Dieses Werk ist gemeinfrei.
Fraktur
Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.
Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;
Nachkorrektur erfolgte automatisch.
]]>^
M^eine in vielfacher Hinsicht mühsamen Studien waren beendet.
Mit den auf unseren Schulen erworbenen Wissenschaften, die der
Jugend mit aller erdenklichen Vorsicht tropfenweise eingegeben werden,
fütterte ich den Geist zweier hochgcbornen unartigen Sprößlinge ge¬
gen reciproke körperliche Abfütterung und sonstige Emolumente. Meine
Subsistenz war nur temporär, sie mußte stabilirt werden. Ich wollte
mich daher in irgend ein Amt eindrängen und meine politische Lauf¬
bahn als Abschreiber beginnen. Da es mir jedoch an Bekanntschaft
mangelte und ich mit meiner Verwandtschaft nicht hervortreten durfte,
so wurde ich von mehreren Stellen in diesem Ansinnen mit dem trif¬
tigen Bescheide: „Der Bittsteller wird mit seinem Gesuche aus Un¬
zulänglichkeit der gesetzlichen Erfordernisse abgewiesen", etwas unlieb¬
sam gestört, und ich mußte daher, da ich durchaus kein schlechteres
Brod als das kaiserliche essen wollte, mit dem Commisbrod vorlieb
nehmen.
Aufrichtig gesagt, fühlte ich in mir nicht die mindeste Qualität
oder Ahnung, einst den gefallenen großen Mann und kleinen Cor¬
pora! zu ersetzen. Ich habe seit meiner Kindheit die Soldaten nie
anders, gleichviel, ob Feind oder Freund, als mit einer gewissen ängst¬
lichen Ehrfurcht angesehen und jene kleinen Kriegsgerechtigkciten, als
Gassenlaufen, Stockprügel:c., deren Augenzeuge ich zufälligerweise
mehrmals war, haben jene frühzeitige Aengstlichkeit niemals gänzlich
verscheuchen können. Ja, ich habe meine früheren Mitschüler, meine
Verwandten selbst nicht ausgenommen, so viel als möglich gemieden,
sobald selbe, mit dem Kleide der Ehre angethan, die schöne Bestim¬
mung erhielten, in Zeiten der Gefahr für Fürst und Vaterland zu
streiten und für die Sicherheit der übrigen Staatsbürger zu wachen.
Ungeachtet dieser negativen Eigenschaften, die der martialische Stand
eines echten Militärs erfordert, wurde ich Soldat und zwar ein
Artillerist.
Der Zufall führte mich mit einem Hauptmann dieser Waffen¬
gattung in einem Hause, wo ich einen Studirenden in der höheren
Mathematik unterrichtete, zusammen. Der Hauptmann, der diese
Wissenschaft als Hauptstudium der Artillerie hochschätzte, aber, wie
ich später in Erfahrung gebracht, nie selbst betrieben hatte, war höchst
wahrscheinlich davon frappirt, daß man sich sogar in Privathäusern
und nicht blos in Artillcriekasernen mit diesem wissenschaftlichen Mo¬
nopol der Artillerie beschäftigte. Er würdigte mich seiner Aufmerk¬
samkeit, und nach einigen Fragen, die er an mich wegen meiner
Studien und Aussichten stellte, entschied er mit folgendem Rathe
meine Zukunft: Hätte ich, Freund, das gewußt, was Sie können,
bevor ich zum Militär kam, ich wäre vielleicht jetzt schon General.
Folgen Sie meinem Rathe, fuhr er fort, gehen Sie zur Artillerie,
und es kann Ihnen nicht fehlen, Sie werden in zwei, drei Jahren
Feuerwerker. Ich, sagte er, ein roher Bauerbursche, wurde als Hand¬
langer zur Artillerie asscntirt, und da ich schreiben konnte, wurde ich
zu Zeiten in den Kanzleien zum Abschreiben verwendet, und endlich,
noch immer ein Handlanger, dort ganz angestellt. Nach einigen Jah¬
ren sehr braver Aufführung wurde ich Munitionär, jetzt war schon
mein Glück fertig. Ich kam nie mehr aus der Kanzlei, alle Kriege
hindurch, — ich avancirte in der Kanzlei von Stufe zu Stufe und
bin jetzt Hauptmann seit vielen Jahren in der höchsten Artilleriekanz¬
lei, werde noch avancircn und immer dort bleiben. So sprach dieser
ehrwürdige Hauptmann, und seine Worte gingen nicht verloren.
Von dieser Zeit an war Niemand ein so aufmerksamer Beob-
achter der Artilleristen als ich. Ihre ausgezeichnete Adjüstirung, ver-
möge welcher selbst die Unteroffiziere wenig von den Oberoffizieren
unterschieden waren, zog mich an. Das niedere und unanstän¬
dige Benehmen der gemeinen Artilleristen an öffentlichen Orten und
selbst die Wahl ihrer vornehmeren Liebschaften, welche mit den anderen
Militärs contrastirten, entgingen meinen Beobachtungen nicht. Mein
Entschluß, Artillerist zu werden, erhielt aber erst dann eine Konsistenz,
nachdem ich mit zwei Kanoniers zufällig zusammentraf und in bei¬
den zwei „absolvirte Philosophen" fand, die zu meinem Erstaunen in
ihrem Gespräche keine gemeine Intelligenz entwickelten. In Betrach¬
tung, daß die Artillerie als die einzige Branche in der Monarchie
besteht, in der auch ein Individuum ohne Protektion vom Gemeinen
bis zum Marschall nicht erceptionöweise, sondern allgemein vorrücken
könne, — daß bei der unausweichlichen Nothwendigkeit, das blutige
Opfer der goldenen Freiheit bringen zu müssen, doch der Trost bleibe,
größtentheils gebildete Menschen zu Gefährten zu haben; — habe
ich, unerachtet der warnenden Einflüsterungen des bekümmerten Ge¬
müths, den schweren Gang in die Kaserne zum Obersten unternom¬
men und auch vollführt. —
Mein Herz klopfte gewaltig, lind der Angstschweiß rann in Strö¬
men von der Stirne, als ich nach mehreren Zurechtweisungen zu der
Thüre des Obersten gelangte. Vor derselben stand mein künftiger
Kamerad mit entblößtem Säbel, der mich, als einen Unbekannten,
ganz barsch zurück- und an den Negimentsadjutanten wies. Als ich
diesem letzteren mein Anliegen vorbrachte, führte mich derselbe vor
den Obersten, den er mit kurzen Worten von meinem Wunsche un¬
terrichtete. Der Oberst las meine Ausweise mit Aufmerksamkeit durch
und nachdem er mich Zitternden vom Fuße bis zum Kopfe gemessen
hatte, richtete er an mich folgende merkwürdige, in meinem Gedächt¬
nisse unauslöschbare Worte: Nach Ihren Zeugnissen zu urtheilen,
können Sie Ihr Fortkommen anderwärts und vielleicht überall besser
finden als hier. Was zwingt Sie zu diesem übereilten Schritte? —
Vorliebe für den Militärstand und der Mangel an Aussicht im Ci¬
vil, war meine Antwort. — Und glauben Sie, sagte der Oberst, daß
Sie hier bald Offizier werden? — Ich werde mit Ihnen ganz auf¬
richtig sprechen, damit Sie einst ni^de von später Reue gepeinigt wer¬
den. Ich nehme viel lieber Bauernsöhne an, die nicht schreiben tön-
nen, als einen Studenten, der alle möglichen Kenntnisse besitzt; denn
die Bauernbmschm gerathen gewöhnlich besser als jene. Sie sind
von Haus aus schwere Arbeit gewohnt, an der wir das Jahr hin¬
durch einen ziemlichen Ueberfluß haben, — sie sind mit der einfachen
militärischen Kost zufrieden, weil sie keine bessere, ja oft schlechtere
kennen gelernt haben, — sie sind keine Ausläufer, weil sie die Un¬
terhaltungen der Städter nicht kennen, — sie lernen fleißig, damit
sie ihren Kameraden nicht nachstehen, — sie sind gehorsam und ehr¬
erbietig, weil sie ihre Vorgesetzten nicht übersehen, — und werden
sie Korporale, so finden sie in dieser Beförderung eine genügende
Belohnung ihrer Mühen und sind zufrieden. — Unter den Studen¬
ten geräth selten Einer! — Der Student ist arbeitscheu und jeder
körperlichen Anstrengung abhold, — die Kost behagt ihm nicht, weil
er schon Leckerbissen genascht hat, — er benützt seine freien Stunden
nicht zum Erlernen der Artilleriewissenschaften, denn er verläßt sich
auf sein Talent, — er karessirt, weil er schon die Gifte der feineren
Welt kennt, — er macht sich über seine Vorgesetzten lustig, wo er
kann/weil er einige unnütze Wissenschaften im Kopfe stecken hat, die
wir nicht brauchen, — er wird dann gestraft, — und wird er ge¬
straft, so wird er Nichts, das weiß er,—folglich wird er ein Lump!
Gesetzt aber, es bringt's Einer bis zum Korporal, so kann man diese
sentimentalen Menschen nicht einmal zum Prügeln brauchen, was
doch jeder Korporal thun muß. — Kurzum, sie taugen Nichts! Wir
brauchen keine gelehrten Leute, — wir ziehen uns unsere Leute selbst,
und nur bei uns lernt Einer, was er zu wissen braucht und was
ihn vorwärts bringt; wohingegen die Studenten nur Schwindeleien
und hohe Ansichten mitbringen, mit denen sie Andere anstecken und
unter welchen sie selbst zu Grunde gehen! — Die Bildung muß von
unten und stufenweise ausgehen. Wehe dem Staate, wo der Untergebene
gescheidter ist, als der Vorgesetzte! — Ueberlegen Sie Dieses, was
ich Ihnen hier wohlmeinend sage, und prüfen Sie sich, ob Sie den
Muth haben, besser zu werden, als die Studenten in meinem Regi¬
ment-! Nach acht Tagen, fuhr der Oberst fort, wenn es Ihr Ernst
ist, kommen Sie wieder!—Nach dieser Anrede trat ich mit dem Regi¬
mentsadjutanten ab, der mir unterwegs lächelnd sagte - Der Herr
Oberst hat Ihnen die Hölle recht heiß gemacht, es ist aber bei Wei-
tem nicht so arg. als er sagt, — kommen Sie nur in acht Tagen,
und ich stehe Ihnen gut dafür, Sie werden Ihr Glück machen. —
Die Worte des Obersten hatten meine Hoffnungen sehr herab¬
gestimmt; denn ich konnte es nicht zusammenreimen, wie man in ei¬
nem szientifischen Corps der Ignoranz vor einer contagiösen Intelli¬
genz den Vorzug geben könne. Nach einiger Ueberlegung jedoch
glaubte ich in der wohlmeinenden Rede des Obersten nichts Anderes
zu finden, als eine vorläufige Prüfung meiner Sündhaftigkeit, und
ich war entschlossen, in meinem Vorhaben nicht mehr zu wanken. —
Was ich während der langen acht Tage eigentlich that, weiß ich
nicht. So viel ist aber gewiß, daß ich aus einer Kaserne in die
andere lief, um mich durch den Anblick der Soldaten und ihrer ver¬
schiedenen Verrichtungen zu meinem künftigen Heidenthume gewisser¬
maßen vorzubereiten. Noch vor Ablauf der mir gegebenen Frist wurde
ein Seelenamt sür einen hohen Militär gefeiert, wozu auch die Ar¬
tillerie mit ihrer Musikbande ausrückte. Nach Beendigung der Feier¬
lichkeit marschirte die Truppe unter fortwährender Musik, die mich
diesmal auf eine seltsame Art elektrisirte, in ihre Kasernen, und ich
befand mich auf einmal, ohne zu wissen wie, in dem Kasernenhofe.
Ich war vor freudigem Entzücken über alle die Herrlichkeiten, welche
meiner in sehr kurzer Zeit warteten, in süße Träume versunken, aus
denen mich ein sanfter Achselschlag aufrüttelte. Bravo, bravo! sagte
zu mir der Negimentöadjutant, es ist schön von Ihnen, daß Sie
kommen, — es ist ein Beweis, daß Sie Lust zu unserer Branche
haben. Kommen Sie nur mit, ich werde Sie gleich dem Herrn
Obersten vorstellen. Ich folgte ihm mechanisch. Im Vorzimmer des
Obersten angelangt, hieß er mich warten. Nach wenigen Minuten
kam er zurück und befahl mir, ihm zu folgen, indem er mich zugleich
versicherte, daß nunmehr Alles in der Ordnung wäre. Ein Korpo¬
ral führte mich zum Arzte und gab mir unterwegs den Rath, dem
Arzte allenfalls ein Fürwort in die Hand zu drücken, nachdem es
nur von ihm abhänge, ob ich angenommen würde. Ich zog diesem
Rathe zufolge einen Fünf-Guldenschein aus meiner Brieftasche, wel¬
chen ich dem jungen Arzte, dem die Untersuchung meiner Tauglichkeit
zu den Kriegsdiensten oblag, gleich bei meinem Eintritt in die Hand
drückte. Ich mußte mich gänzlich entkleiden, auf- und abgehen, die
Backen aufblasen und ihm sogar alle möglichen Einsichten erlauben.
AIS diese Untersuchung beendigt war, erhielt ich das ärztliche Zeug¬
niß über die Tauglichkeit zu allen k. k. Kriegsdiensten, welches ich
in Begleitung des Unteroffiziers dem Negimentsadjutanten überbrachte.
Nachdem ich demselben meine Wohnung angegeben hatte, wurde ich
mit der Weisung entlassen, mich den folgenden Tag um neun Uhr
Morgens in der Regimentskanzlei einzufinden und meine Effekten,
die ich allenfalls hätte, mitzubringen. Der besorgte Unteroffizier be¬
gleitete mich bis vor die Kaserne und trug sich an, mich Nachmit¬
tags zu besuchen. Erst als mich dieser verließ und ich mir wieder
meiner bisherigen Selbständigkeit bewußt war, bemächtigte sich meiner
eine unaussprechliche Bangigkeit und Unruhe. Ich versuchte durch
allerlei Zerstreuung meine Unruhe zu bekämpfen, — Alles war ver¬
gebens. Ich wollte fliehen, allein meine Zeugnisse und alle übrigen
Ausweise befanden sich in den Händen des Obersten. In diesem
noch zweifelhaften Kampfe, ob ich mein gewagtes Vorhaben ausfüh¬
ren sollte, oder nicht, traf ich den mehrerwähnten Unteroffizier, der mir
den Antrag machte, mich mit einigen seiner Kameraden bekannt zu
machen. Natürlicherweise führte er mich in ein Gasthaus, wo uns
wirklich drei andere Unteroffiziere, mit ihren Geliebten gepaart, erwar¬
teten. Ich wurde selben als ein künftiges Mitglied vorgestellt, und
die Glückwünsche aller Seits wollten gar kein Ende nehmen. Sie
wußten ihren Stand mit so reizenden Bildern auszuschmücken und
mir ein schnelles Avancement als unfehlbar mit solcher Gewißheit zu
schildern, daß ich, jeder Befürchtung enthoben wurde und den seligen
Moment meiner Assentirung mit glühendster Sehnsucht zu beschleuni¬
gen wünschte. ES wurde tapfer gezecht, denn alle vier Unteroffiziere
waren routinirte Trinker, und ich kam hier dem Sprichworte: „Er
säuft wie ein Artilleriekorporal" um den Preis von fünf bis sechs
Gulden, die unsere Zeche kostete, glücklich auf die Spur. Unter kräf¬
tigen Scherzen, die mir als Militärnovizen die schöne Pflicht aufer¬
legten, mich — statt unserer Gesellschaftsdamen — zu schämen, un¬
ter Gesang einiger ästhetischen Trinklieder und unter herzlichsten Vi-
vatzutrinken auf mein künftiges Wohlergehen erweiterte sich meine
vor Fröhlichkeit hüpfende Seele; und ich genoß schon zum ersten Mal
in diesem Vorgeschmack jene Freuden, vie meiner harrten. Der Zapfen¬
streich, welcher unserem Vergnügen auf einmal ein Ende machte, be¬
rührte zum ersten Male mein Gehör recht unmelodisch. Bei dem
ersten Trommelstreiche sprangen alle vier Unteroffiziere auf, hingen
ihre Säbel um und rüsteten sich zur Heimkehr. Da drei von ihnen,
wie gesagt, «>>iksi beweibt waren, so nahm mich mein ältester Bekann¬
ter unter den Arm, und unter sehr angenehmen Gesprächen gelangte
ich in dieser Gesellschaft bis zum Kasernenthore. Hier wollte ich
mich empfehlen, mein Begleiter trug mir jedoch an, sein Bette mit
ihm zu theilen. Als ich gegen diese Complaisance aus allen Kräften
deprecirte, gab er mir endlich zu verstehen, daß, wenn ich seine Ar¬
tigkeit nicht annähme, ich ihn zwingen würde, Gewalt zu brauchen.
