molius, in der gleichen Eigenschaft schon Mit¬
glied des letzten Ministeriums Narvaez, dem die spanische Marine die ersten Bestrebun¬
gen zu ihrer sichtlich fortschreitenden Wicdcrerhebnng zu danken hat. Das Kriegsmini-
sterium endlich wurde dem General Bläser überwiesen, einem Militär von Fach, der
den politischen Parteiungen fern steht.'
Die Zusammensetzung des Cabinets verkündete deutlich einen Sieg der Constitu-
tionellen. Namen wie Dvmenech und Roca de Togores ließen erwarten, daß man mit
der Politik der drei letzten Ministerien entschieden brechen werde. Trotzdem nahm die
öffentliche Meinung die neue Verwaltung anfangs mit einer merklichen Zurückhaltung
auf, die nur die Folge der wiederholten Enttäuschungen, die das Land in letzter Zeit
erfahren, und der schmachvollen Charakterlosigkeit sein konnte, deren sich verschiedene
spanische Staatsmänner schuldig gemacht, sobald sie aus der Opposition in die Verwal¬
tung auftraten. Die einigermaßen halbe Stelle, die San Luis in den politischen Wir¬
ren, die dem Sturze Murillos folgten, gespielt hatte, diente dazu, das Mißtrauen der
entschiedenen Opposition gegen ihn wach zu erhalten. Das Cabinet hatte außerdem
das Mißgeschick, daß gleich die ersten Tage seiner Amtsführung durch die Circulation
aufrührerischer Flugschriften in der Hauptstadt und die Gerüchte von entdeckten Ver¬
schwörungen bezeichnet wurden, die, wie es scheint, einen ernsthaften Grund gehabt haben,
wenigstens der Ansicht der Negiening nach, 'da sie zu mehren Verhaftungen führten,
worunter die Escosuras, eines einflußreichen Mitgliedes der progrcssistischen Partei und
sogar ehemaligen Ministers in dem ephemeren Cabinet Goyeua - Salamanca (1847).
Eine andre MißHelligkeit entspann sich mit den militärischen Chefs, die für die
Generalcapitanate der Propi'uzen und Kolonien ernannt wurden, bei deren Auswahl das
Cabinet vielleicht zu sehr von den politischen Parteien abgesehn hatte. Männer der
mvdcrirten Opposition, wie Concha und Bos de Olano, befanden sich darunter neben
den Günstlingen der Hospartei Pavia, Pezuela, Sanz und dem letzten Ministerpräsiden¬
ten Lcrsundi. Die Ernannten weigerten sich anfangs die ihnen zugewiesenen Posten
anzunehmen »ut es bedürfte des wiederholten Befehls der Regierung, sie dazu zu bewegen.
Bald jedoch ging die letztere mit Maßregeln vor, die ihre Richtung klar heraus¬
stellten und ihr die Gunst und das Vertrauen der öffentlichen Meinung erwarben. Schon
in den letzten Tagen des September erschien die königl. Ordonnanz, die den Marschall
Narvaez seiner Sendung nach Wien entband (er war bekanntlich niemals dahin abge¬
gangen, sondern in Paris geblieben), und ihm die Rückkehr nach Spanien freistellte.
Dieser Act der Gerechtigkeit gegen das berühmte Haupt der constitutionellen ModeradoS,
das von dem Mißtrauen der vcrsassungsseindlichen Cabinete in die Verbannung getrie¬
ben war, schien schon allein der Nation eine Bürgschaft für die Gesinnung des Cabi-
nets zu geben. Ihm folgte sehr bald, 13. Octbr., die Einberufung der Cortes zum
19. November, die mit einem Bericht des Ministeriums an die Königin eingeleitet war,
der den Entschluß des Cabinets, sich streng in der Bahn der Legalität zu halten, so¬
wie die Nothwendigkeit dazu nachdrücklich hervorhob. Die parlamentarische Regierung,
seit fast zwei Jahren, infolge der durch den 2. December erwachten absolutistischen
Gelüste des Hofes mit einem Schleier bedeckt, war damit wieder in ihre Rechte einge¬
setzt. Einige geringere, wiewol wichtige Maßregeln, die das Cabinet traf, verstärkten
den günstigen Eindruck dieser Schritte. Ersparungen und Reformen in mehrfachen Ver-
waltnngszweigcn wurden decretirt, verschiedene Kreaturen der letzten Ministerien aus der
Administration entfernt und durch constitutionell gesinnte Männer ersetzt. Eine königliche
Ordonnanz bestimmte die Stärke, auf welche die Marine — deren Vermehrung in
Spanien höchst populär ist — vorläufig gebracht werden solle, mit Vorbehalt der Ge¬
nehmigung der Cortes, auf 90 Schiffe, worunter 6 Schranbcnlinieuschiffe und 12 Fre¬
gatten und ordnete sofort den Bau mehrer Schraubenschiffe an. Der von Lcrsnndi
und Egcma so unklug und zur Unruhe Spaniens über das Begräbnis? der Protestanten
erhobene Zwist mit England wurde durch Zugeständnisse beigelegt, die den Protestanten
Friedhofe und alle öffentlichen Feierlichkeiten des Leichenbegängnisses bewilligen. Weniger
populär vielleicht war das Zugeständnis?, das an Amerika durch die Annahme des Ge¬
sandten der Union Sorte', des bekannten Beförderers der cubaischcn Anncxationsnm-
triebe gemacht wurde. Herr SoM hatte indessen Erklärungen gegeben, die ebenso wie
seine am 24. October gehaltene, der spanischen Regierung vorher mitgetheilte Rede an
die Königin höchst zahm und friedlich und völlig verschieden von den bramarbasirenden
Antworten lauten, womit er vor seiner Abreise nach Enropa die Adressen der demokra¬
tischen Deputationen in Neuyork erwidert hatte. Spanien hat außerdem grade jetzt,
wo die orientalische Verwickelung die Aufmerksamkeit und möglicherweise auch bald die
Kräfte der beiden europäischen Seemächte in Anspruch nimmt, das Interesse, der Uuions-
regieruug jeden Vorwand zum Bruch zu benehmen.
Neuerdings, am -I. November, hat das Ministerium Sau Luis in zwei neuen
Decreten den gerechten Beschwerden der Opposition Gehör gegeben und zwei Fragen
damit erledigt, die seit einem Jahr kein geringes Aergerniß erregten. Die Nordbahn,
deren Ertheilung ohne Intervention der Cortes und ohne öffentlichen Zuschlag an den
vom Hofe begünstigten und mit dem Herzog v> Nianzarcs eng liirtcu Banquier Sala-
mancci das Publicum ffandalisirte, ist einer auf den März -1834 angesetzten Ver¬
steigerung vorbehalten. Die von den früheren Ministerien beabsichtigte Zurückgabe
der Güter des Friedensfürsten, Don Manuel Gvdoy ist der Entscheidung der Cortes
überwiesen. Nach allem bisher Geschehenen kann mau daher ohne Optimismus de»
Sieg der constitutionellen Partei über die Staatsstreichsvrojecte als entschieden betrach¬
ten, einen Sieg, der umso ehrenvoller und gcnugthuender ist, als er ohne gewaltsame
Mittel durch den loyalen aber festen Widerstand der verbündeten liberalen Fractionen
und des Landes gegen drei willkürliche und gesetzlose Ministerien errungen wurde.
Es verlautet auch aus sicherster Quelle, daß mit Eröffnung der Cortes die Zu¬
rücknahme aller Revisionsvorlagcn ausgesprochen und nur die unumgänglich nöthige Re¬
form des Senats vorbehalten werden würde, der durch die massenhafte» Ernennungen
der Cabincte Murillo und Noncali seiner Bestimmung entfremdet ist. — Die Ankunft
des Marschalls Narvaez wird in den nächsten Tagen erwartet, über die der Königin
Mutter verlautet nichts Gewisses. Die regierende Königin befindet steh bereits im sie¬
benten Monate der Schwangerschaft. — In diesen Tagen hat Spanien zwei poli¬
tische Notabilitäten dnrch den Tod verloren: Mendizabal, den ehemaligen progcssistischen
Finanzminister und Ministerpräsidenten, der eine so hervorragende Rolle in den Revo-
lutionsstürmcu der dreißiger Jahre gespielt, und den Senator Pcua Aguayo, Moderado,
der noch in der letzten kurzen Sitzung so beredt die Sache des Herzogs von Valencia
vertheidigte.
— Der neue preußische Gesetzentwurf zum Schutz dramatischer und
musikalischer Werke, welcher den Autoren auch ein Recht an den Aufführungen bis -10
Jahr nach dem Tode zu sicher» verspricht, wird für unsere dramatische Literatur und
Kunst der Anfang einer ganz neuen Industrie werde», wie sich erwarte» läßt, zu eini¬
gem Segen für die Kunst. Bis jetzt war bekanntlich der Verfasser eines Theaterstücks
genöthigt, dasselbe im Manuscript an die einzelnen Theater Deutschlands zu senden.
Die Theater bezahlten ihm dafür entweder einmaliges Honorar, oder bewilligten ihm einen
Antheil der Einnahmen, die sie durch die einzelnen Aufführungen machten. Nur bei drei
großen Hoftheatern! Wien, Berlin, München war diese Tantieme, 10 pCt. von jeder
Bruttoeinnahme, dnrch eine Erklärung der Intendanzen dem Autor auf Lebenszeit und
unter gewissen Modalitäten seinen Erben bis -10 Jahre nach dem Tode gesichert. Bei
diesen drei Theatern — und »och bei eimgcn andern Hosbnhueu — bestand außerdem der
anständige Brauch, auch bereits im Buchhandel erschienene Stücke den Autoren ebenso
zu honoriren, wie ungedruckte. Von dem größten Theil der deutsche» Theater aber
wurde für solche Stücke, welche gedruckt im Buchhandel erschienen waren, auch für die
erste Aufführung gar nichts an die Verfasser gezahlt. Eine gesetzliche Verpflichtung dazu
war bis jetzt jedenfalls nicht vorhanden. Offenbar war das eine Unbilligkeit gegen die
Autoren, welche wesentlich dazu beigetragen hat, die dramatische Production weniger loh¬
nend zu machen und mehrfach zu lähme». Und zwar Unbilligkeit aus zwei Gründen.
Erstens ist es ganz zweierlei, ob jemand die Schöpfungen seines Geistes dem Publi¬
cum zur Lectüre, oder ob er sie Speculanten zur Aufführung überläßt. Denn bei der
Aufführung ist der Versasser eines neuen, unbekannten Stückes in unbedingter Unab¬
hängigkeit von der Beschaffenheit jeder einzelnen Bühne, ihrer Schauspieler u. s. w.
und ist doch dem Publicum gegenüber verantwortlich für jeden Mißgriff des Schau¬
spielers und der Regie. Auch der intelligenteste Zuschauer vermag bei einem ihm un¬
bekannten Stück nicht immer zu trennen, was Schuld des Verfassers und Schuld der
Darstellung ist. Jedermann weiß, daß es unerträglich ist, ein Stück in höheren Stil
durch schlechte Handwerker der Kunst aus den Bretern verstümmelt, zerrissen, vernichtet
zusehen, aber wenige werden.bei einer solchen schlechten Aufführung Lust und Ue¬
bung haben, genau zu untersuchen, was der Autor des neuen Stückes und was die
Darsteller verschuldet haben. Nach den bisherigen gesetzlichen Bestimmungen verlor der
Verfasser jedes Recht, aus eine Aufführung seiner Theaterstücke einzuwirken, sobald das
Stück im Buchhandel erschienen war. Er durste auch der traurigsten Bande nicht ver¬
bieten, seinen Namen auf den Zettel zu setzen und eine widerliche Caricatur als seine
Arbeit abzuspielen, er hatte bei größeren Theatern auf Arrangement der Scenen, Be¬
setzung der Rollen, das Streichen des Regisseurs, die Ausstattung und Einübung uicht
den geringsten rechtlichen Einfluß, und doch hatte er die Wirkung zu vertreten, wenigstens
die verfehlte, denn eine gelungene ward von dem Zuschauer (wie auch ganz in der Ordnung
ist) zunächst immer den Darstellern zugeschrieben. Eine zweite Unbilligkeit des gegen¬
wärtigen Honorarvcrhältnisses aber liegt in der Unsicherheit des Lohns, den der Dra¬
matiker bis jetzt sür seine Arbeit hat. Theaterstücke haben im Buchhandel keinen hohen
Cours, den größern Theil des Honorars erhält der Verfasser wie der Operncomponist
durch die Theater. Bis jetzt hatte jedes Theater, welches sich das Autorenhonorar er¬
sparen wollte, nur nöthig, solange zu warten, bis der Text des Stückes, die Musik der
Oper im Buchhandel erschien.
Kurz wer aus das Honorar für Aufführungen rechnen wollte, der durste bis jetzt
seine Arbeit nicht drucken lassen. Durch das preußische proj. Gesetz wird ihm das in
Beziehung auf Preußen möglich, und da sich hoffen läßt, daß die übrigen deutschen
Staaten in kurzem nachfolgen werden, so wird dem Autor und Komponisten die Mög¬
lichkeit gegeben, in eine ganz neue Stellung zum Publicum zu treten. Zumal der dra¬
matische Schriftsteller wird nämlich in Zukunft ein lebhaftes Interesse haben, den
Text seiner neuen Stücke vor oder bei den ersten Aufführungen in das Publicum
zu bringen. Dadurch wird dasselbe Verhältniß herbeigeführt werden, welches für das
französische Theater seit Jahren so vortheilhaft war.
Wir werden erstens billige und zahlreiche Ausgaben neuer Theaterstücke erhalten.
Es wird möglich sein, sie wie Textbücher bei der Kasse zu verkaufen. Dadurch wird
zweitens das Publicum in den Stand gesetzt, zwischen dem Schauspieler und dem Ver¬
fasser zu Gericht zu sitzen, beide werden richtiger und gründlicher beurtheilt werden.
Die Fehler des Stückes und die Schönheiten des Stückes, die Sünden des Darstellers
und seine Vorzüge werden mit mehr Verstand und Lebendigkeit empfunden werden. Es
wird sich der Stamm eines gebildeteren Publicums bilden, als jetzt die meisten Theater
haben. Die Theilnahme an einem neuen Stück wird drittens allgemeiner werden können.
Das Stück eines beliebten dramatischen Schriftstellers wird, wenn es irgendwo mit Er¬
folg gegeben worden ist, auch von solchen, welche die Aufführung nicht sehen konnten,
gelesen werden. Er wird dadurch unabhängiger von den Capricen der Directionen
u. s> w., denn es kann sich schnell eine öffentliche Meinung über das Stück bilden.
Die Theaterkritik der Zeitschriften wird dadurch vielleicht um etwas besser werden.
— In einer unserer bedeutendsten Kunsthandlungen, bei
Rudolf Weigel in Leipzig, sind in der letzten Zeit eine Reihe wichtiger, die bildende Kunst
betreffender Werke erschienen, auf die wir unsere Leser aufmerksam macheu. Zuerst die
2ü. Abtheilung des Weigelschcn Kunstlagcr - Catal o g s. Abgesehen von seinem
unmittelbaren, mercantilen Interesse für Käufer und Kunstliebhaber überhaupt, hat er
das Bequeme für das gesammte Publicui», welches sich mit der Kunst beschäftigt, daß
er in gedrängter Uebersicht so ziemlich alles zusammenstellt, was bei den sämmtlichen
Nationen Europas im letzten Jahre auf die Kunst bezügliches erschienen ist. — Ein
anderes Werk: „Geschichte und Bibliographie der anatomischen Abbildung nach
ihrer Beziehung aus anatomische Wissenschaft und bildende Kunst, vom Medicinalrath
L. Choulant; nebst einer Auswahl von Illustrationen nach berühmten Künstlern,
Hans Holbein, Leonardo da Vinci, Rafael, Michelangelo, Rubens, Rembrandt u. s. w., in
43 Holzschnitten und 3 Chromolithographien," — nimmt einen sehr hohen Rang in der
Kunstgeschichte ein. Es zeigt, wie die Methode der Beobachtung des menschlichen
Körpers in einem innigen Zusammenhang mit dem künstlerischen Princip einer jeden
Periode stand, und wie die großen Maler bei diesem, zunächst auf das Häßliche ge¬
richteten Studien nicht blos die größte Gewissenhaftigkeit, sondern auch einen gewissen
Geschmack hineinzulegen verstanden. Die Reichhaltigkeit und Treue der Holzschnitte,
sowie die ganze Ausstattung des Werks; ist bewundernswerth. — „Die christliche
Kunst in Spanien. Von Passavant." — Diese Skizzen, die wenigstens theilweise
im Kunstblatt gestanden haben, geben uns in einer gedrängten, sehr geschmackvollen
Uebersicht eine vollständige Geschichte der bildenden Kunst in Spanien, mit einer sorg¬
fältigen Beobachtung, wieweit in jeder Periode der Einfluß der Fremden sich geltend
machte, ein Einfluß, der bekanntlich in Spanien sehr groß war, wenn es auch den
Spaniern in der Schule von Sevilla gelang, eine wirklich nationale Kunst hervorzu¬
bringen. Der Verfasser, als gewiegter Kunstkenner bekannt, hat in einem länger» Auf¬
enthalt in Spanien die Materialien zu diesem Werk gesammelt. Die Notizen sind,
un Verhältniß zu dem großen Umfang des Gegenstandes, sehr reichhaltig, und die zum
Theil ausführlich motivirten Urtheile über die bedeutenderen Kunstwerke belehrend und
geistvoll. — „Die Kunst der Malerei. Enthaltend das Landschaft-, Portrait-, Gcnre-
und Historien-Fach, nach rein künstlerischer, leicht faßlicher Methode. Von I. W. Völker."
Das Werk hat einen rein technischen Zweck, es ist el» Handbuch für angehende Künstler
und Dilettanten, die sich einem streng methodischen Studium hingebe» wolle». Der
Verfasser hat sich bemüht, alles was die Erfahrung in der jahrhuudertlangen Geschichte
der Kunst an praktischen Regeln sür den Anfänger als zweckdienlich festgestellt hat,
in einer, immer auf das Nächste gerichteten, von' Einfache» zum Zusammengesetzte»
fortschreitenden Methode zu ordnen, und es kann in Bezug auf die Brauchbarkeit des
Werks nnr gebilligt werden, wenn er es durchaus vermeidet, auf die sogenannte
höhere Aesthetik einzugehen, die einem späteren Studium vorbehalten bleiben muß.
Seiner Richtung nach ist er gebildeter Realist. — „Die höhere Zeichnenkunst, theoretisch,
praktisch, historisch und ästhetisch entwickelt in 50 Briefen. Nebst einer Analyse der
drei Hauptgattungen der Malerei und einem Urtheil über die neuesten Werke von
Overbeck und Cornelius, Von I, Chr, Eltester. Mit 40 Holzschnitte», 2 colorirten
Blättern und 2 Registern." — Das Werk macht Höhere Ansprüche, nud zeichnet sich
auch in einzelnen Materien, namentlich in der Lehre von der Linear- und Luftperspec-
tive, sowie in der Lehre >vom Clairobscur durch eine sehr gründliche und scharfe Analyse
aus. Daß es im Ganzen nicht den befriedigende» Eindrnck macht, wie das vorige,
liegt zum Theil an der ungeschickten Briefform, die zu vielen unnöthigen, in den Zu¬
sammenhang nicht passende» Excursen verleitet. Auch die vielen schönen und bedeu-
tende» Bemerkungen über den Idealismus in der Kunst (der im Gegensatz zum vorige»
Werk schärfer hervorgehoben ist) würden nur gewonnen habe», we»» sie einfacher und
ruhiger vorgetragc» wären. -—
— Die Anzeige des erschienene» erste» Bandes
der Maltzahn sehen Ausgabe von G. E. Lessings sämmtlichen Schriften in Ur.
46 der Grenzboten ward niedergeschrieben, nachdem wir denselben erst an el» paar
Stelle» mit der Lachmannsche» Ausgabe vergliche» hatte»; bei el»er weiter» Durch¬
sicht stießen wir ans die dann eingeschalteten übrigen, weder wenige», noch gernigsügige»
Druckfehler, und uur durch ein Versehen blieb das gleichwol mildere Urtheil über die
Correctheit des ganzen Bandes stehe». Die Correctur desselben ist in Stuttgart wie¬
derum mit solcher Nachlässigkeit betrieben, daß diese sonst schöne Ausgabe der sämmtli¬
chen Lessingschen Schriften ebenso incorrect zu werden droht, als es die sonst schöne
Ausgabe der Götheschen Werke in XXX Bänden, gr. 8., geworden ist. Wir halten
daher jene Anzeige noch zu ergänze» für eine Pflicht gegen das wissenschaftliche Publicum,
durch deren Erfüllung wir uns auch deu Herrn von Cotta zu Dank zu verpflichte» hoffe».
Auf den ersten 236 Seiten des ersten Bandes, welche in Ur. 45 der Grenzboten
ganz unberücksichtigt geblieben waren und die wir seitdem zum größern Theil gelesen
habe», stoße» wir noch ans folgende Druckfehler, deren keiner bei Lachmann steht. S. V,
Z. 12 v. n. 1. Bavs se. Boos; S. 9, Z. 11 v. o. l. Die se. Der; S. 17, Z. 12 v.
o. l. Schlau (als Eigenname) se. schlau; S. 34, Z. 3 v. u. l. als daS Wasser
se. als Wasser; S. 167, Z- 3 v. u. l. Leichenredncr se. Leicheurcder, S. 187,
Z. 6 v. o. ist ein ? statt des ! zu setzen; Z. 6 v. u. l. nehme der Prinz von mir
se. nehme von mir; S. 231, Z. 2 v. u. l. Freunde se. Feinde.
Offenbar, wie uns scheint, ist in dem Gedicht, S. 233:
Wer kennt ihn nicht?
Die hohe Mine spricht
Dem Denkenden. Der Denkende allein
Kann Philosoph, kann Held, kann beydes sein,
statt „Dem Denkeiidett" zu lesen: Deu Denkende». Doch hat diese» Druck¬
fehler, we»» es ni» solcher ist, mich Lachma»». Beide haben hier auch Mine se.
Miene > was bei beiden inconsequent und also ni» Druckfehler ist. Ob S. 113, Z. 9
v. o. kcnnrbar (se. kennbar) und S. 119, Z. 8 v. o. des Klageto» (se. des Klageto»S)
— beides auch bei iB ach manum—ein Druckfehler oder Lessing sah sei, vermögen wir
nicht zu bestimme». S. 171, Z. 7 v. u. ist der Druckfehler r« se. ro beibehalte».
Diese Druckfehler, wie die früher mitgetheilte», sind nur bei einer flüchtige» Lectüre
des Bandes bemerkt! Ueberläßt Herr von Cotta die Correctur der ferneren Bände
den in seiner Druckerei gegen Jahrcsgehalt angestellten Correctoren, sieht er sich nicht
wenigstens für eine sorgfältige Nachcorrcctur nach einem oder nach einigen gewissenhaften und
einsichtigen Gelehrten um, so wird, wie bei der erwähnten Ausgabe der Gothe scheu Werke
die Jncorrccthcit der ferneren Bände mit der wachsenden Stumpfheit täglöhnernder Correc¬
toren, aller öffentlichen Rüge ungeachtet, nothwendig zunehmen. Zu dem Gothe hat
Herr von Cotta ein ganzes Heft von Cartons und Verbesserungen drucken
lassen, diese verhalten sich aber zu allen Druckfehlern der Ausgabe wie ein Tropfen
Wassers zum Meer. Das geht schon aus den von mir in dem ersten Bande derselben
neu bemerkten Druckfehlern hervor. Wie nachlässig aber selbst jene Cartons und
Verbesserungen wieder gedruckt worden, zeigt der Carton S. 313 u. 316 des ersten
Bandes. Hier ist S. 313 der Druckfehler Meere se. Meer getilgt, aber S. 316
der Druckfehler Sprich (nicht sprachst wie in Ur. 43 der Grenzboten verdrückt ist)
se. Sprichst, weil ihn kein Recensent gerügt hatte, stehen geblieben! Hätte sich Herr
von Cotta kundiger Correctoren bedient, die den Bau des Hexameters auch nur ober¬
flächlich gekannt, fo würden sie nicht, wie aus den von mir bemerkten Beispielen her¬
vorgeht, durch Auslassung des e Dactyle» in Trochäen verwandelt haben. Durch das
erforscht se. erforschet (nicht beforschet) Bd. I., S. 346 haben sie sogar einem
Hexameter den einsilbigen Ausgang des Pentameters gegeben.
Sämmtliche folgende 29 Bände der Götheschen Werke wimmeln gleichzeitig von
bisher ungcrügtcn kleinen und großen Druckfehlern, die fast alle in der durchaus nicht
tadelfreien Ausg. letzter Hand nicht anzutreffen sind. Für den XVIi Band (der
erste Theil von Wahrheit und Dichtung) z. B. ist kein einziger Carton gedruckt. Von
einigen fünfzig Druckfehlern, die ich darin angemerkt, theile ich einige mit, von denen
keiner in der Ausg. letzter Hand steht: S. 99, Z. 6 v. u. l. gewendet se. ange¬
wendet (dies freilich eine Düntzersche Vcrjanballhornirung); S. 203, Z. 1 v. o. l.
U-nsahigkeit se. Unabhängigkeit; S. 220. Z. 13 v. o. l. ähnliches se. ähn¬
licheres; S. 248, Z. 10 v. u. l. durchaus se. daraus; S. 276, Z. 4 v. u. l.
Widerwärtigkeiten se. Widerwärtigen; S. 324, Z. 20 v. o. l. um se. und;
S. 328, Z. 12v. o. l. nicht se. nichts; S.334, Z. 13 v. o. l. bestätige se. be¬
stätigte; Z. 10 v. u. l. sie sich se. sie; S. 341, Z. 11 v. u. l. geringen se. ge¬
ringern, S. 372, Z. 12 v. u. l. empfangenes se. empfangenen; S. 373, Z.
14, v. o. l. der se. die; S. 383, Z. 7 V. o. ist die vor Kleidung zu streichen; S.
387, Z. 12 v. u. l. feinsten se. nächsten; S. 393, Z. 8 v. o. l. lustigen se.
lästigen u. s. w.
Dies sind aber nur die rohesten Ausstellungen an einer Ausgabe der Werke Göthes,
welche die A it gemein e Zeitung uns als die beste der bisher erschienenen angepriesen
hat! Unsere Anforderung an Herrn von Cotta beschränkt sich nicht darauf, daß
Göthes Werke nicht gleich einer Zeitschrift, wie das mit der genannten Ausgabe geschehen
ist, nachlässig gedruckt werden, sondern daß er dem deutschen Volke nicht blos eine cor-
recte, sondern auch eine kritische Ausgabe liefere. Eine solche zu besorgen, war
Herr Düntzer, der den Text der Götheschen Werke mit so großer Unkenntniß des
Götheschen Stils, als Impietät behandelte, nicht der Mann, und wäre er es gewesen,
so würden ihm acht Monate nicht dazu genügt haben.
Seit dem Jahre 1848, in welchem Bodenstedt nach langer Abwesenheit in
seine deutsche Heimat zurückkehrte, haben ein anmuthiges Talent und eine liebens¬
würdige Persönlichkeit dem Verfasser der „Völker des Kaukasus" zahlreiche
Freunde erworben. Es war sein Schicksal gewesen, »ach vollendeten Universttäts-
stndien in Nußland unter interessanten Menschen und zum Theil in einer freien
Stellung vieles zu sehen und zu erfahren, was dem flüchtigen Reisenden un¬
zugänglich bleibt. Er lebte längere Zeit in Tiflis, machte dort ernsthafte
Studien in den orientalischen Sprachen, unternahm mehre Ausflüge auch in die
Länder der Tscherkessen und kehrte endlich über Konstantinopel und Italien nach
Deutschland zurück, nachdem er das Anerbieten, eine feste Stellung im russischen
Staatsdienst anzunehmen, zurückgewiesen hatte. Ueberall, wo er verweilte, unter
der russischen Aristokratie in der Nähe der Hauptstadt, bei den Kosacken der
Steppe, in der asiatischen Residenz des russischen Heerführers, unter Turkomanen,
Tscherkessen, Türken und Armeniern, machte ihm sein gutes Naturell leicht,
heimisch zu werden und sich Freunde zu gewinne». Es war ihm njcht nur gegeben,
sich schnell und lebhaft für das Neue zu interessiren und die Art und Form fremder
Menschen zu verstehen und ihr nachzugeben, sondern er hatte auch die schöne Eigen¬
schaft, die Menschen und ihr Leben überall von der idealen Seite aufzufassen,
das Gute und Edle, das in ihnen war, mit Freude und Zartheit zu genießen
und sich das Schlechte und Gemeine mit angeborenem Takt fernzuhalten. Zu
dieser Richtung einer edeln Natur kam ein ungewöhnliches Sprachtalent, welches
ihm außer den cultivirten Sprachen Europas und dem Russischen auch die Sprachen
des Orients und ihre Literatur schnell zugänglich machte. So wurde er nach
seiner Rückkehr schnell als ein feiner Uebcrscher fremder Poesien und als ein
Reisender bekannt, welcher mehr als gewöhnliche Kenntmsse vom Orient und den
südrussischen Provinzen besaß/
Sein erstes größeres Werk: „Die Völker des Kaukasus" ist weniger
anerkannt, als es verdient. Es ist die beste und gründlichste Arbeit über die
interessante Völkergruppe zwischen dem schwarzen und kaspischen Meere und
zeichnet sich durch die Wahrhaftigkeit und Genauigkeit des Details und durch
einen Reichthum von bis dahin unbekannten Notizen aus. Einen Fehler hat er
darin gemacht, und dieser hat vielleicht die Autorität seines Werkes vermindert.
Er hatte durch seiue Stellung in der Nähe des commandirenden Generals im
Kaukasus und durch seiue persönliche Bekanntschaft mit mehren Tscherkessenhäupt-
lingen eine große Anzahl interessanter Nachrichten über die Lehre des neuen Propheten
Schamyl erhalten. Während er sonst in dem Werte mit größter Gewissenhaftigkeit
die wirklichen Verhältnisse schilderte, machte er bei diesen Notizen den Versuch,
sie in einem System ungefähr in der Weise darzustellen, wie der Gebirgsbewohner
des Kaukasus selbst dies System auffassen mag. Das war nicht möglich ohne
kleine poetische Zuthaten, welche von dem Leser als Erfindung des Berichterstatters
empfunden werde« und ihn auch unsicher machen über die historische Treue dessen,
was der Wirklichkeit entnommen ist. Doch ist es für jeden, der wirkliches
Interesse an der ethnographischen Darstellung hat, allerdings nicht schwer, die
mit Bescheidenheit vorgetragene Erstnduug abzulösen.
Bekannt in weiteren Kreisen wurde Bodenstedt durch sein Reisewerk:
„Tausend und Ein Tag im Orient" (S Thle. Berlin, Decker.), wovon
grade jetzt eine neue Auflage angekündigt wird. Das Werk wurde bereits in
diesem Blatte besprochen. Es enthält eine Menge anmuthiger und belehrender Reise-
skizzen, die Schilderung des weisen Turkomanen Mirza Schafft) ist als ergötzliche
Charakteristik eines modernen orientalischen Dichters mit Recht ausgezeichnet worden.
Man sah ans dem ganzen Werke, wie groß die Empfänglichkeit des Verfassers
war, das Schöne und Charakteristische zu empfinden und wie ungewöhnlich seine
Befähigung, dasselbe zu reproduciren; man konnte aber selbst in diesem Reisewerk
erkennen, daß ihm die Composition, das kräftige Zusammenfassen des Stoffes
nach bestinuuteu Gesichtspunkten, nicht leicht werde. Fast alles Einzelne war gut,
zum Theil vortrefflich erzählt, und doch machte das Ganze den Eindruck deö
Fragmentarischen. Hoffentlich wird die neue Ausgabe diesem Uebelstande abhelfen.
Sein Geschick, fremde Dichtungen ins Deutsche zu übertragen, bewies
Bodenstedt nicht nur durch Bearbeitung der „Gedichte von Mirza Schasfy",
welche anch als besonderes Bändchen erschienen sind, sondern anch dnrch seine
Uebertragung der „Volkslieder aus der Ukraine" und der „Gedichte von
Michail Lermvutvff" (2 Bde.). Da er dem Vernehmen »ach gegenwärtig mit
einer ähnlichen Bearbeitung Puschkins beschäftigt ist, so wird die Besprechung der
russischen Dichter selbst am zweckmäßigsten zusammen erfolgen. Seine Bearbeitung
gilt bei den Russe» für vortrefflich, und wir Deutsche haben diesmal durchaus
keine Ursache, ihrer Ansicht zu widersprechen.
Seine eigene poetische Thätigkeit erwies er dnrch Herausgabe seiner G edles de.
Ael'erall erkennt man in diesen den gebildeten Mann mit großer Empfänglichkeit
für poetische Eindrücke heraus. Viele Gedichte sind anmuthige und correcte
Darstellungen einer wahren poetischen Stimmung. Indeß ist die originelle
schöpferische Kraft in ihnen nicht so groß, als die sehr vorwiegende Fähigkeit,
fremde Klänge nachzuahmen und durch Ton und Farbe in Bild, Rythmus und
Composition, die Eigenthümlichkeiten anderer Nationalitäten geschickt anzudeuten.
Sein letztes Gedicht „Ada" ist ein Epos in 17 Bücher», von denen jedes
einige Gesänge enthält. Der Schauplatz ist das gebirgige Schlachtenterrain, in
welchem die Phantasie des Dichters seit Jahren mit Vorliebe verweilt, der Kau-
kasus. Die Geschichte selbst ist einfach, wie dem Epos ziemt. Auf Emir Hamsad,
einem Fürsteusohu von Jelissu, liegt die furchtbare Pflicht der Blutrache. Er
sucht den Mörder seines Vaters und irrt umher, ehrlos, bis er ihn gefunden
und getödtet. Ans dieser Irrfahrt sieht er Ada, die Tochter von Ali Beg,
dem Häuptling von Lesghistan, welche dem Verschmachtenden gütig Speise und
Trank reicht. Beide erglühen in leidenschaftlichem Gefühl füreinander. Der Held
erfährt den Namen seiner Geliebten und beide erkennen trostlos, daß es Adas
Bruder war, der den Vater Emir Hamsads getödtet. Emir Hamsad hat Speise
und Trank aus dem Hanse seiner Todfeinde genommen und darf die Nachcthat
nicht mehr vollbringen, er ist nach den Vorstellungen seines Volkes ehrlos für
immer. In seiner Verzweiflung trifft er auf einen kriegerischen Derwisch, einen
Sendboten Schcnuyls, einen ruhmvollen Agitator der Gebirge gegen die Russen,
welcher mit Ali Beg, dem Vater Adas, befreundet ist. Er vertraut sich dem
Derwisch an, hat Gelegenheit, seinen Heldenmuth bei einem gelegentliche» Kampfe
gegen die Russen zu zeigen und wird von dem Derwisch getröstet, der ihn von
der Verderblichkeit der Blutrache zu überzeugen sucht, mit der Lehre SchamylS
bekannt macht und endlich zu diesem hinsendet. Der Derwisch versucht auch, seinen
alten Freund, Ali Beg, für Schamyl zu gewinnen, aber der trotzige Häuptling will
allein stehn und auf eigene Faust gegen die Russen kriege». Der Derwisch sieht,
daß diese Zersplitterung, die Privatfeindschaften der Häuptlinge der Verderb des
Volkes sind, er weiß, daß Emir Hamsad nach dem Volksglauben keine Sühne
finden kann und daß die Blutrache zwischen den beiden Stämmen nicht aufhört,
wenn nicht der letzte Schuldige durch deu Blitz des Himmels selbst erschlagen
wird. Er beschließt, — nach schwerem innern Kampfe, den Bruder Adas ans
der Welt zu schaffen. Bei einem Gewitter trifft er diesen im Walde und stürzt
den nichts Ahnenden in den Abgrund. Das Volk sieht in dem Tode einen Befehl
des Himmels zur Versöhnung der beiden Stämme. Der Derwisch betreibt die Ver¬
einigung der Liebenden, ein großer Kampf gegen die Russen ist angebrochen; es
gilt schnelle Verbindung aller Stämme. Emir Hamsad, der unterdeß ein Liebling
Schamyls geworden, kommt ans dem Kriegslärm zu Ali Beg, selig, die Geliebte
zu freien. Die Hochzeit wird unter Gesang und Festen gefeiert. Als der junge
Held aber seine Vermählte heimführt nach Hause, wird er auf dem Wege von einem ver¬
schmähten Liebhaber, einem Nusscnfreund, überfallen. Er und die schöne Ada werden
in eine russische Festung geschleppt, Emir Hamsad soll dort erschossen werden,
da stürzt sein Weib zu ihm, beide werden im Getümmel erschlagen. Darauf fällt
Ali Beg rachesuchend in einem Kampf gegen die Russen und der Derwisch fällt,
den Tod suchend, auch in einem Scharmützel gegen die Nüssen.
Diese Begebenheit ist umgeben von einer Anzahl kleiner Episoden, welche Kriegs¬
leben, Landschaft und Sitten der Tscherkessen charakterisiren helfen, aber mit der
Hanptbegebenheit nur in lockerem Zusammenhange stehen. Einige darunter
sind sehr charakteristisch und hübsch erzählt und einzeln betrachtet zu poetischer,
Gestaltung vortrefflich geeignet, aber sie sind dem Gesammteindruck des Epos
doch nicht günstig, denn sie machen eine Schwäche deö Gedichtes doppelt fühlbar,
den Mangel an Composition.
Ein episches Gedicht muß ebenso gut nach bestimmten Gesetzen gebaut werden
als das Drama oder ein größeres Musikstück. Diese Gesetze sind keine zufälligen,
durch Tradition oder unberechtigte Theorie hereingetragenen, sondern es sind die
nothwendigen Bedingungen für eine künstlerische Wirkung des Gedichtes ans
die Seele des Lesenden und Hörenden, d. h. sie helfen dazu, damit das Gedicht
gefalle. Solcher Gesetze gibt es z> B. in Bezug auf die Begebenheit selbst, welche
in dem Gedichte erzählt wird,.mehre. Sie muß einfach sein und leicht verständ¬
lich, sie muß trotz dieser Einfachheit eine Spannung hervorbringen, was zunächst
dadurch möglich wird, daß der Verlauf bis ans Ende nicht von vornherein aus
deu Voraussetzungen des Anfangs zu übersehen ist. Sie muß ferner eine über¬
sichtliche Gliederung in Abschnitte (Gesänge) möglich machen, jeder dieser Gesänge
muß sowol als nothwendiger Theil des Ganzen erscheinen, als anch für sich
selbst ein Ganzes sein, welches in sich organistrt ist, die Hauptsachen in kräftiger
und detaillirter Ausführung unter starkem Lichte zeigt, die Nebensachen, Ver¬
bindungen u. s. w. im schwächeren Lichte um die Hauptsachen gruppirt. Diese
und andere Gesetze der Begebenheit hat das Epos mit jedem größeren Kunstwerk,
auch mit dem Drama, gemein. Allein eine Eigenthümlichkeit des Epos, worin
sich dasselbe wesentlich vom Drama unterscheidet, ist die Stellung und Wichtigkeit,
welche die Katastrophe, der Schlnßtheil in demselben hat. Bet einer dramatischen
Handlung ist der feinste, schwierigste und für den Erfolg vielleicht wichtigste Theil
die Mitte der Handlung, jener Höhenpunkt, zu welchem die dargestellten Menschen
durch ihre Leidenschaften, ihre Befangenheit n. s. w. geführt werden und vou
welchem ab die starke Reaction der Wel5 gegen das einseitige Handeln der In¬
dividuen eintreten muß. Wenn dieser mittlere Knoten eines Dramas richtig ge¬
funden und scharf vom Dichter beleuchtet worden ist, so ist die zweite Concen-
tration 'der Handlung, die Schlußkatastrophe/ verhältnißmäßig leichter wirksam zu
machen. Beim Epos dagegen muß die Handlung sich am stärksten nud massen¬
haftesten um den Schluß concentriren. Hier ist eine große Katastrophe die
Hauptsache, ihr gegenüber erscheine» alle früheren Theile der Handlung als
Einleitung und Vorbereitung. Dies verlangt die genaueste Ausführung, die
glänzendsten Farben, die höchste Kraft und deshalb nimmt sie auch einen ver¬
hältnismäßig großen Raum in Anspruch. In ihr muß der mächtige Strom der
Ereignisse in starke Spannung setzen und diese Spannung muß durch einen ent¬
sprechenden Ausgang vollständig befriedigen. In dieser Schlußbegebcuheit muß
die innere Nothwendigkeit, der logische Zusammenhang, also der künstlerische Bau
der Begebenheit verständlich werden und durch seiue Verminst und seine ethische
Wahrheit imponiren. Dies alles muß sein, unter andern ans zwei sehr
praktischen Gründen: Erstens braucht jedes größere Epos eine starke Steigerung
des Interesses, da die gehaltene, langathmige und verhältnißmäßig einfache Dar¬
stellung leicht ermüdet. Diese Steigerung kann aber nur durch zweckvolle Häufung
der Begebenheiten und deren vermehrte Wichtigkeit hervorgebracht werden. Ferner
aber spielt die ganze Umgebung der Hauptpersonen beim Epos eine andere Rolle,
als beim Drama. Beim Drama sind es einzelne Individualitäten, aus deren
innerstem Gemüthsleben die Hcindlmig herausgeht, lebendige Mensche», welche
sichtlich vor unseren Angen erstehen und denen gegenüber wir Auge gegen Auge
unser Sittengesetz und die Grundgesetze, welche unser Leben regieren, ans klarer
Empfindung zur Geltung gebracht wissen wollen. Beim Epos wird viel mehr
von der Welt, welche die Einzelnen umgibt und bestimmt, dargestellt, die Personen
erscheinen fortwährend in Abhängigkeit von den Sitten ihres Volkes, ihrer
gesellschaftlichen Stellung, der Einwirkungen anderer Persönlichkeiten, die Be¬
gebenheiten werden viel weniger durch einen inneren psychologischen Proceß in
den Individuen, als durch äußerliche Aetiouen zur Entwickelung gebracht. Und
weil dies so ist, müssen wir die ganze Welt, in welcher die Helden leben, in
Bewegung, ihre Umgebung mit im Kampfe, die äußere Action mit imponirender
Ausführung vor uns sehen.
So hat auch die menschliche Vernunft seit der Urzeit Heldendichtungen com-
ponirt, oft ohne sich diese Gesetze durch Reflexion klar zu machen. Und nicht
nur die einzelnen großen Dichter haben das gethan (mit einzelnen Ausnahmen,
welche der Regel zur Bestätigung, dienen, z. B. Dante) sondern ganze Völker haben
ihree pischen Stoffe nach demselben Grundsatz zu Gedichten abgeschlossen. Und wir
beurtheilen den Adel, die Kraft und deu Kunstsinn einer Volksseele unter andern
auch darnach, wie groß ihr Compositionövermögen bei der poetischen Formung
ihrer Heldeustvffe ist. Die Ilias, die Odyssee, das Nibelungenlied zeigen trotz aller
Zufälligkeiten und Störungen im innern Bau die starke Kraft der Griechen und
Deutschen in dem anffallend mächtigen Bau der epischen Katastrophen. Es gibt
nichts, was episch schöner componirt wäre, als die Katastrophe der Ilias, der
Kampf des Odysseus mit den Freier», der Todeskampf der Burgunder an EtzelS
Hofe. Neben diesen geschlossenen Dichtungen bezeichnen die epischen Schöpfungen
der übrigen Volker in aufsteigender Reihe fast jeden Grad von künstlerischer Cvn-
centrationskraft und jede Art von Störungen, welche diese Kraft durch innere
und äußere Erlebnisse des Volkes erlitten hat, so bei den Indern, den Persern
bis zu den modernen Serben. Wer aber die Gesetze epischer Composition an
Schöpfungen moderner Kunst studiren will, der möge sich vor allem an Walter
Scott halten, der darin ebenso originell als kunstvoll zu Werke geht, oder er
nehme die schone Episode des Schach Rauch zur Hand, welche Rückert vortrefflich
als besonderes Epos: Rösten und Snhrab bearbeitet hat.
Wer das hier Gesagte billigt, wird in dem Gedicht Bodenstedts grade den
Theil der Begebenheit schwach finden, welcher am stärksten hatte sein sollen, den
tragischen Untergang der Helden. In drei verschiedenen Scharmützeln fallen die
Hauptpersonen, die Liebenden durch einen Zufall, der nach der ganzen vorherge¬
henden Handlung durchaus keine genügende Nothwendigkeit hat, und auch beim
Epos in Hauptsachen nicht entscheiden darf. Ein herabfallender Stein, ein ex-
plodirendcr Pulversack, ein brechender Baumstamm hätte sie ebenso gut tödten kön¬
nen. Wer ist dieser eifersüchtige Liebhaber? Wir haben gelegentlich einmal von
ihm gehört, aber wir kennen den Verräther gar nicht, und er darf sich unterstehen,
unsere Haupthelden zum Tode zu bringen? Selbst ^der Vater Adas und der
Derwisch werde» noch nicht in einem Kampfe zu Tode gebracht, es sind dabei
zwei Bataillen nöthig.
Ueberhaupt ist ein tragischer Untergang der Liebenden in dem Gedicht nicht
genügend motivirt. Das düstere Schicksal, welches ans dem tscherkessischen Volke
liegt, reicht noch nicht aus. Auch die Unthat des Derwisches, durch welche ihre Ver¬
bindung möglich wurde, genügt nicht, denn es ist kein Zusammenhang zwischen
ihr und dem Unglück der Neuvermählten. Diesen Z»sammenhang zum wenigsten
hätte der Dichter schaffen können. Der zurückgesetzte Freier hätte früher sicht¬
bar werden n»d dnrch den Tod von Adas Bruder auf irgend eine Weise zu sei¬
nen, Ueberfall gebracht werde» müssen. Dieser Ueberfall mußte stattfinden wäh¬
rend der Hochzeit, und da der Dichter als Deutscher nicht die celtische Grausamkeit
der Franzose» hat, »ach der Vermählung als Augriff auf Ali Begs Gehöft. Daun
Todeskampf der gesammten Helden des Epos, i» längerem Verlaufe mit Mannig¬
faltigkeit der Situationen. Zuerst fällt Ali Veg, dann der Derwisch, vielleicht gegen
den jungen Deutschen (?), dem er das Leben geschenkt und den ein Zufall später wie
gelegentlich umbringt, dann erst fallen die Liebenden zusammen »ut als das Haus
brennt, kommt Schamyl selber, tödtet den Nest der Russen und erklärt zum Schluß
das Nöthige. — Uebrigens diese Vorschläge bescheiden und unmaßgeblich. Dann
hätte der Derwisch ein größeres Recht gehabt, den Fluch seiner That aus dem
Ausgang zu erkennen.
Ferner aber ist die That des Derwisches selbst sowie sie durch den Dichter
dargestellt wird, verderblich für die Wirkung des Gedichtes. Es ist durchaus
nicht »»möglich, daß ein fanatischer Agitator einen solche» Entschluß faßt und
ausführt, wenn aber der Dichter eine ruchlose That braucht, muß er dem Thäter
in seinem Gedicht auch die Stellung gebe», welche unser menschliches Gefühl ei¬
nem solchen gefährlichen Gesellen zuweist. Der Derwisch ist Hausfreund i» der
Familie seines Opfers, er muß naturgemäß ein menschliches Interesse an dem
nehmen, den er in den Abgrund stürzt, ja man sieht nicht ein, warum der Bru¬
der Adas ihm nicht naher steht als Emir Hamsad, für den er doch so schnell ein
so gemüthliches, echt deutsches Wohlwollen empfindet. Bis zu der That er¬
scheint der Derwisch immer in dem hellen Licht eines guten Patrioten, und selbst
nachher erhält er keine anderen Farben. Dazu kommt, daß der Act des Mor¬
des selbst doch zu bleich und farblos geschildert, die Gemüthsbewegung des Der¬
wisches auch nachher viel zu wenig ausgeführt ist. Man verliert dadurch das
Interesse an der dargestellten Begebenheit, statt daß dieses Interesse sich grade
an diesem Punkte aufs höchste steigern müßte.
Diese Ausstellung, welche an dem Gedicht Bodenstedts zu mache» ist, er¬
klärt sich zum Theil ans den eigenthümlichen Schwierigkeiten, welche die epische
Behandlung einer fremden Volksiudividualität, fremder Sitten, einer fremden Denk-
»ud Empfindungsweise hervorbringt. ES ist wahr, daß das Epos vorzüglich
geeignet ist, uns das allgemein Menschliche ans dem Boden nationaler Eigen¬
thümlichkeit darzustellen und es ist ferner wahr, daß grade die Aeußerungen
eines fremden Volkslebens auf die Seele des beobachtenden Dichters starken epi¬
schen Reiz ausüben. Auch ist kein Grund vorhanden, aus dem ein Heldenge¬
dicht, welches tscherkessische oder japancstsche oder anderer Menschen Verhältnisse
n. s. w. darstellt, nicht die Höhe n»d Bedeutung eines großen und fesselnden
Dichterwerkes erreiche» sollte. Und wenn uns aus diesen Völkern epische Dich¬
tungen erhalten wären, in denen sie ihr eigenes Leben, ihre Schicksale und Tha¬
ten erzählen, so würden wir solche Gedichte jedenfalls mit dem größten wissen¬
schaftlichen Interesse betrachten und ihren poetischen Werth unter anderem darnach
schätzen, ob die Menschen und Begebenheiten durch allgemein verständliche, nicht von
einem bestimmten barbarischen Bildungszustände abhängige Motive und Verhältnisse
bewegt werde«, d. h. ob uns der Kern der Handlung verständlich ist. Und es ist
ein Erfahrungssatz, daß bei allen ans dem Volke selbst hervorgegangenen Dich¬
tungen über dem Wunderlichen und Originelle» seiner Weltanschauung sich bei
Hanptactivnen allgemein verständliche Beziehungen in den Vordergrund stelle».
Wenn aber ein gebildeter Mann unseres Volkes solche Zustände eines fremden
Volkslebens vor uns aufzurollen bemüht ist, so wird er von vornherein in
der Versuchung sein, uns grade das Fremdartige, Eigenthümliche, Merkwürdige,
von unserer Empfindungsweise Abweichende in den Vordergrund zu stelle». Da-
durch entsteht eine Malerei der Staffage, welche leicht mächtiger wird, als die ei¬
gentliche Begebenheit. Und ferner erhalten die Helden und ihre Thaten leicht
dadurch etwas Unwahres, daß der fremde Dichter sie zum Theil genau nach der
Wirklichkeit zu porträtiren sucht, zum Theil ihr Wesen und ihre Begebenheiten
nach seinem eigenen Ermessen aus seiner Persönlichkeit herausarbeiten muß. Er
wird demnach in dringender Gefahr sein, entweder unwahr zu werden dadurch,
daß er nicht Zusammengehöriges miteinander verbindet, z. B. tscherkessische
Wildheit nud deutsche Seutimenralität, chinesische Zöpfe und deutsche Gemüthlich¬
keit, oder er wird im Bestreben, diese Verbindung zu vermeide«, ans einem
schönfarbigen, stark ausgeführten Hintergründe schattenhafte Menschen, eine wenig
detaillirte Handlung heraufmalen. Den letzteren Uebelstand hat auch Bodenstedt
nicht vermeiden können, er ist immer noch der bessere unter den beiden angegebenen.
Das Bestreben, treu das Land und die Menschen zu schildern, ist in dem
Gedicht „Ada" überall sichtbar und viele Einzelnheiten sind von diesem Stand¬
punkte aus vortrefflich gezeichnet. In den Versen hat der Dichter sich die Frei¬
heit genommen, das Maß zuweilen charakteristisch zu ändern, Lieder einzuflechten
u. s. w. Es ist bereits früher in diesen Blättern ausgeführt worden, weshalb ein
solches Wechseln des Versmaßes bei einem Gedicht von epischer Einheit nicht
vorteilhaft für die Wirkung und Erzählung sei. Bodenstedt ist übrigens ge¬
schmackvoll in der Wahl seiner Maße und sorgfältig in der poetischen Form.
Dies Talent hat er auch hier bewährt.
So wird das Endurtheil über das vorliegende epische Gedicht sei«: daß seine
Schwächen in unvollständiger Composition, seine Vorzüge in lebhafter Reproduc-
tion schöner Eindrücke beruhen, welche Landschaft nud Menschen in der Seele des
Dichters hervorbrachten, und unser Urtheil über das Talent des Dichters, soweit
man aus seinen gedruckten Werken darüber urtheile» kau», muß das sein: daß er
in bewunderungswürdiger Weise sein organisirt ist, das poetisch Schone in alle»
Formen zu erkennen und charakteristisch zu reproduciren, daß seine Kraft zu er¬
finden aber und das Einzelne zu combiniren noch nicht in gleichem Maße vor¬
handen oder entwickelt ist.
Im gegenwärtigen Augenblicke beschäftigt man sich fast ausschließlich mit der
russischen Seemacht ans dem schwarzen und asowschen Meere. Wir haben hier nicht
die Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten abzuwägen, ob die baltische Seemacht
Rußlands in der nächsten Zeit ebenso wichtig zu werden bestimmt ist, wie gegen- ,
wärtig die des schwarzen Meeres. Je ungewisser aber diese Zukunft, desto un-
verfänglicher scheinen uns einige Mittheilungen, welche sich zum größten Theil auf
eigene Anschauung gründen.
Nach den officiellen Angaben beläuft sich die gesammte maritime Macht
Rußlands ungefähr auf 60 Linienschiffe von 70 — 130 Kanonen, 37 Fregatten von
40 — 60 Geschützen, 70 Korvetten, Briggs, Brigantine» und angeblich 40 Dampf¬
schiffe mit 42,000 Matrosen und 20,000 Seesvldaten, einschließlich der Artil¬
leristen. Dies würde 167 größere Segelschiffe mit 9000 Geschützen geben. In
Wahrheit ist dagegen die Summe der Schiffe, Mannschaft und Geschütze geringer.
Es existiren nämlich 3 Linienschiffe von 100—130 Kanonen; die Nvssta und noch
zwei andere gigantische Schiffe von 130 Kanonen in vier Etagen und von einer
ganzen Equipage (1000 M.) bemannt, sind in dem Fahrwasser des baltischen
wie des schwarzen Meeres fast unbrauchbar wegen ihres zu großen Tiefganges.
Sie verbringen daher den größten Theil ihres Lebens im ansgepnmpten Dock,
um ausgebessert zu werden. Jenen fünf Linienschiffen folgen noch 22 zu 80 —
100, 20 zu 70 — 80 Kauonen, 4 Fregatten zu 60, 20 zu 36 — 30 Geschützen
und etwa 40 Corvetten, Briggs, Schooner ?c> Macht im ganzen 113 größere
Fahrzeuge mit 7300 Geschützen, 49,800 Matrosen und Seesvldateu, einschließlich
der Artilleristen. Die russische Gesammtflotte zerfällt in fünf Divisionen, von
denen die drei ersten im baltischen, die beiden letztern im schwarzen, kaspischen
Meere aufgestellt sind. Kronstäbe ist der Hafen für die 1. und 2., Neval für die
3. Division, Sewastopol für die 4. und 3., wozu Astrachan als Hafen der wenigen
Schiffe des kaspischen Meeres tritt. Jede Division theilt sich wieder in drei Bri¬
gaden, jede dieser hat drei Equipagen. Die Bestandtheile der Equipagen, von
denen jede 1000 Mann umfassen soll, sind sehr verschieden. Auch ist ihre Mann¬
schaft und Artillerie höchst selten vollzählig.
Ans die baltische Flotte kommen reglementSmäßig 27 Equipagen. Dies würde
eine Streitmacht von 33,730 Mann geben, umfaßdjedoch in Wahrheit kaum 27,000
Mann. Abgesondert davon besteht die Scheerenflotte an Finnlands Südküste, welche
mit etwa 1000 Finnen bemannt ist. Trotzdem wird sie als 46. Equipage aufgerech¬
net, während die 47. Equipage (Gardemarine, in Petersburg stationirt), nur eine
Paradeabtheilung bildet und die unbezifferle Lchrcquipage vorzugsweise zur prak¬
tischen Bildung von Marineoffizieren dient. Die drei lctztgenanten Equipagen
siud eigentlich gar nicht in Betracht zu ziehen, wenn es sich um Rußlands Kriegs¬
macht auf der See handelt. Ebensowenig die 9 Lasteqnipagen, welche mit den
13 Arbeiterequipagcu uur Hafendienste verrichten.
Im allgemeinen besitzt die Flotte des schwarzen Meeres mehr kleine
Schiffe, die der Ostsee eine zahlreichere Dmnpfflotille. Das eigentliche Gros
derselben bilden 13 größere Dampfer und 2 Dampssregntteu (Bvgatir und Kamt¬
schatka). Da indessen auch die Tranöportsteamer der Krone meistens sür den
eventuellen Kriegsdienst eingerichtet sind und ebenso die Privatdampfer schmal
gebaut, so würden im Falle eines Seekriegs diese Fahrzeuge wol militärisch aus-
gerüstet und wenigstens zum Dienste hinter der Fronte verwendet werden können.
Jedenfalls würde die Regierung in einem solchen Falle außerdem die Privatboote
in Anspruch nehmen, und so die Stärke der baltischen Dampfflotille auf L0 Fahr¬
zeuge bringen können.
Diese würden dann aber auch die tüchtigsten Fahrzeuge umfassen; denn von
den Segelschiffen des baltischen Meeres ist mindestens ein Drittel in absolut
schlechtem und ein zweites Drittel in sehr mittelmäßigem Zustande. Viele abge¬
takelte und gänzlich »nbranchbare Fahrzeuge werden aber noch immer in den Re¬
gistern fortgeführt. Besonders gilt dies von den größeren Linienschiffen, von de¬
nen fortwährend durchschnittlich -Il — -I8 im Kronstädter Hafen, verhältnißmäßig
ebensoviel in den andern baltischen Häfen dienstuntauglich liegen. Es ist schon
bekannt, daß das allzuwenig Salze Wasser des baltischen Meeres das Schiffsma¬
terial außerordentlich angreift, so daß die Gebrauchstüchtigkeit der Schiffe auf¬
fallend kurz dauert. Aber das Süßwasser trägt uicht allein die Schuld. Viel¬
mehr nimmt man im allgemeinen das Eichenholz von Bäumen, welche auf sehr
feuchtem Boden stehen, also verhältnißmäßig jung zu der für den Schiffsbau nö¬
thigen Stärke gelangten. Da nun überhaupt Mangel an Eichenholz herrscht, so
wird dies wenig zähe Material auch noch meistens zu frisch verarbeitet. Ueber-
dies fehlt hänfig jene peinliche Accnratcsse der Arbeit, welche eben nirgend nö¬
thiger als beim Schiffsbau ist, wenn nicht selbst das beste Material binnen kür¬
zester Zeit zu Grunde gerichtet sein soll. Das gilt von allen Fahrzeuge», welche
in russischen Häfen gebaut sind. Dagegen zeigt allerdings alles andere SchiffS-
material, besonders Metall und Seilwerk, eine ausgezeichnete Güte, und der un¬
nütze Metallprunk, welcher für die russische Marine des baltischen Meeres charak¬
teristisch ist, thut der Brauchbarkeit wenigstens keinen Eintrag. Ferner erscheinen
Takelage und Verdeck immer in vortrefflicher Ordnung erhalten. Dagegen fehlt
diese mit der Reinlichkeit in den Räumen der Matrosen und Soldaten, während
die Offizierskajüten von Eleganz strotzen, deren Beschaffung der Phantasie und
den Geldmitteln jedes einzelnen überlassen bleibt. Die Kost der Soldaten und
Matrosen ist auch ziemlich reichlich, aber im ganzen dem Seeleben durchaus uicht
angemessen. Und wie ans dem Festlande die Casernen und Lazarethe der Ma¬
rine von denen der Landtruppen an guter Lage, Wohnlichkeit und zweckmäßigen
Einrichtungen (selbst das große Kronstädter Hospital kam» ausgenommen) weitaus
übertroffen werden, so ist in dieser Hinsicht auch auf den Schiffen »ur mittelmäßig
gesorgt. Die Räume der Scesoldaten und Matrosen sind im allgemeinen viel
zu eng; für Lufterneuerung ist nur »»vollkommene Vorsorge getroffen, weil die
Ofstzicrsräume mit unnöthiger Naumverschwcnduug angelegt sind. Ebenso sind
jeder Equipage, also je 1000 Manu, mir 3 Aerzte mit 3 Feldscheeren zugetheilt,
und der Medicamentenapparat besteht aus etwa 100 Mitteln. Der Operations-
rann befindet sich »eben der Apotheke im unterste», also geschütztesten Naunic,
kann aber natürlich blos künstlich erhellt werden. Die Instrumente werden von
der Petersburger Fabrik geliefert, welche unter Aufsicht des bekannten Staats-
rath Dr. Pirogoss steht und die ganze Militärmacht Rußlands mit ihren Erzeug¬
nissen versorgt.
Das Offiziercorps der Marine darf man im allgemeinen als einen Zufluchts¬
ort der Zurückgesetzten, Aermeren und Protcctionslvsen betrachten. Es ist darum
nicht auffallend, daß wir auf der baltischen Flotte einer überwiegend großen Zahl
von Deutschen unter den eigentlichen Offizieren, wie unter deu Aerzten begegnen.
Vielleicht grade deshalb findet man auch eiuen stärkere» kameradschaftlichen Geist
und lebhaftere wissenschaftliche Bestrebuuge» als unter den Offizieren der Land¬
truppe», die der Generalstabe nicht ausgenommen. Dies würde nun der mari¬
timen Macht Rußlands zu größtem Vortheile gereichen, wenn die Matrosen und
Soldaten ihrer Bestimmung besser entsprächen. Aber dies ist im allgemeinen
keineswegs der Fall. Von all den nördlichen Völkerschaften, welche nach dem
auch für die Landtruppen gewöhnlichen Aushebnngsmoduö vorzugsweise die baltische
Flottenmannschaft liefern, erzeuge» fast ausschließlich die filmischen Küsten tüchtige
Seeleute. Ueberdies herrscht der seltsame Gebrauch, die zu Recruten ausgehobenen
Israeliten, nebst den zur Strafe an die Armee abgegebenen Menschen, ganz vor¬
zugsweise in die Flotte zu stecken. Der Grund mag darin zu suchen sein, daß
ihnen hier die Gelegenheit zum Desertiren erschwert ist. Aber jedermann weiß
anch, daß der Jude seinem ganzen Naturell nach am allerwenigsten zum Seedienst
taugt. Mag mau nnn gleich zugeben, daß die übrigen Bewohner des baltischen
Meeres sich unschwer ans dem Schiffe eingewöhnen, so bewährt sich doch auch hier
überall der unumstößliche Grundsatz, daß der Seemann nicht erzogen und dresstrt
werden kaun, sondern geboren wird. Es würde jedoch el» zu tiefes Eingehen
in das Detail erfordern, wenn hier »achgewiesen werden sollte, wie man überdies
auf der russischen Marine die Einschulung tüchtiger Seeleute nur sehr mangelhaft
versteht. Man vergeudet ihre Kräfte und Tüchtigkeiten in leerem Parade- und Ga¬
maschenwesen und strengt sie obendrein durch den fruchtlosen Versuch, Amphibien
aus ihnen zu machen, zu sehr an. Jeder Militärverständige weiß, daß jene mit
lächerlichem Lobe überhäufte« Grenadiere zu Pferd, welche anch ans den Fnßdicnst
einexercirt sind, nnr eine Absonderlichkeit, aber keinen Vorzug der russischen Armee
bilden. Sie sind weder recht ans dem Pferde, noch recht aus der Erde zu ver¬
wenden, so schön sie anch die Exercitien in beiden Situationen ausführen. Ebenso
werden nun die baltischen Marinetruppen sechs Monate lang als Landsoldaten
gedrillt (weil während dieser Zeit freilich die baltische Flotte eingefroren lieg!);
darüber verlieren sie die Gewohnheit der Schiffsräume, der knappen Be¬
wegungen auf schwankendem Boden, des beim Secsoldaten gradezu unerläßlichen
Selbstdenkens im Moment der Gefahr. Sie sind kaum mehr als Landsoldaten
auf dem Schiff und darum im Kampfe jsdeSmal gegen eine gleich starke Zahl
tüchtiger Scesoldaten des Feindes im Nachtheil. Angestrengter als die Land-
truppen, verhältnismäßig weniger gut verpflegt als diese und überdies ans
einem ihrem Naturell nicht vertrauten Elemente, zeigt die russische Marine, im
Gegensatze zu alleu Mariner Europas, die schlechtesten Gesundheitszustande. Zu¬
nächst ist die scvrbutische Dialhese so sehr verbreitet, daß in der That alljährlich
mehr als die Hälfte der Mannschaft wegen daraus hervorgehender Leiden einer
ärztlichen Behandlung bedarf. Wie sehr sie durch die ungenügende Verpflegung
und Versorgung der Seeleute bedingt ist, erhellt sehr deutlich daraus, daß ihre
Behandlung und momentane Heilung fast ausschließlich durch bessere Kost und den
Aufenthalt in den. Hospitälern erreicht wird. An »ut für steh erreicht auch der
Scorbut selten einen tödlichen Grad, macht jedoch jede Krankheit mit der er sich
verbindet, oder die einen scvrbutischen Organismus ergreift, doppelt gefährlich
und langwierig. Ist nun aber Scorbut und scorbntische Anlage unter den Flot-
tenmannschaften fast aller Staaten ein wenigstens nicht seltenes Uebel, so gehören
dagegen Schwindsnchtskrankhciten zu den seltenen Erscheinungen. In der balti¬
schen Marine ists umgekehrt. Man braucht blos die Marinchvspitäler Kronstadts
und Petersburgs kennen zu lernen, um zu dem traurigen Ergebniß zu kommen,
daß der vierte Theil der dort eingebrachten Kranken der Schwindsucht verfallen
ist. Wie ferner unter allen Heeresabtheilungen Rußlands, so fordern auch in
der Marine vor allem die Syphilis, dann Typhuskrankheiten und verwandte Uebel
zahlreiche Opfer, so daß sich als erschreckendes Gesammtergebniß der Gesundheits¬
zustande eine Sterblichkeit von 1 zu 10 herausstellt.
Kronstäbe, Helsingfors mit Sweaborg und Neval sind die drei Stationsplätze
der baltischen Flotte. Gewöhnlich liegt in Kronstäbe die -I. und 2., in Neval
die 3. Division. Während Kronstäbe und Sweaborg ausgezeichnete Secvcsten
genannt werden müssen, befindet sich die ganze Südküste der Ostsee in vertheidi-
gungslosen Zustande. Denn die beiden alten Forts am Kriegshafen von Neval ver¬
fallen, wie die dort angelegten Casernen bereits Ruinen geworden sind. Die
veralteten Bastionen von Riga mit den Vorwerken Bvlderaa und Dünamünde am
Einfluß der Dura in den Meerbusen sind kaum zu erwähren. Baltischport (zwi¬
schen Neval und Habsal) sollte einmal ein Kriegshase» werden, ist aber nunmehr
ebenso wieder vergessen, wie Windau, wo die vorbereitenden Wasserarbeiten den
Hafen so versandet haben, daß er jetzt von wirklichen Schiffen gar nicht mehr
angelaufen werden kann. Baltischport gegenüber liegt Gustavswärm an der fin¬
nischen Küste; es ist jedoch ein ganz isolirtes Seefort ohne größere Bedeutung.
Dagegen ist Kronstadts Wichtigkeit als Seefestnng und Hafen weltbekannt.
Einige nähere Angaben dürften darum nicht ohne Interesse sein. —
Die ganze Insel trägt ihren heutigen Namen erst seit der Ort Kronstäbe
entstand (1721) und heißt eigentlich Nitschar, Nctusari, Unzart. Sie streckt sich
von OSO. nach WNW. acht Werst lang und 1—l '/^ Werst breit. Im Osten
besteht sie ans Dammerde, Thon, Sand, Kalkstein, wie das benachbarte Festland;
nach Westen zu hob sich ihr fruchtbares, mit erratischen Granitblöcken übersäeteö
Land wol erst später aus den Wellen und der Molo, welcher nach dem Leucht-
thurm ans der nordwestlichen Spitze führt, befördert hier die Anschwemmung zu¬
sehends. Ihr höchster Punkt ragt am Südostende etwa 8 Faden aus dem Wasser;
nach Westen fällt dagegen das Erdreich so sehr ab, daß die Spitze des Festlan¬
des fast stets überflutet ist. — Ganz seichter Grund umgibt die ganze Insel und
zieht sich ununterbrochen herüber nach der ingermanländischen, wie hinüber nach
der finnischen Küste. Zwischen der nigrischen Küste und der Insel (südwestwärts)
ist blos ein ganz schmales Fahrwasser (i—S Klafter tief) als einzige Passage aller
Schiffe ausgegraben und muß fortwährend durch Baggerarbeiten erhalten werden,
da die untiefen Sandbänke nach jedem heftigen Windstoß Lagerstelle und Umfang
verändern. Der Wasserarm zwischen der finnischen Küste und Kronstäbe ist über¬
dies durch versenkte Granitblöcke selbst schon für größere Segelboote unfahrbar ge¬
macht. Unweit der südwestliche« Durchfahrt erbaute »um Peter l. (1703) das
Castell Kronschlvß (Cronchlvß) aus dem Südufer der Insel. Obgleich nicht das
wichtigste Werk, bildet es uoch heut gewissermaßen den Mittelpunkt für die Festung,
welche in Form eines hohen Walles mit kasemattirten Werken von Süden nach
Nordosten quer über die Insel läuft. Unmittelbar an Kronschloß schließt sich
gen Osten der dreifach getheilte, theils mit steinernen, theils mit hölzernen Boll¬
werken versehene Hafen. Seinen westlichen Theil, direct unter deu Mauern von
Kronschloß, bildet der Kauffahrteihafen, w'einher ebenso, wie der mittlere Hafen ziemlich
eng ist, während der östliche, weiteste Theil nnr für die Kriegsmarine bestimmt ist. Dem
Kriegs- und Mittelhafen gegenüber befinden sich Bovthänscr, Sägmühlen, Tauspin-
nereien, das ungeheure Arsenal, das Mastendepot, die SteuermannSschnle, die Admira¬
lität und fünf Kasernen. Hinter den Festungöwällen liegt die kleine Stadt Kronstäbe,
das Petersburg zugewendete Ende der Insel überdeckend und auch gegen diese Seite
von blockhansartigen Kasernen und anderen Militärgebänden umschlossen. Jen¬
seits des erwähnten Fahrwassers oder vielmehr mitten in demselben erheben sich
unmittelbar ans den Fluten das mit vier oder sechs Geschützlagen ausgestattete
Nicolaifort, weiterhin das Kathannenfort, in Form Montalembertschcr Thürme.
Von der Insel her correspondirt mit ihnen Kronschloß, von der manschen Küste
ans eine Gruppe kleinerer Werke, welche unweit Peterhof ans Hügeln erbaut
sind. Dieser Durchgang ist so vollkommen von den Batterien beherrscht, daß ihn
anch nicht das kleinste Boot passiren könnte, ohne gradezu von den Kngeln zer¬
splittert zu werden. Die Besatzung von Kronstäbe besteht ungefähr aus 33,000
Mann, worunter sich nnr zwei Bataillone Landsoldaten, aber an 10,000 Mann
Strafsoldaten (Festnngsbanregimenter) in eigenen, gefängnißartig eingerichteten
Casernen befinden. Den Eingang in die Newamnndnng zu forciren, würde eiuer
Flotte selbst dann unmöglich sei», wenn sie von einer Landarmee auf der nigri¬
schen Küste unterstützt würde, weil eben das Fahrwasser zu schmal ist. Gelänge
es, so wäre freilich auch Petersburg verloren. Denn die vielgenannte Festung
mit den fabelhaft reichen Schatzgewvlben ist beim heutigen Standpunkt der Kriegs-
wisscnschast und der Zerstörungsmittel von keiner fortificatorischen Bedeutung, so¬
bald man sich entschließt, die Stadt zu opfern. Nicht die Werke machen Kron¬
stäbe ziemlich unbesiegbar, sondern seine günstige Lage mitten im schmalen und
seichten Anfange des Meerbusens. Man kann es keine eigentliche Scefestnng
nennen, aber dafür ists ein Waffenplatz ohne Gleichen »ut ein unbesiegliches
Vorwerk der Reichshauptstadt, deren Ostflanke überdies dnrch Schlüsselburg am
Ladogasee unzugänglich gemacht ist.
Der Hafen der filmische» Hauptstadt Helsingfors ist Sweaborg. Helsingfors
selber ist zwar eine Festung, liegt aber zu tief im Lande, um für das Meer von
Bedeutung zu sein. Dagegen umschirmen die Forts von Sweaborg seinen Ha¬
fen der Art, daß derselbe noch vor wenigen Jahren uneinnehmbar gewesen sein
mag, während heute die Forts dem Bombenwnrsgeschütz und den concentrirten Bat¬
terien der Breitseiten wol ebenfalls schwerlich widerstehen dürften. Diese Forts
liegen nämlich ans acht isolirten Felsen, welche in compacteren Massen ans den
Schecrenklippcn hervorragen, von denen die ganze Küste und so auch diese
Hafenbucht umsäumt ist. Mail kann sie also als ein Bcfestignngssystem mit ab¬
gesetzten Werken bezeichnen. Die Bastionen jedes einzelnen Forts (langes,
schwarzes, Wolfs-, kleines schwarzes und großes schwarzes Ostfort, Leuchtthurminsel,
Redvuteufort) sind theils aus deu Felsen gesprengt, theils aus den vorhandenen
Massen aufgeführt, und finden ihren Knotenpunkt in der Citadelle des GnstavS-
forts. Dieser Kriegshafen würde nun als Zufluchtsort für eine Flotte von größter
Wichtigkeit sei», da er eine vortreffliche Lage und ausgezeichnetes Ticswasser be¬
sitzt. Allein für halbwegs größere Fahrzeuge ist er wegen der vorgeschobenen
Klippen selbst bei leicht bewegtem Meere nur mit größter Vorsicht, in Eile
und bei etwas stürmischem Wetter fast gar nicht zugänglich. Daher findet auch
für gewöhnlich nur derjenige Theil der 3. Division der baltischen Flotte hier
seine Unterkunft, welcher in Reval nicht untergebracht werden kann. Die eigent¬
liche Besatzung besteht größtentheils aus Landtruppen, und großartige Vorrich¬
tungen für deu Seedienst sind zwar begonnen, liegen aber so ziemlich noch in
den ersten Anfängen.