Von einer solchen beispiellosen plötzlichen Anhänglichkeit gerührt, gab
ich endlich nach und folgte ihm in die Kaserne. Das Zimmer, wel¬
ches ich mit meinem neuen Freunde, wie Karl V. mit Franz I.,
das Bette theilen sollte, enthielt zehn zweischläfige Bettstätten, und
die zahlreiche Familie, welcher dieses Local zur Wohnung diente, war
bereits versammelt, als wir eintraten. Mein Freund stellte mich der
Versammlung mit den Worten vor: Meine Herren, hier habe ich die
Ehre, einen neuen Mann aufzuführen. Der Titel „neuer Mann,,
war mir zu neu und touchirte mich. Aber ich konnte durchaus vor
lauter Eindrücken zu keinem Siren Gefühl kommen, — ich verfiel in
eine Art Apathie.
Das Betragen meiner zukünftigen Kampfgenossen war untadel-
haft und sogar zuvorkommend, und da ich mit Bewilligung meines
neuen Quartierherrn wieder meine Installation celebrirte, gewann ich
alle Gemüther. Ich war noch nicht Soldat und konnte daher mit
Recht hoffen, daß die kleinen Bcttbewohner, mit denen ich nebst mei¬
nem Freunde das harte Lager theilen sollte, mich arme Civilperson
verschonen und Gastfreundschaft an mir üben würden. Kaum streckte
ich meine Glieder aus, da fiel mich die ganze Schaar, welche, so
weit sich in der Finsterniß entnehmen ließ, aus zwei verschiedenen
Corps bestand, mit einer solchen Wuth an, daß ich die ganze Nacht
hindurch aus Nothwehr mein Leben vertheidigen mußte, und an dem
Blutbade, das ich anrichtete, die evidente Ueberzeugung schöpfte, daß
ich es mit einem überlegenen Feinde zu thun hatte. Mein Schlaf-
kamerad, der gegen die kleinen Kriegsincommoditäten bereits abge¬
härtet war, genoß der sanftesten Ruhe, die nur ein reines Gewissen
und ruhiges Gemüth gewähren können, und tröstete mich bei seinem
Erwachen, daß ich diese geringfügigen Scharmützel bald gewohnt
und gar nicht mehr beachten würve. Noch Vormittags wurde ich nebst
einem anderen neuen Mann, der ein Handlungscommis war, in der
Regimentskanzlei unter das Maß gestellt und dann zum Feldkriegs-
commissar geführt, wo mir sechszig Gulden und dem anderen, wel¬
cher von kleinerer Statur war, vierzig Gulden Wiener Währung
ausbezahlt wurden. Bei unserer Rückkunft in die Kaserne wurden
uns Beiden jedoch, und zwar mir zehn Gulden, dem Andern aber
sechs Gulden als Werbegeld abverlangt, obschon weder ich, noch der
Andere eines Werders bedurft hatten. Dies war also die erste Prel¬
lerei, und wahrscheinlich sind diese beiden Beträge in der Regiments-
Kanzlei geblieben. Wir beide Rekruten wurden zu einer und der¬
selben Compagnie eingetheilt, welche zwei Stunden weit entfernt war,
wohin ein Unteroffizier uns geleitete und an die Compagnie zu über¬
geben hatte. Daß wir diesen Unteroffizier auf dieser weiten Strecke
von zwei Stunden unterhalten mußten, versteht sich von selbst; daß
derselbe aber die Unverschämtheit so weit treiben werde, uns für
den uns erwiesenen Liebesdienst ein Douceur abzuverlangen, war für
uns Beide etwas überraschend, und wir stellten natürlich auch diesen
Unverschämter nach seinem eigenen Tarif zufrieden. Angelangt in
der Kaserne, wurden wir alsogleich der Compagnie übergeben, d. h.
dem Hauptmann vorgestellt. Während uns der Hauptmann unsere
Nationale abfragte, kam auch der Feldwebel herbei, der uns Beiden
Kaputröcke und dreieckige Hüte aus dem Compagniedepot verabfol¬
gen mußte. Ich bekam einen abgetragenen, sehr langen Kaputrock,
der von einem wegen Desertion bereits abgestraften Kanonier her¬
rührte, woran die Blutflecken noch klebten, die sich von stillem zer¬
fleischten Rücken abcopirt hatten. Unsere Civilkleider, die wir ablegten,
blieben beim Hauptmann, und unser Engagirungsgeld wurde eben¬
falls bis auf einige Gulden, die zu unseren ersten Bedürfnissen er¬
forderlich waren, bei ihm deponirt. Wir Beide haben jedoch weder
unsere Civilkleider, noch unser Blutgeld, wie man später hören wird,
zurück erhalten. — Gleiche Schicksale pflegen die Menschen ge¬
wöhnlich zu Freunden zu machen; daher waren wir, ich und ' in
Mitgefährte, anfangs sehr vertraute Freunde. Bald verschwand je¬
doch unsere frühere Anhänglichkeit, da wir gleich den ersten Tag ein
Jeder in eine andere Compagnie und unter andere Unteroffiziere con-
signirt wurden, und auch Einer wie der Andere neue Bekanntschaften
anknüpfte. Ich erwähne nur hier, daß mein anfänglicher Mitgefährte
nach einigen Wochen Urlaub erhielt und mit Hilfe seiner reichen
Anverwandten bald- seinen Abschied erlangte.
Mein Ziinmercommandant war unter den zwölf Compagnie-
Korporälen einer der solidesten und war in der ganzen Compagnie
sehr beliebt; daher ich vom Glücke sehr begünstigt war, als ich
seinem unmittelbaren Szepter untergeordnet wurde. Der erste Zim¬
mercommandant entscheidet gewöhnlich die zukünftige Carriere eines
Rekruten; denn er rapportirt über ihn, er verfaßt seine Conduite und
besonders in der ersten Zeit hängt es rein von seiner Schätzung und
von seiner Beurtheilung ab, ob der neue Mann in der Compagnie
wohlgelitten sei und das Wohlwollen aller übrigen Vorgesetzten erlange.
Zur Zeit meines Eintritts gab es keine Regimentskadetten, und die
wenigen Erpropriis und Offizierssöhne waren sehr dünn gesäet,
weil sie damals noch sehr wenige Begünstigungen genoßen, und erst seit
dem Jahre 1825 denselben viele Vortheile zugestanden wurden; da¬
her die Protectionen wenigstens noch nicht vorherrschend waren. Die
Erpropriis, Offiziers- und Beamtensöhne, Edelleute, genoßen damals
keinen anderen Vorzug oder eine Auszeichnung, als daß selbe mit
dem Worte „Sie" tractirt wurden, während jeder andere Artillerist
vom Korporale abwärts, der nicht in die obenerwähnten Kategorien
gehörte, mit dem Worte „Er" von seinen Vorgesetzten angeredet wurde,
— mochte derselbe ein Civilist, Arzt, Student, Künstler oder was
immer gewesen sein, sobald derselbe vermöge seiner Geburt nicht auf
dieses in der civilisirten Welt gebräuchliche Wort „Sie" seine An¬
sprüche gründen, oder durch Erlegen des Monturgeldes sich diesen
Titel zu erkaufen im Stande war. Der Anblick meines ersten mili¬
tärischen Kleides, an dem noch die Blutflecken des nach Freiheit rin¬
genden und für dieses Verbrechen mit Ruthen gegeißelten Kameraden
sichtbar waren, erschütterte mein Gefühl, — aber das Wort „Er",
dessen ich nun auch vor dem Ablegen des Eides theilhaftig wurde,
empörte mein Ehrgefühl. Ich bebte nicht vor grausamen Strafen,
ick erschrack nicht vor einer lebenslänglichen, selbst bei günstigsten Um-
j .uden nur mit falschen Farben übertünchten Sklaverei; ich war ent¬
schlossen, jedes Elend, alle Gefahren zutragen und zu dulden; allein,
hätte ich gewußt, daß ich mit dem Anzüge des sogenannten Ehren¬
kleides auf die in der civilisirten Welt bereits errungene Achtung
Verzicht leisten, daß ich jedesmal, wenn mich ein Vorgesetzter anre¬
den würde, erröthen und mich innere Scham verzehren müßte, ich
würde nimmermehr Soldat geworden sein. — Und diese Inkonsequenz
dauert in der, wegen ihrer Bildung hochgepriesenen Artillerie fort
Und fort. Ich will in keine weitläufige Abhandlung dieses die wissenschaft¬
liche Bildung in jedem Individuum versöhnenden Mißbrauchs ein¬
gehen; aber ich stelle es Jedem frei, zu beurtheilen, wie einem sol¬
chen Artilleristen zu Muthe sein müßte, wenn er in einem honetten
Hause die höhere Mathematik, Mechanik oder wohl gar Philosophische
Gegenstände lehrt, und zufälligerweise dann in demselben Hause mit
seinem Offizier zusammentrifft und dieser den Herrn Lehrer per
„Er" tractirt? — Gewinne der Offizier beim Civilisten, bei den Ge-
bildeten vielleicht an Ansehen, daß er sich eines rohen Vorrechts
gegen einen Docenten aus der Mitte seines eigenen erhabenen Stan¬
des bedient, vermöge welches der letztere in gleiche Kategorien mit
dem niedrigsten Pöbel geworfen wird? — Kann man vielleicht den
Grund als zureichend annehmen, daß man wegen einiger Studenten
u. f. w. keine Ausnahme machen könne? Warum macht man denn
nur Ausnahmen bei einigen Offiziers- und Beamtensöhnen, die doch
mit den Bauern- und Bürgersöhnen auch gleiche Charge bekleiden?
— Das Allerschönste ist aber, daß beim Vortrag des Dlenstregle-
ments, wo es heißt: „der Gemeine wird von seinen Vorgesetzten mit
„Ihr" benannt, ausdrücklich immer erinnert wird: Bei der Artillerie
wird jedoch der Gemeine nicht mit Ihr, sondern mit dem Ehren-
Worte Er, welches in der Armee nur den Korporalen zukommt,
angeredet. — Es ist übrigens merkwürdig, daß die Artillerie noch
heut zu Tage kein eigenes Dienstreglement besitzt, welches für alle
Dienstfälle zur Richtschnur, dienen könnte; sondern bei der Artillerie
gilt dasselbe Reglement, welches für die Infanterie im Jahre 18V9
herausgegeben wurde. Es heißt daher immer beim Vortrage des
Dienstrcglements, wo die Vcrhaltungen auf den Vorposten und über¬
haupt vor dem Feinde u. s. w. auseinandergesetzt werden, — „das
geht uns Nichts an", — ohne etwas für die Artillerie für diese
Fälle Passendes zu substituiren.
Nachdem diese Waffengattung, die doch dreißigtausend Mann
zählt, nicht einmal ein eigenes Dienstreglement besitzt, wer soll sich
wundern, daß die fünf Regimenter Artillerie heut zu Tage noch nicht
einen gedruckten Artikelunterricht besitzen? — Jeder Rekrut ist da¬
her genöthigt, sich einen geschriebenen Artikeluntcrricht zu verschaffen
d. h. entweder zu kaufen, oder selbst abzuschreiben. Man kann sich
also vorstellen, in welcher Correctheit sich der cursirende Unterricht
durch das vielfältige Abschreiben befindet, und es ist durchaus
gar keine Uebertreibung, daß es selbst für einen deutschen Philologen
keine kleine Aufgabe wäre, aus allen in den Compagnien vorhande¬
nen geschriebenen Artillerie-Unterrichtsbüchern Ein verständiges
zusammenzutragen,— wenn dieser Philolognicht selbstArtillerist gewesen ist.
Nach diesen vielleicht unzeitigen Abschweifungen kehre ich zu den
ersten feierlichen Zeremonien meiner Einweihung zum Artilleristen zurück.
Gleich den zweiten Tag wurde ich und mein Mitgefährte mit
einem Säbel ausstaffirt und uns in Kürze die bei einer militärischen
Eidablegung vorgeschriebene Etiquette beigebracht. Vor der in's Ge¬
wehr getretenen Wache wurde eine sechspfündige Kanone aufgeführt
und abgeprotzt. Sechs Mann mit gezogenem Säbel mit einem
Unteroffizier umgaben dieselbe, und der Jnspectionsoffizier, hervortre¬
tend, herrschte dem mit der Eidesformel harrenden Feldwebel zu, uns
die drei wichtigsten Kriegsartikel mit dem Refrain: „Soll sowohl in
Friedens- als Kriegszeiten hingerichtet werden" vorzulesen. Nachdem
dieses geschehen war, und wir diese schönen Bedingungen, zu denen
sich der Staat gegen uns verpflichtete, unter halben Todesängsten
angehört hatten, legten wir gegen die Mlmdung der Kanone en
trunk den feierlichen Eid ab, der uns zu lebenslänglichen Soldaten
verband. — Nach dieser Feierlichkeit faßten wir alsogleich unsere üb¬
rige Montur in laeui'-i, d. h. mwerfertigt, welche auch binnen drei
Tagen durch den Compagnieschneider verfertigt war. Wir mußten
den Schneider bezahlen, trotzdem daß jeder Soldat seine Mon¬
tur ohne die geringsten Spesen erhalten soll. Nur acht Tage wurde
an uns dressirt und gehütete, so wie uns auch das Dienstreglement
und die Kriegsartikel täglich vorgetragen wurden. Während dieser
Zeit wurde uns auch nur unter Aufsicht gestattet« die Kaserne zu
verlassen, und erst nachdem wir am neunten Tage unsere erste Wache
verrichtet hatten, wurde dieses über uns ausgesprochene Interdict auf¬
gehoben. Der löbliche Gebrauch, daß Diejenigen, welche die erste
Wache verrichten, die ganze Wachmannschaft besaufen müssen, wurde
gewissenhaft befolgt, und da ich mit Geld noch ziemlich versehen war,
so konnte ich auch jeder üblen Nachrede wegen Mangel an Lebens¬
mitteln und Getränken, der während der vierundzwanzigstündigen Wach¬
zeit hätte eintreten können, auf das Kräftigste vorbeugen; wofür ich
den einstimmigen Beifall und die volle Zufriedenheit der gesammten
Wachmannschaft einerntete. — Von nun an wurde ich ohne Aus¬
nahme zu allen Diensten, welche einem Artilleristen obliegen, com-
mandirt. Die Dienstverrichtungen eines Artilleristen sind größten-
theils fatiguant und selbst ihr Erercitium erfordert große Physische
Anstrengung; weswegen auch die Artillerie besser als jede andere
Truppengattung bezahlt ist. Trotz der vielen Arbeiten wird jeder
Artillerist, ob er Lust hat oder nicht, ob derselbe Talent besitzt oder
nicht, nach Zulassung des Dienstes, Vor- und Nachmittags zum Ler¬
nen angehalten. Es ist bemerkenswerth, daß bei der großen militä¬
rischen Strenge, die bei der wissenschaftlichen Erziehung der Artillerie
obwaltet, sich doch Individuen vorfinden, die es in zehn, ja sogar in
zwanzig Jahren nicht über das Buchstabiren gebracht haben. — Die
Gegenstände, welche in der Compagnie vorgetragen werden, sind fol¬
gende: Lesen, Schreiben, und für Geübtere Dictandoschreiben, Arith¬
metik bis zur Regel de Tri, Artillerieunterricht, der in mehrere Klassen
zerfällt und auch den Batteriebau enthält. nebstbei wird wöchentlich
das Dienstreglement oder die Kriegsartikel einmal vorgelesen. Der
Unterricht wird lediglich von den Unteroffizieren unter der Aufsicht
der Oberoffiziere ertheilt, welche letzteren bei den stattfindenden Prü¬
fungen, die jährlich in Gegenwart eines Stabsoffiziers, dann des
Obersten und endlich des Brigadiers abgehalten werden, für die
Ausbildung ihrer zu beaufsichtigenden Klassen verantwortlich sind.
Die sogenannten neuen Leute werden nach ihren mitgebrachten Zeug¬
nissen classifizirt und jene z. B., die studirt haben und eine gute
Handschrift schreiben, werden in die Dictandoschule eingetheilt, —
welche höhere Mathematik absolvirt haben, werden aber höchstens zu
den Brüchen zugelassen, weil man im Voraus überzeugt ist, daß die
Rechenkunst nirgends besser als in der Artillerie erlernt wird und
gewöhnlich die mathematischen Fremdlinge bei Ausarbeitung ihrer
Aufgaben sich nicht der in der Artillerie vorgeschriebenen Ausdrücke
bedienen, ja sogar Manche in Abkürzungen ausarten, die erst in hö¬
heren Artilleristencursen erlaubt sind.
Zur Erleichterung des Unterrichts in der Artilleriewissenschaft
mußte jeder Unteroffizier mit Fragen versehen sein, von welchen der¬
selbe durchaus nicht abgehen durfte, um nicht durch Querfragen die
Schüler zu verwirren. Der Schüler mußte aber auch genau ohne
alle Abweichung in der Antwort die Frage wiederholen. Zum Be¬
weise dessen, wie sehr dieser Pedantismus beobachtet wird, möge
nachstehendes Beispiel dienen: Um vom Unter- zum Oberkanonier
avanciren zu können, mußte ich aus den vier Artillerie-Unterrichts-
Klassen ein Lx-»men riAc>rü8um in Gegenwart eines Offiziers beste¬
hen. Der Herr Korporal frägt mich: Wie wird das Geschütz, des¬
sen man sich heut zu Tage im Kriege bedient, eingetheilt? Ant¬
wort: Das Geschütz, dessen man sich g egenwartig—-Nichts nutz!
noch einmal! Der Korporal wiederholt seine Frage, und ich antwor¬
tete wieder statt heut zu Tage — gegenwärtig. Ein aberma¬
liges „Nichts nutz! noch einmal!" erschallt, und ich wäre un¬
fehlbar schon bei der ersten Frage durchgefallen, wenn nicht der frei¬
sinnige Offizier diesem Korporal seine Pedanterie mit den Worten:
„Er ist ein Esel" verwiesen und das weitere Prüfen oder vielmehr
Befragen selbst übernommen hätte. Dieser Offizier wurde bald dar¬
auf pensionirt; ob vielleicht sein Liberalismus zu seiner frühzeitigen
Entfernung etwas beigetragen?
Nebst diesen allgemeinen Compagnieschulen wird für die Win¬
terszeit eine sogenannte Vorbereitungöschule aus der Elite der Ober¬
kanoniere zusammengesetzt, welche in den Anfangsgründen der Al¬
gebra und im Zeichnen Unterricht erhalten. Diejenigen, welche diese
Normalschule gut absolviren, haben den Anspruch, in die Stabsschule
übersetzt zu werden. Diese Stabsschulen, die eigentlichen Artillerie-
Gymnasien, haben Offiziere als ordentliche Professoren, welchen Feuer¬
werker und Oberfeuerwerker ><als Supplenten beigegeben sind. Die
Schüler, welche von den Vorbereitungsschulen aller Compagnien zu¬
sammengesetzt sind, heißen Frequentanten und stehen unter dem selb¬
ständigen Commando eines hiezu vom Regimente bestimmten Offi¬
ziers, — sind von allen Diensten befreit, — nachdem selbe sogar die
nöthige Küche erhalten, und zerfallen in zwei Abtheilungen, nämlich:
Arithmetiker und Geometristen. Nebst der Mathematik wird in diese»
zwei Cursen der ausführlichere Artillerieunterricht, — Fortifications--
lehre, ausführlicher Batterienbau, Situations- und Linienzeichnung
und militärische Aufsatzlehre vorgetragen.
An diesen Gymnasien herrscht, wie sich von solchen ausgewähl¬
ten Leuten, die theils bessere Erziehung genossen haben, oder doch
wenigstens nach einiger Bildung streben und zu höheren Chargen
bestimmt sind, erwarten läßt, ein feinerer Ton, und selbst das ver¬
ächtliche Er wird so viel als möglich von Oben vermieden. Bestra¬
fungen pflegen selten bei Freauentanten einzutreten, und treten selbe
ein, so betrifft es gewöhnlich nur solche, die irgend eine Protection
genießen; denn jede Bestrafung von Belang, ja selbst der Unfleiß,
mag der Fortschritt noch so gut sein, zieht schon die Strafe des Ein-
rückens zur Compagnie nach sich. Hat ein solcher Schüler die zwei
Lehrcurse zur Zufriedenheit seiner Vorgesetzten und mit Nutzen voll¬
endet, so wird der absolvirte Negimentsschüler entweder zum Bom¬
bardier, oder zum Korporal befördert. Ist der Schüler Korporal oder
Feldwebel, so haben beide ohne Unterschied ihrer Grade Ansprüche
auf die Feuerwerkerscharge. Gewöhnlich aber rücken beide zu ihrer
Compagnie ohne Beförderung ein, weil man im Bombardier-Corps,
der hohen Schule der Artillerie, einen Ueberfluß an abfolvirten hö¬
heren Schülern hat, die man aus Mangel an Vacanz nicht beför¬
dern kann,und jene erst den sogenannten höhern Curs durchmachen müssen.
Mit den absolvirten Regimentsschülern wird der Abgang des
Bombardier-Corps, der eigentlichen Universität der Artillerie, ergänzt.
Jeder Ankömmling muß sich einer Prüfung unterwerfen, und gewöhn¬
lich muß ein bereits mit Eminenz im Regiment absolvirter Geome-
trist den allerersten Curs im Bombardier-Corps anfangen. Der Un¬
terricht wird in allen Fächern, als: Mathematik mit ihren Zweigen,
Zeichnungskunst, ausführende Aufsatzlehre, Artilleriewissenschaft, Welt¬
geschichte und Geographie, Physik und Chemie, dann Französisch und
Italienisch von Oberoffizieren ertheilt, welche als Professoren angestellt
sind und alle ihrem Fach mit Würde vorstehen. An Ausbildungs-
mitteln fehlt es durchaus nicht, wohin auch eine zahlreiche Bibliothek,
welche dieses Corps zur allgemeinen Benützung besitzt, gezählt werden
muß. — Das Bombardier-Corps besteht aus circa siebenhundert szien-
tifisch gebildeten Menschen, aus deren Mitte die Artillerieoffiziere her¬
vorgehen, und man kann dreist behaupten, daß in Europa kein Corps
von gemeinen Soldaten hinsichtlich der Bildung dem Bombardiercorps
an die Seite gesetzt werden könne. Auf diese wissenschaftliche Aus¬
bildung des gemeinen Soldaten, nicht aber des Offiziercorps, gründet
sich der europäische Ruf der österreichischen Artillerie hinsichtlich ihrer
Intelligenz, aber eben in dieser szientifischen Ausbildung des gemei¬
nen Soldaten liegt auch der Grund der allgemeinen Unzufriedenheit
und des herrschenden Mißmuths. Ein Bombardier, der im Durch¬
schnitt fünfJahre im Regiments gedient hat, und zweimal avancirt ist,
bleibt nach einem vollendeten siebenjährigen Curs im Bombardiercorps
noch immer ein Gemeiner und oft mehrere Jahre, ja sehr oft für
immer ein Gemeiner, — er ist verpflichtet, sogar den Fuhrwesens-
Korporal, der doch nur immer ein verkleideter Fuhrknecht ist, als sei¬
nen Vorgesetzten zu ehren,- er muß es geduldig tragen, wenn ein Kor¬
poral vom Regiment als Feuerwerker sein unmittelbarer Vorgesetzter wird,
der erst das lernen soll, was er zu vergessen anfängt, -er wird prak¬
tischer Bombardier, mithin zu allen Diensten und resp. Arbeiten verwen¬
det, von denen er als Freauentant entwöhnt war; ersieht, daß Viele, die
Nichts gelernt haben und sich im Regimente verwenden ließen, auf
indirectem Wege Offiziere geworden und derselbe noch immer ein
„Er" ist! — Dies Alles macht die Meisten mißmuthig, verleitet selbe
zur Insubordination, und das Resultat ist, daß mittelmäßige Schüler
und Protectivnskinder zu Offiziersstellen gelangen, während die Gc-
schicktesten unter fortwährenden Disziplinarstrafen veralten und ent¬
weder als beständige Köche im Bombardicrcorps verderben, oder nach
vieljährigen getäuschten Hoffnungen den vor zehn Jahren verschmäh¬
ten Korporalstock als den Lohn ihres Fleißes und ihrer erworbenen
Kenntnisse zu erhalten suchen; damit sie im Alter, als Invaliden mit
täglich zwölf Kreuzer betheilt, nicht betteln dürfen.
Warum die in allen fünf Regimentern bestehenden tausend Un¬
teroffiziersstellen nicht durchgehends mit absolvirten Bombardiercorps-
Jndividuen completirt und die abgängigen Chargen des Bombar-
dier-Corps mit jenen der Regimenter ersetzt werden ist unbe¬
greiflich; denn außerdem, daß die Regimenter mit lauter tüch¬
tigen Unteroffizieren versehen wären, würde den Bombardier-Corps-
Jndividucn ein Avancement eröffnet, und die Wartzeit auf eine erle¬
digte Feuerwerkersstelle durch bessere Subsistenz, durch Gewinnung
an Ansehen gemildert werden. Die Inkonsequenz und unnatürliche
Stellung der Bombardiers und Korporale, wo heute Ersterer ein
Untergebener, morgen ein Vorgesetzter des Letzteren wird, würde auf¬
hören und das Bombardiercorps selbst würde nicht nöthig haben, er¬
graute strenge Dienstmänner auf Kosten der Intelligenz zur Aufrecht¬
haltung ver Stockdisziplin in den Regimentern zu werben, die bei
Erlangung der Offizieröchargen, bei allen ihren anerkannten militäri¬
schen Erfahrungen nur den Kamaschendienst handhaben und beför¬
dern können, und die durch ihre Ignoranz außer dem Kanonenfache
zu sccmdalisirenden Bonmots über das ganze Offiziercorps Stoffe lie¬
fern? Fürchtet man sich etwa, daß durch die Besetzung der Korpo¬
ralsstellen mit gebildeten Individuen das Stockprügelsystem in seinen
Prinzipien zu stark erschüttert würde? Man dürfte ja, um diesen ge¬
rechten Befürchtungen zu begegnen, nur jene Anstalten fortbestehen
lassen, wo die orthodoxen Korporale den neueren im Prügeln statt
an einem Mann, an einem Bund Stroh Unterricht ertheilen, und es
müßte ein Wunder sein, wenn unter höheren Mathematikern, Physi¬
kern :c. nicht so viel Talente aufgefunden werden sollten, die mittelst
etlicher Lectionen den Haßlinger eben so gut und mit Meisterschaft
zu schwingen erlernten, als dieses ausschließende Prärogativ von den
bengelhastesten Korporal zur Ehre der Artillerie gehandhabt wird.
Aus dem Gesagten geht hervor, daß durch ein hartnäckig verfolgtes,
absurdes System ein großer Theil der geschicktesten Individuen, die
eine Zierde deö Offiziercorps geworden wären, nicht zu diesem Ziele
gelangen, sondern als Gemeine, oder höchstens Korporale unter steter
Unzufriedenheit und Hader mit dem Schicksale veralten und verder¬
ben müssen.
Es sind noch nicht ganz zweihundert Jahre, daß Frankreich eilten
Romanschriftsteller besaß, dem der glänzendste Ruhm folgte. Es war
der fruchtbarste und beliebteste Autor seiner Zeit. Durch Unglücksfälle ge¬
zwungen, sich durch literarische Arbeiten eine ehrenvolle Existenz zu sichern,
veröffentlichte er mehr als 50 Bände von 1200 sparsam gedruckten Seiten.
Sein Werk, wie jetzt Balzac sagt, erfuhr mehrere Auflagen und war die
Wonne der literarischen Gourmands des Hofes und der Stadt. Und
nicht allein weltlichgesinnte Leute, Jünglinge und Frauen verschlangen
diese endlosen Liebesgeschichten: die Bischöfe vertheiltet! sie in ihren
Diöcesen „um die rechtschaffenen Leute zu erbauen und denen ein
gutes Beispiel der Moral zu geben, die sie predigen." Selbst aus
der klösterlichen Einsamkeit von Port-Royal ertönten Akkorde zu diesem
großen Concert der Bewunderung. Der kleinen Anzahl schwer zu
befriedigender Leser, die die Geschichten doch etwas zu lang fanden,
sagte Manage mit einem Orakelton, daß sie dadurch nur die Klein¬
lichkeit ihres Geschmackes bewiesen. Die Kritik stellte den Autor
frischweg auf eine Stufe mit Homer und Virgil, und der große
Haufen war mit der Kritik einer Meinung. Der Ruhm des Autors
hatte Berge und Meere überflogen; Europa bewunderte ihn, man
übersetzte ihn in alle Sprachen, die Königin Christine von Schwe¬
den rechnete es sich zur Ehre, mit ihm in Briefwechsel zu stehen; die
Maler stritten sich um die Ehre, ihn zu malen; die Dichter besangen
ihn; er hatte eine Grasmücke, mit der sich ganz Paris beschäftigte,
wie vor Kurzem noch mit dem Stock Balzac's; mit einem Worte, er
war noch berühmter, als es jetzt Balzac und Sue sind.
So eigensinnig ist aber die Nachwelt, daß, wenn ich den Ra-
uie» der Berühmtheit nenne, deren damaligen Ruf ich ohne Uebertrei¬
bung geschildert habe, der Leser mir in's Gesicht lachen wird. Wenn
ich ihm sage, daß ich von Fräulein Madeleine de Scudery spreche,
während ihres Lebens die Sappho des siebzehnten Jahrhunderts ge¬
nannt, von der Verfasserin des berühmten Bassa, des großen Cyrus,
der Clelia, deö Almahide u. s. w., wird er mir antworten, daß ihm
dieser Ruhm unbegreiflich sei, daß Cyrus und Cleopatra entsetzlich
langweilige Bücher seien, (was ich ihm gerne zugebe, selbst
wenn er sie nicht gelesen hat), und daß hier keine Achnlichkeit mit
Balzac vorhanden sei, worin ich ihm entschieden widersprechen muß.