Trotz aller Mangelhaftigkeiten der Küstenbefestigung des baltischen Meeres
läßt sich nun doch nicht leugnen, daß ein Vordringen einer feindlichen Macht in
den finnischen Busen ein außerordentlich schwieriges und zweifelhaftes Unter¬
nehmen sein würde. Dagegen ist wol ebensowenig eine unmittelbare Gefahr vom
Vorbrechen einer russischen Flotte aus der Ostsee zu befürchten — solange Dä¬
nemark wirklich neutral oder zur Verfügung des Gegners bleibt. Sobald aber
woran Rußland seit Jahren arbeitet, Bornholm in russischen Besitz kommt, dann
würde selbst eine wohlbefestigte deutsche Küste, die jetzt doch ziemlich schutzlos ist,
und eine tüchtige deutsche Ostseemacht, für deren Herstellung Preußen sehr aner-
kennenswerthe, aber jetzt noch kaum in Betracht zu ziehende Anfänge gemacht hat,
nicht im Stande sein, der russischen Ostsecflotte mit allen ihren Mängeln irgend
einen erfolgreichen Widerstand zu leisten.
Nach der Einnahme von Adrianopel (am 10. August 1829) hatten die Russen
eine sehr starke militärische Position inne. Ihr linker Flügel stützte sich auf das
schwarze Meer, der rechte dehnte sich bis zum ägäischen Meere aus, und das
Centrum in Adrianopel war auf der Seite nach Konstantinopel durch die
Plätze Kirkilissia und Tchatal-Burgas gedeckt. Die beiden Endpunkte dieser Linie
wurden durch die russischen Flotten im Archipel und im schwarzen Meere gedeckt.
Allein nnr mit 20,000 Mann war General Diebitsch nach Adrianopel gekommen.
So sehr hatten Wechsel- und Nervenfieber, Dyssenterie nud Pest in dem russischen
Heere gewüthet. Mit 20,000 Manu stand er in einer Stadt von 80,000 Einw.
mitten zwischen 30,000 Türken bei Konstantinopel und 30,000 Albanesen bei Sophia,
während sein Corps von Anstrengung nud Krankheit erschöpft war. Schumla
war noch »nbczwungen, an der Donan hielten sich die Festungen Widdin, Nikopolis,
Sistorwo, Rnstschuk und Giurgewo nud General Gcismar hatte Mühe, das
Einbrechen der Türken in die Walachei zu verhindern.
Unter diesen Umständen war der Kaiser Nikolaus sehr geneigt, Frieden zu
schließe». Am 28. August landeten seine Bevollmächtigten zu Burgas und an
eben diesem Tage trafen anch die Abgeordneten der Pforte in Konstantinopel ein.
Der Divan kannte nicht den Zustand des russischen Heeres. Er hielt dasselbe
noch immer für 60,000 Manu stark und fürchtete dessen Anmarsch aus Konstanti¬
nopel. Er fürchtete zugleich einen Aufstand in Konstantinopel. Seit der Ver¬
nichtung der Janitscharen wartete hier eine mächtige Partei auf den günstigen
Augenblick, um die Fahne der Empörung aufzupflanzen, und der bisher für
unmöglich gehaltene Uebergang der Russen, die Verlegenheit, in die er die
Negierung setzte, brachte diese Stimmung dem Ausbruch nahe. Sultan Mahmud
kam zwar den Verschwörern zuvor und hielt ein strenges Blutgericht, aber die
Unzufriedenheit, wenn anch vorerst unterdrückt, war nicht gehoben.^ Die meisten
Räthe des Sultan fürchtete» mehr den Aufruhr, der ihnen Stelle und Kopf
kosten mußte, als einen nachtheiligen Frieden, den das Land mit einigen Provinzen
erkaufen konnte. Daß bei einem Angriff der Russen auf Konstantinopel die
gesammte muselmännische Bevölkerung gegen den gemeinsamen Feind des Reiches
und des Glaubens sich zusammenscharen, daß Konstantinopel mit seiner starken
militärischen Lage, mit den 16,000 Manu, die in dem verschanzten Lager von
Ramis Tschiftlik, mit ebensoviel Truppen, die in den Schlössern und Batterien
am Bosporus standen, dem Feinde den erfolgreichsten Widerstand leisten, daß
endlich die europäische» Großmächte unmöglich die Vernichtung des osmanischen
Reiches dnrch die Russen zugeben würden; das bedachten sie nicht. Dazu kam
die Thätigkeit der europäische» Diplomaten in Konstantinopel, die ganz andere
als rein türkische Interessen berücksichtigten. Ihnen lag daran, einen Krieg beendigt
zu sehen, der nun schon zwei Jahre lang den allgemeinen Frieden bedrohte.
Namentlich wünschte Preußen dem ihm befrenndeten, seinem Könige verwandten
russischen Kaiser einen ehrenvollen Frieden zu sichern und der preußische Abge¬
sandte General Müffling übte auf die Entschließungen der Psorte den wichtigsten
Einfluß.
Am 1. September begänne» die Unterhandlungen. Die Ankunft des preu¬
ßischen Gesandten vou Boyer in Adrianopel beseitigte alle Schwierigkeiten, welche
den Abschluß derselben verzögerten nud am 14. September 1829 wurde der
Friede unterzeichnet.
Der Kaiser von Nußland zeigte sich mit, Rücksicht auf das feierliche Ver¬
sprechen, welches er zu Anfang des Krieges den Mächten gegeben, daß Gebiets-
vergrößcrung und neuer Laudesermerb nicht der Zweck des Krieges sei, sehr
mäßig in seinen Ansprüchen, soweit sie das Grundgebiet betrafen. Er gab der
Pforte alle Städte, Häfen, feste Plätze und Landstriche wieder heraus, welche
seiue Heere in Rumelien und Bulgarien von der Donau bis zum Hellespont inne¬
halten. Pruth und Donau bildeten nach wie vor die europäische Grenze zwischen
Rußland und der Türkei. Allein Serbien, die Walachei und die Moldau traten
doch, wenn sie auch unter türkischer Herrschaft blieben, zugleich uuter russischen
Schutz. Die sechs den Serben entrissenen Bezirke mußten die Türken zurück¬
geben und mit Ausnahme der Festungen Belgrad und Neu-Orsowa das ganze
linke Douauufer räume». Die festen Plätze, welche sie noch daselbst innehalten,
namentlich Turiw, Katch, Giurgewv und insbesondere Ibrail oder Brailow wur¬
den geschleift.
Aber auch die Donau selbst bildete nicht mehr das frühere starke Bollwerk
der Türkei gegen Nußland. Die Nüssen hatten ans dem rechten Donauuftr
Tuldscha, Jsaktschi und Madschiu geschleift. Hirsowa blieb zwar stehen, ist aber
vom wallachischen Ufer leicht zu nehmen und bildet einen vortrefflichen Brücken¬
kopf gegen das türkische Ufer. Der Thalweg der Donau und zwar der süd¬
lichste Arm desselben, Kedrilleh-BoghaS, bildete fortan die Grenze so, daß alle
Donauinseln den Nüssen gehören. Sie erhielten zwar mir das Recht, auf diesen
Inseln Quarantaineposten aufzustellen, aber diese Posten können sehr leicht in
militärische umgewandelt werden. Je breiter und gewaltiger das Stromthal gegen
seine Mündung zu wird, desto näher nickt die russische Grenze der türkischen.
Bei Silistria beträgt die Entfernung des walachischen Ufers noch 1000 Schritt,
bei Hirsowa ist sie aus die Hälfte vermindert und Jsaktschi gegenüber stehen rus¬
sische Wachtposten der türkischen Stadt 200 Schritt nahe. Auch, bei Tuldscha
beträgt die Entfernung nicht über eine Gewehrschnßweite. Dazu kommt, daß
Tuldscha selbst, der einzige Platz, welcher das Fahrwasser der Donau beherrscht,
in seiner neuen Lage und Ausdehnung nicht fortificirt werden kann. Die andern
Plätze aber, wenn sie auch wiederhergestellt würden, beherrschen ohne die Inseln
nicht die Donan. Silistria, welches die Russen noch bis Ende 4 besetzt
hielten, ist nur mangelhaft wiederhergestellt und Rustschuk hat seine Offensiv¬
bedeutung gegen die Nüssen durch die Schleifung seines Brückenkopfes Giur-
gewo verloren.
In Asien werden die Paschaliks Kars, Bajazid, Erzerum und der größte
Theil von Akalzike den Türken zurückgegeben. Rußland behielt in diesem letz¬
tern Paschalik nur den kleinen Bezirk, der von dem obern Theile des Knzthales
umschlossen wird und den Platz AkalM enthält. Die russischen Bevollmächtigten
nannten diese von ihnen geforderte Abtretung nur eine einfache Berichtigung der
Grenze.
Drei Friedensbedingunge» aber drückten besonders hart die Türken. Erstens
mußten sie den russischen Kaufleuten für die Verluste, welche sie während des
Krieges erlitten hatten, eine Entschädigung von -I'/s Millionen holländischer Du-
caten zahlen. Sodann mußten sie die russische Regierung mit -10 Millionen hol¬
ländischer Ducaten oder -I2L Millionen Franken für die im Kriege gemachten
Ausgaben entschädigen. Diese Summe sollte in zehn Jahren jährlich mit
-12,600,000 Franken entrichtet werden. Nach der ersten Zahlung räumten die
Russen Adrianopel, nach der zweiten alles Land südlich des Balkan, nach der
dritten die Bulgarei bis zur Donan und erst nach der letzten das türkische
Grundgebict überhaupt. Sonach hielten sie zehn Jahre lang die Donaufürsten-
thümer besetzt.
Endlich erkannte der Großherr durch den Tractat von Adrianopel die Un¬
abhängigkeit Griechenlands an. Dies war mehr als ein bloßer Gebietsvcrlnst.
Der neue hellenische Staat, wie eng auch seine Grenzen gesteckt wurden, war das
Vorbild einer durch den Erfolg gekrönten Empörung. Alle mißvergnügten christ¬
lichen Unterthanen der europäischen Türkei fanden jetzt auswärts eine Stütze, die
Bewohner der Moldau und Walachei in Rußland, die Bulgaren in Serbien, die
Griechen in Hellas. Ueberdies hatten die Bewohner von Morea und den Cy¬
kladen bisher hauptsächlich die türkische Flotte bemannt und ihr die besten See¬
leute geliefert. Nach diesem Verluste dürfte die türkische Marine mit der rus¬
sischen im schwarzen Meere es kaum mehr ausnehmen können. Die russische Flotte
des Pontus Euxinus kaun fortan ein starkes Corps nach der asiatischen Seite
von Konstantinopel übersetzen und wenn die europäischen Seemächte nicht dazwi¬
schen treten, das Schicksal der Hauptstadt und des Reiches entscheiden.
Das sind die Wirkungen des Friedens von Adrianopel. Er ist weniger
durch die Erfolge der Russen, die im Felde Sieger, aber durch Krankheiten und
Pest Besiegte waren, als durch die innere Zwietracht im Reiche, die im entschei¬
denden Augenblick mit einem Aufstand in Konstantinopel drohte, errungen wor¬
den. Durch Eintracht werden kleine Staaten groß: durch Zwietracht gehen die
stärkste» zu Grunde, wieviel mehr erst die schwachen.
Sefeloge. Eine Wahnsüuisstudie vom Geh. Medicinalrath Damerow, Director
der ständische» Prvvmzialirrenanstalt bei Halle. — (Halle, Pfeffer.)
Es ist jetzt ungefähr drei Jahre her, als das bekannte Mordattentat auf den
König von Preußen, wie es auch bei den Attentaten gegen Louis Philipp der
Fall gewesen, zu einer leidenschaftlichen Reaction der Gesetzgebung gegen die
Presse Aeranlassnug gab. Die servilen Blätter, an ihrer Spitze die Zeitung,
welche damals den ominösen Namen „deutsche Reform" führte und die seitdem
als preußische Adlerzeitnng wegen eines in der Geschichte Preußens unerhörten
Grundes, nämlich wegen eines Ueberflusses an Abonnenten (sie hatte deren nach
eigener Angabe 7000) zu Grunde gegangen ist, überbot sich damals in boshaften
Anklagen gegen den Liberalismus; sie machte in erster Linie die ganze liberale
Partei, in zweiter das gesammte deutsche Volk für jenes Verbrechen verantwort¬
lich. Als sich kurze Zeit darauf das Gerücht verbreitete, jeuer Mörder sei ein
Wahnsinniger, der bereits im Irrenhause gesessen, war die nämliche Presse nicht
abgeneigt, die Anstifter und Verbreiter dieses Gerüchtes als Hochverräter und
Anstifter des Königsmordeö zu denunciren. Die Maßregeln in der Presse erfolg¬
ten anch in der That, allein bereits am i. December 18ö0 wurde Sefeloge nach
dem übereinstimmenden Gutachten verschiedener medicinischer Autoritäten sür gei¬
steskrank und unzurechnungsfähig erklärt und aus Grund dieses Ausspruchs durch
das Kamiuergericht von aller Strafe völlig freigesprochen. Um ihn für die Zu¬
kunft unschädlich zu machen und seinen noch nicht völlig aufgeklärten Gemüthszu-
stand gründlicher zu beobachten, wurde er am Anfang des folgenden Jahres der
Hallescheu Irrenanstalt übergeben. Der Director dieser ausgezeichneten Anstalt,
Herr Damerow, theilt nun die Ergebnisse seiner Untersuchung, die auch auf das
Wesen des Wahnsinns im allgemeinen mauche interessante Streiflichter werfen, dem
Publicum mit. Die Verrücktheit des Sefeloge hat sich ganz unzweifelhaft her-
ausgestellt, obgleich er zu manchen Zeiten und bei besonders guter Stimmung
durch auffallend verständige Aeußerungen zu überraschen wußte. Sefelvge erklärt
seiue eigene Scclenkrankheit, seinen kranken Kopf, sein krankes Gehirn auf Grund
seiner irrsinnigen Theorie, daß der Mensch geheimen Einflüssen und Verfolgungen
unterworfen sei, als ein von außen künstlich Gemachtes. Sein SeelentrankheilS-
znstand erscheint ihm als ein fremder, äußerer; es war dies der Mittelpunkt sei¬
nes Wahnsinns, daß er als Wahnsinniger sagt, daß er wahnsinnig sei. ,,Daß ein
Mensch", setzt Herr Damerow S. 23 hinzu, „sein krankes Gehirn, seineu Wahnsinn
fühle», mit seiner Vernunft darüber reflectiren kann und daß er trotzdem seiue
Wahnideen ebensowenig unterdrücken kann, als ein am Lungeukatharr Leidender das
Husten, beweist grade, daß der Wahnsinn eine Krankheit ist. Sefeloge fühlt,
daß er geisteskrank, daß ihm der Verstand von andern genommen sei. Hier¬
aus entwickelten sich allmälig alle seine andern wahnsinnigen Vorstellungen über
den Grund seiner Verrücktheit. Er behauptete, daß eS in seinem Hirnkasten
uicht mit rechten Dingen zugehe, daß der obere Theil seines Hirnschädels weich
sei, daß mau ihm in seinen Verstand gesehen habe, sein Verstand ihm fortgenom¬
men und ein anderer Verstand hineingesetzt sei. Dieser für ihn unauflösliche
Widerspruch des gesunden und kranken Selbstbewußtseins in ihm verkehrt sich
durch die zunehmende Macht des Krankhaften so, daß er den Inbegriff aller seiner
wahnsinnigen Phantasien über seiue Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, über
sein Herkommen, seine Bedeutung, Verdienst, Erfindungen, mit einem Worte, daß
er seine im Wahnsinn durch deu Wahnsinn gemachte Lebensgeschichte für seine
wirkliche Lebensgeschichte und seine wirkliche Lebensgeschichte für eine ihm ge¬
machte, eingesetzte, falsche hält. Seine Einbildungen kommen ihm vor als auf¬
steigende Erinnerungen aus seiner ihm genommenen Lebensgeschichte, seiue wirkliche
armselige Lebensgeschichte erscheint ihm dagegen aufgenöthigt, eingesetzt, seine wirk¬
liche Bestimmung sei ihm als Kind umgetauscht, er sei als Kind gemißbraucht,
man habe ihn, wie er sich ausdrückt, somnambul gemacht, habe ihn i» diesem
Zustande als Kind prophezeien lassen, die Erfindungen und Entdeckungen, welche
in ihm lagen, benutzt und aus seinem Verstände herausgenommen und die andern
eingesetzt, welche er nun für die echten seinigen habe halten müssen, bis er (d. h.
zur Zeit der beginnenden Verrücktheit) seinen eigenen wirklichen Geist erkannt habe
mit allen seinen ihm genommenen Vorzügen, Entdeckungen, Erfindungen u. s. w.,
was man alles nun nicht anerkennen wolle, und man hatte ihm daher sein Eigen¬
thum, sein Recht, seine Ehre wiedergeben müssen. Dies sei aber nicht geschehen.
Es müßten ihm diejenigen genannt werden, welche das alles an ihm gethan
hätten, solches habe er aber mit Gewißheit nicht erfahren können, er sei also als Opfer,
als Werkzeug, Instrument niederträchtig gemißbraucht; und da man ihm dies alles
verheimliche, er zu nichts komme, ja alles verdienen könne, so müßten höchste,
allerhöchste Personen dabei betheiligt sein. In diese allerhöchste Spitze laufen
am Ende alle Seiten der Pyramide seines Wahnsinns zusammen."
Diesen psychologischen Gedankengang verfolgt Herr Damerow dnrch alle
Gespräche, die er mit Sefeloge geführt habe: er hat alle Aeußerungen desselben
sorgfältig aufgezeichnet und dadurch den krankhaften Gang seiner Gedanken und
Empfindungen nach allen Richtungen des menschlichen Geistes hin ins hellste
Licht gesetzt, wenn wir auch aufrichtig gestehen müssen, daß wir bei manchen
Untersuchungen und Prüfungen das eigentliche Motiv nicht vollständig heraus¬
finden. Wir beschränken uns aus eine bestimmte Seite des Gegenstandes hinzu¬
deuten, die weder vom Mediciner noch vom Juristen bis jetzt ins Auge gefaßt ist.
Herr Damerow stellt nämlich die Behauptung auf und beweist sie unsers
Erachtens bis zur Evidenz, daß der Wahnstun oder daß vielmehr besondere Arten
des Wahnsinns die Zurechnungsfähigkeit nicht vollständig ausschließe», daß es
für den bei weitem größten Theil der Wahnsinnigen ein Gebiet der Handlung und
des Entschlusses gibt, auf welchem ihr Wille wenigstens mit eiuer gewissen Frei¬
heit sich bewegen kann, und daß sie also sähig sind, Verbrechen zu begehen, um
folglich in die Kategorie der Strafgewalt zu fallen. Mit' dem Satz, im allgemei¬
nen hingestellt, wie es in diesem Buch geschehen ist, wird wol jedermann ein¬
verstanden sein, es kommt nur darauf an, ihm eine bestimmte begriffliche und juristi¬
sche Form zu geben, was um so wichtiger ist, da bei der Behandlung von
Wahnsinnigen nicht blos die Rücksicht auf den Kranken, sondern auch die Rücksicht
aus die Gesellschaft, der er schädlich werdeu kauu, in Betracht kommt. Hier sind
die Begriffe mitunter noch sehr zweifelhaft nud ein gewissenhafter Jrrenarzt wird
häufig im Zweifel darüber sein, wieweit er bei der Behandlung seiner Irren le¬
diglich die sanitätischen Rücksichten vorwalten läßt und wieweit er ein gewisses
Strafrecht gegen böse Handlungen beanspruchen muß. Herr Damerow selbst
scheint darüber nicht immer vollkommen klar gewesen zu sein, und der Verrückte
hat ihn mitunter sehr scharfsinnig anf die Vermischung medicinischer und polizei¬
licher Functionen aufmerksam gemacht.
Eine kleine Bemerkung können wir uns nicht versagen. Das Buch ist im
strengsten Sinne wissenschaftlicher Loyalität geschrieben. Herr Damerow hatte es
also unterlassen können und sollen, es durch überschwengliche Aeußerungen einer
andern Loyalität zu würzen. Er sagt S. it, indem er das Attentat auf den
König erzählt: „Aber der Herr ließ sein Angesicht leuchten über Ihm. Das König¬
thum vou Gottes Gnaden strahlte im reinsten Glänze. Der Arm des Allmächtigen
wendete den Arm Seines, Unsres Königs zu einem Schilde sür Sein Haupt
und Herz, für des Vaterlandes Herz und Haupt. Die Wunde ward zum Wun¬
der, das schmerzensreich dahinfließende Königliche Blut Air frischen, hellen Glau¬
bensader." — So etwas gehört nach unserer Ueberzeugung nicht in ein wissen¬
schaftliches Buch.
Herr Pulsky hat mehr Gelegenheit gehabt, die amerikanische Gesellschaft von
den verschiedenartigsten Nuancen in ihrem Sonntagsstaat zu sehen, als irgend ein
anderer Reisender. Er reiste nämlich in der Gesellschaft von Kossuth, als dieser
seinen großen Triumphzug hielt. Wir müssen aufrichtig gestehen, daß wir an das
Buch mit dem Vorgefühl gingen, wir würden es mehr mit Beweisgründen für die
ungarische Freiheit, als mit Schilderung der amerikanischen Sitten zu thun haben.
Aber wir fanden uns sehr angenehm getäuscht. Ganz sind uns zwar die Reden des
großen Agitators nicht geschenkt, aber sie nehmen einen sehr mäßigen Raum ein und
Hr. Pulsky hat sich der Nation gegenüber, die ihn und seine unglücklichen Landsleute
so freundschaftlich und glänzend aufnahmen, ein durchaus freies und selbstständiges
Urtheil bewahrt. Obgleich er die Rücksicht, die ein Gentleman in seiner Lage zu
nehmen hat, niemals verleugnet, widerfährt eS ihm doch unwillkürlich, daß die
amerikanischen Formen in seiner Darstellung einen ebenso komischen Eindruck
machen, als bei Dickens. Vielleicht am wertvollsten in der Sammluug ist
das Tagebuch seiner Fran, das ganz ohne Reflexionen mit völliger Unbefangenheit
die unmittelbaren Eindrucke ihrer Reise vergegenwärtigt. An eine systematische
Bearbeitung des Gegenstandes ist natürlich bei dieser Form der Beobachtung nicht zu
denken, dafür ist auch bereits in andern Schriften viel mehr geleistet worden, aber
individuell interessante Züge findet jeder aufmerksame und gebildete Beobachter
immer von neuem vor, und diese sind auch hier in reichem Maße vorhanden.
Recht interessant sind namentlich die Skizzen ans der Geschichte der Indianer,
über die man sonst in der Regel nnr flüchtig hinweggeht. —
Unsere Leser erinnern sich vielleicht noch an eine kleine Reihe von Münchner
Briefen über diem oderne deutsche Kunst, die zwar manchen Widerspruch erfahren
haben, die aber durch ihr geistvolles und entschiedenes Urtheil allgemeine, Auf¬
merksamkeit erregten. Diese Briefe bilden, gesichtet und neu redigirt, das Schlu߬
capitel des gegenwärtigen Buchs. Man kann sich daraus ein ungefähres Bild
von dem Tone und der Haltung des Ganzen machen. Der Versasser versichert
in der Vorrede, er mache nicht den geringsten Anspruch auf den Ruhm eines
Schriftstellers, er habe nur als Maler die Eindrücke eines langen Aufenthalts in
Italien unbefangen und kunstlos wiedergeben wollen. Allein wir glaube», daß das
Publicum sich auf eine sehr angenehme Weise enttäuscht fühle» wird; denn das
Buch ist, einige stilistische Unebenheiten abgerechnet, auf die doch nicht viel ankommt,
ganz reizend geschrieben. Gleich die einleitende Schilderung von der Reise durch
die bairische Ueberschwemmung im August des Jahres 1851 ist höchst ergötzlich und
so ist das ganze Buch durch die Anschauung vom individuellen Leben erfüllt. Herr
Pecht, dessen liebenswürdige, unbefangene und originelle Natur jedem werth gewor¬
den ist, der ihm irgendwie nahesteht, hat mit der größten Entschiedenheit alle vor¬
gefaßten Meinungen, die man gewöhnlich auf eine Reise nach Italien mitnimmt, von
sich geworfen und gibt sich unbefangen wie er ist. Das hat unter anderem den
großen Vortheil, daß man auch in dem Falle, wo man seinen Ansichten nicht bei¬
pflichtet, dennoch mit dem Schriftsteller nicht rechten mag. Wir unsererseits
müssen offen gestehen, daß die Vorliebe für die östreichische Herrschaft in Italien
nicht ganz nach unserm Geschmacke ist; denn wenn wir auch keinen unbedingten
Glauben an die Möglichkeit eines unabhängigen italienischen Staats hegen, so
halten wir es doch nicht blos für Italien, sondern für Oestreich selbst für ein sehr
schlimmes Verhängniß, daß dieser Staat genöthigt ist, über ein Volk zu regieren,
das ihn haßt und das, selbst die wohlwollendsten Absichten der Regierung voraus¬
gesetzt, dennoch aus keine Weise zu einer versöhnlicheren Stimmung gebracht werde»
kann. Wir wissen sehr wohl, daß i» dem militärischen System, welches Oestreich
i» Italien aufgerichtet hat, die despotische Willkür nur zum geringern Theil das
Motiv ist, wir wisse», daß Oestreich wenigstens zum Theil so handeln muß, wie
es handelt, aber wir beklagen diese Nothwendigkeit, denn sie ist ein nagender
Wurm an seinem politischen Organismus. — Aber bei Herrn Pecht begreifen
wir vollkommen, wie sein naiver ehrlicher deutscher Sinn sogar für die unbefangene
Rohheit rege wird, wenn er sie im Gegensatz gegen den schwächlichen, hinter¬
listige» und phrasenhaften Enthusiasmus betrachtet, der ihm in Italien von allen
Seiten entgegentritt. Uebrigens spielen diese politischen Reflexionen im Buche
auch u»r eine sehr untergeordnete Rolle. Die Hauptsache ist, abgesehen von den
Bildern und Anschauungen aus dem wirklichen Leben, die Kunstkritik, und diese
verräth überall das Verständniß eines durchdachten, erfahrnen und hochgebildeten
Künstlers und die Gesinnung eines ehrlichen Mannes. Herr Pecht geht von
keiner einseitigen Kunsttheorie aus, er schwärmt weder für das Princip des Klas¬
sicismus, das ma» gewöhnlich in Italien durchzuführen sucht, noch weniger gehört
er zu jeuer rückwärts gewandten Richtung, die in der Kindheit der Kunst, nament¬
lich der altdeutschen, zugleich das höchste Ideal der Weisheit finden möchte. Er ist,
wie es der echte Kritiker sein muß, empfänglich für die manigfaltigsten Formen »ud
Vorstellungen, sobald er nur innere Uebereinstimmung, schöpferische Kraft und künst¬
lerische Redlichkeit darin wahrnimmt. Aber der Kern seines Urtheils ist immer
die ehrenfeste deutsche Gesinnung. Und so glauben wir denn, daß das Buch einen
wohlthuenden Eindruck auf alle Classen des Public»ins machen und daß es wehend-
lich dazu beitragen wird, den unerfreulichen Schwankungen unserer Kritik einen
festen Maßstab entgegenzusetzen. —
Fürst Demidoff ist in neuester Zeit dem europäischen Publicum durck seine
buntbewegten Schicksale bekannt geworden. Er ist der Sohn des 1836 verstor¬
benen geheimen Raths Graf Demidoff und der Bruder eines ausgezeichneten
Militärs., der im Kriege von 18-12 ans seine Kosten ein Regiment errichtete und
dasselbe führte. Er selbst machte, um das Andenken seines Vaters zu ehren, eine
Schenkung von 600,000 Rubel zur Gründung einer Armenanstalt in Petersburg.
Ebenso wies er der Petersburger Akademie der Wissenschaften bedeutende Fonds
zu, aus welche» diese seit 183-1 alljährlich die Demidossscken Preise von L000
Rubel für die besten russischen Werke ertheilt. Die Reise, die den Inhalt des
gegenwärtigen Werkes ausmacht, übernahm er im Auftrage des russischen Kaisers
im Jahre -1837 mit einem sehr zahlreichen Gefolge von Technikern nud Künstlern,
vorzugsweise um die Möglichkeit einer Eisenindustrie und eines Steiukohleuwerkes
in deu südlichen Provinzen zu untersuchen. Die Beschreibung der Reise erschien
zuerst 1839 Französisch und wurde ins Englische, Polnische, Russische und andere
Sprachen übersetzt. In Deutschland erscheint jetzt zuerst eine Uebersetzung und
der Zeitpunkt ist nicht ungeschickt gewählt, da grade diese Theile deö russischen
Reichs durch die neuesten Ereignisse wieder die allgemeinere Aufmerksamkeit Eu¬
ropas auf sich ziehen. Infolge dieses Werks wurde er zum Mitgliede des franzö¬
sischen Instituts ernannt. Im Jahre 1830 vermählte er sich in Florenz mit der
Prinzessin Mathilde, der Tochter des König Jerome; weil er aber in dieser Ehe
die Bedingung eingegangen war, alle Kinder im römisch-katholischen Glauben er¬
ziehen zu lassen, ertheilte ihm Kaiser Nikolaus seine Entlassung aus dem russischen
Staatsdienst und berief ihn nach Petersburg zur Verantwortung. Indessen ge¬
lang es ihm doch, sich zu rechtfertigen und er erhielt die Erlaubniß, nach Paris
zurückzukehren, wo er seitdem mit seiner Gemahlin lebt, die bekanntlich seit der
Präsidentschaft ihres Vetters, des gegenwärtigen Kaisers, einen nicht unbedeu¬
tenden Einfluß auf die öffentlichen Angelegenheiten und Frankreich ausübt. —
Was nun das gegenwärtige Werk betrifft, so beschäftigt es sich mit einem im
großartigsten Stile angelegte» Unternehmen. Die Gesellschaft war mit den
außerordentlichsten Mitteln ausgestattet und sie vereinigte alle Momente der Bil¬
dung, um die Gegenden, die sie durchreiste, «ach allen Seiten hin auf das gründ¬
lichste zu durchforschen. Sie hatte vorher die sorgfältigsten Studien gemacht,
und indem sich die Einzelnen in die verschiedenen Zweige der Beobachtung ver¬
theilten, indem jeder auf einen ganz besonderen Kreis des Lebens und der Na-
tur seine Aufmerksamkeit richtete, ist dadurch ein so vollständiges Bild des Lebens
möglich geworden, daß es nicht leicht übertroffen werden kann. Die Cultur-
zustände des südlichen Nußland, die uns so unendlich sern liegen, werden poli¬
tisch und historisch beleuchtet, überall aber überwiegt die Anschauung. Einen be¬
sonderen Reiz erhält das Buch durch die zahlreichen Illustrationen, die nach den
Handzeichnungen des sehr bedeutenden Malers Raffel gemacht sind, und die unserer
Phantasie, die Thätigkeit erleichtern. Wir glauben, daß im gegenwärtigen Augen¬
blicke, wo die Culturbewegung, wenn anch in der dämonischen Gestalt des Krie¬
ges, jene Gegenden ergreift, wo es vorauszusehen ist, daß sie für die allgemeine
Entwickelung Europas eine große Bedeutung erlangen und gewissermaßen die alt-
römischen Erinnerungen wiederauffrischen werden, dieses wichtige Werk auch für
Deutschland ein allgemeines und tiefgehendes Interesse erregen wird. —
Der gegenwärtige Band verläßt ganz die Form der Neiseliteratur. Es find
zerstreute Aufsätze über' verschiedene literarische Gegenstände, zum Theil recht in-
teressant, namentlich das Referat über altfranzösische Rittergedichte, sowie die Schil¬
derung vom Zusammenleben des Verfassers mit Eduard Gaus, dem französischesten
unter allen deutscheu Schriftstellern, und die Recension über unsern Hoffmann,
auf den Girardin die Franzosen aufmerksam machte, noch ehe die Uebersetzung
von Lope - Weimars erschienen war. Auch in den übrigen Aufsätzen findet sich
hin und wieder ein artiger Einfall, im ganzen aber müssen wir jedoch gestehen,
daß diese nachlässige Manier uns zuletzt ermüdet hat, und daß wir sehr damit
zufrieden sind, daß das Werk sein Ende gefunden hat. Die politischen und re¬
ligiösen Ideen, die darin überall zerstreut sind, sind auch ziemlich oberflächlich und
mehr auf den Effect als auf die Einsicht in die Sachen berechnet. Das geht
zuweilen soweit, daß der Verfasser in ein liebenswürdiges Geplauder ohne alle»
Inhalt verfällt.
Die orientalische Frage hat ihr ursprüngliches Talent, Confusion in die Köpfe
zu bringen, selbst jetzt nach dem Ausbruche deö Krieges nicht verlernt. Seit der
Telegraph sich seinerseits drein gemengt, können wir mit Zuversicht darauf rech¬
nen, daß ein Tag vernichtet, was der andere gebracht. Gestern haben die Russen
eine Niederlage erlitten, sie sind gezwungen, sich ans Kronstäbe zurückzuziehen und
heute sollen wieder die Türken so aufs Haupt geschlagen worden sein, daß sie
genöthigt worden, wieder über die Donau zu passiren. Und als ob alles radical
umgekehrt wäre, ist es grade die Börse, jene quecksilberne Sphinx, die dies¬
mal consequent und muthig aushält. Unbeirrt von allen Hiobs- und Freuden¬
nachrichten bleibt sie gelassen bei ihren Cursen und wartet, die Hände in den
Taschen, ruhig bis der Moniteur den Mund aufthut. Warum sollten wir nicht
auch dem Beispiele der Börse folgen dürfen? Warum sollten wir nicht auch
warten, bis positive Nachrichten uus über den wirklichen Stand der Dinge Auf¬
klärung geben? Der Leser nimmt es uns gewiß nicht übel, wenn wir für eine
Woche wenigstens Abschied von Omer-Pascha und Gortschakoff nehme» und uns
ein wenig in Paris umgucken.
Es bedarf wol keiner Entschuldigung dafür, daß wir mit dem Gelde den
Anfang macheu. In unserm Jahrhundert und namentlich im Kaiserthume ist das
der einzige Factor der Gesellschaft, der seine Rechte nicht verloren. Das Geld
ist der moderne spartanische Staat, dem der Einzelne geopfert wird und Salomon
Rothschild ist sein Lykurg. Das Geld und vorzüglich das Silbergeld ist eine so
große Seltenheit geworden, daß die Bank von Frankreich sich entschließen mußte,
ihre Bankscheine blos gegen Gold umzuwechseln, was eine kleine Emente hervor¬
zurufen droht, und die Herren Bankdircctoren wissen nicht, ob das Gesetz, welches
erkennt, daß die Bankzettel gegen esxeee umzutauschen sind, sie genugsam schützt
weil die Einheit des französischen Münzfußes das Fünfsrankenstück ist. Das Cu-
riosum bei der Geschichte ist, daß vorzüglich Rothschild es gewesen, der diese
Maßregel hervorgerufen. Seit nämlich das Agio ans zweiundzwanzig Franken
vom Tausend gestiegen, hat dieser Finanzmann jeden Tag beträchtliche Summen
in Silber aus der Bank nehmen lassen und diese nach einem kurzen, wenig kost¬
spieligen Rafsiniruugsprocesse als Silberbarren wieder in den Handel gebracht
und großentheils an die Bank selbst verkauft. Dieses Haus hat sich in der
letzten Zeit so wohl aus diese Finanzoperation eingerichtet, daß es ihm möglich
geworden, jeden Tag um eine Million Franken zu raffiniren, was ihm ein täg¬
liches Prositchcn von 22,000 Franken verschafft, doch sind hiervon noch die wenig
beträchtlichen Raffinirnngskosten abzuziehen. Das ist einfach wie das El des
Columbus und wie alles Geniale. Ein anderes Finanzgcnie, dessen Namen ich
leider nicht weiß, hat sich durch Errichtung eines Abonnements ans Kupfergeld
ein sehr einträgliches Geschäft gegründet. Er hatte nämlich die Erfahrung ge¬
macht, daß die meisten Detailhändler von Paris fast täglich wegen Mangel am
nöthigen Kupfergeld in Verlegenheit gerathen. Er ging von Haus zu Haus,
ließ ein Abonnement eröffnen und holt das Kupfergeld aus deu Provinzen, wo
man ihm für Silbergeld Agio bezahlt, oder von solchen Geschäftshäusern, die wieder
Ueberfluß an Kupfergeld haben. Durch diese Wechsclanstalt a äowlolw hat der
Mann sich in kurzer Zeit ein kleines Vermögen erworben und hat die Aussicht,
bald ein steinreicher Mann zu werden. Eine andere Industrie, die zwar nicht
neu, aber in der Ausdehnung, wie sie jetzt betrieben wird, neu genannt werden
muß, ist auf das Uucoufortable der Pariser Häuser berechnet, und zwar auf die
Unzweckmäßigst und nicht exemplarische Sauberkeit gewisser kleiner Häuschen in
unsern sechsstockhohen Häuser». Herr Stefaui u. Comp. heißt der Manu, wel¬
cher allmälig ganz Paris mit ebenso geruch- als »ameiilosen Anstalten versehen
will. Damit ist »och ein An»o»ce»geschaft verbunden, nud diese einsamen Zelle»
sind mit eigens fabricirten, aus runden weiße», mit braunen Rändern eiligefaßtc»
Scheibe» bestehe»de» Tapete» bedeckt. Ans diese weiße» Scheiben werde» gedruckte
Aimoncen geklebt, welche jederma»» nach seiner persönlichen Beschaffenheit mit
mehr oder weniger Muße lese» kau». Dieser indnstriöse Herr Stefaui erinnert
mich an ein Drama, das ein hiesiger Schriftsteller in seinem Pulte bat, nachdem
es vergeblich vou einer Boulcvardbühne z»r ander» gewandert war. Diese
Theaterdircctore» verte»neu aber das wahre Genie hüben wie drüben. Der Held
wird uns als ein schöner Mann voll edler Gesinnungen und ausgestattet mit den
dramatischsten Tugenden aufgeführt. Er liebt die Tochter eines reichen Mannes,
er wird wieder von ihr geliebt und da er selbst ebenbürtige Renten besitzt, siegt
er über alle seine Nebenbuhler und führt die Braut heim. Der Anfang des
zweiten Actes bringt uns zu dem glücklichen Ehepaare. Der Held ist ein Muster
eines Ehemannes, er liebt seine Frau, seiue Kinder, sei» Benehme» ist tadellos,
er wird geschätzt von allen, die ihn kennen, er ist geistvoll und liebenswürdig
im Umgange und das Glück der jungen Frau wäre vollständig, wenn nicht ein
Geheimniß, das ihren Mann umhüllt, ihre Ruhe störte. Unser Held hatte
nämlich die Gewohnheit, sich el»ige Mal i» der Woche des Nachts a»ö dem
Hause zu schleiche». Die liebe»de Eifersucht der zärtliche» Ehegattin flüstert ihr
ein, ihre» Maun zu belauschen, und sie sieht zu ihrem Schrecken, wie ihr Geliebter
sich stets vollkomne» verkleidet, sei» Gesicht durch einen falschen Bart einstellt
und sich noch überdies i» einen weiten dunklen Mantel hüllt. Entsetze» erfüllt
das Herz des armen Weibes und sie beschließt ihrem Manne zu gestehen,
was sie gesehen. Todtenblässe überzieht das Gesicht des Helden — er ge¬
steht, daß ein fürchterliches Geheimniß ihn zwüige, so zu handeln, aber
er beschwört seiue Geliebte, zu verheimliche», was sie gesehen. Sie werde
einmal alles erfahren. Da geschieht es, daß in derselben Nacht ein Raub¬
mord in Paris verübt worden, ohne daß die Polizei auch nur eine Ahnung
vom räthselhafte» Thäter hätte. Die Frau unseres Helden kann sich trotz
ihrer Liebe des grause» Verdachtes nicht enthalten, ihr Manu sei der Thäter.
I» ihrer Angst erzählt sie alles dem Vater — dieser erzählt die Geschichte eiuciu
Freunde, einem ehemaligen Bewerber um die Hand seiner Tochter. Ans Rache
gibt dieser seinen Nebenbuhler bei der Polizei an; man verhaftet den Unglück¬
lichen, und da er sich über seine nächtlichen Gänge nicht ausweisen kau» und
noch verschiedene Anzeige» gegen ih» vorliege», wird er zum Tode verurtheilt.
Da erscheint el» treuer Diener des Verurtheilten und klärt das Räthsel ans.
Sein Herr war das Haupt der Pariser VidangenrS! Und ein solches Drama
wurde von einem Pariser Mysterientheatcr zurückgewiesen!! — Da wir heute ein¬
mal ans das Capitel der geheimen Industrien gekommen, so wollen wir auch
die tanzenden, klopfende», schwebenden und prophezeienden Tische nicht vergessen.
Wie zu erwarten gewesen, hat sich die cxploitirende Charlatanerie dieser Manie
bemächtigt, und die Chronique skandaleuse erzählt von Gaunerstreichen, die mit
Hilfe der citirten Geister verübt worden. Den Narren, die sich täuschen lassen,
geschieht recht, aber traurig ist, daß wir nun schon mehre Fälle von'völliger Ver¬
rücktheit infolge dieser albernen Geisterseherei aufzuweisen haben. Der Präfect
des Departement Calvados ist wahnsinnig geworden. Der ehemalige Fonrrierist
Hcnneanin ist verrückt und Delamare, der Director der Patrie, ist ein Narr ge¬
worden. Je beschränkter der Kreis der treugebliebencn Adepten ist, um so in¬
tensiver die Narrheit. Sogar die Akademie zählt Mitglieder unter den Gläubi¬
gen, und Herr de Saulcy, bekannt durch viele geistvolle Schriften, ist einer der
eifrigsten Anhänger der Tablomantie. Das ist unglaublich, aber es ist wahr.
Von einem andern Jünger dieser modernen Verdrehtheit erzählt man sich fol¬
gende komische Geschichte: Herr Jaik, der in diesem Augenblicke mit einer Ge¬
schichte des Kaisers Napoleon I. beschäftigt ist, kam auf den Gedanken, den Geist
des Kaisers zu citiren. Der Kaiser erschien auf das Commando des Tisch-
cagliostro, und gab auf alle an ihn gerichteten Fragen Bescheid. Einer der An¬
wesenden fragte den kaiserliche» Geist nach der Jahreszahl eines nicht allgemein
bekannten Ereignisses und dieser gab eine falsche an. Da sprang Herr Jaik von
seinem Stuhle auf und rief dem Tische mit einer ehrerbietigen Verneigung zu:
U-rls vrus vous trompe/ Sirel — Amado Pichvt, der Herausgeber der Revue
britannique, lud deu Geist Byrons vor; auch dieser erschien, und nachdem er
Herr» Pichot versichert, daß er ihm dessen schlechte Uebersetzung seiner Gedichte
verziehen, übersetzte er selbst ein französisches Gedicht von Herrn Pichot ins Eng¬
lische. Wenn Sie glauben, daß ich erfinde, so thun sie mir zuviel Ehre an, ich
schreibe blos ab — ich setze anch keinen Buchstaben hinzu. Es wird wol niemand
Wunder nehmen, daß diese Thorheit ähnliche Thorheiten aller Jahrhunderte wie¬
der in die Mode gebracht. Magnetisenre der verschiedensten Gattung treiben wie¬
der ihr Unwesen. So erzählte mir ein bekannter Maler, daß er, wegen einer
Unpäßlichkeit zu einem Arzte gewiesen, diesen in einem prachtvoll meublirten Sa-
lon (nie ohne diesen) mit mineralisch-animalischen Magnetismus beschäftigt ge-
s»nde». Herr Ducrvt, so heißt der Arzt, behauptet, eine Verbindung der beiden
magnetischen Fluida gefunden zu haben, und bewies dieses dadurch, daß er
ein magnetisches Hufeise» vor der Stirne des ersten einer Reihe hintereinander-
gestellter Männer mit seinem Magnete berührend, die ganze von Meuschen gebil¬
dete Kette zwinge, allen seinen Bewegungen zu folgen. Das Experiment gelang
vollkommen »ut die armen Kerle rannte» wie besessen dem im Zimmer herum-
laufenden Arzte nach. Unser Maler thut ganz verwundert, und will nun seiner¬
seits den Versuch machen, da er, wie er sagt, von allen Magnetiseuren gehört
habe, daß er alle Eigenschaften besitze, großen magnetischen Einfluß zu üben.
Mau gibt ihm den Magnet in die Hand, er thut wie der Arzt gethan und siehe,
der magnetische Wirbel ihm nach eine Viertelstunde laug. Als er den Spaß
satt hatte, zeigte er dem betroffenen Arzte den Magnet ruhig auf dem Canapee
liegend. Er selbst hatte ihn unbemerkt dahin geworfen, noch ehe er den Zug in
Bewegung gesetzt. Kaum hörten die magnetistrten Herren, wie man sie zum
besten gehabt, als sie sich alle aus die Erde warfen, mit Händen und Füßen
zu zappeln begannen, sich in Convulstonen auf dem Boden hin und her wäl¬
zend. Unglückseliger, was haben Sie für Unheil gestiftet, rief der Arzt — ge¬
schwind Anna, gib mir das Ammoniakfläschchen, daß ich die armen Leute wieder
zu sich bringe. Die Krämpfe wollten aber noch immer nicht ganz aufhören, ob¬
gleich sie sichtlich milder geworden. Da ging Anna, die Frau unseres anima¬
lischen Magnetiscurs, auf den Maler los, und indem sie ihm erklärte, daß
seiue Gegenwart die vollständige Heilung unmöglich mache, drückte sie ihm
seinen Hut in die Hand. Und doch war der Salon voll von Zuschauern, die
durch diesen Beweis noch gar nicht überzeugt wurden!—Und wie anständige, sonst
geistvolle Leute werden nicht durch diese Charlatane bethört! Mit welchem Rechte
will man dem Univers seine Freude an der Kauonistrung des heiligen Babola
verargen? Warum sollten die Pfaffen an einem solchen Volke und an einer sol¬
chen Zeit verzweifeln? Sie thun es auch nicht und ihre Macht wird mit jedem
Tage größer. Es ist unglaublich, mit welcher Unverschämtheit ihre Presse den
gefüllten Menschenverstand ins Gesicht schlägt. Sie weiß, was sie sich erlauben
darf, und daß höchstens der Charivari es wagen kann, ihr in einigen schüchter¬
nen Witzen zu antworten. Wenn es von diesen Herrn abhinge, die Autvdafis
würden längst hergestellt sein, und der Univers macht gar kein Hehl dar¬
aus, daß er große Sympathien für die Inquisition habe. Der Univers ist
für jeden Absolutismus, und solange die Republik noch gedauert, nahm der Kai¬
ser Nikolaus in seinem Herzen die erste Stelle nach dem Papste ein. Jetzt, wo
die reactionären Interessen von politischer Seite aus im zweiten December wohl
vcrhypvthecirt sind, kämpft der Univers zunächst und hauptsächlich für die religiöse
Reaction — er schwärmt ans rührende Weise für die Freiheit Polens, und er
verspricht ihm seine Unabhängigkeit wieder. Was die katholische Partei eigent¬
lich für den neuen Schützling thun wolle, ist zwar nicht klar/ en atwnäant be¬
reichert sie dessen Kalender mit neuen Heiligen. Soweit sind die Kinder
Voltaires gekommen, daß sie vor der Zuchtruthe des Herrn Louis Veuillot ihren
Nacken beugen müssen, ohne zu muckse». Die Herren werden uus schon noch
andere Dinge erfahren lassen, n»r Geduld. Ich hörte unlängst in einer Gesell¬
schaft einen Herr», dessen Sympathien für die ultramontane Partei bekannt sind
folgende Geschichte als einen Beweis glücklicher und beneidenswerther Glaubcns-
disposition der Bewohner Sardiniens rühmen: In La Spezzia, einem reizend ge¬
legenen Seebade, das seit kurzem einigen Aufschwung zu nehmen begann, hatte
ein Schwein einem Kinde die beiden Beine abgefressen. Diese Unthat erregte
natürlich das größte Aufsehen, und die Bewohner der Gemeinde beschlossen im
Einverständnisse mit dem Pfarrer den Verbrecher auf exemplarische Weise zu be¬
strafen. Der Delinquent wurde also in der Mitte des Hanptplatzes auf einen
Scheiterhaufen gebracht und mit dem Flammentode bestraft, während sämmtliche
Schweine des Dorfes mit ihrer Nachkommenschaft im Kreise um den bratende»
Ketzer herumgeführt wurden.
Wir möchten diesen Brief, der erfindungsreicher Industrie jeder Art gewidmet
ist, nicht schließen, ohne von Alexander Dumas neuer Industrie zu sprechen. Die¬
ser talentvolle Schnellschreibcr fand, daß es noch nicht genug ist, seine Memoiren,
ein Dutzend Dramen und ebensoviele Romane auf einmal zu veröffentlichen; er
will zugleich Journalist sein und da Alexander Dumas auch uicht Journalist sein
kann wie ein gewöhnliches Menschenkind, so hat er sich ein eigenes tägliches Jour¬
nal gegründet, das er ganz allein schreiben will. Der Hauptzweck dieser Publi¬
cation ist, wie er in der Probcnummer seiner Mnsquetaire selbst erzählt, die Kri¬
tiker vorzunehmen. Er könne es nicht mehr länger aushalten von seinen Feinden
hart angegriffen und von seinen Freunden schlecht vertheidigt zu werden. Auch
wolle er die fünfzig Bände Memoiren, die er noch zu schreiben hat, jetzt, wo
er sich immer mehr der Gegenwart nähert, unter eigener Verantwortlichkeit ver¬
öffentliche». Das wird also einen tägliche» Skandal um zwei Sous die Nummer
geben und ma» kaun des Erfolges bei einem solchen Unternehmen so ziemlich ge¬
wiß sein. Herr Dumas hat sich bei dieser Gelegenheit auch als Speculaut be¬
währt, indem er die Hausmeister von Paris zu seinen Agenten gemacht. Diese
bekommen für jede Nummer, die sie an ihre Locataire absetzen, drei Centimes und
bei Absatz von fünf Nummern zugleich ein Gratisexemplar. Im Prospectus gibt
sich Dumas als die Personification seiner vier Musketiere zu erkennen und ver¬
gleicht sich im Vorbeigehen auch mit Napoleon. Das Blatt wird außer seinen
Memoiren und außer kritischen und polemischen Artikeln jeden Tag ein Capitel
eines neuen Romans bringen. Das genügt in der That, um in Paris wenig¬
stens eine Zeitlang 20 — 30,000 Abonnenten zu finden. Auch eine neue Revue
wird uns angekündigt. Herr Se. Bcuve verläßt mit seinen ^aussries co wncZi
die Spalten des Wonitenr und will in seinem eigenen Hause plündern. Er gibt
zu diesem Behufe von Neujahr anzufangen im Vereine mit Nizard eine Revue heraus.
Von Proudhon sagt man ebenfalls, daß er um die Bewilligung, ein Journal her¬
ausgeben zu dürfen, anhält und Lamartine soll ein solches Privilegium bereits
erhalten haben. Beides scheint noch sehr der Bestätigung zu bedürfen.
Das neue Stück im Theater Francs: Dn<z ^cmrnLö et'^Kripps et'^ubixn^ von
Foussü'r, dessen Aufführung ich Ihnen angezeigt, verdient nickt, daß ein Wort
darüber verloren werde; es hat verdientes Fiasco gemacht. Dafür spricht ganz
Paris mir von dem ungeheuern Erfolge der vilwo ö<z I^>8 (Ik come aux izerlos)
von Alexander Dumas Sohn. Das Gymuas ist nnn für den ganzen Winter ver¬
sorgt — ich habe es uoch uicht gesehen und muß daher meinen Bericht bis zur
nächsten Woche verschieben.
Nachdem das türkische Kriegsmanifest erklungen war, machte die Diplomatie
der vermittelnden Mächte einen letzten Versuch, den ausbrechenden Brand im
Keime zu ersticken. Sie bewog de» Divan zum Erlaß eines Befehls an den
Oberfeldherrn auf dem europäischen Kampfplätze, den Beginn der Feindseligkeiten
vierzehn Tage, vom Erlaß der Kriegserklärung gerechnet, hinauszuschieben.
Trotzdem wurde am .^October das russische Gesandtschaftshotel zu Konstantinopel
geschlossen und am ^i^^ die Kanzlei entfernt, nachdem vorher die russischen
Unterthanen im türkischen Reiche unter östreichischen Schutz, die russischen Schiffe
unter östreichische Flagge gestellt worden waren.
Trotz jenes Wassenstillstandsbefehls an den türkischen Oberfeldherrn segelten
auch am ^ October Abtheilungen der vereinigten französisch-englischen Flotte
(je 2 Linienschiffe mit den dazu gehörige» kleinere» Fahrzeugen) aus der Bestkabai
durch die Dardanellen. Da aber ihr Aushängschild, „zum Schutze der Haupt¬
stadt" von dem Divan selber mißtrauisch angesehen werden mochte, ward ihnen
das Ankerwerscn unmittelbar vor Konstantinopel nicht gestattet; vielmehr mußten
sie sich an verschiedene Plätze des Marmvrmeeres vertheile».
Der erste auffallende Zusammenstoß erfolgte bei Jsaktscha (z-ZOct.), unmittel¬
bar oberhalb der Spaltung der Donau in ihre zerfaserte» Mu»d»ngen. Auch
wird der Vorfall vo» beiden kriegführende» Theilen als „Mißverständniß" bezeichnet.
Zwei Dampfer der russischen Dvnanflvtille, mit je i> Kanonenboote» im Schlepptau,
versuchten stromaufwärts an dem von den Türken befestigten Jsaktscha vorüber,
Munition nach der Walachei zu führen. Beordert, die Fahrt bei Nacht zu
machen, schien der Commandeur (Wherkapowski) die Türken brüskircu zu wollen,
näherte sich Vormittags 9 Uhr dem Fort, wurde mit Geschützfeuer empfangen,
büßte selbst nebst 12 Seeleuten mit dem Leben, erzwang jedoch allerdings die
Durchfahrt. Mehre zerschossene Schiffe mußten in Reni (an der Einmündung des
Pruth in die Donau) bleiben, die andern erreichten Galatz. Das Dorf Jsaktscha ging
in Flammen ans; der türkische Commandant des Forts soll vom türkischen Ober-
commando zur Verantwortung gezogen worden sein, weil er vor Ablauf der
gegebenen Frist die Feindseligkeiten eröffnet habe.
Indessen ist dies mehr als zweifelhaft. Denn jener Befehl des Divans,
wonach der Muschir seine Operationen noch hinausschieben sollte, enthielt die
Klausel: „falls sie nicht schon begonnen hätten". Genan vom Tage des Ein¬
treffens der türkische» Kriegserklärung im Hauptquartier deS Seraskiers hatte»
indessen scho» die Vorpostcnplänkeleicn längs der ganzen Donanlinie gedauert nud
wurden auch durch deu ,,zu spät" eingetroffenen Gegenbefehl nmsvweniqer unter¬
brochen, als Fürst Gortschaloff die Anfrage, ob er Befehl zu Unterhandlungen
habe, abweisend mit der Bemerkung beantwortet hatte, er werde sich vorerst in
der Defensive halten.
Unterdessen erschien das russische Kriegsmauifest, datirt vom ^ß^^, doch
wahrscheinlich schon früher versendet und wol anch an Omer-Pascha gelaugt, da
dieser genau am 1. November mit weitergreifenden Operationen den Uebergang
über die Donau begann.
Bevor wir diese Operationen näher bezeichnen, sind einige Angaben voraus-
zusenden über die Zustände der Kriegsbereitschaft in der Türkei, wie von Seiten
Rußlands, denen allgemeine Ueberblicke über die Beschaffenheit des europäischen
Kriegstheaters und die dort aufgestellten Heeresmassen folgen. — Andere Bericht¬
erstatter der Grenzboten haben sich bereits sachkundig über das innere Wesen nud
die Organisation der osmanischen Heeresmacht ausgesprochen; dies Thema ist
also nicht von neuem zu berühren. Dagegen war durch verschiedene Zeitungen
die Ansicht verallgemeint worden, die Türkei habe eben nur für den Kriegsschauplatz
Truppen auftreiben können. Dies erweist sich als ein Irrthum, obgleich uicht
zu leugnen sei» mag, daß die im ganzen etwa 3S0—6,00,000 M. starke osmanische
Heeresmacht keine genügende Reserve besitzt. Indessen belief sich in der Mitte
des October die „neue" Armee der Freiwilligen schon auf 160,000 M., so daß mau
bereits entschlossen ist, die „Fahne des Propheten" vorläufig nicht aufzustecken,
In der nothwendigen Schonung der Heereskräftc begründete sich dagegen vor¬
zugsweise die Nöthigung, zur Beobachtung derNeichSgreuzeu, a« denn»möglicherweise
der Krieg gegen Rußland zu feindliche» Augriffen benutzt werde» könnte, die Be¬
völkerung selber als Landwehr und Landsturm (Netifs) zu organisiren. Unter Mustapha
Pascha (Hauptquartier Jnuien) steht el» solches vo» 60,000 M. im Süden vo»
Epirus und Thessalien gegen die griechische Grenze; uuter Mehmet Neschid,
Seraskier von Bagdad, eine noch stärkere, me»» scho» weniger diöcipliuirte
Heeresmacht längs der persischen Grenze; Kurdistan und das Paschalik Erzerum
weiter nördlich könne» theils wege» des Grc»zgebirges, theils wage» des
Charakters ihrer Bewohner als zuverlässige Schutzmauern angesehen werden.
Das Coiumando führe» hier Abdallah Pascha, Bruder des berühmten Kurden-
Häuptlings und Achmet Pascha, Sprosse einer souveränen Familie in Kurdistan.
Am Ostende des schwarzen Meeres aber ist der vom russisch-türkischen Kampfe
neu begeisterte Kaukasus ein unmittelbarer Bundesgenosse. Da nun am östlichsten
Uferwinkel des schwarzen Meeres der asiatische Kriegsschauplatz sich entfalten wird,
so strömten hierher die aus Beirut zugezogenen Truppen (10,000 M.), vielleicht
das bestorganifirte Corps der ganzen osmanischen Heeresmacht, um die Avantgarde
der anatolischen Armee zu bilden, welche Selim Pascha als Seraskier commandirt.
(Generalstabschef: Sefik Pascha; Generale: Chnrchid Pascha — General Guyon,
Perchat Pascha—Baron Stein, Festi Bey —Oberst Colmar, Osman Bey
Zachitzky.) Wie stark die anatolische Armee überhaupt ist, dürfte wol sehr schwer
auch nur annähernd zu bestimmen sein. Sie scheint nach den letzten Nachrichten
sogar noch nicht vollkommen formirt, da uoch immer neue Sendungen dahin abgingen.
Am schwächsten besetzt von bereits eingeübte» Truppen mag im Augenblicke wol
Konstantinopel sein. Dagegen sammeln sich dort vorzugsweise die Scharen der
Freiwilligen, von deren fortwährendem starken Zuwachs jeder neue Zeitungsbericht
selbst aus wenig türkenfrenndlichen Federn meldet. Sie equipiren sich selbst und
bilden theils Reiterabtheilungen, theils Jnfanterieregimenter. Jene bestehen na»
türlich aus den Mitgliedern der wohlhabenderen Classe, sind daher besser ausge¬
rüstet, während die Fußsoldaten allerdings Räuberscharen nicht unähnlich sein
sollen. Uebereinstimmend bezeichnet man ihren Kriegsfanatismns als maßlos,
allein vom militärischen Standpunkt sind diese Massen, welche man allmälig in
die Nähe des europäischen und asiatischen Kriegsschauplatzes vertheilt, doch weiter
nichts als rohe Recruten.
Commandant en Chef der europäischen Operationsarmee ist bekanntermaßen
Omer Pascha. Sie besetzt zunächst Bulgarien (die alte Moesta inferior), also den
Landstrich nördlich vom Balkan, hinausreichend bis zum rechten Donauufer, mit
dem bergigen Dobrndscha östlich ans schwarze Meer grenzend, im Westen durch
brih Sunda-und Stara-Plaenina-Gebirg und ein Stück der Donau von Serbien
geschieden. Die Reserve (40,000 Mann) ist südlich vom Balkan um Adrianopel
stationirt. Die allgemeine Aufstellung vom östlichen bis zum westlichen Ende Bul¬
gariens war vor Beginn des Kampfes eine staffelweise in drei Linien. Der linke
(östliche) Flügel, mit dem Hauptquatier Sofia, steht nnter Kivr Hassan Pascha;
das weiter vorgeschobene Centrum besetzte eine Linie, deren Mittelpunkt Nikopoli
ist, und wird von Ismail Pascha commandirt; der rechte, ans 30,000 Mann be¬
rechnete Flügel mit dem Hauptquartier Karassan (oder Karasn am Trajanswall)
ist Haut Pascha untergeben. Schumla war Omer Paschas ursprüngliches Haupt¬
quartier.
Viel weniger klar ist man bisher über die Truppenaufstellung der Russen in
den Donaufürstenthüniern. Nachdem früher deren Gesammtmasse auf 160,000
Mann angegeben worden war, stellt sich neuerdings unzweifelhaft heraus, daß
höchstens 75,000 Mann die Walachei und blos 6000 die Moldau occupiren. Den
Mangel an Soldaten erkannte man beim Beginn der Feindseligkeiten auch daraus,
daß die walachischcn und moldauischen Milizen augenblicklich zum Dienste aufge¬
boten wurden. Aus den näheren Berichten über die Gefechte bei Oltenitza, Giur¬
gewo, Kalafat ?c. ersieht mau sogar, daß solche Milizen in die Fronte der vor¬
dersten Linie geschoben sind. Dies spricht nun äußerst wenig sür eine starke
Reserveaufstellnng, von welcher russische Berichte im gewohnten Stile versichern,
dieselbe sei so geschickt angeordnet, daß vom (höhern) bulgarischen Ufer von ihren
Bewegungen nicht das Geringste erspäht werden könne, während binnen drei
Stunden 30,000 Mann ans jedem beliebigen Punkte der Schlachtlinie zu concen-
triren seien. Diese erstreckt sich natürlich, der türkischen Aufstellung entsprechend,
vom äußersten Westen der kleinen Walachei bis zum Zusammenflüsse des Pruth
mit der Donan, während nnr im südlichen Theile der Moldau bei Birlat und
Tekutsch (beide am Barkal) und auf der möldau-walachischen Grenze (in Fokschau)
größere Concentrationen vorhanden sind. In Jassy blieb blos eine Garnison von
etwa 1000 Mann zurück. Die gegen Siebenbürgen grenzenden Districte waren
ganz unbesetzt und bis zum 31. October hatte anch das ans Bessarabien heran¬
ziehende Verstärknngscorps unter General Osten-Sacken den Prnth noch nicht
erreicht. In der Walachei war die ursprüngliche Aufstellung ebenfalls en eodelons
mit dem Hauptquaticr und dem Concentrationöpnnkt (20,000 Mann) Bukarest
(oder genauer 3 Posten südwestlich von Bukarest). Im übrigen theilt sich die
Operationsarmee in 13 Quartiere, deren Hanptconcentrationen von Westen
nach Osten in Kalafat gegenüber Widdin, in Severin gegenüber Cladowa, in
Zinnitza (Sinnitza) gegenüber Sistowa, in Giurgewo (Tschurtschuk, Jerköki) ge¬
genüber Rustschuk, in Brahila (Jbrahil) und Galadsch (Galacz) stattfanden. Ge¬
neral en Chef ist Fürst Gortschakoff, das Centrum führt General Dannenberg.
Aus halbem Wege zwischen dem Gencralstabsqnartier und Giurgewo waren die
Vorposten des Centrums aufgestellt, während Streifpatrouillen von Kosacken und
walachischcn Milizen die Donauufer überwachten.
Solange die Armeen sich gegenseitig blos beobachteten, hatten die Türken
unbestritten alle nur erdenkbaren Terrainvortheile vor den Russen voraus. Das
bulgarische Donanufer liegt höher als das walachische, ist gegen den Fluß hin
minder zcrweicht, minder durchschnitten und zerstückelt von Nebenflüssen und Zer-
spaltungen des Hauptstroms. So konnten die Türken ihre Beobachtungen un¬
mittelbar vom Ufer aus anstellen, und die ebenfalls bis dahin vorgeschobenen 18
festen Plätze, unter denen Widdiu, Nikopoli, Sistowa, Rustschuk, Silistria, Hir-
sowa, Matschin die wichtigsten, als vortreffliche Stützpunkte für alle vorbereitenden
Operationen benutzen. Ihre Hauptthätigkeit scheint denn auch, solange die Feind¬
seligkeiten noch nicht begonnen, auf die möglichste Vervollständigung der Befesti¬
gungen und auf die Verpallisadirung der dazwischen gelegenen kleinern Flecken gc-
richtet gewesen zu sein. Denn aus den Kampfberichten geht hervor, daß die
ganze bulgarische Uferstrecke der Donau von Widdin bis Hirsowa in der That
keineswegs mehr so schutzlos ist, wie sie durch den letzten russisch-türkischen Krieg
und Friedensschluß gemacht worden war. Nachdem die Russen nicht, wie früher
erwartet worden war, die Donau überschritten hatten, war damit für einen
türkischen offensiven Donaunbergang eine Anlehnung und Rückzugsstellung ge¬
sichert. Aber auch das Terrain ist jenseits der Donau nicht ungünstig. Der
Fluß hat von Widdin bis zum Ostrande der Walachei durchschnittlich eine Breite
vou 2/z bis Stunde. Von der Einströmung der Aluta (Nikopoli gegenüber
zugleich Grenzfluß zwischen der kleinen und großen Walachei), bis Hirsowa ziehen
sich Inselreihen ziemlich inmitten des Stromes, doch dem walachischen Ufer näher,
Sandbänken vergleichbar, mit Weidengestrüpp überwachsen. Westlich von Niko-
poli (also in der kleinen Walachei) ist aber der linke Ufersaum durch weitgedehnte
Sümpfe fast unnahbar; von Hirsowa bis zur Einmündung des Pruth ist er
durch Zerfaserungen des Flusses tief landeinwärts ganz unpracticabel. Auch diese
Inselreihen wurden verschanzt und so zu Vorwerken der moldauischen Ufervesten
gemacht, ohne daß den Russen vor Beginn des Kampfes die Möglichkeit gegeben
war, es zu hindern. Sie scheinen übrigens uicht einmal genau davon unterrichtet
gewesen zu sein und ihrerseits ans dem linken Donauufer derartige Vorkehrungen
unterlassen zu haben. , .
Allerdings bieten ihnen bei ihrer Ausstellung, die sich im ganzen an die
Südansläufer der siebenbürgischen Karpathen lehnt, die breiten, durchweichten,
sumpfigen Anlaute des Flusses ebenfalls den natürlichen Vortheil, daß sie gegen
UeberrumpelNngen durch große Heeresmassen gedeckt sind. Dagegen keineswegs
in dem Maße gegen Beschleichuugen und überhaupt gegen die Ossenstvvperationen
des sogenannten kleinen Kriegs, wie man es gewöhnlich darzustellen pflegt. Denn
die vom Gebirg wild herabgestürzten, fast unzähligen Flüsse und Flüßchen, welche
sämmtlich parallel und zwar in nordnordwestlicher Richtung auf die uur in leich¬
ter Krümmung westöstlich vorlanfende Donau stoßen, haben ihre Betten sehr tief
in. das Weichland eingeschnitten. Die westlichen Uferränder sind fast durchgängig
hoher, als die östlichen; und ist auch weiter gegen die Donau das walachische
Land unangebaut und harmlos, so doch grade für die Operationen des Plänklcr-
krieges insofern vortheilhaft, als unendlich zahlreiche Striche von Bnschweiden die
feuchteren, von Büschelchen die trockeneren Stellen besetzen. Eine im allgemeinen
von Südwesten gegen Nordosten vordringende Operation (und dies ist die tür¬
kische) hat sonach, trotz mancher Ungunst des Terrains, dennoch nicht geringe
Chancen für sich, und erst wenn dieselbe bis an die südlichen Ausläufer der
siebenbürgischen Karpathen vorgedrungen (also durchschnittlich in einer vierund-
zwanzig Stunden vom Nordufer der Donau verlaufenden Parallele), wird der.
Vortheil unbestritten auf Seite der Heeresmacht sein, welche die Walachei ver-
theidigt. Dazu kommt, daß die Nüssen überhaupt im kleinen Kriege minder ge¬
übt sind, als im Massenkampfe, wenn er nicht dnrch leichte Reiterei (Kosacken)
geführt werden kann. Diese ist aber in dem sumpfigen, tiefdurchschnittenen Ufer-
terrain unanwendbar. Sie kann sich erst tiefer im Land entfalten. ^
Soweit nun die Nachrichten laufen, scheinen diese Terrainbedingungen
wichtig für das Verständniß des begonnenen Kampfes gewesen zu sein. Schon
in den letzten Tagen des October hatte Omer Pascha, wahrscheinlich in der
Absicht, die russischen Concentrationen zu zerstreuen, deren Hauptmassen, wie er¬
wähnt, die Mitte und den Osten der Donaulinie besetzt hielten, am westlichsten
Ende der kleinen Walachei bei Widdin verschiedene Streifcorps und endlich eine
größere Abtheilung aus das walachische User entsendet. Nach östreichisch-russischen
Berichten war ihnen deshalb kein ernsthafter Widerstand entgegengesetzt worden,
weil (!) nach dem Vertrage von Balta-Liman den Türken ein gemeinsames Be-
satzuugörecht mit den Russen auf die Donaufürstenthümer zustehe. Soviel scheint
sicher, daß bereits am 30. October 16,000 Mann unter Namik Pascha und Ge¬
neral Prim bei Kalafat standen und dieses zu verschanzen begannen, während die
Russen auf einer Rückzugsliuie nach Crajowa sich concentrirten. Der wahre
Grund der geringen russischen Gegenwehr scheint gewesen zu sein, daß die Reiterei
im Sumpfterrain nicht operiren konnte und die Infanterie nicht genugsam von
Geschützen unterstützt war. Auch mochten die Russen diesen Uebergang nur für
einen Scheinangriff halten, was er anfänglich gewesen sein mag. Indessen, da
er gelang, war es natürlich, daß der türkische General davon Vortheil zog. Wäh¬
rend nun die russischen Bewegungen sich mehr westwärts wendeten, um dort den
Feind über die Donau zurückzuwerfen (sogar Fürst Gortschakvff reiste nach Cra¬
jowa), hatte Omer Pascha die Inselreihe von Nikopoli bis Silistria besetzt und
begann (2. November) den Uebergang aufs linke Donauufcr gleichzeitig auf fünf
Punkten: nämlich von Silistria nach Turkul, von Sistow nach Zinnitza, von
Nustschuk nach Giurgewo, vou Tutnrkai nach Oltenitza und von Silistria nach
Kalarasch. Ueberall gelang er ohne erfolgreichen Widerstand der Russen, und am
3. November folgten weitere Uebergänge auf mehren, zwischen den genannten
Orten liegenden Punkten, besonders auch noch bei Nassova und Hirsowa (beides
nordöstlich von Silistria).
Nur der Uebergang im eigentlichen Centrum der Kampflinie bei Tuturkcn-
Oltcnitza führte gleich anfangs zu einem bedeutenderen Zusammenstoß, welcher
schlachtähulich genannt werden kann. Die russische Macht betrug hier etwa 6000
Mann, die türkische ungefähr gleichviel. Das Gefecht begann in der Morgen¬
dämmerung nud entwickelte sich zunächst unmittelbar am Donauufer mit der rus¬
sischen Vorhut, indem die Türken die Fähren verließen, auf denen sie von den
Inseln herübergesetzt waren. Ihre Operation scheint erst im Moment des An-
lcmdens erkannt worden zu sein. Zuerst wichen die Russen, wurden aber dann
vom Gros, welches etwa eine halbe Stunde landeinwärts lag, und gegen Mittag
noch von neuen Regimentern unterstützt, die ans der Richtung von Bukarest her¬
ankamen. Nachdem nun die Türken eine Zeitlang gewichen waren, gingen ste
plötzlich von neuem vor und trieben, die Russen bis auf ihre verschanzte Reserve-
stellnng hinter Oltenitza zurück. Dieser Kampf, wie die nachfolgenden Gefechte
am i. und 3. werden als sehr mörderisch geschildert, änderten aber an den beider¬
seitigen Stellungen bis zum 9. November nichts. Indessen hatten die Türken
die Verbindung dieser Position gen Osten mit der von Silistria-Kalarasch be¬
reits am 6. November hergestellt.
Auch an den übrigen Uebergangspnnkten hatten natürlich Gefechte stattgefunden,
ohne daß die Türken ein weiteres Vorschreiten versuchten, währeud dagegen im¬
mer neue Massen vom bulgarischen Ufer herübergeführt wurden. Schon am
6. November sollen 40,000 Türken auf walachischem Ufer gestanden haben und dieses
von Kalafat bis Kalarasch in ihrem Besitze gewesen sein. Die russischen Trup¬
pen schienen sich dagegen vorzugsweise im Centrum zusammenzudrängen, und ganz>
speciell die türkischen Stellungen von Ginrgewo (gegenüber Rustschuk) und Olte¬
nitza zu bedrohen. In den Tagen vom 10. —12. November erwartete man eine
ernstliche Schlacht und vernahm auch bereits deren Donner in Bukarest. Die
letzten Nachrichten melde» nun, die Türken seien bei Oltenitza und Giurgewo
über die Donau zurückgedrängt worden. Ueber die Einzelnheiten des Kampfes
erfährt man nichts Sicheres, ihr Rückzug war ungestört. Noch liegt darin eine
geringe Gefahr, wenn sie ihre Stellungen in der kleinen Walachei halten, be-
ziehentlich verstärken und wenn, sie von daher mit Wucht auf die Russen zu
drücken vermögen, ehe General Osten-Säcken sich mit Gvrtschakoff vereinigt. Bis
zum 9. November waren aber wirklich 33,000 Mann von Widdin nach Kalafat
übergegangen und bereits Neservetruppen aus Sofia in Widdin angelangt, wäh¬
rend große Scharen der Freiwilligen bereits wieder den Abgang aus Sofia,
Schumla und Adrianopel ersetzten.
Vergegenwärtigen wir uns nochmals kurz die Hauptzüge der Stellungen am
9. November, so sind es folgende. In die kleine Walachei drangen die Türken
(linker Flügel) von Widdin mit cillmälig 33,000 Mann unter Ismail Pascha bis
Kalafat; die Russen stehen auf halbem Wege nach Crajvwa ungefähr gleich stark.
Bei Ginrgewo und Oltenitza ^Centrum) hielten die Türken mit etwa Al,000
Mann nnter General Prim ihre zuerst genommenen Positionen; die Russe» wa¬
ren mit dem Hauptquartier i Stunden weit südwärts von Bukarest nach Fra-
teschti gerückt und sollen 33,000 Mann hier concentrirt haben. Ans dem rech¬
ten Flügel waren die Türken ebenfalls in ihrer Position auf dem linken Strom-
ufer geblieben. Indessen soll »um General Osten-Sacken den Prnth wirklich mit
30,000 Mann überschritten haben, und es darf nicht Übergängen werden, daß
auch im Rücken des linken Flügels der türkischen Armee Serbien eine wenigstens
höchst zweifelhafte Haltung bewahrt, so daß möglicherweise eine Abtheilung der
osmanischen Heeresmacht gegen dasselbe aufgestellt werden muß. Wäre man zu
.wirklichen Gewaltmaßregeln gegen Serbien genöthigt, so würde es ein höchst ge¬
fährliches Hinterland werden.
Vom asiatischen Kriegsschauplatz sind bis jetzt alle Nachrichten so verworren,
ungenau, einander gradezu widersprechend, daß wir besser zu thun glauben, die
Uebersicht vom dortigen Gange der Dinge — soweit sie überhaupt zu gewinnen
sein wird, — einer spätern Darstellung vorzubehalten.
— Jeder, der aus der Ferne die preußischen Verhältnisse ins
Auge faßt, wird sich kaum eine Vorstellung machen können von der tiefen Gleichgiltig-
keit gegen alle Fragen der innern Politik, die hier vorherrscht. Eine Woche nur noch
trennt uns von der Eröffnung der Kammern. Das Publicum — die Hotelgarni-
wirthe und Zimmcrvermicther ausgenommen — kümmert sich nicht mehr darum, als
ob das Parlament der Sandwichinseln am 28. November zusammentreten sollte. Und
doch erwarten eine Reihe von Vorlagen in der nächsten Session ihre Lösung, die tief
bedeutungsvoll für das Geschick und die Zukunft der preußischen Verfassung sind und
die dem preußischen Volk für sein eignes Geschick und seine eigne Zukunft ebenso be¬
deutungsvoll erscheinen müßten, könnte man ihm irgend welches Interesse an dieser
Verfassung einflößen, könnte man ihm die Einsicht beibringen, daß trotz aller Lücken,
trotz aller Zweideutigkeiten und Hinterthüren das Grundgesetz dem Lande noch immer
genug Rechte gibt, um dir Ausgangspunkt einer großen politischen Entwickelung zu
werden, falls das Laud davon Gebrauch machen will.
Die hiesige Presse ist ein ziemlich treues Spiegelbild der öffentlichen Stimmung.
Zwei große Blätter, deren charakterlose Trivialität alle Phasen der Revolution, und
Reaction glücklich überwunden hat und bereu Standpunkt umfangreich genug ist, um das
Ministerium und die Opposition mit gleichem, großem Wohlwollen zu umfassen, bilden
in« tägliche Nahrung der spießbürgerlichen Masse der Zeitungsleser. Ihnen zunächst
steht die Nationalzeitung, deren vornehme Doctrin in der Kritik' der bestehenden Ver¬
hältnisse aus dasselbe Ziel hinauskommt: auf constitutionelle Bcthmau-Hollwegianer,
Ministerien und Junker aus dem grauen Nebel ihres Mißvergnügens mit grämlicher
Weisheit herabzuorakelu. Indifferentes Wohlwollen und indifferente Rancüne, das ist
die Farbe der verbreitetsten Zeitungen, sowie es die Farbe der überwiegenden Mehrheit
der gebildeten Bevölkerung ist. Unter den Parteiorganen vertritt die Kreuzzeitung die
hinterlistige Ausbeutung der Verfassung, das preußische Wochenblatt ihre ehrliche
Durchführung. Aber das Publicum des letztern ist klein, und die Partei, welche die
eigentliche Garde der Verfassung, sein sollte, die constitutionelle, ist ohne Organ.
Eine Thatsache^ auffallend, unerhört, eine Schande für die Partei. Die Bedeu¬
tungslosigkeit der ministeriellen Presse entspricht diesem Zustande der Dinge. Die
Gegensätze der ministeriellen Politik sind entweder zu entfernt, oder zu stumpf, oder
nicht bestimmt genug; denn uicht blos nach der Seite der äußersten Rechten, auch nach
dem Centrum hin erstrecken sich ihre Verbindungen, Die constitutionelle Partei, die
den einzigen schroffen und realen Gegensatz des Ministeriums abgeben kann, hat sich
aus der Arena der Presse zurückgezogen. Wir finden daher die Vorwürfe zum minde¬
stens dcplacirt, die man der unstreitbarcn Flachheit und Nichtigkeit der officiösen Organe
macht; eine Position, die so schwach angegriffen ist, bedarf keiner bessern Verthei¬
diger. Erschiene der Tag, wo wir nothwendig einer andern ministeriellen Presse be¬
dürften, so dürfte sich das Bedürfniß dann nicht allein auf die ministerielle Presse
beschränken. Für die Dauer der gegenwärtigen Situation können wir nicht zugeben,
daß die Regierung in ihren Prcßorganen unverhältnißmäßig schlecht vertreten sei.
Es ist bezeichnend, daß da« einzige politische Ereigniß, das in dieser Stille sich
bemerkbar macht, die sich häufende Niederlegung von Mandaten der Abgeordneten beider
Kammern ist, ein Symptom, das anzeigt, daß die Indifferenz in die eigentlichen poli¬
tischen Kreise hinaufsteigt. Parteien, denen es nicht gelingt das Land für ihre Kämpfe
zu interessiren, können am Ende dem allgemeinen Loose der Erschlaffung nicht entgehen.
Obwol soviel Mandate abgegeben sind, daß die Vollzähligkeit der ersten Kammer ge¬
fährdet ist, und die Neuwahlen zur zweiten Kammer bei den kleinen Mehrheiten, die in
der letzten Session in wichtigen Fragen sich herausgestellt haben, eine politische Wich¬
tigkeit gewinnen mußten, so ist doch keine Spur von Eifer bei den Vorbereitungen zu
deu Neuwahlen bemerklich. Selbst die Kreuzzeitung, deren Partisane immer die
rührigsten waren, stößt einen Nothruf aus, ihre Anhänger aufzurütteln. Wie die Ver¬
hältnisse beschaffen sind, kann derselbe — und er betrifft die Wahlen zur ersten Kam¬
mer bei denen die liberalen Fractionen nur sehr geringe Aussichten haben — nur gegen
die Einflüsse, der Negierung gerichtet sein. Die Herren Gerlach und Stahl, die alles
gethan haben und noch thun, um die Verfassung dem Volksgeist zu entfremden und in
das Privilegien-Statut einer Kaste umzuwandeln, könnten bereits wahrnehmen, daß sie
mit allen „historischen und naturwüchsigen Organismen" nur in den Hafen der Bureau¬
kratie zurückstcucru. Wir zweifeln indeß nicht, daß sie am Scheidewege lieber der
Absolutie die ritterschaftlichste Unabhängigkeit, als dem Lande auch nur einen Theil
der' ritterschaftlichen Interessen zum Opfer bringen werden. — Unter den Abgeordneten
der zweiten Kammer, die ihr Mandat niedergelegt haben, bemerkten wir mit Bedauern
eins der thätigsten und entschiedensten Mitglieder der constttntioncllcn Partei, Herrn
Bürgers aus Cöln. Die Gründe, die ihn zum Rücktritt bewogen haben können, sind
uns völlig unbekannt.
Die Session wird zum großen Theil mit den Regierungsvorlagen ausgefüllt wer¬
den, die in der vorigen entweder verworfen oder nicht erledigt wurden. Die zweijäh¬
rige Periodicität und die sechsjährige Legislaturperiode dürsten eine hervorragende Stelle
darunter einnehmen. Bekanntlich scheiterte die letztere in der ersten Kammer nur an
dem Mißvergnügen der Junker über die Abänderung dieses Zweigs der Gesetzgebung.
Man wollte dem Ministerium seine üble Laune zeigen. Dieser Groll kann sich leicht
besänftigt, oder auch das Stimmverhältniß infolge der vielen Austritte sich geändert
haben. Die sechsjährige Legislaturperiode hat daher nur zu viel Aussicht zu reüssiien.
Die zweijährige Periodicität. wird aber hoffentlich abermals von der zweiten Kammer
verworfen werden, da Constitutionellc und Bcthman-Hollwegiancr unzweifelhaft dagegen
sind und die katholische Fraction infolge der neuesten kirchlichen Wirren in Süddeutsch-
land es mehr als je gerathen finden wird, sich die parlamentarische Tribüne jedes Jahr
offen zu erhalten. Für die, welche nicht daran zweifeln, daß der Keim der jetzigen
Verfassung endlich Lebenskraft gewinnen werde, ist ihre möglichst unverstümmelte Er¬
haltung .'eine Angelegenheit von hoher Wichtigkeit, selbst inmitten der allgemeinen Gleich-
giltigkeit.
Der Beginn der türkisch-russischen Campagne wird hier mit gespannter Aufmerk¬
samkeit verfolgt. Es ist unnöthig, zu sagen, daß die allgemeinste Sympathie sich der
Seite der Türken zuwendet. Es machen davon nur eine Ausnahme jene Menschen-
classe, der der Stand der Papiere das Höchste auf dieser Welt ist und die im viel¬
leicht schlecht verstandenen Interesse des Friedens russische Siege wünscht, und, wie
natürlich, die Kreuzzeitung. Man würde dies Organ, dessen recht eigentlich russischer
Charakter wol auch dem Kurzsichtigsten jetzt erkennbar ist, auch mit Verwunderung, ja
mit Bedauern für eine gerechte und ehrenvolle Sache Partei Nehmen sehen. Sein
jetziger Inhaber ist einer nähern Beachtung nicht werth; nur aus die wirklich Psycho¬
logisch merkwürdige Erscheinung machen wir Sie aufmerksam, daß sich das freie Blatt
beständig Heberdet, als spräche es die Gesinnung aller Welt aus v»d seien die „Tür-
kcnfreundc" nur in einzelnen ganz entarteten Gemüthern zu suchen. Dieser Grad von
Unverschämtheit ist nicht weniger spaßhaft, als die kindliche Einfalt einer solchen Taktik.
— Zur Erinnermrg an Mendelssohns Todestag wurde am 3. Novem¬
ber im Gcwandhause das ganze Oratorium „Paulus" ausgeführt. In dem folgenden
Concerte spielte Fräulein Marie Wieck aus Dresden das?-moIl-Concert von Chopin
und einige Salonstücke von Heller, Julius von Kolb und Henselt. Ihre vortrefflichen
Leistungen wurden von dem Publicum mit lebhaftem Beifall aufgenommen. — Die
Singakademie studirt jetzt Chöre von Hector Berlioz ein, dessen Ankunft hier im De¬
cember erwartet wird. — Friedrich Wieck beabsichtigt eine neue Broschüre über Ge¬
sangsunterricht herauszugeben, wozu ihn die kleine Schrift von Schmitt in München
veranlaßt hat. Ueberhaupt mehrt sich in unseren Tagen die Literatur über Gesang
und Gesangsbildung, und zwar grade zu einer Zeit, in der das Singen am schlechtesten
bestellt ist. Es ist vorauszusehen, daß alles Theoretisiren nicht viel helfen wird. Tha¬
ten sprechen besser als Worte, und auch die beste Gcsaugsschnle und die weiseste» Re¬
den über das Singen führen zu keinem anderen Endziele, als die ohnehin meistens un¬
erfahrenen Gesanglehrer irre zu führen und grade zu falschen Experimenten zu leiten,
die den Schüler verderben müssen. Auch die Rheinische Musikzcitung bringt jetzt einen
Aufsatz „Ueber die Kunst zu singen" von einem gewissen Bassini.
, Frau Clara Schumann spielte in einem Gesellschaftscvucerte in Cöln das ins-äur-
Concert von Beethoven; sie benutzte einen Flügel aus der Fabrik von Kleins in
Düsseldorf, dessen Ton und Spielart sehr gerühmt wird. In demselben Concerte kam
auch Schumanns v-mnIl-Symphonie und Handels Komposition zur Krönung Georgs II.
von England zur Aufführung, welche letztere Ferd. Hiller mit reicher Jnstrumentation
versehen hatte.
Die Musikalienhandlung von Breitkopf und Härtel in Leipzig hat eine neue Aus-,
gäbe der Sebastian Bachschen Motetten erscheinen lassen. Ebendaselbst erschien von
Robert Schumann die Musik zu Byrons Manfred, eine neue Sonate für Violine und
Pianoforte, Ferdinand David gewidmet, und die vierte Symphonie für Orchester und
im vierhändigen Clavierauszuge.
Der erste Theil eines neuen theoretischen Werks: Die Grundverhältnisse der
Musik, von Theodor Wilhelm Richter, ist bei Tauchnitz in Leipzig erschienen.
Die Grenzboten werden nach dem Erscheinen des ganzen Werkes eine ausführliche Be¬
sprechung geben.
— Als eine der erfreulichsten Erscheinungen im Gebiet des
Kunsthandels begrüßen wir die Porträtsammlung nach Lichtbildern von Biow (starb 1860),
welche bei T. O. Weigel in Leipzig erscheint. Die Sammlung enthält bis jetzt die Porträts
von A. v. Humboldt (unter der Anleitung von E. Mandel, gestochen von R. Trossin),
Cornelius (geht. von L. Jacoby), Rauch (geht. von Ed. Eichens) und E. M. Arndt
(geht. von Trossin). Die Ausführung ist durchaus musterhaft, und man kann sich keine
schönere Vereinigung von Würdigkeit im Gegenstande und in der Darstellung denken.
Die Haltung von Rauch macht nach unserer Ansicht einen etwas gezwungenen Eindruck,
obgleich es auch ein schöner Kopf ist, dagegen ist der feine, nachdenklich beobachtende
Geist Humboldts, die streng sittliche Würde von Cornelius und die freie Gemüthlichkeit
Arndts auf das glücklichste und vollendetste wiedergegeben. Man hat häufig die Be¬
sorgnis) ausgesprochen, die Erfindung der Daguerreotyvie werde den rohen Nationalismus
begünstigen und der Kunst Abbruch thun. Diese Besorgnis; hat sich keineswegs gerecht¬
fertigt, im Gegentheil hat seitdem die Kunst der Porträtmalerei einen neuen, durchaus
idealistischen Aufschwung genommen. Das Lichtbild kann die Kunst nie ganz ersetzen,
denn es stellt nie vollständig dar, was wir zu sehen begehren; aber es regt sie zum
Wetteifer auf, zwingt sie zur größeren Bestimmtheit und Naturwahrheit und leitet sie
aus den einzigen Weg, von dem das Ideal ausgehen kann. Und daß wir durch diese
Vermittelung uns daran gewöhnen, bedeutende und interessante Menschen unserer Zeit
uns auch sinnlich vorzustellen und ihnen dadurch gemüthlich näher zu treten, ist für' un¬
ser Leben kein kleiner Gewinn.
— Andersens sämmtliche Werke. Originalausgabe des Ver¬
fassers. Leipzig, Carl Lorck. 3. und 6. Bd. — Die beiden vorliegenden Bände enthalten
die Romane O. Z. und „die zwei Baronessen". Sie sind zwar nicht so poetisch,
wie die Märchen und Skizzen, die wol hauptsächlich Andersens Namen auf die Nach¬
welt tragen werden, auch nicht so farbenreich, wie der Jmprovisator, der unter den
Romanen wol der gelungenste ist, aber sie geben uns wenigstens deutliche und mit ge-
müthvoller Innigkeit angeschaute Bilder aus dem dänischen Volksleben. Sie haben in
dieser Beziehung eine gewisse Aehnlichkeit mit den Romanen der Friederike Bremer,
aber sie sind bei weitem besser sowol in ihrem ethischen Gehalte als in ihrer künstlerischen
Ausführung. —
ES ist unzweifelhaft ein großer Gewinn für unsere Entwickelung, daß die
Männer der Wissenschaft sich nicht mehr ausschließlich in ihre speciellen Studien
vertiefen und theilnahmlos auf den Gang der Gegenwart herabblicken; aber für
die wissenschaftliche Haltung ist dieser unmittelbare, ununterbrochene und gereizte
Antheil ein den augenblicklichen Bestrebungen der Zeit nicht immer ein Gewinn.
Bei keinem unserer Gelehrten tritt der nachtheilige Einfluß dieser Befangenheit
in den Zeitinteressen so deutlich hervor, als bei Leo. Seit dem Anfang der
dreißiger Jahre hat er unausgesetzt an dem Kampfe gegen die Revolution »ut
das liberale Princip überhaupt, Theil genommen. Er ist durch Gegenangriffe
vielfach gereizt worden und bei der Leidenschaftlichkeit seiner Natur, die durch
kein ästhetisches oder sittliches Maß einen Halt gewinnt, hat er sich in den
häßlichsten Schmuz persönlicher Zänkereien herabziehen lassen. Man kann ihn das
erkant, rerriblo der Reaction nennen, denn keiner unter den Wortführern dieser
Partei bietet den Gegnern soviel Blößen, keiner ist in seinen Angriffen so un¬
besonnen und so herausfordernd: und doch müssen wir den Ton dieser Streitig¬
keiten lebhaft bedauern, denn nur selten sind seine Behauptungen ohne allen
Inhalt. In der Regel liegt ein ganz richtiges und wahres Motiv zu Grunde,
das nur durch die Hitze des Gefechtes in eine falsche Bahn gelenkt und durch
den Cynismus der Form ungenießbar gemacht wird. So entstand noch vor ganz
kurzer Zeit im gesammten. Publicum eine große Aufregung, als Leo seinen Ver¬
druß darüber aussprach, daß es infolge der orientalischen Frage nicht zum
Kriege käme, weil er gehofft hätte, daß durch einen Krieg das „scrophulöse Gesindel,
welches einem ehrlichen Menschen die Lebensluft einengte" und „die Canaille des
materiellen Interesses" von der Erde werde vertilgt werden. Die Form dieses
frommen Wunsches war so cynisch als möglich und fand ihre allein richtige
Kritik im Kladderadatsch, und doch lag eine wahre Idee zu Grunde, die nicht
einmal paradox, ja kaum originell zu nennen ist. Alle Welt weiß, daß ein
langdauernder Friede neben den großen Segnungen,, die er für die Civilisation
mit sich führt, anch mit vielen Bedenken verknüpft ist, daß er den Muth und
die Aufopferungsfähigkeit erschlafft, daß er die Gemüther der Menschen in den
Aberglauben des materiellen Besitzes einwiegt und sie entwöhnt, sich einer Idee
hinzugebe». Sowie man von dem einzelnen Menschen ganz mit Recht sagen kann,
daß ein großes Unglück, wenn im übrigen seine Natur nnr gesund ist, seine
Seele stählt und adelt, so ist es auch mit den Völkern, nnr ist es eine unerhörte
Vermessenheit und eine freventliche Herausforderung des Schicksals, deshalb das
Unglück herbeizuwünschen. Der Krieg bleibt immer ein Unglück, wenn er auch
zu gewisse» Zeiten und unter gewissen Bedingungen ans ein Volk ebenso segens¬
reich einwirken kann, wie ein Gewitter ans die Atmosphäre. Allein diese Ein-
seitigkeit ist charakteristisch für Leo. Sei» Gemüth wird immer nur nach einer
Seite hin bewegt, von eüier Idee, einer Stimmung oder auch gradezu vou einer
phantastischen Abstraction, und wenn auch diese eine gewisse Wahrheit einschließt,
so fehlt ihr doch jene höhere Wahrheit, die nnr aus einer ruhigen Ueberlegung
und aus festen sittlichen Maximen hervorgeht. Es ist aber nichts leichter, als
ihn bei seinen schwachen Seiten anzugreifen, wir ziehe» es vor, i» ihm auf
jene Mischung positiver und negativer Momente aufmerksam zu mache», die er
mit der gesammten Romantik theilt und die er in seiner Bildung so' energisch
entwickelt hat, wie kein anderer Schriftsteller unseres Zeitalters.
Leo ist im Jahre zu Nudolöstadt gehöre» und gerieth als Student
im Jahre 1817 i» die Hände der damals herrschenden Deutschthümler. Namentlich
Jahr, der Turnvater, wirkte sehr lebhaft auf ihn el». Mit Wolfgang Menzel,
Karl Fvllenius und ander» Burschenschafter» stand er in, nahen Verkehr. Jena,
wo er se»tiree, gehörte damals z» de» Haiiptschen dieser Richtung. Allein vo»
de» demagogische» Tendenzen derselben niacbte er sich bald los, scho» als er sich
nach Göttingen übersiedelte, wo er sich hauptsächlich mit dem quellenmäßigen
Studium des Mittelalters beschäftigte. Es macht ihm Ehre, daß er den positiven
Gehalt dieser burschenschaftlichen.Periode tren bewahrt hat*); der Abschnitt seiner
allgemeinen Geschichte, der von der Erhebung des deutschen Volkes gegen
Napoleon handelt, gehört zu de» würdigste» Darstellungen dieser großen Zeit,
und zeigt, daß wenigstens dieser Kern des deutschen Lebens i» seiner Seele
kräftige Wurzeln geschlagen hat. Eine andere Richtung wurde seiner Bildung
gegeben, als er 1821 nach Berlin ging und sich den eifrigsten Schülern Hegels
anschloß. Man darf den Einfluß dieser Schule auf seine Denkungsart und
seine Gesinnung nicht gering anschlagen. Zwar hat er sich die scholastischen
Formen derselben nicht angeeignet, er hat den tiefsten Kern derselben nicht
erfaßt/ aber er ist durch sie zu Reflexionen über die Geschichte und zu einer
Methode der Composition angeleitet worden, die ihn unzweifelhaft in die Reihe
der Geschichtsphilosophen stellt. In vielen Punkten ist der Hegelsche Einfluß
auf ihn größer gewesen, als der Einfluß der historische» Schule, der er sonst,
seinem Princip nach, näher stand. So namentlich in seiner Auffassung der
römischen Geschichte. Er bat auch noch in der spätern Zeit, wo er bereits in
einen sehr lebhaften und erbitterten Federkrieg gegen die jüngeren Anhänger
Hegels verwickelt war, dem Meister in der „allgemeinen Geschtchte" ein sehr
ehrenvolles Zeugniß ausgestellt, worin freilich nicht der ganze Umfang und die
ganze Tiefe dieses außerordentlichen Geistes gewürdigt war, worin aber wenigstens
die eine Seite desselben die richtige Anerkennung fand, nämlich die strenge und
conservative sittliche Gesinnung. Aber Leo spricht diese Anerkennung in einer Form
ans, die etwas Beleidigendes hat und die zugleich ein unvollkommenes Berstäudniß
verräth. Er trennt die persönliche Gesinnung des Philosophen vollständig von dem
Inhalte seines wissenschaftlichen Systems, und beschuldigt das letztere, ein leeres
Fachwerk zu sein, in welches man jede beliebige Gesinnung und Ueberzeugung
einschachteln könne, so daß es als ein Zufall erscheint, daß Hegel grade diese
bestimmte Ueberzeugung gehegt und daß die jüngeren Hegelianer wenigstens
formell gar nicht unrecht haben, aus den Lehrsätzen ihres Meisters die entgegen¬
gesetzten Folgerungen zu ziehen.
Zum Theil liegt dieses Mißverständniß darin, daß er in dem Shste>in nichts
Anderes sieht, als die dialektische Methode: ein Irrthum, in den sehr viele von
den Anhängern und Gegnern Hegels verfallen sind. Nun ist zwar die Methode
el» sehr wesentliches Moment des Systems, aber sie erschöpft es nicht ganz, ein
jedes philosophische System wird vielmehr von einer ganz bestimmten substanziellen
Gesinnung getragen, die sich davon nicht trennen läßt. Man würde z. B. von
Spinoza ein ganz wunderliches Bild erhalten, wenn man sich bei seiner Würdigung
ans seine dürftige, ungenügende und ganz 'abstracte Methode beschränkte. — Ein
zweiter Grund liegt in der Ausdrucksweise Hegels. Er hatte bei der Feststellung
seines Systems nach zwei Seiten bin zu kämpfen, gegen den Liberalismus und
gegen die Romantik. In der Polemik kehrt man aber nur diejenigen Seiten
hervor/die für daß augenblickliche Bedürfniß geeignet sind, und so geschah es
denn, daß Hegel, der zunächst und am dringendsten gegen die Abstraktionen und
das Generalisiren des Liberalismus anzukämpfen hatte, es zuweilen verschwieg
oder wenigstens nicht deutlich hervortreten ließ, daß sein System und das System
der Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts, so scharf auch im einzelnen der
Gegensatz war, dennoch auf derselben Basis beruhte, nämlich auf der Ueberzeugung
von der Einheit der Verminst im Weltall. Wenn er daher in der Ausführung
sowol mit der historischen Schule als anch mit der Romantik häufig übereinstimmte,
so lag das nur darin, daß diese nach einer gewissen Richtung hin die Immanenz
der Vernunft viel lebhafter und eindringlicher vertraten, als die Aufklärung selbst.
Denn wahrend diese ein allgemeines und unbestimmtes Vernunftideal dem wirk¬
lichen individuellen, concreten, geschichtlichen Leben feindselig entgegenstellte, bemühte
sich die historische Schule im Gegentheil, die Continuität der vernünftigen Ent¬
wickelung, die Uebereinstimmung des Naturgesetzes mit der Idee und die indivi¬
duelle Entwickelung und Vervielfältigung derselben nachzuweisen. Soweit die
historische Schule in dieser Beziehung conscgucnt war, ging Hegel mit ihr Hand
in Hand. Aber sie war inconsequent in zwei der wichtigsten Punkte, und darum
mußte er sie bekämpfen. Einerseits beschränkte sie das Naturgesetz der geschicht¬
lichen Entwickelung willkürlich auf einzelne Bestimmungen, vor allem auf die
nationalen Voraussetzungen, und hatte für die größeren Formen des weltgeschicht¬
lichen Processes kein Verständniß; sie verwarf dieselbe» als Unterbrechungen der
historischen Continuität und sah in ihnen das absolut Böse. Sodann machte sie
zu Gunsten einer einzelnen Erscheinung, einer Revolution im allerhöchsten, welt¬
geschichtlichen Stil, eine Ausnahme in der allgemeine» Form ihres Denkens und
Empfindens. Sie erkannte nämlich die Berechtigung des Christenthums an, und
da dieses nicht nur aus den Naturgesetzen der nationalen Entwickelung nicht
herzuleiten war, sondern wahrend der ganzen neuern Geschichte den Naturproceß
des Völkerlebens unausgesetzt auf das gewaltsamste unterbrochen hatte, so war
sie genöthigt, eine doppelte geschichtliche Vernunft anzunehmen, eine irdische und
eine überirdische, und während sie der ersteren die Bedingung der Naturbeschränkuug
mit einer fast pedantischen Strenge vorschrieb, der letzteren das absolute Recht des
Wunders, d. h. der fortwährende» Unterbrechung der natürlichen und geschicht¬
lichen Continuität beizumessen. Auf diese Weise wird aber das eigentliche Princip
der historischen Schule zu einer.bloßen Illusion; denn es hat in den größten
Fragen der Geschichte nichts mitzusprechen. — Diese Inconsequenz der historischen
Schule hat Hegel schlagend und mit glücklichstem Erfolge corrigirt, einerlei durch
welche Formen der Beweisführung er dazu kam. Er hat einmal das Gesetz des
Naturlebens über die Einseitigkeit der bloßen Stammbestimmung herausgehoben,
und er hat andererseits das Christenthum, obgleich er ihm die höchste Verehrung
zollte, demselben Naturgesetz unterworfen, wie das übrige Leben. Alles dies
hat er wenigstens der Anlage nach mit soviel Klarheit und Bestimmtheit gethan,
daß keiner seiner Schüler über ihn herausgegangen ist. Sie haben nur einzelne
Seiten seiner Polemik schärfer betont und ihnen eine paradoxe Form gegeben,
weil sie es mit andern Gegnern zu thun hatten.
Nun ist der Gegensatz in der Empfindung und Gesinnung zwischen Leo,
wie seinen Vorgängern, den Romantikern überhaupt, und Hegel viel bedeutender,
als zwischen der historischen Schule und Hegel; denn die letztere ging mit
gewissenhafter Anstrengung darauf aus, jene Einheit der Vernunft, die sie nicht
vollständig erreichen konnte, weil sie in ihrem Princip inconsequent war, wenigstens
soviel als irgend möglich herzustellen; die Romantik dagegen, die nicht von einem
sittlichen, sondern von einem ästhetischen Bedürfniß ausgeht, hat ihre Freude an
dem tragischen Contraste zwischen göttlichem und menschlichem Recht/weil er ihrer
Phantasie einen größeren Spielraum gibt: und in diesem Behagen am unauflös¬
baren Räthsel des Weltlebens, an dem ewigen Contraste zwischen der menschlichen
Idee und der göttlichen Wahrheit steht Leo ganz auf einer Stufe mit Victor Hugo
und den übrigen neufranzösischen Romantikern.
Wir haben diese allgemeinen Bemerkungen vorausgeschickt, weil sie sich ans
sämmtliche Werke Leos beziehen und weil sie eine allgemeine Neigung der
damaligen Zeit, der Philosophie einzelne geistreiche Combinationen und Einfälle
zu entlehnen, ohne sich der weniger glänzenden und anstrengenderen Arbeit eines
zusammenhängenden Verständnisses zu unterziehen. Wir wenden uns nun zu der
weiteren Entwickelung Leos zurück.
Nachdem er 1823 mit Unterstützung der verwitweten Fürstin von Schwarz-
burg-Rndolsstadt eine Reise nach Italien gemacht hatte, versuchte er, sich in
Berlin festzusetzen/ Der Erfolg entsprach nicht seinen Erwartungen, wie deun
überhaupt ein eigenes Schicksal ihm die Wirksamkeit in der Hauptstadt abzuschneiden
scheint, und er beschränkte sich auf die Professur in Halle, wo er seit 1828
ununterbrochen gewirkt hat. Von den Arbeiten, durch die er daselbst die Geschichte
bereichert hat, erwähnen wir Zunächst die in strengem gelehrten Charakter, die
Forschungen in der altdeutschen Sprache und im altdeutschen Reiche, namentlich
seine Bearbeitung der Malbergischen Glosse (18i2), über die wir in Grimms
Geschichte der deutschen Sprache eine lesenswerthe Beurtheilung finden. Grimm
schließt sich zwar den Resultaten Leos nicht an, er tadelt vielmehr sehr entschieden
die Kühnheit und Vorschnelligkeit seiner Combinationen, aber er behandelt ihn
mit einer Achtung, die schon allein hinreichen würde, uns zu überzeugen, daß
Leo auch in diesen Kreisen der strengeren Forschung vollständig zur Zunft gehört.
Mit dieser Notiz müssen wir uns hier natürlich begnügen; es kommt uns nur
darauf an, die darstellenden Werke Leos, die zur allgemeinen Literatur gehören,
zu besprechen. — Es war die Heeren-Ukertsche Sammlung, die überhaupt eine
ganze Reihe vortrefflicher Schriften hervorgerufen hat, die ihm zu seinen beiden
größeren Werken: Geschichte der italienischen Staaten, ö Bde. 1829 — 30 und
zwölf Bücher niederländischer Geschichten, 2 Bde. 1832—35, Gelegenheit gab.
Das letztere Werk ist vielleicht das vollendetste und correcteste, das wir Leo
überhaupt verdanken; es ist am wenigsten von seinen sonstigen, eigenthümlichen
Ideen und Einfällen durchdrungen und fast in allen Theilen mit gleichmäßiger
Sorgfalt behandelt, ein Verdienst, das man bei Leo sehr selten findet. Denn
sein Geist ist viel zu unruhig, um ein ausgedehntes Material vollständig zu
bezwingen; er geht vielmehr darauf aus, durch glänzende Schlaglichter und durch
weit ausgedehnte Perspectiven zu überraschen. Bei der niederländischen Geschichte
kam ihm der verhältnißmäßig beschränkte Umfang des Gegenstandes zu statten. Schon
die italienische Geschichte ist sehr ungleichmäßig ausgearbeitet. Die Auseinander¬
setzung der sittlichen und rechtlichen Verhältnisse des altewJtalieus seit der Herrschaft
der Longobarden ist vortrefflich, ebenso, was in den nächstfolgenden Bänden
über die allmälige Entwickelung der Municipalverfassung und der Dyuasteuhcrrschaft
unter den deutschen Kaisern gesagt ist. Ueber diesen Gegenstand hatte Leo schon
früher eigene Studien gemacht und wie alles, was man mit Vorliebe treibt, hat
sich auch diese Geschichte ihm zu einem klaren Bilde vergegenwärtigt. Ein günstiger
Umstand ist noch, daß hier die verschiedenen Sympathien des Geschichtschreibers,
Kaiserthum, Kirche, organisches Städtewesen, miteinander in Conflict gerathen
und eben darum eine objective Darstellung möglich machen, weil ein Enthusiasmus
den andern einschränkt und das Gefühl verhindert, jemals ins Maßlose über-
zuschweifen. Allein schon in dieser Periode führt es ihn zuweilen in Verirrungen,
daß er geistreichen Einfällen keinen Widerstand zu leisten weiß. Er ist seiner
eigenen Phantasie gegenüber stets kritiklos. So kommt er bei der Geschichte
Venedigs auf den artigen Einfall, diesen seltsamen Sraat mit einem Schiffe zu
vergleichen; die Localität paßt vortrefflich nud auch in den RechtSinstitntivnen lassen
sich, wenn man es nicht gar zu genau nehmen will, überraschende Vergleichungs-
punkte auffinden. Aber nnn wird dieser Einfall zu Tode gehetzt, und die ganze
Geschichte Venedigs darauf bezöge?,. Für ein wissenschaftliches Werk ist es
jedenfalls eine sonderbare Wendung, auf ein bloßes Bild, das, so glänzend es
sein mag, doch immer »ur halbe Wahrheit enthält, eine historische Auseinander¬
setzung zu begründe,,, Leo ist zuweilen glänzend im Charakrerisiren, aber für
die Erzählung, die bei einem Geschichtwerke doch immer die Hauptsache ist, hat
er eigentlich kein Talent, weil er zu wenig Ruhe und Andacht für die Thatsachen
mitbringt. — Auf ein anderes Bild müssen wir etwas genauer eingehen/ weil es
charakteristisch für sein ganzes System ist. Wenn wir vorher sagten, daß die
verschiedenen Sympathien sich einander die Wage halten, so müssen wir doch
hinzusetzen, daß der Grundzug des Gemäldes antighibclliiusch ist. Als Princip
des Ghibellinenthnms stellt Leo die Selbstgerechtigkeit dar und analysirt sie bei
einem der Führer der Ghibellinen, bei Ezzelin von Romano. Dieser war von
Natur ein kräftiger, tüchtiger und wohlgesinnter Mann, von starkem, unerschütter¬
lichem Rechtsgefühl, der ganz zu einem Wohlthäter seines Volkes bestimmt Den,
der aber, weil er den Inhalt seines Rechtsgefühls gewaltsam durchführen wollte,
ohne sich an die ihm widerstrebenden sittlichen und gesellschaftlichen Voraus¬
setzungen seiner Zeit zu kehren, zu einem Despoten wurde und sich zu den
willkürlichsten Ungerechtigkeiten, zu deu abscheulichsten Grausamkeiten verführen
ließ. Er wird nun als ein warnendes Beispiel aufgestellt, wohin der Hochmuth
der Selbstgerechtigkeit, jener Gerechtigkeit, die sich nicht demüthig vor einer höhern
Autorität beugt, sondern sich vermißt, die Quelle des Rechts in sich selber zu finden,
endlich fuhren müsse.
Die Tugend als subjectiver Entschluß des Herzens soll eilt Frevel gegen die
göttliche Gerechtigkeit sein. Ein anderer würde' in jenem Beispiele etwas ganz
Anderes gefunden habe», nämlich die gar nicht so ungewöhnliche Beobachtung,
daß bei einer gewaltthätigen, despotischen NatUr auch die edelste» und anscheinend
mcnfthcufrcnndlichsten Motive zu rücksichtsloser Gewaltthat führen können, wobei
man dann noch hinzusetzen würde, daß bis zu einem gewissen Grade wenigstens
ein Moment von jeuer Natur sich bei jedcM großen Menschen vorfinden muß, der
der Schöpfer einet neue» Zeit werden soll. Denn alles, was in der Geschichte
geschieht, oder allgemeiner' ausgedrückt, jeder Entschluß beruht auf einer gewissen
Rücksichtslosigkeit gegen Seiten, die anch ihre Berechtigung habe». Ezzclin ging
nnter, weil seine Macht nicht im richtigen Verhältniß zu seinem Willen stand.
Unter anderer! Umständen wäre er vielleicht ein großer Regent geworden, und
ganz abgesehen davon, war, was ihn verführte, nicht die Idee der Gerechtigkeit,
sondern der Despotismus, mit dem er sie ins Werk zu setzen suchte. Ueber die
Einseitigkeit dieses Beispiels wird man noch mehr durch das ideale Gegenbild
aufgeklärt, den heiligen Franciscus, der als ein Ideal der wahrhaft christlichen
Tugend, der Selbstverleugnung, erscheint. Als dieser wunderliche Heilige beim
Papst um die Bestätigung seines Ordens einkam, antwortete ihm dieser der Sage
nach, um das cynische Aeußere des frommen Mannes zu tadeln, „er solle einen
Orden nnter den Schweinen stiften." Der gehorsame Heilige nahm das wörtlich
und wollte es bereits ausführe». Solche Selbstverleugnung fand ihren Lohn:
die katholische Christenheit betet noch heutzutage zu ihm u>n Vermittelung bei
Gott. Aus diesem Beispiel hätte Leo grade das Entgegengesetzte herleiten sollen;
denn die uäniliche Selbstverleugnung, womit der heilige Franciscus mit voll¬
ständiger Aufgebung aller Bctnnnftnnd alles natürlichen Gefühls den unvernünftige»
Willen der Autorität wirklich vollstreckte, gab den jesuitische» Fanatikern des »6. Jahr¬
hunderts jene Dolche i» die Ha»d, die wahrlich auch nichts sittliches wären. Wenn
der despotische Hochmuth, der von einer Idee durchdrungen ist, schon Uebelthaten
genug herbeiführt, so ist das noch in weit höherem Grade der Fall bei jener
fatalistischen Selbstverleugnung, welche den Menschen zu einem blinden Werkzeug
einer höheren, vielleicht bösen Macht herabsetzt. — Leo hat auf dieses Beispiel
viel Werth gelegt und ist später hänfig darauf zurückgekommen; er hat die ver-
hängnißvolle Idee der Selbstgerechtigkeit bis in die Rvinanfiguren verfolgt. Zur
Zeit der „Mysterien" und des ewigen Juden gab er in der evangelischen
Kirchenzeitung eine übrigens recht interessante Kritik der vvruehmsteii Charaktere.
Er wies ,M, daß in Rudolf, dein Großherzog vöri Gerölstci», dieselbe
Anmaßung des subjectiven Rechtsgefühls, derselbe Hochmuth der von Gott
verlassenen Vernunft, derselbe Fanatismus der heidnischen Tugend aufträte, und
wie Adrienne von Cardoville wegen ihrer Idee, nach eigener Willkür und
Vernunft die sittlichen Verhältnisse regeln zu wollen, mit Recht von den Jesuiten
ins Irrenhaus eingesperrt sei, weil die Einbildung, in seinem Innern das Recht
und die Wahrheit des Lebens zu haben, in der That Wahnsinn genannt werden
müsse. Und denselben Wahnsinn stellt er als das charakteristische Kennzeichen der
französischen Revolution dar. Im vierten Bande seiner „Universalgeschichte" S. 728
beschuldigt er diese Revolution, ein in der Weltgeschichte ganz unerhörter Frevel
zu sei», weil sie nicht von egoistischen, individuellen Interessen, sondern von einer
allgemeinen Idee des Rechts ausging. Und zwar ist dieses Motiv der Verurtheilung
nicht von Leo erfunden; es wird fast von allen Feinden der Revolution vorgebracht.
Eigentlich hätte mau doch einen Fortschritt der allgemein-menschlichen Bildung
und Sitte in diesem Ueberwiegen der ideellen Interessen über die materiellen
finden und das Frevelhafte der Revolution anderwärts suchen sollen, nämlich in
dem Leichtsinn, womit über die historischen Voraussetzungen hinweggegangen
wurde. Wenn die Abneigung gegen den Idealismus eine aufrichtige war, so
hätte sie nicht blos gegen die Revolution, sondern gegen jede religiöse Bewegung
gerichtet sein sollen, die stets von einem idealistischen Motiv getragen wird. Allein
der eigentliche Grund war auch nicht Abneigung gegen den Idealismus überhaupt,
sondern nur Abneigung gegen das Bestreben, die Idealität inner¬
halb des weltlichen Wesens finden und herstelle» zu wollen, weil
das Ideal ein jenseitiges sein soll. Und diese Färbung, deren sich unter den
Gegnern der Revolution nnr wenige vollständig bewußt werden, gibt ihrem Kampfe
etwas Romantisches, sentimentales und Hoffnungsloses; denn wir mögen durch
unsere neuere» Forschungen über die unhistorischen Motive der revolutionären
Bestrebungen noch soweit hinaus sein, wir möge» die oberflächlichen Abstractionen
derselben durch die Vertiefung unserer sittlichen Bildung noch so entschieden
überwunden haben, nicht blos der wesentliche Gehalt der damals nach eiuer
Gestaltung ringenden Gedanken, sondern auch die idealistische Form derselben
bleibt dennoch die unserige, und auch die Vertreter der Reaction können sich,
wenn sie überhaupt wirken »vollen, dem Einfluß dieses ans d«s weltliche Wesen
übertragenen Idealismus nicht entziehen.
Vielleicht ist es das unbehagliche Gefühl, das feindliche Princip in der eigenen
Seele zu tragen, was die Augriffe der reactionären Schriftsteller gegen den
Liberalismus so erbittert macht und so sehr ins Kleinliche zieht. Bei denjenigen
Ständen, die durch die Revolutionen in ihren unmittelbaren Interessen gefährdet
wurden, war eine solche Form des Kampfes wol natürlich; aber die meisten
Gegner der Revolution sind ans dem Bürgerstande hervorgegangen. Man wird Leo
kaum unrecht thun, wenn man von ihm behauptet, daß er alle seine Kampfgenossen
in dieser Beziehung übertroffen habe. Seine polemischen Schriften, die noch
vielmehr an den Stil des Abraham a Santa Clara erinnern, als seine größeren
Werke, gehen alle darauf aus, die Revolution und ihre Vertreter so niedrig und klein¬
lich als möglich darzustellen. Es taucht wol hin und wieder in ihm die Vorstellung aus,
daß eine allgemeine Verbreitung der revolutionären Gesinnung ein Symptom von
einer« schweren Krankheit des Staats sein müsse, allein nur vorübergehend hängt
er diesem Gedanken nach; sehr bald sieht es wieder so aus, als ob die Revolution
ein äußerlicher, überirdischer Feind des Lebens sei, der Gott weiß von welchem
Planeten sich auf die Erde niederlasse, um das blühende Leben der Wirklichkeit
zu vernichten. Er predigt Haß und Verachtung gegen die Revolution, aber für
den kranken Staat weiß er keine andere Heilung zu finden, als Rückkehr zum
Christenthum, oder mit andern Worten, die Appellation an ein Wunder. Auch
ist sein Gemüth und seine Phantasie immer inhaltvoll genug, um bei der einen
oder andern revolutionären Erscheinung die Empfindung von etwas Großem und
Reinen zu hegen, allein eine solche Empfindung verwischt er augenblicklich gewaltsam
wie ein Brandmal des bösen Feindes. Diese Färbung findet sich in seinen sämmt¬
lichen polemischen Schriften, schon in den „Studien und Skizzen zur Natur¬
geschichte des Staats (1833)", noch mehr in den vermischten Aufsätzen im „Ber¬
liner politischen Wochenblatt", in der „evangelischen Kirchenzeitung"und im „Halle¬
schen Vvlksb.kalt", ferner in der Streitschrift gegen Diesterweg (1836), wo er
die ganze studirende Jugend als unsittlich denuncirte, in seinem „Sendschreiben
an Görres" (1838), worin er auf eine sehr zweideutige Weise in der Kölner
Frage für den Staat gegen die Kirche Partei nahm, in seiner „Polemik gegen
die Hegelingen" (1838), die dnrch die Halleschen Jahrbücher hervorgerufen wurde,
endlich in seiner „^ignaturir wmpc>rlL'° (18i9). In allen diesen Schriften finden
sich zwar zerstreute Einfälle von Geist und Gehalt, im allgemeinen aber würde
man sie schwer von den gewöhnlichen Aufsätzen der Kreuzzeitung unterscheiden.
Bei einer so reizbaren Natur wie Leo wird man wol nicht fehlgreifen, wenn
man wenigstens zum Theil persönliche Reibungen als die entscheidenden Motive
ansieht. In Halle waren die kirchlichen und politischen Gegensätze vielleicht härter
und schroffer aneinattdergedrängt, als in irgend einer deutschen Universität, und
sie gingen daher sehr bald in Persönlichkeiten über. Man kann nicht leugnen,
daß Leo durch seine persönliche Wirksamkeit auf der Universität wenigstens ebenso
schädlich eingewirkt hat, als dnrch seine Schriften; denn er wußte die Studenten
nicht nur dnrch den Witz und die Schlagfertigkeit seines Geistes, sondern auch
dnrch eine gewisse muthige Rücksichtslosigkeit zu gewinnen, die für die Jugend
immer etwas Verführerisches hat. Ueberhaupt werden wir die Nachwehen der
gegenwärtigen reactionären Bildung erst bei der heranwachsenden Generation in
ihrem ganzen Umfange wahrnehmen.
Was sich in seinen polemischen Schriften an Ideen zerstreut vorfindet, hat er
in dem „Lehrbuch der Universalgeschichte" (6 Bde. 1835—44), von dem gegen¬
wärtig bereits die 3. Auflage erscheint, zusammengedrängt. Man muß es als
sein Hauptwerk, als die Philosophie der Geschichte betrachten, zu der seine frü¬
heren Werke nur Vorstudien waren.
Die Universalgeschichte zerfällt der Form uach in zwei sehr voneinander
verschiedene Abtheilungen. Die Geschichte des Alterthums, des Mittelalters und
zum Theil auch noch die Reformationszeit ist compendiarisch behandelt, nicht in
einer ausgefährten Darstellung, sondern nur mit besonderer Hervorhebung der
leitenden Gesichtspunkte, die durch die Thatsachen exempliftcirt werden. Für diese
Art der Behandlung hat Leo ein ganz ungewöhnliches Talent; seine Gruppirung
der Thatsachen nach ideellen Gesichtspunkten hat hänfig etwas Ueberraschendes
und Bezauberndes, namentlich in der Geschichte des Mittelalters, über die er
durch frühere gründliche Studien Herr geworden war. Dieser erste Theil seines
Geschichtswerkes ist daher ungleich origineller und,unzweifelhaft nach allen Sei¬
ten hin lehrreich, wenngleich er wegen der unvollständigen Ausführung noch
reicher an Paradoxien ist, als selbst die Geschichte der Revolution. Sobald man
ausführlich und im einzelnen erzählt, wird man wenigstens zu einem gewissen
Maße in den Einfällen gezwungen, während es bei der bloßen Skizze für Com¬
binationen und Prophezeiungen keine Grenze gibt.
Am auffallendsten häufen sich die Paradoxien in der Geschichte des Alter¬
thums, die überhaupt ziemlich dürftig und ganz und gar nach Compendien, wenn
anch uach sehr guten, bearbeitet ist. Auch tritt hier am deutlichsten der Gegensatz
zwischen der angeblichen Vorliebe für die naturwüchsige Entwickelung und dem Enpra-
naturaliömuö des Princips heraus. Durch die Sprache sowie die überall durch¬
scheinende Bildung unterscheidet sich zwar Leo sehr wesentlich von deu alt-christ¬
lichen Chronisten, welche das ganze Alterthum bis. ans Christus als ein Reich
deö Bösen aus der Geschichte ausstreichen, aber im Princip ist er mit ihnen ein-
verstanden. Er hat seine Frende nicht nur an dem Untergang jener dunklen
Cnltnrformen im Anfang der Geschichte, sondern auch über den Untergang der
griechischen und römischen Bildung, weil sie einer falschen Religiosität verfallen'
waren. Er stellt z. B, die Zeit des PenkleS als den Leichenzug alt-ätherischer
Sitte dar. „Der Leichenzug selbst", fährt er S. 262 fort, „kann uus »ur
freuen, denn in rascherer Entwickelung übt während desselben die welthistorische
Dialektik anch an dem falsche» Suchen nach Gott, was in der griechischen Sitt¬
lichkeit lag, ihr Recht und ihre Macht, und führt uns entschiedener dem Zie'le
entgegen, bei dem alle diese Dissonanzen der älteren Geschichte der Menschheit
ihre Losung finden." Ferner S. 380: „So war das Suchen deö grie¬
chischen Geistes nach Gott in Wahrheit ein vergebliches; — ein sol¬
ches, welches zwar vieles Herrliche, welches in einzelnen Momenten schöne, er¬
freuende, sittliche Gestalten und eine Fülle von Gedanken hervortrieb, aber jene
nur in natürlicher Kraft, diese zu eigenem Verderben, während sich die christliche
Welt, Wissenschaft und Kunst daran nachher gebildet, und was sie ihrer Natur
nach davon sich aneignen konnte, sich zu eigner Verherrlichung angeeignet, aber
auch nie ungestraft die Grenzen überschritte» hat, welche bei dieser Aneignung
stattfinden müssen, wenn man nicht die höhere Herrlichkeit christlichen Wesens da¬
hin geben will." — ES versteht sich von selbst, daß die römische Geschichte einen
ganz ähnliche» Ausgang nimmt, umsomehr, da Leo sich weit mehr der Ansicht
Hegels von der künstlichen mechanischen Entstehung dieses Staates anschließt, als
der Auffassung Niebuhrs, welcher auch diesem Staatswesen eine sittlich - volks-
thümliche Basis gibt. Uebrigens sin^d anch hier einzelne Einfälle . über¬
raschend »ut glänzend, aber bei alledem wird doch eine sehr unklare Stimmung
dadurch hervorgebracht; denn bei dem fortwährenden Gedanken an eine Vorse¬
hung, die alles zum Besten kehrt, muß man sich fragen, warum es Gott eigent¬
lich zugelassen habe, daß eine so umfangreiche und mächtige Culturbewegung voll¬
ständig in falsche Bahnen einlenkte Und so für den heiligen Zweck der Geschichte
nutzlos vorüberging, da er doch ebensogut mit seiner Offenbarung anch schon frü¬
her hätte eingreifen können. Ein naiv-christlicher. Chronist würde solche Seiten-
gedankeu nicht aufkommen lassen, aber der reflectirte, auf die moderne Philosophie
bezogene Standpunkt Leos gibt beständigen Zweifeln und Erörterungen Raum.
Man merkt es ihm an, daß ihm das suprauaturalistische Motiv uicht natürlich und
nicht geläufig ist, daß er jedesmal einen Anlauf nehmen muß, um sich dazu zu
erheben. Am meisten merkt man dies bei dem Schlüsse der Darstellung vom
Volke Gottes heraus; schon durch die blumenreiche, gezierte Diction erweist sich
dieses ganze Capitel als gemacht. Er redet sich selbst in eine gebildete Rührung
hinein und wird erbaulich, bis er endlich mit einer thränenvollen Predigt schließt.
In diesem Zustande der Erbaulichkeit hört alle Kritik ans; er verschließt gewaltsam
die Augen-, und seine kritische Auffassung der Genesis sieht sast so aus, als hätte
sie ein Schulknabe gemacht.
Daß er im.Gegensatz gegen die bis dahin geläufige Eintheilung der Cnltnr-
perioden nach materiellen Gesichtspunkten überall das religiöse Motiv hervor¬
gehoben hat, ist ein unzweifelhafter Fortschritt, und war bereits durch Hegel an¬
gebahnt; aber bei seinem reflectirten Supranaturalismus wird man nie darüber
klar, wieviel von der Religion das Werk des menschlichen Gemüths und der
Natur der Dinge sei, und wieviel der Offenbarung angehöre. Zuweilen sehen
die Erklärungen über das Wesen der Religion fast so aus wie schlechte Wort¬
spiele. Im Einverständniß mit den Naturphilosophen, mit denen er dnrch das
Medium der Romantik in Verbindung stand/ nimmt er eine allmälige Verschlech¬
terung und Verwilderung der Religionen an, und es scheint wenigstens vielfach,
als ob alle individuellen Religionsformen einen göttlichen Ursprung haben, aber
er bleibt keineswegs darin consequent, und wir sind'nicht selten genöthigt, Beelze-
hub zu Hilfe zu rufen, um so manche Religion zu erklären. Dies ist nun wieder
die Kehrseite seines Supranaturalismus, der Einfluß der historischen Schule.
Feste, gegliederte, individuell bestimmte Ordnungen des Staates sind ihm wichtiger,
als ein geschichtlich reichbewegtes Leben, und so kommt er in der griechischen Ge¬
schichte S. 36-1 und auch sonst noch öfter auf die Idee, das was man als die
Glanzpunkte der alten Geschichte rechnet, sei eigentlich nur eine greuliche Ver-
irrung. „Als des Kleisthenes fluchbeladene Hand", sagt er an jener Stelle,
„den Nahmen ganz anseinanderschlug, wurden die Individuen losgerissen von
den sittlichen Verbänden, die ihnen sonst Haltung gewährt hatten." Weiter
S. 281: „Die schönsten Erscheinungen der späten Zeit Athens haben als
Quelle die Erinnerung des früheren Lebens dieser Stadt und die Sehnsucht,
ähnliches wieder zu erleben, wobei abeL der Irrthum zu Grund lag, daß man
künstlich erzeugen wollte, was nnr natürlich erwächst." Nun hatte des Kleisthenes
fluchbeladene Hand bereits zwei Menschenalter vor dem Perikles die alten Zunft¬
ordnungen Athens zerrissen; es wird also die Blütezeit Athens in eine Periode
verlegt, von der wir eigentlich nicht die geringste Kenntniß haben, und alles ge¬
schichtliche Leben ist bloßer Verfall. Dergleichen Einfälle bilden freilich nicht die
allgemeine Grundlage der Darstellung, denn glücklicherweise ist Leo häufig incon-
sequent, aber sie klingen doch fortwährend wieder durch und verwirren die An¬
schauung. Außerdem verfällt Leo in einen Fehler, den mau am wenigsten bei
ihm erwarten sollte; er hat nämlich eine unbezwingliche Neigung zum Generali-
siren.' So dehnt er z. B. das Grundprincip des griechischen Lebens, den Indi¬
vidualismus, unstreitig viel zu weit aus! und wendet ihn auf Dinge an, bei denen er
keinen Sinn hat. Vortrefflich ist dagegen die Widerlegung der modernen republi¬
kanischen Vorstellung, die schon in Griechenland' die ideale künstliche Staats¬
bildung sucht.
Nachdem er nun das Christenthum wie durch ein Wunder hat vom Himmel
kommen und die zwecklose Welt des Alterthums hat vertilgen lassen (die ganze
Kaisergeschichte wird auf ein paar Seiten abgefertigt), kommt er ans die Zeit
seiner eigentlichen Liebe, das Mittelalter. Hier trifft es sich glücklich, daß
die beiden entgegengesetzten Principien, der Supranaturalismus und der historische
Naturwuchs, eine gewisse Versöhnung finden, weil das Christenthum sich, wenn
anch künstlich eingeführt, doch bald organisch in die deutsche Volkssitte eingelebt
hat. Wenn also auch hier sich gegen die Form manches einwenden läßt, wenn
das vollständige Aufgeben der Erzählung zu Gunsten begrifflicher Uebersichten mit
dem Wesen der Geschichtschreibung nicht ganz stimmen will, wenn ferner der
zelotische Haß gegen alle Ketzer, gegen die Fürsten, welche den Päpsten wider¬
strebt haben, und namentlich gegen die Muhammedaner, deren ganze Welt¬
anschauung als ein Reich des Teufels erscheint und deren Verfall ganz wie der
des antiken Heidenthums mit einem gewissen Cynismus des Zorns gefeiert wird
<z. B. Bd. 2 S. -I3S, 1i7, 208), mehr dem Theologen als dem Geschichtschreiber
ansteht, und wenn überall, wo von der Kirche die Rede ist, der kritische Anstand
aufhört (z. B. S. 476—77), so macht doch das ganze Buch einen sehr wohl¬
thuenden Eindruck; denn wenigstens bei den Hauptsachen des mittelalterlichen Lebens
finden wir wirkliche Liebe und Achtung und auch wirkliches Verständniß. Die
politische Staatsgeschichte, die sonst gewöhnlich in den Vordergrund tritt, wird
ganz nebenbei behandelt, dagegen die großen Phasen der Culturentwickelung in dem
Städte- und Ritterwesen, in den Eidgenossenschaften u. s. w. in zweckmäßigen
und geistvollen Uebersichten zu einer lebendigen Anschauung gebracht.
Allein mit dem Beginn der Reformation hört diese Einheit im Gemüth und
im Gedanken des Schriftstellers auf. 'Wenn Leo sein Princip consequent ver¬
folgen wollte, so mußte er ganz wie sein Vorbild, Friedrich Schlegel, Katholik
werden. Denn wer die Continuität der göttlichen Offenbarung und das uner¬
schütterliche Princip der Autorität gewahrt wissen will, muß sich der erscheinenden
Kirche fügen. Allein Leo ist Protestant/ und sein Glaube ist wenigstens nicht ganz
ohne Wurzel» in seinem Gemüthe. So streitet denn bei ihm beständig die Re¬
flexion mit der Empfindung, und er nimmt zu ganz sonderbaren Wendungen seine
Zuflucht, um das eine vor dem andern zu rechtfertigen. Er hebt sehr scharf die
Macchiavellistische Gesinnung der Zeit Leo X.. hervor, gegen welchen die Refor¬
mation wie eine Wiedergeburt des Christenthums erscheint. Er betont sehr stark
die dogmatischen Gegensätze, die Lehre von der Seligkeit durch den Glauben im
Gegensatz gegen die Werke. Das alles ist vollkommen' richtig und wird von den
gewöhnlichen weltlichen Geschichtschreibern der Reformation allerdings zu sehr
vernachlässigt, aber es ist doch nicht alles, nicht einmal die Hauptsache. Gegen
die andere Seite der Reformation, nämlich gegen die.Aufnahme der weltlichen,
bürgerlichen Interessen und der Natur in. den Kreis der Idealwelt, während
sie in der alten Kirche draußen geblieben waren, sowie gegen das freiheitliche
Moment der Reformation verhält sich Leo sehr zweifelhaft. Er kann sich nicht
entschließen, offen dagegen aufzutreten, er läßt seine Mißbilligung nur durchblicken.
Zuletzt findet er einen ganz eigenthümlichen Ausweg, der aber mit seinem son¬
stigen geschichtlichen Princip nicht übel übereinstimmt. Es kommt ihm nämlich
aus das Festhalten strenger Normen an, welche nicht dem subjectiven Bedürfniß
des Glaubens, sondern der allgemeinen Erziehung der Massen dienen. Er hält
jede absichtliche Neutralisation der Gegensätze für eine Sünde gegen den mensch¬
lichen Geist. So verlangt er denn für jede Kirche ein individuell geschlossenes
Leben und gesteht der katholischen Kirche eine gewisse Suprematie über die andern
zu, weil sie das Princip der Autorität energischer und cousequenter zu vertreten
im Stande ist. Der wahre Protestant soll nach seiner Ansicht ans eigenem
Interesse für das Gedeihen der katholischen Kirche besorgt sein und gegen alle
Ketzereien innerhalb derselben sich ebenso entschieden erheben, wie der rechtgläubigste
Papist. Das geht soweit, daß sogar Pascal sehr lebhaft getadelt wird, weil er
die Verwerflichkeit der Jesuiten enthüllte und dadurch den Feinden der Kirche
ne»e Waffen in die Hände gat'. Das ist eine Auffassung, die sich heutzutage
bei »usem Legitimisten sehr verbreitet hat, die aber einen reflectirten, eigentlich
irreligösen Standpunkt ausdrückt. Die wahre Religiosität ist ausschließend; der
echte Protestant kann die Existenz eines unfehlbaren Papstes, die Abhängigkeit der
sittlichen Bestimmungen von der Willkür einer angeblich inspirirter Person, die
Rechtfertigung der Sünde durch gute Werke und die Heiligung der dem Müßiggang
und der Unfruchtbarkeit geweihten Classe» ebensowenig gelten lassen, als der Ka¬
tholik die rechtliche Existenz einer ketzerische» Kirche. Wenn der nie auszugleichende
Gegensatz zwischen Protestantismus und Katholicismus jetzt nicht mehr in den
gehässige» Formen auftreten darf, wie in de» Zeiten der Reformation, so rührt
das nicht von einer Erweiterung des .christlichen Sinnes her, sondern von einer
Abschwächung desselben durch das Princip der Humanität: Toleranz gegen Anders¬
gläubige aus Rechtsgefühl und aus Menschenliebe ist eine Errungenschaft unserer
Zeit, aber rechtliche Anerkennung aller sich ausschließenden Gegensätze zu Gunsten
eines doctrinären Schemas, welches auch in der Religion individuelle, scharfge-
schlvssene Gestaltungen verlangt, ist ein wüster Traum der Romantik.
Mit dem Zeitalter der Reformation Hort das lebendige Interesse Leos an
der Geschichte auf, wenigstens die Grundlagen des nachfolgenden Zeitalters, so-
wol „das System des Merkantilsystems" als „das System der mechanischen Ten¬
denzen in der Politik" erscheinen ihm absolut verwerflich. Dennoch beginnt erst
mit diesem Zeitraum die Ausführlichkeit seiner Darstellung und der Haß gibt seiner
Feder zuweilen eine Kraft und Elasticität, die aus der Liebe nie hervorgegan¬
gen wäre. Das Buch erregt eine ganz merkwürdige'Spannung und ein Interesse,
wie es bei einem Geschichtwerke ganz ungewöhnlich ist, und vielleicht grade zum
Theil durch seine Fehler. Die ganz unerhörte Subjectivität der Auffassung, die
Stimmung, die im schnellsten Wechsel von einem Extrem zum andern springt
und die freilich zum Theil durch den Einfluß der verschiedenen Quellen bedingt
wird, die Ungenirtheit, in welcher der Geschichtschreiber allen seinen Einfällen
Luft macht, das alles sind, wenn man das Werk als ein wissenschaftliches be¬
trachtet, große Fehler und Jncorreclheiten, aber sie machen es dem Leser leicht und
bequem, sich ein bestimmtes Verhältniß zur Darstellung zu bilden, ungefähr , wie
es bei einem historischen Roman der Fall ist.
Was die Theorie betrifft, die sich in diesen letzten Theilen ausspricht, so tritt
am deutlichsten der Haß gegen den Idealismus des weltlichen Wesens hervor, ans
den wir schon oben hingedeutet haben. Leo ist entrüstet darüber, daß man ans
der Politik eine Art Religion, d. h. eine 'zur Glut gesteigerte Ueberzeugung ge¬
macht hat. Er siudet i» der Lehre Macchiavellis, in dem Merkantilstem der
absolutistischen Fürsten, in der philosophischen Aufklärung des vorigen Jahrhun-
terks, für die er den nicht schlechten Spitznamen „AuSkläricht" erfunden hat,
und in den mechanischen Tendenzen der Revolution den systematischen Fortschritt
einer und derselben Idee: nämlich der Hervorhebung des bien Mdlie und des
momentan Zweckmäßiger über die hergebrachten sittlichen Formen und Traditio¬
nen. Er klagt die Blüte des Handels, der bürgerlichen Betriebsamkeit und
den Frieden an, daß sie den Aberglauben des Menschen an irdisches Glück her¬
eingerufen haben; er nennt den Satz, daß der Staat znM Wohl des Volkes
da sei (Bd. i. S. -167) eine Dummchen; er findet es höchst verwerflich, daß
die moderne Staatstheorie die Fürsten zwingen wolle, ihre subjectiven Stim¬
mungen allgemeinen Rncksickten unterzuordnen; er findet in dem Repräsentativ¬
system die Atomisinmg des Staats und die ausschließliche Berechtigung der ungeglie¬
derten Masse. „Wer da will", sagt er Bd. 6. S. 233, „daß das momentan Zweck¬
mäßige herrsche, der will, daß die Gewalt herrsche, d. h. er will im Wesen die Revo¬
lution." Aber er bleibt darin keineswegs consequent, weil er nnr stark im Verneinen
ist. Sobald ein Fürst es mit der Revolution zu thun hat, räth er ihm unbedingt
das momentan Zweckmäßige'an, d. h. in der Regel die rechtlose Gewaltthat.
Er hat keine wahre Ehrfurcht vor dem Rechte, wie daS bei einem Supranatnralisten
auch nicht wol möglich ist. Das Recht erscheint bei ihm als absolut, wen» es
dem verhaßten bien publie widerspricht, aber vollkommen ohnmächtig, wenn es
die modernen liberalen Ideen beschützen soll. Es zeigt sich in diesen Aus¬
einandersetzungen jene Romantik, die der historischen Schule anklebt: sie hat
vollkommen recht darin, daß die Staaten nicht in berechneter Absichtlichkeit für
das allgemeine Wohl ihrer Bürger eingerichtet sind; sobald aber der Staat dnrch
die wachsende Bildung und die Verwickelung der Umstände in die Lage kommt,
mit Bewußtsein an seinem innern Fortschritt zu arbeiten, so wird er doch wol
keinen andern Maßstab finden können als das sehr geschmälte öffentliche Wohl.
Sehr charakteristisch ist es für Leo, daß er überall einen sehr energischen Wider¬
willen gegen die Humanität -zur Schau trägt, weil diese gleichfalls eine Errungen-
schaft der Aufklärungszeit war, und es ist das nicht blos Theorie, sondern zum
Theil auch angeborener brutaler Jnstinct. So findet er z. B. die Revolution, welche
Gustav III. in Schwede» unternahm, ihrem materiellen Inhalte nach als vollkommen
gerechtfertigt, er verwirft sie aber dciinvch, theils weil Gustav III. als Encyklopä¬
dist immer unrecht haben muß, theils weil er sie in modernen, humanen, un¬
blutigen Formen ausführte.
Bei dem allen finden sich immer sehr viel vortreffliche und lehrreiche Be¬
merkungen. Leo ist in seiner Polemik zwar ein Sophist, aber ein sehr ge¬
schickter. Mit der Kritik der Quellen nimmt er es nicht genau; er nimmt
so ziemlich alles ans, was in sein System paßt und die einseitigsten Schrift¬
steller find ihm die liebsten. Für die Revolutionszeit ist ihm die H'anptqnelle
die „Geschichte der Staatsverändcrung in Frankreich unter König Ludwig XVI.
oder Entstehung, Fortschritt und Wirkungen der sogenannten neuen Philosophie
in diesem Lande (6 Bde. -1827—1833)", ein höchst mühsames und aus sehr ge¬
nauem Quellenstudium beruhendes Werk>von Schütz und Ompteda, das aber eine
wahrhaft fanatische Parteisarbe trägt, dann aber auch Carlyle und Thiers, aus
denen er die colorirten Schilderungen mit großem Geschick entlehnt. Die Vor¬
liebe sür Mirabeau und Danton, die sich bei ihm sehr sonderbar ausmacht, ver¬
dankt er diesem letztern. An Leidenschaft gegen die Revolution und alle ihre Vor¬
gänger, gegen die Franzosen im Allgemeinen, gegen Pombal, Struensee u. s. w.
überbietet er alle seine Vorgänger. Er ist wahrhaft erfinderisch im Fluchen.
So sagt er Bd. 3. S. 35, als er von Ludwig XVI. spricht: „Aber der Gott,
der an ihm heimgesucht hat die Sünde seiner Väter, er ist kein Gott der Lüge, und
hat an ihm auch heimgesucht die Sünde seiner Mörder. Er hat sie zerschlagen,
in wildem Grimm hat sie der dämonische Geist, der sie zu Strafwerkzengen in
der Hand des Höchsten machte, auch gegeneinander getrieben, daß sie sich zer¬
fleischt und zum Tode verfolgt haben, daß sie alle sittlichen Geister des alten
Frankreichs mit Füßen getreten, und eine Brut hinterlassen haben, die, wie sie
auch mit der Schminke äußeren Reichthums und äußerer Civilisation prunkt, in
sich untergehen, die sittlich verrotten und verfaulen wird, noch ehe die vierte
Generation nach der Mördergeueratiou abgestorben ist/ denn von einer umwen¬
denden Gesinnung und sittlicher Zusammenraffung hat sich bei den Entsprossenen
dieses Volkes noch nichts blicken lassen, sondern nur Hochmuth auf ihre Sünde,
die sie nun täglich plagt in dem Gespenst jener hohlen Freiheit u. s. w." —
Dergleichen Kapuzmaden, die sehr häufig wiederkehren und in der Regel mit
höchst burlesken Darstellungen abwechseln, sind nun allerdings mit dem histori¬
schen Stile nicht in Einklang zu bringen. Leo ist seinen Einfällen gegenüber
ganz wehrlos, auch wenn sie seinem Zwecke widersprechen. So kommt er z. B.
in der Geschichte der Revolution auf die von Frvron angeführte Mnesso
ävrvö, die eigentlich ganz seine Partei vertritt und die er also alle Ursache
hätte, so gut wie möglich darzustellen, aber ihm fällt für jenen Ausdruck die
Uebersetzung: „Goldjungen" ein und nun bringt er denselben fortwährend vor
und schlägt damit seineu eigenen Freunden ins Gesicht. Diese Unruhe erstreckt sich
auch auf die Erzählung, in der das Wesentliche niemals streng vom Unwesent¬
lichen unterschieden wird; er ist entweder Novellist, Demagog oder Prediger.
Zum Schluß spricht er die Ueberzeugung aus, daß wir einem neuen, bessern
Zeitalter entgegengehen und gibt zu diesem Zwecke einige literarische Charakteri¬
stiken, die zwar einseitig, aber anziehend sind (z. B. die von Burke und Zin-
zendorf), die aber häufig auch eine sehr mangelhafte Kenntniß verrathen, wie
z. B. seine Geschichte der Staatsökonomie, in der er sich ganz wie sein Freund
Gerlach mit Phrasen hilft. Er hofft auf die Wiederherstellung einer allgemei¬
nen Kirche, obgleich er die vorläufige» Versuche dazu z. B. die preußische Union
mißbilligt. Preußen ist einer der Punkte, wo er sterblich ist. Seine Schilde¬
rung Friedrich II. (Friedrich der Große wird er nie genannt) ist ein wahrhaft
eqnilibristisches Kunststück, sich zu drehen und zu wenden, ohne die Sache zu
berühren. Wenn er consequent in seinem Denken wäre, so würde die Existenz
Preußens in sein System ebensowenig passen, als die Reformation. Aber wo
der Geist nicht mehr ausreicht, versetzt er sich in eine erhöhte erbauliche Stim¬
mung und so endet den» auch seine Universalgeschichte mit einem brünstigen Ge¬
bete, d. h. mit einem Act des Glaubens, der alle Widersprüche aufhebt.
(Iliklor^ ot it>o l'uplivil.^ ot I^apolonn »>. 8l. Ildon»; kron ille lotters »ut Mimi»!,?
ot Illo Il>l,v l^iizut.-Kön. 8ir Hudson I^o^vo incl otlieiul doeumvnls not doloro
»>,ille >in>>Ile, bx >V. I^ol-s^b. Geschichte der Gefangenschaft Napoleons auf
Se. Helena. Aus den Briefen und Tagebüchern des Generallieutnants Sir
H. Löwe und andern officiellen bisher ungedruckten Urkunden. Nach dem Eng¬
lischen des W. Fvrsyth von I. Scybt. Leipzig, Amclcmgs Verlag.)