Denn am Ende bestehen doch zwischen dem berühmtesten und
fruchtbarsten französischen Romanschriftsteller des siebenzehnten Jahr¬
hunderts und dem berühmtesten und fruchtbarsten des neunzehnten,
zwischen Fräulein von Scudery und Herrn von Balzac, zwei Punkte
der Aehnlichkeit! Das gleiche Fach, die gleiche Fruchtbarkeit, die
gleiche Berühmtheit. Aber, wird man mir einwenden, wie kann man
Meisterwerke mit einem Haufen langweiliger Productionen ver-
gleichen, die kein anderes Verdienst besitzen, als daS der großen An¬
zahl, und an Styl, Geist und Phantasie leer sind? Einen Augenblick,
lieber Leser, die Vorfahren der Franzosen, die Zeitgenossen Richelieu'S,
des Cardinals de Netz, der Madame de S^pigro und Pascal's
waren eben so gescheidt wie die Leute unserer Zeit; so dickleibig die
Werke des Fräulein von Scudery waren, erlebten doch mehrere der¬
selben drei Auflagen, und man muß sie lesen, um sich zu überzeugen,
daß ihnen weder Geist, noch Phantasie, noch Styl fehlt. Ihre Form
ist ziemlich dieselbe, wie die aller besseren Schriften jener Zeit, und
dennoch, ich gestehe es gerne, gehört Muth dazu, sich an ihre Lectüre
zu wagen: denn man könnte dabei sterben vor Langeweile. — Woher
kommt das? Was mangelt Fräulein von Scudery, daß sie uns nicht
bezaubert, wie sie unsere Vorväter bezauberte? Fräulein von Scudery
konnte nicht schreiben, antworten mehrere Kritiker. Ihre Werke leben
nur durch den Styl. Diese Behauptung, welche, wie ich wiederho¬
len muß, schon den Thatsachen gegenüber falsch ist, ist selbst dem
Prinzip nach sehr zu bestreiten. Die Form verhindert uns nicht, die
Atlas und den Roman des Longus zu würdigen; die Form hat nicht
diese Werke Jahrhunderte überleben gemacht; und wenn Shakspeare,
den die Engländer fast schon übersetzen müssen, unsterblich ist, ist er
das durch den Styl geworden? Nein, sondern durch die Wahrheit
der Empfindungen und Leidenschaften, durch eine Wahrheit, die nicht
eine individuelle, locale und vorübergehende ist, sondern eine allgemein
menschliche, ewige, welche den großen Schriftstellern die Unsterblichkeit
gibt. Die Romane des Fräulein von Scudery sind vergessen, weil
sie nicht wahr gewesen, und sie konnten Bewunderung finden, obgleich
ihnen nicht allein die absolute, sondern bis zu einem gewissen Punkte
auch die relative Wahrheit fehlte. Ein Romanschriftsteller, wie groß
auch sein Anspruch sei, seine Zeit treu zu schildern, ist kein Geschicht¬
schreiber: er ist ein Poet und als solcher soll er das Schone darstel¬
len, aber das Schöne im Wahren. Wenn seine Erfindungen gemachte
Leidenschaften, flüchtige Launen zu Stützpunkten haben, so kann er
gefallen, so lange diese Leidenschaften und diese Launen dauern, mag
er sie auch noch so sehr übertreiben, noch so willkürlich zeichnen und
ausmalen; aber wenn diese Grundlage schwindet, so fällt das Ganze
zusammen und behält nicht einmal den Werth eines historischen Do-
cumentes. So ist es den Romanen deö Fräulein von Scudery ge¬
gangen.
Wir wollen versuchen, dem Leser einen Begriff von dem Grund¬
plan jener Bücher zu geben, welche unsere Borväter so sehr liebten,
weil sie sich darin mit ihren Gefühlen, ihren Meinungen und ihren
Launen, ihrer Sprache, ihren Lebensgewohnheiten und den ausschwei¬
fenden Träumen ihrer Phantasie wiederfanden. Sie sahen sich darin,
wie sie waren; elegant, geschwätzig, tapfer, raffinirt, verliebt, aber im
Ganzen tugendhaft, und diese kleine Täuschung war nur ein Reiz
mehr.
Der Schauplatz ist in Assyrien, Persien, Aegypten oder Rom;
aber es versteht sich von selbst, daß diese Perser, diese Assyrier, diese
Römer Nichts von ihrem Lande haben, als den Namen. Vier Ei¬
genschaften waren wesentliche Erfordernisse eines Nomcmhelden; er
mußte schön sein, Muth besitzen, Geist haben und von Stande sein.
Häufig war es ein verkleideter Prinz; die Heldin war Königstoch¬
ter, Prinzessin, zum wenigsten eine vornehme Dame und schön wie
der Tag. Das erste Mal sieht man sich im Tempel von Sinope, in
den Gärten von Ekbatana, am Hofe von Babylon oder an den
Ufern der Tiber. Wie heute noch ist der Held auf der Stelle sterb-
lich verliebt („der erste Augenblick dieses verhängnißvollen Zusammen¬
treffens war der erste einer Leidenschaft"); wenn die Gelegenheit
günstig ist und sein Rang es ihm erlaubt, so redet er die Heldin
mit galanter Miene und leidenschaftlicher Wärme an („Wir erröthe-
ten Beide, als ich sie anredete, aber gewiß aus verschiedenen Em¬
pfindungen, denn Verschämtheit rief bei ihr hervor, was bei mir die
Liebe verursachte."). Unsere modernen Helden haben eine bessere Mei¬
nung von sich.
Wieder in seinem Palast angekommen, macht der Prinz, der
natürlich seinen Vertrauten, wie die Prinzessin eine Vertraute hat.
seiner Leidenschaft in glühenden Lobpreisungen der Schönheiten Lust,
die sein Auge gesehen hat, und legt seinem Herzen zahllose Fragen
vor („aber endlich, nachdem ich eine Zeit lang schweigend dagestan¬
den hatte, entschied ich mich plötzlich und rief aus: Nein, nein, mein
Herz, schwanke nicht länger, gestehe, daß wir AmestriS achten, daß
wir sie lieben, daß wir sie anbeten"). Ist die Sache endlich einmal
so weit entschieden, so entwickelt der Held, um die Liebe seiner Schö¬
nen zu gewinnen, wahrhaft übermenschliche Eigenschaften und Ta¬
lente. Er übertrifft die zwölf Arbeiten des Herkules, er besiegt Ar¬
meen, er nimmt Städte ein; er fordert seine Nebenbuhler zum Zwei-
kampf heraus, er entwaffnet oder verwundet sie und erobert sich ihre
Achtung. Er ist tapfer wie Achill, menschlich und edel wie Bayard,
enthaltsam wie Scipio, und bald wird im ganzen Reiche nur von
ihm allein gesprochen.
Bei der Heldin macht die Leidenschaft viel langsamere Fort¬
schritte; am Ende des ersten Theiles ist sie erst bei der Achtung; in
den fünf folgenden Theilen wird sie nach und nach von einem hal¬
ben Dutzend Nebenbuhlern entführt, die alle von gutem Herkommen
und guter Erziehung, sehr verliebt oder sehr bescheiden sind und sich
damit begnügen, sie über Berg und Thal, über Land und Meer zu
schleppen, sie immer sehr demüthig und sehr weitläufig von ihrer Lei¬
denschaft unterhaltend. Es versteht sich von selbst, daß sie ihnen derb
die Wahrheit sagt, und da sie regelmäßig von dem befreit wird, der
bereits ihre Achtung besitzt, läßt die Dankbarkeit nicht lange auf sich
warten. Der Held benutzt die günstige Gelegenheit und verbraucht
eine Menge von rhetorischen Umschweifen, um ein Wort von seiner
Liebe zu sagen. Im Anfange wird er zurückgewiesen, bald, weil sein
Reiz noch unbekannt ist, bald, weil die strenge Tugend der Heldin
über den Ausdruck eines Gefühls unruhig wird, welches ihre hohen
Eltern ihr nicht zu theilen erlauben. Der Held erklärt und beweist,
daß er von hoher Geburt sei; und jetzt läßt man ihn errathen, daß man
eine leise Neigung fühle, ihn nicht zu hassen (Styl jener Zeit). Im
neunten Theile gesteht man ihm mit niedergeschlagenen Augen, daß
man ihn genügend achte, um sich nicht von seiner Liebe beleidigt zu
fühlen und um zu wünschen, daß diese Liebe ewig sei; endlich im
zehnten versteht man sich mit Einwilligung der Eltern zu einer ent¬
schiedenen Erklärung und endigt mit einer Heirath; und sie waren,
sagt der Erzähler, „so glücklich, daß man es nicht mehr sein kann."
Zuweilen hat der Roman e..im tragischen Ausgang; die Heldin ist
an einen Andern verheirathet, und da der Ehebruch in den Büchern
von damals wenig in Gebrauch war, stirbt sie vor Schmerz, und
der Geliebte beeilt sich, ihr in das Grab zu folgen; „glücklich, sagt
der Autor, die nicht überlebt zu haben, für die er allein lebte, und
freudig in den Tod gehend, weil er damit ein so schönes Beispiel
der reinsten und wahrhaftigsten Leidenschaft, die seine Seele je ge-
fühlt, gegeben hatte!"
Hinzufügen muß ich noch, daß diese zehn Bände (und soviel
hatte man zu einem Roman damals unumgänglich nothwendig) vollge-
Propst sind von einer Menge kleiner Geschichten, welche die Neben¬
personen einander erzählen; diese Nebenpartien verbinden sich wohl
oder übel mit dem Hauptsujet, geben aber dem Roman eine große
Mannigfaltigkeit an Vorfällen und Abenteuern. Was nur die
Phantasie Wunderbares erzeugen, was nur an Wendungen und
Umschweifen der rafsinirteste Geist erfinden kann, um die tausend
Schattirungen eines Gedankens zu geben, findet sich hier. Alles
aber ist rhetorisch, anstatt leidenschaftlich, manierirt, anspruchsvoll,
weitschweifig, geschraubt noch mehr dem Gehalt als der Form nach;
ohne Plan, ohne Verbindung, ohne Logik; aber doch wieder rein,
zart und ritterlich; man trifft nicht auf die mindeste Alkoven- oder
Boudoirscene, auf kein Bild, welches fähig wäre, das zarteste Ge¬
fühl zu verletzen; die Keuschheit des Styles kommt dem Adel der
Gedanken gleich. Doch außerhalb dieser idealen und platonischen,
von den Schöngeistern jener Zeit so sehr geliebten Welt ging die
wirkliche ihren gewöhnlichen Gang fort.
Heute verfahre» unsere Schriftsteller anders; um uns zu gefal¬
le», kehren sie die rauhe Seite ihres Gewebes heraus. Aber.mit
eben soviel Geist, eben soviel Phantasie, mehr Wissenschaft, mehr
Beobachtungsgabe, mehr Logik, mehr wahrer Leidenschaft, und mit ei¬
ner vollkommeneren Form hat Balzac, der doch im Styl Eugen Sue
weit überlegen ist, bei einem ganz entgegengesetzten Ideengehalt den¬
selben Schwulst des Styls, denselben Mißbrauch der Beschreibung
und der Analyse gezeigt, der uns bei Fräulein von Scudery auf¬
fällt. Beide weisen Blätter auf, die in Affectation und schlechtem
Geschmack miteinander wetteifern können; und bemerkenswerth ist es
gewiß, daß unter den beiden Manieren die am meisten geschraubte
und schwülstige nicht die des Fräulein v. Scudery ist.
Bleiben wir bei Balzac und Scudery, und verfolgen wir diese
Nergleichung zwischen dem Roman des 17. und des 19. Jahrhun¬
derts in der Person seiner zwei vorzüglichsten Repräsentanten. Ge¬
hen wir dabei bis auf den Grund ihrer Werke, vergleichen wir die
Verhältnisse und die Physiognomie ihrer Personen, daS Spiel ihrer
Leidenschaften, so finden wir, daß jeder Vergleich aufhört, oder viel¬
mehr, daß er sich vollkommen umkehrt. Fräulein v. Scudery lebte in
einer müßigen und frivolen, aber in Klassen und Rangordnungen
abgetheilten Gesellschaft; die Angelegenheiten deS Herzens, wie die
des Lebens wurden durch eine Etiquette geregelt, von der man nicht
abzuweichen wagte. Balzac gehört einer Zeit an, die wohl politi¬
sche, aber keine sittliche oder sociale Gesetze aufzuweisen hat. Das
Leben ist ziemlich regelmäßig in seiner Armseligkeit, weil es ein we¬
sentliches Triebrad, das Geld, und eine hitzige bewegende Kraft, das
Interesse besitzt; aber in der geistigen Welt herrscht ein schreckenerre¬
gendes Chaos. Und vorzüglich von dieser Seite gleicht Balzac sei¬
nem Jahrhundert. Was uns in der Literatur charakterisirt, das ist
die Scheu vor dein Bekannten; so kalt und gewöhnlich unser Leben
ist, so begehrlich und fieberhaft fantastisch sind unsre Gedanken; aber
wie lange schon ist das menschliche Herz, diese Gvtvgrube, von un¬
sern Dichtern in allen Richtungen durchspürt worden. Um eine
neue Ader zu entdecken, wie viel Geduld, wie viel Fleiß ist da nö¬
thig! Und doch müssen wir Neues, Ungewohntes haben; wir müs¬
sen es schnell in großer Menge haben, selbst wenn es nicht mehr in
der Welt vorhanden wäre. So gedrängt verschmelzen wir bekannte
Typen, suchen wir neue Effecte in widernatürlichen Gegensätze», und
erzeugen mit aller Anstrengung unsrer Phantasie bizarre, verstüm¬
melte, unreife Gebilde, denen die beiden ersten Bedingungen des Le¬
bens, Einfachheit und Wahrheit, fehlen, und welche mit uns oder
selbst vor uns sterben.
Es handelt sich heutzutage nicht mehr darum, ob ein Romain
Held schön, geistvoll, muthig und von Nang sei; keine dieser Eigen-
schalten ist ihm unbedingt nothwendig; die letzte ist nicht nur ver-
schwunden, was leicht zu begreifen ist, sondern man liebt es noch,
sie durch die ganz entgegengesetzte bei einem Helden zu ersetzen.
Keinen Vater zu haben, ist eines der ersten Vorrechte eines Roman-
Helden; Nichts ist poetischer, als ein Mensch ohne Geburtsschein,
Doch hier sind diese Balzac und Sue noch die aristokratischsten un¬
srer Romanschriftsteller; ihre Helden haben gewöhnlich einen Vater,
meistens selbst einen Titel, oder wenigstens ein Von. Nur stehen
sie gewöhnlich auf geheimnißvolle Weise mit irgend einer Gesellschaft
entlassener Galeerensträflinge, Gauner und Freudenmädchen in Ver¬
bindung, mit einer kleinen Welt für sich, die diese Herren auf ihre
Art organisirt haben, und die ihnen die düstern Farben zu ihren
Gemälden liefert. Die andern Eigenschaften, welche unsre Vorfah¬
ren liebten, sind von einer complicirten Eigenschaft von moderner
Erfindung ersetzt; ich meine das „gewisse Etwas"; diese kostbare Ei¬
genschaft muß Alles ersetzen, das „gewisse Etwas " liegt gewöhnlich
im Auge; dies Auge ist Alles, was man will: es ist bald sanft,
bald stolz, öfter frivol, aber immer berückend. Es hat, um mich ei¬
nes Balzacschcn Ausdrucks zu bedienen, Ausströmungen, deren
Wirkung unwiderstehlich ist, und die ein Frauenherz so sicher durch¬
bohren, wie ein Karabiner von Delvigne aus hundert Schritt. Was
Geist und Herz betrifft, so sind diese mit einem höchst wunderbaren
Gemisch von Eigenschaften ausgestattet. Vor Allem trägt seine Stirn
den Stempel der Göttlichkeit; er hat Genie, viel Genie und ein Uni¬
versalgenie. Er könnte nach eigner Wahl ein großer Feldherr, ein
großer Philosoph, ein großer Dichter, ein großer Redner, ein großer
Staatsmann sein; wenn er weder ein Napoleon, noch ein Montes¬
quieu oder ein Chateaubriand, ein Mirabeau oder ein Richelieu ge¬
worden ist, so liegt der Fehler an den Menschen, die er zu klein ge¬
funden hat, als daß es der Mühe werth wäre, sich um ihre Fuh-
rung zu bekümniern, oder auch, weil er init einem Blick die Nichtig-
keit irdischer Dinge erkannt hat. In seinen Verhältnissen mit Frauen
ist der Held zu gleicher Zeit aufrichtig wie ein Kind, düster, verwe-
gen und wild wie ein Bandit, elegant und durchtrieben wie ein
Rou6 des vergangenen Jahrhunderts, schamlos, gemein und zudring-
lich wie ein Jndustrieritter unserer Tage.