Die Ueberzeugung, daß Napoleon während seiner Gefangenschaft auf Se.
Helena mit Ungerechtigkeit und Grausamkeit behandelt worden, ist bei dem größten
Theil des Publicums so fest eingewurzelt und der Name Hudson Löwe ist so sehr
zum Typus jeglicher Niedrigkeit, Tyrannei und Grausamkeit geworden, daß bei
weitem die meisten Leser das Buch, dessen Titel an der Spitze dieses Artikels
steht, mit Mißtrauen in die Hand nehmen und darunter nur einen Versuch,
durch eine sophistische Darstellung eine schlechte Sache zu vertheidigen, argwöhnen
werden. Dies ist um so mehr zu fürchte», als sich uoch viele finden, die sich vo»
dem Glänze des unvergleichlichen Genies Napoleons so sehr verblenden lassen, daß
sie seine zahlreichen Verbrechen gegen Nationen nud gegen einzelne übersehen und
über der Große des Feldherrn die Kleinheit des Menschen vergessen. Nur wer
sich davon frei zu halten weiß, kann die Unbefangenheit erlangen, die zur Wür¬
digung dieses viele lauggeuährte Vorurtheile vernichtenden Buches nothwendig ist.
Die Quellen, ans denen bis jetzt unsere Kenntniß der Geschichte der Ge¬
fangenschaft Napoleons geflossen ist, sind im höchsten Grade unrein und trübe.
Abgesehen von der Parteileidenschaft, von der sich so fanatische Anhänger Napo¬
leons, wie Montholon, Las Cases und Antommarchi, zu den gröblichsten Ent¬
stellungen verleiten ließen, war auch der persönliche Charakter dieser Männer nicht
dazu geeignet, sie zu getreuen Berichterstattern zu machen. Diese Behauptung
beruht nicht auf dem parteiischen Urtheil eines Betheiligten, sondern auf dem
übereinstimmenden Zeugniß Napoleons, O'Mearas und andrer, die mit den
Gefangenen in Longwood in nähere Berührung gekommen sind, und am über¬
zeugendsten geht es aus den in vorliegendem Werke mitgetheilten Briefen und
Aeußerungen Montholons und Las Cafes hervor, die auf diese Weise aus
ihrem eignen Munde überführt werden. Napoleon stand nicht an, Montholon
ins Gesicht einen Lügner zu nennen, der Haushalt in Longwovd kannte ihn nur
unter dem Spitznamen Il Bngiardo (der Lügner) und er selbst läßt seine geringe
Achtung vor der Wahrheit mit fast kindlicher Naivetät erkennen. Auch Las Cafes
wird am besten durch den Spitziimnen charakterisirt, deu er in Longwood führte:
der Jesuit. Er zeigt sich überall als ein Mann von großer Bildung und vielem
Geiste, aber auch als ein unermüdlicher Intriguant, der die krummen Wege nicht
blos ans Interesse, sondern mit innigem Behagen aufsucht. Ueber O'Meara,
deu man bisher wegen seiner Eigenschaft als Engländer als den unparteiischsten
und unverdächtigsten Gewährsmann betrachtete, erhalten wir jetzt ganz eigen¬
thümliche Aufschlüsse. Er verrieth Napoleon an Sir Hudson Löwe, indem er
sich gegen erstem feierlich verpflichtete, niemand etwas von dem in Longwood
Gehörten mitzutheilen, wenn er dnrch sein Schweigen nicht seine Pflichten als
englischer Unterthan und königlicher Beamter verletzte, und dennoch dem Statt¬
halter niiaufgcfordert jedes Wort hinterbrachte, welches in Longwovd gesprochen
wurde. Während er sich dem Statthalter als Vermittler in seinen verschiedenen
Differenzen mit Napoleon anbot, versäumte er niemals die ohnedies schon krank¬
hafte Gereiztheit des Exkaisers dnrch allerlei Entstellungen und Verdrehungen
noch mehr zu steigern und den Streit zu schüren, anstatt ihn auszugleichen. Au¬
ßerdem aber ließ, er sich auch noch von dem Ministerium als eine Art Spion zur
Berichterstattung über Sir Hudson Löwe benutzeu, indem er mit dem Admirali¬
tätsbeamten Finlaison mit Genehmigung des Ministeriums einen heimlichen Brief¬
wechsel unterhielt, in welchem er die kleinen Leiden und Schwächen der Bewohner
von Longwood mit einer so scurrileii Frivolität bespricht, daß die Briefe zuweilen
einen Hautgout annehmen, der sie zum Amüsement eines so verderbten Hofes,
wie der des Prinzregenten war, ganz geeignet macht. Dort wurden sie nämlich
gelesen, nachdem das Ministerium sie benutzt hatte. Als endlich sein zweideutiges
und verrätherisches Benehmen ans Licht kam, und ,der Statthalter sich genö¬
thigt sah, ihn seiner Stelle zu entheben und nach England zu schicken, rächte er
sich durch die gröbsten Verleumdungen und behauptete uuter andern, Sir Hudson
Löwe habe ihm gleich nach seiner Ankunft auf Se. Helena zugemuthet, Napoleon
auf eine nicht auffällige Weise ans dem Wege zu schaffe». Selbst einmal ange¬
nommen, diese Beschuldigung wäre wahr, in welchem Lichte erscheint dann O'Meara
selbst, der einen solchen Antrag drei Jahre lang geheim hielt und ihn erst zur
Kenntuiß des Ministeriums brachte, als er sich mit dem Statthalter verfeindet
hatte! ^- . -
Mr. Forfyths Buch ist allerdings zunächst als eine' Rechtfertignngsschrift
Sir Hudson Lowes und der englischen Negierung zu betrachten, sie gibt aber
durch ihre zahlreichen Auszüge aus den officiellen und Privatdepeschen des Statt¬
halters und des Colonialsecretärs, den Privatmittheiluugen O'Mcaras und den
Rapporten der nach Longwood commandirteu Ordonauzoffiziere, sowie durch die
auch in der Uebersetzung als Beilage mitgetheilten Beschwerdcschriften Las Cases
und OMearas mit den Bemerkungen Sir Hudson Lowes dazu, ein so wenig
getrübtes Bild des wahren Sachverhalts, daß der Leser nur sehr wenig Kritik
auszuüben braucht, um sich einen klaren Begriff von den Rollen, welche die ver¬
schiedenen handelnden Personen ans der Insel Se. Helena gespielt haben, zu
machen. Das Resultat fällt freilich nicht eben zu Gunsten Napoleons ans: dem
größten Feldherrn aller Zeiten, dem Niesengeiste, der die schwersten Probleme
der Politik mit einem Blick durchschaute, fehlte es an der Seelengröße, die das
Unglück mit Würde zu tragen lehrt, und der Mann, der die Geschicke der civili-
sirten Welt geleitet und unerschüttert ganz Europa gegen sich in den Waffen ge- ^
sehen hatte, zerquälte sich in Se. Helena, mit kleinlichen Plänen, wie er den
Statthalter in Harnisch bringen konnte, und glaubte das Schicksal durch die
Waffen der Lüge und Verdrehung bekämpfen und sich dadurch an ihm rächen zu
können, daß er seine Lage durch kleinliche Selbstquälereien noch unangenehmer
machte.
Die Beschwerde» Napoleons sind theils gegen die englische Regierung, theils
gegen die Persönlichkeit Sir Hudson Lowes gerichtet. Er wollte durchaus für keinen
Kriegsgefangenen, sondern für einen Gast Englands gelten, und als solcher von
der Negierung behandelt sein. Aber wie konnte der Mann, der, eben erst durch
einen blutigen Feldzug die europäischen Mächte für den Leichtsinn gestraft hatte,
ihn so nahe dem ehemaligen Schauplatz seiner Thaten in unbeobachteter Verban¬
nung neue ehrgeizige Pläne vorbereiten zu lassen, jetzt, wo es endlich gelungen
war, seine Widerstandskräfte zu vernichten, auf eine derartige Schonung Anspruch
machen? England und die andern Mächte waren es sich selbst schuldig, daß
sie alle Maßregeln gegen eine abermalige Rückkehr von Elba ergriffen, und sie
waren vollkommen im Recht, wenn sie dem, der sein Alles aus den glücklichen
Fall der Kriegswürfel einsetzte, jetzt nach dem unglücklichen Ausgang nach Kriegs¬
recht behandelten. Dieselben Rücksichten auf die Sicherheit Europas geboten
die Verweisung Napoleons auf eine so entlegene Insel wie Se. Helena, das
allerdings blos 16» vom Aequator liegt, dessen tropisches Klima aber durch
den regelmäßig wehenden Südostpassatwind gekühlt wird, und das sowenig
ungesund ist, daß von 500 europäischen Soldaten in zwölf Monaten nicht ein ein¬
ziger starb. Die Hochebene von Longwood wählte man grade wegen der Gesund¬
heit und Reinheit der Luft, wie auch derselbe Grund die Bewohner der Insel
bewogen hat, daselbst ihre Landhäuser zu bauen, anstatt in den allerdings baum¬
reichern, aber viel heißern Schluchten am Meer. Longwood selbst war allerdings
keine Wohnung, die eines Mannes in Napoleons Stellung, würdig war, obgleich
sie durch die Wohnung des Statthalters die beste auf der ganzen Insel war;
aber es lag gar nicht in der Absicht der englischen Regierung, Napoleon Loug-
wood als dauernden Aufenthalt anzuweisen. Kurz nach der Ankunft des Exkaisers
ans der Insel wurden ihm Pläne vorgelegt, um das neue Haus ganz nach seinen
Wünschen einzurichten, und es wurden mit großen Kosten die Baumaterialien dazu
ans England herübergeschafft. Anstatt aber seine Willensmeinung über die ihm
vorgelegten Pläne auszusprechen, zog es Napoleon vor, sich über den Kaisertitel
Und kleinliche Etikettenfragen zu streiten, nud als endlich der Statthalter, anßer
Stande eine Antwort zu erhalten, das Haus nach dem eingereichte» Plane baute,
beschwerte sich Napoleon, daß mau ihn nicht nach seinen Wünschen gefragt hatte!
Selbst das eiserne Gitter, mit dem Man den Garten des neuen Hauses umgab,
legte er als eine Beleidigung aus, und beschwerte sich bitter, daß mau ihn in
einen eisernen Käfig sperren, wollte!
Napoleon hatte einen Nayon von 12 englischen Meilen im Umkreis, in dem
er ohne von Schildwachen oder beobachtender Begleitung gestört zu werde», sich
in aller Freiheit bewegen konnte. Aber weil man ihm nicht erlaubte, auf der
übrigen Insel ohne Begleitung eines Ordouanzofsiziers frei herumzureiten, sperrte
er sich lieber oft ganze Monate lang in sein Hans und seinen Garten ein, und
beschwerte sich dann, mau morde ihn langsam hin, indem man ihm nicht erlaube,
sich die zur Erhaltung seiner Gesundheit nothwendige Bewegung zu machen!
Planmäßig wies er jeden Versuch, ihm eine Aufmerksamkeit zu erweisen oder eine
Erleichterung z»> verschaffen, mit Verachtung und oft mit beleidigenden Ausdrücken
zurück, wenn er nicht die von ihm vorgeschriebene Form annahm, welche mei¬
stens mir darauf berechnet war, die Aufsicht, welche die Negierung zur Sicherung
ihres Gefangenen für nothwendig hielt, illusorisch zu machen.
Eine der effectvvllsten Stellen in Las Cafes Buche ist die Erzählung, wie er
eines Morgens nach einem Bissen Brot verlangt, um seinen Hunger zu stillen,
er aber zur Antwort erhalten, es sei keines für ihn da. So habe man ihm selbst
Speise und Trank verweigert, und um das Fehlende anzuschaffen, ließ Napoleon
nach und nach sein Silberzeug zerschlagen und dasselbe in Jamestown verkaufen.
Wenn mau die Thatsachen näher prüft, nehmen sie freilich ein ganz anderes An¬
sehen an. Als Sir Hudson Löwe auf Se. Helena ankam, fand er, daß sich die
Ausgaben für den Hans halt auf Se. Helena auf die enorme Summe vou 1i bis
-13,000 Pfd. Sterling jährlich beliefen, die ganz ans das englische Budget kam.
Das Parlament hatte nur 8000 Pfd. bewilligt, und es wurde daher eine der
ersten Pflichten des Statthalters, die Haushaltnngsausgabe in die vorgeschriebenen
Grenzen zurückzuführen. Dies wurde ausnehmend durch den Umstand erschwert,
daß die Regierung in ihrem Anschlag ans ein viel weniger zahlreiches Gefolge
gerechnet hatte, als Napoleon wirklich nach Longwovd begleitete (es bestand aus
nicht weniger als 36 Personen) mit daß die Insel sehr wenig Hilfsquellen darbietet,
und alle Lebensmittel, die zum Theil erst vom Cap kommen müssen, ausnehmend
theuer sind. Der Statthalter sah sich daher genöthigt, über seine Jnstructionen
Hinanszugehen, und ans eigene Verantwortlichkeit die Summe auf 12,000 Pfd.
zu erhöhen. Was mau in Longwovd mehr brauchte, sollte Napoleon selbst aus
den bedeutenden , Capitalien, die er eingestandnermaßen bei mehren großen
Bankierhäusern in London und Amsterdam niedergelegt, durch offene Tratten decken.
Napoleon faud diese» Vorschlag annehmbar, aber nur unter der Bedingung, daß
man ihm erlaubte, seiue Briefe versiegelt und ohne sie erst dem Statthalter vor¬
zulegen, nach Europa zu schicken. Es war offenbar, daß er sich ans diese Weise
nur einen Weg zu eröffnen versuchte, sich mit seinen Anhängern in Enropa in
Verbindung zu setzen, und ihre Bewegungen zu seinen Gunsten zu leiten, und es
wäre thöricht gewesen, eine so gefährliche Erlaubniß zu ertheilen. Nun entschloß sich
Napoleon sein Silberzeug zu verkaufen, um durch diesen auffälligen Schritt ganz
Europa zum Mitleid zu reizen, und durch den dadurch erregten Skandal die
Regierung einzuschüchtern und zu zwingen, auf seinen Vorschlag einzugehen. An
wirkliche Noth war nicht zu denken, wie schon daraus hervorgeht, daß später,
wo nur noch 28 Personen zu versorgen waren, vierteljährlich über 900 Flaschen
feiner und 2500—2600 gewöhnlicher Tischwein (Cap, Teneriffa u. s. w.), serner
82 Pfd. Fleisch und 6 Stück Hühner (oder ein Dutzend größeres Geflügel, wie
Truthühner, Gänse, Enten alle 14 Tage) nach Longwood geliefert wurden. Na¬
poleon lebte für seine Person äußerst mäßig, Bertrand und Montholon hielten
aber jeder besonders Haus, und von ihrer Lebensweise gibt folgender Brief
O'Mearas an Mr. Finlaison, den er in seiner „Stimme aus Se. Helena"'frei¬
lich nicht mittheilt, einen Begriff. „Sie kennen wahrscheinlich nicht die Lebens¬
weise der Franzosen und ihre Kochwcise; eigentlich haben sie zwei Diners täg¬
lich, eins um -II oder 12 Uhr, wo Braten und Kochfleisch mit allen ihren
verschiedenen Hachis, Ragouts, Fricassvs ze. mit Weinen und Liqueurs servirt
werden, und ein zweites um '8 Uhr Abends, welches sich von dem ersten nur
durch die größere Anzahl Gerichte unterscheidet. Außer diesen beiden Mahlzeiten
essen sie alle (außer Bonaparte selbst, der nur zweimal des Tages, aber gewiß
sehr reichlich ißt) eine Art englisches Frühstück im Bett zwischen 8—9 Uhr, und
ein Nachfrühstück mit Wein um 4 oder S Uhr Nachmittags. Die gewöhnliche
Anstedt, daß die Engländer viel mehr Fleisch äßen, als die Franzosen, ist ganz
unrichtig; ich bin überzeugt, daß sie mit ihren beiden Diners und ihrem Nach¬
frühstück drei oder viermal soviel Fleisch verzehren, als eine englische Familie
von derselben Anzahl Personen. Diese beiden Diners, von denen das erste-je¬
dem besonders in seinem Zimmer servirt wird, verursachen einen großen Verbrauch
von Fleisch und Wein, während ihre Art, die Speisen zu bereiten, sehr viel
Oel oder Butter erfordert — welche beide hier auf der Insel ausnehmend theuer
sind (und Sie könnten ebensogut versuchen, einem Irländer seine Kartoffeln, wie
einem Franzosen sein Oel oder einen Ersatz dafür zu nehmen). Ihre Koupes
oonsommLss (denn sie sind, mit Ausnahme von einem oder zweien, die größten
Schlucker und Csser, die mir jemals vorgekommen sind) verursachen eine große
Verschwendung von Fleisch an einem Orte, wo die Lebensbedürfnisse so theuer
sind, und machen daher eine sehr große tägliche Geldansgabe nothwendig." Was
diese Darstellung bestätigt, ist, daß OMeara dem Statthalter im Beisein des
Major Gvrrequer, seines Adjutanten, versicherte, sie brauchten in Longwood täg¬
lich 30 Pfund Rindfleisch zur Suppe, das sie bis auf die Fasern auskochten, so
daß es zu nichts mehr zu gebrauchen war. Die Lieferanten für Longwood übten
sogar eine Art Monopol auf der Jusel aus, und der Oberarzt und Vorsteher
des Militärhospitals Dr. Baxter mußte erst Einspruch bei dem Statthalter erhe¬
ben, damit von der von den Pächtern der Compagnie gelieferten Milch, die alle
für Longwood verwendet würde, etwas für seine Kranken übrig bliebe.
Nicht besser ist es mit den andern Beschwerdepunkteu der Gefangenen in
Longwood bestellt, doch müssen wir wegen derselben auf das Buch selbst ver¬
weisen, wo der wißbegierige Leser manche interessante und unerwartete Aufklärun¬
gen finden wird. Die unserem Artikel gesteckten Grenzen zwingen uns vorwärts
zu eilen und unsere Aufmerksamkeit aus deu Kern der Frage, das persönliche
Verhältniß Sir Hudson Lowes zu dem Exkaiser zu wenden. Wer blos franzö¬
sische Quelle» gelesen hat, wird Sir Hudson Löwe freilich blos als einen Sbir-
ren, einen Hauptmann corsischer Räuber, einen Schreiber aus Blüchers Haupt¬
quartier, wie thu Napoleon betitelte, kennen, und wird sich daher sehr wundern,
wenn er erfährt, daß Sir Hudson Lome ein sehr verdienter, mit deu wichtigste»
Sendungen betrauter und hochgeachteter Offizier war. Er hatte sich zuerst als
Führer eines Corps corsischer Jäger bemerklich gemacht, mit denen er im ägyp¬
tischen Feldzuge und später an der neapolitanischen Küste und bei der Eroberung
der jonischen Inseln ausgezeichnete Dienste leistete, war zwei Jahre lang Statt¬
halter auf den jonischen Inseln und wurde Anfang 1813 von der englischen Ne¬
gierung als militärisch-diplomatischer Agent in das Hauptquartier der Verbündeten
geschickt. Hier »ahn er an der Schlacht von Baichen Theil, wo er zum ersten
Mal den Mann sah, der später sein Gefangener werden sollte. „Zwischen der
Stadt Bautzen", schreibt Löwe an Lord Bathurst, „und der von de» Verbünde¬
ten eingenommenen Stellung streckt sich eine lange Bodenerhöhuug hin, welche
ziemlich steil gegen die Stadt abfällt, aber gegen die Stellung einen sanften Ab¬
hang hat. Dieses Terrain, sowie dasjenige, welches die Vorhut bei der Stadt
Bautzen und an den Ufern der Spree besetzt hielt, war am Tage vorher geräumt
worden. Am Morgen sah man auf d>er Höhe eine feindliche Truppenabtheilung
aufgestellt. Unmittelbar vor ihrer Fronte bemerkte man eine' kleine Gruppe von
Personen, welche man mit Hilfe von Fernröhren bald als vornehme Offiziere der
feindlichen Armee erkannte, und unter ihnen ganz deutlich Napoleon Bonaparte
selbst. Er ging den übrigen ig —S0 Schritte voraus, nur von einem Mar¬
schall begleitet (nach unseren Vermuthungen war es Engen Beauharnais), mit
dem er sich fast eine Stunde lang unterhielt und dabei auf- und abging, denn er
war vom Pferde gestiegen. Ich befand mich bei einer vorgeschobenen Batterie
vor der Fronte unserer Stellung und konnte ihn ganz deutlich sehen. Er trug
einen einfachen Uniformrock mit einem Stern und einen einfachen Hut, verschie¬
den von denen seiner Marschälle und Generale, die mit Federn eingefaßt waren;
sein Aussehen und sein Wesen glich den von ihm erschienenen Porträts so voll¬
kommen, daß ein Irrthum nicht möglich war. Er schien mit seinem Begleiter
sich über einen gleichgültigen Gegenstand zu unterhalten und blickte sehr selten
nach unserer Stellung, die er jedoch vou seinem Standpunkte aus vollkommen
übersehen konnte." Später dem Hauptquartier Blüchers beigegeben, machte Löwe
an dessen Seite den ganzen Feldzug bis zur Eroberung von Paris mit und
wohnte der Schlacht von Möckern und Leipzig, von Brienne, La Nvthiöre,
Champaubert, Mery, Craonne, Laon, Före Champenoise und Paris bei. „Wäh¬
rend dieser Feldzüge", sagt er in einer seiner Depeschen, „hatte ich meinen vollen
Theil militärischer Verantwortlichkeit zu tragen, ungerechnet, daß ich allen gewöhn¬
lichen Kriegsgefahren ausgesetzt war; ich war beständig in der Umgebung des
Marschalls Blücher, war einmal dabei, als er verwundet wurde, ein anderes Mal
als ein Ordonanzkosack neben ihm siel, und zweimal, wo er mit genauer Noth
der Gefangenschaft entging und sich mit seinem ganzen Gefolge durch eine feind¬
liche Abtheilung durchschlagen mußte, an demselben Tage, wo er Napoleon sast
auf dieselbe Weise gefangen genommen hätte. " Wie sehr Loach militärische
Tüchtigkeit und sein ehrenwerther Charakter vou Männern wie Blücher und
Gneisenau anerkannt wurde, beweisen die Briefe, die in Forsyths Buch abgedruckt
sind und auf die wir den Leser verweisen müssen, da ihre Länge uns nicht er¬
laubt, sie hier mitzutheilen. Beim Wiederausbruch des Krieges war Löwe an¬
fangs zum Generalstabschef Wellingtons ernannt, erhielt aber später als General¬
major ein selbstständiges Commando im südlichen Frankreich, mit dem er gemein¬
schaftlich mit Admiral Exmouth Toulon einnahm. Von hier aus wurde er nach
London berufen, um die Statthalterschaft von Se. Helena und die Obhut über
die Person Napoleon Bonapartes zu übernehmen. Dies war der Mann, den
Napoleon einen Hauptmann corsischer marodirender Deserteure, einen sicilianischen
Henker, einen Mann, der nie mit Ehrenmännern zu thun gehabt, nannte. Daß
Napoleon nicht ans Unwissenheit so sprach, wissen wir aus Las Cafes Munde,
welcher in seiner Beschwerdeschrift über den Statthalter schreibt: „Wir sagten
uns (bei der Nachricht von Sir Hudson Lowes Ernennung): Eine Person erhält
den Befehl auf dieser Insel, die einen hohen Rang in der Armee hat; sie ver¬
dankt ihre Stellung persönlichen Verdiensten; sie ist in diplomatischen Sendungen
in den Hauptquartieren der Souveräne des Festlandes verwendet gewesen, wo sie
mit dem Namen, dem Range, der Macht, den Titeln des Kaisers Napoleon ver¬
traut geworden sein muß . . . „sagten Sie mir nicht", äußerte der Kaiser eines
Tages, „daß er bei Champaubert und Montmirail gefochten hat? Dann haben
wir wahrscheinlich ein paar Kanonenkugeln miteinander gewechselt, und das ist
in meinen Augen immer ein edles Verhältniß, in welchem zwei Männer zueinan¬
der stehen können!" Auch fiel das erste Zusammentreffen des Statthalters mit
seinem Gefangenen ganz gut aus. Auch die zweite Zusammenkunft ging noch
ruhig vorüber. Aber Reibungen konnten nicht lange ausbleiben, da Napoleon
durchaus nicht als Gefangener betrachtet sein wollte, und jede Beschränkung sei¬
ner Freiheit als eine.persönliche Beleidigung aufnahm, und der Statthalter weder
durch Schmeicheleien, noch durch Beleidigungen und Drohungen von dem Wege
abzubringen war, dessen Einhaltung ihm seine Pflicht vorschrieb. Der erste
Sturm brach los, als eine Reihe kleinlicher und fast kindischer Kunstgriffe, Hudson
Löwe im Widerspruch mit seinen Instructionen zu Anerkennung des Kaiserti'tels
zu bewege», fehlgeschlagen war. Sir Hudson Löwe stattete dem Exkaiser einen
Besuch ab, um ihm zu melden, die Negierung habe befohlen, ihm ein neues Haus
zu bauen, und er bitte sich seine Befehle über diese Angelegenheit aus. Anstatt
darauf zu antworten, erhitzte sich Napoleon bis zur größten Leidenschaftlichkeit,
nannte den Statthalter seinen Kerkermeister, seinen Henker, und schloß mit den
beleidigenden Worten: „Soll ich Ihnen die Wahrheit sagen, Sir? Ich glaube,
daß Sie Befehl habe», mich zu tödten — ja, mich zu todten. Ja, Sir, Sie
haben Befehl erhalten, alles und jedes zu thun." Der vollständige Bruch faud
aber erst statt, als der Statthalter sich genöthigt sah, gegen Bertrand wegen sei¬
ner Versuche, einen heimlichen Briefwechsel anzuknüpfen, strengere Maßregeln zu
ergreifen, und sich wegen eines höchst beleidigenden Briefes von ihm weigerte,
fernere Mittheilungen von ihm anzunehmen. Hudson Lome stattete damals Na¬
poleon seinen fünften und letzten Besuch in Begleitung des Admirals Sir
Pulteney Malcolm ab. Der Statthalter berichtet über diese merkwürdige Unter¬
redung unter anderem folgendes: Er warf mir vor, daß ich dem Grafen Bertrand
beleidigende Briefe geschrieben und ihn gereizt hätte. Ich machte ihn darauf
aufmerksam, daß er zuerst einen beleidigenden Brief an mich geschrieben; daß er
gesagt hätte, ich machte Napoleons Lage „-M'euss"; daß er mich deö Miß-
brauchs der Gewalt und der Ungerechtigkeit beschuldigt hätte. Ich setzte dann
hinzu: „Ich bin der Unterthan einer freien Regierung. Ich verabscheue jede
Art von Despotie und Tyrannei, und weise jede gegen mein Benehmen in dieser
Hinsicht erhobene Anklage als eine Verleumdung gegen einen Mann zurück, den
man mit den Waffen der Wahrheit nicht angreifen kann." Er hielt eine kleine
Weile inne, als ich diese Bemerkung machte, aber fing bald wieder an, indem er
sich an den Admiral wendete und in noch bitterem Ausdrücken sprach, als vor-
her: „Es gibt zwei Arten von Leuten, welche Regierungen verwenden", sagte
er, „die eine, welche sie ehren, und die andere, welche sie entehren;
er gehört zu den letzteren; sie haben ihm das Amt eines Henker¬
knechts gegeben". Ich gab zur Antwort: „Ich verstehe ein derartiges
Manöver recht gut — man versucht mit Infamie zu brandmarken, wenn man
nicht mit anderen Waffen angreife» kann. Mir ist so etwas vollkommen gleich-
giltig. Ich habe mich zu meiner ^gegenwärtigen Stelle nicht gedrängt, aber da
sie mir angeboten wurde, hielt ich es für meine heilige Pflicht, sie anzunehmen".
- „Dann würde» Sie auch", sagte er, „dem Befehl gehorsam sein, mich zu ermor-
den, wen» er Ihnen ertheilt würde?" „Nein, Sir." — —--Zum Schluß
wandte sich Napoleon an deu Statthalter, und sagte zu ihm (Wir folgen immer
noch dem Bericht Sir Hudson Loach): „Sie sind Generallieutenant, aber ver¬
richten Ihr Amt, als wären Sie eine Schildwache; es ist nicht mit Ihnen aus¬
zukommen; Sie sind ein höchst halsstarriger Manu. Wen» Sie, fürchte», daß
ich entfliehe» konnte, warum binden Sie mich dann nicht?" Ich gab ihm zur
Autwort, ich führte uur meine Jiistrnctivuen aus, und wenn mein Benehmen
Mißbilligung fände, so könnte ich leicht abberufen werden. „Sie haben dieselben
Instructionen, wie Sir George Cockburn", gab er zur Antwort; „er hat es mir
selbst gesagt." Er beschwerte sich, daß man ihn wie einen Kriegsgefangenen
behandelte; die Minister hätte» kein Recht, ihn anders zu behandeln, als der
Parlamentsbeschlnß vorschreibe; die Nation sei geneigt, ihn gut zu behandeln,
aber die Minister handelten im entgegengesetzten Sinne; er beschuldigte mich,
ein bloßes Werkzeug des blinden Hasses Lord Bathnrsts zu sein. Ich bemerkte:
„Lord Bathurst weiß nicht, was blinder Haß ist, Sir." Er beschwerte sich
darüber, daß wir ihn General nennen, sagte, er sei Kaiser, nud wenn Englaud
und Europa nicht mehr sein und »iema»d mehr Lord Bathnrst kennen würde,
werde er immer noch der Kaiser sein. Er sagte mir, er ginge mir stets ans
dem Wege, um mich nicht zu sehen, und hätte auch deshalb zweimal vorgege¬
ben, im Bade zu sein. „Sie wollen Geld; ich habe keins, außer in den Hän¬
den meiner Freunde; aber ich kann meine Briefe ' nicht abschicken." Er griff
mich wegen des Billets an, welches Graf Bertrand zurückerhalten hatte, und
sagte: „Sie hatten kein Recht, ihm Hausarrest zu gebe»; Sie haben nie Ar¬
meen befehligt; Sie sind nichts gewese», als der Schreiber eines Generalstabs.
Ich hatte geglaubt, mich unter den Engländern wohl zu befinden, aber Sie sind
kein Engländer." Er fuhr in diesem Tone fort, als ich ihn mit den Worten
unterbrach: „Sie reizen mich zum Lächeln, Sir." „Warum lächeln, Sir?" gab er
zur Antwort, indem er sich überrascht von dieser Bemerkung umdrehte, mich an¬
sah und hinzufügte: „ich sage, was ich denke". „Ja, Sir", gab ich mit einem
Tone, der das, was ich dachte, verrieth, und indem ich ihn ansah, zur Antwort:
„Sie zwingen mich zu lächeln; Ihr falsches Auffassen meines Charakters und
das Verletzende Ihres Benehmens gegen mich erregen mein Mitleid. Ich
wünsche Ihnen guten Tag;" und ich verließ ihn (offenbar nicht wenig verlegen)
ohne weiteren Gruß.
Daß Sir Hudson Löwe nach dieser Unterredung, den persönlichen Verkehr
mit Napoleon abbrach, schützte ihn nicht vor einer Wiederholung der Beleidigun¬
gen, mit denen er hier überschüttet wurde, denn die Begleiter Napoleons trugen
in ihren Briefen an ihn Sorge, jede beleidigende Aeußerung Napoleons auf
das gewissenhafteste zu wiederholen. Ueberhaupt muß mau sagen, daß, wenn
Jemand auf Se. Helena ein Opfer war, nicht Napoleon, sondern Sir Hudson
Löwe als dieses Opfer zu betrachten ist. Die Bewohner von Longwood sparten
keine Mühe, um ihm die Erfüllung seiner Pflicht unmöglich zu machen, und
wenn er ihnen einmal eine Gefälligkeit erwies, oder ihre Lage zu erleichtern
versuchte, so wurde dies gewiß benutzt, um hinter seinem Rücken etwas Verbote¬
nes zu thun. Bot die angebotene Gefälligkeit dazu keine Gelegenheit, so wurde
sie mit schnöden Worten zurückgewiesen. Zugleich aber gibt die letztberichtete
Unterredung einen Fingerzeig, was den Statthalter bei aller Gewissenhaftigkeit
und bei allem guten Willen, dem Gefangene» seine Lage möglichst zu erleichtern,
zum Aufseher eines'Gefangenen von so reizbaren und unruhigem Charakter wie
Napoleon wenig geeignet machte. Die kalte, unerschütterliche Ruhe, mit der er
die Beleidigungen des Exkaisers hinnahm, erbitterte diesen mehr, als die warme
Entgegnung eines Ehrenmannes, der das ihm zugefügte Unrecht fühlt, gethan
haben würde. Außerdem scheint es ihm, selbst wenn er Gefälligkeiten erweisen
wollte, an dem nöthigen Takt gefehlt zu haben und die Formen seines Beneh¬
mens waren schroff, wie aus dem Zeugniß des Obersten Jackson, der lange
Ordonanzoffizier bei Napoleon war und täglich mit dem Statthalter verkehrte,
hervorgeht: „Er besaß wenig von dem, was man Manieren nennt — niemand
besaß weniger davon als er — aber er war voller Güte, Großmuth, und äu¬
ßerst rücksichtsvoll gegen die Empfindungen anderer." Er war ein ehrenwerther
Offizier, dem die gewissenhafteste Erfüllung seiner Pflicht über alles ging, und
der, wenn er etwas Gutes that, wenig ans die Form sah. Den Franzosen, die
sogar Schlechtigkeiten mit Grazie zu thun wissen, mag dies freilich seltsam und
unerklärlich vorgekommen sein. Dennoch sind wir fest überzeugt, daß Sir Hud¬
son Löwe, selbst wenn er diese Mängel nicht besessen, keine Gnade vor Napo¬
leons Angen gefunden hätte. Sagte doch Graf Montholon zum Oberst Jack¬
son, als dieser ihn nach seiner Rückkehr nach Europa in Frankreich besuchte:
„Mein werther Freund, ein Engel- vom Himmel hätte uns als
Statthalter auf Se. Helena nicht gefallen können."
An interessanten Zügen aus dem häuslichen Leben Napoleons ist das Buch
reich. Die begeisterte Hingebung, mit der seine Begleiter ihm in die Gefangenschaft
gefolgt waren, hielt nicht lange gegen die Einförmigkeit des Lebens auf der Jusel
Stand und namentlich Las Cases füllte die Langeweile dnrch ewiges Jntriguiren
ans und vermehrte Napoleons gereizte Stimmung durch beständige Klagen und
Verdrehungen. Auch Bertrand schürte wo er konnte, und wenn der Exkaiser sich
einmal zum Nachgeben geneigt zeigte, so appellirte Bertrand an seinen Stolz und
reizte ihn durch ein „IVlaiii Lire, votrs nom, votre Kloiriz!" zum Beharren in
seinem Widerstande. Unter sich selbst harmonirtcn die Begleiter Napoleons
durchaus uicht. Die Generale Bertrand und Montholon standen nie auf freund¬
schaftlichem Fuße miteinander, und zwischen letzterem und Gourgaud kam es sogar
bis zur Herausforderung; überhaupt war die Sündhaftigkeit, mit der Gourgaud
sich weigerte, an den Intriguen der anderen theilzunehmen, diesen ein Dorn
im Auge, und sie machten ihm das Leben so sauer, daß er um Erlaubniß einkam,
nach Europa zurückkehren zu dürfen, und die Insel verließ. Die beiden Damen,
die Gräfinnen Montholon und Bertrand, konnten sich ebenfalls nicht vertragen
und sahen sich uur ein oder zweimal des Jahres bei Staatsvisiten. Sie wären alle
gegangen, wenn sie irgendwie hätten den Schein retten und der Welt Glauben
machen können, sie hätten den Exkaiser gezwungen verlassen. Las Cases ließ sich
absichtlich bei einem geheimen Briefwechsel ertappen, und als der Statthalter ihn
seinen Instructionen gemäß verhaften und von Longwood wegbringen ließ, ergoß
er sich in bittern Klagen über die Grausamkeit, ihn von seinem Kaiser zu trennen;
aber als der Statthalter ihm anbot, ihm bis zum Eintreffen neuer Verhaltungs-
befehle Erlaubniß zur Rückkehr zu ertheilen, zog er es doch vor, die Insel zu
verlassen, obgleich er recht gut wußte, daß sein Bleiben Napoleon angenehm
sein würde.
Für diejenigen, welche in Napoleon immer noch den Sohn der Revolution,
den Mann der neuen Zeit und den Förderer der Völkerfreiheit sehen, heben wir
aus einem seiner Gespräche folgende Aeußerung hervor: „Europa und vorzüglich
Frankreich sind zu aufgeklärt, um sich von dem einfältigen Unsinn, den die Mo¬
narchen und ihre Höfe von Legitimität, göttlichem Recht, Thron und Altar
schwatzen, verlocken zu lasse». Je weniger Freiheit sie ihren Unterthanen zu geben
wünschen, desto mehr müssen sie davon sprechen. Ich wünsche ihnen nicht mehr
Freiheit zu geben, als sie, darauf können Sie sich verlassen. Ich weiß wohl,
daß mau heutzutage die Menschen nur mit einer eisernen Ruthe regieren kann,
aber sie muß vergoldet sein, und wenn wir sie schlagen, müssen wir ihnen
glauben machen, daß sie den Schlag selbst leiten. Man muß beständig von
Freiheit, Gleichheit,' Gerechtigkeit und Uneigennützigkeit sprechen und nie die ge¬
ringste Freiheit gewähren. Ein Systemwechsel ist nicht nothwendig, sondern nnr
eine andere Sprache, und wenn man nie dem Volke von Freiheit und Gleichheit
vorredet, so stehe ich dafür, daß man es leicht bedrücken und ihm den letzten
Pfennig auspressen kann, ohne daß es einen Aufstand versucht oder wirklich un¬
zufrieden ist." Mit Frankreichs Lage und Zukunft beschäftigte sich der Exkaiser
sehr oft, und nach der Ermordung des Herzogs von Berry äußerte er mit pro¬
phetischer Voraussicht, daß nach dem Tode Ludwig XVIIl. der Kampf zwischen
dem Herzog von Orleans und den napoleoniden ausbrechen und die bvurbonische
Dynastie gestürzt werden würde.
Nach der Entfernung O'Mearas schloß sich Napoleon Monate lang in seine
Gemächer ein, wodnvch Sir Hudson Löwe in eine höchst unangenehme Lage kam.
Seine Instruction lautete, er sollte sich zweimal täglich versichern, daß Napoleon
noch auf der Insel sei. Aber jetzt sah ihn der Ordvnanzoffizier oft ganze
Wochen nicht, und der Statthalter mußte sich von Montholon ins Gesicht sagen
lassen, daß er gar nicht wissen könne, ob Napoleon noch in seinem Gewahrsam
sei. Rücksichten auf Gesundheit und Bequemlichkeit mußten vor dem Bedürfniß,
dem Statthalter das Leben schwer zu machen, zurücktreten, und Napoleon kam
lieber nicht über die Schwelle und behielt lieber die Laden vor deu Fenster», als
daß er sich dem Ordonanzoffizier gezeigt hätte. Dieser mußte oft acht und zehn
Stunden lang um das Haus herumstreichen, sich die Spöttereien der Dienstboten
gefallen lassen, an Thüren klopfen, die ihn nicht, aufgethan wurden, ohne den
Kaiser zu Gesicht zu bekommen, während letzterer durch Locher, die in den Fen¬
sterläden angebracht waren, ihm zusah und sich seiner Verlegenheit freute. Wenn
der Statthalter bei Napoleons Begleitern darauf draug, dem Ordvnanzoffizier
Gelegenheit zu geben, Napoleon zu sehen, so rieth man diesem, durch das
Schlüsselloch zu gucken, und zuletzt mußte er froh sei», wenn er gelegentlich
einen verstohlenen Blick durch ein offen gelassenes Jeuster werfen und Napoleon
auf diese Weise sehen konnte. Diese Taktik setzte der Exkaiser fast ein ganzes
Jahr laug, vom October 1818 bis zum October 1819, fort, und man kann sich
nur über die Nachsicht und die Geduld, die der'Statthalter bei dieser Gelegen¬
heit zeigte, wundern. Endlich wurden dem Exkaiser die selbst auferlegten Unbe¬
quemlichkeiten doch zu arg, und er erschien auf einmal wieder fast jeden Tag im
Freien und wurde ein eifriger Gärtner. Bänme wurden versetzt, Nasenwände
erbaut, Wasserbehälter und Wasserfälle angelegt. Oft schon um 6 Uhr erschien
er in einem weißen Zengrvcke und einem großen Strohhut im Garten, und das
Signal zum Beginn der Arbeit wurde mit einer Glocke gegeben. 'Alles mußte
mit helfen, Napoleon selbst nahm manchmal den Spaten oder die Gießkanne zur
Hand, Bertrand und Montholon gruben, und die Kinder trugen Wasser herbei.
Dann wurde im Grünen gefrühstückt. Der Gärtner und Herr war oft launenhaft,
denn zuweilen wurde heute eingerissen, was gestern gebaut worden, und morgen
wieder gebant. Im ganzen schien aber sein Ziel zu sein, sich den Blicken an¬
derer soviel als möglich zu entziehen, denn er umgab sein Haus so dicht mit
Bäumen, daß mau kaum die Fenster sehen konnte. Eine andere Unterhaltung
für ihn war der kleine Krieg, den er gegen die Hausthiere, die sich in seinen
Garten verirrten!, führte. Kein Huhu und keine Ziege durften sich auf seinem
Gebiete zeigen, er schoß sie ohne Gnade nieder, und zuletzt fiel ihm sogar ein
Ochse, der sich bis aus den Rasenplatz vor dem Hause gewagt hatte, zum Opfer.
Diese Unterhaltung gefiel ihm so wohl, daß er sich Ziegen ans der Stadt kom¬
men ließ, um nach ihnen zu schießen. Zu anderer Zeit beschäftigte ihn eine neue
Aufstellung der Infanterie, und zwar so angelegentlich, daß er oft mitten in der
Nacht aufstand, um seine Gedanken darüber niederzuschreiben, und an Bertrand
Billets darüber zu schicken. Sehr häufig zeichnete er seine Pläne in seineu
kleinen Garten ans die Erde, während seine Offiziere und Bedienten, denen er
seine Ideen auseinandersetzte, rund Herumstauden. Er wollte seine Infanterie
bis zu zehn Mann tief aufstellen, entweder auf nach vorn' geneigten Ebenen, oder
nach der Größe rangirt. Wo das Terrain nicht günstig war, sollten die Sol¬
daten selbst Stufen ausgraben, die den Hinteren Reihen erlaubten, sich hoch genug
aufzustellen, um über die vorderen Glieder feuern zu können, und das sollte in
einer Minute geschehen. Als Bertrand eine Minute mehr verlangte, gab er
zur Antwort: „Nein! im Kriege ist eine halb Minute zuviel Verlust; ihr be¬
kommt die Reiterei ans den Hals und werdet niedergehauen". Um die Aus¬
führbarkeit dit'ser Aufstellung zu zeigen, rief er manchmal aus: „Komm her,
Noverraz; du bist der längste; stell dich dorthin, und ihr andern kommt Hie¬
her". Dann stellte er sie nach der Größe ans einem Abhang auf, stellte sich
dahinter, und sagte: „Ich als der kleinste nehme deu hintersten Platz". Dann
zielte er mit einem Stock über die Köpfe der andern, und rief triumphirend
ans : „Seht ihr, wie ich über Noverraz Kopf weggeschossen habet"
Erst im October stattete Napoleon zum ersten und letzten Male einen
Besuch auf der Insel ab, und zwar bei Sir William Doveton, einem ans
Se. Helena gebornen Engländer, dessen Landsitz Mount Pleasant eine Meile von
Longwvvd entfernt war. Als am 4> October der alte Herr seinen gewöhnlichen
Spaziergang vor dem Frühstück im Garten machte, sah er mehre Reiter ans das
Hans zukommen, und erkannte in ihnen durch das Fernrohr bald die Bewohner
von Longwood. Graf Montholon stieg vom Pferde und Sir William ging ihm
bis an die Gartenpforte entgegen; der Graf überbrachte die Komplimente des
Kaisers, und frug an, ob er hereinkommen und ausruhen dürfe. Sir William '
gab zur Antwort, er werde sich freuen, ihn zu sehen, und stellte ihm alle Bequem¬
lichkeit des Hauses zu Diensten. Montholon stieg dann wi.eder zu Pferde, und
kam mit den übrigen in den Garten zurück. Leider verstand Sir William kein
Wort Französisch, und mußte sich durch Hilfe des Grafen Bertrand unterhalten,
dessen Kenntniß des Englischen ebenfalls viel zu wünschen übrig ließ. Sir William'
machte jedoch seine Komplimente so gut es ging, und da Bonaparte sehr er¬
müdet zu sein schien, so bat er ihn in das Haus zu treten und auszuruhen,
worauf der Exkaiser sich uach der Thür wendete,' und auf Bertrands Arm ge¬
stützt die Stufen hinaufstieg. Er setzte sich auf das Sopha und fing mit seinem
Wirth ein Gespräch an, wobei Graf Bertrand als Dollmetscher diente. Als
Sir Williams älteste Enkelin ins Zimmer kam, meinte er, sie möchte wol zehn
Jahre alt sein. Als er erfuhr, daß sie nnr sieben sei, rief er sie zu sich, faßte
sie mit zwei Fingern bei der Nase und schob ihr ein Stück Lakrizen, das er aus
einer Schildkrotdose nahm, in den Mund. Sir William lud Napoleon zum
Frühstück ein, aber dies schlug der hohe Besuch aus und sagte, sie hätten ihr
Frühstück mitgebracht und möchten es lieber vor dem Hause essen. Sir William
bemühte sich, ihm dies auszureden, stellte ihm sein ganzes Haus zur Verfügung
und führte ihn in das Speisezimmer, wo er ihnen ein großes Stück frische But¬
ter auf dem Frühstücktisch zeigte, welches seine» Gästen zu Diensten stehe. Darauf
lächelte Napoleon und zupfte seinen Wirth beim Ohrläppchen, wie er zu thun
pflegte, wenn er seine Zufriedenheit zu erkennen geben wollte. Alsdann kehrten
sie in das Gesellschaftszimmer zurück, und Napoleon nahm seinen Platz auf dem
Sopha wieder ein. Kurz darauf kam eine von Sir Williams Töchtern, Mrs.
Greentree, mit ihrem jüngsten Kinde ans dem Arme ins Zimmer, und Napoleon
stand ans und lud sie mit einem Wink ein, auf dem Sopha Platz zu nehmen.
Zwei ihrer Mädchen wurden von dem leutseligen Gaste bei der Nasenspitze ge¬
faßt und erhielten ein Stückchen Lakrizen. Unterdessen hatte Graf Montholon auf
dem Rasenplatz vor dem Hanse einen Tisch gedeckt, und Sir William schickte ver¬
schiedene Deliccttessen hinaus. Als alles fertig war, wurde er eingeladen mit zu
frühstücken, und er begleitete seine Gäste hinaus und nahm eine Flasche Orange-
shrnb mit 4 Liqneurgläsern mit. Napoleon hatte ihm einen Platz an seiner rechten
Seite aufgehoben, und lud ihn ein, sich dorthin zu setzen. Nachdem sie gegessen,
füllte Napoleon ein Stutzglas mit Champagner für Sir William und eins für
sich, und trank dann ein Glas von dem Liqueur. Nun wurde Kaffee gebracht,
und der Exkaiser lud Mrs. Greeutree ein, mitzutrinken. Nachdem sie den Kaffee
gekostet, den sie sauer und von unangenehmem Geschmack fand, schenkte er ihr ein
Glas Shrub ^ein; dann stand alles auf und Napoleon führte Mrs. Greentree
in das Hans, wo er seinen frühern Platz auf dem Sopha wiedereinnahm und
sie neben sich setzen ließ. Im Laufe des Gesprächs kam er aus seine Lieblings¬
frage, ob Sir William Dovetou sich manchmal einen Rausch trinke? Auf die
Entgegnung der Mrs. Greentree, daß dies seit einigen Jahren nicht vorgekommen
sei, antwortete er mit einem „Bah!" und lenkte das Gespräch auf etwas An¬
deres. Kurz darauf stand er auf und »ahn Abschied.
Wenige Wochen später zeigten sich die ersten Symptome der Krankheit,
welche dem Leben des Exkaisers ein Ende machte und es ist hier nur die Hart¬
näckigkeit hervorzuheben, mit der Napoleon die Zuziehung jedes englischen Arztes
verweigerte. Erst als es zu spät war, willigte er ein, l)r. Anode kommen zu
lassen. Der Statthalter sah ihn nur als Leiche wieder.
Unter den Beilagen sind die Berichte über die Einnahme von Capri, über
die Schlacht von La Före Champenoise, die Bemerkungen Napoleons zu Lord
Bathursts Rede, O'Mearas Vertheidigungsschrift, mit den Bemerkungen des Statt¬
halters, von besonderem Interesse. Wir wünschen dem Buche eine weite Ver¬
breitung: es wird manche Illusion zerstören, und ist ein wichtiger Beitrag zur
Charakterisirung Napoleons und ein leider nur zu später Act der Gerechtigkeit
gegen einen lange verkannten und verleumdeten Ehrenmann.
Auch in unserer freien Reichsstadt verdrängen natürlich die orientalischen
Angelegenheiten die nächstgelegenen deutschen Interessen. Indessen ist man dieser
nationalen Untugend, über dem Auswärtigen die Heimat zu vergessen, allerwärts
so gewohnt, daß man es einer Handels- und Geldstadt gar nicht als specielle
Vernachlässigung nachreden kann. Unter solchen Verhältnissen ging die Eröffnung
der BundestagssHuug nach den Ferien ebenfalls ziemlich unbemerkt vorüber;
besonders da man es ans der Zeitnngspolemik bereits mit ziemlicher Sicherheit
erkannt hatte, wie fruchtlos die Bemühungen ausgefallen waren, welche Preußens
Mitantrag auf einen Anschluß des deutschen Bundes an Oestreichs Neutralitäts¬
erklärung und dadurch die Beengung der freien Stellung Preußens in dieser
Frage zu erringen gesucht hatten. Herr v. Prokesch war unterdessen ans Berlin
hier angelangt und der Tag vor der ersten Bnndestagssitzung ward durch jenen/
von der gesammten unabhängigen Presse Deutschlands nach Verdienst gewürdigten
Artikel der Frankfurter Postzeitung — des officiösen Bundesorganes — gefeiert,
welcher in gehässigster Weise einen Ausdruck aus nicht veröffentlichten diplomati¬
schen Documenten („Preußen und seine Verbündeten") zusammenhanglos hervor¬
hob, um daran eine Diatribe gegen angebliche preußische Sondcrbüudlereieu zu
knüpfen. Der Artikel schien manchen Leuten eine Quittung für den richtig em¬
pfangenen Abweis diplomatischer Wünsche; andern Leuten ti.e ofstciöse. Ankündi¬
gung der Nesurrection gelockerter Koalitionen. Die erste BuudestagsfitMng war rein
formeller Natur. Um so überraschender kam in der zweiten die östreichische „Eröff¬
nung" über die orientalischen Angelegenheiten, von welcher jedermann große Aufklä-
rungen erwartete, bis das Document nicht etwa in der Frankfurter Postzeitung,
wie man hätte erwarten dürfen, sondern in der Darmstädter Zeitung erschien,
welche doch selbst von der großherzoglichen Regierung weit seltener als das zelo¬
tisch-ultramontane Mainzer Journal für ofstciöse Darstellungen benutzt wird.
Man hatte also im Puhu.cum äußerst hoffnungsvoll auf diese Eröffnung geblickt.
Nur schade, daß sie da grade abbrach, wo sie anfangen sollte. Denn der Ver-
Sicherung, daß die Armeereduction der östreichischen Regierung „noch eine be¬
sondere Veranlassung gegeben, in der Mitte ihrer Bundesgenossen über ihre
Haltung in der gegenwärtigen Lage der Verhältnisse sich auszusprechen" — dieser
Versicherung folgte die abermalige Versicherung, daß jene Maßregel ,,nur nach
reifster Erwägung des Standes der politischen Angelegenheiten Europas und der
östreichischen Monarchie" beschlossen und eingetreten sei. Dazu machten die
Börsenmänner höchst bedenkliche Gesichter; denn genan am -10. November und
etwa in derselben Stunde, als jene Eröffnung im Turm- und Taxisschcn Palast
erklang, war der Text des russischen Kriegömänifestes und zugleich die telegra¬
phische Depesche von der Schlacht bei Oltenitza in die Stadt gekommen. Auch
war die Armeereduction schon im vollste» Zuge, während doch der Stand der
politischen Angelegenheiten Europas plötzlich aller reifliche» Erwägungen zu spotten
schien. Die aber in der Reduction und namentlich in deren demonstrativer Ver-
kündung vor der Bundesversammlung mit materiellem Börscnblicke nichts als
eine Fiuanzmaßregel sehe» wollten (wovon jedoch in der Eröffnung durchaus nichts
verlautet—), sie fragten wieder bedenklich, was heißt: Bedrohung der „eignen In¬
teressen des Kaiserstaats?" Wie lange ist uns garantirt, daß Oestreich „nicht
geso»»en sei, an dem ausgebrochenen Streite sich zu bctheiligc»". Und die Po¬
litiker, welche das „neue Unterpfand" für die „friedliebenden Gesinnungen"
Oestreichs, wie seines „Vertrauens in eine friedliche und mit den Interessen
aller vereinbare Ausgleichung des Streites" gläubig hinnahmen, zuckten bedenk¬
lich die Achseln, daß dennoch „keines der wichtigen Interessen, für welche
Oestreich, sei es als europäische Macht, sei es als deutsche BnndeSmacht, mit Ent¬
faltung aller seiner Kräfte einzustehen in den Fall kommen könnte, die kaiserliche
Negierung unvorbereitet zu raschem und kräftigem Handeln finde» solle.
Andere meinte« gar, es sei mit der ganzen Armeereduction so ernst noch immer
nicht gemeint. Der schließlichen Aufforderung jeuer Eröffnung zur „Anerken¬
nung" der östreichischen „Haltung und Bestrebung" ward allerdings in lebhafte»
Dankesworten mehrer Repräsentanten kleinerer Bundesstaaten höflichste Folge
geleistet. Doch fand im Publicum die preußische Gegenerklärung viel mehr An¬
klang, weil sie kurz sagte: die „Intentionen" Oestreichs seien „hinlänglich be¬
kannt" und Preußen werde seine „Freiheit der Entschließungen" auch fernerhin
benutzen, „um im Verein mit den erhabenen Verbündete» Sr. Majestät des
Königs alle Kräfte zur Sicherung des Friedens zu benutzen." Augsburger und
andere Stimmen haben das später „kalt" und „geschäftsmäßig" genannt. Un¬
seres Erachtens ist mit der Phrase i» diplomatische» Versammlunge» nichts zu
leisten. Aber freilich, Organen, die von der lächerlichsten Nufsophobie zum gb-
soluten Philrusflmus (uach Analogie des Philhellenismus) übergewandelt sind,
mag in nationale» Angelegenheiten die Phrase das Höchste und Einzige schei¬
ne». Merkwürdig erscheint es daneben, daß grade zwei Staaten, deren Gesandte
jenem Hereinziehen des Bundestags in eine ihm fremde Angelegenheit die leb¬
hafteste „Anerkennung" gespendet hatten, in der nächsten Sitzung, blos acht
Tage später, sehr ernstliche Verwahrung einlegten gegen die Kompetenz des
Bundestags, der in ihren streitigen Verfassungöaugelegeuheiteu als entscheidende
Behörde angerufen worden war. Trotzdem sind es grade auch dieselben Staa¬
ten mit ihren enger Befreundeten — um uicht zu sagen „Verbündeten", —
welche ein Bundespreßgesetz befürworten, wodurch jede Autonomie der Einzel¬
staaten nach dieser Richtung vernichtet werden soll.
Mit diesen Dilemmas sich zu beschäftigen, gewann indessen das Publicum
nur wenig Zeit. Täglich kamen neue Wiener telegraphische Depeschen über den
russisch-türkischen Kriegsgang, von denen meistens die folgende die vorhergehende
widerlegte, um sich selber abermals von der nächsten widerlegen zu lassen. Die
Unzuverlässigkeit ward allmälig so'groß, daß selbst die Börse kaum mehr eine
flüchtige Anwandlung von solchen Nachrichten empfand. Man hatte das Wvlfs-
geschrei übertrieben und die Papiere blieben unerbittlich liegen, es wurden keine
Käufe mehr „effectuirt", selbst der König der Werthzeichen schien sein zauber¬
volles Scepter nicht mehr in Bewegung setzen zu wollen, um ein und das andere
Zeichen seiner Wahrheit anzunähern.
Unterdessen dröhnte der Schall des benachbarten Kampfes zwischen hie¬
rarchischen Ansprüchen und dem guten Rechte des Staates so laut, daß ihn
selbst der türkisch-russische Kanonendonner uicht mehr überdröhnte. Der badische
Conflict drang um so tiefer in das öffentliche. Interesse, als wir hier bereits
seit langem die äußersten Brandungswellen dieses Sturmes schmerzlich genug
empfunden hatten und Herr Beda Weber in der politischen Haltung seiner Kir¬
chenreden, wie des unter seinen Auspielen erscheinenden katholischen Kirchen¬
blattes die Langmuth unserer Staatsgewalten gradezu herauszufordern scheint.
Man darf behaupten, das energische Vorschreiten Badens gegen den Erzbischof
von Freiburg, dessen ofterwähntes Alter unseres Erachtens mir ein Erschwe-
rungögrund seines gradezu revolutionären Vorschreitens ist, findet hier die all¬
gemeinste und lebhafteste Billigung. Man war vor allem auch darüber erfreut,
daß die dortige Regierung in ihren eigenen Organen dem Laude vollen Auf¬
schluß über ihre Maßregeln gab, während vorher verlautete, sie werde die An¬
gelegenheit, die alle Gemüther bewegt, des innersten Familienlebens nicht schont
und mit coiupacter Organisation den Staatsbestaud in. seinen innersten Grund-
vesten berührt, in der Presse ihres Staates gar nicht zur Besprechung kommen
lassen. Unmittelbar neben diesen Eindrücken mußte die Frage liegen: wie wird
die Stellung der mit Baden gleichbetheiligten Staaten sein? Wird auch sie sich ein¬
heitlich dem zunächst bedrohten Baden anschließen? Ueberall deuten die Zeichen dar¬
auf hin; nur ist der unmittelbare Conflict mit ihren Bischöfen noch nicht in das
Stadium getreten, wo der Uebergang von Erklärungen zu energischen Maßnah-
wen unvermeidlich ist. Aber die Hirtenbriefe der Bischöfe von Mainz und
Limburg erklinge» bereits als Ultimatissima; die gehoffte Vermittelung zwischen dem
Bischof von Rotenburg und Würtemberg soll sich zerschlagen haben; zwischen Kur-
hessen und Fulda haben sogar schon die Vorpostengefechte einen ernsthafte» An¬
fang genommen. Alle diese Staate» scheinen vollkommen und energisch gerüstet,
wenn anch Baierns inspirirte Blatter dies- und jenseits des Rheines die Dinge
in einer Weise besprechen, daß selbst die halbofficiclle ,,Pfälzer" und die Augs-
burger „Allgemeine" Zeitung, als Genosse» der ultramontane» Zeloten „Main¬
zer Journal" mild „Deutsche Volkshalle" in Baden von Beschlagnahmen ereilt
wurden. Es scheint darnach fast, als glaube Baiern, wie schon mehrmals vor
und nach den Moment nicht ungünstig, um sich a» Oestreichs Stelle als
Schirm und Hort des romanisch-katholistrenden Elements im südwestlichen Deutsch-
land einzuschieben. Man könnte sogar fast versucht sein, im Wiederanfgreifen
dieser Wendung die Erklärung dafür zu finden, daß an Hessen-Darmstadt das
demonstrative Vorgehen mit französische» Sympathien und unbedingtem Anstria-
cismus abgetreten wurde, obgleich wol niemand daran zweifelt, daß die Nichtnngs-
ordres noch immer von München ausgehen. Hessen-Darmstadt ist nun ebenso
eng als Bade», Nassau, Würtemberg bei dem oberrheinischen Conflicte betheiligt.
Trotzdem vernimmt man aus seiner reservirten Schweigsamkeit nichts, als daß die
uniformirteu Beamten ihre etwaige Familicntrauer mit dreizölligen Florbändern
zwar am linken Arme der Klapta, doch nicht am Paletot zeigen dürfen. Und da
das ultramontane Mainzer Journal jetzt beinahe die Stelle eines Negicrnngs-
organcs einnimmt, vermuthet man im Publicum, Hessen-Darmstadt beabsichtige
auch im hierarchischen Streite abgesonderte Wege zu gehen, vielleicht im Zu¬
sammenwirken mit Frankreich. Ob der von Wien angeblich angebotenen Ver¬
mittelung eine Beschwichtigung gelingen werde, ehe die übrigen Staaten der
oberrheinischen Kirchenprovinz zu gleichen Schritten wie Baden genöthigt sind,
kann natürlich hier nicht einmal vermuthet werden. Das Anerbieten selbst ist
vielleicht nur eine kluge Parade gegen Baierns, dem unmittelbaren Einfluß
Oestreichs auf den südwestdeutschcn Katholicismus bedenkliche Zuvorkommenheit.
Jedenfalls ist aber das Vertrauen auf eine wirkliche Vermittelung durch die Prä-
cedcntie» der östreichische» Journalistik in dieser Frage, wie durch je»e der Diplo¬
matie im russisch-türkischen Conflicte keineswegs gesteigert. Annahme aller For¬
derungen des mächtigen Gegners, hieß dort das erste Vcrmittelnugswort; Gewähr
aller Ansprüche der Hierarchie befürwortet jetzt die „Oestreichische Korrespondenz".
Die gouvernementale Stellung ist offenbar noch nicht ganz klar geworden, und
man muß die nächste Zukunft abwarten. Unterdessen mag jedoch davon Act ge¬
nommen sein, daß die Preßorgaue unserer näheren Umgebungen, welche den
russischen Angriffen gegen die Türkei das Wort reden, im hierarchischen Con¬
flicte ebenso offen Partei nehmen für die äußersten Ansprüche der Bischöfe.
Darin stimmen die Postzeitnngen von Frankfurt und Augsburg , Augsburger
Allgemeine, Neue Münchener und Pfälzer Zeitung, Mainzer Journal, Deutsche
Volkshalle und einige weniger bekannte derselben Farbe vollkommen überein.
Wenn nnn ein Bnndespreßgesetz nach dem östreichisch-baierisch-hessischen Vor¬
schlage bestünde, wonach das Verbot eines Blattes in einem Staate für den gan¬
zen deutschen Bund gelten soll, so würden plötzlich der Bundestag und Baiern
ohne officiöse Organe sein, Hessen - Darmstadt die gering verbreitete Darmstädter
Zeitung wieder mit seinen Nachrichten versehe» müsse», und der Ultramontanismus
seine Moniteurs am Rhein und Lech einbüßen — falls Baden steh zu einem
Verbote jener Blätter bewogen fände.
Man hatte schon in verschiedenen Journalen verbreitet, die Bundespreß-
gesctzfrage sei vorläufig an aota gelegt. Dies ist nicht der Fall, vielmehr haben
grade in der letzten Sitzung des Bundestages die Gesandten ihre Jnstrnctione»
vou neuem über den vielbesprochenen Entwurf abgegeben, und die Commission
ist abermals beauftragt, die übereinstimmenden Punkte zusammenzustellen. Unter¬
dessen läßt eine tendenziöse Erörterung im Journal de Francfort erkennen, daß
man ans Seiten d'er Freunde des specialisirenden östreichisch-baierisch-hessischen
Entwurfs sich noch hnmer damit schmeichelt, diese Ertödtung der Preßantonomie
den norddeutschen Staaten per in^org, d. h. durch Stimmenmehrheit octroyiren
zu können, indem man behauptet, ein Bnndespreßgesetz sei kein organisches
Bundesgesetz. Der Versuch ist zu ungeschickt, um ihn ernstlich zu widerlegen.
Artikel 18 der Bundesacte führt ausdrücklich die „Abfassung gleichförmiger Ver¬
fügungen über die Preßfreiheit" unter den Aufgaben der organischen Thätigkeit
deö Bundestages auf. Artikel i der Wiener Schlnßacte gibt einzig „der Ge¬
sammtheit des Bundes" die Befugniß zur „Entwickelung und Ausbildung der
Bundesacte" und bezeichnet überdies nochmals (Artikel 6ö) ausdrücklich ,,die in
den besonderen Bestimmungen der Bundesacte, Artikel 16, 18, 19, zur Berathung
der Bundesversammlung gestellten Gegenstände" als organisch grundgesetzliche,
über welche (Artikel 13) „kein Beschluß durch Stimmenmehrheit" stattfinden
kann. Uebrigens dürfte wol grade die Haltung der baierischen, östreichischen und
anderen Blätter im gegenwärtigen hierarchischen Conflicte auch den ehemaligen
Cvalitivnöstaaten die Ueberzeugung geben, daß für sie die Annahme des östreichisch-
hessisch-baierischen Entwurfes mindestens gleiche Fährlichkeiten birgt, als damit dem
Ausdrucke der öffentlichen Meinung durch »»abhängige Blätter und Schriften
überhaupt bereitet werden soll.
Ein vor kurzem erschienenes Buch „das englische Cabinet-im Jahre 1833"
setzt uns in Stand, »user» Leser» Porträts von einigen der vornehmsten Mil-
glieder des gegenwärtigen englischen Ministeriums vorzulegen. Wir beginnen
mit dem Haupt des Cabinets, dem ersten Lord des Schatzes, Lord Aberdeen,
und dem Minister des Auswärtigen, Lord Clarendon, als den beiden, die bei
der gegenwärtigen Weltlage den Lesern am interessanteste» sein müssen, und kom¬
men auf andere vielleicht später zurück.
Der gegenwärtige Premier stammt von den Gordons von Hatto, welche
Familie den Titel Aberdeen seit 1682 führt. 1784 geboren, empfing Lord Aber-
deen seine Bildung in Hcirrow »ut Cambridge, und zeichnete sich schon frühzeitig
so sehr ans, daß er in seinem 22. Jahre von der schottischen Pairschaft in das
englische Parlament gewählt wurde. Dieselbe Ehre widerfuhr ihm in den Sitzun¬
gen 1807 und 1812. Für einen talentvollen Patricier ist es jedoch nicht immer
vortheilhaft, im englischen Oberhause seine politische Laufbahn anzufangen. Das
wenig zahlreiche Publicum gibt nur selten Gelegenheit zu einer schwungreicher
und feurigen Beredtsamkeit, die zwar auf eine zahlreiche Zuhörerschaft Eindruck
macht, aber el» paar Dutzend ältlichen Herrn gegenüber fast lächerlich wird.
Diese Rücksicht mag Lord Aberdeen bestimmt haben, frühzeitig die diplomatische
Laufbahn zu 'betreten. Ohne vorher auf dem auswärtigen Amte angestellt ge¬
wesen zu sei», wurde er 1813 »ach Wien geschickt, um den Kaiser Franz von
dem Bü»d»iß mit Napoleon abtrünnig zu machen. Es gelang ihm bald, das
Vertrauen des östreichischen Cabinets z» gewinne», n»d er führte seine schwierige
Mission mit großem Geschick zu el»em'glücklichen Ende. 1814 unterzeichnete er
den Frieden von Paris mit, und wurde nach seiner Rückkehr i»S Vaterland zum
englischen Pair mit dem Titel Viscount Gordon erhoben. Von 181S bis 1828
fand, trotz der ununterbrochenen Herrschaft der Tones, Lord Aberdeen keine amt¬
liche Aisstellnng. Dies ist leicht erklärlich. Sein Fach waren die auswärtigen
Angelegenheiten: einen untergeordnete» Posten wollte er nicht annehmen, und so
lauge Castlereagh und Ca»»i»g lebte», war für ihn kein Platz im Cabinet.
1828 aber trat er als Staatssekretär des Auswärtigen in das Wellingtonsche
Ministerium, und seit jener Zeit gilt er allgemein für den Vertreter der conser-
vativen auswärtige» Politik Englands. Seine Hauptstärke ist seine genaue Be¬
kanntschaft mit den Persönlichkeiten, die an den europäischen Höfen Einfluß auf die
Politik haben, und seine Vertrautheit mit der in den verschiedenen Cabineten vor¬
herrschenden Denkweise. Parteigeist bringt sein Temperament nie aus dem Gleich¬
gewicht. I» seinen Ansichten über auswärtige A»gclege»heite» ist er kein Sy-
stemjäger, und Theoriens»ehe läßt ih» nie die Wirklichkeit a»S dem Auge ver¬
lieren. Die allgemeine Anwendbarkeit von Nepräsentativinstitntionen ist ihm
durchaus kein Evangelium, und er bezweifelt sehr, daß sie für die heißblütigen
Völker des südlichen Europas passen. Da er bei der letzten großen Herstellung
des politische» Gleichgewichts eine Hauptrolle gespielt hat,, so hat er eine Art
persönliches Interesse ein der Erhaltung des Weltfriedens. Das Aeußere Lord
Aberdeens ist nicht das eines wirkungsvollen Redners. Seine Gestalt ist hager,
seine Manieren kalt und nicht frei von Pedanterie — aber er hat eine gewisse
richterliche Würde. Seine Ansichten sind immer klar, — seine Sprache correct, —
seine Logik untadelhaft. Seine große Erfahrung, sein langjähriger und vertrauter
Verkehr mit seinen Freunden Wellington und Peel, seine ausgebreiteten Kennt-
nisse und die eigenthümliche Ruhe seines Temperaments geben seinen Ansichten
ein moralisches Gewicht, das ihnen bloße Genialität nie verleihen könnte. Nur
dadurch ist es zu erklären, daß Staatsmänner wie Lord I. Rüssel, Palmerston,
Clarendon und Sir James Graham sich ihm freiwillig unterordnen können, ohne
etwas von ihrer Würde zu verlieren.
Kurze Zeit vor der Emancipation der Katholiken wohnte in Dublin ein schlanker
junger Herr von eleganten Manieren, nicht ungemischt mit einem abgespannten Wesen,
das ebenso gut von schwacher Gesundheit, wie von Blasirtheit herrühren konnte.
Er hatte ein blasses und feines Gesicht und geistreiche Züge, die klugen Angen
eines praktischen Genies und das vornehme Lächeln eines Hofmannes. Meistens
sah man ihn allein reiten oder in der Nähe des Zollhauses spazieren gehen.
Sein distinguirtes Wesen zog die Augen der Schönen der Hauptstadt Irlands
auf sich, aber da er sich nicht in die größern Kreise der Gesellschaft mischte, brachte
man erst nach langen Nachforschungen in Erfahrung, wer der interessante Unbe¬
kannte war. Es war Mr. Villiers, ein Verwandter des Earl von Jersey und
muthmaßlicher Erbe des Earl Clarendon, später Vicekönig von Irland, damals
aber noch einfacher Zvllcommissar in Dublin. In seiner damaligen verlMniß-
mäszig bescheidenen Stellung zeichnete er sich durch große Intelligenz und ange¬
strengten Fleiß ans und war ein ausgezeichneter Bureaubcamter. Er zeigte viel
Sinn sür statistische und finanzielle Details, während ihn seine weltmännische
Bildung vor trockner Pedanterie bewahrte. Seine gesellschaftlichen Gaben eröff¬
neten ihm das Haus der Lady Morgan, wo sich die geistige Elite Irlands ver¬
sammelte, und hier erwarb er sich die Kenntniß irischen Charakters »ut irischer
Persönlichkeiten, die ihm in seiner spätern Stellung so große Dienste leistete.
Schon damals war sie der Negierung von erheblichem Nutzen, indem Villiers die
freiwillige Auflösung des katholischen Vereins vermittelte, welche das Ministerium
sehr wünschte, um dem widerwilligen König die nothwendig gewordene Katho¬
likenemancipation annehmbarer zu mache». Das Whigcabiuet schickte ihn als
Gesandten nach Madrid, wo er sich den Bathordeu verdiente, und später trat er,
als er von seinem Onkel den Titel Lord Clarcudou erbte, in das Ministerium
Melbourne als Präsident des Handelsamts. Vicekönig von Irland war er von
1847 bis zum Sturz des Rnssclschen Ministeriums, und die kritischen Jahre 1847,
1848 und 1849 setzten sein administratives Geschick und seineu Takt einer starken Prü¬
fung ans, die er ruhmvoll bestand. Die staatsmännische Begabung Lord Clareudous
zieht niemand in Zweifel. Sein Aeußeres steht mit seinem Charakter in grellem Wi-
derspruch. Schlank und von schwächlichem Körperbau, scheint er außer Stande zu sein,
die mühsame und Nerven und Mark erschöpfende Rolle eines englischen Staatsmannes
zu übernehmen. Als Redner fehlt es Lord Clarendon an Uebung und an phy¬
sischer Kraft. Seine im Privatgespräche angenehm modnlirte Stimme hat für
die stürmischen Kämpfe des Senats nicht Metall genug. Er stockt oft; und
sein reizbares Temperament gibt ihm etwas Befangenes, was dem Eindruck sei¬
ner Argumentation schadet. Dennoch weiß er einzunehmen und seine Zuhörer
mit Gewandtheit zu behandeln. Aber so ausgezeichnet sein Talent, und so'
glänzend viele seiner Gaben sind, so fehlt ihm doch das innere Feuer, das Lord
Russell und Palmerston belebt. Seinem Geiste wäre mehr Muskel und Sehne
zu wünschen; er ersetzt diesen Mangel durch seine Lebhaftigkeit. Seine genaue
Kenntniß der Eruährungsquellen des englischen Handels ist nicht sein geringster
Vorzug als thätig eingreifender Staatsmann.
Wer mit den parlamentarischen Kreisen in näheren Beziehungen
steht, wird seit einigen Tagen gewisse Anzeichen der bevorstehenden Kammereroffuung
wahrgenommen haben, die dem Publicum ferner liegen. Die Abgeordneten treffen ein
und reihen sich unter ihre respectiven Fraktionen. Die erste Frage, die ausgeworfen und
besprochen wird, ist die Wahl des Präsidenten der zweiten Kammer. Bekanntlich errang
im Beginn der vorigen Session die rechte Seite in der Person des Herrn Uhden einen
Sieg, dessen Dauer die glänzende Unfähigkeit des Gewählten aus nur vier Wochen be¬
schränkte. Nach Ablauf dieser Probezeit zog sich Herr Uhden unter dem Verwände
angegriffener Gesundheit von der Candidatur zurück und die Rechte ersetzte ihn durch
Herrn v. Kleist-Retzvw, der es nur auf Stimmengleichheit — 4 64 gegen loi ^— mit
dem Grafen Schwerin brachte und bei der Entscheidung durch das Loos unterlag.
Die Linke stellt jetzt natürlich wiederum den Grafen Schwerin auf, der die Stimmen
der Constitutionellen, der Bethmann-Hvllwegiancr und eines Theils der katholischen
Fraction zum mindesten auf sich vereinigen wird. Da die seit vier Jahren bewährte
Leitung des Grafen Schwerin selbst unter seinen politischen Gegnern Anerkennung findet,
so ist anzunehmen", daß ihm selbst verschiedene Stimmen der rechten Seite zufallen
werden und sein Sieg ist überwiegend wahrscheinlich. Es heißt sogar, die Rechte
wolle gar keinen Präsidentschaftskandidaten aufstellen, sondern ihre Stimmen Schwe¬
rin geben, davon abstehend, aus der Wahl des Vorsitzenden eine Parteifrage zu
macheu. Diese Resignation wird in der neuesten Nummer der Kreuzzeitung aufs heftigste
angegriffen. Selbst ohne Aussicht auf Erfolg müsse die Rechte zur Ehre ihrer Fah.
neu für ihre eigenen Kandidaten stimmen. Vu:l.rix «nus-, aliis pliiouii., so<> viel,»
<>!>will! Cato ist diesmal allerdings etwas deplacirt. Die Kreuzzeitung bedroht zu¬
letzt diejenigen ihrer Anhänger, die für den Grafen Schwerin stimmen würden, mit der
schrecklichen Strafe, fortan nur noch mit Beifügung von Gänsefüßchen als Konservative
von ihr aufgeführt" zu werden. Conservative mit Gänsefüßchen und Konservative ohne
Gänsefüßchen scheinen demnach für diese Session die Parteibezeichnnnge» für die Frac-
tionen der Rechte» zu werden. Wir sind sehr geneigt, diese Eintheilung zu acceptire», die
uns ebenso possent erscheint, als eine andere. Ein Uebelstand, den die Kreuzzeitung
vielleicht übersehen hat, ist, daß die Rechte in Verlegenheit um einen passende» Kandida¬
ten zur Präsidentschaft ist. Der Champion der Ritterschaft, Herr von Kleist-Nctzvw,
hat sich nämlich ans der Arena zurückgezogen, um die Rheinprovinz seiner Thätigkeit
nicht auf die Dauer der Session zu berauben. Der Herr Oberpräsident hatte außer¬
dem den Verdruß, bei jeder Frage, wo seine Person oder seine Verwaltung ins Spiel
kam, die 62 rheinischen Abgeordneten wie einen Mann gegen ihn stimmen zu scheu.
Ein selbst nicht eben empfindliches Zartgefühl konnte sich durch den prägnanten Ausdruck
der Stimmung der von ihm verwalteten Provinz, der sich hierin offenbarte, unangenehm
berührt fühlen. Man trägt wol gewisse Verhältnisse, man trägt sie aber doch nicht gern
zur Schau. In Ermangelung Kleist-Retzows spricht man von Herrn von Engelmann,
dem zweiten Vicepräsidenten der vorigen Session, und Herrn Nvldechcn als Präsidentschafts-
candidaten der Rechten. Sogar andere noch minder berühmte Namen werden genannt.
Nun wir werden ja sehen.
Die Preußische Correspondenz, das neue, bevorzugte officiöse Organ der Central-
stelle gibt einige Aufklärungen über die Intentionen der Regierung, betreff der ersten
Kammer. Hiernach solle diese erst nach dem in der vorigen Session angenommenen
Gesetz neu gebildet werden, wenn die Regierung sich mit den ehemals reichsunmittel-
baren Familien über die denselben zustehenden Entschädigungen für die ihnen „wider
das Völkerrecht" geraubte» Rechte geeinigt haben werde.' Daß dies nicht in wenigen
Wochen und auch nicht in einem halben Jahre geschehen könne, müsse jedermann ein¬
sehen. Hiernach — denn wir glauben, daß es auch nicht in einem, vielleicht auch
nicht in zwei Jahren geschehen dürfte — hat man sich also auf eine ganz ungewisse
Verlängerung des xuuuü sjua.gefaßt zu machen. Indessen wird die erste Kammer im
Beginn der Session mit nicht geringen Schwierigkeiten zu kämpfen haben, »in sich
vollzählig zu finden. Sie zählt nur 120 Abgeordnete; da aber die königlichen Prinzen
und die Rcichsunmittclbaren ipsn .juic- nach der Verfassung ihre Mitglieder sind, so
wird die Hälfte (eine Stimme über die Hälfte ist das vorgeschriebene Minimum) nach
deren Hinzufügung auf 72 berechnet. 28 Abgeordnete haben ihr Mandat niedergelegt.
Bis diese wiedergewählt sind, befindet sich die hohe Versammlung demnach in einer
etwas precären Lage. Wie übrigens die Entschädigung der Rcichsunmittelbaren ge¬
schehn solle, ob auf dem Wege der Gesetzgebung oder auf einem andern kürzern, aber
nicht unbeliebten, darüber verlautet nichts. Der Weg der Gesetzgebung könnte sich
als eine Bahn mit Hindernissen erweisen.
Ludwig Tiecks gesammelte Novellen, vollständige Ausgabe in
12 Bänden, Berlin. Georg Reimer. — Die-13. Lieferung, die uns gegciiwärtig vorliegt, ent¬
hält zunächst „das alte Buch" und „die Reise ins Blaue hinein", jene Märchennovcllc aus dem
Jahre 183S, in welcher der alternde Dichter so unbefangen und eifrig wie nur selten
in die Erinnerungen und Traditionen seiner Jngend zurückgriff und wieder das alte
Evangelium der Romantik verkündigte. — Die folgende Novelle „der Alte vom Berge"
1828) hat wie gewöhnlich bei Tieck eine technische Unterlage, den Bergbau, und nimmt
gewissermaßen das romantische Thema der früheren Periode, das sich damals ganz in
eine phantastische Welt verlor, rationalistisch und psychologisch wieder auf. Der ge¬
wöhnliche Fehler Tiecks, daß er es eigentlich immer uur mit excentrischen Naturen zu thun
hat, findet sich auch hier wieder vor. —
Gedichte von Moritz Graf Strachwitz, Gesammtausgabe. 2. Aufl. Bres-
lau, Trewendt und Graner. — Diese schon ausgestattete Sammlung enthält die sämmt¬
lichen Lieder des frühverstorbenen Dichters, sowol die „Lieder eines Erwachenden" als
die „neuen Gedichte". Strachwitz Gedichte erschienen zuerst in einer Zeit, die für reac-
tionäre Stimmungen noch nicht sehr empfänglich war; er starb bereits vor Anfang der
Revolution, im December 1847 zu Wien. Eigentlich ist er aber viel gesunder, natür¬
licher und kräftiger, als die modernen süßlichen Neactionsdichter, an denen sich das
friedensdurstige Deutschland krank gelesen hat. Im Grunde ist die Stimmung seiner
Gedichte nicht viel anders, als bei Herwegh. Beide werden zunächst von einem jugend¬
lichen Kampfcsdrang getrieben; daß der eine gern auf die Aristokraten, der'andere aus
^die Demokraten schlagen möchte, macht im Grnnde keinen so großen Unterschied. —
Die Einheit in der organischen Natur, populäre Vorträge von Fischer,
mit 31 in den Text gedruckten Holzschnitten (Hamburg, Kittler). — Das Werk gehört zu der
zahlreichen Literatur, welche Humboldts Kosmos hervorgerufen hat, und welche im we¬
sentlichen darauf ausgeht, die Menschheit nicht mehr durch trockene, metaphysische Ab-
stractioium, sondern durch lebendige, der bestimmten wissenschaftlichen Beobachtung ent¬
nommene Anschauungen daraus hinzuführen, daß die Vernunft im Universum eine
einheitliche ist, daß es nicht ein doppeltes Gesetz des Denkens gibt, daß die Natur und
der menschliche Geist beide unendlich in der vollkommensten Uebereinstimmung sich be¬
finden. Wir haben schon öfters Gelegenheit gehabt, unsere Genugthuung über diese
Literatur auszusprechen, die seit K Jahren in geschlossener Phalanx gegen die bisher
verbreitete meist schädliche Unterhaltnngslectüre anrückt und der Aufklärung um so nütz¬
lichere und dauerhaftere Dienste leisten wird, da sie zu gleicher Zeit die Phantasie be¬
schäftigt. Das gegenwärtige Buch ist vortrefflich geschrieben, die Darstellungsweise
desselb en anschaulich und belebt und es weht darin überall der Geist echter Bildung und
Humanität. Indessen können wir uns doch der Bemerkung nicht enthalten, daß in
dieser Thätigkeit'jetzt allmälig ein Stillstand zu wünschen wäre. Wir wünschten näm¬
lich, daß diese lebendigere Anschauung der Natur, die in der Form populärer Vor¬
träge doch immer mehr Anregung als Belehrung bezweckt, sich wieder mehr dem Gebiet der
eigentlichen Wissenschaft zuwenden und dasselbe, das sich auf eine sehr bedenkliche Weise
mehr und mehr in Detailforschungen verliert, wieder zu concrcteren und geistvolleren
Perspectiven leiten mochte. Das größere Publicum kann noch längere Zeit von dem
zehren, was ihm bisher geboten ist. Es ist nicht gut, in der Form zwischen beiden
Gebieten zulange eine Trennung eintreten zu lassen. —
Die Bevölkerung der Moldau und Walachei ist eine durchaus gleichartige,
obgleich zahlreiche Grieche» in diesen beiden Fürstentümern ihr Glück suchen und
Tausende von Zigeunern das Land durchstreifen. Die eigentlichen Herren des
Landes, die Türken, haben nicht das Recht, in demselben zu wohnen. Stammes¬
brüder der Moldau-Walachen wohnen in dem östlichen Ungarn, in ganz Sieben¬
bürgen, in der Bukowina und in Bessarabien. So umschließen der Dniester, die
Karpathen, die Theiß, die Donau und das schwarze Meer eine stammverwandte
Nation.-
In den Zeiten des Alterthums bewohnten diese Gegenden -die Dacer und
Geten. Kaiser Trajan warf sie über den Dniester zurück und siedelte aus dem
linken Donauufer römische Kolonisten an. Die Nachkommen dieser Kolonisten
sind die Moldau-Walachei^, welche noch hente Römer, Ronmani sich nennen.
Der Name Vlaskö oder Welsche ist ein slawisches Wort, mit welchem 'die Slawen
die lateinischen Völker überhaupt und insbesondere die Italiener bezeichneten.
Als dann die großen Einfälle der Barbaren in das römische Reich erfolgten,
wurden die Bewohner Dacicns theils in die Gebirge, das trajanische Dacier,
theils auf das rechte Donauufer zurückgedrängt, wo sie unter Aurelian das anre-
lianische Dacieu bildeten. Nach dem Einzuge der Avaren in Pannonien füllten
sich die verlassenen Donanebenen wieder mit ihrer romanischen Bevölkerung, welche
in kleinen Staaten sich gruppirte, ans denen im 13. Jahrhundert das Fürsten-
thum der Walachei, im 14. das der Moldau hervorging. Die Bewohner des
anrelianischcn Dciciens dagegen verblieben ans dem rechten Donaunser und ver¬
einigten sich mit den Bulgaren, mit denen sie das walachisch-bulgarische Reich
gründeten, das von den Griechen zerstört, dann wiederhergestellt und endlich von
den Türken für immer gestürzt wurde. Die seitdem in Thracien und Mace-
donien zerstreuten Walachei« leben hier mitten unter den Griechen-Slawen unter
dem Namen der Kutzv-Walachen, der Mvrlakcn und Zinzaren.
In der mittleren und neueren Geschichte erscheinen die Moldau-Walachen
unter dem Namen der Romanen. Obgleich sie von der lateinischen Kirche sich
getrennt hatten, fochten sie doch tapfer sür die Christenheit gegen den Islam, im
1ö. Jahrhundert unter Mirza I, und Stephan dem Großen, im 16. unter natu,
im 17. unter Michel dem Tapferen, Fürsten, welche zugleich die Einheit der Ro¬
manen erstrebten. Endlich aber unterlagen sie nud das romanische Land wurde
zwischen Oestreich und der Türkei getheilt, bis auch Rußland zum Lohn für seine
treulosen Dienste seinen Antheil nahm. Die Moldau-Walachen erkannten die Sou-
veränetät des Sultans an. Zwar sicherten ihnen Kapitulationen, welche noch heute
Grundlagen des mvldau-walachischcn Staatsrcchtes sind, eine freie und nationale
Regierung: aber die Pforte verletzte diese Verträge nud ersetzte die einheimischen
Fürsten, welche seit den älteste» Zeiten von der Nation selbst gewählt wurden,
durch Fürsten ihrer eigenen Wahl. Die Griechen des Fanarviertels in Kon-
stantinopel, welche dem Divan in seinen Beziehungen zu dem Auslande als Dol¬
metscher dienten, diese Fanarivteu, welche zu Reichthum und Macht gelaugt waren,
wurden vou deu Türken mit der Regierung der Moldau und Walachei betraut.
Nach hundertjähriger Herrschaft gingen die Fanarioten durch eigene Aus¬
schweifungen zu Grunde: aber das Schicksal wollte, daß die Moldau-Walachen,
als sie von den Fanarioten sich befreiten, den Beistand "des habgierigen und
eigennützigen Rußlands annahmen und dem russischen Protectorat verfielen, das ih¬
nen weit gefährlicher ist, als die schwache Souveränetät der Pforte. Glücklicher¬
weise hat sich jedoch nach der Vertreibung der Fauarioteu in dcU Fürstentümern
eine Tendenz geltend gemacht, welche den Sieg der Russen außerordentlich schwächt.
Das unterdrückte, aber nicht erstickte Nationalgefühl ist in der Moldau-Wa¬
lachei zu einigem neuen Leben erwacht. Im Norden vou den russischen »ut polnischen
Slawen, im Süden von den illyrischen Slawen Bulgariens und Serbiens, im
Westen von den Czechen - Slawen Slavoniens und deu Magyaren eingeschlossen,
haben die Moldau-Walachen ihre romanische Nationalität sich zu erhalten ge¬
wußt. Durch Abstammung und Bildung mehr als irgend ein anderes Volk Ost¬
europas mit dem lateinischen Europa zusammenhängend, haben sie die Ideen und
Strebungen, die dort sich Bahn brachen, sich angeeignet und namentlich von
Frankreich Aufmunterung und Unterstützung empfangen. Wie die Magyaren und
Jllyrier, die Czechen, die Polen und Hellenen von Nationalgefühl beseelt, haben
sie ihr eifriges Streben auf die Entwickelung und Ausbildung ihrer Volkseigen-
thümlichkeit gerichtet und bei allen Völkerschaften ihres Stammes, die nnter tür¬
kischer, östreichischer und russischer Herrschaft stehen, „den lebhaftesten Anklang"
gefunden. Für die romanische Bewegung, für die Vereinigung von acht
Millionen Romanen, welche die Prüfungen von 17 Jahrhunderten bestanden
haben sollen, arbeite» und schreiben die Gelehrte» und Schriftsteller der Moldau-
Walachei, Siebenbürgens, der Bukowina und Bcssarabienö. In ihrer Sprache
heißen alle diese Länder Romainen.
Niemals ist das türkische Volk und der muselmännische Geist wirklich feind¬
selig gegen die romanische Sprache und Einrichtungen aufgetreten. Die Rohheit
und Unwissenheit der früheren Sultane haben zwar die Unabhängigkeit des Landes
vernichtet, dasselbe der Willkür der Fanarioten überantwortet und die Eingriffe der
Nüssen geduldet: aber die Angriffe ans die romanische Nationalität sind unmittel¬
bar von den Griechen ausgegangen. Griechische Sprache und Sitte erdrückte
fast die romanische und noch heute kämpfen die Moldau-Walachen weit weniger
gegen den Sultan an, der das Recht der Fürstentümer achtet, als gegen bis
von Rußland unterstützten Fanarioten.
Als im Jahre -1821 die Moldau-Walachen es abgelehnt hatten, sich unter
die Fahnen Alexander UpsilantiS zu scharen, der aus dem südlichen Rußland
nach Griechenland vorrückte und sie aufforderte, an dem hellenischen Freiheitskämpfe
gegen die Türken Theil zu nehmen, schaffte die Pforte „in Rücksicht auf die
Undankbarkeit der Griechen und die Treue (!) der Walachen", die Herrschaft der
Fanarioten ab und gab dem Lande wieder seine einheimischen Fürsten. Gregor
Ghika wurde in der Walachei, Johann Sturdza in der Moldau zum Hospodareu
ernannt. Beide hielten fest zum Romanismus.
Aber ein neuer Feind erhob sich gegen die Moldau-Walachen, furchtbarer
als die Türken und die Fanarioten. Seit dem bekannten Frieden von Kainardschi
(-1774), dessen Bestimmungen durch die Friedensschlüsse von Jassy (4 791) und von
Bukarest (48-12)'bestätigt und erweitert wurden, hatte Rußland sich das Recht an¬
gemaßt, für die Moldau-Walachei», ihre Glaubensgenossen, amtlich bei der Pforte
einzuschreiten. Es hatte in Bukarest zwei Consulate errichtet, welche unter dem
Vorwande, im romanischen Interesse die Negierung der Fauarioten zu überwachen,
grade im Einverständnis; mit den Fanarioten an der Bildung einer^ russischen
Partei arbeiteten, die man demnächst gegen die Pforte loslassen wollte. Diese
Berechnung scheiterte an der klugen Politik der Pforte, welche die nationale Partei
in deu Fürstentümern für sich zu gewinnen wuszte. Da versprach Rußland, deu
Fauarioten die Fürstenthümer wieder zu offnen, wenn sie für russische Interessen
arbeiteten.
Sofort protestirte der Zar aus ,,Aufopferung für seine Glaubensgenosse!!"
gegen die Ernennung der HvSpodare durch die Pforte nud erlangte die Wahl
derselben. Dann erwarb er dnrch den Bertrag von Akerman (-1826) wieder das
Recht, in den diplomatischen Beziehungen der Fürstenthümer zur Pforte direct
einzuschreiten. Endlich wurden die Moldau und Walachei in deu Feldzügen von
-1828 und 1829 von russischen Heeren ausgesogen und blieben den Russen als
Pfand für die Kosten des Krieges. Rußland erwartete, daß die Pforte diese
ungeheuren Kosten nicht erschwingen und die Moldau-Walachei alsdann in seineu
vollständigen Besitz übergehen würde. Aber die Pforte bezahlte und die Russen
mußten über den Prüll) zurückgehen.
Erst 1834 hatte die Moldau-Walachei diese Krisis überstanden. Ihre neue
Verfassung, die>vn dem russischen Gouverneur, General Kisseleff, im Einverständ¬
nis mit einer formell berufenen Nationalversammlung gegeben worden, war ein
entschiedenes Erzeugnis? des fanariotischen Geistes. Eine erbliche Aristokratie
wurde gegründet, während früher uur Staatsämter ohne erbliche Macht bestan¬
den. Die Nationalversammlung wurde einem Fürsten untergeordnet, dessen Wahl
und Absetzung von dem Zar und dem Sultan gemeinschaftlich abhing. Ohne
die Zustimmung beider Herrscher konnten Fürst und Volksversammlung weder die
Staats- noch die Steuerverfassung abändern. So verlor die Moldau-Walachei
selbst die partielle Souveränetät, welche sie bisher der Pforte gegenüber behauptet
hatte. Ueberdies hatte Rußland während der Occupation die Griechen von Kon¬
stantinopel aus der Verbannung zurückgerufen und die griechischen Klöster wieder¬
hergestellt, welche ein Hauptwerkzeug in der Hand der Fauarivteu waren. So
hatte sich der sowol von den Moldau-Walachen als von den Türken gehaßte Fa-
nar durch russische Unterstützung auf romanischem Boden wiedererhoben und die
gegen Rußland dankbaren Fanarioteu bildeten den Mittelpunkt der griechisch-rus¬
sischen Intriguen. Endlich setzte Rußland, bevor es die Fürstentümer räumte,
ohne Mitwirkung der Romanen und der Pforte, die beiden ersten Fürsten ein,
welche nach der neuen Verfassung regierten.
Der unterdrückte Romanismus fand eine Stütze an drei ausgezeichneten
Männern, Campinicmo, Balatchiano, Buzoiano. Mitglieder der Nationalver¬
sammlung, welche Nußland bei der Octroyirung der neuen Verfassung zu Rathe
zog, hatten sie die Unterzeichnung dieser Scheiuverfafsuug verweigert, und sie fanden
mit ihren Bestrebungen den lebhaftesten Anklang bei der gebildeten walachischen
Jugend.
Michael Sturdza war in der Moldau, Alexander Ghika in der Walachei
Hospodar geworden. In beiden Fürstentümern suchten die Fanarioten in den
Besitz der öffentlichen Aemter sich zu setzen. Ihnen gegenüber erkannte der nach
Unabhängigkeit strebende Fürst Sturdza die Nothwendigkeit, auf die nationale
Partei sich zu stützen. Ohne indessen in offenen Kampf mit dem Fanar und mit
Rußland sich einzulassen und ohne sich entschieden sür den Romanismus zu er¬
klären, wußte er doch den vornehmen Fanariotenfamilien harte Schläge zu versetzen.
Er rief sogar wiederholt die Erinnerungen des romanischen Stammes und die
alten Helden der Moldau an. Die russische Diplomatie hatte sich sehr in ihm
getäuscht.
Mit größern Schwierigkeiten hatte Fürst Ghika zu kämpfen. Die Fanarioten
der Walachei waren zwar weniger reich und mächtig als die der Moldau, aber
desto schlauer: die nationale Partei war hier bei weitem widerspenstiger, zahlreicher,
kühner und anspruchsvoller. Die Fanarioten nöthigten den Fürsten, ihren Bei¬
stand anzunehmen, um sich in der Herrschaft zu behaupten; die nationale Partei
bedrohte ihn öffentlich; ein leidenschaftlicher Kampf entbrannte. An der Spitze
der Romanisten stand Campiniano, der Bruder des bereits erwähnten Parla¬
mentsmitgliedes. Sie nannten sich die „jungen Walachen" im Gegensatz zu den
„alten Walachen", der russischen Partei, deren Häupter Villava, Georg Bibesco,
sein Bruder Stirbcy und der alte PhilippeSco waren. Campiniano kämpfte nicht
allein für den Romanismus als Deputirter, sondern leistete ihm auch große
Dienste durch Förderung der Nationalliteratur. Er gründete die philhar¬
monische Gesellschaft und verband mit derselben später ein Nationaltheater, wo
zrerst Liebhaber, dann Schauspieler nationale Komödien, Dramen und mich Ueber-
tragungen von Voltaire, Alfieri und neueren Dichtern darstellten.
Die Dichter und Schriftsteller der Moldau, Bessarabiens und Siebenbürgens
leisteten Campiniano wirksamen Beistand. Unter den moldauischen Schrift¬
stellern ist in erster Reihe zu nennen Ncgruci, Verfasser eines epischen Ge¬
dichts über den Heros der Moldau, Stephan den Großen und von Novellen,
die etwas von der Lebhaftigkeit und Freiheit der Märchen haben. Kogalni-
ceno hat eine Chronik der Moldau-Walachei und eine französisch geschriebene
Geschichte der Fürstentümer herausgegeben. Unter den lyrischen Dichtern der
Moldau nennen wir Sion und Alenandri, der die Volkspoesie mit ehrenwerther
Originalität und großem Erfolge anbaut. In der Walachei hat Gliade durch
patriotische Oben und Gesänge, anch durch linguistische Arbeiten und Ueber-
setzungen von Voltaire und Lamartine sich ausgezeichnet. Anmuthige lyrische
Gedichte haben ferner Kirlova, Alcxandresco, Boliaco, Posctti und Bolintineano
geliefert. Die Volkschrouiken sind erforscht worden von Laurianu und Bal¬
le hev. Letzterer hat eine militärische Geschichte der Fürstentümer und das
„historische Magazin" herausgegeben. Seit 1829 bestehen in der Moldau-Wala¬
chei auch zahlreiche politische und literarische Zeitschriften, obgleich ihnen die Cen¬
sur Schwierigkeiten genug bereitete. Ebenso gibt es artistische, medicinische,
commercielle Blätter und eine Ackerbauzeitung, welche die Priester den Bauern
uach dem Gottesdienst des Sonntags vorlesen müssen. Die romanische Literatur
wirkt besonders auf das Volk: sie kleidet sich in das Gewand von Legenden und
Gesängen, welche die Bauern, wie die alten Gedichte, mündlich sich mittheilen.
Zwischen den beiden Parteien der alten und jungen Walachen vermochte sich
Fürst 'Ghika nicht zu behaupten. Eine Krisis trat ein und endigte mit der von
der Türkei und Rußland ausgesprochenen Absetzung Ghikas. Georg Bibesco,
der ihn mit großer Erbitterung in Reden und französisch geschriebenen Brochüren
bekämpft hatte, wurde durch die Nationalversammlung zur Fürsteuwürde erhoben.
Bibesco war freilich nicht der Candidat der „jungeu Walachen", aber er be¬
wegte sich in liberalen Formen und wußte selbst Campiniano zur Annahme eines
Minister-Portefeuilles zu bewegen. Er war überdies romanischer Abkunft und
der erste von der Nation gewählte Fürst. Aber er war eine Crearur der Russen.
Er entfernte sich allmälig von der nationalen Partei, stützte sich ans die Partei der
alten Walachei,, schloß die Nationalversammlung und regierte mehre Jahre ohne
alle Controle. Da kam der Sultan den Walache» zu Hilfe: er befahl dem
Fürsten Bibeöco, die Nationalversammlung wieder zu eröffnen und erklärte, die
Eingriffe des russischen Protectorats in die türkische Souveränetät nicht länger
dulden zu wolle». Die walachische Verfassung wurde wieder, in Kraft gesetzt und
Bibesco regierte mit der neuen Kammer, die er freilich durch Abänderung des
Wahlgesetzes mit servilen Mitgliedern besetzt hatte, in einem mehr nationale,,
Sinne.
Der Romanismus behauptete sich deu griechisch-russischen Intriguen gegen¬
über. Obgleich mit Undank vou den Männern belohnt, die er zur Gewalt
erhoben hatte, mit Erbitterung vou deu Griechen und Russen verfolgt, wenig
begünstigt von den Türken, herrscht er in der Moldau-Walachei, in der Bukowina,
in Ost-Ungarn und Siebenbürgen, trotz der Magyaren, in Bessarabien trotz der
Nüssen und vereinigt alle romanischen Länder durch das Band der Ideen und
Interessen. Die Kntzo-Walachen, welche von dem Mutterlande isolirt auf
dem rechten Dvnauufer/ und besonders in den Bergen Macedoniens wohnen, sind
das einzige romanische Volk, das dem Romanismus abtrünnig geworden ist. Die
Siebenbürgen dagegen, beleidigt durch die Anmaßungen ihrer LandeSgenosseu,
der Magyaren, gehen mit den Moldau - Wallachen: die Bukowiner, welche zum'
Königreich Galizien gehören, bezeigen ihnen einige Anhänglichkeit: die Bessarabier
endlich, obgleich an Rußland gekettet und der Verfassung beraubt, die ihnen bei
der Bereinigung mit Rußland gewährleistet war, nehmen einen thätigen Antheil
an den literarischen Bestrebungen der Moldau-Walachei und Siebenbürgens und
cultiviren ihre Nationalsprache und Geschichte. So streben alle romanischen
Stämme zur Volkseinheit. >
In der Walachei und namentlich in der Hauptstadt Bukarest,hat der Roma-
nismus doch die tiefsten.Wurzeln geschlagen. Die Fanarioten und selbst diejenigen
Walachen, auf denen der Verdacht ruht, daß sie mit dem russischen Consulat
und dem Fanar in Verbindung stehe», werden ,,Ciocoi" (niederträchtige Hunde)
genannt und „Ciocvismus" bezeichnet die servile Niederträchtigkeit, ans welche
die Fanarioten ihre Herrschaft i» der Moldau-Walachei gründen wollten. Während
man in Bukarest die Fanarioten verachtet, haßt man die Nüssen. Sie büßen
durch ihre Mißliebigkeit die grausame» Ungerechtigkeiten ihrer Regierung und
sowie el» Russe »ach Bukarest kommt, heißt es in den Salons: „Wieder ein
Russe!" Die Türken dagegen werde» mit großer Freundlichkeit empfangen,
überall eingeladen, und noch lange nach ihrer Abreise heißt es: „Endlich haben
wir einmal wieder einen Türren gesehen!" Obgleich die Russen überall die Türken als
unbarmherzige Tyrannen, ohne alle Lebensart schildern, so neigen sich doch die
Patrioten der Walachei.entschieden den Türken zu und beklagen sich nur über
die Gleichgültigkeit, mit welcher diese sorglosen Herren des Landes die Eingriffe der
Russen in ihre Souveränetätsrechte gestatten. Der instinctmäßige Widerwille
gegen Rußland ist der Hauptgrund, weshalb die Romanen in die Arme der
Türken sich werfen, um bei denselben Schlitz gegen die Einschmeichelnngen und
Drohungen der moskvwitischcn Diplomatie zu finden. Wenn die Moldau-Walachen
auch ihre nationale Unabhängigkeit behaupten wollen, so sind sie doch nicht
gemeint, einer Politik sich zuzugefellen, welche den Untergang des ottomanischen
Reiches bezweckt. Wenn in Bukarest und in Jassu eine revolutionäre Partei
besteht, welche die Selbstständigkeit der Fürstenthümer predigt, welche das
Vasallenverhältniß der Moldau-Walachei zur Türkei zu. vernichten strebt, so ist
dies eben die griechisch-russische Partei, welche, die Erstarkung d'es Romanismus
fürchtend, bereits öfter verursacht hat, ihn in Revolutionen zu stürzen, um ihn
desto besser in seiner Wiege ersticken zu können, es ist die griechisch-russische Partei,
welche -1862 Bulgarien auswiegelte und mit den Waffen in der Hand in die
malachische Stadt Braclow eindrang und, das Fürstenthum zu einem Aufstand zu
bewegen suchte, in welchem es nur triumphirt haben würde, um in die Hände
der Russen zu fallen. Aber dieses sinnlose'Beginnen scheiterte an der Klugheit
der Romanen und veranlaßte den alten Buzojauv, den Präsidenten des Gerichts¬
hofes, welcher diese Angelegenheit untersuchte, zu der feierlichen Erklärung: „daß
man eine Untersuchung nicht weiterführen könne, wo die Justiz bei jedem
Schritte als Hauptschuldigen Se. Majestät den Kaiser aller Reußen fände". Die
Moldau-Walachen sind grade die Stützen des Friedens und der Sicherheit des
türkischen Reiches gegen Rußland, diese entschieden revolutionäre Macht des Orients.
Leider haben die Türken, die in den Moldau-Walachen Vasallen von bewährter
Treue fanden, die russische Diplomatie ungestört in den Fürstenthümern intriguiren
lassen, ja sogar zuweilen zu ihren Werkzeugen sich gemacht und zu Handlungen
sich hergegeben, die ihre eigene Souveränetät untergraben mußten. Im Jahre
1848 brach die romanische Revolution aus. Sie unterlag nach drei Monaten
den vereinigten Anstrengungen Rußlands und der Türkei, die aus Furcht an
Rußland sich anschloß und nicht wagte, in Bukarest ihre eigne Sache zu vertheidigen.
Die Moldau-Walachen hatten sich erhoben, um das Joch einer bureaukratischen
Oligarchie abzuschütteln, die ein Werkzeug in den Händen Rußlands war, um
des drückenden russischen Protectorats sich zu entledigen, um die verletzte Ver¬
fassung ihres Landes herzustellen; sie erkannten feierlich die So-uveränetät der
Pforte und die mit derselben abgeschlossenen Verträge an. Die Russen rückten
in die Fürstenthümer ein, nicht um die Ordnung wiederherzustellen, die zu bestehen
nicht aufgehört hatte, sondern um auf Kosten der unglücklichen Romanen die
Occupationsarmee zu unterhalten, welche bestimmt war, gegen die Ungarn zu
kämpfen, und den russischen PauslamismuS unter der türkischen und östreichischen
Bevölkerung zu verbreiten. Die Türkei sah ruhig mit ein, wie eine Bewegung
unterdrückt wurde, deren Gelingen ihr selbst den stärksten Schutz gegen Rußland
gewährt haben würde. Die Ciocoi und die Fanarioten, die Bundesgenossen
Rußlands, kamen wieder in den Fürstentümern an das Ruder, decimirten die
Häupter der romanischen Bewegung durch Gefängniß und Verbannung und
rächten sich an dem Volke durch vermehrte Abgaben, Erpressungen und Be¬
drückungen jeder Art. . Die Convention von Balta-Lima, welche zum Vortheil
Rußlands das Staatsrecht der Fürstenthümer vernichtete, besagte zwar: „Man >
wird zu den organischen Verbesserungen schreiten, welche die Lage der Fürsten¬
thümer und die Mißbräuche in denselben erheischen", aber diese Verbesserungen
find niemals erfolgt. Gegenwärtig sind die Fürstenthümer ein „Pfand" Rußlands
und der Schauplatz eines Krieges, der das vielgeprüfte Volk vollends aussaugt.
Aber die Moldau-Walachen halten so treu zum Romanismus, als ihrer Natur
möglich ist; ihre Miliz hat sich geweigert, in das russische Heer einzutreten.
Karl Ludwig Freiherr von Phull war der Sohn des kommandirenden Generals
der schwäbischen Kreiütruppen und Herzvglich würtembergischen Generallieutenants
von Psilli. Auf der berühmten Karlsschnle in Stuttgart erzogen, trat er früh¬
zeitig in preußische Kriegsdienste und wir finden ihn 180ö als den ältesten der
drei Generalquartiermeister-Lieutenants, die damals unter dem Chef des preichischeu
Generalstabes, General von Gcusau, standen. Differenzen mit dem Oberbefehls¬
haber der preußischen Armee, dem Herzog von Braunschweig, von dessen taktischer
Unfähigkeit er überzeugt war, veranlaßte» 1806 seinen Uebertritt in russische
Dienste. Kaiser Alexander wählte sich den gelehrten. General zu seinem Lehrer
in der Kriegskunst und Phull war es, der den Plan zu dem berühmten Feldzuge
des Jahres 1812 entwarf. Er ging von dem Gesichtspunkte ans, daß die nu¬
merische Uebermacht Napoleons nur durch ein geschicktes Ausweichen und Zurück¬
ziehen russischerscits neutralisirt werden könne, indem Napoleon dadurch genöthigt
würde, sich immer mehr von seinen Ressourcen zu entfernen, seine Armee in
immer unwirthbarere Länder vorzuschieben und dieselbe dadurch täglich physisch
und moralisch zu schwächen, während die Russen Zeit gewännen, sich immer mehr
zu concentriren und so zu kräftigen. „Mit der Schnelligkeit des Blitzes zu
handeln, sagte er in seiner Denkschrift an den Kaiser, ist das ausschließliche Pri¬
vilegium des Genies. Man muß ihm eine gemessene Beharrlichkeit, Oekonomie
und Ordnung' in allen Maßregeln entgegensetzen, man muß mit Weisheit und
Klugheit verfahren, zwei' Klippen, an denen das Genie oftmals gescheitert ist."
Napoleon konnte entweder das nordwestliche oder das südwestliche Rußland zu
seinem Operationsobject machen. Deshalb nahm Phull für Rußland zwei Heere
an und bestimmte für jedes derselben eine Nückzugslinie. Die nordwestliche Armee
sollte sich in Wilna, die südwestliche in Dnbno oder Kutzk concentriren. Falls
Napoleon den Hauptangriff auf die Wilnaer Armee richte, sollte diese defensiv,
die zweite Armee dagegen offensiv verfahren und im Rücken von Napoleons
Hauptmacht operiren und ihr alle Zufuhr abschneiden. Der Rückzug der ersten
Armee sollte aber uur bis in ein stark befestigtes Lager an der Dura sortgesetzt
werden dürfen, während welcher Zeit Napoleon aus Mangel an Lebensmitteln
und durch die Augriffe der zweiten Armee beunruhigt, zum Rückzug genöthigt
sein würde.
Phull begleitete den Kaiser zur Armee und wurde in Wilna zum General-
qnartiermeister ernannt. Im Lager bei Drissa aber singen die Ansichten des
Kaisers über den adopirten Feldzugsplan Phulls zu schwanken an: Phull als sein
Rathgeber wurde von den Russen für die Ursache der damals schon bedenklich ge¬
wordenen Lage der Dinge gehalten und in dem Grade angefeindet und verab¬
scheut, daß der Kaiser ihn gar nicht mehr zu cvnsnltircn wagte. Am 14 Juli
wurde das von Phull in Vorschlag gebrachte, aber von andern mangelhaft aus¬
geführte befestigte Lager von Drissa abgebrochen: der Kaiser verließ die Armee
und berief auch Phull, gegen den tumultuarische Austritte ausgebrochen waren,
von derselben ab. Nach dem Kriege ernannte ihn der Kaiser zum Gesandten im
Haag. Als solchen traf ihn noch 1819 der General von Müffling im Haag.
Phull las ihm damals seinen Operationsplai? zur Campagne von 1812 mit allen
Details vor. Der erste Abschnitt ging bis zur Concentrirung im Lager von
Drissa, die übrigen Abschnitte setzten den Rückzug nach Moskau sort. Wäre dieser
Plan, der nicht allein theoretisch richtig war, sondern auch praktisch aus die Cha¬
rakterstärke und die wenigen Bedürfnisse des russischen Landmanns und daher auf
die Möglichkeit sür ihn, ein Nomadenleben in seinen Wäldern zu führe«, sich
gründete, zur Ausführung gekommen, so würde es schwerlich weder zu einer
Schlacht vou Mosaisk, noch zu der Katastrophe vou Moskau gekommen sein.
Allein die höheren russischen Offiziere waren umsoweniger befähigt, diesen Plan
richtig aufzufassen und auszuführen, als der Kaiser nur den ersten Abschnitt des¬
selben bis ins Lager von Drissa als Disposition ausgegeben, über das Weitere
Phull aber das größte Geheimniß anbefohlen hatte. — Bald nach 1819 nahm
Phull seinen Abschied und lebte vou seiner ansehnlichen Pension erst in Berlin,
dann in Stuttgart, wo er am 26. April 1826 starb.
Phull war ein Mann voll tiefer Gedanken, großartiger Ansichten und von
durchaus edlem Charakter, auch besaß er große Gelehrsamkeit, viel Phantasie und
Verstandesschärfe, allein er war in den gewöhnlichen Berufsgeschäften oft un¬
praktisch, was ihm in Verbindung mit seinen hypochondrischen Zuständen oft einen
wahren Widerwillen gegen alle Geschäfte einflößte. Um das Gelingen des groß-
artigste», durchdachtesten und wohlangelegteste», wenn auch nicht zum besten durch¬
geführten Vertheidigungskrieges, um die Rettung und das Wohl Rußlands, hat
Psilli die größten Verdienste: das System dieses Krieges ist von ihm erdacht
und von Kaiser Alexander zur Ausführung gebracht wvrdess.
Der würtenbergische Oberst Freiherr von Batz hat gegenwärtig eine syste¬
matische Anleitung Phillis für das Studium der Kriegsoperationen unter Hin¬
weisung auf die Kriegsgeschichte Frankreichs seit Philipp von Valois bis zum
Frieden von Fontaüieblean 1762 uach der französischen Urschrift Phillis heraus¬
gegeben (Stuttgart, Cotta. 1832). Diese Anleitung gibt zunächst Aphorismen
über die Kriegskunst überhaupt, handelt alsdann von der Operationsbasis, der
Operationslinie, den Parallelbewegnngen, der Verpflegung, den Beziehungen der
Festungen zu den Kriegsoperationen, vou dem System für Anlegung von Of¬
fensiv- und Defenfiv-Festungen, verbreitet sich über den Einfluß der geographischen
Lage auf die Militärorganisation der Staaten, insbesondere aus die von Spanien,
Portugal, Frankreich, Sardinien und Preußen, letztere von der Negierung des
großen Kurfürsten an bis zum Friede» vou Tilsit, und schließt mit einer gedrängten
Uebersicht der französischen Kriegsgeschichte. Eine Beilage enthält ein Memoire
über die Art und Weise, auf welche der Krieg gegen Frankreich zu fuhren ist.
Frankreich gilt dem General Psilli in Bezug auf Militärorganisation als
classischer Staat. „Das französische Militärsystcin, sagt er, hat das Land trotz
der Ungeschicklichkeit von Ministern und Generalen mehr als einmal gerettet. So'
manche Regierung hat geglaubt, unter dem Schutze einer zahlreichen Armee vor¬
bereitende, für günstigen Erfolg der Waffen unerläßliche Maßregeln ungestraft
verabsäumen zu dürfen. Provinzen gingen verloren, ohne daß man begreifen
wollte, daß man das, was man noch beibehielt, durch Festungen schützen müsse:
es wurden Eroberungen gemacht, ohne daß man nachher erwog, ob Festungen
zu erbauen seien, um die neuen Eroberungen mit den alten Provinzen dadurch
in sichernden Verband zu bringen. Napoleons Fall beweist nichts gegen die Ge¬
diegenheit des französischen Systems. Ungcmessener Ehrgeiz brachte diesen über¬
spannten Mann soweit vom rechten Wege ab, daß er, um eine übel ausgedachte
allgemeine Monarchie aufzustellen, einen großen Theil der für die Vertheidigung
Frankreichs geschaffenen Militärorganisation weit über dessen Grenzen hinaustrug."
Wir heben schließlich noch hervor, wie Psilli sich in seiner Denkschrift vom -i-
November -1804 über die Bedeutung ausspricht, welche die Regierungsform in
Frankreich für die Lage Europas hat. ,,Zu wünschen wäre, daß die Macht der
Ereignisse es dem Zusammenwirken der Alliirten gestattete, den legitimen König
wieder auf den Thron zu setzen. Hierdurch wäre den Kalamitäten Europas dus
Ziel gesteckt. Erlauben widrige Umstände es nicht, zur Monarchie zurückzugreifen
— der ursprünglichen Veranlassung des Kriegs — .so wäre es unklug, beinahe
ein Verbrechen, sie unter allen Umstände» zur Seite zu schieben. Will man den
allgemeinen Frieden gründen, soweit man dies bei der Verträglichkeit des Ge¬
gebenen mit den Leidenschaften der Menschen und dem Widerstreit ihrer Interessen
wenigstens hoffen darf, so ist dieses Ergebniß mir dann auf ganz befriedigende
Weise zu erreichen, wenn Frankreich nicht mehr dem ersten glücklichen Soldaten
zur Beute werden kann. Der Herr eines so großen Landes wird zur Geißel
Europas, sowie er durch keine der Verpflichtungen gebunden oder durch keine
der Regeln abgehalten ist, welche dem Mißbrauch der Gewalt wehren. Im letzten
Kriege ist man dafür gestraft worden, daß man ein so geringes Gewicht auf
dieses Princip legte. Es handelt sich nicht blos darum, diese leichte und sangui¬
nische Nation zu schlagen, und für den Augenblick in die Schranken zurückzu¬
weisen, sondern anch darum, ihr eine Regierungsform zu verschaffen, vermittelst
welcher sie sich redlich und aufrichtig dem übrigen Europa füge. Es ist diese
Auffassung für jedermann verständlich und bedarf daher keiner weiteren Aus¬
einandersetzung."
Herr Geffrvy, Professor der Geschichte an der ?g,erM ä<zö lettrss zu Bor¬
deaux, hatte im August 18ö2 von dem französischen Minister des öffentlichen
Unterrichts den Austrag erhalten, in Dänemark und Schweden diejenigen hand¬
schriftlichen Quellen aufzusuchen, welche über die Geschichte sowol Frankreichs als
des skandinavischen Nordens »me Aufschlüsse geben könnten. Er entdeckte bei
dieser Gelegenheit in der Bibliothek des Gymnasiums zu Lübeck 24 bisher nicht
gedruckte, eigenhändige Briefe des Königs Karl XII. an seine Schwester Ulrike
Eleonore; eine Sammlung, welche der Prediger Schinmeyer, der in vielfachen
literarischen Beziehungen mit Schweden gestanden, der Gymnastalbiblivthek ver¬
macht hatte. In seinem Berichte an den Unterrichtsminister*) bemerkt'Herr Geffroy
über diese Briefe, von deren Echtheit er sich überzeugt hatte, folgendes:
„Wie die Franzosen Heinrich IV. als den Typus des französischen Charakters
in seinen Vorzügen und Schwachen darzustellen pflegen, so erblicken die Schweden
in Karl Xll. den Heldentypns ihrer Nation. Es liegt hierin viel Wahres. Es
leben in Karl XII.> wie in dem schwedischen Volke zwei Naturen. Wenn die
Schweden einerseits bis auf die Gegenwart ein kriegerisches Feuer und eine
Sitteneinfachheit bewahrt haben, welche einem andern Zeitalter angehören: so
erkennt man andrerseits in der Sprache ihrer Salons und in ihren Lebensbe-
ziehungen den gewaltigen Einfluß, welchen die Sitten und Hofmanieren Frank-
reichs im töten und 17ten Jahrhundert auf das Land ausgeübt haben. So
findet.man auch in Karl XU. neben dem Kriegsmann, der die Ruhe und die
Hindernisse, die ihm die moderne Diplomatie bereitet, nicht ertragen kann, den
artigen und liebenswürdigen Schweden, der voll Zuvorkommenheit gegen diejenigen
Personen ist, welche durch Geburt oder andere Verhältnisse ihm nahestehen.
Die 2i> Briefe stellen den Helden von Calabalique, wie die Schweden jenen
merkwürdigen Kampf von Bender nennen, den Voltaire so gut erzählt hat, in ein,
neues Licht: sie erwähnen seine zahlreichen und mühevollen Märsche, seinen Ueber¬
gang über die Beresina und das Gefecht von Holofzin im Jahre 1708. Sie
zeigen uns in Karl XII. den Mann des Feldlagers, der für andere Lockungen
als die des Krieges.unempfänglich ist. Voltaire hat erzählt, wie entschieden er
es ablehnte, jene Aurora Königsmark nur zu sehen, die abgesendet war, um mit
ihm zu unterhandeln. Unsere Briefe bestätigen diese angeborne Antipathie gegen
die Gefühle und Pflichten, welche der Ausübung des Soldatenberufs hinderlich
werden können. ,.Meine liebe Schwester, sagt er im zwölften Brief, hat mir wegen
des Oberstlieutenants Leyonwod geschrieben, der seine leibliche Cousine zu heirathen
wünscht: die Heirat!) in diesem Grade ist durch die kirchlichen Gesetze freilich nicht
untersagt, aber der verstorbene König hat sie verboten — und überdies glaube
ich wird es für diesen Offizier in seiner Eigenschaft als Militär besser sein,
an das Heirathen nicht zu denken." Und im zehnten Briefe sagt er: „Meine
Herzensschwester hat mir geschrieben, sie habe von meiner bevorstehenden Heirath
sprechen hören: aber ich will mich unablässig erinnern, daß ich mit meiner Armee
verheirathet bin, in guten wie in bösen Tagen, im Leben nud im Tode*) ....
Uebrigens ist es in unserer Armee verboten,, sich zu verheirathen."
Eine so strenge Zucht hätte Wunder gethan, wenn sie mit Klugheit und
wahrhaft politischer Einsicht verbunden gewesen wäre, aber Karl XII. hörte nie¬
mals auf Warnungen und Rathschläge: Narva hatte ihn verblendet, Pultawa
belehrte ihn nicht, daß er Rußland ans seinem Schlummer geweckt und dadurch
eine ewige Gefahr für Europa heraufbeschworen hatte. Mau ersieht aus seiner
, Korrespondenz, wie groß, wir sagen nicht seine Sündhaftigkeit, sondern seine
Hartnäckigkeit war, als er nachzugeben und zu unterhandeln selbst in dem Moment
verweigerte, wo Schweden aufs äußerste erschöpft war, wo Ulrike Eleonore ihr
Silberzeug dem Senate überschickte, damit er es eiuschmelzcn lasse und die drin¬
gendsten Ausgaben bestreite. Selbst damals, im Jahre. 1711, wollte Karl Xll-
noch aus seinem Lager oder vielmehr aus seiner Gefangenschaft trotz aller Hinder¬
nisse und Unordnung die Staatsgeschäfte leiten und er schrieb von Bender an
seine Schwester: „Ich danke meiner lieben Schwester, daß sie ihrer Umgebung
Muth einflößt. Möge sie nicht verzweifeln; zuletzt wird doch alles nach meinem
Wunsch gehen... Sollte mich selbst irgend ein widriges Ereigniß betreffen, so
muß meine liebe Schwester nicht den Muth verliere», sondern fest und entschlossen
bleiben. Alles kommt darauf an, unsere Angelegenheiten tapfer und muthig aus-
zufechien, ohne in irgend einem Punkte nachzugeben. Unsere Feinde werden zuletzt
einsehen, daß es ihnen nichts helfen wird, Ereignisse der Art abzuwarten, und
daß Schweden stets wohl gerüstet sein wird, ohne durch irgend welchen Zufall
sich erschüttern zu lassen." Aber er fügt hinzu: „Könnte ich nur noch lange
genug leben, um die Angelegenheiten Schwedens wieder glücklich hergestellt zu
sehen! Der Herr wolle Schweden beistehen!"
Dieser „Eiseukvpf" besaß doch ein liebendes Herz. Vielleicht muß man auf
Rechnung der schwedischen Höflichkeit die gewissenhafte Sorgfalt setzen, mit welcher
Karl Xll, seine beiden Schwestern (wir haben auch seiue Briefe an die ältere
Schwester Hedwig Sophie) an Neujahrs- und Geburtstagen beglückwünscht, so
wie die unzähligen Grußformeln und Komplimente, die in dieser Correspondenz
überraschen. Man wird aber wenigstens eingestehen, daß Karl Xll. hierin den
Regeln einer Erziehung trenblieb, von der Voltaire mit Unrecht behauptet, sie
sei vernachlässigt worden. Karl XII. war sehr unterrichtet, wir haben von ihm
eine topographische Karte des Mälarsees und der anstoßenden Gewässer, eine
kurze Physik und eine Abhandlung über Physiologie und Psychologie; er war
überdies sehr geschickt im Schachspiel und in den mathematischen Wissenschaften,
und in seiner Gefangenschaft zu Bender lernte er das Hebräische. Karl XU.
war daher ernster Geistesarbeit fähig und Rohheit bewies er nur gege» sich selbst
und im Kriege. Seine Briefe an Ulrike Eleonore lassen übrigens noch andere
Gefühle in ihm erkennen, als bloße Höflichkeit. Sie enthalten mehre feinere
Züge, z. B. wenn er der Prinzessin sanft vorwirft, daß sie ihn nicht einfach Bruder
nennt und sich gegen ihn ceremoniöser Formeln bedient, oder wenn er den Tod
zweier liebenswürdiger Personen des Hofes erfährt. „Ich bedaure die gute
Margarete Wrangel, schreibt er. Es wäre schön gewesen, wenn sie noch etwas
länger hätte leben können, sie war sanft und stets zufrieden. Seit Graf Thor
und sie gestorben sind, ist gewiß weit weniger Freude in der Welt."^ Welche
Zärtlichkeit des Herzens aber und welcher Ausdruck eines tiefen Schmerzes, wenn
er von dem Tode seines Schwagers spricht. „Du wirst jetzt so gut als ich das
große und schreckliche Unglück erfahren, welches durch den Tod unseres Schwagers,
des Herzogs von Holstein, uns betroffen hat. Dieses Unglück hat alle unsere
Freude in Trauer- verwandelt, aber wir müssen uns in den Willen des Allerhöchsten
fügen. Er wird uns kein schwereres Kreuz auferlegen, als wir mit Seinem
göttlichen Beistande werden ertragen können." Noch beredter ist sein Schmerz,
als er den Tod seiner besonders von ihm geliebten älteren Schwester, Hedwig
Sophie, vernimmt. Nur die Gewißheit, schreibt er, noch seine jüngere Schwester
am Lebe» zu finden, verleihe ihm Muth, ein Unglück zu tragen, das er niemals
geglaubt haben würde, überleben zu können. „Ich würde gern tausend Schmerzen
mich unterworfen haben, um wenigstens die Freude zu haben, zuerst von uns
Dreien zu sterben, ich hoffe jedoch, daß ich nicht so unglücklich sein werde, der
letzte zu sei», und daß der Herr, wenn die Zeit' gekommen sein wird, mir
gestatten werde, unmittelbar Ihr zu folgen, die wir jetzt beweinen. Dieses
Vorrecht kommt mir vermöge der Erstgeburt zu und meine liebe Schwester wird
mich gewiß nicht um dasselbe beneiden."
Wir sehen hier den Charakter Karls XII. in einem ganz andern Lichte, als
wir ihn bisher kannten und Voltaire ihn dargestellt hat. Außer deu 2i erwähnten
Briefe» theilt Herr Gcffroy uoch einen französischen Brief des Schwedenkönigs
an Ludwig XIV. mit, der Ende 1714 geschrieben ist und zeigt, daß Karl XII.
kaum nach Stralsund zurückgekehrt und den Gefahren seiner hartnäckigen Kriege
entronnen, sofort wieder daran denkt, im Einverständnis; mit dem König von
Frankreich die Feindseligkeite» in Europa wieder zu beginnen. Zum Schluß
seines Berichtes macht Gessroy noch auf die bedeutenden Ergebnisse aufmerksam,
die von wissenschaftlichen Forschungen in Schweden zu erwarten seien. Es befinden
sich in den Staats- und Provinzial-Archiven Schwedens Briefe der, französischen
Könige und Gesandten, geheime Verträge, Unterhandlungen mit den nordischen
Reichen, mit denen sich Frankreich namentlich in der Periode von 1680 bis 1730
ans das engste verbündete, um de» contiuentalen Bündnissen und den drohenden
Fortschritten Rußlands und Englands das Gegengewicht zu halten. Wir bemerke»,
daß eine noch größere Musbeute die schwedischen Archive für die deutsche Ge¬
schichte gewähren würden, da die Schweden im 30jährigen Kriege die wichtigste»
Urkunden und Documente aus de» deutsche» Archiven u»d Bibliotheken entnom-
men und namentlich nach Upsala gebracht haben.
Leipzig. Verlag von Breitkopf und Härtel. 18S0— 18S2.
Das erste Heft dieser vor den meisten ähnlichen Unternehmungen in jeder
Beziehung hervorragenden Sammlung erschien im Jahre 18S0 dnrch folgende
Ankündigung eingeleitet: /
„Diese Sammlung soll die Bildnisse der großen Männer vorführen, welche
seit dem Aufschwunge des deutscheu Geistes im vorigen Jahrhunderte die Vor¬
bilder der Nation gewesen find, auf ihre Bildung bestimmend eingewirkt, ihr vor-
nämlich in Kunst und Wissenschaft voraugelenchtet haben: die Bildnisse der Män¬
ner, welche als die geistigen Häupter des deutschen Volkes anerkannt find."
„Nachdem schon manche andere Sammlung versucht worden, geht die Ab¬
sicht der gegenwärtigen entschieden dahin, für jedes Bild das beste erreichbare
Original zu benutzen und dasselbe von echter Künstlerhand dnrch den Grabstichel
ausgeführt wiederzugeben, wie das bei der Mehrzahl dieser Bildnisse, mindestens
in Sammelwerken, bis jetzt noch nicht geschehen ist."
,,Um den Umfang des Werkes anzudeuten, bezeichnen wir, ohne demselben
im voraus feste Grenzen setzen zu wollen, vorläufig die Namen Lessing, Göthe
Winkelmann, I. S, Bach, Händel, Gluck, Klopstock, Herder, Wie¬
land, Schiller, Kant, Fichte, Schelling, Hegel, Schleiermacher,
Mozart, Haydn, Beethoven, Jean Paul, Blumenbach, A. v. Hum¬
boldt, W. v. Humboldt, Niebuhr, Tieck, Uhland, Rückert, I. Grimm,
Schinkel, Cornelius, als solche, welche darin erscheinen machten, wenn es
einerseits möglich wird, überall geeignete Originale zu erreichen, und andrerseits,
das Publicum dem Unternehmen hinreichende Theilnahme zuwendet."
Seitdem find in vier Lieferungen zwölf Blätter (Lessing, Göthe, Winkel-
mcinn, Wieland, Herder, Bach, Händel, Jean Paul, Schelling,
Klopstock, Mozart, Fichte) erschienen, und es ist mithin möglich, nicht allein
über die Intention, sondern auch die Ausführung des Unternehmens ein Urtheil
zu fällen. Wir erhalten hier — um von der äußeren Erscheinung auszugehen —
eine Reihe von sorgfältig ausgeführten Blättern, welche als Kunstwerke im Ge¬
biet des Kupferstiches selbstständigen Werth in Anspruch zu nehmen berechtigt
sind. Als Kupferstiche darf man sie bezeichnen, obwol sie in Stahl gestochen
sind; denn es ist nicht die gewöhnliche Technik des Stahlstichs angewendet, welche
meist nnr Härte ohne Kraft und Weichlichkeit ohne Zartheit erreicht, sondern die
dem Kupferstich eigenthümliche BeHandlungsweise ist mit der vollen Wirkung des¬
selben beibehalten worden. Die überwiegende Mehrzahl ist von L. Sichling
gestochen, dessen vortreffliche Leistungen grade auf diesem Gebiete ihm bereits
einen so wohlverdienten Ruf erworben haben, daß seine Mitwirkung einem sol¬
chen Unternehmen schon als Empfehlung dient; einzelne Platten find auch von
Fr. Wagner (Wieland), Ad. Schleich (Jean Paul) und A. Schultheis
(Schelling und Fichte) geliefert worden, 'welche jenen nicht nachstehen.
Unabhängig von dem künstlerischen Werth, welcher den einzelnen Blättern
zukommt, ist natürlich der verschiedenartige Eindruck, welchen sie als Porträts
machen, und hier kommt es zunächst aus die Vorlage für den Kupferstecher an.
Originalbilder zu schaffen, deren Treue und Aehnlichkeit beglaubigt ist, welche
dnrch ihre Auffassung und Behandlung theils an sich ansprechen, theils geeignet
sind, im Stich wiedergegeben.zu werden, ist eine schwierigere Aufgabe als man¬
cher denken mag, und in gar manchen Fällen ist es nicht weiter zu bringen, als
daß man sich mit dem relativ besten begnüge. Auch Nachforschungen in dieser
Richtung geben unerfreuliche Resultate über die Entwickelung der bildenden Kunst
in Deutschland, die sich von allen Seiten her bestätigen.
Wirst man einen Blick ans die Reihe der Männer, welche vorläufig für diese
Sammluug bestimmt find, wie unglaublich dürftig ist die bildende Kunst vertreten!
Und doch hat dabei weder Unkunde noch Abneigung gewaltet. Die großen Na¬
men unserer Dichter kennt jeder und auch die Beschränkung auf die rechten wird
keinen erheblichen Zweifeln ausgesetzt sein, wo es nicht um einen ästhetischen
Kanon, sondern um die Anerkennung des Factischen sich handelt. Unter den
Männern der Wissenschaft diejenigen auszuwählen, welche unmittelbar die Gesammt-
bildung in einer Weise gefordert haben, daß sie nicht nur im Gedächtniß der
Fachgenossen, sondern auch der Nation fortleben, ist bei der Universalität unserer
Bildung schon schwieriger, da nicht alle so bestimmt hervortreten, wie die Phi¬
losophen: allein hier ist eS die Fülle, welche die Noth macht. Die Namen, welche
die deutsche Musik repräsentiren, weiß jedes Kind — und nun dieses Vacuum in
der bildenden Kunst! Wir können keinen Bildhauer neunen, der durch schöpferische
Originalität in seiner Kunst Bahn gebrochen, und in diesem Sinne eine nationale
Größe erreicht hätte; Cornelius wird sein Platz unter den geistigen Heroen
unserer Nation nicht unbestritten bleiben, und selbst Schinkel, dessen Genia¬
lität sowenig als seine großen Verdienste geleugnet werden sollen, ist nicht in dem
Sinne ein Baumeister der Deutschen, wie unsere Dichter, Philosophen und
Musiker.
So steht es mit der bildenden Kunst Deutschlands seit einem Jahrhundert.
Kein Wunder, daß sich auch die gegen andere Nachtheile immerhin unwichtigere
Erscheinung zeigt, daß wir von den ausgezeichneten Männern der letzten hundert
Jahre so sehr wenig bedeutende Porträts besitzen. Dies macht sich ebenso auf¬
fallend als empfindlich schon bei Göthe geltend. Wir haben in Leipzig bei der
Göthefeier eine Sammlung von Göthebildern in seltener Vollständigkeit beisammen
gesehen, freilich meist nur in Nachbildungen: war auch nnr ein einziges darunter,
welches seine wunderbare Persönlichkeit so wiedergab, daß man wünschen möchte,
sie' in dieser Weise im Gedächtniß der Nation aufbehalten zu wissen? Das Bild,
welches hier zum ersten Male veröffentlicht wird, ist eine vergrößerte Copie nach
dem äußerst detaillirt ausgeführten Miniaturgemälde von L. Sebbers auf
Porzellan, das jetzt in der Bibliothek zu Weimar aufbewahrt wird, und von dem
Göthe am 12. August 1826 an Zelter schrieb: „Ein junger Porzellanmaler ans
Braunschweig hatte mir dnrch Vorzeigen von seinen Arbeiten soviel Vertrauen
und Neigung eingeflößt, daß ich seinen dringenden Wünschen nachgab und ihm
mehre Stunden gewährte. Das Bild ist zu aller Meuschen Zufriedenheit wohl¬
gerathen." Später antwortete dieser, dem es zugeschickt worden war: „Alle wol¬
len es haben, da es so überaus ähnlich ist. An meinen Wänden hängen gegen
zwanzig verschiedene Abbildungen von Dir umher, da dann verglichen und zuletzt
das Scbbersche für das beste angesprochen wird." In der That macht das
Porträt den entschiedenen Eindruck einer individuellen Wahrheit und Treue vor
dem typischen, mitunter carricaturartigen der meisten. Bilder Göthes. Allein es
stellt den Greis dar, und zwar nach einer kaum überstandenen Krankheit, von der
ein Zug des Leidens und der Mattigkeit zurückgeblieben ist. So lieb uns daher
auch dieses Bild ist, so wünschte man ihn doch nicht allein so dargestellt zu sehen,
und es wäre mit Dank anzuerkennen, wenn von Göthe noch ein Bild ans der
Zeit seiner vollen Manneskraft geliefert würde — sofern sich ein geeignetes
Originalbild aufbringen läßt. Das große Gemälde in ganzer Figur, welches
Tischbein in Rom ausführte, von dem Göthe erzählt, und das jetzt im Besitz
des Hrn. v. Rothschild in Frankfurt sich befindet, ist sehr schön und interessant,
und man darf dasselbe nicht nach der durch Stahlstich und Lithographie ver¬
breiteten kleinen Copie beurtheile», allein Costüm nud Umgebung, auf welche die
Wirkung des Gemäldes berechnet ist, bieten eine große Schwierigkeit dar, da>
doch die Vereinigung in eine Sammlung eine gewisse Uebereinstimmung in der
Behandlung der Porträts verlangt.
Eine gewisse Reduction ist allerdings mit dem Porträt Winke'lmauns vor¬
genommen, welches nach dem Gemälde von Marou, dem Schwager Mengs,
gestochen ist, schöner als je vorher. Der befremdliche Eindruck, welche» der Pelz
und besonders das um den Kopf gewundene Tuch hervorbringen, wird dem Ge¬
mälde gegenüber sehr gemildert. Es ist ein Kniestück in Lebensgröße; Winkel¬
mann ist dargestellt wie er, umgeben von Kunstwerken, an seiner Kunstgeschichte
schreibt; durch die gcnreartige Auffassung wird auch seine Haustracht, die uns
auch sonst überliefert ist, der Schlaspelz und das seidene Kopftuch motivirt, und das
weibische Ansehen, welches der bloße Kopf erhalten hat und das zu Mittelmanns
Charakter sowenig paßt, macht sich dort nicht geltend. Uebrigens stimmt ein
von Mengs gemaltes Porträt Winkelmanns, welches von Senff gestochen ist, mit
dem Marvnschen, das in der Weimarschen Bibliothek sich befindet, bis auf einen
gewissen Grad überein, während ein vou Angelika Kaufmann 1764 gemaltes,
dessen Mittelmann selbst lobend erwähnt, und das sich jetzt in der Städelschen
Sammlung in Frankfurt befindet, ganz und gar davon abweicht.
Am wenigsten genügend scheint das Origiualporträt Jean Pauls gewesen
zu sein, dessen Bild ohne Schuld des Kupferstechers etwas Leeres und Flaches
hat; sollte dies Schicksal ein Bild der Sammlung treffen, kann mau immer noch
zufrieden sein, daß eS dieses wär. Auch das Porträt Schellin gs ist nicht ganz
gelungen. Es ist nach einem Oelgemälde Stielers gestochen, welcher meistens,
wie man es gewöhnlich nennt, idealisirt, d. h. den individuellen Charakter ver¬
wischt und zu einer sentimentalen Weichlichkeit abglättet, was grade zu den der¬
ben Gestchtsformen und dem determinirten Ausdruck Schellings gar nicht paßt.
Erwünschter wäre ein Bild Schellings ans seiner früheren Zeit gewesen, wo er
der Nation geistige Impulse gab, die den Geheimerath der Offenbarungsphilo¬
sophie bald vergessen wird, oder viemchr schon vergessen hat. Wie ganz anders
nimmt sich dagegen das Bild Fichtes ans, in dessen großen und edlen Zügen
ein mannhafter Charakter sich ausspricht, dem man die Arbeit des Denkens und
die bewußte Energie des Wollens ansieht! Ohne Zweifel gehört dies Bild, dem
eine lebensgroße Kreidezeichnung von Bury zu Grunde liegt, zu den anziehend¬
sten und interessantesten der Sammlung und ist auch in der Ausführung sehr
gelungen.
Von den großen Dichtern ist Wieland nach Jagemanns Gemälde auf
der Bibliothek in Weimar und Herder nach Graffs Porträt in der Gleimschen
Sammlung in Halberstadt gegeben; eS sind die besten, welche man kennt. Und
hier kann man den Unterschied wahrnehmen, wenn man von den verbreiteten Por¬
träts, die auf dieselben Originale zurückgehen, irgendwelche mit den hier vorlie¬
genden Stichen vergleicht, nicht allein in der Technik des stiess, sondern in der
Charakteristik der Form und der-geistigen Belebung, daß man ein ganz anderes
Bild zu sehen glaubt. Weniger bekannt als jene ist vielleicht das Bild Klop-
stocks, obgleich das Originalgemälde von Incl, das ein Enkel des Dichters
Hr. v. Miethern in Hamburg besitzt, schon früher gestochen worden ist.
Es zeigt den Dichter weniger häßlich, als man ihn sonst zu sehen gewohnt ist;
Ausdruck und Haltung verrathen mehr deu weltlichen Dingen und besonders
der Gesellschaft und den Frauen nicht abgeneigten Mann, wie ihn die gleichzeitigen
Berichte ans Zürich und Hamburg charakterisiren, als den Sänger der Messiade.
Die Krone der Dichterbilder aber ist das von Lessing, nach einem Gemälde
von Graff, das für Breitkopf gemalt, mit welchem Lessing befreundet war, sich
jetzt im Besitz des Dr. Härtel in Leipzig befindet und zum ersten Mal gestochen
ist. Ans dem früheren, allgemein bekannten Porträt nach Tischbein ist Lessing
jünger, lebhafter und feuriger, mit einem Ausdruck von Verwogenheit. Ursprüng¬
lich war er mit einem dreieckigen Hut, keck auf den Kopf gesetzt, dargestellt,
der auf dem Originalbild übermalt wurde, aber auf einer alten Copie noch er¬
halten ist (beide sind jetzt in Berlin); dieser Hut, sowie der rothe Rock, erhöhen
den charakteristischen Ausdruck der stürmische» jugendlichen Vollkraft ungemein.
Das Härtelfche Bild zeigt den gereiften Mann, der sich seiner Herrschaft über
steh und andere bewußt ist. Der unglaublich helle und klare Blick, der scharf
und bestimmt ausgeprägte Mund drücken die höchste Energie des durchgebildeten
Verstandes und Willens ans, und eine wunderbare Mischung von Freundlichkeit
und Ernst, eine gesunde Lebenskraft,- die sich in dem Ganzen ausspreche», geben
die Vorstellung eiuer seltenen und großen Menschennatur, z» der man volles
Vertraue» empfindet.
Gar schön sind auch die Bilder der drei großen Componisten. Händel
ist nach einem Gemälde von Hudson gegeben, welches aus Handels Nachlaß
sich im Besitz von Frl. Dubignon in Halle, der Enkelin einer Schwester Hält^
dets, befindet. .Ihre Schwester, Frau Prof. Senf, besitzt auch ein Oelbild Hän-
dels, das, nicht uninteressant, doch weniger bedeurcnd und muthmaßlich Copie ist.
Ein drittes in England gemaltes Oelbild, im Besitz des Herrn Mendheim in
Berlin, ist lithographirt worden und weicht von dem vorliegenden wesentlich ab;
ein älterer Kupferstich von Matthesous Lebeusbeschreibung uach einem andern
Gemälde ist nicht gut genug ausgeführt um deu Ausschlag geben zu können.
Sehr hervortretend ist-in den englischen Bildern der national englische Charakter,
welcher nicht blos in Aeußerlichkeiten bemerkbar ist, und doch wol zum guten
Theil der Auffassung der Künstler zuzuschreiben ist. Unabhängig davon spricht
sich in den kräftigen Formen und dem Ausdruck des Gesichts der großartige
Charakter Handels als Komponist und als Mensch aus, der Stolz und die
Ueberlegenheit eines Mannes, der in der Welt erfahren, seine Freiheit und
Selbständigkeit im Verkehr mit Sängerinnen und Musikanten, wie mit
Großen und Vornehmen durch imponirende Würde und Kraft geltend zu machen
verstand. Welch einen Gegensatz bietet Bach schon in seiner äußeren Erschei¬
nung dar. Er ist das Bild der bürgerlichen Tüchtigkeit. Ernst und streng sieht
der Meister aus, aber nicht trocken und steif, wie sich mancher den verkörperten
Contrapunkt wol denken mag; in den kleinen, klaren Augen und dem charakteri¬
stischen Munde drückt sich eine eigene Lebhaftigkeit und selbst Schalkhaftigkeit a»S,
die vermuthen läßt, daß der alte Herr in guter Stunde auch zu einem Scherz
wohl aufgelegt war. Aber aus seinem Kreise herauszutreten, sich geltend zu
machen, danach sieht er nicht ans. Der Kupferstich ist nach dem Ongiualgemälde
von Haußmann, in der Thomasschule, gemacht. Ein anderes Oelbild ist in
Berlin in der Bibliothek des Joachimthalschen Gymnasiums und durch Lithogra¬
phie bekannt. Es ist aber nicht nach dem Leben gemalt, sondern von C. F. N.
v. Liszewsky 1772 sür'Kirnberger, der sich auch selbst von ihm malen ließ,
gemacht, offenbar mit der Intention, den großen Künstler der Auffassung der
Gegenwart gemäß darzustellen. Bach im grünen Pelz, ein rothes Tuch locker
um den Hals gewunden, sitzt am Schreibtisch, in der Hand ein Notenblatt mit
der Aufschrift: Lavon triplex u ssx ovo. ps,r 5oK. 8öd. Zack, hinten ist ein
Klavier. Das Gesicht ist lebendig und klar und vou kräftigem Ausdruck, aber es
fehlt die lebendige individuelle Charakteristik, wie sie das Bild der Thomasschule
zeigt. An das Berliner Bild knüpft sich eine Anekdote, die für die Verehrung,
welche die Schüler ihrem Lehrer zollten, so charakteristisch ist, daß man sie wol
erzählen darf.
Kirnberger, an die persönlichen Dienste der Musik liebenden Prinzeß
Amalie, Schwester Friedrichs des Großen, attachirt, wurde deshalb von vor-
nehmen Herren, die ein Interesse für Musik zeigen wollten, vielfach besticht.
Eines Tages fallt einem solchen, nachdem er Kirnberger lange Zeit mit fadem
Geschwätz genirt hatte, was diesen mit Anstand zu ertrage» eine lange Ge¬
wohnheit gelehrt hatte, das Bild Bachs in die Angen. „Was?" sagt er, „der
alte Narr war so eitel sich in einem Sammetpelz malen zu lassen? er, der froh
war, wenn er als Cantor einen ordentlichen Tuchrock ans dem Leibe hatte!"