In seinen weiblichen Gestalten erscheint uns Balzac wie der
Christoph Columbus einer neuen Gattung. Er hat Schönheiten ent¬
deckt, wo sie Niemand vor ihm vermuthete, und er beschreibt seine
Entdeckung mit einem solchen Lurus des Details, einem solchen Zau¬
ber der Sprache, einer solchen anscheinenden Aufrichtigkeit seiner Be¬
geisterung, daß sich der Leser davon gefangen nehmen läßt; die ge¬
wöhnlichen Begriffe von Schönheit werden umgestürzt; da, wo un¬
sere Augen Nichts sehen, als einen kahlen und unfruchtbaren Felsen,
läßt uns Balzac mit den seinigen eine grüne Insel erblicken, durch¬
schnitten von Bächen, beschattet von Hainen, geschmückt mit Blumen :
es ist nicht mehr Grönland, es ist Otahaiti! Man gebe Balzac
eine Frau von 49 Jahren, blaß, gelb, traurig, kränklich und schwach;
ihre Augen von blauen Ringen umgeben; ja, sie kann selbst bucklig
sein oder hinken, es thut Nichts, denn das wird in einem Augen¬
blick zu einem Reize mehr. Diese Gestalt schmückt unser Autor mit
dem auserlesensten Geschmack; er umhüllt sie künstlich mit Blonden
und Spitzen; er gibt ihrem Blick eine ganz eigenthümliche magne¬
tische Kraft, jeder ihrer Bewegungen eine verführerische, wollüstige
Nachlässigkeit, vermischt mit vornehmer Grazie. Ihre Traurigkeit
wird Schwärmerei, auf ihrem gelben Teint mischt ein günstiges Zwie¬
licht die bezauberndsten Schatttrungen; in den Falten ihrer Schläfe, in
den Umrissen ihrer Nase, in den Linien ihres Busens, in ihren
Mundwinkeln, in ihren Ohren, in ihrem Haar, in ihren Nägeln ent¬
deckt Balzac eine ganze Welt von Wundern, von denen wir keinen
Begriff gehabt haben; wir sind geblendet, hingerissen; es ist nicht
mehr eine Frau von reiferem Alter, gelb und verwachsen, die wir
vor Augen sehen; es ist ein Engel, eine Fee, eine Venus, die einen
Gymnasiasten wahnsinnig machen, einen achtzigjähriger Greis entzüc¬
ken kann.
Wenn Balzac zufällig eine junge und schöne Frau zu schildern
hat, so zeigt er dieselbe Scheu vor dem Bekannten, dieselbe Wuch
nach Entdeckungen, Er läßt Alles bei Seite liegen, was den gro¬
ßen Haufen anzieht. Wie er erst die Häßlichkeit in Schönheit ver¬
wandelte, thut er jetzt fast das Gegentheil. Indem er sein Bild pi¬
kant machen will, verdirbt er eS. In den Zeiten der Scudery nahm
man es nicht so genau; man häufte Schönheit auf Schönheit; die
Heldin war immer ein Musterbild aller körperlichen und geistigen
Vollkommenheiten. Wir wollen beide Manieren einmal gegenüber¬
stellen. Hier ist das Porträt der „illustren" Madame Artamvne,
(t. 1. pag. 33se.)
„Diese Prinzessin trat eben in ihr neunzehntes Jahr. Der
Schleier von Silbergaze, welcher ihr Haupt umhüllte, verhinderte
nicht, die tausend goldenen Ringel ihres schönen Haares zu sehen,
welches ohne Zweifel vom schönsten Blond war, das es jemals
gab, indem es Alles hatte, was Glanz geben kann, ohne etwas von
der Frische zu nehmen, die eines der, nothwendigsten Erfordernisse
vollkommener Schönheit ist. Sie war von sehr edlem, sehr vortheil-
haften und sehr zierlichem Wuchs; und sie ging mit so bescheidener
Majestät einher, daß sie die Herzen Aller nach sich zog. Ihr Bu¬
sen war weiß, glatt und wohlgeformt; sie hatte blaue Augen, aber
so sanft, so glänzend und so voller Verschämtheit und Lieblichkeit,
daß es unmöglich war, sie zu sehen, ohne Achtung und Bewunde¬
rung zu fühlen. Ihre Lippen waren so roth, ihre Zähne so weiß,
so gleich und so wohl gesetzt, ihr Teint so glänzend, so rein und so
rosig, daß die Frische und die Schöne der seltensten Blumen des
Lenzes nur einen unvollkommenen Begriff von dem geben können,
was ich sah und was jene Prinzessin besitzt. Sie hatte die schön¬
sten Hände und die schönsten Arme, die es möglich ist, zu sehen;
denn da sie beim Eintritt in den Tempel ihren Schleier zweimal
lüftete, bemerkte ich diese letztere Schönheit, wie ich schon alle andern
bemerkt hatte. Aber, Seigneur, aus all diesen Schönheiten und Rei¬
zen, die ich euch nur so ausführlich beschrieben habe, damit Ihr Ar-
tamone weniger schuldig finden mögt, entstand eine Anmuth in allen
Handlungen dieser berühmten Prinzessin, die so wunderbar und un¬
gewöhnlich ist, daß, mochte sie gehen oder stillstehen, sprechen oder
schweigen, lächeln oder nachdenklich sein, sie immer reizend und be¬
wundernswürdig war."
Jetzt wollen wir noch die Hauptzüge einer der jüngsten und
interessantesten Frauengestalten Balzac's geben, der Madame de Mort-
sauf (le 1^8 <l.; l» V-l»6e). Madame de Mortsauf ist 27 Jahre
alt. Zwischen den beiden Porträts liegt ein Zeitraum von I8K
Jahren.
„Ihre runde Stirn, vorspringend wie die der Jucunde, schien er¬
füllt zu sein von unausgesprochenen Gedanken, von zurückgedrängten
Gefühlen, von Blumen, ertränkt von bittern Wassern; ihre grünli¬
chen Augen, eingefaßt von braunen Pünktchen, waren immer matt;
aber wenn es sich um ihre Kinder handelte, erglänzte in ihrem
Auge plötzlich ein zartes Leuchten, das sich in den Quellen des Le¬
bens zu entzünden schien, als wolle es sie austrocknen. Eine griechi-
sche Nase, als wäre sie von Phidias gemeißelt, und durch einen dop¬
pelten Bogen mit den zierlich geschwungenen Lippen verbunden, ver¬
geistigte ihr ovales Gesicht, dessen Teint, dem Gewebe der weißen
Camellie gleichend, auf den Wangen sich in lieblichen rosigen Tönen
röthete. Ihre Fülle störte weder die Anmuth ihres Wuchses, noch
den sanften Schwung der Umrisse, welcher nothwendig war, damit
ihre Formen schön blieben, obgleich sie entwickelt waren. Ein zarter
Flaum schwand die Wange hinab bis auf die Halbfläche der Schul¬
ter, das Licht dort festhaltend, daß es seidenartig glänzte. Ihre Oh¬
ren, klein und wohlgestaltet, waren nach ihren eigenen Worten die
Ohren einer Sklavin und einer Mutter; ihre Arme waren schön,
ihre Hände, deren Finger sich leise aufwärts bogen, waren lang,
und wie bei den antiken Statuen, bilvete das Fleisch an den Sei¬
ten der Nägel einen zarten Saum. Ihr Körper hatte die Frische,
welche wir an ebenentfalteten Blättern bewundern; ihr Geist hatte
die tiefe Jntensivität des Wilden; sie war ein Kind durch ihr Ge¬
fühl, ernst durch ihre Leiden, jungfräulich und verbuhlt zugleich. So
gefiel sie ohne Kunst durch ihre Art sich zu setzen, aufzustehen, zu
schweigen, und ein flüchtiges Wort fallen zu lassen. Ihre Art, die
Endungen in i zu sprechen, erinnerte an den Gesang eines Vogels;
ihr el, tönte wie eine Liebkosung, und die Art, mit der sie das t
hervorstieß, verrieth einen Despotismus des Herzens. So erweiterte
sie, ohne es zu wissen, den Sinn der Worte und riß den Zuhörer
mit sich in unbekannte Welten fort."
Wer gefällt dein Leser am meisten, die „illustre" Madame,
oder Madame de Mortsauf? Ich meines - Theils muß gestehen,
daß „zwischen Beiden mein Herz schwankt," d. h. daß sie mir beide
aus verschiedenen Gründen mißfallen. Das erste Porträt ist das
Porträt einer Kunst, die sich noch in ihrer ersten Kindheit befindet,
von einem decorationsmäßigen Colorit, ohne Nuancen, ohne Leichtig¬
keit und von wenig Wahrheit. Das zweite zeigt die nach seltsamen
und Fantastischem haschende Anstrengung einer gealterten und blasi»
ten Literatur; es ist anspruchsvoll, manierirt, verschnörkelt und natur¬
widrig. Dennoch gibt es Leute, die bei solchen Entdeckungen vor
Bewunderung außer sich gerathen und ausrufen: Wie tief weiß Bal¬
zac zu analysiren! Uns aber ist es nur ein Zeugniß, wie ein so
trefflich begabter Schriftsteller den gesunden Menschenverstand mi߬
handelt und die Sprache verrenkt. Liest man Balzac's Werke mit
ruhiger Ueberlegung, läßt man sich nicht hinreißen von einer oft mit
schlagender Kraft und Wahrheit ausgestatteten Conception, so erstaunt
man über die unglaubliche Freiheit, die er sich erlaubt; viele Seiten
sind ein Muster von barockem und verschnörkelten Styl. Da findet
man lange, schleppende, schlechtverbundene Perioden, die, gespickt mit
bizarren Neologismen, den Gedanken nicht deutlicher, sondern unver¬
ständlicher machen; Metaphern, bei denen Einem die Haare zu
Berge stehen; Bilder, in denen man alle drei Reiche der Natur ge¬
plündert und zusammengeschmiedet findet. Dazu muß man bedenken,
daß diese Sünden mit dem erschwerenden Umstand des Vorbedachts
begangen werden. Nichts hat weniger mit Nachlässigkeit zu thun,
als Balzac's Styl ; sein Ruf als Corrector ist in den Druckereien
sprichwörtlich geworden; nur um nicht einfach zu sein, impft er sich
selbst ein schreckliches Uebel ein; er nennt das „sich mit der Sprache
herumschlagen;" könnte er nicht eben so gut mit ihr in gutem Ein-
verständniß leben?
Und doch, ich wiederhole es, ist Balzac einer der Männer, die
vom Himmel die heilige Flamme der Poesie empfangen haben,
und ich selbst, der ich ihn tadle, weil ich ihn bewundere, wie oft hat
mich der Tag erst erinnert, daß ich den Schlummer über einem sei¬
ner Bücher, das ich am Abend vorher begonnen, vergessen hatte! Er
gibt uns Gedanken, die bis in die geheimsten Tiefen der Seele nach-
klingen; die Augen werden feucht; man legt das Buch hin; man
schwelgt in einer köstlichen Empfindung; man verweilt in einer fri¬
schen Oase, und dann verfolgt man wieder seinen Weg über kahle Ab¬
gründe, über Gletscher, über nackte Felsen, durch Gestrüppe und lang¬
weilige Wüsten.
Die literarische Biographie Herrn de Balzac'S ist ganz in einer der
etwas anspruchsvollen, aber vollkommen wahren Stellen seiner Vor¬
reden enthalten. Der Styl der bekümmerten oder vom Blitz des
Unglücks getroffenett Wesen gleicht nicht dem Styl derer, deren Leben
ohne Katastrophe ruhig verflossen ist. Ueberblicken wir schnell dieses
vom Blitz getroffene Leben. Honore de Balzac ist am 20. Mai
1799 zu Tours von armen Eltern geboren; er stammt nicht von
seinem berühmten Namensvetter ab, dem großen Balzac, den Nie¬
mand mehr liest; der Familienname des Letzteren war Guez. Unser
berühmter Zeitgenosse besteht selbst darauf, „daß er nicht Edelmann
sei im historischen Sinn dieses Wortes, das so bedeutsam die Fami¬
lien des erobernden Stammes bezeichnet; aber, sügt er hinzu, ich
sage dies, indem ich ihrem Stolze den meinen entgegensetze; denn
mein Vater rühmte sich, gleichen Stammes mit dem besiegten Volke
zu sein, aus einer Familie, die in Auvergne gegen die Invasion ge¬
dampft hat und aus der die d'Entragues stammen." Wir geben gern
zu, daß Balzac von dem besiegten Volke abstammt, d. h. vom rein¬
sten gallischen Blut. Wir wollen auch kein Wort über sein Von
verlieren. Denen, die ihn fragen, warum er es 1826 abgelegt habe,
antwortet er, daß, da er Buchdrucker wurde, er auch geglaubt habe,
den Geist seines Standes annehmen zu müssen. Die jüngeren Söhne
adeliger bretagnischer Familien legten, wenn sie Kaufleute wurden,
ihren Degen und ihren Adelsbrief auf der Stadtkanzlei nieder; so
hat es Herr von Balzac mit seinem Von gemacht.
Der Vater Balzac's, Secretär beim großen Rath unter Ludwig
XV., verlor seine Stelle durch die Revolution und schickte seinen Sohn
während des Kaiserreichs auf das College von Vendome, wo er seine
ersten Studien machte. Hier zeigte der junge Schüler frühzeitig die
Eigenschaften eines hochbegabten Jünglings; denn im zwölften Jahre
machte er schon schlechte Verse, sprach schlechtere Themata, gewann
unzählige Preise und erhielt den Spitznamen Poet.
Nach Beendigung seiner Studien erwarb sich Balzac die Bac-
calaureuswürde und sah sich jetzt in Paris, ohne Vermögen, aber
mit dem abenteuerlichen Geiste eines Mannes ausgestattet, der seine
Kräfte fühlt. Er stürzte sich kopfüber in die Hölle, die man die li¬
terarische Laufbahn nennt. Der interessanteste Roman, den er seitdem
unter dem Titel: IIIr gi-unä Komme cle l^rovivc« u Paris veröffent¬
licht hat, kann uns gewiß einen Begriff von seiner Lebensweise in
jener Zeit geben. Mit seltener Unerschrockenheit und unermüdlicher
Ausdauer machte er zwanzig vergebliche Versuche und sah vierzig
seiner Bände der Vergessenheit anheimfallen. Kaum hatte er eine
Schlacht verloren, so wagte er schon eine neue, indem er die Farben
seiner Fahne veränderte; er nannte sich nach einander I I»r.->c« <Jo 8t.
^ubiv, Viellvrxlv, I^ora K'noire. Je hartnäckiger man sich wei¬
gerte, ihn zu lesen, desto hartnäckiger bestand er darauf, zu schreiben,
i^es äeux llvctor, !v (^enteiiiüre, lo Vicinro clef ^rileimes (den
unlängst Tieck so sehr gelobt) u. s. w. sind die Namen jener Erst¬
lingswerke, die Balzac mit stoischen Gleichmuth aus dem Laden des
Buchhändlers zu der Bude des Antiquars und von da zum Käse¬
krämer wandern sah. Die Erzeugung dieses jetzt vergessenen Macu-
laturhausens fällt in die Jahre 182l bis 1829. Ich muß hinzufü¬
gen, daß Balzac die Verfasserschaft eines großen Theils dieser Werke
läugnet und erklärt, daß unter denen, die er anerkennt, mehrere sich
befinden, die er gemeinschaftlich mit Andern verfaßt habe.
Nicht zufrieden, sein Glück mit der Feder zu versuchen, ließ sich
auch der Schriftsteller in Buchdruckerei- und Buchhändlerspeculationcn
ein, welche schlecht ausfielen; er gerieth tief in Schulden, und um
diese zu bezahlen, glaubte er von Neuem zu dem Mittel, welches bis
jetzt so schlecht angeschlagen hatte, seine Zuflucht nehmen zu müssen.