Das war Kirnberger zuviel; entrüstet sprang er ans und rief seinem Gast zu:
„Will der Schweinehund heraus!" Ganz verblüfft stand der da und begriff nicht,
wem dieser Zornesausbruch gelten solle, bis ihn die wiederholte Aufforderung, die
ein bedeutungsvoller Griff nach dem Stuhl begleitete, veranlaßte, seinen Bestich
abzukürzen. Dieses Beispiel von Verehrung ist nicht vereinzelt. Ein anderer
Schüler Bachs, der Organist Kittel in Erfurt, hatte in seinem Zimmer ein Bild
seines Lehrers, das gewöhnlich verhüllt war, und das er seinen Schülern bei
ausgezeichneten Leistungen zur Belohnung zu zeigen pflegte. So hoch achtete
man damals in der Musik die Schule, so dankbar war mau gegen den, von dem
man gelernt hatte.
Von allen Bildern dieser Sammlung ist das auffallendste, zugleich aber auch
in vieler Beziehung anziehendste, das neu entdeckte und hier zuerst gestochene
Bild Mozarts. Von wenig Künstlern wird eine allgemein giltige Vor¬
stellung in gleichem Maße populär sein, als das bekannte, überall verbreitete
Profil Mozartes ist. Die Frage nach der Beglaubigung ist daher liier sehr am
Ort. Herr C. A. Andre entdeckte und erwarb im Jahr 1859 das Oelgemälde,
nach welchem dieser Stich gemacht ist, in Mainz; es stammt aus der Verlassenschaft
des ehemaligen kurfürstl. HofgeigerS stutzt, und ist von Tischbein gemalt, als
Mozart im Jahr 1790 in Mainz war. Daß es aber wirklich Mozart darstellt
und ihm ähnlich ist, wurde von zwei Männern bezeugt, welche Mozart selbst
uoch gekannt haben, dem Professor Arentz in Mainz und dem ehemaligen Hof¬
organisten Schulz in Mannheim, der sich an Mozart noch sehr wohl von der Zeit
her erinnerte, da dieser im Hause seines Vaters in Mannheim verkehrte. Als
man diesem das Bild zeigte, ohne ihm zu sagen, wen es vorstellen solle, erkannte
er auf der Stelle mit Thränen in den Augen seinen geliebten Mozart. Diese
Zeugnisse lassen keinen Zweifel über die Authenticität des Bildes zu, das in
seiner eigenthümlichen, höchst anziehenden Mischung von Laune und Schwermuth
dem geistigen Wesen Mozarts so wohl entspricht und. uns von diesem eine ungleich
würdigere Vorstellung gibt, als man früher besaß. Das Profil, welches so all¬
gemeine Geltung erlaugt hat, ist einem Wachsmedaillvn von Pasch entnommen,
und so bestimmt auch die Verwandschaft aller darauf begründeten Porträts ist,
so ist doch sast in jedem neuen Stich irgend eine Veränderung vorgenommen und
es ist damit fast wie mit dem Profil Friedrichs des Großen gegangen, das in
jeder Caricatur noch erkennbar ist, die doch von einem ausgeführten Bild
unendlich verschieden ist. In der That ist der Unterschied zwischen einem Profil-
umriß »ut einem ausgeführten Bilde eil kaoo so groß, daß man sich nicht
wundern kann, wenn beim ersten Anblick die Verschiedenheit mehr auffällt, als
die Uebereinstimmung. Leider sind die meisten Bilder Mozarts verschwunden oder
doch verschollen. Ein Oelgemälde, das im Jahre 1780 ansgeführt ist und sich
jetzt im Mozarteum in Salzburg befindet, steht dem neu entdeckten, wenn man
den Unterschied des Alters in Anschlag bringt, mindestens ebenso nahe, als
jenem Profil.
Eine Porträtsammlung, welche mit einer Sorgfalt für die Herbeischaffung
eines als zuverlässig geprüften Materials und einer Liebe und Sachkenntnis hin¬
sichtlich der technischen Ausführung unternommen wird, wie die vorliegende, hat
ans allgemeinen Dank gerechte Ansprüche, und die Ancrkcnrnng einer solchen
Leistung wird sich steigern, je mehr man die dabei zu überwältigenden Schwierig¬
keiten zu würdigen weiß. Diese lassen es auch begreiflich erscheinen, daß seit
geraumer Zeit keine neue Lieferung erschienen ist; daß ein Mangel an Theilnahme
beim Publicum darauf Einfluß haben sollte, ist jdoch bei dem äußerst billigen
Preis (I V» Thlr. sür die Lieferung) nicht zu vermuthen.
Ueberall wo ein gewissenhafter Journalist die Unschuld leiden sieht, ist. es
seiue Pflicht, sich ihrer anzunehmen, »ut Sie werden daher Ihrem Korrespon¬
denten gewiß erlaube», ein paar Worte für die Times einzulegen, die seit Mo¬
naten von rechts und links, in England und ans dem Festland anSgeschimvft nud
angegriffen wird, weil sie das Unglück hat, die orientalische Frage in ihren vielen
Phasen nicht nach den Bedürfnissen einer politischen Partei, sondern nach der
Natur der Verhältnisse zu betrachten. , Sie hat zuviel Verstand und ruhiges
Urtheil, um glaube» zu können, daß die Türkei mit eignen Kräften Rußland
auf die Länge Widerstand leiste» könnte, und wen» sie dies heute sagt, so schilt
man sie russisch; sie hat zuviel politischen Sinn, um die große Gefahr, die in
dem stegreichen Vorschreiten Rußlands gegen Konstantinopel für ganz Europa
liegt, zu verkennen, und zuviel Unabhängigkeitsgefühl, um den Machtsprüchen der
russischen Diplomatie stumm Beifall zuzunicken, und da sie dies gestern gesagt
hat, nenut man sie inconsequent, weil viele Leute nicht begreifen können, daß
man Antirusse sein kann, ohne für die Türken zu schwärmen. Außerdem ist sie
noch der Meinung, daß die Türkei, da sie den Andrang der russischen Macht
nicht durch eigne Kräfte aufhalten kann, sondern für die Fortdauer ihrer Existenz
auf die Unterstützung anderer Mächte angewiesen ist, ihre Politik nach den I»-
teressen und Bedürfnissen dieser Mächte einrichten muß, und diese gcinz selbst¬
verständliche Forderung findet man naiverweise höchst perfid. Sie begeht das
große Unrecht, brennende Tagesfragen ohne Illusion zu besprechen, und verdirbt
es daher mit allen Enthusiasten, die in der politischen Debatte immer am lau¬
testen gehört werden. Sie hat allerdings einmal von einer Theilung der Türkei
gesprochen, und spricht heute für ihre Integrität Rußland gegenüber, aber man
kann ihr deshalb nicht den Vorwurf der Inconsequenz mache». Als während
der ersten Anfänge der orientalischen Frage 'Lord Rüssel im Parlament einmal
ungefähr äußerte, er sehe mit Bangen der Zeit entgegen, wo die europäische
Staatskunst steh mit den aus dem Zerfallen des türkischen Reiches entstehenden
Fragen werde beschäftigen müssen, rügte die Times allerdings diese eines
Staatsmannes unwürdige Aeußerung, und zeigte, daß eben weil die gegenwär¬
tige Schwäche der Türkei die Hauptursache der den Friede» und das politische
Gleichgewicht Europas drohenden Gefahr sei, man bei Zeiten darauf denken
müßte, wie man ein Solideres Staatsgebäude an ihre Stelle setze» könnte. Wenn
sie dann für eine nicht sehr entlegene Zukunft die Möglichkeit der Begründung
eines unabhängigen illyrische» Föderativstaaats dedncirt, der freilich ohne den
Sturz der Suprematie der 1 Million Türken über 12 Millionen Nichttürken in
Europa uicht zu deuten ist, so muß es ihr doch unbenommen bleiben, heute, wo
die Gefahr für Europa nicht in der Fortdauer der Herrschaft der Türke», son¬
dern in der unmäßige» Ausdehnung der Macht Rußlands liegt, zuvörderst gegen
letzteres aufzutreten, dessen Ansprüche außerdem alle Grundsätze des Völkerrechts
auf den Kopf stellen.
Vor einigen Tagen brachte die Times einige Betrachtungen über die mili¬
tärische Lage Rußlands, im Fall das schwarze Meer von einer feindlichen Flotte
beherrscht würde, und kommt zu dem Schluß, daß diese Thatsache doch entschei¬
dender auf den Ausgang des Krieges wirken würde, als man russtscherseits zu¬
geben will. Allerdings ist der Ausfuhrhandel des südlichen Rußlands hauptsäch¬
lich in ausländischen Händen, aber unter seiner Stockung würden weniger die den
Austausch vermittelnden Handelshäuser, als die Producenten leiden, d. h. die
ganze ländliche Bevölkerung in dem ungeheuern Bassin ,des Dniester, Bug und
Dnieper, die ganz von dem Getreideabsatz im Auslande abhängt. Odessa wäre
eine leichte Beute des Feindes, Sebastvpol könnte wenigstens blockirt werden, das
Arsenal Nikolajeff, die Werfte zu Cherson, deren Befestigungen im Vertraue» auf
die Sperre der Dardanellen sehr vernachlässigt sind, wären jedem Augriffe aus¬
gesetzt. Die Krim ist fast vertheidigungslos, und die zum Entsatz geschickten
Truppen müssen erst weite Steppen durcheilen; die Städte am asowsche» Meere
sind blos durch die schwierige und enge Einfahrt geschützt. Die ganze Ostküste
des schwarzen Meeres ist nur durch eine Reihe kleiner Forts gedeckt, u»d wird
im Rücken beständig von den Tscherkessen bedroht. So kann ein Flotte von Dampfern,
die den Bosporus zur Operationsbasis hat, in 3 — 8 Tcigen auf jedem beliebi¬
gen Punkte einer Küstenlinie von 2000 englischen Meilen Länge mit weit über¬
legener Macht erscheinen, und so dnrch beständige Bedrohung der Südgrenze des
Reiches die an der Donau verwendbaren russischen Streitkräfte schwächen.
Eines der Hauptleiter Irlands war von jeher ein tiefverschuldetcr Gruudbe-
sttzerstaud, dem es an dem nöthigen Capital zum rationellen Bewirthschaften seiner
großen Güter fehlte, dem es aber der Zustand der Gesetzgebung unmöglich machte-
sich ihrer Besitzungen zu entäußern, denn die Veräußerung eines Grundstückes ist
nach englischem Rechtsbrauch riue ebenso langwierige wie kostspielige Sache, da
der legale Besitz stets vollständig bis 60 Jahre' rückwärts nachgewiesen werden
muß. Um diesem Uebelstand abzuhelfen, wurde 1849 in Dublin „der Gerichtshof
zum Verkauf verschuldeter Grundstücke" errichtet, der auf Antrag ein summarisches
Verkanfsverfahren eintreten lassen, und einen vollständigen, alle andern Urkunden
ersetzenden Besitztitel aufstellen kann. Seine Wirksamkeit ist in den nun abgelau¬
fenen 4 Jahren höchst segensreich und ausgedehnt gewesen. Vom 2-1. Oel. -1849
bis zum 2-1. Oct. -1833 sind S809 Grundstücke fjir -10^2 Mill. Pfd. verkauft
worden, -1600 Kisten Besttzurkunden, zusammen über -100,000 Documente, sind
überflüssig geworden, und. 974 Canzleigerichtsprocesse, von deuen 9 mehr .als L0,
-10 mehr als 40, 39 mehr als 30, -17 mehr als 20 Jahre schwebten, haben durch
deu summarischen Verkauf ein vorzeitiges Ende gefunden. Unter den 4-124 Käufern
find übrigens nur -I8-I Engländer und Schotten, so daß die Befürchtung, der ein¬
heimische Grundbesitzer werde durch die reicheren Nachbarn ganz verdrängt werden,
sich nicht bewährt h,at. Das Einkommen des ehemaligen Besitzers ist allerdings
manchmal ans das Zehntel des früheren nomineller Betrages gesunken, aber er
hat den Hypvthekengläubigern keine Zinsen mehr zu bezahlen, und erhält seine
Zinsen regelmäßig von der Bank, während er früher die säumigen Pächter nicht
mahnen durfte, wenn er sich nicht der Gefahr aussetzen wollte, niedergeschossen zu
werden, und die jetzigen Besitzer sind aus Mangel an Capital nicht mehr ge¬
zwungen, die Pächter bis auf das Blut zu drücken, um einen Nettoertrag zu er¬
zielen. Es ist der Anfang eines bessern socialen Zustandes Irlands.
Die Eröffnungsrede >der Kammern gehört zwar schon nicht mehr zu den
politischen Neuigkeiten; trotzdem müssen wir daraus zurückkommen. Der Schluß
derselben, welcher die orientalische Frage betrifft, hat im In- und Auslande ein
gewisses Aufsehen erregt und ist fast durchgängig in einem der Politik Rußlands
ungünstigen Sinne commentirt worden. Obschon wir dieser Anschauung nicht
entgegentreten, so scheint es uns doch, als ob man vorschnell Hoffnungen daran
geknüpft hat, deren Erfüllung zum mindesten zweifelhaft ist. Sicher drücken die
von Herrn v. Manteuffel gesprochenen Worte die Abneigung ans, sich in dem
russisch-türkischen Streite für eine bestimmte Partei zu erkläre». Diese neutrale
Haltung ist keineswegs den Wünschen des Cabinets von Se. Petersburg und den
Forderungen entsprechend, die der Zar bei seinem Besuch in Berlin an die preu¬
ßische Regierung richtete. Sie erfüllt aber auch andererseits die Ansprüche nicht,
die im Interesse des europäischen Friedens und im Interesse Preußens selbst an
die Politik des letztern gestellt werden können. Und wenn die Dinge bis zu einem
Aeußersten kommen sollten, wo Neutralität nicht mehr möglich ist, glaubt man
wirklich in dieser ganz unbestimmten Erklärung die Bürgschaft zu finde», Preußen
werde sich nicht auf die Seite Rußlands stellen? Es ist wol kaum möglich, den
Lehren einer nahen Vergangenheit gegenüber, sich solchen Illusionen zu überlassen.
Die Präsidentenwahl ist so ausgefallen, wie wir es vermutheten. Graf
Schwerin hat seine geringe Mehrheit den Stimmen einiger Konservativen zu
danken, welche die Kreuzzeitung fortan mit Gänsefüßchen schreiben wird. Die¬
selben Stimmen machten Herrn von Bethmann-Hollweg zum zweiten Vicepräsi-
denten, während, ihr Ausfall Herrn Reichensperger bei der Wahl des ersten
Vicepräsidenten gegen Herrn von Engelmann scheitern ließ. Auch die Wahlen der
Vorsitzenden und Secretäre der Abtheilungen, sowie die der verschiedenen Com¬
missionen beweisen, daß die drei Fractionen der Opposition (die Constitutionellen,
Bethmann-Hollwegianer und Katholischen) den Fractionen der Rechten an Zahl
nachstehen. Noch fehlen fast 80 Mitglieder der zweiten Kammer. Es wäre mög¬
lich, daß bei größerer Vollzähligkeit das Verhältniß sich änderte. Die erste Kam¬
mer ringt noch immer vergebens nach Beschlußfähigkeit, die indeß in diesen Ta¬
gen eintreten dürfte.
Heute fand in der zweiten Kammer die erste scharfe Debatte statt. Den
Anlaß dazu gab die Prüfung der Wahl des Majors von Lüderitz, Abgeordneten
des Gumbinner Kreises. Im vorigen Jahre an Stelle Simsons, der bekannt¬
lich ablehnte, gewählt,.mußte Herr von Lüderitz wegen seiner Beförderung zum
Major sich einer Neuwahl unterwerfen. Hierbei geschah es, daß der Major >
von Plehwe, Commandeur des dortigen Landwehrbataillons, an die Wehrmänner,
die zugleich Wahlmänner waren, Schreiben erließ, in denen dieselben bei
ihrem Fahneneid und mit Hinweisung auf die Kriegsartikel aufgefordert wurden,
dem Major von Lüderitz ihre Stimme zu geben. Herr von Säulen-Julienfclde
brachte ein derartiges Schreiben zur Kenntniß der Kammer, und von der Linken
wurde die Beanstandung der Wahl resp, die Zurückweisung derselben an die be¬
treffende Abtheilung zu neuer Beschlußfassung beantragt. Der Verlauf der ziem¬
lich scharfen Discusston führte die meisten.Häupter der Parteien, die Herren
von Vincke, Wenzel, Gerlach, Stolberg, Bethmann-Hollweg, beide Reichensperger
auf die Rednerbühne, und anch einige nit minorum KsnUum. Unter letzteren
heben wir Herrn von Zedlitz-Neukirch hervor, ein erikant psräu der rechten Seite,
der mit wahrhaft treuherziger Naivetät die Unmöglichkeit der Verfassung und des¬
halb die Verpflichtung und Berechtigung Jedermanns, mit allen möglichen
Mitteln auf das Zustandekommen „guter" Wahlen zu wirken, proclamirte.
Er wurde von den Herren von Vincke und Reichensperger eben nicht glimpflich
abgeführt. Letzterer erklärte, ihm nnr mit dem Strafgesetzbuch in der Hand ant¬
worte» zu können. Erbaulich ist es aber zu wissen, daß Herr von Zedlitz mit
seinen Ansichten über die Verfassung und die Anwendung aller möglichen Mittel
bei deu Wahlen Landrath ist. Bei der Verlesung des Briefes durch Herrn
von Saukett riefen Stimmen auf der rechten Seite „sehr gut". Als aber
dieser Abgevrdue^te hinzufügte, wie man Landwehroffiziere, weil sie für constitu-
tionelle Candidaten gestimmt, in ehrengerichtliche Untersuchung gezogen, wie man
sogar gegen seinen Schwiegersohn, weil er ihm, seinem Schwiegervater, seine
Stimme gegeben, so verfahren, verstummten selbst jene Herren, deren Köpfe we¬
niger bewnndeningswürdig sind, als ihre Stirnen. Schließlich wurde Lüderitz
Wahl mit 143 gegen 128 Stimmen für giltig erklärt. Herr von Bethmann-
Hollweg, der sich sehr bestimmt gegen die stattgehabten Wahlnmtriebc aussprach,
stimmte für die Bestätigung der Wahl, weil die Zahl der dadurch möglicherweise
inflnenzirten Wahlmänner zu gering sei, um bei der großen Mehrheit, die Herrn
von Lüderitz gewählt, in Betracht zu kommen. Selbst einige Abgeordnete der'
Rechten, wie z. B. der Graf von Ziethen, stimmten für die nochmalige Ver¬
weisung an die Abtheilung. Sie werden gelesen haben, daß Camphausen aber¬
mals die Wahl in Köln zur zweiten Kammer abgelehnt hat. Hoffentlich sind
seine Gründe dafür gebieterisch, sonst müßte das Urtheil darüber strenge ausfalle».
— Die Tagespresse der La»der, in welchen die Presse überhaupt einen
Theil der öffentlichen Meinung ausdrückt, hat die Annäherung der. beiden könig¬
lichen Linien von Frankreich vielfach besprochen und in der Majorität die Ansicht
ausgedrückt, daß diese Vereinigung uicht als ein Ereigniß von großer politischer
Wichtigkeit zu betrachte« sei, und daß die größte Wirkuug, welche durch dasselbe
hervorgebracht wird, in dem Aerger liege, den dasselbe der Bvnapartistischen
Partei macht. Sicher hat man auch in Deutschland recht, wenn man diese Ver¬
söhnung als unfruchtbar, ja als schädlich für die politische Zukunft der Orleans
beurtheilt. Wenn einzelne Prinzen dieser Familie es in ihrer gegenwärtigen Ver¬
bannung schwer ertrugen, gegenüber den legitimistischen Mächten Europas in
schiefer Stellung zu sei», und wenn sie kühle Aufnahme an einzelnen Höfen zu
fürchten hatten und selbst die Illegitimität ihrer Präteudentcnstcllnng schmerzlich
empfanden, so war dies vielleicht für sie selber ein Unglück, allerdings ein Unglück,
welches wohl zu ertragen gewesen wäre. Indeß, wenn die Orleans durch diese
Vereinigung nichts Anderes zu erreichen hatten, als sich die Zeit ihres Exils
leichter zu machen, so hätte die Presse kein Recht, etwas dagegen zu sagen.
Wenn sie aber der Ansicht waren, daß durch die Fusion und durch die Unter¬
ordnung unter das Legilimitätsprincip die Aussichten ihrer Familie auf eine Wie¬
derherstellung in Frankreich größer werden würden, so waren sie sicher im Irr¬
thum. Und von diesem Staudpunkte aus halten hier viele Anhänger des Hauses
Orleans, zu denen auch Ihr Korrespondent gehört, die Fusion für unnütz, ja
für schädlich. Denn obgleich schwer zu sagen ist, was die Franzosen in Zukunft
noch thun oder ertragen werden, so ist doch das Unwahrscheinlichste von allem,
daß sie jemals wieder irgend eine Pietät gegen das göttliche Recht der Bour¬
bonen bekommen werden. Dieser Zweig der Familie hat in Frankreich keine
Zukunft mehr. Denn die Erinnerung an die Bourbonen ist bei drei großen
Gewalten Frankreichs, dem Heer, der wohlhabenden Bürgerschaft und der unruhigen
Masse mit keinem einzigen warmen und wohlthuenden Gefühle verbunden; Kälte,
ja Mißtrauen und Abneigung, und was das Schlimmste von allem ist, ein iro¬
nisches Lächeln, sind die herrschenden Stimmungen im Heere, in der Bürgerschaft
und in der Masse. Und auch die vierte mächtige Partei in Frankreich, die kleri¬
kale, hat längst aufgehört, ein zuverlässiger Bundesgenosse der legitimen Macht
zu sein, und bei der klugen Taktik Louis Napoleons ist gar nicht abzusehen, daß
die Kirche jemals ein besonderes Interesse daran haben' könnte, zu Gunsten der
Bourbonen der öffentlichen Meinung zu trotzen. Was aber die Partei des Gra¬
fen von Chambord noch mehr als der gegenwärtige Mangel an Anhängern un¬
möglich macht, ist die in ganz Frankreich verbreitete Ansicht, daß seine Restitution
Wunsch und Plan derselben östlichen Mächte Europas sei, welche die Bourbonen
schon einmal in das «^demüthigte Frankreich mit Waffengewalt eingeführt haben.
Was auch in Frankreich noch geschehen mag, diese Abneigung gegen den Schütz¬
ling des Auslandes wird bleiben.
Dies Odium droht jetzt die Orleans mit zu treffen. Durch die Freundschaft
der legitimistischen Mächte werden sie ihre Wiederherstellung nie durchsetzen. Wenn
eine Zeit kommen sollte, wo die Masse, das Heer und die Classen der Besitzen¬
den sich gegen die Bonapartisten vereinigen sollten, so wird man sich an die
Orleans erinneren, nicht weil stein ihrem Wappen die königlichen Lilien führen,
sondern weil der Bater oder Großvater dnrch den Willen der Nation auf
den Thron gekommen ist, weil unter seiner Negierung ein hoher Grad von gesetz¬
licher Freiheit vorhanden war, und vielleicht weil seine Nachkommen den Ruf
ehrenwerther und tüchtiger Männer genießen. Ja, daß sie den Regierungen des
Auslandes weniger angenehm sind, als die Descendenz der Bourbonen, grade
das würde unter allen Umständen eine Empfehlung für das französische Gemüth
sein. Als Prinzen des französischen Volkes und nicht als Enkel des heiligen
Ludwig wird die Nation sie im Gedächtniß behalten.
Allerdings haben die Orleans nach der Fusion größere Aussicht, daß der
conservative Theil der politischen Intriguanten, welche in Paris die großen po¬
litischen Actiouen mehr vorbereiten, als irgendwo sonst, nicht mehr in zwei ver¬
schiedenen Lagern gegeneinander intriguiren wird. ' Aber dieser Vortheil wird
dadurch mehr als aufgewogen, daß die Anzahl ihrer Anhänger durch die Fusion
selbst geringer und daß sich sowol die Mehrzahl der Legitimisten als Or-
leanisten von jetzt ab kühl gegen sie verhalten wird. Soweit sich Schreiber
dieses ein Urtheil erlauben darf über die Stimmung der großen Classe von Be¬
sitzenden, welche an die Zeit der Orleans bis jetzt mit einer gewissen Zuneigung
zurückdenken, ist der Eindruck, welchen die Annäherung an die Bourbonen gemacht
hat, kein günstiger. Es ist mit Recht bereits hervorgehoben worden, daßmranche
Freunde der Orleans, solche, welche ihr Lebelang gegen die Bourbonen gearbeitet
haben, durch diesen Act verletzt werden, daß viele daraus Veranlassung nehmen
werden, ihren Frieden mit der gegenwärtigen Regierung zu machen. Und doch
scheint grade die gute Meinung der Wohlhabenden in Frankreich die einzige
Aussicht, welche für die Restitution der Orleans geblieben ist. Wenn der Zeit¬
punkt eintreten sollte, wo eine allgemeine Unzufriedenheit mit den Geldoperationen
der gegenwärtigen Regierung, mit dem despotischen Druck des Napoleonischen
Regiments in weiten Kreisen verbreitet wird, wo das Heer durch erfolglose Kriege
oder lange Unthätigkeit kühl, gegen die Nachkommen des Kaisers geworden, dann
muß für Frankreich wieder eine Zeit eintreten, wo der sogenannte dritte Stand,
der die materielle» Interessen der Nation vorzugsweise vertritt, zu größerer Be¬
deutung und Kraft kommt und bei der Wahl eines neuen Souveräns den Aus-
schlag gibt. Dann werden die Orleans erfahren, ob ihnen ihr Eingehen in die
Anschauungen der Faubourg Se. Germain Vortheil gebracht hat. Ihre Politik
mußte jetzt sein, sich in möglicher Zurückgezogenheit zu halten, jede Annäherung
an die Höfe und Principien von Rußland, Oestreich u. s. w. zu vermeiden, sich
bei jeder passenden Gelegenheit als Söhne Frankreichs, als warme Freunde seiner
constitutionellen Staatsformen und sorgsame Wächter der französischen Ehre zu
zeigen. Wie auch das Recht ihres Vaters gewesen war, ihr Anrecht an Frank¬
reich war gut. Unter solchen Umständen wäre es von Wichtigkeit, wenn die
deutsche Fürstin, welche nach Zeitungsberichten im Interesse ihrer Söhne der Fusion
nicht beigetreten ist, dafür Sorge trüge"), daß dieser Umstand mit Sicherheit
bekannt würde. Wenn es wahr ist, daß sie in richtiger Beurtheilung der Ver¬
hältnisse eine solche Vereinigung nicht wünschenswerth erachtet, so würde dies
standhafte Zurückhalten zwar in der Gegenwart durchaus keine Alteration der
öffentlichen Meinung hervorbringen, aber es konnte wol der Tag kommen, wo die
Franzosen sich daran erinnern, daß der Enkel Louis Philipps einem Princip keine
Concessionen gemacht hat, welches, wie man auch sonst darüber urtheilen möge,
jedenfalls nicht mehr französisch ist. In diesem Falle würde die größte Folge der
Fusion die sein, daß sie die europäische Pnblicistik mit einem Wort von sehr
zweifelhaftem Werthe bereichert hat. —
— Denkmale deutscher Baukunst, Bildnerei
und Malerei, von Einführung des Christenthums bis auf die neueste Zeit, heraus¬
gegeben von Ernst Förster, Leipzig, T. O. Weigel. — Man hat in unserer
neuesten Literatur sehr häufig teil Gesichtspunkt des Patriotismus aufgestellt und sich
daran gewöhnt, die Bedeutung eines jeden Kunst- und Litcraturwerks darnach abzu¬
messen, ob es das Nationalgefühl fördert oder nicht. Dieser Gesichtspunkt ist an sich
vollkommen richtig, den» die Förderung des Nationalgefühls hat einen höheren und
bleibenderen Werth, als vorübergehende ästhetische Genüsse, nur hat mau häufig davon
eine falsche Anwendung gemacht, indem man das Interesse der deutschen Schriftsteller
mit dem Interesse des deutschen Volks verwechselte. So hat man es der Kritik häufig
vorgeworfen > daß sie, anstatt die heimischen Producenten zu fördern, die Concurrenz des
Auslandes begünstige und dadurch dem Vaterlande Schaden thue, ganz ähnlich wie die
Schutzzöllner, die fest davon überzeugt sind, die Nation stehe sich gut, wenn der Beutel
der Fabrikanten voll ist. Uns scheint vielmehr, daß bei der Beurtheilung eines jeden
Kunstwerks nicht der Umstand maßgebend sein kann, ob der'Verfasser von Geburt
ein Deutscher iU, sondern ob das Kunstwerk selbst im deutschen Sinn ausgeführt ist.
So wird z. B. niemand darüber zweifelhaft sein, daß die Einführung Shakespeares
in Deutschland das deutsche Nationalgefühl sehr bedeutend gefördert hat, obgleich dieser
Mann ein Britte war, und daß Werner, Müllner. Houwald, um von Clauren und
Kotzebue gar nicht zu reden, dem deutscheu Nationalgefühl sehr geschadet haben, obgleich
sie sammt und sonders Deutsche waren---Wir kennen keine zweckmäßigere und
würdigere Art und Weise, das Nationalgefühl überall rege zu machen, als die sinnliche
Vergegenwärtigung unserer großen Vorzeit, die sich nach keiner Richtung hin so bedeu¬
tend und energisch entfaltet hat, als in der bildenden Kunst. Diese Zeugen unserer
Geschichte siud zwar noch vorhanden, und obgleich sie stumm sind, reden sie für jedes
empfängliche Gemüth eine sehr verständliche Sprache; allein sie sind immer nur für '
einen kleinen Kreis unseres Vaterlandes. Wenn es gelingt, sie alle in einer deutlichen
und anziehenden Uebersicht zu vereinigen, so werden sie ein wirkliches Nationaleigenthum
werden und auch aus die weitere Entwickelung einen segensreichen Einfluß ausüben. —
Einen solchen Zweck hat sich der Herausgeber des vorliegenden Sammelwerks gesetzt,
und es schließt sich unmittelbar dem größern Unternehmen desselben Verlegers an,
welches wir vor einiger Zeit besprochen haben, jener Sammlung von Geschichtswerken
über das deutsche Städtewesen, die deutsche Kunst u. s. w. — Es kam nun zunächst
darauf an, die Ausführung in demselben Sinne zu betreiben, der daS Unternehmen
selbst geleitet hat, und dies ist in einer Weise gelungen, daß jeder Unbefangene, der
Sinn für das selonc hat, in welcher Gestalt es sich auch zeige, seine innige Freude
daran haben wird. — Zunächst bürgt schon der Name des Herausgebers, der sowol
die Zeichnungen als den Text liefert, für die Gründlichkeit und Gewissenhaftigkeit in
der Auswahl der Darstellung. Bereits was in den drei ersten Heften uns vorliegt,
ist von hohem Interesse für die Charakteristik der deutsche» Kunst. Aus dem Gebiete
der Architektur enthalten diese Hefte den Dom zu Speyer, das Kloster Lorsch
und den Dom zu Liniburg an der Lahn; aus dem Gebiete der Bildnern (eine Be¬
zeichnung, die uns beiläufig nicht sehr gefällt) die Kanzelreliefs aus dem Dom zu
Aachen und die goldene Pforte zu Freiberg im Erzgebirge, und aus dem Gebiete der
Malerei das große Gemälde vou Meinung: die sieben Freuden der Maria. — Was aber
den höchsten Preis verdient und was uns den deutsche» Fleiß und das ebenso beschei¬
dene als eindringliche deutsche Kunstgefühl am würdigsten vergegenwärtigt, ist die tech¬
nische Ausführung. Wir machen zunächst auf das letzte Gemälde aufmerksam. Die
Schwierigkeit lag hier darin, daß das Gemälde neben seinem deutlich hervortretenden
Vordergrund eine sehr weite, sehr sorgfältig und zierlich ausgeführte, aber uach Art der
alldeutschen Schule perspectivisch incorrccte Vertiefung hat. Dieses nun durch einen
Stich zu versinnlichen, der sich sehr bescheiden hält und wenig mehr gibt als die Um¬
risse mit nur ganz leiser Schattirung, ist wahrlich kein kleines Unternehmen; es ist aber
auf das Glänzendste erreicht worden. Die Striche des Vordergrundes sind etwas
schärfer und sie schwächen sich nach hinten zu mit so feiner Nuancirung ab, daß wir
an die Perspective glauben müssen, so sehr sie unserer sinnlichen Gewohnheit widerspricht.
Ganz reizend ist die Naivetät und Gemüthlichkeit der alten Figuren wiedergegeben.
Links im, Vordergründe ist der nach dem Beschauer geöffnete Stall, in dem die Jung¬
frau neben der Krippe kniet und den Jesusknaben betrachtet, vor dem Fenster knien
die eben angekommenen Hirte», el» paar wunderbar schöne Gestalten von heiliger Ein¬
falt, rechts »ähert sich die Gruppe der drei Könige. Nun sind aber im Hintergrunde
eine Unzahl von Ereignisse», die sich daraus beziehen, dargestellt, die Empfängniß, die
Verkündigung an die Hirten, der bcthlehemirische Kindermord, die Reise der heiligen
drei Könige u. s. w., alles das mehr durch sinnvolle architektonische Symbolik und
Gruppirung, als in realistischer Nachbildung zusammcugehälte». In jeder dieser Figuren
bis zur kleinsten (und namentlich die Ochsen und die Pferde mit gerechnet) athmet eil,
eigenthümliches freies und vielbewegtes Lebe». Man kann sich an diesem Bilde nicht
satt sehen, denn jeder Blick eröffnet neue Vortrefflichkciten, die man zuerst hintangesetzt
hat. Bis in die kleinsten Züge hinein ist dieses schöne Kunstwerk mit der größten
Sauberkeit und Gewissenhaftigkeit ausgeführt. Der Künstler, der es in Stahl gestochen
hat, ist Petzsch. — Nächst diesem zeichnet sich das landschaftlich vollendete Bild des
Limburger Doms ans, gestochen von Poppel. Der allgemeine charakterische Eindruck
ist geistreich und kühn, und dennoch ist das Einzelne bis auf die kleinen Schattirungen
der Mauer mit einer ängstlichen Gewissenhaftigkeit ausgeführt, die immer mehr in Er¬
staunen setzt, je länger man es betrachtet. — Wir könnten ebensoviel Rühmendes von
den übrigen Stichen sagen, die weniger als Gemälde abgeschlossen sind, da sie zunächst
den Zweck haben, uns-die Verhältnisse genan zu versinnlichen, aber auch hier mit wel¬
cher Liebe und Andacht ist alles Detail ausgeführt! — Der beigegebene Text enthält
zunächst die Beschreibung und Geschichte des Doms zu Speyer mit der bekannten Dar¬
stellungskunst Ernst Försters ausgeführt. Es folgen ' die Kanzelreliefs des Aachner
Doms, die für die christliche Symbolik sehr bedeutend sind. —
Möchte nun dieses mit so großem Verständniß und so großem Aufwand von
Kräften unternommene Werk auch von Seiten des deutschen Publicums die Unter¬
stützung finden, die es in so reichlichem Maße verdient und ohne die es nicht bestehen
kann.
— Im 7. Gewandhausconcerte wurde zur Erinnerung des Kompo¬
nisten Onslow (geboren 1796, gestorben den 3. October -I8S3Z eine Sinfonie (No. 2,
clinoll) aufgeführt. Onslow gehört unter die fruchtbarsten Tonsetzer der jüngst ver¬
gangenen Periode, besonders ist seine Thätigkeit im Fache der Kammermusik eine fast
überreiche gewesen. Lange Zeit genossen alle diese Werke eines ausgezeichneten Rufes,
jetzt gehören sie nnr noch der musikalischen Geschichte an, die zur rechten Zeit ihr Veto
gegen diese Überschätzung eingelegt hat. Onslow gehört unter die Kühlen und Wohl¬
erzogenen, geistige Gedankenblitze springen nicht aus seinen Werken heraus, und wenn
sich solche zeigen, so werden sie gewiß dnrch die strenge Macht der Schule in gewisse
Schränken zurückgewiesen. Daher diese wunderbare Eintönigkeit in seiner Kammermusik,
zum Theil auch in den Orchefterwerken, obwol hier die Färbung der Jnstrumentation
einzelne stärkere Wirkungen erzeugt. Wir begegnen immer gewissen, wiederkehrenden
Redensarten, und so wird es schwer, sich die charakteristischen Unterscheidungsmerkmale
in seinen Quartetten und Quintetten zu merken, denn die stereotyp gewordene Arbeit
überwältigt stets die Hauptmotive. Außerdem ist der Hauptgrundzug der Kompositionen
ein elegischer und die Erhebung zur heitern und freudigen Stimmung erscheint fast
immer unter der Dämpfung dieses vorherrschend niederschlagenden Zugs. Die Auf¬
nahme von Seiten des Publicums war eine ruhige; man nahm das dem todten Künstler
gebrachte Opfer mit der gebührenden Achtung an. — In demselben Concerte spielte
der Weimarsche Concertmeister Laub das große Violinconcert von Beethoven in außer¬
ordentlich schöner und ganz vollendeter Weise.
Hector Berlioz führte im Gewcin,dhause eine Menge seiner Compositionen auf,
denen viele andre in einem eigne» Concerte nachfolgen sollen. Die bis jetzt gegebenen
sind die Flucht aus Egypten, biblische Legende für Tenvrsolo, Chor und Orchester;
3 Sätze aus der Sinfonie Harald in Italien; der junge bretagnische
Schäfer, Romanze für Tenor mit Orchester; die Fee Mad, Scherzo aus der Sin¬
fonie „Romeo und Julia"; Scene aus Faust: Recitativ, Arie des Mephistopheles,
Chor und Tanz der Sylphen; Ouvertüre zum römischen Carneval.
Der Abend war ein interessanter, wenn auch kein durchaus genußreicher und die
wirkliche Ausbeute für den ernsten Musiker bestand wol nur in dem Erfassen einer
Menge neuer und unerhörter Jnstrumcutalwirkuugen, nicht aber in dem Erlernen schöner
und edler Musik. Diese so fremdartigen Motive, diese so neue, sonderbare Durchfüh¬
rung derselben, das geflissentliche Abweichen von der durchdachten, sinnigen und so wohl
begründeten Weise der guten Meister aller musikbefähigtcn Nationen setzt mehr in Ver¬
wunderung, als daß es zur Nacheiferung' reizt. Es ist zuletzt doch nicht möglich,
Melodien zur Geltung zu bringen und als nachahmungswürdig anzupreisen, welche das
Wesen unseres Toulcitersystems als illusorisch Hinstellen, welche den Gesetzen einer auf
die Natur begründeten Rythmik widersprechen, die am Ende alle harmonischen Gesetze
mit einer Willkürlichkeit sich unterordnen, welche einem wohlerzogenen Ohre immer
widerstreben wird. Um alle die Neuerungen dieser Musik zu vertheidigen und einen
gewissen Nimbus um sie zu verbreiten, ist man jetzt geschäftig die alte Fabel von dem
Nichtvcrstandcnscin Beethovens wieder uuter die Leute zu bringen. Diese ist nur halb
wahr, wenigstens erhellt aus dem schriftlichen Zeugnisse der Zeit, in welcher Beethoven
emporwuchs, fast überall das Gegentheil. Man warf ihm nicht mit Unrecht viele
Sonderbarkeiten vor, wie wir auch jetzt noch das Recht haben, uns so zu äußern,
denn viele ästhetische Anschauungen werden zu allen Zeiten dieselben bleiben, aber man
begriff sehr bald den hohen Flug seiner Gedanken, obwol man sich dabei immer zuge¬
stehen mußte, daß es vergeblich sein würde, die Thaten dieses riesigen Genies nach¬
zuahmen. Belege für diese Ansichten finden sich neben vielem andern in den Jahr¬
gängen der musikalischen Zeitung von Breitkopf und Härtel, besonders von dem Jahr¬
gange 1803 an; wir begegnen den Besprechungen aller großem Werke des Meisters
und es läßt sich trotz aller Mühe nicht ein Sätzchen dieser verschönernden Fabel finden.
Es wäre schlimm, wollte ein menschlicher Geist Dinge erfinden, die einem andern
gleichfalls bevorzugten, nicht zu ergründen möglich seien. Das Gegentheil zu denken,
ist absoluter Unsinn. Wir sind jetzt wieder auf dem Punkte, in Beziehung auf Berlioz
mit einer gleichen Fabel mystificirt zu werden. Auch ihn begreisen wir nicht, nur einige
Auserwählte genießen dieses Glück, und merkwürdigerweise grade diejenigen, welche die
Kunst der Musik selbst am wenigsten begriffen und gelernt haben. Berlioz ist in der
That nicht schwer zu verstehen, weil er eben nur mit Handgreiflichen sich abgibt und
dahin gehören nicht nur sein Lärmen und Toben, eine Folge der massenhaften Orche-
stcrausstellungen, sondern die von ihm so oft herausgesuchten Contraste des pp., das
grade für die Masse des Publicums die allerfaßlichste Handgreiflichkeit ist. Ueberall
tritt uns die Absichtlichkeit entgegen, nur selten das Walten des Genius, dessen Schaf¬
fen wir in Ehrfurcht begrüßen, weil uns beider Betrachtung desselben die Ueberzeugung
wird, ein göttlicher Funke, nicht die mühsame Reflexion des Menschenverstandes habe
hier als die erzeugende Kraft gewirkt.
Ein zweites beliebtes Dictum der lobpreisenden Kritik erscheint uns in der aufge-
stellten Meinung, daß Berlioz der Nachfolger Beethovens und im Sinn der neunten
Sinsonie fortgearbeitet habe. Man muß sich hüten, dieses Werk als die Summe
aller künstlerischen Thätigkeit dieses Meisters aufzustellen: die extravagirenden Ansichten
aus „Griepcukcrls Beethovcner" sind längst in ihre Schranken zurückgewiesen, dennoch
aber läßt sich der Satz als unumstößlich hinstellen, daß die neunte Sinfonie bei all ihren
Ausschweifungen als ein so schwuugreiches und klares Werk erscheint, daß die Bcrliozsche
Art und Weise nur als ein Rückschritt betrachtet werden kann, wenn man je eine Vergleichung
der betreffenden Werke zulassen will. Wir sind sogar so kühn zu behaupten, daß
der letzte Satz dieser Sinfonie (Freude schöner Götterfunken) ,in seiner Genesis aus
einer ganz andern Basis ursprünglich gestanden hat, als die drei ersten Justrumental-
sätze dieser Sinfonie, die gewiß auf rein musikalischen Wege sich gestaltet haben, und
daß der Zusammenhang der ganzen Sätze ein mehr zufälliger ist, wieviele Commenta-
toren sich auch bemüht haben, den rothen geistigen Faden herauszufinden. Wie manche
unbedeutende Aeußerung Beethovens mag dazu gedient haben, erklärnngSsüchtige Pro¬
saiker zur Entwickelung ihres Scharfsinns aufzustacheln. Ein Unglück aber hat diese
neunte Sinfonie gewiß erzeugt: die übertriebene Benutzung des reinen Jnstrnmental-
satzes zu gewissen concreten Aufgaben, die sich aus diesem Wege unbedingt nicht lösen
lassen. Wie scheinbare geistreiche Werke auch von den Beethoven-Epigonen in dieser
Beziehung geschaffen sein mögen, so ist doch ihre Existenz nur eine Täuschung, da ohne
weitläufige Kommentare ihr Verständniß dem Zuhörer nicht erschließbar ist, und auch
mit sorgfältiger Benutzung derselben immer noch genug Zweifel zu beseitigen bleiben,
ob diese Art der Auflösung die richtige und deshalb einzig mögliche und erschöpfende
sei. Die bekannten Phrasen der neuesten Kritik haben freilich alle diese Zweifel überwäl¬
tigt und die Siegesgewißheit des neuen Evangeliums vollständig bekräftigt. Aber zie¬
hen wir nur eins der von Berlioz vorgeführten Musikstücke in den Vordergrund: die
Haraldsinsonie und besonders deren ersten Theil „Harald im Gebirge; Scenen des
Trübsinns und der Freude" — so läßt sich schon hier leicht nachweisen, wie die In¬
strumentalmusik die Gebiete überschritten habe, aus denen sie sich vernünftigerweise be¬
wegen kann. Ein Gebirge läßt sich kaum musikalisch malen und wenn zii dem Ge¬
mälde noch die musikalisch berechtigten und ausführbaren Stimmungen der Freude und
der Trauer hinzutreten, so erscheinen sie nicht als Folge des Verweilens in der Land-
schaftl, sondern nur als ein Ausfluß der Seelenstimmung des Harald, die auch an jedem
untern Orte über ihn' kommen konnten. Der Komponist weiß jedoch jede der gegebe¬
nen einzelnen Aeußerlichkeiten zur Herstellung mannigfacher Effecte zu benutzen: der
starre Felsen, die wüste Haide und was sonst alles in den Kreis der Tonmalerei
sich hineinziehen läßt, wird gewissenhaft verwendet — nur schade, daß der zu kurze
Kommentar uns immer an der Klippe des Rathens scheitern läßt. So reiht sich nun
stückweise das verschiedenartigste Material und die ausschweifendsten motivischen 'Gestal¬
tungen aneinander, in einer Logik, die dem Uneingeweihten unbegreiflich bleibt. Be¬
sonders dieser erste Satz ist unklar und unergiebig, die gewiß pikanten Jnflrnmental-
effecte abgerechnet und man kann nur die Dreistigkeit anstaunen', die überhaupt wagte
solche Sätze zu schreiben. Die beiden folgenden Sätze der Sinfonie „der Pilgermarsch
und die Serenade eines Bergbewohners in den Abruzzen an seine Geliebte", geben
klare musikalische Bilder, obwol auch hier die gesuchten Entstellungen oft verletzen und
nur in dem seit Beethoven üblich gewordenen Humor in der Musik ihre Entschuldigung
finden dürfte».
In dem Scherze „Fee Mad" ist die Summe aller musikalischen Kunst des Kom¬
ponisten gegeben; doch können wir im Grunde nichts anderes darin finden, als die ras-
finirteste Ausführung der von Mendelssohn begründeten Elfenmnsik. Der deutsche Ton¬
dichter ist in seiner Bewegung seiner kleinen Geister allerdings schwerfälliger geblieben
(so sagt man uns), und zumal die Webcrschen Elfen des Oberon erscheinen wie schlafende
deutsche Gnomen. Es ist wahr, die Kobolde des Berlioz sind Wesen der neckischsten Art;
sie hüpfen, strampeln, niesen, brummen in verstellten Basse und zirpen in den höchsten
Chorteil so neu, so wunderlich und es ist uns immer zu Muthe gewesen, als ob die
Fee Mal, und ihre kleinen Geister sich in Purzelbäumen überstürzten. Bald schreien
sie hier, bald flüstern sie dort, es ist ein chaotisches Durcheinander, man wird am Ende
schwindlig und freut sich, wenn diese Mosquitoschwärmc ihr Sausen vor den Ohren
unterlassen. Man nimmr'von dem ganzen Stücke nichts weiter mit, als ein einziges
kleines Motiv, das sich wohl anläßt, aber zu schnell sich verläuft, und außerdem eine ganze
Menge kleiner, niedlicher Bruchstücke von eigenthümlichen Jnstrumcntzusammenstellungen,
die jedes einzeln an sich lebhast interessiren. Fragt man nach, dem endlichen Ziele aller
dieser Raffinements, so deuten sie aus nichts Anderes hin, als auf unsere Unproducti-
vität, die wegen Mangels an Gedanken und Motiven sich mit hohlen und leeren'Aus¬
schmückungen und Arabcskenwcsen begnügt. Und dann das arme Volk, welches die
Kunst im neuen demokratischen Staate mit ausbauen helfen soll, wie wenig wird es
davon genießen, und mit welchen Mitteln soll'es alle die nöthigen Instrumente und
Instrumentchen auftreiben, um so hoher Kunstgenüsse theilhaftig zu werden?
Noch ein Jnstrumeutalwcrk führt uns Berlioz vor: Die Ouvertüre zum römischen
Carneval, die ursprünglich als Einleitung zum zweiten Act der Oper Benvenuto Cellini
geschrieben wurde, welche aus dramatischem Wege diese italienische Volksbelustigung dar¬
stellt. Wir wagen nicht an der Berechtigung der Auffassung dieses Musikstücks zu
zweifeln: Volksfeste zeichnen sich durch Lärmen und Schreien und sonstige Disharmo¬
nien aus, und der lebhafte Italiener ergeht sich in diesen Aeußerungen gewiß in po-
tenzirten Maße.
Einen wohlthätigen Eindruck verursachte,: die Gcsangscompositionen: die heilige
Familie und die/Romanze. Die erste ist mit Willen in etwas antiquirten Stile ge¬
halten, hält aber die Stimmung vortrefflich fest und ist mit sehr bescheidenen Mitteln
ausgeführt und einzelnen wirklich bezaubernden Jnstrumentalwirkuugcn ausgeschmückt.
Der Chor ist nach dem Gedichte strophenweise componirt und einfach und würdig; die
Solostimme, nach französischer Art declamirt, klingt uus in ihrem Gesänge fremdartig,
wurde aber durch unseren braven Tenor Schneider gut, sowol musikalisch als dcclama-
torisch, vorgetragen. Die kleine Romanze ist einfach gesungen, wird durch die Orchester-
begleituug aber schwerfälliger, obgleich sie in diesem Gewände bedeutungsvoller erscheint.
Ueber Faust haben die Grenzboten durch andere Feder schon berichtet; wir finden keine
Ursache, das damals gegebene Urtheil zu modificiren.
Die Hofmcistcrsche Musikalienhandlung hat eine Menge Novitäten in der jüngsten
Zeit veröffentlicht und besonders die Klaviermusik in den verschiedenartigsten Branchen
bereichert. Unter den herausgegebenen Unterrichtswerken stehen oben an, sowol wegen
ihres musikalischen Gehalts, ihrer Nützlichkeit und des -in ihnen in jeder Weise vor¬
waltenden guten und ernsten Geschmacks: 2i- Uebungsstücke in allen Tonarten
zur Beförderung des Ausdrucks und der Nuancirung im Pianoforte¬
spiel c>p. 22. In einem Vorworte theilt der Autor mit, daß er diese Uebungen als
eine Fortsetzung und Ergänzung zu Se. Hellers op. 4S. 46. i7 betrachte, die von
dem Schüler unter guter Leitung bald bewältigt würden und denen bis jetzt eine Fort¬
setzung mangele, die zu den größern Ucbungswerkcn vou Moscheles, Chopin, Henselt ze.
überführen könnte. Wir empfehlen aufrichtig diese neuen Zeugnisse des Fleißes und
der Tüchtigkeit des Komponisten. — Ein andres Uebungswerk von Rich. Mulder,
2S canales clz.intanres et IzriIIiml.es, op. 3^, 3 Hefte, deutet schon in seinen Bei¬
wörtern das angestrebte Ziel an. Musikalische Tiefe vermissen wir, im Gegentheil finden
wir in ihnen nur eine Verführung zur Lust an eleganten und unbedeutenden Salon¬
stücken. Sonst ist die Technik des Klaviers sehr geschickt ausgebeutet und ihr praktischer
Nutzen soll von uns nicht angezweifelt werden. — Wir gehen in unsern Anforderungen
noch eine Stufe herunter und finden: ^i>. Vuwi>g->Ili, veole moclorno ein I'umiste, re-
vueil sie 2i moroesux e-iraeteristiciues, op. 100, von denen 6 uns vorliegen: Sou¬
venirs, les Iroubiillollr«, SoliUicle, l.» hervor», ?ourcjuoi je pleure? l-e pspillon,
Welche mit den charakteristischen Beinamen: >Isloäie, Ijulluüe, Koeturne, IZolero Lsprice,
Keverie und Leune ne sutor sich uns vorstellen. Diese Stücke sind in der neuesten
Weise unserer Piauofortevirtuoseu geschrieben; geistig find sie wenig erhaben über die
modernen Charakterstücke dieser Art, aber sie sind vortrefflich instrumentirt und reprä-
sentiren den jetzigen Pariser Salongeschmack, unter dessen Hanpttonangeber Fumagalli
jetzt zu zählen ist. Pianofortespielern, die wegen der Lanne ihres Publicums auf den
Vortrag ähnlicher Compositionen angewiesen sind, empfehlen wir diese Stücke.
Auch ein Stück: le I'ulniier, 1>olKa des lNagots, in ähnlicher Weise geschrieben,
finden wir von demselben Compoiiisten.
Ferner eine Menge Salonsachen von Ch. B. Lysberg: op. 29, deux Nooturnos;
op. 26, l-a IViipaiitiiuii, etucio nie le^credo; op. 31, 8erer»(>o; op. 32, liirun teile;
op. 33, L-irillon, impromptu; op. 3i, I» loriUnno, Iclvllv; op. 33, LoKemienne,
espries; op. 36, Deux Rciveries; alle von kleinem musikalischen Gehalte, aber wohl
instrumentirt und für das Bedürfniß der feinen Welt vollkommen ausreichend. Von
Rich. Mulder noch eine Sammlung Charakterstücke: I.es loisirs ne I» Llrüteleine,
op. jF, die zu unbedeutend sind, um viele Worte darüber zu machen.
—In einem lesenswerthen Artikel: 1'I>o I'rogress
ol ?ietion Sö an ^re ^ietiou bedeutet bei den Engländern fast ausschließlich den Noma»),
den das Octoberheft von Westminstcrreview mittheilt, und in welchem zu unserer großen
Genugthuung W. Scott vollständig auf den Platz gestellt wird, der ihm in der Lite¬
raturgeschichte gebührt, wird das psychologische Raffinement der modernsten Noma-n-
schreiber mit dem Raffinement in den Ereignissen, wie es Anna Ratcliffe anzuwenden
pflegte, in eine sehr glückliche Parallele gebracht: It was etre l'usliion tuon to oonstruet
a storv out ol stranZe i>ne> unnatur»! eircumswnee», it is dirs laskion now to
«litborsls it out ok morbiä leeiings sua over-wrouglit sensilzilities, »nel lites sU
susliions wliieli eoiUrucliel. nuttirs, dotlr must p»Sö inva^. ^Damals war es Mode,
eine Geschichte auf seltsame und unnatürliche Umstände, aufzubauen, heute ist es Mode,
sie aus kranken und überreizten Empfindungen hervorgehen zu lassen: beides muß vorüber
gehen, wie jede Mode, die der Natur widerspricht.) — In dasselbe Gebiet geistvoller
und gerechter Kritik gehört ein Artikel im Novemberheft von ki'r-issrs N-iguiime über
Byron und Shelley, der mit großer Entschiedenheit gegen die unklare>, verschwommene,
weibische Darstellung des' letztem zu Felde zieht, dabei aber doch constatirt, was wir in
dieser Ausdehnung gar nicht geglaubt haben, daß alle Schöngeister von der neuesten
Mode Shelley als den Propheten der modernen Weltanschauung verehren, und ihn in
Bezug ans die poetische Begabung weit über Byron stellen, von einem Philister wie W.
Scott gar nicht zu reden. —
Ein wichtiger Beitrag für die Kenntniß der wälschen Literatur ist die soeben er¬
schienene Sammlung von Hersart de la Villemarqns: I>oöme8 des Kgräc-s bi-ewns
ein sixisms sioele, l.i'Antun.8 p»ur in pi'p.mivrv 1'vis, avec: le lsxtg on regaicl rsvu sur
lo plus imviens w!>nusi!ril8. Der Versasser hat lange Zeit in der Mitte des Volks
der Bretagne gelebt, seine Sprache studirt, seine Sitten, seine überlieferten Lieder und
Denkmale sich angeeignet. Schon früher hatte'er herausgegeben: Kursein-lZi-eil!, Luini8
populäres cle la Lrvl-ligne, wovon 18i6 die j. Ausgabe erschien. Das erste bedeu¬
tende Werk, das über diesen Gegenstand erschien, war die ^rcwiiola^ ol' >Vi>Ich
(180-1 —1807) von Owen Jones de Myvyr, eine dreibändige Sammlung von
Volksliedern aus verschiedenen Zeiten, Chroniken,, Gesetzen, Legenden und Sprichwörtern.
Ein unvollständiges Lexikon der wälschen Sprache war 1794 von Walters heraus¬
gegeben; erst Owen Pughe hatte, kurze Zeit nach dem Erscheinen der ^reliinoloz^,
in dieser Beziehung eine solide Grundlage gelegt. Doch bleibt noch sehr viel Schwan¬
kendes und Unbestimmtes, und auch Herr von Villemarque hat durch Neuerungen in
der Orthographie, die er der gegenwärtigen Aussprache nachbildet, nicht eben dazu bei¬
getragen, eine größere Sicherheit in das interessante Idiom zu bringen. —
Als einen neuen sehr interessanten Beitrag zu den Denkwürdigkeiten des vo¬
rigen' Jahrhunderts erwähnen wir die Rvmuirvs do I» Kuronne et'0 K ar Ki r c K 8ur
la pour cle I^ouis XVI. et la soeiölö trsny»iso av.int 1789, 2 Bd. Fräulein von
Waldner, die spätere Baronin von Oberkirch, war die Tochter eines französischen Ober¬
sten, 173t im Elsaß geboren. Ein günstiges Geschick führte sie bereits in früher Ju¬
gend nicht nur in die höchsten Kreise der Gesellschaft, sondern verschaffte ihr auch die
genaue Bekanntschaft bedeutender Menschen, darunter Göthe, Wieland, Frau von Staöl
Voltaire und Beaumarchais. Auch in das damalige Wundertrciben hat sie sich tief
eingelassen. Ihre Denkwürdigkeiten zeichnen sich durch Klarheit, Präcision und Unbe¬
fangenheit aus. —
Ein Neues Werk von Thakeray wird bei unserm Nomanpublicum gewiß eine
ungewöhnliche Spannung erregen. Wir gehören zwar nicht zu den unbedingten Ver¬
ehrern dieses Dichters, dessen Anlage uus bei allem Talent etwas krankhaft erscheint, indeß
wir haben alle seine bisherigen Leistungen mit großem Interesse verfolgt und erwarten
auch von dem neuen Werke bedeutendes. Dieser'neue Roman hat den Titel: Ibs
llkwoomvs, Nomoil-8 ni » Reise KespscUiKle ki'inrul's. KcMecl ^rUrni- permlennis,
15-^. Uns sind von dem erste» Heft, welches gegenwärtig erschienen ist, mir die Auszüge
die der Literary Gazette zu Gesicht gekommen, aus denen sich freilich über den eigent¬
lichen Inhalt des Buchs noch nicht viel entnehmen läßt. Allein wir möchten schon gegen
den Titel'einige Einwendungen machen. Ein Roman soll doch ein geschlossenes Kunst¬
werk sein, es scheint uns also, daß jene Wiederaufnahme früheren Nomanfiguren in
einer neuen Novelle, wie wir sie außer bei Thakeray namentlich bei Balzac und der
Gräfin Hahn antreffen, nicht zu rechtfertigen ist. Schon in dem gegenwärtigen
Heft tritt außer Arthur Peudennis, der als der Romanschreiber dargestellt wird, noch die
wohlbekannte Gestalt des Capitän Costigan auf; es hängt dos mit der Neigung unseres
Dichters zu größeren Excursen zusammen, die seine unbedingten Verehrer zwar sehr
bewundern, die wir aber mit dem guten Geschmack nicht vereinen können. Auch in den
einzelnen Auszügen, die wir in jenem Blatt finden, ist wenigstens für uns eine ganz
ausgesprochene Manier. — Eine andere Novelle, die soeben erschienen ist, Charles
Auchester, fällt in das deutsche Gebiet. Ihr Gegenstand ist die Musik, der eigentliche
Held'der Novelle, Scraphael genannt, ist eine Verkleidung von Mendelssohn-Bar-
tholdy. Außerdem treten unter anderen noch Hector Berlioz und Jenny Lind ans. —
Ein höchst wunderliches Product des ehemaligen französischen Volksrepräsentanten
Victor Henneguin mit dem Titel: 8»novus le genro Inimsin ist in Brüssel bei Kießling
u. Comp. erschienen. In den einleitenden Briefen spricht der Verfasser, der sich in
Paris aufhält, das dunkle Vorgefühl aus, daß die Leute ihn für verrückt halten wür¬
den. Wir können dieses Vorgefühl nur bestätigen, und zwar sind es grade diese
Briefe, die hier ein entscheidendes Wort mitsprechen möchten. Er schreibt nämlich am
6. August an eine Fran v. Cnrton, der er ein Manuscript vorlesen will: „Gott hat
mir befohlen, Ihnen in dieser seltsamen Form zu schreibe»,, was ich Ihnen vorzulesen
habe, ist eine Offenbarung." Er schildert den Einfluß des göttlichen Wesens noch aus¬
führlicher: „die höhere Macht, von der ich alle für das Beste des Menschengeschlechts
nothwendige Unterweisung empfange, versagt mir jede Art speciellerer Nachweisungen
über diejenigen Dinge, die mich persönlich betreffen. Sie hat mich veranlaßt, dem Ad-
vocatc» Billanlt den einzigen Proceß zurückzuschicken, der mir übertragen war und ihm
zu erklären, daß ich in Gemeinschaft mit dem Erdgeist ein Buch versaßt habe, welches
mir im Verlauf von sieben Tagen von einem Buchhändler für 100,000 Fras. baaren
Geldes ^abgekauft werden würde." Leider vergeht diese Zeit und der leichtsinnige Buch¬
händler kommt nicht. Herr Henucquiu tröstet sich mit einem Gebet. Wir müssen ge¬
stehen, daß wir das Ganze für einen Puff hielten, aber nun folgt ein Brief an keine
geringere Person, als Napoleon III. Er lautet folgendermaßen: „Sire, ich heiße Victor
Hcnncquin; ich war am 2. Dezember -1852 Volksrcpräscntant; ich habe mich Ihrer
Regierung nie unterworfen; ich schreibe Ihnen in der Hoffnung, daß Sie mich bis zu
Ende lesen werden; ich verlange von Ihnen weder eine Stelle, noch einen Orden, noch
Geld, noch irgend eine andere Gunst. Sie haben vom Tischrücken gehört; ich habe
dies Phänomen bis zu seinen äußersten Grenzen entwickelt, und das Tischrücken hat
sich in eine Stimme verwandelt, die mich begeisterte und mir ein ganzes Buch dictirt
hat. Die himmlische Stimme hat mir befohlen, diesem Buch den Titel zu geben: Wir
wollen das Menschengeschlecht retten. Ich spreche zu Ihnen davon aus zwei Grün¬
den, einmal, um von Ihnen zu der ungestörten Veröffentlichung autorisire zu wer¬
den, indem ich durch die Offenbarung Gottes verlange, was Herr Proudhon für
sich selbst verlangt hat; zweitens, weil Gott alle meine politischen Voraussetzungen
umgestürzt hat, weil mein Buch die demokratischen.Principien angreift und die Sache
der Regierungen im allgemeinen.vertritt, trotz des lebhaften Sträubens meiner Na¬
tur, und weil ich Befehl habe, Ihnen persönlich zu sagen, daß Sie eine pro-
videnzielle Mission haben." — DaS Buch beginnt mit Gott und dem Weltall,
und stellt eine Jacobsleiter der verschiedenen Lebenskräfte auf: feste Stoffe, flüssige
Stoffe, luftförmige Stoffe, Elektricität, Galvanismus, Magnetismus, Arome, Pflan-
zcnseelen, Thierscclcu, Menschenseelen und Steruseelen verschiedener Grade. Wir
wollen aufrichtig gestehen, daß wir diese neue Naturphilosophie, die zu gleicher Zeit eine
neue Politik in sich schließt, nicht vollständig gelesen, sondern nur darin geblättert haben,
wir wollen nur auf eine Zaubertasel S. 140 aufmerksam machen, welche folgende Ge¬
genstände in Parallele stellt: 1) die sieben Töne der Tonleiter, 2) die Curve», wo zu
unserem Erstaunen aus den Kreis, die Kegelschnitte und einige andere Linien zuletzt der
Logarithmus folgt, 3) die Farben, i) die Leidenschaften, die man uns aber erlaube
französisch zu geben: -muuu, »mour, lamilisme, amdiUov, oalialislo, x-spillonne, vom-
posile, endlich 3) die Rechte: cuoillöllL, p-Uuie, püulx;, i?I,»8«e. ligno iiUorienro, in-
-jnueiimoo, ont oxlürienr. Zuletzt gibt er eine Art Formel an, aus allen diesen Ge¬
schichten die Wurzel zu ziehen. Aehnliche Zaubertafeln finden sich noch mehr im gan¬
zen Buch und es scheint uns, als ob der wackere Mann durch das merkwürdige Ereig-
niß des A. December und durch eine darauf folgende Gefangenschaft aus der gewöhn¬
lichen Form des menschlichen Denkens vollkommen herausgedrängt sei. —
In demselben Verlage ist eine andere Schrift erschienen, die zwar nicht die Spu¬
ren handgreiflicher Verrücktheit an sich trägt, die aber auch närrisch genug ist. Sie
Wrt folgenden Titel: I?^ng>,Ukrro eontinenUiIe mi it n'z? a ulu8 als manelie. Der
Verfasser ist ein Advocat aus der Provinz, Hr. Billot, dessen Ivln-of frau^ues seiner
Zeit ein gewisses Aufsehen erregten. In der Vorrede giebt er eine Reihe von Buchen
gegen Louis Rcybaud, den geistvollen Verfasser des .Ivrüm« ?iiM'»r, der in seiner
Sittenschilderung der Gegenwart auch die Isttrs8 lranijuss persistirt hqtte. Der Refrain
feiner Schrift ist: Tod den Engländern! Er versichert, daß seine Erfindung nicht
von ihm selber, sondern von einem andern herrühre. Sie besteht darin, eine „Flotten¬
burg" zu errichten, mit der man die sämmtlichen englischen Flotten vernichten könnte.
Durch diese Erfindung soll Frankreich die Herrschaft über alle Meere gewinnen. Man
ist auf die nähere Beschreibung dieser „Flottcnbnrg" neugierig, aber während ein großer
Theil des Buchs aus allerhand sehr verständlichen Bemerkungen besteht, die nicht zur
Sache gehören, bleibt die Beschreibung dieses neuen Wunderwerks sehr unverständlich. Wenn
der Versasser S. 9^ versichert, daß England vor seiner Schrift zittern würde, so muß
England ein klareres Verständniß besitzen, als wir. Denn wir wissen nicht, womit es
eigentlich bedroht wird. Zum Schluß ist eine Widerlegung der Ansichten des Prinzen
von Jouiville über die französische Flotte hinzugefügt. — >
Gedichte. — Sonette von Wilhelm v. Hum¬
boldt. (Berlin, Georg Reimer.) — Es ist sechs Jahre her, als die „Briefe Will), v. Hum¬
boldts an eine Freundin" erschienen. Das Buch hat einen ganz außerordentlichen Erfolg
gehabt, einen Erfolg, der sich aus dem Inhalt nnr theilweise erklären läßt. In dem Ver¬
hältniß zwischen dem alten würdigen Staatsmann und der ebenso bejahrten Dame, die von
ihm Trost und Hilfe erhielt, lag nichts Interessantes und Spannendes, und die Ideen, die
in den Briefe» niedergelegt waren, so wohlthätig auch sie durch die innere Harmonie der
religiösen Empfindung, der moralischen Ueberzeugung und des Verstandes wirken mu߬
ten, waren doch nicht eigentlich neu. Dennoch finden wir den Erfolg gerechtfertigt;
denn in solchen Dingen bringt die Persönlichkeit ein großes Gewicht in die Wagschale.
Wenn ein vielbeschäftigter und an die höchsten Kreise des öffentlichen Lebens gewöhnter
Staatsmann, zugleich ein Gelehrter und Denker vom ersten Range, die kleinen mensch¬
lichen Beziehungen mit so warmer und reicher Liebe pflegt, wenn die Grundsätze seines
Denkens und seines sittlichen Empfindens, die seinem Leben im Ganzen und Großen
zur Richtschnur dienen, auch ii> den persönlichen Verhältnissen, in den Empfindungen
jedes Tages unverändert ihr Recht behaupten, so will das wol etwas Anderes sagen,
als wenn der erste Beste eine gute Freundin durch moralische Betrachtungen erbaut,
mögen diese auch noch so sehr mit dem System der kritischen Philosophie übercinstim-
wen. Der große Erfolg jenes Buchs schreibt sich also nicht lediglich von seinem In¬
halte her, sont'ern von der gerechten Verehrung vor dem großen Manne und dem An¬
theil, den man auch an seinen kleinern persönlichen Verhältnissen nahm. — Mit den
Sonetten wird es ein ganz ähnlicher Fall sein. Seit dem Tode seiner Gemahlin
bis zu einem Monat vor seinem eigenen Tode hat Will), v. Humboldt sast jeden
Tag ein solches Sonett, dictirt. Daß also hier von einem bedeutenden dichterischen
Werthe nicht die Rede sein kann, versteht sich von selbst. Allein auch hier tritt uns
jene Einheit des Empfindens und Denkens entgegen, die Wilh. v. -Humboldt zu einer
der classischesten Erscheinungen unserer Nation machen. ' Bei seiner seltenen Empfäng¬
lichkeit für alles Schöne im Reiche der Natur und des Geistes, die weit entfernt ist
von jenem todten Stoicismus, den man so häufig bei der Kantischen Schule antrifft,
bleibt er in seinem Gemüthe doch immer ganz der, der er ist, der ernste, strenge, sitt¬
liche Mann, und die Sonette sind ein schönes Zeugniß von einer Verbindung jener
Eigenschaften, die in diesem Maß kaum bei einem andern Mann wieder anzutreffen
wäre. So müssen wir sie auffassen, als klare und entsprechende Ausdrücke der Per¬
sönlichkeit, nicht als Kunstwerke. Dann werden wir auch Spuren einer Poesie in
ihnen antreffen, die.darum nicht schlechter ist, weil sie mit keinem abstracten Kunstprin¬
cip zusammenhängt. >— Alexander v. Humboldt hat die Gedichte seines Bruders durch
eine kurze Vorrede eingeführt. Ans dem Titelkupfer schaut uns das wohlgelungene,
geiht- und gemüthvolle, bedeutende Gesicht Wilh. v. Humboldts mit jener stillen, ernsten
Trauer an, die man von dem Gedanken des Alters nur schwer trennen wird und die
doch ein Hauch von dem mächtigen Geist umschwebt, den wir in seinem Leben und in
seinen Schriften antreffen. —
Deutsches Wörterbuch von Jac. Grimm und Will). Grimm. 7. Lieferung,
Belege — Bestrafen. Leipzig, S. Hirzel. 18S3. — Das deutsche Riesenwerk ist mit
dieser Lieferung bis in die Mitte des B vorgedrungen. Das deutsche B ist, obgleich
es nicht den Umfang des anlandenden A hat, doch immer noch Anführer einer großen
Schar von Wörtern. Es ist anzunehmen, daß die nächste Lieferung bis gegen das Ende
seiner Herrschaft führen wird, dann geht es nach einigem Aufenthalt in dem weiten
Flachlande, welchem das junge E vorsteht, schnell vorwärts durch das Gebiet zahl¬
reicher Buchstaben bis tief in die Mitte des Alphabets. Es geziemt der deutschen
Presse von Zeit zu Zeit bei Grimms Lexikon einen lauten Frenderuf auszustoßen über
das, was menschlicher Fleiß bei uns vermag. Die erste Lieferung erschien im Frühjahr
1832, jetzt ist das Jahr 53 noch nicht beendigt und die Brüder Grimm haben also
in wenig mehr als anderthalb Jahren -I Vo Foliobogen oder 8i0 Folioseiten oder 1680
Foliospaltcn von engem Druck erscheinen lassen — und was für Spalte»! und welch
gründliche Arbeit! U»d dies Lexikon war noch nicht das einzige, womit sie sich in den
letzten beiden Jahren beschäftigt haben. ES ist möglich, ja einem genauen Beobachter
der menschlichen Natur wird es wahrscheinlich, daß Jacob. Grimm bei seinen mytholo¬
gischen Studien das Glück gehabt hat, eine alte Zauberformel aufzufinden und dadurch
in Besitz des letzten.deutschen Spiriws lumilii»'i5 oder Heinzelmännchens zu kommen,
welches ihm jetzt das deutsche Wörterbuch und seine übrigen großen Qnellenwerke über
Nacht schreiben muß. Wem diese Annahme gewagt scheinen sollte, der lese die betref¬
fenden Stellen über Hausgeister in Grimms deutscher Mythologie und in den Kinder-
und Hausmärchen nach. Es ist dergleichen schon früher -vorgekommen. Nebenbei sei
noch bemerkt, daß jede neue Lieferung einen größeren Reichthum an ausgezogenen Schrift¬
stellern und größere Virtuosität in der Behandlung der einzelnen Wörter zeigt.
Andersens sämmtliche Werke. Originalausgabe des Verfassers. Leipzig,
Lorck. 7. und 8. Band. — Wir haben das Erscheinen des ö. und 6. Bandes vor
einigen Wochen angezeigt. Mit dem 7. und 8. Band ist um die Gesammtausgabe
geschlossen. Der siebente Band enthält die dramatischen Versuche: eine spanische
Tragödie „Rafaella" und ein romantisches Drama: „Der Mulatte", beide in fünf
Acten und als vollständige Theaterstücke ausgeführt. Die Energie, womit der wahre
Dramatiker die Ereignisse zusammendrängt, um sie zu einer großen Katastrophe zu
führen, und die sich nothwendigerweise auch in der Kraft der Charakteristik gel-
tend machen muß, besitzt Andersen nicht in hohem Grade. Er ist stets geneigt, die
Härte seiner Charaktere durch sentimentale Motive abzuschwächen und die dramatische
Spannung lyrisch zu verflüchtigen. Nebenbei hat er den Fehler, in den sast alle däni¬
schen Dramatiker fallen, daß er leicht aus dem Stil fällt und sich in Genremalerei
verliert. Man merkt es immer heraus, daß man eigentlich eine» Novellisten vor sich
hat. Aber der freie poetische Sinn und die humane Bildung macht sich auch hier gel¬
tend, man wird wenigstens nie durch Rohheiten verletzt, obgleich der Inhalt des zweiten
Stückes, die traurigen Zustände der Negersclaverei, vielfältig dazu Veranlassung gäbe.