„Ich wollte", sagte er später, „meine ungeheueren Schulden bezahlen
und anständig leben. Dies große Resultat wollte ich mit einer Gänse¬
feder, einer Flasche Tinte und einigen Buch Papier erreichen, in ei¬
ner Stadt, wo der Schriftsteller keinen Credit hat, wo er nicht nur
Talent, sondern auch Glück haben und außerdem Tag und Nacht
arbeiten muß, um sechstausend Francs jährlich zu erwerben; und ich
hatte allein achttausend Francs jährlich Interessen für meine schulde«
zu bezahlen! War das nicht eine Thorheit? Ich unternahm diesen
Kampf zu einer Zeit, wo sich wegen geringerer Verlegenheiten einer
meiner Freunde, dessen Selbstmord großes Aufsehen machte, erschossen
hatte." Durch Hartnäckigkeit und Muth ging Balzac als Sieger
aus diesem Kampfe hervor. I^e clerniei- <Äwuiu>, der 1829 erschien,
war der erste Lichtpunkt auf seiner Laufbahn. Dieses Buch, welches
vielleicht in Erfindung und Entwickelung den späteren nachsteht, scheint
mir im Styl eines der besten Balzac's zu sein. Der Autor sagt hier
klar, was er sagen will, und dunkle und verzwickte Phrasen kommen
noch nicht so häufig vor, als anderwärts. Von diesem Buch an war
der literarische Ruf Balzac's beständig im Steigen, I-i, k^siolliAiv ein
Mu-üiFv, In pe.'in it«; lüiut-nri», l'tiiswirv ac IVei/e stellten ihn
unter die beliebtesten Schriftsteller; und bald entstand eine neue und
zahllose Bücherfamilie, die von dem Publicum noch freudiger begrüßt
wurde.
Jene große Camera obscura betitelt Lciznes «le l-l vio vrivev,
in der Balzac unsere Zeit von allen ihren Seiten schildern will, läßt
sich in drei Hauptabtheilungen scheiden. Es sind dies die Scene»
«te in Viu k^risivimc!, die Keines <Jo lit Vio «le I^rovmcv, und die
Oiiites on Linkes nkilos«pbiiine8. Ich übergehe die Loutes cliü-
litt'»,,,«!«, welche Nichts sind als eine Sammlung geistreich und künst¬
lerisch bearbeiteter Obscönitäten, ein Leben eines civilisirten Jüng¬
lings mit der Naivität und der Aufrichtigkeit greisenhafter Ausschwei¬
fung. Die Keeiies <le la Viv «I« ^rovince sind die schönste Blüthe
in dem Ehrenkranze Balzac'S. Hier finden wir jene Interieurs in
niederlyonischer Mundart, die er so trefflich zu malen weiß; hier tref¬
fen wir auf jene köstlichen, klaren Schöpfungen, die ein vollkommenes
Ensemble ohne Lücken und Ueberladung, ohne Trockenheit und ohne
Verschwommenheit bilden, die in Form und Inhalt einfach und wahr
sind und sich der Vollkommenheit nähern. Was die philosophi¬
schen Intentionen unseres Autors betrifft, so sind sie, glaube ich,
sehr schwer auseinanderzusetzen. Die größte Zahl der" mit diesem
imponirenden Beiwort versehenen Bücher hat Nichts damit zu thun;
es ist Nichts als eine buchhändlerische Lockspeise. Es ist überhaupt
.nicht leicht, die vierzig Romane, welche Balzac sein Werk nennt, zu¬
sammenzufassen, um ein moralisches, politisches oder sociales Facit
daraus zu ziehen; sein Gedanke, oder vielmehr seine Gedanken sind
wesentlich negativ; in den Schmelztiegel irgend eines Prinzips ge¬
bracht, verflüchtigen sie sich augenblicklich. Wenn man die mannig¬
faltigen Erzeugnisse seiner Feder anders als aus dem Gesichtspunkte
der Kunst betrachtet, wenn man etwas Anderes sucht, als ein mehr
oder weniger reizendes Gemälde, so findet man nichts Greifbares, Blei¬
bendes, als eine Art von Skeptizismus, der bald raffinirt, bald ge¬
mein, bald unruhig und bitter ist, und der zugleich an Voltaire, an
Paul de Kock und an Byron erinnert.
Den Liebhabern persönlicher Schilderungen muß ich sagen, daß
Balzac in seinem Aeußeren Nichts von den obengenannten Banditen
hat, die er geschaffen hat; in der düstersten Zeit seines Kampfes ge¬
gen Armuth und Ruhmlosigkeit, unter der Restauration war sein Aus¬
sehen viel poetischer. Er war noch hager, sehr hager, hatte ein blei¬
ches Gesicht, ein funkelndes Auge, sprach feurig und gesticulirte hef¬
tig; seine Unterhaltung war voll Luftschlösser. Er war ein Mensch
der Projecte. Außer in diesem letzten Punkte, der, sagt man, noch
ganz so sein soll, hat sich Vieles verändert. Indem Balzac an Ruhm
gewann, hat er Napoleon nachgeahmt; er hat auch an Dicke gewonnen.
Man denke sich einen kleinen, dicken, untersetzten, breitschulterigen
Mann, gewöhnlich mit großer Nachlässigkeit gekleidet, mit langen, schwar¬
zen, schlecht gekämmren Haaren, einem runden, rothen, jovialen Mönchs-
gesicht, einem großen und lachenden Mund unter einem Schnurrbart
— Züge, die in ihrem Ensemble etwas Gemeines hätten, wenn nicht
das kleine Auge mit geistreicher Lebendigkeit blitzte. Er soll für Frauen
sehr verführerisch sein; ich weiß nicht, ob er dies der magnetischen
Kraft verdankt, mit der er das Auge seiner Holden ausstattet, ich
möchte es lieber dem Reiz seiner Unterhaltung zuschreiben, die durch
Geist und Grazie Bewunderung erregt.
Wer wahrheitsliebend genug ist, den Worten, wie sie der Zeitge¬
brauch uns zuwirft, ein inneres Verständniß bringen zu wollen
und nicht eher zu ruhen und zu rasten, als bis es gelungen oder
ihre Unfaßlichkeit erkannt worden, der trägt einen so sichern Talis¬
man gegen die Lüge in sich, als es überhaupt einen geben mag.
Oder man muß, was dasselbe sagen will, den Charakter haben,
nicht mehr und nicht weniger, denn man ist, sein zu wollen. Solch
selbstvertrauender Bescheidenheit Gegenspiel sind die Pfauenfedern des
Raben in der Fabel. Man hat es in der letzten Zeit erleben müs¬
sen, daß bei einem großen Haufen deutscher Gelehrter und Schrift¬
steller alle Ursprünglichkeit des Denkens und Schreibens erstarb, und
ein bestimmter Modeschnitt sich ihren geistigen Gestalten ausprägte.
Man meinte nicht mehr zeitgemäß zu schreiben, wenn man der In¬
dividualität ihren Lauf ließ; man fand schal und abgeschmackt Alles,
was sich von der allgemeinen iRegel ausnahm — man las fast
kein Buch mehr, das sich nicht sogleich als zeitgemäß auswies.
Unsere Philosophen hatten nämlich urplötzlich die Entdeckung einer
sogenannten absoluten Form gemacht. Die Wahrheit selbst, eine ein¬
zige, einige, konnte natürlich nur eine einzige Form haben, und diese
war denn auch gutmüthig genug, sich alsobald finden zu lassen. Mit
dem Sprachgebrauche des Volkes mochte sie wenig zu thun haben.
Dieses spricht, wie ihm Mund und Schnabel gewachsen, und be¬
wußte Thätigkeit darf ihm dabei kaum zugeschrieben werden. Solch
unbewußtes und fast instinktartiges Bilden und Gestalten des Volkes
aber ist das grade Gegentheil aller Philosophie. Diese neuerstan-
dene Sprache mußte also, um sich vom Pvbelthum der alltäglichen
Redeweise zu unterscheiden, die Worte in einem andern Sinne ge¬
brauchen — ihnen neue Bildung verleihen oder, wo dies nicht thun¬
lich war, die fremden Sprachen als Surrogat in Anspruch nehmen-
In solchen Dingen aber ist die Thatsache das einzig Entscheidende?
wird diese verlassen, so ist der Willkür Thor und Thür geöffnet
Man begann demgemäß auch in der That ein wirres Spiel, ein
deutelndes Drehen und Wenden der Worte und baute darauf -5
aus Wortklang und Wortähnlichkeit gar oft — Beweise. Es hat
die Willkür aber und der geheimnißvolle mysteriöse Anstrich solchen
Treibens eine magische Wirkung. Das beweist schon der alte Zau¬
berglaube. Einem geheimnißvollen Murmeln unverstandener Laute
wird Macht über Natur und Geist zugeschrieben, und zwar nur
darum, weil der Mensch solche Macht an sich selber erfahren. Dieser
in die fabelhaften Zeiten eines grauen Alterthums schon längst ver¬
wiesene Köhlerglaube aber schien plötzlich seine Wahrhcü von Neuem
zu bekunden. Die Zauberworte der absoluten Philosophie bannten al¬
les Leben der Individuen, und. man pries sich noch dazu in seinem
Starrkrampfe glücklich. Es steckt im Menschen ein mehr oder weni¬
ger aristokratisches Element. Man will auf dem Pfade der Ge¬
wöhnlichkeit um keinen Preis mit fortschreiten, und sollte in.an selbst
deshalb seinen gesunden Menschenverstand in den Kauf geben. Bei¬
spiele dieser Art bietet das Leben im Ueberfluß dar. Noch ist kaum die
Zeit vergangen , daß es die Mode der höhern Stände mit sich
brachte, krank zu sein, und wenn man das Unglück hatte, nichts de-
stoweniger in allen Gliedern die volle Kraft der Gesundheit zu füh¬
len, wenigstens den entgegengesetzten Anschein zu haben. Gesundsein
konnte ja — Jeder. Hier war eine ganz ähnliche Erscheinung.,
In die tiefen Geheimnisse der völligen UnVerständlichkeit deS Denkens
und Schreibens eingeweiht zu sein; ward zur Verpflichtung gegen die
Majestät der souveränen Idee. '-^ Das Hofschranzmpack wird oft
genug um seiner ceremoniellen Steifheit, seiner konventionellen Rede¬
weise willen auf der Bühne preisgegeben, und der „gesunde Menschen¬
verstand" ist läppisch genug, über solche Puppenkomödie ein un¬
auslöschliches Gelächter aufzuschlagen. Hier hatte sich denn um den
Thron der absoluten Idee ein ganz neues Hof- und Etiquettenwe¬
sen geschaart, welches auf die volksmäßige nüchterne Besonnenheit ei-
nes ruhigen Nachdenkens gar stolz herabsah. Wenn es nun aber
einmal Throne gibt und dieselben, wie behauptet wird, zum Wohle
der Menschheit durchaus nothwendig sind, so ist es immer besser, sie
von einer mannhaften selbstständigen Persönlichkeit, als von einem
charakterlosen Kinde oder einem schwachen Weibe besessen zu finden.
Und die absolute Idee war ein solch schwaches Weib, das bald mit
diesem, bald mit jenem ihrer Diener buhlte und bald diesem, bald je¬
nem in den widersprechendsten Dingen nachgab. Da brach denn
das Unglück einer in sich gespaltenen und zerrissenen Vielherrschaft
aus. Man hat sich zwar Mühe gegeben, dies als innere Noth¬
wendigkeit der Sache selbst hinzustellen, man hat darin den unendli¬
chen Reichthum des „Gedankens" sogar bestätigt gefunden; aber dein
unbefangenen Blicke wird es erlaubt sein, in jener vorgeschützten
Nothwendigkeit der Sache nur eine Nothwendigkeit, insoweit sie in
den Personen begründet ist, zu erblicken. Wer nur unbefangen die
totalen Meinungsverschiedenheiten, jene völligen Gegensätze durchmu¬
stert hat, voir denen sich jeder als die einzig wahre und letzte Cor^
Sequenz ,,des sich selbst denkenden Denkens" hinstellte und ganz mit
derselben Befugniß, als seine Concurrenten um diese einzige Berech¬
tigung und echte Abstammung aus dem Ichor des Gedankens, der
kann gar nicht in Zweifel darüber sein, daß die Hegelsche Methode
dies elastische Kleid ist, das sich jeder Ansicht, jedem Wahne und
selbst jeder Tollheit gleich gefällig anschmiegt. Man hat von ei¬
nem Systeme gesprochen: ein solches ist doch wohl aber mehr als
ein loses Gefüge einer Menge einzelner Steine, von denen man be¬
liebige wegnehmen kann, ohne dadurch das Ganze irgend wie zu al-
teriren. Ein System ist doch wohl nichts Andres, als der wissen¬
schaftlich angeordnete Ausdruck Einer Weltanschauung: also ein
Ganzes und Untheilbares. Die Hegelsche Philosophie hat aber zur
Beschönigung unendlich vieler herhalten müssen und herhalten —
können. Die Wahrheit zu sagen, brachte jede durch dieses Schal¬
loch redende Persönlichkeit ihr eigen System in die Floskulatur der
Dialektik mit. Und es konnte dann wohl auch nicht anders sein.
Das Denken soll aus sich selbst einen Inhalt erzeugen. Das ist
eine platte Unmöglichkeit. Es wird die Anforderung gestellt zu den¬
ken, aber die Frage ist, was gedacht werden soll. El, das Denken
soll sich selbst denken. Nun denn, so kommen wir auch nicht wer-
ter, als die indischen Philosophen mit ihrem 0in, 0in.-i- i Dieses
0in, 0in ist der klarste und naivste Ausdruck des absoluten Gedan¬
kens und der erschöpfendste. — Wohl hat dies Denken eine Menge
von verschiedenen Kategorien producirt — aber wahrlich sie sind nicht
mehr, denn 0in 0in! Denn Denken ist nicht mehr als eine zusam¬
menstellende, vergleichende, prüfende und anordnende Thätigkeit. Sei¬
nen Inhalt erhält es aus der uns umgebenden objectiven Welt,
welche durch die Anschauung aufgenommen oder verinnerlicht wird.
Die Begriffe, die wir also mit Hilfe des Denkens erhalten, haben
die Erfahrung zu ihrer unumgänglichen Voraussetzung. Ohne solche
sind es inhaltlose — nichtige —- undenkbare Gedanken. Nesultirt
demgemäß aus einer vorgegebenen Entwicklung des Denkens aus sich
selber irgend ein Inhalt, so ist dieser vielmehr aus dem Leben auf¬
gegriffen und nur verstohlner Weise als in der Bewegung des Den¬
kens selbst hervorgebracht und gar wunderlich ausstaffirt untergescho¬
ben. Es ist nämlich bei dieser Art des Philosophirenö ein zwiefa¬
ches Verfahren bemerkenswerth. Einerseits nimmt es aus der Man¬
nigfaltigkeit der Natur und des Geisterlebens eine Menge von That¬
sachen auf und weiß durch geschickte und ungeschickte Manipulatio¬
nen sie als aus dem Denken selbst hergeleitet, sich und Andern vor¬
zulügen, andrerseits aber beraubt sie dabei zugleich das Dasein sei<
ner Lebensfrische und wahren Gestalt, und gibt ihm einen durch¬
aus fremden und ungemüthlichen Anstrich. Wohl sind es noch die¬
selben Dinge, die uns alltäglich fast auf der Straße begegnen und
mit wohlbekannten Mienen anlächeln — aber sie schauen uns aus
diesem Nebelflor der dialektischen Methode mit so qualvollen und
unglückseligen Gesichtern an, daß uns angst und bange um's Herz
wird. Es ist dasselbe unheimliche Gefühl, welches uns in einem
schweren beängstigenden Traume fesselt. Da wird das Getreibe der
verzerrten und verhexten Gestalten immer toller und wirrer,
Und in solchen Spukgebilden wird dann das ganze Leben an uns
vorbeigeführt, so kahl und so nüchtern, daß man die Lust daran für
immer verlieren könnte. — Wohl aber ist mit solch fleisch- und
blutlosen Schemen gar leicht umzuspringen. Hat man sie erst ein¬
mal aus der Mitte deS Lebens herausgerissen und in eine Hegelsche
Kategorie verflüchtigt, so leisten sie keinen Widerstand mehr, und der
allmächtige Meister treibt sein launenhaftes Spiel mit ihnen. Da
entwickelt sich der an und für sich seiende Gedanke zum Außersichsein
der Natur, da faßt sich dieses wieder in die Individualität zusam¬
men, und diese wieder geht in den absoluten Geist aus, das Ende,
das seinen Anfang wieder setzt und verwickelt. Ein ganz allerlieb¬
stes naives Selbstgeständniß. Ein solcher Fortschritt heißt denn doch
auf gut Deutsch Nichts andres, als sich im Kreise herumdrehn und
dabei ewig und immer auf dem alten Flecke bleiben. Das ist denn
aber in der That auch die letzte und ganze Wahrheit der Hegelei.