— Die drei andern Stücke: „Agnete", „die Glücksblume" und „Ahasverus", machen
keinen Anspruch auf dramatischen Zusammenhang. Es sind phantastische, märchenhafte
Schattenspiele, sehr zart und sinnig ausgeführt, nur ohne rechte Gestalt, eine Erweite¬
rung, aber auch eine Auflösung der alten Romanze. Das schwächste nnter den dreien
ist wol die Behandlung des ewigen Juden, weil Andersen hier ganz aus seiner Sphäre
'heraustritt und auf deutsche Art über das Universum und die überirdische Welt zu
Philosophiren unternimmt. Den Schluß des Bandes machen die lyrischen Gedichte, alle
voll tieser Gemüthlichkeit und warmer Phantasie, einzelne darunter auch in der Form
vollendet. Zum Theil sind sie schon durch unsere Komponisten bei uns so geläufig ge¬
worden, daß man sie mit zur deutschen Literatur rechnen könnte. — Im letzten Bande
finden wir die „Neiseschatten", sehr artige Schilderungen aus Deutschland, ser"'r die
„Reisebeschreibung durch Schweden" und die Selbstbiographie des Dichters, der er den
bezeichnenden Titel, „das Märchen meines Lebens" gegeben hat. Wenn in der letzteren
auch hin und wieder das Wohlgefallen an feiner poetischen Thätigkeit und an der
Freude und Achtung, die ihm die Menschen deswegen bezeugen, zuweilen über die Gren¬
zen des reinen Geschmacks hinausgeht, so spricht sich doch in dem Ganzen eine so
harmlose Natur und ein so liebenswürdiges Gemüth aus, daß man dem Dichter sein
Interesse nicht versagen kann, umsoweniger, da ein solches Wohlgefallen von der Poesie
des Details, der Andersen angehört, durchaus nicht zu trennen ist, da es ihr erst die
Berechtigung gibt. — So.liegt nun diese gefällige und höchst wohlfeile Ausgabe (die
sämmtlichen 8 Bände kosten ö^/, Thlr., da doch jeder Band eine ganz außerordentliche
Masse Stoff enthält) geschlossen vor uns. Sie wird dem Dichter in Deutschland neue
Freunde erwerben, und ein wenn anch bescheidenes, doch sehr heilsames Moment unserer
Literatur bilden, weil der Dichter durchaus daraus ausgeht, den Menschen Freude an
der Welt einzuflößen, während unsere modernste Literatur fast überall das Gegentheil
bezweckt.,—
Bilder aus dem Soldatenleben von Jul. v. Wickede. Stuttgart,
Preußische Husaren-Geschichten von Julius v> Wickede, 2 Thle. Leipzig,
Friedr. Ludw. Hcrbig. 1853. — Die erste der beiden Sammlungen enthält Bilder aus
dem Kriegsleben der letzten Jahre, welche den Lesern der Grenzboten zum großen Theil
in Erinnerung und, wie wir hoffen, in guter sein werden. Wenigstens haben einzelne
davon, welche zu jener Zeit in d. Bl. erschienen, vielfachen und unberechneten Nachdruck
erfahren, bevor sie von dem Verfasser der gegenwärtigen Sammlungen eingereiht wurden.
Der Verfasser, rühmlich bekannt dnrch anderweitige publicistische Thätigkeit, versteht die
Wirklichkeit, soweit sie in den Kreis seiner Interessen fällt, genau und mit guter Laune
zu schildern. In einem bunten Leben, reich an kleinen Abenteuern, hat er sich feste
Ueberzeugungen und eine respectable patriotische Gesinnung wohl zu bewahren gewußt.
Seine einfache und behagliche Darstellung macht seine Schriften vorzugsweise geeignet
zur Volkslectüre. Der letztere Gesichtspunkt scheint für ihn maßgebend gewesen zu sein
bei der Abfassung der Husaren-Geschichten. Er wollte ein Buch schreiben zunächst für
den preußischen Soldaten und wenn eine warme Liebe zu dem preußischen Heer und
dessen Organisation, eine ehrliche Gesinnung und eine genügende Bekanntschaft mit
militärischen Kraftwörtern befähigen, ein solches Buch zu schreiben, so war der Verfasser
sicher dazu geeignet. Ein alter Unteroffizier erzählt darin seinen Husaren seine Erleb¬
nisse und Kriegsthaten, die Campagnen von 1806 und 1807, Schills Versuch, den
Feldzug nach Rußland, die Freiheitskriege. Der Ton ist zuweilen gar zu volksthümlich,
im zweiten Theil aber gelungener, als im ersten, die Begebenheiten sind anschaulich
erzählt, doch wäre etwas mehr historische Kritik dabei nicht von Uebel gewesen. Da
die Gesinnung sehr militärisch und sehr entschieden preußisch ist, so kann das Buch allen
Compagnien, Escadrons und Batterieen unseres Kriegsheeres hierdurch, kameradschaftlichst
empfohlen werden.
Heldenbilder und Sagen von Hermann Rottele. Se. Galle», Scheitlin und
Zollikofer. — Die Gedichte empfehlen sich namentlich dnrch ihre zierliche und correcte
Form, durch den Fluß und die Melodie der Sprache. Im ganzen scheint es uns,
als ob der Dichter sein Talent verkennt, er wählt immer heroische und gewaltige Stoffe,
während er eigentlich für das Gefällige, Anmuthige und Leichte geschaffen wäre. Darum
sind die einfachen,- harmlosen Balladen das Beste und die Weltschmerzgcdichte das
Schwächste in dieser Sammlung. —
Mit dein Anfange des neuen Jahres beginnen die Grenzbote»»
den XHI. Jahrgang. Die unterzeichnete Verlagshandlung erlaubt sich
zur Pränumeration desselben.einzuladen, und bemerkt, daß alle Buch¬
handlungen und Postämter Bestellungen annehmen.
Leipzig, im December 1853.Fr. Ludw. Herbtg.
„Wenn ich Musik von Mozart höre", sagt H. Berlioz im Journal des
Dvbats, „so drückt mich immer ein kleiner Alp, wenn ich aber Musik von H aydn
höre, so drückt mich immer ein großer Alp." Das Uebelbefinden, welches den
Zuhörer der Musik von Berlioz befällt, hat noch keinen Namen erhalten, aus¬
bleiben wird es sicherlich nicht. In der That, da das, was in der Musik jener
Meister uns gewöhnliche Menschen entzückt, Schönheit, Wohllaut, Klarheit, welche
aus der innern Harmonie dessen was sie gewollt, und der Mittel, durch die sie
es erreicht haben, beruhen, — Berlioz so unangenehm berührt, so kann es kaum
anders sein, als daß das unausgesetzte Zerwürfniß zwischen Wollen und Können
in seiner Musik, die beständige Verschwendung eines prätentiösen Apparats äußerer
Mittel bei innerlicher Dürftigkeit, im Zuhörer eine Verstimmung erregen, die je
nach Umständen und Temperament mehr in Unwillen oder in Heiterkeit sich auf¬
lösen kann, aber jedenfalls einen starken Beisatz der langen Weile haben wird,
welche Berlioz höflich genug nur medicinisch benennt. Fragen wir etwas genauer
nach, worauf beruht denn die Größe jener Meister? Vor allem und wesentlich
darauf, daß sie nicht blos künstlerische, sondern musika tisch-künstlerische Naturen
sind, und wie der Dichter poetisch, der Maler malerisch empfindet, ebenso
unmittelbar musikalisch empfinde« und aus dieser ursprünglich musikalischen
Anregung erfinden und schaffen. Sodann ist in ihnen diese Anlage künstlerisch
entwickelt und ausgebildet, so daß die in der Natur und dem Wesen ihrer Kunst
begründeten Gesetze für sie nicht lästige Schranken sind, die man um jeden Preis'
durchbrechen und überspringen müsse, sondern die nothwendigen Bedingungen
künstlerischer Gestaltung; und diese ans der Durchdringung künstlerischer Bega¬
bung und Bildung beruhende Freiheit des künstlerischen Schaffens ist wesentlich
verschieden von der Geschicklichkeit, hergebrachte Formen zu handhaben, welche
nnr am Handwerker oder am Schüler zu loben ist, und die manche Kritiker wohl-
'wollend genng sind, jenen Meistern noch zuzugestehen. Indessen den geschickten
Handwerker muß man achten und aus dem Schüler, kann ein Meister werden,
allein wenn jemand mit der Prätension eines vollendeten Künstlers auftritt, dem
es am Ersten und Besten fehlt, so ist es Pflicht, über ihn die volle Wahrheit
ohne Rückhalt zu sagen. Berlioz ist aber wirklich der vollständige Gegensatz
jener Meister die ihn langweilen, und, vor allem dnrch seinen Mangel ursprünglich
musikalischer Productionskraft. Er ist ein geistreicher, ein gebildeter Mann, 'Has
weiß jeder, der uur eins seiner Feuilletons gelesen hat, so gut als er selbst es
weiß, er hat auch über Musik treffende Gedanken und Einfälle, aber von da ist
es noch weit zum musikalischen Schaffe». Dieses ist bei ihm nicht ursprünglich
und unmittelbar, sondern stets secundär. Er hat die bewußte Absicht, seiner Musik
einen bestimmten gedankemnäßigen Inhalt zu geben, erst wenn er diesen durch
Reflexion vollständig präparirt hat, sucht er den musikalischen Ausdruck dafür;
seine Intentionen sind vollkommen selbstständig ausgebildet, ehe sie eine musikalische
Gestalt bekommen; er schafft also nicht Musik als solche, aus einer innern Noth¬
wendigkeit, sondern er setzt seine Gedanken und Einfälle, anstatt sie zu einer
Novelle oder einem Feuilletonartikcl zu verarbeiten, nachträglich in Musik. Die
Aufgabe des Zuhörers wird es- dann, uicht Musik zu genießen und auf sich wirken
zu lassen, sondern fortwährend zu errathen, was der Componist sich bei der Musik
gedacht haben möge. In dem richtigen Gefühl, daß das rein Gedcyikenmäßige
darzustellen doch nicht eigentlich Sache der Musik sei, sucht Berlioz den Zuhörer
dnrch Prologe und Programme auf die richtige Fährte zu bringen, und mancher,
der sich sonst bei Musik nichts zu deuten weiß und doch Anstands halber ins Con¬
cert geht, vergnügt sich an diesem M ä'vsprit und ist froh, wenn er dnrch einen
kräftigen Beckenschlag, ein knarrendes Fagott oder sonst eine instrumentale Ab¬
sonderlichkeit erinnert wird, daß er hier auch etwas Absonderliches zu denken
habe. Das nennt man dann gern geistreiche Musik, da doch ein gutes Theil
dieses Lobes auf den Zuhörer zurückfällt, und meist um so lieber, je weniger der
Loder auf eigene Hand und ohne Musikbegleitung geistreich zu sein pflegt. Das
fällt freilich den meisten, die mit diesem Lob so freigebig sind, nicht ein, daß
wenn der Komponist anch wirklich vor und neben seiner Komposition geistreiche
Gedanken hat, diese Musik darum.das Prädicat uoch nicht verdient, sondern nur
dann, wenn er in der Behandlung des rein Musikalischen, in Erfindung und
Technik, sich als geistreichen Künstler zeigt, was nicht so leicht zu beurtheilen sein
dürfte. Um die Nebengedanken aber, soweit sie etwas werth sind, ist es nur
Schade, wenn sie in Musik gesetzt sind, denn das fortdauernde Geräusch läßt doch
kein rechtes Nachdenken aufkommen.
Es liegt in der Natur der Sache, daß Idee», die nicht ursprünglich und
naturgemäß erzeugt siud, auch nicht wie durch ein natürliches Wachsthum orga¬
nisch entwickelt und ausgebildet werden können, derselbe Zwang muß sich auch in
der Formgebung zeigen. Wenn Berlioz eine Abneigung gegen die fugirte und
imitatorische Schreibart hat, so wird man sich freilich wundern, daß ein den-
tenter Künstler in der Strenge dieser Form nur das Beschränkende wahrnimmt
und nicht erkennt, das; die moderne Musik, soweit sie organisch gestaltet ist, auch
in ihrer freiesten Entwickelung, ans jenem Princip beruht, das man nicht ver¬
werfen kann ohne auch seine Consequenzen zu verwerfen — allein da es nicht
die einzig nothwendige Form musikalischer Production ist, so kann man diese
Einseitigkeit hingehen lassen, wenn man von anderer Seite dafür entschädigt wird.
Aber bedenklich wird es, wenn man, wo diese Formen dennoch angewandt sind,
gewahr wird, daß der üble Erfolg die Wirkung der Ungeschicklichkeit ist, mit der
sie behandelt werden. Es ist eine schlimme Sache mit den Dingen, die gründlich
erlernt und geübt sein wollen; wenn dies versäumt ist, können weder Geist noch
Genie sie für den Augenblick erzwingen. Ich rede,jetzt nicht von dem unglück-
lichen Einfall, die Fuge als Mittel der Ironie und Satire zu gebrauchen, wie
im Faust; die Einleitung zur Flucht nach Ac.gypten prätendirt fugirtcn Stil.
Man darf bei dem künstlerischen Rigorismus, welchen Berlioz proclamirt, nicht
voraussetzen, daß dies eine Concession gegen die im Publicum herrschende Vor¬
stellung von Kirchenmusik sei, ebensowenig kann hier von einer historischen oder
localen Färbung die Rede sein, da die Scene in Palästina im Jahre 1 nach
Christi Geburt ist; sondern Berlioz muß einen fugirten Justrnmeutalsatz für den
angemessensten Ausdruck der einfachen religiösen Stimmung gehalten haben,' welche
sich in deu darauf folgenden Textesworten bestimmter ausspricht. Wir hören auch
ein Thema, dem niam nichts anhört als die Bestimmung fugirt zu werden, dann
die üblichen Eintritte, zu unserer Verwunderung schließt die Periode sogar mit
dem ehemals landüblichen Triller, den man schon als altmodisch zu betrachten ge¬
wohnt war. Wer nun nach dieser formellen Ankündigung eine Durchführung
erwartet, in welcher sich nicht nur der gründliche, sondern anch der geistreiche
Musiker bewähren tarw, der wird getäuscht. Zunächst wird derselbe Satz von
den Blasinstrnmenten wiederholt, dann wird ein neuer Ansatz mit dem Thema
gemacht, der zu nichts führt/ noch einer, der sich im Sande verläuft — die
Ouvertüre ist aus. Mir fiel dabei die Geschichte vou dem Lehrer ein, der seinen
Schülern einen logischen Satz klar macheu wollte.,.'„Delikt euch ein großes Haus
und daneben einen großen Baum — nein, so geht es nicht! — denkt euch ein
kleines Haus und daneben einen kleinen Baum — nein, so geht es auch nicht! —
denkt euch eine Hütte und daneben einen Busch — nein, es geht gar nicht!"
So ist es auch mit der Fuge: es geht gar nicht. Und es muß wohl seinen
Grund haben, daß so oft die als geistreich gepriesenen Componisten, wenn sie
sich zum fugirten Stil herablassen, so gar trivial und geistlos werden.
Berlioz ist aber, wenn auch kein. Freund des fngirten Stils', doch dem cou-
trapunktischen entschieden zugethan. Das Wesen der cvntrapunktischen Schreibart
besteht, um es kurz anzugeben, bekanntlich darin, daß verschiedene Melodien zu¬
gleich selbstständig fortgeführt und zu einem harmonischen Ganzen vereinigt wer-
den, was in den verschiedensten Formen geschehen kann und bei strengster Ge¬
setzmäßigkeit die größte Freiheit zuläßt. ' Bon diesen wesentlichen Erfordernissen
hält Berlioz fast nur das eine fest, daß von den verschiedenen Stimmen,
welche er zusammenbringt, jede selbstständig ihren Weg gehe, wie sie sich mit¬
einander vertragen, das kümmert ihn ungleich weniger. ' Es ist, als ob er eine
Anzahl von — wie sage ich nur? Melodie, Thema, Motiv, Idee im gewöhn¬
lichen Sinn paßt in der Regel nicht — von Notencvmplexen mit vollen Hän¬
den übers Orchester verstreue: jeder sucht seinen Theil zu erwischen, einige hal¬
ten beharrlich das Stück fest, das sie einmal erfaßt haben und wiederholen es
unverdrossen, als fürchteten sie, es könnte abhanden kommen; andere haschen leicht¬
fertig bald nach diesem, bald nach dem, versuchen sich hier und da, bis ein all¬
gemeines bellum omnium contra omnes entbrennt, in dem jeder sich wehrt, so
gut er kaun. Mit einem Mal schweigen alle still, als fürchteten sie sich vor ih¬
rem eigenen Spektakel, ober werden wie beschämt und verlegen ganz leise, aber
bald liegen sie sich wieder in den Haaren, und wo jeder thut, was er will, hat
der einzelne auch gar keinen Grund, sich zu geniren: alles tobt sich ans nach
Herzenslust, wie die Tertianer, wenn der Lehrer nicht da ist. „Besen, Besen
seis gewesen!" seufzt der unglückliche Zuhörer, über dessen Ohren es hergeht,
einmal über das andere Mal, vergebens — unerbittlich schwingt in weiten Kreisen
der Meister seinen Zauberstab vom Dirigentenpult, dessen hvhltöniger Fußboden,
mit Boß zu reden, oft Neulingen zum Schreck unter zornigem Getrampel don¬
nert , und jagt seine Orchesterphalanx durch alle Contraste der s/-- und ^
fort 'gehts im Sturmschritt, jeder denkt nur an sich, niemand an seinen Nachbar
und den armen Zuhörer. Und was entschuldigt man nicht bei allgemeinem Auf¬
ruhr und Kampf! aber gar zu curios klingt es, wenn bei verhältnißmäßig ruhi¬
gen und friedlichen Stellen irgend eine mißvergnügte Mittelstimme plötzlich ver¬
sucht, was sie auf eigene Hand riskiren kann, und ihrer Verdrießlichkeit Luft
macht, oder ein paar einzelne Instrumente mit boshafter Verstocktheit die Geduld
des Hörers auf die Probe stellen, wie z. B. in der H arold Symphonie Flöte
und Horn sich mit einem Eigensinn um den letzten Ton zanken, der um so un¬
begreiflicher ist, da das Horn von vornherein so entschieden im Unrecht ist. Es ge¬
hört die Engelsgeduld einer Flöte dazu, um das auszuhalten, und ein Publicum,
das den Wahlspruch rss sepe-r-z, est vsrurn xauäium schon lange beherzigt, um
nicht am Ende in eine unhöfliche Heiterkeit zu gerathen.
Diese eigenthümliche BeHandlungsweise geht in ihrem letzten Grunde wieder
darauf zurück, daß es nicht die Absicht des Komponisten ist, ein rein musikalisches
Kunstwerk zu gestalten, sondern daß die Kräfte, welche er in Bewegung setzt,
etwas Anderes ausdrücken sollen, als was in ihrem Wesen liegt, und nur die Träger
außermusikalischer Gedanken sind, daher es denn nicht zu verwundern ist, wenn
sie ganz anderen Gesetzen als den musikalischen unterworfen werden, um sich zu
einem Ganzen zu gestalten. Noch ungleich mehr Einfluß aber haben die Inten¬
tionen des Componisten natürlich auf die Formation seiner Kunstwerke im Gro¬
ßen. Das schlagendste Beispiel, zu welchen Monstrositäten eines ein denkender
Mann gelangen kann, wenn er von einer Kunst erzwingen will, was ihrer Natur
zuwider ist, und der sicherste Beweis, daß ihr Wesen ihm verschlossen blieb, ist
die dramatische Symphonie Romeo und Julie. Der Versuch, deu Eindruck
eines Dramas musikalisch wiederzugeben, ist nicht nen, auch keineswegs schlechthin
verwerflich, wenn die Musik sich innerhalb ihrer Grenzen hält und sich begnügt,
die allgemeine poetische Stimmung auszudrücken, zu welcher das Werk des Dichters
die Anregung bot. Indessen hat es nicht an Componisten gefehlt, welche, der
eigenen Kraft mißtrauend, den poetischen Inhalt für ihre Instrumentalmusik gera¬
dezu vom Dichter glaubten borgen zu können, indem sie ihn Schritt für Schritt
begleiteten. In ähnlicher Weise hat Serlioz Shakespeares Romeo und Julie so
in Musik umgesetzt, daß er an den Stellen der Handlung, welche für'eine musi¬
kalische Darstellung Veranlassung zu bieten schienen, Halt macht für einen sym¬
phonischen Satz. Daß bei einer solchen Anlage kein Tonstück entstehen kann,
welches die Summe des poetischen Inhalts jenes Dramas musikalisch reprodu-
cirt, leuchtet ein, denn Hauptmomente der dramatischen Gestaltung sind musika¬
lisch theils absolut nicht wiederzugeben, theils werden sie durch das Festhalten in
der ausgeführten musikalischen Behandlung ihrer wahren Bedeutung entkleidet,
während dagegen Nebendinge durch den zufälligen Umstand, daß sie für Musik
qualificirt sind, zu Hauptdarstclluua.er erhoben werden, wie z. B. gleich anfangs
die Ballscene blos der Tanzmusik zu Liebe eine Ausführlichkeit erhalten hat,
welche ihr im Zusammenhange des Ganzen nicht zukommt. Ebenso ist die Dar¬
stellung der Fee Mad in einem langen Scherzo, die an sich nicht zu mißbilligen
wäre, als integrirender Theil von Romeo und Julie so ungebührlich ausgeweidet,
daß sie gar nicht mehr in den Nahmen paßt. Das Ganze bildet eine Reihe von
musikalisch ausgeführten Situationen der Tragödie, aber nicht mit innerer Noth¬
wendigkeit aus dem Keim derselben heraus gegliedert, sondern nach unwesentlichen
Merkmalen herausgegriffen, verschoben und verrenkt, wie wenn ein Declamator
in einem Satze, den er nicht versteht, die Wörter falsch verbindet und betont.
Noch nicht zufrieden mit all dieser Musik und besorgt um Deutlichkeit und
Verständniß, hat Berlioz deu Justrumeutalsätzen anch noch Gescmgpartieen hinzu¬
gefügt, in denen nun zum Theil wenigstens das gesungen wird, was man ohne
Worte gar nicht verstehen könnte. Ein klarer Zusammenhang und. eine fortschrei¬
tende Entwickelung ist durch diese Vermischung heterogener Elemente, von denen
keines an seinem Platze ist, natürlich doch nicht erreicht; auch tritt hier wiederum
derselbe Uebelstand hervor, daß anch die Gesangspartieeu meistens nicht der poe¬
tischen Bedeutung der Situation, sondern dem Zufall eines musikalisch darstell¬
baren Motivs ihre Stelle verdanken und das Mißverhältniß der einzelnen Theile
zum Ganzen nur noch steigern. Um aber, wenn auch nicht den Zusammenhang,
wenigstens doch den Inhalt begreiflich zu machen, wird die Symphonie durch
einen Prolog eröffnet, der einen kurzen Abriß der Handlung vorträgt, untermischt
mit Reflexionen, wie: „Bist du nicht selbst vielleicht dem armen Erdensohn jene
Poesie, o Liebe, die dem Shakespeare allein verlieh die Weihe, und mit ihm
zurück gen Himmel floh?" Das fehlte noch, daß die Musik zu allen übrigen
Magddieufteu auch uoch ästhetische Kritik verrichten muß! Und sogar die Fee
Mad wird uns hier schon in einem Vocal-Scherzino ausführlich geschildert, da¬
mit es jeder merken könne, wie arm die musikalische Phantasie ist, die. selbst
einen heitern Scherz nicht erfinden kann, wenn ihr das Muster nicht vorgezeich-
»et ist. Ich zweifle nicht, daß Berlioz ein Bewunderer Shakespeares ist und sür
die Schönheiten seiner Tragödie schwärmt, aber indem er sie auf dem Prokru¬
stesbett seiner Symphonie verstümmelte, ha.t er den Beweis geführt, daß er we¬
der musikalisch empfindet, noch von dem Wesen eines Kunstwerkes einen Begriff
hat. Zum Ueberfluß hat er dieses Monstrum eine dramatische Symphonie be¬
nannt, an der — dabei soll der doch sicher höchstens epische Prolog nicht einmal
zählen — nichts Dramatisches ist, als daß ein Drama zum Grunde liegt, dem
bei dem Umgießen in die musikalische Form alles genommen ist, was ein Drama
ausmacht.
Durch welche Vorzüge im einzelnen mußte dieses Werk sich auszeichnen um
so kolossale Mißgriffe, wen» auch nicht vergessen, doch für den Augenblick zurück¬
treten zu macheu! Dies ist aber nicht der Fall; es ist reich an Bizarrerien, an selt¬
samen Effecten, aber arm an Schönheiten. Natürlich, denn der Mangel an ursprüng¬
lich musikalischer Empfindung und Erfindung, an Sinn für Maß und Klarheit, macht
sich am unmittelbarsten bei den einzelnen Motiven und Melodien geltend. Diese sind
mit sehr seltenen Aufnahmen dürftig und trocken, entweder mühsam zusammengesetzt
und in eine auffallende Form gereute, oder gradezu trivial, wobei denn freilich Ber¬
lioz den Vortheil hat, daß unter so vielem Ungenießbaren und Absurden das Triviale
einen Anspruch auf Verdienst beim Publicum gewinnt, das sich dabei zurechtfindet
und, da es ihm mit einem solchen Aufwande äußerer Mittel ins Ohr gebracht wird,
sich gern überreden läßt, es müsse doch wol etwas werth sein, wofür man sich so in
Unkosten setzt. Ein uoch schlimmeres Zeichen ist es, daß da, wo in der Natur
der Aufgabe ein gewisser sinnlicher Reiz liegt, der absolut keine abstrusen Ge¬
danken zuläßt, ein grober Materialismus zu Tage kommt, der Meyerbeerscher
Gemeinheit nichts nachgibt. Wer kann bei dem Chor der nach Hanse taumelnden
Capulets, bei dem wüsten Tanzgelage, das in einen wahren Meßbudenscandal
ausartet, sich uoch vorstelle», daß er, ich sage nicht in vornehmer, daß er in guter
Gesellschaft sei? Auch in Auerbachs Keller, wo Göthe uns zu einer Zeche lustiger
Gesellen führt, bringt uns Berlioz in eine gemeine Kneipe.. Anderes ist dann
wieder durch die äußerste Dürre widerwärtig, wie z. B. der Prolog. Weiß
der Himmel was für eine Bardenreminiscenz dieses eintönige, bald ein- bald
mehrstimmige Recitiren des Chores mit sparsamer Harfenbegleitung darstellen soll,
aber es ist so langweilig als der Gcschichtsabriß, den er vorträgt. Aus diesem
grauen Grunde soll das Bild der Königin Mal» nun um so schärfer sich heben;
aber wie sehr das Geplapper der vielen, kurzen, raschanSgesprochencn Silben auch
gegen das triste Psalmodiren absticht, humoristisch und phantastisch wird die Dar¬
stellung doch nicht. Und diesen Eindruck macht much das vielgepriesene Jnstrumen-
talscherzo nicht, das weder in Anlage noch Erfindung nen ist. Es ist durchaus
der von Mendelssohn angeschlagene Elfenton, der hier nachgeahmt und nicht
qualitativ ausgebildet, sondern nur quantitativ verändert wird, nicht zu seinem
Vortheil. Denn mit soviel curiosen und absonderlichen Einfalle» dies Scherzo
auch gespickt ist, so verdanken diese nicht einer reichströmenden Erfindungskraft, nicht
einmal einem Übersprudeluden Witz ihren Ursprung, sondern nüchterner Be¬
rechnung und erzwungener Spaßmacherei. Theils gewahrt man auch hier mir
ein musikalisches Jllnminiren der vom Dichter gelieferten Zeichnungen, und begreift
nun wenn man die große Trommel hört, warum der Prolog von „Trommelschall,
Büchsenknall" erzählt hat, damit man wisse was man sich zu denken habe; theils
sind es einzelne Jnstrumentaleffecte, die sowol durch künstlich berechnete Com¬
bination als forcirte Contraste eine lediglich materielle Wirkung hervorbringen.
Daß dieses alles eigentlich poetische Auffassung und schöpferische Phantasie nicht
bedinge, sieht jeder von vornherein ein und wer die Fee Mad gehört hat, weiß
es aus Erfahrung. Man kann anch, wenn man das Publicum der Musik von
Berlioz gegenüber beobachtet, leicht wahrnehmen, was davon und in welcher
Weise es wirkt. Man gewahrt nicht die stille gespannte Aufmerksamkeit, mit der
man den fein gegliederten Organismus eines Kunstwerks zu verfolgen und in
sich aufzunehmen sucht, nicht die innere Erregtheit, welche eine geniale Production
unmittelbar und unwillkürlich hervorruft, nicht einmal die augenblickliche Freude
über'einen zündenden Moment, sondern eine Art von Verwunderung, die sich
selbst nicht recht trauet, wenn es gar so wunderlich und ungewohnt im Orchester
klingt, wo man dann ans den überraschten Gesichtern die stille Frage liest: Wie
macht er das wol? Dieser Erfolg, für einen Taschenspieler der erwünschte, sollte
er auch für einen Künstler der rechte sein?
Niemand kann Berlioz das Verdienst absprechen die Instrumente gründlich,
studirt und neue und überraschende, zum Theil auch schöne Effecte ihnen abge¬
wonnen zu haben. Allein nicht nachdrücklich genug kann man gegen das jetzt
herrschende Mißverständniß protestiren, welches einer abstracten Kunst der Jn¬
strumentation ein selbstständiges Verdienst an sich zuerkennen will. In der
Malerei wird ein bloßer Colorist mit Recht nicht sehr hoch gestellt, und doch
kann man keineswegs Colorit und Jnstrumentation schlechthin' miteinander ver¬
gleichen, da jenes Form und Zeichnung nothwendig voraussetzt. Einen Maler,
der blos eine schöne oder gar nnr frappante. Zusammenstellung von Farben ans
die Leinwand bringen und dazu in einem Programm auseinandersetzen wollte, was
er sich dabei gedacht habe, würde alle Welt auslachen. Wenn ein Komponist eine
Reihe von Klangeffecten combinirt, diesen nicht die Gesetze der musikalischen Or¬
ganisation, sondern außermustkalische Gedanken zu Grunde legt, so glaubt man
sagen zu dürfen, daß er ein geistreicher Komponist ist, der prächtig instrumen-
tirt. Daß die Jnstrumentation nnr den Zweck haben könne, musikalischen
Ideen den angemessenen Ausdruck zu geben, daß daher vor allem musikalische
Ideen vorhanden sein müssen, ehe man von Jnstrumentation reden kann, das ist
so, einfach, daß man es vielleicht nur deshalb nicht mehr beachtet. Ebenso ein¬
leuchtend ist es auch, daß einzelne aneinander gehängte Effecte nie ein organisches
Kunstwerk bilden, und daß man, jemehr es an den Bedingungen für ein solches fehlt,
umsomehr das Einzelne auf Kosten des Ganzen zu übertreiben geneigt wird, was
dann bei der Jnstrumentation zuletzt auf die rein mechanische Klangwirkung hin¬
ausläuft. Das ist auch bei Berlioz in,der That der Fall, ja es ist sogar das
noch tiefer stehende Bestreben bestimmte Klangeffecte nachzuahmen, was allzu häufig
bei ihm hervortritt. An solchen Zügen ist besonders das Scherzo der Fee Maki
reich; die komischste Wirkung aber macht es, wenn mit einem außerordentlichen
Aufwand nud der feinsten Berechnung der Mittel das Kochen eines Theekessels
dargestellt wird. Es ist wahr, man hört es, wie das Wasser anfängt sich zu regen,
Blasen wirft, hauset, zischt und zuletzt zu singen anfängt — aber soviel Lärm,
nicht einmal um eine Omelette? Und ist es denn besser, wenn Schalmei, Dudel¬
sack, Piffero mit täuschender Wahrheit nachgebildet werden, damit wer nicht in
Italien gewesen ist, doch weiß wie die Pifferari blasen, von denen er soviel ge¬
lesen hat, wenn dies nur die äußere Decoration bleibt? Kein irgend gebildeter
Beschauer läßt sich bei einem Bilde dnrch das wohlausgeführte Costüm über den
Mangel an poetischer Auffassung und malerischer Komposition täuschen; es liegt
nicht im Wesen der Kunst, wenn das musikalische Publicum weniger strenge An¬
sprüche zu machen scheint.
Wir haben Berlioz hier in zwei Concerten gehört. .Die Direction der Ge¬
wandhausconcerte hatte dem Virtuosen des Orchesters den zweiten Theil des
Concerts am -I. December für seine Kompositionen zu freier Verfügung gestellt.
Es war eine seine' Aufmerksamkeit gegen Berlioz und das Publicum, daß für den
ersten Theil Beethovens, achte Symphonie in I? gewählt war, einmal weil sie die
kürzeste ist, und dann weil sie als die Symphonie, in welcher Beethovens Hu¬
mor am freisten und unbeschränktesten-sich ausspricht, geeignet war, das Moment
zu charakterisiern, welches Berlioz als den Ausgangspunkt seiner musikalischen
Richtung anzusehen liebt, und so dem Publicum einen Anhalt zu bieten, um sich zu
orientiren, wie weit es im Weitergehen auch einen Fortschritt anerkennen möge.
Berlioz bot uns darauf in diesem Concert:
Fürwahr, die gewöhnlichen Cvncertprogramme nach der Schablone pflegen
durch Ueberhäufung mit disparaten Musikstücken unserer ästhetischen Bildung kein
günstiges Zeugniß auszustellen, aber wie unschuldig sind sie gegen dieses Aller¬
lei! Es ist unbegreiflich, wie ein Mann von Geschmack diese verschiedenartigen
Kompositionen, zum Theil nur Bruchstücke , absichtlich in Contrast zueinander ge¬
setzt, dem Publicum vorlegen mochte, wie ein Tabuletkrämer seine bunten Proben
auslegt, um doch von jedem ein Stückchen zu zeigen; unbegreiflich, wie er dem
Publicum zumuthen konnte, von dieser starkgewürzten Waare soviel auf einmal
und durcheinander zu sich zu nehmen, und erwarten, daß es für den Genuß
empfänglich und zum Urtheil fähig bleiben könne.
Die Flucht nach Aegypten war allerdings wohl gewählt, um das Publicum zu
überrasche», das in jeder Beziehung das Extravaganteste erwartete und das Aller-
gewöhnlichste zu hören bekam. Diese -Enttäuschung wirkte günstig auf die Stim¬
mung; was man bei einem Anfänger höchstens mit Geduld aufgenommen »ud
vielleicht langweilig gefunden hätte, entsprach der Vorstellung, die man sich von
Berlioz's Musik gemacht hatte, so gar nicht, daß es dadurch den Reiz von' etwas
Außerordentlichen bekam, den es an sich nicht hatte. Es macht keinen Lärm und
ist einfach, aber diese Einfachheit ist keine natürliche, sondern eine reflectirte;
wäre sie ans einer innerlich einfachen Stimmung hervorgegangen, hätte der harte
Uebergang, der am Ende jedes Verses ganz uumotivirt sich hineindrängt, wol
ebensowenig Platz gefunden als das kokette Spielen mit den Schalmeien, das
durch seine Al'stchtlichkeit die Stimmung stört, ohne eine charakteristische Färbung
hervorzubringen.
Von der Ouvertüre ist schon gesprochen, der Chor besteht aus einem Lied
von drei Versen, die nur in der Begleitung verschieden gehalten sind. Diese
Behandlung ist hier ganz angemessen, allein bemerkenswerth ist, daß Berlioz in
seinen Gesangscomposttionen, soweit sie eine geschlossene Form haben, über die
einfachste und kleinste des Liedes nicht hinauskommt; wenn er diese verlaßt, er¬
scheinen nur Rhapsodien lose aneinander gereiheter Einzelheiten, die sowenig
eine künstlerische Form in der Musik darstellen können, als etwa die Streckverse
in der Poesie. So verhält es sich gleich mit dem Tenorsolo der Flucht; der
Text ist episch beschreibend und die Musik geht mit ihm fort, beide stören ein¬
ander nicht und den Zuhörer auch nicht, was dieser Berlioz gegenüber für Be¬
friedigung ansieht. Und doch hätte ein ungeschickter Theatercoup am Schluß bei¬
nahe die Theilnahme des Pul'licums verwirkt. Nach dem Schluß der Beschreibung:
„des Himmels Englein knieten rund umher, anbetend leis den Jesuknaben",
fällt der Chor mit Hallelujah el». Berlioz begeht die unbegreifliche Plattitüde,
diese wenigen Accorde außerhalb des Saales singen zu lassen. Was im Theater
am Platz sein kann, ist es doch im Concertsaale nicht, und hier war es nicht
einmal durch den Text irgend indicirt. Dagegen wird die Intonation der Sing-
stimmen dadurch unsicher und der Klang derselben nicht blos, wie bei Instrumenten, de¬
nen man Dämpfer aufsetzt, verändert, sondern verschlechtert; und alle diese we¬
sentlichen Bedenken sind dem Effect einer kindischen Ueberraschung geopfert.
Diesem Musikstück steht, am nächsten die Romanze. Sie ist einfach, meist
wohlklingend, aber herzlich unbedeutend, und manches, wie die Hornbeglcitung,
sogar sehr trivial. Wie fatal die Erinnerung an Prochsche Fadaisen ans uns wirkt,
kann Berlioz freilich nicht wissen, aber es bleibt immer schlimm, daß man daran
erinnert wird. Uebrigens wird sich Berlioz schwerlich sehr geschmeichelt fühlen,
daß grade diese Sachen den meisten und ungetheilten Beifall fanden; wenigstens
charakterisiere er früher Mendelssohns Stellung zu ihm ironisch dnrch die Worte:
Nenäöl8soKn o, ton^ours uns FranÄL <Z8t,imo pour nos — edansonsttes.
Das Publicum scheint hier noch immer Mendelssohns Meinung zu sein, ich kann
sie nicht ganz theile» — in Beziehung ans die oKg,nsoaEtr<Z8.
Die drei Sätze der Harold-Symphonie — das Räuber-Bacchanale des
letzten Satzes ward uns geschenkt — waren ganz geeignet, die Vorstellungen vom
zahmen Berlioz zu rectificiren. Die Symphonie ist in der Anlage nicht so mon¬
strös wie Romeo und Julie, sie hält sich innerhalb der Grenzen der gewohnten
Form, die sie nur insofern erweitert, als sie obligate Bratsche und Harfe mit
anwendet. Ob die Bratsche etwa das dramatische Element repräsentiren und die
Individualität Harolds der Natur Italiens und seiner Bewohner gegenüber zur
Geltung bringen solle, wage ich nicht zu bestimmen, gewiß ist aber, daß das
Solvinstrument in einer Weise virtuosenhaft hervortritt, welche zeitweise ganz und
gar ins cvncertmäßige übergeht und zwar in der allergewöhnlichsten Manier,
z. B. in endlosen Harpeggien-Etüden, wodurch die Geduld des Hörers um so
empfindlicher geprüft wird, da es der Anlage und Färbung der Symphonie
durchaus nicht entspricht. Denn den eigentlichen Stempel erhalten diese in Mu¬
sik gesetzten impresi>lors als on^-rAs dnrch die Reminiscenzen italienischer Volks¬
musik, mit welchen sie aufgeputzt sind. Allerdings sind charakteristische Züge der¬
selben sein beobachtet und geschickt nachgeahmt, über es sind auch hier nur
Einzelnheiten wiedergegeben, und zwar solche, die in irgend einer Weise als ba¬
rock auffallen, aus denen nur eine Caricatur entstehe» kann. Eine freie künst¬
lerische Darstellung des italienischen Volkes in seinem musikalischen Leben müßte
tiefer gehen als auf äußerliche Eigenheiten, und doch würde auch das immer
wesentlich nur Reproduction bleiben, eine Art von Gcnredarstelluug, die in der
Musik ungleich untergeordneter ist als in der Malerei. Einen ähnlichen Anspruch
macht die Ouvertüre zum römischen Carneval. Was den römischen Kar¬
neval so unwiderstehlich reizend macht, ist die unmittelbare Frische, die unversieg¬
bare Kraft der unverfälschten Menschennatur, die sich in ausgelassenster Heiterkeit
und Lustigkeit frei gehen läßt, ohne' je ihres Adels, ihrer Würde und ihrer Grazie
zu vergessen; und was den römische» Carneval unausstehlich macht, das sind die
Fremden, welche meinen, sie müßten auch parforce ausgelassen sein und lustige
Einfälle haben und witzig werden, und durch die abgeschmacktesten Uebertreibungen
die allgemeine Frende stören, daß die Römer den Kopf schütteln über die lo-
resUorl, die immer Barbaren bleiben und gar nicht zu ertragen wären, wenn sie
nicht Geld hätten. Das trat mir wieder recht lebhaft vor die Seele/ als ich die
Ouvertüre von Berlioz hörte.
Das zahlreich versammelte Publicum eines GewaudhanScvncerteS verhielt sich
der ungewohnten Erscheinung gegenüber mit einer durch eine anständige Zurückhaltung
gedämpften Neugierde, die sich auch zu einer lebhaften Theilnahme nicht steigerte.
Der Beifall ging von einer kleinen entschlossenen Phalanx neben der Thür aus,
die sich auch von einer theilweise vernehmbar werdenden Opposition nicht beirren
ließ, einzelne Bravorufe verhallten im Vorsaal.
Das zweite Concert brachte die drei ersten Sätze der Symphonie Romeo
und Julie, dann „ans vielfaches Verlangen" die Flucht nach Aegypten, und
endlich die Abtheilungen des Faust, welche bereits in den Grenzboten besprochen
worden sind. Daß man die den zweiten Theil einleitende Jnstrnmcntalfuge zum
größten Theil gestrichen hatte, war eine nucrivartete Wohlthat, daß, man die
einen deutschen Sinn beleidigende Uebersetzung gedruckt dem Publicum verkaufte,
dafür kaun man Berlioz nicht verantwortlich mache», da er kei» Deutsch versteht,
das Publicum kaufte sie, und las sie geduldig. Zahlreich war es nicht versam¬
melt, aber ans begreiflichen Gründen waren es vornämlich günstig gestimmte,
welche sich eingefunden hatten, die sich mit Erfolg bemüheten, durch intensive
Stärke des Beifalls zu ersetzen, was ihm extensiv abging.
Uebrigens wird Berlioz mit Leipzig zufriedener gewesen sein als vor zehn
Jahren; die Harfe mußte zwar auch diesmal aus Dresden verschrieben werden,
aber mit dem günstigsten Erfolg, ein englisches Horn war auch vorhanden und
die Ophicleide wird seinem Ideal wenigstens etwas mehr entsprochen haben. Auch
wird er jetzt schwerlich in Verlegenheit sein, auf die Fragen Hellers, welche er
damals nicht beantworten mochte, offene Antwort zu geben, die für ihn vielleicht
befriedigender sein dürste als für uns, wenn gleich das musikalische Glaubens-
bekenntniß in Leipzig »och nicht lautet: Es gibt keinen andern Gott als Berlioz,
und Liszt ist sein Prophet!
Wir sind nun einmal verurtheilt, wie der Vicar von Wakefield from ete
blue be6 w tke Are finis von der Camelieudame in die künstlerische Boheme zu
wandern. Das Theater weiß seine Dramenstoffe nirgend mehr zu finden, voraus¬
gesetzt, daß es sie auch anderweitig sucht. Auch wenn die dramatischen Autoren
es wagen, die Schwelle der Salons zu übertreten und ihre Helden in der großen
Welt zu recrutiren, ohne Episode aus dem Grisetteuleben, ohne Hilfstruppen aus
der Boheme können sie nicht mehr fertig, werden. Die viel bewunderte und mit
steigender Neugierde besuchte Gräfin Diane de Lys ist anch wieder eine neue
Behandlung des modern gewordenen Themas. Das fängt an monoton zu werden,
aber wie in der Gesellschaft so auch im Theater verlangt man nur Esprit oder
Geld. Alexander Dumas Sohn bat viel Geist und viel dramatische Begabung,
das heißt Verständniß des Publicums, der ihm gebotenen Schauspieler und der
dramatischen, französisch-dramatischen Effecte bekundet — was Wunder also, wenn
der Erfolg des neuen Stückes jenen der noch immer nicht ganz vergessenen Dame
aux Camelies uoch zu überbieten verspricht. Die Salondame, die Gräfin de
Lys, hat den Platz von Fräulein Marguerite Gauthicr seligen Andenkens einge¬
nommen — die Scene ist eine andere geworden, die Verwickelungen sind neu, die
Moral ist dieselbe. Die beredte Heuchelei des Advocate», der einen Ganner ver¬
theidigt, hat wieder über den gefunden Menschenverstand gesiegt. Es ist wirk¬
lich merkwürdig, wie die französischen Schriftsteller die Gesellschaft und die Gesetze
anschauen, aus denen sie beruht. Ihre Gefühle, ihre Ideen sträuben sich da¬
gegen, aber weil sie sich jeder officiellen Strömung fügen wollen, opfern sie den
Schluß, die logische Consequenz ihrer Dramen und Romane, ohne den Gehalt
'zu ändern. Sie sympathisiren mit der Sünde, aber sie bestrafen den armen
Sündigen. Sie glauben der Moral genng gethan zu haben, wenn sie sich an
die Stelle der beleidigten Ehemänner setzen, aber es fällt ihnen nicht ein, ihre
Voraussetzungen so zu stellen, daß im Gefühle des unbefangenen Beschauers der
Mann auch Recht behalte. Der Ehemann hat immer unrecht im Vaudeville wie
im Drama und er hat nichts für sich als den Code civil. Wir begreisen, daß
man gegen die Ehe, wie sie namentlich in Frankreich verstanden wird, Einwen-
trugen macht, aber dann verlangen wir, daß der Schriftsteller, der diese Ansicht
vertritt, uns offen sage, was er will, wie es George Sand gethan. Wir ver¬
dammen diese Heuchelei, diese Doppelzüngigkeit des modernen Dramas, welches
für die gesetzliche Moral in die Schranken tritt und doch keine andere Anschauung
mitbringt, als die Vertreter der Emancipation des Fleisches, wie dies in den
meisten Dramen geschieht, die seit zwei Jahren in Paris Erfolge gehabt. Alexander
Dumas Sohn hat die Heuchelei auf die Spitze getrieben.
Die Gräfin Diane de Lys ist von ihrem Mann geheirathet worden, weil sie
vier Millionen Franken Mitgift besaß und ihre Eltern willigten in die Ehe, weil
sie einen Grasen zum Eidam wünschten. Die Mutter stirbt bald nach „Ver¬
sorgung" ihrer Tochter und der Vater lebt krank und zurückgezogen von der
Welt in der Nähe von Versailles. Diane ist allein, sie fühlt sich noch verlassener
als im Kloster; denn es versteht sich von selbst, daß der Graf, der nur die vier
Millionen geheirathet, sich wenig um seine Frau kümmert, das heißt gar nicht.
Es bleibt uns sogar unbenommen zu glauben, die junge Frau sei eigentlich noch
immer das junge Mädchen aus dem Kloster. Diane ist schön, gefühlvoll und
romantischen Geistes. Sie langweilt sich entsetzlich! Wir bitten wohl zu bemerken,
Diane ist nicht unglücklich, sie sehnt sich nicht nach einem Herzen, das ihres verstände
— ü avra, das wäre deutsch sentimental — Diane langweilt sich, das ist fran¬
zösisch, das ist bon ton. Die Tröster strömen scharenweise herbei — die ganze
Welt weiß, daß Diane von ihrem Manne vernachlässigt wird und jeder Elegant,
jeder Geck hält es für seine Pflicht, der jungen Gräfin den Hof zu machen. Das
gelingt oft bei Frauen, die von ihren Männern geliebt werden, warum sollte man
es nicht versuchen bei einer verheiratheten- Wittwe. Diane weißt diese Herzens¬
anträge zurück, sie begnügt sich damit, die Name» ihrer Verehrer in ihre Brief¬
tasche zu verzeichnen. Sie gewinnt so die Ueberzeugung, daß keiner ihrer Anbeter
sie wirklich liebe, alle versprechen zu sterben, wenn sie nicht erhört werden, und
auch kein einziger hält Wort. Kaum daß es eiuer nöthig findet, sich durch eine
kurze Reise von zwei Wochen von seinem Liebesunglück zu erholen. Diane hatte
eine erste Jugendliebe mit Max von Ternou; sie hatten sich ewige Treue geschworen
und glaubte» ihre Trennung nicht zu überlebe». Diaue hat sich verheirathet, Max Ter¬
nou ist Junggesell und Komme ü, dorien tortune, aber weder Max noch Diane sind
gestorben, sie befinden sich beide wohl. Max, der nach langer Abwesenheit
nach Paris zurückkehrt, .schreibt an Diane, die er seit fünf Jahren nicht
gesehen und gibt ihr ein Rendezvous im Atelier seines Freundes Paul Aubry.
Max weiß nicht, ob Diane kommen werde, was ihn nicht hindert, mit Sicher¬
heit darauf zu rechnen und er bittet sich das Atelier des Malers aus. - Wie
so er hoffen konnte, daß Diane auf sein erstes Gebot erscheinen werde,- wie
ein Jugendfreund es wagen konnte, einer Frau von guter Erziehung ohne weiteres
einen so cvmpromitlireuden Schritt zuzumuthen — das wird uns nicht gesagt.
Max hatte aber doch recht — Diane langweilt sich, dieser Brief scheint ihr ex¬
travagant — sie hat noch kein Atelier gesehen und sie lockt eine Jugendfreundin
uiid in die Falle. Die beiden Frauen treten ein und die Gräfin de Lys be¬
schwichtigt mit Mühe die Gewissenscrupel ihrer Freundin — diese will an diesem
gefährlichen Orte nicht länger weilen und Diane beschließt, Max ein Briefchen
zu hinterlassen, in welchem sie ihn bittet, ihr das wichtige Geheimniß, das er ihr
zu sagen hat, bei ihr zu eröffnen. Es war der Gräfin nicht eingefallen, dies
gleich' zu thun, obgleich dies doch am natürlichsten gewesen wäre. Diane sucht
Papier — sie sucht es im Schranke des Malers und findet daselbst Liebesbriefe, die
sie ohne sich viel zu geniren liest — sie sieht auf dem Schreibtische einen angefangenen
Brief des Malers an seine Mutter. Sie liest ihn auch. Sie öffnet noch einen
Kasten und findet darin Fraueukleider, die Kleider von Mlle. Aurora, Modell und
Maitresse des Herrn Paul Aubry; sie beschaut diese, wie sie alles mustert mit
der „Gewissenhaftigkeit französischer Pvlizeiagenten". Die' grande Dame,
die Frau von Erziehung, lohnt auf diese Weise die Gastfreundschaft deS
Malers. Endlich kommt Max, die Freundin verbirgt sich und Diane erfährt
das Geheimniß. Max ist verliebt in sie. Er wird ausgelacht und geht wie er
gekommen. Nun wollen die beiden Damen sich auch entfernen.- Die Gräfin
hat ihre Handschuhe verlegt. Sie findet Handschuhe vou Mlle. Aurora und will
diese anziehen; sie sind zu klein! Die Maitresse von Paul Aubry soll eine klei¬
nere Hand haben, als die Gräfin de Lys! — DaS kann die Eitelkeit Dianens
nicht ertragen; sie zieht einen Ring vom Finger, der allein den Handschuh ver¬
hindert, groß genug zu sein. Er paßt endlich. Die Damen gehen und in der
Eile wird der Ring vergessen. Paul Aubry und sein Freund, der Bildhauer,
Taupin, kommen Nach Hause und der Vorhang fällt. Der Bildhauer Taupin
ist die'komische Episode des Stücks; er hat das Unglück gehabt, sein Modell
zu heirathen und flieht diesen Hausdamon so oft er kann. Er erzählt uns seine
Geschichte, läßt die neugierige Salonwelt einen Blick in das geheime Treiben
der künstlerischen Boheme thun und hat seine Aufgabe gelöst. Sonst hat er mit
dem Stücke Nichts gemein. Die Geschichte seiner Ehe und seiner Trennung vou
Madame Taupin ist allerdings drollig nud amüsant und der Franzose verzeiht
um diesen Preis mehr als eine dramatische Sünde.
Im zweiten Akt geht der Graf aufs Land; er nimmt mit kalter, imperti¬
nenter Höflichkeit Abschied von seiner Frau. Der Herzog von Olivas, ein ganz
junger Mann, benutzt diese sehr verständliche Ehestaudsscene, um seinen oft ge¬
schehenen Antrag zu erneuern. Die Gräfin zeigt ihm ihr Verzeichnis), er ist der
hnndertachtunddreißigste ans der Liste. Diane sucht ihn zu trösten und sich zu
entschuldigen, sie erzählt ihm von der Liebe Maxens. Auch dieser liebte sie un-
endlich —--sie hat ihn vor acht Tagen um einen kleinen Liebesdienst ge¬
beten und bis zur Stunde uoch keine Antwort bekommen. Der Herzog bittet,
auch ihn auf die Probe zu stelle». Diane nimmt ihn beim Wort und gibt ihm
einen Brief an Marceline, mit der sie seit dem Besuche in dem Atelier von
Paul Aubry entzweit ist. Die Gräfin bittet ihre Freundin um Vergebung und
Olivas soll die Versöhnung beschleunige». Diane erlaubt ihm dafür, ihr die
Antwort zu bringen — sogar des Abends, wenn er sie nicht früher bekommt.
Der Herzog nimmt Abschied, und nun kommt Max mit dem vergessenen Ringe,
den er schon vor acht Tagen hätte bringen sollen. Er entschuldigt sich mit- einer
Reise, die Wahrheit aber ist, daß ihn eine Tänzerin der großen Oper verhin¬
derte, eher an Dianen zu denken. Herr von Ternou erzählt ihr von seiner
Tänzerin, als ob er bei einer zweiten Tänzerin wäre. Diane langweilt sich, doch
sie hört Ternou nachsichtig an: man will sich amüsiren! Sie bietet ihrem Jugend¬
freunde eine Tasse Thee an. Dieser nimmt die Einladung an, aber er muß
zuvor in die Oper und will in einer halben Stunde wieder kommen. Diane
dauert ihn jedoch, er hat Mitleid mit ihrer Langweile und schlägt ihr vor, ihr
Paul Aubry, der in der Straße auf ihn wartet, vorzustellen. Er wartet auch
nicht erst die Erlaubniß ab, schellt und befiehlt dem Bedienten, den Herrn, der
unten warte, herauf zu rufen. Die Gräfin sträubt sich, aber es ist zu spät.
Paul Aubry ist schon im Vorsaale. Die französischen Schriftsteller hatten sonst
den Vortheil vor jenen anderer Länder voraus, daß sie die Gesellschaft kannten,
weil in Frankreich dem Talente in der That alle Thüren offen stehen, allein die
Erzeugnisse der neuern Literatur lassen uns fast glaube», daß der Salon der
Dame aux Camelies der Ort sei, wo sie jetzt ihre Gcsellschaftsstudieu machen.
Diese Scene wäre- sonst ganz unmöglich. Diane bleibt mit Pauli Aubry allein —
sie neckt ihn mit einer alten Leidenschaft, die er eingeflößt und die sie aus den
Briefen im Atelier kennen gelernt — sie neckt ihn mit Aurora — sie macht ihm
Komplimente wegen seiner außerordentlichen Liebe z» seiner Mutter. Paul
Aubry ist ganz erstaunt, denn Max hatte ihm nicht gesagt, wer die Dame in
seinem Atelier gewesen. Diese verräth sich selbst, sie zeigt ihm sein Bild, das
sie gekauft, und sie sagt ihm, daß der Pendant von ihr bestellt worden. Aubry
schöpft Verdacht, er sieht ihr ans die Hand und erkennt den Ring. Nun bekommt
die große Dame eine Lectio». Der Maler wirft ihr ihre Indiscretion vor —
sie hat seine Briefe gelesen, sie gibt ihm el» Almosen und nnn will sie sich ans
seine Kosten uuterhalreu. Er spricht von Max, als von ihrem Geliebten. Diane,
welche der junge Maler schon zu interessiren anfängt, will sich entschuldigen —
da hört mau schellen: das ist wol Max, meint der Maler — und wer soll es
den» sein, ruft erzürnt die Gräfin, glauben Sie, daß ich um diese Stunde em¬
pfange. (Es ist ein Uhr nach Mitternacht.) Sie stürzt selbst zur Thüre,
um in Gegenwart ihres Jugendfreundes den Maler vo» ihrer Unschuld zu über¬
zeugen. Es war nicht Max, es ist der Herzog von OlivaS, der geläutet. Paul
Aubry muß sich i»S Boudoir von Madame flüchten und Diane de Lys empfängt
den Herzog mit einem wohlverdienten Sturme. Olivas erinnert an die Erlanb-
nisz, die Antwort von Marceline überbringen zu dürfen, aber Diane, innerlich
erfreut, eine Gelegenheit zu haben, den Maler zu überführen, daß blos der
Schein gegen sie zeuge, ruft die Würde der beleidigten Frau zu ihrer Hilfe.
Der Herzog wird förmlich zur Thür hinausgedonnert. Diese Scene brauchte der
Dichter, um die, nächste herbeizuführen, aber wir suchen vergebens auch nur eine
Spur, von Rechtfertigung einer solchen Unschicklichkeit. Der Herzog mag Dianen
für eine Kokette halten, sie mag ihm die Erlaubniß wiederzukommen in einer
Weise gegeben haben, die Hoffnungen erweckt, allein das ist noch kein Grund,
einer Frau den Schimpf anzuthun, nach Mitternacht zu erscheinen. Was hinderte
ihn, den Brief Marcelincs schon um neun Uhr zu bringen? War der Versuch,
zu bleiben, nicht natürlicher und mehr vom Auslande geboten, als sich zu so spä¬
ter Stunde vorzustellen, was nach gesellschaftlichen Herkommen ganz unmöglich ist.
Paul Aubry hatte alles gehört. — Diane braucht sich nicht mehr zu entschul¬
digen. — Der Maler hat einen Blick in das Herz dieses Weibes gethan. Er
übernimmt selbst beredt ihre Vertheidigung und schließt mit einigen warmen Er¬
mahnungen. Diane ist gerührt — sie hat endlich einen Menschen gefunden, der
sie versteht — sie will keinen Schritt mehr thun, ohne den Rath ihres neuen
Freundes — denn es gibt Minuten, die eine zwanzigjährige Freundschaft schließen.
Andr.y geht auf diesen Frcundschaftspact ein, aber mau sieht es den Beiden
an, daß dieser Name sie selbst täuschen soll über das was, in ihrem Herzen
vorgeht.
Aubry kommt täglich ins Haus, er faßt eine heftige wahre Leidenschaft zu
Dianen. — Diese erwiedert seine Liebe. Sie zieht sich von der Well zurück
und empfängt kaum mehr. Man erzählt sich überall, daß Madame de Lys die
Geliebte Paul Aubry's sei. Eine Schwägerin der Gräfin, welche die junge
Frau haßt, vergrößert noch den Scandal, um ein Recht zu haben, ihren Bruder
zu warne». Diane soll auf irgend einen großen Ball und hat ihren Salon
bis eilf Uhr geöffnet. Ihre Freunde stürzen herbei, um sie a. petites äsnts zu
zerreiße», — auch diese Scene ist unwahr. Die große Welt schenkt sich zwar
gewisse Rohheiten nicht, aber so plumpe Impertinenzen sagt man der Hansfrau
denn doch nicht ins Gesicht. Wenn die Schwägerin blos eine Ausnahme ge¬
macht hätte, man würde das begreifen, aber diese ganze elegante Gesellschaft so
ohne Zurückhaltung sich gebärden lassen — das mag gut für deu drastischen
Effect sein, es bleibt immer unwahr. Ich frug mich unwillkürlich, warum Diane
nicht ihren Leuten schellte und das ganze Pack die Stiege hinunterwerfen
ließ. Sie hat ruhig ausgehalten, aber sie beschließt nnn, der Gesellschaft den
Handschuh hinzuwerfen; sie wird Paul Aubry der Herzogin vorstellen, sie wird
mit ihm auf den Ball fahren. Marceline sucht sie vergebens von diesem Schritte
zurückzuhalten, und mir, da Paul Aubry selbst sich weigert, steht Diane von
ihrem Vorhaben ab. Sie geht auch nicht auf den Ball und der Maler kommt,
nachdem er Frau von Lannaz zu ihrem Wagen geführt, wieder zurück. Die Diener
werde» verabschiedet. — Diane bleibt mit ihrem Geliebten allein. — Eine Post-
chaise hält vor dem Thor. Der Graf ist heimgekehrt. Paul Aubry fährt er¬
schreckt auf, doch Diane beruhigt ihn lachend: Mein Mann besucht mich nie um
'diese Stunde. Er geht ans seine Stube. Hören Sie die Thüren öffnen? —
hören Sie über uus Tritte? — Es ist der Graf — to ovale sse rentr«, e'«zsi
keine,. Paul verläßt Diaueu und diese will in ihr Schlafgemach. Der Graf
tritt ihr entgegen. Er hatte gewartet, bis der Maler gegangen und kündigt
seiner Fran an, daß er nach Deutschland gehe und gesonnen sei, seine Frau mit
sich zu führen. Diese weigert sich. — Der Graf will Gewalt brauchen und ruft
seine Leute. Die Zofe der Gräfin erscheint und flüstert ihr ins Ohr, daß Paul
Aubry unter auf der Straße warte. Die Gräfin ist gerettet, sie stürzt zum,
Fenster und droht Hilfe zu rufen, wenn der Graf auf seinem Vorsätze bestehe.
Ihr Wille geschehe, Madame, sagt Mr. de Lys, aber Sie begreifen, daß ich Sie
Ihrem Vater zuführe, da ich Sie von ihm übernommen. — Sie geben mir Ihr
Ehrenwort? —Mein Ehrenwort Madame.— Nun denn, in einer Stunde bin ich
zu Ihren Diensten.
In Lyon finden , wir unser Ehepaar wieder. Der Graf hat sich besonnen,
er hat während der Reise, wo Diane auch nicht eine Silbe zu ihm gesprochen,
sich in seine Fran verliebt und er erklärt ihr seine Flamme. — Zurückgewiesen
verlangt er, Diane möge es nur versuchen zwei Monate mit ihm M reisen und
wenn ihre Gesinnungen auch dann noch dieselben sind, sollte sie ganz frei sein.
Die Gräfin fragt mit Recht, warum ihr Mann nicht früher daran gedacht, ihr
Liebe einzuflößen - - jetzt sei es zu spät. Da kommt Marceline dem Grafen
zu Hilfe — sie bringt Dianen ihren Ring von Paul Aubry zurück. Diese Rück¬
sendung bedeutet, daß Paul Aubry Diaue nicht mehr liebe. Diane fügt sich
anscheinend der Nothwendigkeit, aber sie will die Flucht ergreisen. Der Herzog
Olivas, der die Gräfin aufrichtig und mit Aufopferung, wie ein junger Mann
von zweiundzwanzig Jahren, liebt, bringt ihr die Nachricht, daß Paul da sei. Diane
will ihn sehen — er stürzt herein. Schwur sich nie zu trennen. Der Graf
tritt in diesem Augenblicke in die Stube und fragt ruhig: wann reisen wir, Ma¬
dame? Paul fordert ihn heraus, doch Mr. >e,Lys erklärt: ihn nicht zu kennen,
von nichts zu wissen, doch gebe er ihm sein Ehrenwort, daß er ihm eine Kugel
durch den Kopf jage, wenn er ihn nochmals bei seiner Fran finde. Madame,
ruft er Dianen.zu: das Leben dieses Mannes ist in Ihrer Hand.
Im letzten Acte finden wir Aubry wieder in seinem Atelier. Er war dem
reisenden Ehepaar nachgezogen, er versuchte auf jede Weise den Grafen zum
Duell herauszufordern. — Dieser that als ob er nichts sehe, nichts höre und
reiste weiter. Der Maler mußte endlich umkehren, das Geld war ihm ausgegan-
gen. Anfangs schrieb ihm Diane und er ihr — sie hatte ihm geschworen wieder
zu kommen. Seit sechs Monaten aber hat er keine Nachricht von Dianen bekom¬
men, waren alle seine Briefe ohne Antwort geblieben. Um sich zu tröffen macht
Aubry einer jungen Millionärin den Hof und es heißt bald in der Stadt, daß
der Maler Paul Aubry Fräulein Lucieux heirathen werde. Wie -er seinem Freunde
Max und dem Bildhauer Taupin gesteht, hat er blos so gehandelt um Dianen
eifersüchtig zu machen und sie zu bewegen, wieder zu ihm zurückzukehren. Max
zieht einen Brief ans seiner Tasche. — Paul erkennt die Handschrist seiner Ge¬
liebten. Diane schreibt an ihre Freundin Marceline, daß sie von ihrer Leiden¬
schaft zurückgekommen und durch ihre Liebe dem Grafen die Vergangenheit vergessen
mache. Der arme Maler steht wie vernichtet da und auf Zureden seiner Freunde
Max und Taupin, welcher letzterer soeben von seinem ehelichen Modell für im¬
mer Abschied genommen, verspricht er noch denselben Abend um die Hand der
Millionärin anzuhalten. Seine Freunde verlassen ihn und Paul hat wenig¬
stens den Trost, seiner Verzweiflung freien Lauf lassen zu können. Er zerreißt
die.Briefe Dianens, er will anch die letzte Erinnerung an die Meineidige ver¬
nichten, aber man sieht, daß seine Liebe nicht so schnell reißt als die geschriebenen
Schwüre seiner Geliebten. Aubry setzt sich an den Schreibtisch, er zeigt seiner
geliebten Mutter die freudige Nachricht von seiner beabsichtigten Heirath an. Da
öffnet sich die Thüre und Diane tritt herein, in Trauer'gekleidet, und wirst sich
auf einen Stuhl. Aubry hatte sie nicht erkannt, sie muß sich erst nennen. Der
Maler wirst seiner Geliebten ihre Falschheit vor. — Es kostet ihr nur ein Wort
und sie ist entschuldigt. Sie war nicht früher gekommen, weil ihr Vater am Tode
lag — sie hatte ihm geschrieben, allein seit sechs Monaten keinen Brief von ihm
bekommen — sie hatte von seiner Heirath gehört und konnte sich nicht länger
halten — sie mußte zu ihrem Geliebten. Den Brief an Marceline hatte sie ge¬
schrieben, um die Wachsamkeit ihres Mannes zu täuschen. Paul Aubry betheuert,
daß seine angebliche Heirath blos ein Mittel sein sollte Dianens Eifersucht'auf¬
zustacheln. Die Beseitigung ihrer Briefe ist nun klar; der Graf hatte sie
unterschlagen. Die Liebenden stürzen sich in die Arme — da wird an der
Thüre geläutet, es ist der Graf. Diane will fliehen, aber Paul kann sich zu
einem so feigen Schritt nicht bewegen lassen - - er fragt Dianen, ob sie bei ihm
aushalten, sein Schicksal theilen wolle. Diese bejaht es, und Paul reißt zwei
Degen von der Wand, stürzt zur Thüre, indem er ruft: ich bin zu ihren Dien¬
sten, Graf. Wie er die Thüre öffnet streckt,ihn ein Schuß nieder. Diane fällt
ohnmächtig hin. Max und Taupin stürzen durch eine andere Thür herein.
Paul, Paul wo bist du? Er war der Geliebte meiner Frau, ich habe ihn getöd-
tet. «H'vör mon üroit antwortet der Graf und der Vorhang fällt.
I.g, äixnitb co mari est sauvöö. Das ist,die Moral des Stücks. Der
Mann, der ein junges Mädchen aus Eigennutz heirathet, sie dann vernachlässigt
und durch seine kalte Behandlung mißhandelt , ist der eigentliche Held des
Dramas. Die Frau, die ein Opfer seines Eigennutzes gewesen, ist die Ver¬
brecherin und Paul, der eine große Leidenschaft für diese Frau fühlt, ist der Ver¬
brecher. Daß sich das menschliche Gefühl in jedem iHerzen gegen eine solche
Anschauung sträuben muß- — das kümmert unsern Dichter nicht. Er wollte nicht
gegen,den Ehebruch schreiben; seine Waffen sind gegen den specielle» Ehebrecher
gerichtet. Er hatte es auch nicht ein einziges Mal versucht, den Grafen in eine
achtungswürdige Stellung zu bringen. Diane ist seit ihrer Liebe zu Paul keinen
Augenblick schuldig. Sie hat einen Mann, aber sie ist nicht verheirathet. Sie
hat einen Herrn, aber keinen Beschützer. — Der Graf ließ sie umschwärmen von
Anbetern. — Die Welt verleumdete längst die unschuldige, obgleich unbedachte Diane
— ihr Mann kümmerte sich nicht darum. Es erscheint fast, als ob es ihn vorzüglich
gekränkt, daß ein Künstler und kein Mann seiner Welt es gewagt, ihn bei seiner
Frau zu verdrängen. Es ist nicht Liebe, die ihn zur Rache treibt, sowie ihn Ei¬
gennutz allein zur Heirath bewogen. Ich konnte während der letzten drei Acte
den Gedanken nicht los werden, daß dieses Drama unter dem ersten Kaiserreich,
wo die Ehescheidung erlaubt war, eine Unmöglichkeit gewesen wäre. Es beruht
in der That nicht auf der Kenntniß des menschlichen Herzens, seine einzige
Grundlage sind die französischen Ehegesetze. Auch nicht einmal die Gesellschaft
ist richtig gezeichnet, denn ein Mann, der seine Frau so verläßt und dem sie so
gleichgiltig ist, wie Diane dem Grafen de Lys, läßt sich zu keinem Othello an.
Wenn es viele solche Ehemänner gäbe, der Code civil wäre längst umgeändert
worden. Was die Franzosen tröstet, das ist eben, daß die Sitte oder die Sit-
tenhaftigkeit immer stärker war als die Gesetze. — Die Frau ist nicht glücklich
behandelt — sie erregt unser Interesse erst von dem Augenblicke, wo sie der
Dichter verdammt. Bis dahin ist sie ein leichtsinniges Geschöpf, ohne tiefe Lei¬
denschaft, ohne große Regungen. Sie ist eine Salondame die sich langweilt.
Paul ist besser gezeichnet — wir können ihm unsere Sympathien nicht versagen,
obgleich sein Betragen seiner angeblichen Braut gegenüber niemals gerechtfertigt
werden kann. Ein junges Mädchen unglücklich zu machen, damit die Geliebte
eifersüchtig wird, mag ein gewaltiges Effectmittel sein, aber es ist eine ebenso
gewaltige Infamie. Max Tarnou, der leichtsinnige, charakterlose Salonmensch
und Taupin, der Bildhauer, bleiben die gelungensten Figuren. Da reichte der
Geist aus und darum wurde auch Alexander Dumas mit ihnen fertig. — Wir be¬
greifen den Erfolg dieses Dramas. Es verdankt ihn zunächst dem vortrefflichen
Spiele. Jede Rolle ist für einen bestimmten Schauspieler geschrieben und jeder
Schauspieler ist ausgezeichnet. Jede Leistung ist an und für sich bewunderns-
werth und in Deutschland hat man von solcher Vortrefflichkeit gar keine Ahnung.
Die deutschen Schauspieler sollten nach Paris kommen und bei der Gesellschaft
vom Gymnase lernen, was Maß, was Natürlichkeit und'was Zusammenspiel heißt.
Jede Nuance wird mit Feinheit hervorgehoben und dort, wo sich der Dichter
eine Blöße gegeben, deckt der Schauspieler mit Schonung zu. So zum Beispiel
als Diane dem Herzoge den Brief für Marceline übergibt und ihm erlaubt, wie¬
der zu kommen, geschieht dies mit einer Koketterie und einer Herausforderung,
die sonst gar nicht.im Charakter der Gräfin liegt. Rosa Cheri hatte offenbar gefühlt,
daß sie nur so das Unwahrscheinliche der späteren Situation retten könne und
solcher Züge könnte ich viele aufzählen. Dupuis als Max Terror, Lafontaine
als Comte de Lys, Lesueur als Taupin und Bressaut der Maler leisten jeder
das Vollkommenste in seiner Art. Nächstens wollen'wir Manprat unsern Besuch
abstatten, wir hoffen, bis orientalische Frage wird uns Muße genug lassen.