Denken ist Denken, und wer denkt, der lügt, sagt ein allbekann¬
tes Sprüchwort der gefunden Vernunft. Hegel hat das Denken
aus dem Kopfe des Subjectes durch eine Operation, wie sie ihm der
geschickteste Chirurg nicht nachmachen wird, herausgeschnitten, ihm
also seine Grundlage, diese Person, weggezogen. Da ist kein Ich,
kein du mehr, waS da denkt, das Denken denkt selbst. Aber weil es
neu durch die Ohren und Augen und übrigen Sinne des Menschen
seinen Stoff, an dem es seine Thätigkeit entwickelte, erhalten konnte,
so hat es keinen andern Inhalt mehr, denn sich selbst. Da sprudelt
es seine Erinnerungen aus dem frühern Leibesleben heraus — un¬
natürlich, gewaltsam. — Weil von der ganzen Welt getrennt und
in den kleinen eignen Kreis gebannt, wird ihm dieser zur Welt, und
neu sind seine Gedanken, — Thaten, Leben, Sein. Denn sein Sein,
sein Leben, sein Thun ist natürlich genug! eben Nichts weiter als Denken.
Wenn einer, so hat Kant mit seiner Frage nach der Möglichkeit syn¬
thetischer Urtheile rirwr! den Nagel auf den Kopf getroffen. Ist
diese Frage zu bejahen, so ist freilich ein Fortschritt im sogenannten
reinen Denken möglich. Sie ist aber unbedingt zu verneinen. Das
Denken kann doch wohl nie über sich selbst hinaus kommen, so
oft es auch den Zuruf no sutor- »in-a, crepiänm unbeachtet gelassen
hat. Wo es sich ein Sein zugeschrieben, so ist dies Nichts weiter
als eine Selbstbezeichnung, also eine Tautologie, d. h. sein Sein ist
eben nur der Gedanke. Weiter kommt man nicht, wenn man der Wahr¬
heit die Ehre gibt. Es ist von der Philosophie völlige Vorausbe-
zugslosigkeit verlangt worden, und siehe da! sie meint dieser Anfor¬
derung entsprechen zu können. Macht man aber mit dieser Behaup¬
tung Ernst, so liegt die Unmöglichkeit alles Philosophirens auf der
Hand. Das denkende Subject ist doch wohl auch schon eine Vor¬
aussetzung, eine gar concrete und compacte. Die Philosophie, als
eine voraussetzungölose, kann also dann gar nicht einmal gedacht
werden, weil dieses ein denkendes voraussetzt. Läßt man es sich aber
gefallen, mit einem solchen den Anfang zu machen, so darf man nicht
meinen, mit der Fiction des sich selbst denkenden Denkens — selbst dessen
Möglichkeit zu gegeben! — diese Schwierigkeit zu umgehen. Die Frage
nach der Wirklichkeit einer solchen Philosophie bleibt dieselbe, und ihre
Voraussetzung^wäre nunmehr wenigstens der Nachweis, wie dieses sich
selbst denkende Denken aus seiner transcendenter Höhe in den Kopf
des Philosophen herniedergestiegen. — Dieser hat jüngst dem The¬
ologen den Vorwurf der Heuchelei gemacht — aber in Wahrheit —
ein solcher Vorwurf kann mit Fug und Recht zurückgegeben werden.
— Das ist ein gewaltiges Problem, die Unmöglichkeit möglich zu
machen. Und dazu ist nicht einmal eine Preisaufgabe nöthig gewe¬
sen. Von freien Stücken hat sich die Philosophie daran gemacht.
Fürwahr, es geschehen noch aller Zeiten und aller Orten Wunder —
für den gläubigen Haufen.
Soviel für heute! In diesem ersten Artikel genüge es, die
eine große Grundlüge deS „Systems", die in der That mit staunens-
werthen Scharfsinn durch alle einzelnen Gebiete hindurch geführt ist,
anzudeuten. Da steht es denn da, gepanzert und geharnischt, eine
scheinbar undurchbrechliche Phalanx, jede zu sich hinüber heischend.
Aber dem gesunden menschlichen Auge ist eine wundersame Macht
gegeben. Die Lüge hält ihm nicht Stand, und der gewaltige Bau
zerrinnt in Luft und Nebel. — In den folgenden Artikeln soll ver¬
sucht werden, in einzelnen Theilen dieser Philosophie ihre Heuchelei
genauer nachzuweisen und anschaulicher zu machen.
Noch nie ist die Heiligkeit der Nationalität so allgemein und
tief empfunden worden, wie in diesen Tagen einer immer allgemeiner
um sich greifenden, Alles gleich und glatt leckenden Weltbildung.
Selbst die kleinsten Volksstämme, die von der Weltcivilifation am
meisten bedroht werden, versuchen eine Schilderhebung gegen diese un¬
geheuere Macht für ihre Eigenthümlichkeit in Sprache, Sitten und
Bräuchen. Haben doch selbst die Finnen sich erhoben, um nicht Rus¬
sen zu werden; die Kelten möchten sich von den Briten scheiden und
bald finden vielleicht auch die von Wales ihren Tribunen. Es ist
ein Kampf der Individualitäten gegen den Strom der europäischen
Jdeenwanderung, oder besser, es ist der Verdauungsprozeß der Cultur.
Aber eine Cultur, wie die jetzige, ist unaushaltbar in ihrem Lauf, ehe
sie den Gipfelpunkt erreicht hat; ein Streit für die Nationalität wird
daher immer nichtig und unglückselig sein, wenn er nicht zugleich ein
Wettstreit in Cultur und Freiheit ist. Kleine und verlassene Völker-
individuen werden sich nur erhalten, wenn sie entweder sich zu be¬
schränken und von allen höheren Bedürfnissen der civilisirten Welt zu
emancipiren wissen, oder wenn sie den Inhalt der Civilisation in ei¬
gen Fleisch und Blut zu wandeln und individuell neuzugebären im
Stande sind. Wer nicht verdauen kann, wird verdaut werden.
Von diesem Gesichtspunkt betrachtet, hat das Schauspiel dieses
„Völkerfrühlings" seine sehr elegische Seite. Vereinsamte, im Schat¬
ten historischen Müßigganges oder Druckes verkümmerte Volksstämme,
oft die letzten Enkel einst mächtiger Nationen, raffen sich plötzlich auf,
da ihnen das Rauschen des großen Stromes in's Ohr dringt, um
die Gräber ihrer Vater zu schützen; plötzlich entwickeln sie Tugenden,
die sie selbst nie geahnt und nie geübt haben, Eintracht, wo früher
Zwietracht, Hingebung, wo früher Selbstsucht, Gcistesschwung, wo
früher thierische Stumpfheit herrschte. Und doch ist kaum eine Frage,
daß bei Vielen diese tönende und klingende Agitation nur das Schwa-
nenlicd ihrer naturwüchsigen Selbständigkeit ist. Denn während diese
Jsolirten sich oft nur durch noch größere Jsolirung, d. h. durch die
Flucht, zu retten wähnen, sieht man, wie selbst große und mächtige
Nationen ihre Blutsverwandtschaft geltend machen und zu großen
Massen zusammenrücken, um in der allgemeinen Bewegung festzuste¬
hen und sich siegreicher auszubreiten. Dänen, Schweden und Nor¬
weger schmieden "am skandinavischen Bund und werden Deutschland
bald die Hände reichen; selbst die panslavistischen Träume, so fabel¬
hafte Ereignisse zu ihrer Erfüllung gehören würden, sind ein bedeut¬
sames Zeichen der Zeit. Sie verrathen, daß die slavischen Völker ein
dunkles Bewußtsein ihrer Schwäche als Individuen haben; sie, die
in der Selbständigkeit nie zur rechten und dauernden Blüthe gelangen
konnten, glauben durch die Verschmelzung eine neue Nation, eine
Nation der Zukunft zu werden.
Die kleinen oder innerlich ohnmächtigen Völker können den Kampf
für die Nationalität nur in äußerlicher und negativer Weise führen;
sie hegen und pflegen die Feindseligkeit gegen alles Fremde, verschmä¬
hen trotzig oder verarbeiten mechanisch in fiebernder Hast, was ihnen
das Ausland an Früchten der Kunst und Gesittung bietet; sie möchten
oft lieber in die Barbarei zurück, als sich fremder Cultur hingeben und
sie langsam verstehen und frei reproduciren lernen. Große Natio¬
nen dagegen, wennauch noch so tieferschüttert, sind ihrer selbst sicher;
nicht um das Dasein haben sie zu kämpfen, da an ihr Dasein der
Bestand der Civilisation geknüpft ist, nur um Glanz und Größe, um
Blüthe und Frucht kann es sich bei ihnen handeln. Ihr National¬
kampf ist ein positiver und geht im Ringen nach politischer Freiheit»
und Wohlfahrt auf. Wer diese fördern hilft, hat für die Nationali¬
tät mit gerungen, ohne fortwährend von Nationalität zu sprechen.
Denn innere Kraft führt zur Macht nach Außen und erhöht den
Stolz des Individuums auf die Nation, der es angehört.
oweit ist hoffentlicheutanon,aiemandan der
tief wurzelnden Kraft seiner Nationalität, an ihrer Wichtigkeit und
Nothwendigkeit für den Fortschritt der Welt zweifeln wird; woran es
fehlt, ist eben nur Blüthe und Frucht, ist die stolze und vertrauens¬
volle Freudigkeit am eigenen Leben und Wirken. Nicht durch den
frommen Vorsatz, nicht durch die ewige Mahnung, daß dieses Gefühl
Pflicht jedes guten Deutschen sei, wird man es im Volke erwecken,
sondern durch Thaten und politische Erfolge, die der Nation würdig
sind; auch war von jeher nicht der Druck von Außen, sondern die
innere Geschiedenheit und Zerklüftung der Erbfeind, der uns im Wett¬
eifer mit den Nationen hemmte. Man glaubt nicht mehr, in Mer
äußerlichen und blos negativen Weise, welche die schwachen Völker
charakterisirt, durch blinden Eifer und Argwohn gegen jeden Schatten
eines fremden Worts oder Kleides sein Nationalgefühl beweisen zu
müssen. Wir brauchen uns nicht mehr gewaltsam in ein Ur- oder
Altdeutschland zurückzuschrauben und jeden Fortschritt, der aus dem ge¬
meinsamen Boden europäischer Gesittung stammt, zu verdonnern,
weil er nicht ausschließlich bei und für uns gewachsen ist; als. wäre
für die deutsche Nationalität keine Rettung als in der Flucht. Des¬
halb sind jene Richtungen el»er trüben Zeit, die durch teutsche Röcke,
teutsche Bärte und deutsches Kaiserthum, durch lautes Geschrei gegen
Außen und zahme Pantoffelgehorsamkeit im eigenen Hause ihren Pa¬
triotismus erschöpften, beinahe ganz verschwunden und in die prak¬
tischer» Bestrebungen für Einigkeit und Freiheit umgeschlagen.
Es fehlt leider nicht an zahlreichen traurigen Symptomen nationaler
Schwäche; Tausende gibt es noch, ja ganze Volksstämme, die nur
instinctmäßig Deutsche sind und das Gefühl, einer Nation vom edel¬
sten und größten Beruf anzugehören, kaum der Ahnung nach kennen.
Aber man hat eingesehen, daß es eitel ist, gegen die Symptome
Krieg zu führen. Wenn der frische Lebensquell die Wurzeln tränkt,
werden auch die Blätter grünen; wenn'im Herzen Kraft und Ver¬
trauen wohnt, werden auch die Augen leuchten.
Dieser Tage ist eine lustige Karavane ernsthafter Leipziger nach
Paris aufgebrochen, um die Wunder der französischen Industrieaus¬
stellung mit eigenen Augen kennen zu lernen. Fast jedes der Haupt¬
elemente geistiger Betriebsamkeit hat bei der kleinen Karavane seinen
Repräsentanten; außer mehreren Professoren (worunter die zwei von
der Negierung dahin geschickten Commissäre sich befinden) schloß sich
dem Auge auch ein bekannter, ehrenwerther Buchhändler und der Re¬
dacteur einer geachteten Monatsschrift an. Die Reise dieser Herren
könnte für Leipzig von mannigfachem Nutzen sein. Nicht etwa, daß
die Herren Professoren ein Stückchen vaterländischen Zopfes unter den
Händen eines Pariser Friseurs lassen sollten, nicht daß der Buchhänd>
ter dort ein Beispiel sich nehmen sollte, wie man Autoren honoriren
müsse, nicht daß der Redacteur die sechsunddreißigtausend Abonnen¬
ten des Sivcle entführen und dem Literatenverein als Unterstützung
hilfsbedürftiger Redactionen mitbringen soll — dies Alles werden die
Herren ohnehin thun. Wir können darüber außer Sorgen sein. Wenn
in Zukunft ein Journal wegen einiger Hundert Abonnenten in Ver¬
legenheit sein wird, so wird es blos ein kleines Billet an Herrn Pro¬
fessor B. schreiben, und dieser wird von den mitgebrachten sechsund¬
dreißigtausend alsoqleich die nöthige Zahl besorgen. Wenn künftighin
ein Schriftsteller Lust zu einem Landgut, zu einem Paar hübschen
Reitpferden :c. haben wird, so wird er blos ein Buch der Verlags¬
handlung von W. und M. zum Drucke überlassen. Der Senat der
Leipziger Universität wird, angeregt von den aus Paris zurückgekehr¬
ten entzopften Gelehrten, drei Tage Carcerstrafe für jeden Professor
festsetzen, der in Zukunft der leisesten Pedanterie überwiesen wird. —
Dies wäre also abgemacht. — Weniger Hoffnung ist für eine andere
Sache. Unter der Karavane befindet sich ein hiesiger Stadtverordne¬
ter. Wird er auf seiner Reise durch die schönen Rhein- und belgischen
Städte und endlich in Paris selbst Augen haben für Alles, was der
Gemeinderath dieser Städte zur Verschönerung, zur höheren Bequem¬
lichkeit der Einwohner wie der Fremden alljährlich für Schöpfungen
hervorruft. Und wenn er Augen dafür hat, und zurückgekehrt in seine
Heimathsstadt, seinen College» die schroffen Gegensätze, die zwischen
der Verwaltung jener Städte und der der Stadt Leipzig herrschen,
schildert, wird er Gehör finden? Wir zweifeln. Die Stadt Leipzig ist
wie die Voß'sche Zeitung in Berlin. Wahrend alle deutschen Blätter
das altherkömmliche schmutzige Löschpapier allmälig abbestellt haben
und ihr Format theils vergrößerten, theils ihren Druck verschönerten,
erscheint die erwähnte Zeitung noch immer auf jenes graue Papier
gedruckt, in demselben Formate, wie in alten Jahren. Warum sollen
wir besseres Papier geben, Neuerungen machen — sagen die Eigen¬
thümer der Voß'schen Zeitung, wir haben dreizehntausend Abonnenten!
Wir sind das verbreitetste Blatt Deutschlands trotz unseres schmutzi¬
gen Aeußern. Eben so spricht die Leipziger Stadtverwaltung: wozu
Verschönerungen? Unsere Stadt ist trotz ihres häßlichen Aeußern den¬
noch die erste Meßstadt Deutschlands, ja Europas! Wir lassen uns
das Geld der Fremden wohl schmecken. Wozu sollen wir uns Auslagen
machen? Dagegen läßt sich Nichts einwenden. Es ist schwer, Je¬
mandem, der die Nothwendigkeit weißer Wäsche nicht begreift, erklär¬
lich zu machen, warum der Menfch in's Bad gehen muß, auch wenn
er sonst gesund und stark ist.