Wer etwa in den Gast- und Kaffeehausgesprächen bei uns absonderlich viel
vom Kirchenconflicte zu hören erwartet, der wird sich arg getäuscht sehen. Die
Badenser haben vom langen Belagerungszustände Hören und Schweigen gelernt,
und am meiste» hat dazu in manchen Gegenden noch die damalige Denuuciationssncht
beigetragen, das jämmerlichste Symptom politischer Sittenverderbniß. Im gegen¬
wärtigen Conflicte gehen überdies die Landcszeitnngen den schweigenden mit
gutem Beispiele vo'ran. Gesetzlich kann ihnen freilich die Besprechung der Lan-
desangelegenheiten nicht untersagt werde», allein der ihre» Redactionen von der
Verwaltungsbehörde gewordene Nath, sich jeder Erwähnung der Vorgänge im
ksrchlich'staatliche» Kampfe so lang z» enthalte», bis die Karlsruher Zeitung ihr
Schweigen breche, wird aufs strengste befolgt. Selbst Thatsächliches erfahre»
wir, außer den bekannte» Regiermigserlassen, ausschließlich durch uichtbadische
Blätter, unter denen man der Allgemeinen und Frankfurter Postzeitung nicht ge¬
ringe Geltung in sehr bestimmten höhern Regionen zuschreibt, während Fraiikfurter
Journal, Schwäbische Merkur und Kölnische Zeitung im größer» Publikum am -
meisten verbreitet sind. Die Augsburger Allgemeine und Frankfurter Postzeitung,
welche mau hier für zuverlässige östreichische Pulsfühler im „Auslande" hält, haben
sich der erzbischöfliche» Sache einschiebe» und mit einer Überschreitung des pu¬
blizistische» Schicklichkeitsmaßes augenommen, daß auch von ihnen einzelne Num¬
mern der Confiscation anheimfielen. Unsers Erachtens hätte man sie passiren
lassen können, der moralische Credit der verfochtenen Sachen wäre dadurch gewiß
nicht erhöht worden. Dagegen hätte das Publicum erkannt, wie diese Blätter
sprechen, wenn ihre Opposition keiner Großmacht gilt und der Billigung ihrer
speciellen Mandatare gewiß scheint. Bei uns eine öffentliche Meinung festzustellen
über die kirchenstaatlichen Verhältnisse ist in der That kaum nöthig. Die hierar¬
chischen Bestrebungen sind anch in ihren heutigen Tendenzen kaum nen, und
daß es nicht schon seit 18i7 zu entschiedener» Conflicten kam, lag wol zum großen
Theile daran, daß der Klerus nach beendigter Revolution nicht anch dem allge¬
meinen Verhängnis; des Belagerungsznstandes verfallen mochte; darum klug tem-
porisirte. Ferner darf man nicht vergessen, daß sein jüngerer Theil, dessen Mitglie¬
der großentheils dem Jesuitenorden „inscribirt" sind und gegenwärtig den eigentlichen
Grundstock der Revolution bilden, erst in deu letzten Jahren die ältern, staats¬
treuen Geistlichen der Wcsseubergschen Schule an Masse und Macht zu überwie¬
gen begann. Sein damaliges Verhalten, seine ostentirte Loyalität ließ ihn den
natürlich nach Stützen bedürftigen Regieruugsmachten als moralischen Verbündeten
im Werke der conservativen Restauration erscheinen. Aber freilich kannte man an
den entscheidenden Stellen nur die Kanzelreden und öffentlichen Kundgebungen,
nicht die ausdrückliche Reservation der Gewissensberathnng und Beichte, welche
den Gläubigen stets den weltlichen Gehorsam nur soweit anempfahl, als er „zur
Erhöhung der Kirche" beitrage. Im Publicum mochte selbst von vielen dieser
Floskel keine tiefere Bedeutung zugeschrieben werden, keinesfalls diejenige, welche
vom Erzbischof und seinen Verbündeten heut in das Wort gelegt wird.
Jedermann muß auffallen, daß'die oppositionelle Bewegung des Klerus grad
mit dem Tode des Großherzogs -begann. Besonders wenn man daran denkt, daß
mit diesem Augenblicke ein unmittelbarer Einfluß an Kraft verlor, welcher bis
dahin von außenher ans die Entschließungen des Staatsoberhauptes durch be¬
stimmte Persönlichkeiten geübt worden war. Es schien fast, als suche mau dem
jungen Regenten des kaum wieder politisch beruhigten Staates diese kirchlichen
Verlegenheiten in den Weg zu werfen, damit auch er denselben Einflüssen dieselbe
Kraft wieder zugestehe, welche vor seinem Regierungsantritte im Residenzschlosse
gegolten hatte. Man erinnert sich anch, daß Schwarzenbergs in Bezug auf
Oestreich und Rußland gesprochenes Wort: die Dankbarkeit müsse einmal aufhö¬
ren, in Baden und in Bezug aus Preußen bereits eclataut zur Anwendung ge¬
bracht ward, ehe dazu eine Nöthigung vorlag. Ob ein Anlehnen an dieselbe
Macht sich auch unter der neuen Regierung in gleichem Maße durchsetzen lasse
— das war die Frage. Um das zu erreichen, sagt man, sei die Auflehnung des
oberrheinischen Klerus speciell in Baden von einer mächtigen Seite her begün¬
stigt worden. Natürlich werden sich dafür Beweise schwerlich beibringen lassen.
Aber interessant bleibt es immer, unter welchem Gesichtspunkte das Publicum
sehr allgemein die Entstehung der jetzigen Verhältnisse auffaßt.
Je weiter sich aber diese Ansichten feststellten, desto natürlicher war's, daß
die gebildetem Schichten des Publicums, also im allgemeinen die Städte (Frei-
burg ausgenommen) und die regsamere Nordhälfte des Landes (auch confessionell
gemischt) entschieden Partei nahmen für die Rechte des Staates. Sie sahen von
vornherein das. energische Vorschreiten der Negierung gern,, während schon in
diesem ersten Momente aus dem obern (südlichen) Theile des Großherzogthums
Hinweise auf die östreichische Vermittlung erklangen. Indem sich nnn die Regie¬
rung der klerikalen Renitenz gegenüber auf das Gesetz berief, welches an die
Stelle des BclageruugsstaudgesetzeS getreten war, konnte sie freilich nicht anders,
als zur Anwendung der Verhaftung der rennenden Geistlichen schreiten. Wenn
man auch diese formelle Nöthigung anerkannte, so beklagte man doch allgemein
grade diese Maßnahme. Denn-eben dadurch wurde herbeigeführt, was man
von klerikaler Seite gewünscht hatte, nämlich ein persönliches, wenn auch vo»
tausig kein mitleidiges Interesse der Katholiken an der Angelegenheit, welche man
bisher umsonst durch die Presse und allerlei falsche Gerüchte zur konfessionellen
und sachlichen Parteinahme, zur Aufregung zu machen gesucht hatte. Wie sehr
die Geistlichen den Anschein des Martyriums gewünscht hatten, ging auch bald nach¬
her daraus hervor, daß, als man die Verlesung des Hirtenbriefs nicht mehr mit
Gefängniß bestrafte, mehrere verhaftete Geistliche nicht eher ans dem Gefängniß
gehen wollten, als bis ihre sämmtlichen „Mitdnlder" auf freiem Fuße seien. Als
Ursache dieser eingetretenen Milderung steht man aber wohl nicht mit Unrecht die
Weigerung an, welche der Stadtdirector v. Uria in Heidelberg (nicht auch, wie
ultramontancrseits verbreitet wurde, Graf Heunin in Rastatt) den Befehlen der
Negierung zur Vornahme von Verhaftungen renitenter Geistlichen entgegensetzte.
Erfreut man sich nun anch des gewonnenen Resultats', weil dadurch sofort die
künstlich aufgestachelte Aufregung der starrkatholischen Massen erloschen ist, so ver¬
klagt man doch allgemein, daß die Renitenz jenes Beamten vorläufig blos mit
einem einfachen Verweise bestraft wurde. Abgesehen davon, daß Herr v. Uria
als Haupt des ultramontanen Laicnthums gilt, liegt in seinem Falle eine ganz
unzweifelhafte Pflichtverletzung als Beamter vor, während natürlich von der
Gegenpartei solche Milde als Schwäche der Regierung ausgebeutet, im Publieum
verbreitet und dieses zu einer Mißachtung der politischen Gewalten hingeleitet
wird. Man braucht blos die ultramontanen Blätter zu lesen, um dafür die Be¬
weise massenhaft zu finden.
Trotzdem ist den ultramontanen Bestrebungen mit dem Aufhören der Ver¬
haftungen ein mächtiger Hebel zur Betheiligung der Massen am kirchenstaatlichen
Conflicte genommen. Man hatte selbst die sehr leichten Zusammenläufe im Ober¬
lande, welche von den ultramontanen Blättern riesenhaft übertrieben worden sind,
nnr mit Mühe zusammengetrommelt. Darin lag der Beweis, daß man Zusammenrot¬
tungen wünschte. Aber schon hörte man auch grade aus demselben Lager, von wo
aus das „arme Volk" aufgeregt worden war: wenn ein Staat Auflaufe nicht ver¬
hindern könne, so müsse sofort der stärkere Nachbarstaat zur Erhaltung der Ruhe
und Ordnung berufen werden; Würtemberg stehe jedoch selbst „der heiligen Kirche"
feindlich entgegen, auch dort werde sich das „Volk" ihrer Bedrängniß annehmen;
man müsse also vorarlbergsche Truppen von Oestreich erbitten und dann Oestreich
um seine Vermittlung angehen. — Wer die Verhältnisse nnr einigermaßen kennt,
kann die Wichtigkeit solcher Erscheinungen und Aeußerungen nicht verkennen.
Man mußte sich unwillkürlich fragen: lag im letzten Wunsche etwa der Grund
zeer Anstiftung jener Aufregungen?
Gleichzeitig hieß es anch wirklich, Oestreich habe seine Vermittelung angebo¬
ten; fast ebenso gleichzeitig wurde diese Nachricht von den intimen Blättern der
östreichischen Politik in Abrede gestellt. Die Wahrheit ist in der Mitte gelegen.
Es braucht oftmals etwas nicht angeboten zu werden, was man doch so nahe legt,
daß selbst der höflichste Adonis als Zurücksetzung oder Mißtrauen gedeutet zu
werden vermag. Wir können uns uuter den heutigen Preßverhältnissen nicht
näher ans den eben angeregten Umstand einlassen. Soviel scheint sicher, daß die
Darstellung der Streitverhältnisse, welche am 1. Dezember in der Karlsr. Ztg.
erschienen und der badischen Presse, die Erörterung freigeben sollte, deshalb
zurückgestellt worden ist, weil nnn von Frankfurt her neue Veranlassungen zur
Aufnahme östreichischer Vermittelung erfolgten. Im Publicum würde man über
das Eingehen auf diesen Plan keineswegs erfreut sein; denn man hat durchaus
kein Vertrauen zu den Persönlichkeiien, von denen er jetzt abermals ausgeht.
Ueberdies gedenkt man der östreichischen Vermittelung im orientalischen Streite,
welche, wenn sie angenommen worden wäre, die Türkei mit gebundenen Händen
an Rußland geliefert haben würde. Directe russische Souveränetät hätten wir
nun allerdings nicht zu besorgen. Aber Baden glaubt belehrt zu sein, daß auch
directe Einflüsse einer „befreundeten" Gesandtschaft der natürlichen Convalescenz
des noch immer mannigfach kranken Staates nichts weniger als förderlich ist.
— Man hat nun wol auch von preußischer Vermittelung gesprochen und sie findet
im Publicum den weitesten Anklang; allein vor der Hand scheint Preußen weiter
gar keine Notiz von unsern Zuständen zu nehmen, als daß- es der Kölner
„Deutschen Volkshalle" eine Sprache gegen Baden erschwert, die zur wildesten
Zeit der Jahre 1848 und 49 von der röthesten Demokratie nicht roher gehand¬
habt worden ist. Directe Beziehungen zwischen der Regierung und dem päpst¬
lichen Stuhle einzuleiten, erschiene wol am räthlichsten. Natürlich kann dies nicht
eher geschehen, als bis wieder vollkommen die factischen Verhältnisse, wie sie vor
dem Kirchenstreit waren, hergestellt sind. Außerdem haben die ultramontanen
Blätter lügenhaft verbreitet, der päpstliche Nuntius aus Wien, der Bischof von
Strasburg?c. hätten Vermittelungen zwischen der Negierung und dem Erzbischof
eingeleitet; man ließ sie sogar schon im Lande herumreisen. Nur schade, daß
davon nichts wahr ist und schon darum nichts wahr sein kann, weil dann das
bürgerliche Verhältniß des Erzbischofs zum Staat zuerst in Frage träte. In
diesem ist er jedoch Unterthan und von einem gegen die Staatsgesetze offen auf-
tretenden Unterthanen kann a priori die Regierung sich keine Bedingungen vor¬
legen lassen, von deren Erfüllung er sein gesetzmäßiges Verhalten abhängig
machen will.
, Unser Landtag tritt wahrscheinlich kurz vor Weihnachten zusammen. Er be¬
steht aus 3ö Katholiken und 28 Protestanten. Die Wähler haben demnach ge¬
zeigt, daß sie auf die Confession keine Rücksicht nehmen. Nach den konfessionellen
Bevölkerungsverhältnissen müßte er sonst i2 Katholiken zählen. Unter den Ge¬
wählten befinden sich auch fast keine confessionellen Parteimänner!' In politischer
Hinsicht erscheint er vollkommen gouvernemental. Trotzdem ist es noch äußerst
fraglich, ob ihm die Regierung eine Vorlage über den Kirchenstreit machen wird.
Im Publicum wünscht man es lebhaft, weil' es aus seinen Kundgebungen sicher¬
lich erkennen würde, wie groß die Sympathien der Landesvertretung für ihr
Vorschreiten .gegen, die hierarchischen Uebergriffe sind — umsogrößer,' als leider
Hessen-Darmstadt gar nicht, Würtemberg nur zweifelhaft mit ihr ein und dasselbe
Princip in einem Kampfe verfolgt, der nicht blos der badischen Staatsvbcrhoheit,
sondern aller StaatSsonveränetät gilt und Baden nur zntn ersten Angriffspunkt
gewählt hat. Im übrigen hört man, daß eine Anleihe von j-V, Million Gul¬
den zur Verschuldung der Eisenbahnschienen zur Bewilligung gestellt werden solle.
Anderwärts verlautet, auch ein Gesetz über gemischte Ehen werde eingebracht
werden. Geschähe dies, so wäre die Verhandlung der jetzigen kirchlichen Zustände
kaum zu vermeiden.
Schließlich seien noch einige der bedeutendste» Brochüren über den hierarchi¬
schen Kampf angemerkt. Die erste war von dem bekannten Ultramontanen Moritz
Lieber ,,Jn Sachen der oberrheinischen Kirchenprovinz" (Freiburg i. Br., Herder),
vor etwa 2 Monaten erschienen und natürlich im. zelotischer Sinne, mit Ver¬
drehungen und Sophistereien der handgreiflichsten Art geschrieben. Ihr folgte
vor etwa 3 Wochen eine „Beleuchtung der Entschließung der Regierungen der
oberrheinischen Kirchenprovinz auf die bischöfliche Denkschrift vom März -I8S1."
Angeblich „von einem Laien", aber sehr wahrscheinlich von einer dem Bischof von
Mainz nahestehenden Persönlichkeit. „Die Mutterkirche, ein Friedenswort an
unsere katholischen Mitchriste»", vor etwa 1i Tagen herausgekommen, ist eine
sehr schwache protestantische predigtartige Arbeit, die vielleicht einen Frankfurter
Pfarrer zum Verfasser hat. Gutmeiern allein kann bei einem solchen Conflict
nichts fördern und helfen. Interessanter ist dagegen „der bischöfliche Streit,
Sendschreiben an Herrn Regierungsrath und Stadtdirector Burger zu Freiburg",
ein einziger Druckbogen, vor wenigen Tagen erschienen, aber darum von so großer
Wichtigkeit, weil darin vom strengkatholischen Standpunkt aus die Unrechtmäßig¬
keit und Machtlosigkeit der vom Erzbischof ausgesprochenen Excommunication und
die nachtheiligen Wirkungen seines ganzen.Vorgehens auf die katholische Kirche
geistvoll und schlagend nachgewiesen sind. Mau schrieb zuerst das Sendschreiben
(doch wol mit Unrecht) dem bekannten Herrn H. v. Audlaw zu, weil ein Motto
aus dessen „Aufruhr und Umsturz in Baden" an der Spitze steht. Es lautet:
„Das Princip der Revolution erkennt in seinem letzten Grunde das fremde
Recht gar nicht an und stempelt das Unrecht, das sie ausübt, zu ihrem eignen
Recht."
Es ist unter den Parteien, die sich ' auf dem Boden der constitutionellen
Entwickelung Preußens bewegen, eine aufgetreten, die man mit dem Namen der
altpreußischen zu bezeichnen pflegt: ein Name, dem wir vor vielen andern den
Vorzug geben, weil er nicht auf eine unbestimmte Zukunft hinweist, ^sondern
eine durchaus concrete Vorstellung ausdrückt. Das Preußen der Restaurationszeit
hat aber so viele mißliebige Erinnerungen hervorgerufen, daß es sehr zweckmäßig
ist, von Zeit zu Zeit in ausgeführten Bildern auf jenen Begriff des Altpreußischcn
zurückzuweisen. Die Preußen aus der Schule des alten Fritz und die Preußen,
welche zur Zeit der französischen Herrschaft die Wiedergeburt des Vaterlandes
herbeiführten, waren nicht feine, an elegante Formen gewöhnte Staatsmänner und
Diplomaten, wie man sie in andern Staaten von älterer Tradition häufig antrifft,
sie bemühten sich nicht, den Katholicismus und die Revolution vom höhern philo¬
sophischen Standpunkt aufzufassen, es gab darunter sogar einige, welche mir und
mich verwechselten und gegen die ganze höhere Literatur gleichgiltig waren; sie
waren auch im Umgang durchaus nicht fein und liebenswürdig, im Gegentheil
zum Theil sehr grobkörnige, kurzangebundene Männer, mit denen sich schwer ver¬
kehren ließ: dafür hatten sie aber, was unsern modernen Staatsmännern zum
großen Theil abgeht, eine feste eiserne Entschlossenheit, ein gewaltiges, uner¬
schütterliches, Gefühl der Ehre, eine unmittelbare, nicht bloß reflectirte Liebe zum
Vaterlande und eiuen sichern praktischen Blick, der sie überall auf das Wesentliche
führte. Das „Leben Steins" von Pertz und das „Leben Uorks" von Droysen
haben uns bereits erhebende Bilder von solchen Männern dargestellt; hoffentlich
wird noch eine ganze Reihe ähnlicher Schriften folgen.
Das vorliegende Werk schließt sich dieser Literatur aus eine würdige Weise
an. Der im I. -1844 verstorbene Oberpräsident Vincke gehörte zu den kräftigsten
Vertretern der Steinschen Periode. Herr v. Bodelschwingh, der ehemalige preuß.
Minister, stand ihm in Familien- und geschäftlichen Beziehungen nahe und er hat
seine Aufgabe auf eine zweckmäßige Weise ausgeführt. Das Material zur
Arbeit war sehr vollständig. Die Tagebücher von der frühesten Jugend bis zum
spätesten Alter waren fast ganz erhalten, eine außerordentlich starke Korrespondenz
und zahlreiche Actenstiicke gaben fast jeden gewünschten Aufschluß nicht nur über
seine Handlungen, sondern auch über deren Beweggründe. Herr v. Bodelschwingh
hat also mit Recht eine Auswahl aus diesen Documenten zum Mittelpunkt dieses
Werks gemacht, und er hat nur weniges hinzuzufügen nöthig gehabt, um dieselben
durch biographische Notizen zu einem Gesammtbild des Lebens zu erweitern.
Ludwig von Vincke war 1774 zu Minden geboren; er kam 1789 ans das
Pädagogium zu Halle und bezog 1792 die Universität Marburg, wo er deu be¬
kannten Jung - Stilliug kennen lernte und in nähere Verhältnisse zu ihm trat;
später studirte er zu Erlange» und Göttingen. Schon ans. der Universität ent¬
wickelte Vincke einen unbefangenen vorurtheilsfreien Sinn in Beziehung ans Staats¬
angelegenheiten. Das comödicnhafte Wesen, das damals namentlich durch die
Ordcnsverbinoungen aus den Universitäten eingerisse» war, war ihm verhaßt, und
er fand Gelegenheit, demselben durch eine zwanglose landömannschastliche Ver¬
einigung entschieden entgegenzutreten. 179S trat er in die Berliner Kammer ein
und wurde drei Jahre darauf von dem Domcapitel in Minden zum Landrath
vorgeschlagen und bestätigt; er erhielt einen Gehalt von i00 Thlr., wovon er
anfangs noch 100 Thlr. für einen pensionirten Kreisbeamten abgeben mußte,
während die Bestallungösporteln 120 Thlr. betrugen. Er war 23 Jahr alt, von
kleiner Statur und so jugendlichen Aussehens, daß der König, als er ihm bei
Gelegenheit einer großen Revue im Frühjahr 1799 vorgestellt wurde, sich gegen
den Oberpräsidenten Freiherrn von Stein äußerte: „Macht man hier Kinder zu
Landräthen?" Die Antwort Steins lautete: „Ja, Ew. Maj., ein Jüngling an
Jahre», aber ein Greis an Weisheit." — Im Anfang des I. 1802 wurde'er vom
Ministerin»! beantragt, wegen der Einführung der Schafzucht nach Spanien zu gehen;
er blieb daselbst über ein Jahr und nahm dann nach seiner Rückkehr sehr eifrig
seine landräthlichen Geschäfte wieder auf. Noch in demselben Jahre wurde er
vom Minister zur Magdeburger Präsideutur empfohlen; es ist darüber ein sehr
interessanter Bescheid aufbewahrt. Der König wunderte sich, daß ein so großer
Mangel an tüchtigen Beamten da sein sollte, daß man mit jungen Leuten so
schnelle Beförderung vornehmen müßte. „Ans dieser Verlegenheit sollte man
schließen, daß der Adel des Landes nicht mehr von dem edlen Geiste seiner Vor¬
fahren beseelt wäre, der ihn anfeuerte, sich zu deu wichtigsten Ehrenstellen des
Landes, zum Dienst des Vaterlandes sich vorzüglich geschickt zu machen.... So
groß also auch die Vortheile sind, die für den Dienst daraus entstehe», wenn die
ersten Stellen in Directorien mit Männern besetzt werden, die mit ihren persön¬
lichen Verdiensten zugleich das Verdienst ihrer Ahnen verbinden und durch deren
Glanz dies Ansehen vermehren, so schädlich wird es auf der andern Seite sein,
bei dem Abgang persönlicher Verzüge dennoch den Adel dem Bürgerstande vor¬
zuziehen und Männer von bewährten Verdienst aus dem letzteren blos der Ge¬
burt wegen nachzusetzen." Die Vorstellung, die der König von Vincke hatte,
war der Grund zu diesen Eröffnungen, er sagte zum geheimen Cabinetsrath
Beyme: „warum nicht gar das Kind schon zum Präsidenten in Magdeburg er¬
nennen; wenn man doch einmal soweit zurückgekommen ist, daß man den Präsi¬
dent, unter den Kindern suchen muß, so muß man sie doch wenigstens bei den
kleinen Kammern anfangen lassen." Trotzdem änderte er kurz darauf seine
Ansicht und Vincke wurde'zum Präsidenten der ostfriesischen Kammer in Aurich
ernannt. Unter den tüchtigen Leuten dieser Provinz fand, er sich bald zu Hause,
aber sein Anfenthalt sollte nicht lange dauern. Der bisherige Oberpräsident von
Westphalen, Freiherr von Stein, wurde zum Minister ernannt, und von allen
Seiten, namentlich vom General Blücher, sowie von Stein selbst, wurde Vincke
zu seinem Nachfolger vorgeschlagen. Er wurde in der That 1804 zum Kammer¬
präsidenten in Münster ernannt und fing schon damals an, jene einsichtsvolle und
unermüdliche Thätigkeit zu entwickeln, die später für die Provinz so segensreich
wurde. Für Preußen beginnt jetzt jene schimpfliche und unselige Zeit, die uns
auch in dem Briefwechsel zwischen Vincke, Stein und Blücher auf das lebhafteste
entgegentritt; endlich wurde der Krieg angefangen, aber sehr schnell und unglück¬
lich beendigt und Vincke sah >sich sehr bald, im März 1807, durch die Bedrückun¬
gen der französischen Befehlshaber bestimmt, seine Stelle niederzulegen. Er wurde
jetzt in außerordentlichem Dienst zu Unterhandlungen mit den auswärtigen Mäch¬
ten, namentlich mit England benutzt und entledigte sich dieses Auftrags zur all¬
gemeinen Zufriedenheit. Er unterhielt eine lebhafte Verbindung mit allen Patrioten,
lehnte aber für den Anfang jede officielle Stellung ab, weil die Maximen der
Verwaltung nicht mit seiner Ansicht übereinstimmten, bis er 1809 nach Beseitigung
dieser Bedenklichkeiten zum Präsidenten der knrmärkischen Regierung ernannt wurde.
Aus seiner früheren Thätigkeit haben wir zwei wichtige Documente, die Darstellung
der innern, Verwaltung Großbritanniens, welche von Niebuhr herausgegeben
worden ist, und einen Aufsatz über Zweck und Mittel der preußischen Staatsver¬
waltung, der uns hier in seiner ganzen Ausdehnung mitgetheilt wird und das
größte Interesse in Anspruch nimmt, da er ganz in dem Geiste der neuen Ne-
formideen, soweit sie für einen praktischen Mann annehmbar waren, gehalten ist.
Von vornherein hatte er erklärt, sein Amt nur kurze Zeit führen zu kommender
legte feine Stelle.schon im folgenden Jahre nieder, verheiratete sich und begab
sich ans seine Güter, wo er von Seiten der französischen Behörden den größten
Schwierigkeiten begegnete; einmal, im Anfang des Jahres 1813, wurde er sogar
eine Zeitlang verhaftet. Endlich brach der große Krieg los und Vincke wurde
das Civilgonvernement von Westphalen übertragen (November 1813). In diesem
höchst schwierigen Wirkungskreise entwickelte nim Vincke eine eiserne Entschlossen-
"
heit, die freilich zuweilen auch in Gewaltthätigkeiten überging. Gleich zu Anfang'
begannen die Streitigkeiten mit dem Militärgonverncnr, der sich sehr bald veran¬
laßt fühlte, ihn ans Degen oder Pistolen zu fordern, worauf auch Vincke mit
großem Vergnügen einging; indessen sahen beide doch sehr bald ein, daß ein
solches Verfahren für ihre Stellung nicht recht passend sein würde. In Vinetas
Tagebücher finden wir über diese Thätigkeit sehr ergötzliche Bemerkungen
z. B. „Visite von Frau G. damit endigend, daß ich sie zur Stube hinauswarf."
Ferner: „Frau v. G. Arrestatiu wegen loser Zunge" u. s. w. Aus Abneigung
gegen den Kriegsdienst waren viele Wehrmänner und andere Militärpflichtige in
ganzen Scharen nach Holland geflüchtet. Empört darüber erließ Vincke trotz
des Einspruchs von Seiten des Militärgouverneurs ein Edict, in welchem folgende
merkwürdige Punkte vorkamen: „Die von den Inhabern ganz verlassenen Woh¬
nungen sollen mit allen beweglichen und unbeweglichen Gütern meistbietend sofort
verkauft und der Betrag zur Provinzialkasse eingezogen werden. Wenn sich kein
Ankäufer findet, sollen sie niedergerissen und ihre Spur vertilgt, auch für die
Dauer des Feldzugs kein neuer Anbau auf der Stätte zugelassen werden. Die
Familien der Entlaufenen sollen aus öffentliche Kosten .in den Arbeitshäusern er¬
nährt werden" n. s. w. — Dieses ganz unerhörte Edicte fand natürlich von
Seiten der Regierung einen sofortigen Einspruch,°aber es hatte durch den Schreck
seine Wirkung gethan. Vincke hatte noch öfters Gelegenheit, seine Uneinigkeit
mit dem Gouvernement auszudrücken. So war er empört über die Abtretung
von Ostfriesland, nicht nur wegen der völligen Ausschließung des preußischen
Staats von der Nordsee, sondern auch wegen der Tüchtigkeit der Menschen und
er lieh dieser Empörung die bestimmtesten Ausdrücke. „Ein Ostfriese" sagt er, un¬
ter, anderen „ist gewiß mehr werth, als zwanzig halbfranzöflrte Menschen am
linken Rheinufer und der Werth der dortigen neuen, entfernten Erwerbungen
muß sich in demselben Grade vermindern, als der Bestand der vorliegenden alten
preußischen Provinzen verringert wird, welcher allein diesen neuen Erwerbungen
die gehörige Geltung zu geben vermag." Dennoch mußte er selber den Act der
Uebergabe vollziehen, er entledigte sich dieses Auftrags, auf eine würdige
und ergreifende Weise. Ein anderer Grund des Conflicts war die exceptionelle
Stellung der Mediatisirten, gegen die er nicht nur sehr energisch protestirte, son- >
dern der er auch in seinen amtlichen Geschäften eine Wendung gab, welche die
lebhaftesten Beschwerden hervorrief.
Soweit führt uns der erste Band^ ,Wir sehen dem zweiten, welcher die höchst
segensreiche geschäftige Thätigkeit Vinckes in ruhigeren Zeiten verfolgen wird,
mit großer Spannung entgegen. —
Diese beiden Bände enthalten die sechste Auflage der Geschichte der eng-
lischen Revolution (zuerst erschienen -I8i3) und die dritte Auflage der Geschichte
der französischen Revolution (zuerst erschienen 18is). Die zunächst vorher¬
gehende Auflage fiel in die Zeit unserer eigenen Bewegung und gewann da¬
durch ein charakteristisches Interesse, aber wir finden auel/ für die neue Ausgabe
den Zeitpunkt sehr günstig, denn es sind durch die demokratischen Schriftsteller
einerseits, durch die reaktionären Schriftsteller andrerseits so verkehrte Begriffe
über das Wesen der Revolution im Volke verbreitet worden, daß eine Berich¬
tigung derselben durch einen hochgebildeten und ehrenfester Mann sehr am Orte
sein dürfte. Wir gehen auf den Inhalt dieser beiden Bände diesmal nicht ein,
weil wir eine Charakteristik Dahlmanns in der Reihe unserer deutschen Geschicht¬
schreiber in der kürzesten Zeit beabsichtigen, wir bemerken hier nur soviel, um
manche verkehrte Ansichten, die über diese Schriften verbreitet sind, zurückzuwei¬
sen. Die Aufgabe des Geschichtschreibers geht nach zwei verschiedenen Seiten
hin: einmal die Eroberung eines neuen Gebietes für die Wissenschaft und wo¬
möglich zugleich auch die künstlerische Abrundung desselben; sodann aber die Auf¬
nahme eines bereits bekannten Gebiets in den sittlichen ideellen Kreis des Volks¬
bewußtseins. Es versteht sich von selbst, daß die beiden Schriften Dahlmanns
der letzteren Bestimmung angehören. Sie würde zwar ganz unmöglich zu erreichen
sein, wenn nicht ebenso umfangreiche und tiefe Vorstudien, wie sie für die erste
Gattung nöthig sind, vorausgegangen wären, aber sie erfüllen zugleich einen
höheren Zweck. Dahlmanns beide Schriften sind zu Volksbüchern im edleren
Sinn bestimmt und sie sind es anch geworden, trotz aller Anfechtung von Seiten
der Extreme; sie sind in aller Händen, und grade der bessere Theil des deutschen
Volks, der nicht an dem lauten Gewühl des Marktes theilzunehmen pflegt, hat
sie mit dem Verstand und mit dem Herzen aufgenommen. Daß noch immer
Männer von dein Tiefsinn und der umfassenden Gelehrsamkeit, wie Dahlmann,
im Stande sind, solche Werke zu schreiben, die sich des Gemüths bemächtigen,
und daß das Volk im Staude ist, sie richtig aufzufassen, das scheint uns immer
ein günstiges Zeichen für die Bildungsfähigkeit Deutschlands zu sein, welches wir
um so lieber constatiren, da wir nicht allzuhäufig zu solchen Wahrnehmungen
Veranlassung haben. —
Während wir bei Dahlmann die ernste und tiefsinnige Auffassung eines
deutschen Gelehrten antreffen, mußten wir hier jene lebhafte und springende
Phantasie des Dichters erwarten, die sich in der Geschichte der Girondisten und
der Restauration auf eine so glänzende Weise, freilich nicht zur wissenschaftlichen
Befriedigung, bewährt hat. Wir müssen offen gestehen, daß. wir gleich von vorn¬
herein mit der Voraussetzung an das Buch gingen, dieses schöne Talent würde
hier weniger Spielraum haben, da die Thatsachen bis in das Einzelne hinein
zu genau bekannt sind, als daß sie nicht die freie Bewegung der Phantasie fort¬
während hindern müßten, und in der That ist unsre Befürchtung durch die
Lectüre des 1. Bandes nicht widerlegt worden. — Lamartine beginnt mit eini¬
gen geschichtsphilosvphischeu Bemerkungen und geht dann gleich mich seiner Ge¬
wohnheit in in<ZiZta8 r«zö d. h. an die Eröffnung der allgemeinen Stände am
6. Mai 1789. Es ist ein genreartigcs ausgeführtes historisches Gemälde, in
dem sich namentlich das Porträt Neckers (S. 19), sehr originell, wenn auch ein¬
seitig aufgefaßt, bedeutend hervorhebt. Dann geht Lamartine ans die Ursachen
dieses Ereignisses zurück, die in politischer Beziehung unbedeutend entwickelt, aber
doch wieder mit einigen gelungenen Porträts, z. B. mit dem von MaurepaS
ausgestattet werden. Den meisten Raum nimmt, wie sich erwarten läßt, die Ge¬
schichte der Königin Marie Antoinette ein, namentlich die Halsbaudgeschichte ist sehr
anziehend, wenn gleich durchaus novellistisch behandelt. Nach dieser ersten großen
Episode fährt Lamartine 'S. 125 in seiner Geschichte fort, aber nur, um sie
sogleich S. 136 durch eine zweite größere Episode, die Biographie Mirabeaus,
die bis S. 201 geht, zu unterbrechen. Dann schleicht der Fortgang der Be¬
gebenheiten in der gewohnten Weise einförmig hin, bis wieder S. 293 eine
kleine Episode, die Schilderung von Camille Desmoulins, frisches Leben hinein¬
bringt. Der erste Band schließt mit der Einleitung zur Erstürmung der Ba¬
stille ab. —
Für die Geschichte ist in diesem Werke nichts geleistet, es wird aber doch
viele Leser finde», weil es den bekannten Stoff in einschmeichelnden und zierli¬
chen Formen wieder vorführt. Zu Parodoxien, für die sonst Herr v. Lamartine
eine große Vorliebe hat, fand sich diesmal keine Veranlassung. —
Auch hier haben wir einen Versuch, uns die gesellschaftlichen Zustände der
Zeit vor dem Ausbruch der ersten französischen Revolution näher zu führen, ein
Versuch, der für unsre historischen Kenntnisse viel ausgiebiger ist, als die Ge¬
schichte des Herrn von Lamartine, weil die Verfasserin sich aller Betrachtungen
enthielt, die nicht in das Gebiet ihrer unmittelbaren Anschauung und Kenntniß
gehören. — Fräulein von Walduer, die spätere Baronin von Oberkirch, war
1734. im Elsaß geboren und verlebte ihre Jugend in Mömpelgard, wo sie mit
der Prinzessin von Würtemberg, später» Gemahlin des Kaiser Paul I. erzogen
wurde, und mit ihr eine Freundschaft schloß, welche die ganze Dauer ihres Le¬
bens umfaßte. Eine Reise der Großfürstin nach Paris gab ihr Gelegenheit,
nachdem sie bereits verheirathet war, 1782, sich gleichfalls in diese Hauptstadt
zu begeben, wo sie als Begleiterin und Freundin der ersteren den Zugang in die
höchsten Zirkel fand. Sie führte damals el» Tagebuch und zeichnete mit großer
Pünktlichkeit alles ans, was sie bei Hofe, im Theater, in den Gesellschaften
u. s. w. von bedeutenden Personen antraf, indem sie natürlich auch alle die
Anekdoten hinzufügte, die sie von andern hörte. Sehr interessant ist namentlich
ihr erstes Zusammentreffen mit Cagliostro und mit dem Prinzen von Rohan.
Vielen ernsthaften Lesern wird zwar der Inhalt des ganzen Buchs frivol erschei¬
nen, denn man hat es nur mit Hvfgeschichteu, Ceremonie» u. tgi. zu thun, aber
für die Charakteristik der Zeit ist es höchst bedeutend; denn wir erlange» den
unmittelbarsten Eindruck von de» Stimmungen und Sitten der höheren Gesell¬
schaft, zudem da Frau von Oberkirch ganz entschieden den Eindruck der Offen¬
heit macht und sowenig aufschneidet, als unter den gegebenen Umständen irgend
möglich war. Von Paris aus begleitete sie die Großfürstin durch die franzö-
sischen Provinzen und die Niederlande und reiste dann mit ihr nach Würtemberg,
wo sie Abschied von ihr nahm. Diese Geschichten füllen den ersten Band aus, der
übrigens auch ein paar Briefe von Göthe und Wieland enthält, denn auch diese Dichter
brachten der schönen Dame ihre Huldigungen dar. — Eine zweite Gelegenheit, die
feine Gesellschaft der Hauptstadt kennen zulernen, bot sich ihr 178L durch die ge¬
naue Bekanntschaft mit der Herzogin von Bourbon, der Schwester des Herzogs von
Orleans, die zwar nicht im besten Rufe stand, aber sehr geistvoll und interessant
war. Diesmal wurde sie auch feierlich bei Hofe vorgestellt und schildert das da¬
selbst übliche Ceremoniell mit einem feierlichen Ernste >und einer Ausführlichkeit,
die einen.sehr komischen Eindruck macht. An Stelle Cagliostros beschäftigte dies¬
mal MeSmer die Aufmerksamkeit der feinen Welt. Mittlerweile dauerte die Freund¬
schaft mit der russischen Großfürstin fort und auch von dieser Seite erhalten wir
manche recht ergötzliche Anekdote. — Die dritte Reise nach Paris fand 1786
statt. Aus diesem Aufenthalt wollen wir eine kleine Anekdote erzählen, die zu
charakteristisch für den Hofton ist, als daß wir nicht darauf aufmerksam machen
sollten. Sie war unter ander» mit Fran von Mackan bekannt geworden, der
Erzieherin der jungen Prinzen, und besuchte dieselbe, als grade die Herzogin
von Bourbon sich zur Königin begeben hatte. Frau vou Mackau stellte sie den
„Kindern von Frankreich" vor (S. 2S9): „Madame Royale war 7'^ Jahre alt,
sie war für ihr Alter sehr groß und hatte eine vornehme und ausgezeichnete Hat-'
tung. .Als ich diese. Prinzessin so erwachsen und so reizend sah, konnte ich mich
nicht zurückhalte», da ich an die Freiheiten der deutschen Höfe gewöhnt war, es
ihr zu sage». Diese Kühnheit mißfiel Madame Royale, ich sah es den Augenblick
auf ihrem Gesicht. Ihr stolzer Blick wurde feurig, ihre Züge nahmen eine ernste
Haltung an und sie erwiderte ohne Zögern: Ich bin.erfreut, Frau Baronin,
daß Sie es finden, aber ich bin erstaunt, daß Sie es mir sagen. Ich ver-
stummte bestürzt und wollte mich in Entschuldigungen erschöpfen, aber Frau von
Mackau unterbrach mich und sagte kaltblütig: Entschuldigen Sie sich nicht, Ma¬
dame Royale ist eine „Tochter von Frankreich" und wird niemals das Glück, ge¬
liebt zu werden, den Forderungen der Etikette nachstellen. Sogleich wandte sich
Madame Royale mir zu und reichte mir mit der würdigsten und gütigsten Miene
ihre kleine Hand, die ich küßte. Darauf machte sie mir eine tiefe und ernste
Verbeugung und entfernte sich in der liebenswürdigsten und höflichsten Weise.
Wohl war es die Enkelin Maria Theresias. Es wird ein schöner und edler
Charakter werden." — O ihr armen Kinder!
Der Nest des Buchs enthält Schilderungen aus dem Leben der Provinz.
Frau von Oberkirch lebte bis -1803. Das Wohlwollen der russischen Kaiserin
dauerte auch noch nach ihrem Tode fort und fand Gelegenheit, sich an ihren
Kindern, die als Gefangene nach Rußland gebracht wurden, thätig zu bewähren. —
Man sagt dem Deutschen nach und nicht mit Unrecht, daß er sich in der '
Regel mehr um die politischen Verhältnisse des Auslandes, als um. seine eigenen
kümmert, allein im, wesentlichen sind es doch nur zwei Länder, Frankreich und
England, in denen wir wirklich zu Hause sind, so zu Hause, daß wir uns nicht
blos für den Gang der Entwickelung im allgemeinen, sondern auch für die ein¬
zelnen dabei betheiligten Persönlichkeiten interessiren. Unter den übrigen Ländern
hat Spanien zwar zu einer gewissen Zeit unsre Aufmerksamkeit auf sich gezogen,
als der langdauernde Krieg die Halbinsel verwüstete, als man es mit Schlachten,
mit Hin- und Hermärschen, kurz mit dramatischen Ereignissen zu thun hatte. Seit
dem Friedensschluß ist unsere Aufmerksamkeit erschlafft, und doch ist in die spanische
Entwickelung keineswegs ein Stillstand eingetreten, im Gegentheil treten erst jetzt
die kämpfenden politischen Ideen, die in der Hitze des Bürgerkriegs zu bloßen
Stichwörtern ausgeartet waren, in ihrer realen Bedeutung ans Tageslicht. Aber
die Zeitungen sind in der Regel schlecht unterrichtet, sie zeichnen sich sogar in
dieser Beziehung meistentheils durch eine fabelhafte Unwissenheit aus und für das
Publicum wird es um so schwerer, dem Gange der Ereignisse zu folgen, da es
in deu Einzelnheiten uicht mehr orientirt ist. Es ist daher ein dankenswerthes
Unternehmen von dem Verfasser des vorliegenden Werkes, daß er durch eine ebenso
gründliche als zweckmäßige Zusammenstellung der Ereignisse aus den letzten
zehn-Jahren es uns möglich macht, uns in den Personen und Zuständen voll¬
ständig zu orientiren und bei jeder neuen Wendung zu verstehen, worauf es
eigentlich ankommt. Uns ist kein ähnliches Unternehmen bekannt und wir glau- '
ben, daß wir jedem Zeitungsleser, dem es darauf ankommt, das, was er liest,
auch zu verstehen, dieses übrigens sehr lesbar geschriebene Buch ein unentbehr¬
liches Handbuch sein wird. Anspruch ans höhere historische Bedeutung macht der
Verfasser nicht, aber da er seit einer Reihe von Jahren der spanischen Geschichte
die unausgesetzteste Aufmerksamkeit gewidmet hat und daher seines Stoffes voll¬
ständig Herr ist, so ist es ihm leicht geworden, das Wesentliche von dem Un¬
wesentlichen zu scheiden und uns ein zwar leicht entworfenes, aber verständig
gruppirtcs und in allen Theilen wohl zusammenhängendes Bild zu geben. Auch
die Einleitung, die bis in die Napoleonische Zeit zurückgreift, um in den Vor¬
aussetzungen, ans die man bei den spätern Ereignissen nothwendig zurückkommen
muß, eine gewisse Vollständigkeit zu erreichen, gibt eine vortreffliche Uebersicht
der 36 Jahre, die dem eigentlichen Anfange der Geschichte vorausgehen. Noch
ein anderes und in unserer Zeit sehr anerkennenswertheö Verdienst hat das Buch,
es vertritt nämlich mit ehrlicher und wohlthuender Wärme das constitutionelle
Princip., das von den Modeschriftstellern unserer Tage, sowol von den Demo¬
kraten als von den Absolutisten, so gern zum Gegenstand wohlfeiler, aberwitziger
Spöttereien genommen wird. Der Verfasser ist keineswegs ein Doctrinär, son¬
dern er geht überall von praktischen Gesichtspunkten ans, er kommt aber, wie
jeder verständige Praktiker, zu dem Resultat, daß die richtige Theorie und die
richtige Praxis immer Hand in Hand gehen müssen. —
Die Amerikaner und die Pforte. — Die vorsichtige Politik
des englischen Cabinets, die orientalische Verwickelung durch gemeinsame Verhandlungen
der europäischen Cabinete zu lösen, Preußen und Oestreich zu Theilnehmern einer diplo¬
matischen Operation zu machen und dadurch sowol eine» europäischen Krieg zu ver¬
meiden als Rußland zu isoliren, ist durch deu Zufall aus eine Weise gefördert worden,
welche gleichwol selbst der englischen Negierung unwillkommen ist, so sehr'dieser Zufall
zu einem schnelle» Einvernehmen der vermittelnden Mächte beigetragen habe» mag.
Was als Gerücht bereits durch die Zeitungen ging, daß Amerika entschlossen ist,
seine Rolle in den europäische!, Wirren zu spielen, berichte ich Ihnen als ein sicheres
Factum. Die Diplomatie der Vereinigten Staaten hat in der kurzen geschäftlichen Weise
der amerikaiiische» Politik der Pforte die Aussicht eröffnet, ihr als KriegSsnbsidie die
ganze Summe, die sie durch eine Anleihe in Paris und London ohne große Hoffnung
aus glückliche» Erfolg zu erlangen sucht, zur Disposition zu stellen. Ja noch mehr als
diese Summe, wenn die Pforte den Vereinigten Staaten als Gegenleistung eine Jusel
im Archipel mit geeignetem Hafenplatz als Station sür Kriegsschiffe abtreten
wolle. Für die türkische Regierung hat dieses Anerbieten vieles Lockende. Unter all
den eigennützigen Freunden, welche sie umgeben, ist keiner, der nicht im Stille» seine
Speculation auf de» Untergang seines Clienten einrichtete und sich nicht als sein Erbe
betrachtete, vielleicht Preußen allein ausgenommen. Bei den Vereinigten Staaten ist
eS offenbar viel weniger,a»f weitere Erwerbungen im türkischen Gebiet abgesehen, als
aus eine Einwirkung in die Verhältnisse des christlichen Europas und ans eine impo-
nirende Stellung im hohen Rathe unseres Welttheils, welche die Seemächte sehr bald
zu neuen Rücksichten, Concessionen und Opfern zwingen würde und die Vcrgrößernugs-
pvlitik der Amerikaner im westlichen Continent von dem Widerstände Englands, Frank¬
reichs und Rußlands befreien könnte. Die Amerikaner haben Uebermuth, Kraft und
Geld im Ueberfluß und eS gibt kaum ein Mittel, ihre Verbindung mit der Pforte zu
verhindern.
Welche Folgen ein solches Bündniß auf den russisch - türkischen Krieg ausüben
würde, ist allerdings nicht zu berechnen. Sicher aber ist, daß das Auftreten der Ameri¬
kaner als einer europäischen Macht ans das Festland Europas die allergrößten und
auffälligsten Wirkungen ausüben muß. Zumeist auf Deutschland, welches bei seinem lockeren
staatlichen Organismus, bei dem jetzt herrschenden politischen System und dem Mangel
einer größeren Kriegsflotte die größten Blößen darbieten würde, ohne ein genügendes
Mittel zur Abwehr zu besitzen. Es ist nur nöthig, an die Bereitwilligkeit zu erinnern,
mit welcher die Amerikaner Fremden daS Bürgerrecht ertheilen und an die rücksichtslose
Energie, mit welcher sie die Person und die Rechte ihrer, Staatsangehörigen vertreten.
Alle Unzufriedene», alle, welche durch das politische System der Staaten des Festlandes
verletzt werden, könnten unter dem Banner der Vereinigten Staaten Zuflucht finden
und unter dem Schutz eines amerikanischen Bürgerbriefes und Reisepasses der Polizei
ihrer Vaterländer in sehr ärgerlicher Weise Trotz bieten und keine Strenge und keine
Vorsichtsmaßregeln würden dagegen ausreichende Hilfe gewähren. Sehr bald würden
alle Arten diplomatischer Händel und offene Kriegszustände eintreten, bei denen z. B.
der deutsche Bund keine glänzende Rolle spielen könnte. Die Schwäche und Haltlosig¬
keit vieler staatlichen Verhältnisse würde in der gefährlichst«! Weise zutagckommen.
Alle Opposition gegen die Monarchien des Festlandes würde einen furchtbaren Helfer
und nach den ersten Schlappen, welche der Monarchismus einzelner Staaten erlitte, in
allen Ländern zahlreiche Bundesgenossen erhalten. Es ist nicht zuviel gesagt, wenn
man behauptet, daß ein Ansiedeln der Vereinigten Staaten in Europa der Anfang
einer vollständigen Umwälzung des europäischen Continents sein könnte.
Es gibt Anzeichen, welche verrathen, daß die europäischen Mächte, diese Gefahr
erkennen und fürchten. Von.England, welches nicht grade diese, aber um so mehr
andere Ursachen hat, die Amerikaner von Europa fern zu halte», ist nicht zu bezweifeln,
daß diese drohende Eventualität den größten Einfluß aus den im Ministerrath gefaßten
Entschluß hat, den türkischen Krieg ans alle Gefahr und mit allen Mitteln zu einem
schnellen Ende zu bringen.
Ob das englische Ministerium die Energie und selbst die Mittel hat, diesen Ent¬
schluß auszuführen, kann als zweifelhaft betrachtet werden. Der erste Schritt, den
dasselbe gethan hat, war der, Frankreich, Preußen und Oestreich von neuem zu ge¬
meinsamem, vermittelnden Auftreten zu vereinigen. Die vier Mächte haben gegenwärtig
die Türkei aufgefordert, ihre Friedensbedingungen zu sagen und derselben zugleich die
beruhigende Zusage ertheilt, daß man keinen der Vorschläge unterstützen
werde, welche die Türkei früher bereits zurückgewiesen habe, daß die In¬
tegrität ihres Territoriums die Basis der Friedensverhandlungen werden solle, „daß
die vier Mächte mit Vergnügen bestätigten, der gegenwärtige Krieg könne eine Ver¬
minderung des türkischen Gebietes nicht herbeiführen.
Je mehr aus dieser Concession erhellt, wie-sehr man genöthigt ist, die Türken
mit Schonung zu behandeln, desto weniger darf man sich der Hoffnung hingeben, daß
Rußland so schnell den Verhältnissen nachgeben wird. Zwar in Berlin scheint man
froher Hoffnung, die Majestät von Preußen hat zur näheren Begründung Ihrer Theil¬
nahme an dem Wiener Übereinkommen in der vorigen Woche einen eigenhändigen
Brief an den Kaiser von Rußland geschrieben und darin, wie verlautet, die Gründe,
welche den Wunsch zu schneller Beendigung aller Feindseligkeiten so allgemein gemacht
haben, eindringlich dargestellt. Auch Herr v. Manteuffel hofft, der erneute Vermit¬
telungsversuch werde im allgemeinen günstige Aufnahme beim Kaiser von Rußland
finden. Schreiber dieses theilt seine Hoffnungen nicht. Es ist kein Zweifel, daß man
in Petersburg lebhaft empfindet, der russische Calcul beim Beginn des Feldzugs sei
unrichtig gewesen. Damals hatte man gehofft, England zu> isoliren und Preußen, jeden¬
falls Oestreich als Bundesgenossen zu gewinnen, mit deren Hilfe Rußland in größter
Behaglichkeit gegen die Türkei avanciren und im schlimmsten Fall einen europäischen
Krieg in Deutschland und Italien ausbluten lassen konnte. Wie sehr der Kaiser durch
den Widerstand seiner Nachbarn gekränkt und persönlich erregt worden, erzählen viele,
wenigstens charakteristische Anekdoten. Aber bei seiner Persönlichkeit ist nicht anzuneh¬
men, daß ein solcher passiver Widerstand seinen gefaßten Entschluß erschüttern werde.
Ein gcwaltthütigcr Zug in seiner energischen Natur und die zu günstigen Berichte seiner
Diplomaten über die Stimmung der deutschen Höfe und über die Stimmung der türki¬
schen Slawen haben ihn zu weit geführt. Er hat sich selbst mit den Formeln seines
orthodoxen Glaubens geweiht und von der religiösen Begeisterung des Volkes soviel
in sich ausgenommen, daß er ohne einen innern Bruch schwerlich mehr zurückkann. ES
ist anzunehmen, daß diese Empfindung necs zwingender für ihn sein wird, als die
Rücksicht ans die Stimmung der Masse, welche so eifrig auf so große Resultate eines
heiligen Kampfes hingewiesen wurde.
Wenn aber der neue Vermittclnngsversuch nicht die gewünschten Erfolge hat, was
soll dann geschehen? Soll die Pforte gezwungen werden, die Donaufürstenthümer den
Russen zu lassen? Für England wenigstens ist eine solche Maßregel »ach menschlichem
Ermessen unmöglich. Sollen die Russen gezwungen werden, die Fürstentümer zu räu¬
men? Es steht nicht zu hoffen, daß die französische und englische Flotte, und wenn
sie alle Küsten des schwarzen Meeres mit einem eisernen Besen reinfegen könnten, dies
in den nächsten Monaten durchsetzen werden. Und wenn das nicht möglich ist, wie
wollen die Seemächte verhindern, daß die Türkei sich mit den Vereinigten Staaten in
ein Contractverhältniß setze, welches früher oder später den Amerikanern einen festen
Stützpunkt in Europa gibt? Das einzige Mittel wäre offenbar, daß England und
Frankreich der Psorte die nöthigen Subsidien zahlen und sich selbst als Meistbietende mit
der Türkei zu einem Bündniß vereinigen. ES ist kaum anzunehmen, daß ein solches
Bündniß so formell, rücksichtslos und dauerhaft geschlossen werden wird, als nöthig
wäre, »in die guten Wirkungen desselben zu sichern.
So stehen wir jetzt, wo wir uns eines großen diplomatischen Erfolges freuen
können, wo wir Preußen und Oestreich in einer Politik sehen, welche man noch vor einem
Jahre nicht für wahrscheinlich gehalten hätte, doch am Anfang neuer Verwickelungen,
welche diesmal nicht weniger abenteuerlich als drohend erscheinen.'
— Seit meinem vorigen Schreiben ist ein parlamentarischen Er¬
eignissen nichts Erwähncnswerthcs vorgefallen, es müßte denn die endlich am vorigen
Montag zu Stande gekommene Vollzählichkeit der ersten Kammer sein, die mit 79 von
8-1 Stimmen, wie vorauszusehen war, den Grafen Rittbcrg zu ihrem Präsidenten er¬
wählte. Die Kammern sind zuerst in den Abtheilungen mit Berathung der ihnen zu¬
gekommenen Regierungsvorlagen und der eingegangenen Anträge beschäftigt.
Die Confiscation der Kreuzzeitung, die mit so großer Strenge vollzogen wurde,
daß man selbst die bereits ausgegebenen Blätter durch Schutzmänner aus den öffent¬
lichen Localen abholen ließ, erregte anfang der Woche einige Sensation. Der Grund
war ein heftiger Artikel gegen die badische.Regierung; die Staatsanwaltschaft trat in¬
deß der Ansicht der Polizei nicht bei und die mit Beschlag belegte Nummer wurde
nach einigen Tagen wiederum freigegeben. Die Kreuzzeitung beschwerte sich aus Anlaß
dieses ihr zugestoßenen Unfalls — sie bekundet stets liberale Anwandlungen über Preß-
freiheit, sobald sie selbst den Druck des herrschenden Systems empfindet —, daß die
Polizei den Redactionen nie angebe, weshalb eine Beschlagnahme erfolge, erstere also
keine Richtschnur gewinnen konnten, wie sie derartige, dem Betrieb einer Zeitung äußerst
nachtheilige Maßregeln zu vermeiden hätten. Wir finden diese Forderung nur gerecht¬
fertigt; nicht blos aber zu diesem Zwecke, sondern damit auch zur Oeffentlichkeit komme —
denn hoffentlich würden die Redactionen die ihnen angegebenen Gründe derselben nicht
vorenthalten — wie gänzlich regellos und auf die subjectivsten und unberechtigtsten Ansich¬
ten hin, verschiedene Polizeivorstände Beschlagnahmen eintreten lassen. DaS in die
Zeitungen gelangte Schreiben des Polizeidirector Rudlosf in Stettin an die Ostsec-
zcitung gibt dafür von neuem einen schlagenden Beleg. Herr Rudloff, früher — vor
Quedl — eine Zeitlang Chef des literarischen Cabinets, scheint von der berühmten
Weisung Talleyrands „suNmtt p»s lro>> <to /.vie — auch nie etwas vernommen zu
haben. Bei seinem Amtsantritt in Stettin brachte er durch persönliches, übereifriges
Einschreiten, behufs Erhärtung der Nichtigkeit der Maße und Gewichte aus den öffent¬
lichen Märkten, eine drastisch-komische Wirkung hervor; sein Verfahren gegen die Ostsce-
zeitung beweist, daß seine Prcßpolizei keineswegs von höherer Intelligenz getragen wird,
als seine Marktpolizei. Er bedroht die Redaction jenes, Blattes, mit unausgesetzter
Confiscation, wenn sie in ihrer „gegen Nußland feindlichen Haltung" beharre. Als An¬
laß dieser Warnung bezeichnet er die Mittheilung des antirussischen Meetings in Glasgow.!!
Es scheint uns, daß die Befugniß der Beschlagnahme der Polizei gegeben ist in
der Voraussetzung, daß sie nur gegen Druckschriften ausgeübt werde, die gegen das
Gesetz verstoßen. Natürlich geht hiermit die Voraussetzung Hand in Hand, daß
die Polizeibeamten erstens das Gesetz kennen, zweitens die erforderliche Kapacität be¬
sitzen, es aus den betreffenden Fall anzuwenden. Gestattet die obere Behörde den ein¬
zelnen Polizeistcllen, hiervon zu abstrahiren und nach ihrem subjectiven Belieben eine
fortgesetzte Preßrazzia gegen eine. Zeitung zu üben, so hängt selbst die mäßige Freiheit
der Tagespresse, die das geltende Prcßgesetz gestattet, von dem Gutdünken und der
Laune jedes Localpolizcichcfs ab. Auf welche Gesetzcsstellen will Herr Rudloff sein
gegen die Ostseezeitung erlassenes „Bando" stützen? Es ist allerdings im Gesetz un¬
tersagt, befreundete souveraine zu beleidigen, eine feindliche Haltung gegen einen
andern Staat einnehmen, ist ein Vergehen, von dem das Gesetz nichts weiß. Ist es
Herrn Rudloff serner unbekannt, daß die Nationalzeitung, sowie die Kölnische seit Mo-
malen eine gegen Rußland feindliche Hciltnng beobachten, ohne deshalb von den resp.
Polizeibehörden mit täglicher Beschlagnahme bedroht zu werden? Herrscht in Ber¬
lin und Cöln etwa Zügellosigkeit in der Presse und für Herrn Nudloff das Recht
oder die Pflicht, nach andern Normen zu verfahren? Ast das Glasgower Meeting
endlich, das den Herrn Polizeidirector so in Harnisch versetzt, nicht von den meisten
preußischen und deutschen Zeitungen mitgetheilt worden? Es wäre in der That wün-
schenswerth, daß Herr Rudloff sich einer fleißigen' Lectüre der Berliner, schlesischen und
rheinischen Zeitungen befleißigte, die unter der Aufsicht seiner Amtsbruder erscheinen,
damit die gute Stadt Stettin nicht in Prcßausnahmezustände von ihm versetzt werde.
Denn ehe wir vom Gegentheil überführt sind, müsse» wir glauben, daß der Herr Po¬
lizeidirector aus Mangel an Einsicht so verfahren, nicht aus bewußter'Ueberhebung über
das Gesetz. Die Angelegenheit ist übrigens der Aufmerksamkeit der constitutionellen
Opposition in der Kammer dringend zu empfehlen. Die Antwort des Ministers des
Innern rücksichtlich der Conccssionscntziehung des Elbingcr Blattes, die ohne Angabe von
Gründen über den vorjährigen Beschluß der Kammer einfach hinweggeht, bietet den
Anlaß, beide Vorgänge gemeinschaftlich aufzunehmen. Die Hoffnungslosigkeit, in der
Kammer durchzudringen, die Hoffnungslosigkeit selbst vermittelst eines Kammcrbcschlusscs
eine Abstellung zu erwirken, darf die Opposition nicht abhalten. Sie wird sich denn
doch wohl nicht verhehlen, daß neun Zehntel des Werthes der ganzen preußischen Verfassung
gegenwärtig in dem Vorhandensein einer Stelle bestehe, an der ein freies Wort, das
die Gebrechen des herrschenden Systems rücksichtslos aufdeckt, gesprochen» und gehört
werden kann. Wird dies Wort unermüdlich bei jedem Anlaß gesprochen, so wird es
auch endlich, wenigstens vom Volke, gehört werden.
Die Börse schwimmt seit der Bekanntwerdung des Protocolls der vier Mächte
wieder in voller Fricdensseligkeit. Nach unserer Ansicht ist es gerathen, in seinen Hoff¬
nungen sich zu mäßigen, in den Hoffnungen auf den Frieden sowol, als in denen auf
einen für die Interessen Europas vortheilhaften, für die Türkei und ihre Alliirten
ehrenvollen Frieden. Warten wir ab, was aus dem neuen Protocolle hervorgehn,
gegen wen es eigentlich gerichtet sein wird, gegen die Ansprüche des Zaren, oder ge¬
gen den Widerstand des Sultans. Zum Schluß in Ermangelung wichtiger parlamen¬
tarischer Vorgänge eine kleine Anekdote aus den Abtheilungen. Der Abgeordnete
Wenzel hat einen Antrag auf Vermehrung der Gesängnißanstalten gestellt, der -in den
politischen Fractionen, deren Führer mit Begeisterung die Prügelstrafe feiern, natürlich
mißliebig ist; über das Verhalten des Ministeriums zu diesem Antrage verlautet zur
Stunde nichts Bestimmtes. So kam es, daß bei Berathung desselben in den Abthei¬
lungen , in der fünften Herr Uhden, der zugleich deren Vorsitzender ist, dem Wenzelschen
Antrage seine Stimme gab. Herr Uhden, dessen vierwöchentliche Kammcrleitung im
Beginn der vorigen Session noch im lebhaften Andenken bei der Rechten wie bei der
Linken ist, scheint einmal prädestinirt zu präsidentiellen Kalamitäten. Wäre er nicht
Vorsitzender gewesen, er wäre auch diesmal seinem Schicksale entgangen. Bei der
Stimmzählung ergibt sich, daß 20 Stimmen für, 20 Stimmen gegen den Wenzel¬
schen Antrag sind. Es ergibt sich zugleich, daß alle dem Ministerium nahestehenden
Beamtendeputirte dagegen gestimmt haben. Die Stimme des Vorsitzenden muß ent¬
scheiden. Herr Uhden hatte vorher unter den 20 Bejahenden gestimmt, doch des
Menschen Herz ist ein trügerisch und verzagt Ding. — Herr Uhden wirft jetzt als
Vorsitzender sein Votum in die Wagschale der Verneinung. Kaum ist dies ge¬
schehn, so stellt sich heraus, daß die erste Zählung falsch gewesen und daß der An¬
trag bereits das erste Mal mit 20 gegen 19 Stimmen verworfen war. Sie kennen
den Götheschen Spruch'über den. welcher Pech haben soll. Sein Votum zu dcS-
avouircn ist hart, es aber ohne Noth zu desavouircn ist ein tückischer Hohn des Ge¬
schickes, ans dem wir die bekannte, so oft vernachlässigte Moral zieh»! „Was Deines
— Von dem Drama: Mauprat v. George Sand wird eine deutsche
,Uebersetzung für die Bühnen durch Sturm und Koppe in Leipzig angekündigt. Diana
de Lys ist durch A. Bahn für das deutsche Theater bearbeitet.
Die Waise von Lowood von Chart. Birch, ist das beliebteste Stück dieser Saison.
Es ist dieses Erfolges nicht unwürdig, denn es ist eine außerordentliche Verbindung
aller Stimmungen, welche ans das gute Herz des Deutschen wirken. Eine gequälte
aber starke Unschuld, ein finstrer aber tugendhafter Lord, grausiger Hintergrund und ein
erhebender Schluß, in welchem die Tugend erhöht, die Brutalität bestraft wird, der
grausige Hintergrund sich als ganz unschädlich erweist.
Von Dramen höheren Stils wird das Hans der Barncveldt von Dingelstedt
in, der neuen Bearbeitung mit Erfolg gegeben. Bei dem Mangel neuer Dramen, geht
man zu alten zurück. So steigen die Trauerspiele Uhlcmds hinter den Lampen auf,
fremdartige Gebilde in dem Tagestreiben unsrer Theater.
Robert S esu in aun wird nach Leipzig übersiedeln. Fräulein W. Clauß,
die vortreffliche Pianistin, welche vor einigen Jahren in dem Gewandhausconccrt Leipzigs
ihre erfolgreiche Künstlerlaufbahn begann, mach?'in London ungewöhnliches Aussehen,
Sie wird von da über Paris und Leipzig nach Petersburg gehen.
Die Sonette der Musikgcsellschaft Eutcrpe stehen auch in diesem Jahre unter der
Leitung des Herrn Musikdirector Riccins. In den drei schon stattgefundenen Soireen,
zu welchen sich ein zahlreiches Publicum versammelt hatte, wurden folgende Orchcster-
werkc mit größter Präcision vorgetragen. Sinfonie in L von Schumanns Sinfonie
croica von Beethoven, und die 6-NoII-Sinfonic von Mozart, ferner die Ouver-
,eure zu Enryanthc, Medea, Coriolan und Teil. Fräulein Koch und Fräulein
Niesberg, zwei jugendliche Sängerinnen, erwarben sich durch ihre Leistungen vielen
Beifall, vorzüglich die erstere durch den Vortrag einer neuen effectvollcn und interessan¬
ten Sonettarie von Niccins. Die Herren Jadassohn, Wahrere ans Dresden und
Köckcrt aus Prag bewährten sich als tüchtige Solospieler, die erste» beiden auf dem
Pianoforte, letzterer auf der Violine.
Ludwig Tiecks gesammelte Novellen. Berlin, Reimer. — Die 16.Lief.,
mit welcher das zweite Drittel der gegenwärtigen Sammlung geschlossn ist, enthält die
beiden Novellen „Eigensinn und Laune" (1836) und „die Gesellschaft aus dem Lande"
(1823). Die erste hat dem Dichter damals große Anfechtungen zugezogen, weil man
sie als eine Satyre auf daS junge Deutschland, auf die Ideen von der Fraueneman-
cipation u. f. w. ansah. Ob der Dichter wirklich so etwas im Sinn gehabt hat, wissen
wir nicht, wir müssen aber gestehen, daß in diesem Fall die Ironie ihn selber treffen
würde. Jene Novelle hat allerdings einen höchst ungewöhnlichen Charakter: die Un-
wahrscheinlichkeit und Märchenhaftigkeit der Empfindungen kann auch die -empfänglichste
Phantasie in Verwirrung setzen, aber die Methode der Komposition weicht eigentlich sonst
von den übrigen Tiecks keineswegs ah. Dem Dichter fehlt es bei seiner leicht beweg¬
lichen Einbildungskraft und bei seiner feinen, aber immer unruhigen Reflexion sowol an
der Gabe der Zeichnung, als an jener Gesinnung, die allein die Basis für feste Cha¬
rakterbilder geben kann: ein Uebelstand, der mit der transcendentalen Kunst fast immer
verbunden ist. — Die zweite Novelle ist artig erzählt und ihre Sprünge fallen weniger
aus, weil sie lediglich auf einen komischen Eindruck berechnet sind. —
Reise- und Lebensbilder aus Neuholland, Neuseeland und Cali-
fornien. Aus dem Tagebuche eines Verwandten herausgegeben von W. Schulze.
2. Aufl. Magdeburg, Emil Baensch. Eine sehr interessante kleine Schrift, in
welcher ein abenteuerlicher und ziemlich leichtsinniger, aber entschlossener Mann »on un¬
verwüstlichem Lebensmuth seine Abenteuer in Australien und Kalifornien erzählt. Der
Bericht hat die Form eines Briefes an seine Verwandten in Deutschland und ist von
den Minen ans geschrieben in der Zeit, wo der Verfasser, dnrch einen indianischen Pfeil
verwundet, Muße und Familiengcfühle hatte. Der Bericht trägt den Stempel der
Authenticität und zeigt, daß der Verfasser in dem wilden Treiben einen gebildeten
deutschen Stil nicht vergessen hat. Die Persönlichkeit des Helden wird vielleicht nicht
weniger als die Verhältnisse des Landes den Leser anziehen.
Botanik sür Damen von !.)>'. A. B. Reichenbach — mit einem Stahlstich
und Holzschnitten. Leipzig, Heinr. Matthes, 1834. — Ein nützliches Buch, welches
in seinem ersten Theil die wissenschaftlichen Kunstausdrücke, Leben und Ban der Pflan¬
zen darstellt, in seinem zweiten eine große Zahl von Classen und Familien nach dem
natürlichen System in ihren charakteristischen Kennzeichen mit Hinzufügung der lateinischen
Namen beschreibt. ES ist wissenschaftlicher Ernst darin und kann auch von solchen,
welche nicht den Vorzug haben, Damen zu sein, mit Nutzen gelesen werden. Die Auf¬
zählung der Bedeutung, welche die einzelnen Blumen in der Blumensprache habe», ist
wenigstens nicht übermäßig störend. Es ist übrigens eine Concession an einen kleinen
veralteten gesellschaftlichen Unsinn, welche in einem verständigen Buch fortan nicht mehr
zu finden sein sollte. Denn unsere Blumensprache- ist die reine Willkür, höchstens
einzelne populäre Blumen: Rose, Lilie, Tulpe, Veilchen, Vergißmeinnicht ausgenommen.
Oft hat mir der zufällige Reim eines wißlosen Individuums der Blume einen Charakter
octroyirt. Wenn Vater Göthe selbst einige Stunden mit sinnigen Blumenvcrscn ver¬
tändelt hat, so liegt darin für unsere Zeit kein Grund, dasselbe zu thun. Denn wir
haben viele andere allerliebste Narrheiten, die u»S eigen sind, und die man zur Zeit
des seligen Herrn noch nicht kannte. Das vorliegende Buch kann als Weihnachtsgeschenk
empfohlen werden.
Bei dieser Gelegenheit fühlen wir vor dem Fest die Verpflichtung, aus der uns
vorliegenden Anzahl von Weihnachtsbnchcrn und Kinderschriftcn einiges hervorzuheben.
Zuerst fünf Volks- und Jugendschriften von W. O. v. Horn, Wiesbaden, Kreidel
und niedrer: Prinz Eugenius, der edle Ritter, das Erdbeben von Lissabon,
der Orkan aus Cuba, der Brand von Moskau, Leben des Feld in arschallö
Derfflinger, in der' bekannten christlichen und loyalen Weise des Verfassers nicht
ohne hübsches anschauliches Detail erzählt. Gute deutsche Gesinnung.
Dann sür kleinere Kinder: Marie und Elsbeth von Mathilde Bodenstedt
und Ferientage auf Onkels Schloß v. A. Corrvdi, Kassel, O. Bertram.
Hübsch ausgestattet, sittig, einfach. Die Fragen und Antworten jm zweiten Buch sind
ein wenig zu sehr in der alten Methode von Campes Robinson. Ferner: Fabeln
und Erzählungen von Karl Fröhlich, Kassel, O. Bertram. Eine neue Samm¬
lung von dem berühmten Aufschneider in schwarzem Papier. Die schwarzen Bilder sind
niedlich und mit Laune gemacht. Ferner für größere Kinder: Wald und Meer,
Schilderungen aus dem Naturleben der Thiere und Pflanzen von Pr. Max Schafter
(8 Hefte). Berlin, Hassclbergsche Verlagsbuchh. Zweckmäßig ausgewählte und bearbei¬
tete Stoffe, wieder'mit Campeschen Dreinreden der Kinder. Und für die sogenannte
erwachsene Jugend: Lednes se recits «Iss psxs ä'ont.re.in«r psr Idoock. ?soie. l.
Ri'uxellss z liissslin-; se Pomp, hat zum größten. Theil bereits 'in der Revue de deux
mondes gestanden, ist eine geschickte und anmuthige Verbindung genauer Beschreibung
und bescheidener Erfindung.
Für Mädchen von -10 — 16 Jahren ferner: In der Mondnacht. Märchen von
Hans Wachen Hufen. Leipzig, Otto Spamer -I8ni. In Andersens Stil und Ma¬
nier. Ein Fernrohr, durch welches der König das Unglück seines Volkes sieht, ein
hochmüthiger Dreier, ein blasirter Stieglitz, sogar ein kriegerischer Floh, aber auch
Engel, zehn Rosen vom Sinai, Christ ist geboren. Einige hübsche Einfälle sind darunter,
wahrscheinlich werden die oben angedeuteten jungen Damen viele darin finden.
Christian Ocscrs Weltgeschichte für das weibliche Geschlecht. Alte Ge¬
schichte, i. Aufl. vou,I»r. G. Weber. Leipzig, Fr. Brandstetter -I8S3. Beliebtes Werk.
Ist in dem Ton gehalten, in welchem erwachsene Mädchenlehrer nicht selten zu ihren
unerwachsenen Schülerinnen sprechen, d. h. es enthält in Darstellung und Stil zahl¬
reiche Concessionen an die unfertige Bildung der Schülerinnen. Z. B. S. -136: Bei
allen diesen Ausbrüchen wilder Leidenschaftlichkeit war Alexander doch stets derselbe
löwenkühnc Held, welcher durch sein Beispiel das Kriegsheer stets zu neuem Muthe
begeisterte u. s. w. — Wenn man aufhören wird, junge Damen mit schlecht stilisirten
Phrasen zu füttern, wird es den deutschen Frauen weniger Mühe machen, so liebens¬
würdig zu erscheinen, wie sie doch eigentlich sind.
Mit dem Anfange des neuen Jahres beginnen die Grenzbote»»
den XIII. Jahrgang. Die unterzeichnete Verlagshandlung erlaubt sich
zur Pränumeration aus denselben einzuladen, und bemerkt, daß alle
Behandlungen und Postämter Bestellungen annehmen.
Leipzig, im December 1853.Fr. Ludw. Hervig.