Daß andere Städte, die verhältnißmäßig nicht so reich sind, als
das immer fetter werdende Leipzig, auf Pflasterung der Stadt, auf
Erweiterung enger Straßen, auf den Bau von Frucht- und Gemüse-
Hallen, auf Niederreißung alter, das Auge verletzender Gebäude, auf
die Aufmunterung öffentlicher Vergnügungsanstaltcn ganz andere Sum¬
men, als die Handelsstadt an der Pleiße und Elster, die der wenig
gereiste Goethe in einer humoristischen Stunde das kleine Paris nannte,
verwenden, dies werden sich gewisse Leipziger Stadtbeamte wenig zu
Herzen nehmen. Vielleicht hilft es mehr, wenn man sie darauf auf¬
merksam macht, wie eilig die Reisenden, welche nicht Meßfremde
sind, die Stadt durchjagen. Möge doch die Leipziger Stadtverwaltung
den verschiedenen Hotels eine kleine statistische Tabelle abverlangen,
um zu ersehen, unter wie vielen Fremden, die mit der Eisenbahn von
Berlin nach Dresden und vice vers-i, reisen, es solche gibt, die in
Leipzig übernachten, wie viele die Stadt eines Aufenthaltes von vier
undzwanzig Stunden würdigen? Wir begreifen, daß, was die Reisen¬
den in Berlin suchen, Leipzig schwerlich bieten kann. Aber warum
sucht es nicht mit Dresden den Wettstreit? Leipzig hat keine Ge¬
mäldegalerie; aber es hat dafür die viel größere geistige Bewegung
entgegenzustellen, es ist ein Herd vieler ausgezeichneten Gelehrten und
Schriftsteller, deren Namen einen weiten Klang haben. Dies wiegt
bei manchem Reisenden so viel, als eine Galerie. Es sind Elemente
geistiger Anregung, die Dresden entbehrt. Warum sucht man diese
Keime einer höheren Gesellschaftlichkeit nicht für die Stadt auszubeu-
ten ? Warum sucht man hiezu nicht den schönen Rahmen ? Die man¬
nigfache Außenseite? Nicht in zwei, nicht in fünf Jahren soll Leipzig
mit Dresden concurriren können um die Gunst der Fremden; aber
bei einem festen Plan der Verwaltung könnte es in zehn Jahren dem
Reisenden die Wahl sehr erschweren, ob er in Leipzig oder in Dres¬
den einen längeren Aufenthalt nehmen soll.
Wir sprechen hier gar nicht von den Einheimischen und den An¬
sprüchen, zu denen sie ein Recht haben, sondern nur von dem Nutzen
und wieder von dem Nutzen; darauf hört man eher. Um Nichts zu
versäumen, müssen wir übrigens auch die Frauen für unsere Ansicht
stimmen. Die Leipziger Frauen sind den Dresdnern um Manches
voraus; sie sind großstädtischer, eleganter. Aber sie laboriren an ihrer
Stadt. Die elegante Leipzigerin versieht sich mit der ausgewähltesten
Toilette, die Stoffe sind tont ce «in' U 7 » <!« die Form
des Schnitts ist nach dem letzten Journal, und doch fehlt ihnen das
Beste, was anderen Großstädterinnen zu Gute kömmt: der Rahmen,
die schönen Straßen, die der Toilette ihre Bedeutung geben. Zu ei¬
ner eleganten Chaussee gehört ein gutes Trottoir, ein glattes Pflaster,
zu einem chinesischen Sommershawl gehören Straßen, wo man nicht
überall an einem hervorragenden schmutzigen Laden hangen bleibt, zu
einem Federhut vollends gehört eine elegante Equipage und zu dieser
wieder langgestreckte regelmäßige Straßen. Da nun dies Alles sehlt,
so sehen die schöngeputzten Leipzigerinnen immer aus, als wären sie
überladen, als hätten sie Dinge umgehängt, die nicht dahin gehören.
Nur im Hause kann die Leipzigerin sich elegant zeigen, denn dort
herrscht sie und nicht die Stadtverwaltung. Für die Straße ist aller
Luxus unpassend und die schönen Leipzigerinnen thäten wohl, wenn
sie zu ihren Gatten sagten: Lieber Mann, dieses Jahr verlange ich hun¬
dert Thaler weniger für meine Toilette, dafür aber gib diese Summe
der Stadtkasse als Beitrag, damit wir doch endlich dieses fürchterliche
Pflaster los werden, damit man den hübschesten Platz Leipzigs, den
Markt, nicht für ein Paar Thaler durcUo häßliche Buden auch außer
der Messe verrammeln und entstellen läßt, damit die Gemüseweiber
nicht in der Mitte der Straßen sitzen, damit hier und da ein hüb¬
sches Monument nicht», I» ö»er gesetzt wird, damit die Direction
des Theaters nicht durch eine übermäßige Pachtzahlung wieder ge¬
zwungen werde, uns eine Affenkomödie statt einer ordentlichen gezie¬
mender Bühne herzustellen u. s- w.
Mit Letzterem soll der neuen Bühnendirection, vie im August
hier ihre Thätigkeit beginnt, kein ungünstiges Horoskop gestellt wer¬
den. Vielmehr hört man, daß Herr »1. Schmidt Vorbereitungen
trifft, die eher ein Zuviel, als ein Zuwenig erwarten lassen. Vier
Tenoristen; drei Liebhaber! Das ist in dieser stimmlosen und wenig
feurigen Zeit sehr viel auf Einmal. Es gehen viele Bühnendirccroren
jetzt auf die Jagd nach Tenoren, Helden und Jntriguancen. Herr von
Küstner reist, Herr von Holbein reist, Herr Kapellmeister Guhr reist,
der Kaiser Nikolaus reist, jeder will engagiren. Ob Herr !>,-. Schmidt
glücklicher war, als alle die Herren, das wird sich in den nächsten
Monaten in Leipzig, Berlin, Wien, Frankfurt und Se. Petersburg
herausstellen. Herr i)--. Schmidt hat keine Celebritäten aufgefunden,
wohl aber einige frische, strebsame junge Männer, die in dem jour-
nalrcichen Leipzig Förderung ihres Rufes erhoffen, wozu ihnen Braun¬
schweig, Hannover u. s. w. wenig Gelegenheit bot. Uebrigens hat
auch Kaiser Nikolaus in dem journalreichcn Leipzig in letzterer Zeit
manche Stimme gewonnen. So z. B. das Pamphlet: „Oesterreich
und Rußland". Diese Schrift hat viel Glück gemacht, d. h. sie ist
bereits in mehreren Journalen verdienterweise beurtheilt worden,
ein Schicksal, das sonst nicht jedem Buche zu Theil wird. Der Ver¬
fasser dieser glorreichen Schrift ist — wie man hört — ein zur Zeit
in Leipzig sich aufhaltender junger Medicinae Dr. Herr L. aus Bro-
dy in Gallizien; derselbe hat jedoch einige Zeit in Rußland gelebt
und will wieder dahin zurückkehren, um sich dort zu etabliren. Sein
Büchlein wird ihm hoffentlich Quartier machen!
Von zwei Dingen hat sich nun unsere Hauptstadt bis zum Ue-
Kerdruß unterhalten: vom Actienschwindel und von der Niaiserie der
Allgemeinen Preußischen Zeitung. Ersterer wird hoffentlich mit dem
laufenden Monat sein Ende erreicht haben, da die meisten Engage¬
ments auf Zeit mit dem Ultimo abgewickelt sein dürften. — Sie se¬
hen, daß ich actienloser Literat mich auch ein wenig auf die Linguistik
der Börscnmanner gelegt habe — und was die Allgemeine Preußische
Zeitung nebst ihrer „Niaiserie" betrifft — ein Wort, das sie selbst in
die deutsche Publizistik eingeführt, indem sie damit die Meinung des
Herrn Guizot und aller Derjenigen bezeichnete, die an das Verbre¬
cherische der Juliordonnanzen Karl's X. glaubten—so versichert man,
daß sie höchstens noch bis zu Ende dieses Jahres ihr Dasein fristen
werde. Die Zahl ihrer Abonnenten wird immer kleiner; und wenn
diese auch letzt noch etwa dreitausend betragen mag — wahrend sie
in ihrer blühenden Zeit unter der umsichtigen Oberleitung von Phi¬
lippsborn über neuntausend betrug — so reicht das treu gebliebene
Häuflein doch nicht aus, um die durch ungeschickte Verwaltung enorm
groß gewordenen Redactions-und Druckkosten zu decken, so daß der König
schon seit mehreren Jahren zehntausend Thalerjährlich zuschießen muß, was
aber der den Werth dieser Zeitung sehr wohl erkennende Monarch
höchstens noch bis zu Ende dieses Jahres thun will. Es heißt, daß
sie alsdann zu dem Herrn Bibliothekar 0r. Spiker in Pension kom¬
men soll. Letzterer ist nämlich Eigenthümer der Hände- und Spener-
schen Zeitung und soll schon früher sich bereit erklärt^ haben, gegen
eine Subvention das unter den gegenwärtigen Umständen sehr un¬
dankbare und den Absatz einer Zeitung eben nicht fördernde Geschäft
der Vertheidigung aller Administrationsmaßregcln zu übernehmen. Es
scheint jedoch, daß man sich über den Belauf dieser Subvention bis¬
her noch nicht hat einigen können und daß es daher noch vorläufig
bei der bisherigen Stellung der Spener'schen Zeitung sein Bewenden
haben werde. Letztere soll in diesem Augenblicke etwa 60V0 Abon¬
nenten zählen, wahrend die Bossische deren ungefähr fünfzehntausend
besitzt.
Das Gerücht, daß der bekannte Publizist, Herr von Bülow-
Cummerow um die Concession zur Herausgabe einer neuen, in Ber¬
lin zu begründenden politischen Zeitung sich bewerbe, erhalt sich. Bei
der ehrenwerthen Stellung dieses zwar durch Geburt und Besttzthum
der höheren Aristokratie angehörenden, doch durch seine politische Ge¬
sinnung vollkommen unabhängigen Mannes läßt sich auch nicht zwei¬
feln, daß ein von ihm geleitetes Blatt der Ausdruck des Landes und
nicht einer bloßen Coterie sein, so wie daß es ihm an tüchtigen und
gesinnungsvollen Mitarbeitern nicht fehlen wird.
Sie wissen, daß sich als Verfasser der eben so durch ihren Egois¬
mus, wie durch ihre Lakaienhaftigkeit sich auszeichnenden Feuilleton¬
artikel der Allgemeinen Preußischen Zeitung gegen Herwegh und
Mundt ein „plumper Schwab" (S. Nathan der Weise, Act 1. Se.
et.) bekannt hat; es heißt nun, daß der hier lebende Schwiegervater
Herwegh's, ein geachteter Kaufmann, den Verfasser dieser Artikel so¬
wohl, in welchen sein Sohn als >ütri-i<:i<la und fuit-lati, bezeichnet
wurde, als den verantwortlichen Redacteur der Zeitung vor den Ge¬
richten belangt habe. In dem neuesten Feuilleton dieses Blattes (Nro.
173.) wird übrigens in einem aus Rom datirten Artikel bei Gelegen¬
heit der Schrift: „Bilder und Skizzen aus Rom, seinem kirch¬
lichen und bürgerlichen Leben" der geheime Gedanke seiner jetzigen
Redaction ziemlich offen ausgesprochen. Es wird darin gesagt, wie
sich aus einem Aufenthalt in Rom lernen lasse, daß sich in dem rö¬
mischen Katholicismus manches altchristliche Element erhalten, das
dem Protestantismus leider abgebe, und wobei ganz besonders auf die
Kapitel über die Beichte, den Mariendienst und die Brüderschaften
hingewiesen wird. Wer zwischen den Zeilen zu lesen versteht, wird
den Gedanken des Feuilletonisten vollkommen errathen.
Wie es heißt, sollen mit dem Ablauf ihrer Privilegien die gegen¬
wärtig hier bestehenden unehrbaren Häuser ganzlich eingehen. Wir
sind gewiß keine Verehrer und Vertheidiger dieser sittenlosen Wirth¬
schaften, aber wir erinnern daran, daß ein ähnliches Verbot unter der
Regierung der frommen Kaiserin Maria Theresia .nicht wenig dazu
beitrug, das damalige Wien in seinen ehrbaren Familien zu entsitt¬
lichen, und daß man daran die Nothwendigkeit erkannte, in großen
Städten ieme mit unseren gesellschaftlichen Einrichtungen verbundenen
Uebelstande zu dulden, wenn auch dabei streng zu beaufsichtigen.
Ein Mann, der während der letzten Regierungsjahre des verstor¬
benen Königs viel genannt wurde, der Geheime Hofrath Wedecke, der
von Herrn von Tzschoppe sehr häufig zu geheimen Missionen gebraucht
wurde, hat jetzt eine öffentliche Mission nach dem Auslande erhalten, indem
er sich als preußischer Consul nach Galatz in der Moldau begeben wird.
Der längst angekündigte Austritt des Justizministers Muster
bestätigt sich zwar, jedoch mit der Modifikation, daß Herr Muster
eine neugebildete Abtheilung dieses Departements, nämlich das Mini¬
sterium für Begnadigungs- und Beschwerdeangelcgenheitcn erhält, wäh¬
rend außerdem das Justizministerium in zwei Abtheilungen zerfallt:
in eine für die altpreußischen Provinzen unter Leitung des bisherigen
Geheimen Oberjustizraths und Domcapitulars Herrn von Voß, und
in eine für die Rheinprovinz unter Leitung des bisherigen Directors
im Justizministerium, Herrn Ruppenthal. Unser Staatsministerium
wird dadurch wieder um zwei Mitglieder vermehrt.
— Es ist eine auffallende Erscheinung, daß die ausgezeichnetsten
Feldherren, die Rußland seit seiner neueren Epoche gehabt hat, in
Ungnade gestorben sind. Wie es scheint, kann der russische Staat eine
geniale Individualität, die nicht blos durch den Tschin, sondern durch
selbständigen Geist dem Vaterlands dient, nicht ertragen. Sobald ein
solcher Held volksthümlich geworden, hat seine Stunde geschlagen.
Suwarow starb in Ungnade; neuerdings verkümmert ein Mann des
Volks und der Armee, der berühmte Jermoloff, den der „Reisende
am schwarzen Meere" in der Augsburger Allgemeinen sehr fein skizzirt
hat, in Kränkung und Gram über die erfahrene Ungnade. Selbst
Diebitsch, der nicht die Popularität der beiden Andern besaß, starb
bekanntlich an einer — Krankheit aus Ungnade.
— Der Oberlandesgerichtsrath Crelinger ist richtig vom Staats¬
ministerium, wegen seines Toastes auf Herwegh, als dieser in Kö¬
nigsberg war, degradirt, d. h, zur Versetzung in irgend ein kleines
Nest verurtheilt worden, „um fern von Madrid nachzudenken" über
seinen Frevel. Das Bezeichnendste ist, daß der König ihn nicht be¬
gnadigt, sondern die Vollstreckung des Urtheils bis auf Weiteres sus-
pendirt hat, d. h. Crelinger nehme sich jetzt in Acht, den geringsten
Verstoß sich zu Schulden kommen zu lassen, sonst — die Ruthe steckt
noch hinter dem Spiegel. — Dem Gustav-Adolph-Verein, der in Kö¬
nigsberg eine geistiges nicht eine geistliche Tendenz bekennt, wollten
sich zwei Nichtevangelische anschließen, ein Katholik und der Verfasser
der „Vier Fragen", der bekanntlich Jude ist. Nur durch eine kleine
Majorität, die 'noch dazu aus protestantischen Neophyten gestand, wur¬
den die Beiden zurückgewiesen. — Das Cartel zwischen Rußland
und Preußen ist, nach kurzem Schmollen, wieder hergestellt worden.
— Wahrend Kaiser Nikolaus in London war, wurde von der Po¬
lizei in Rheinpreußen auf die wenigen dort lebenden Polen vigilirt,
weil offizielle Berichte über Polenbewegungen aus London einlie¬
fen!! Waren diese „offiziellen" Berichte etwa englische? Oder ka¬
men sie durch einen Umweg über Petersburg?
— Treumund Welp, der auf die Gefahren der schlesischen Fa¬
briknoth so oft wohlmeinend und mit großer Sachkenntniß hingewie¬
sen hat, kam nach den letzten Ereignissen als Abgesandter seiner Ge¬
meinde nach Berlin, um über manche Uebelstände Klage zu führen.
Ein hochgestellter Staatsbeamter soll ihm in's Gesicht gesagt ha¬
ben! das Treiben der „schlechten Presse" und besonders Welp's pu¬
blizistische Thätigkeit trügen die Hauptschuld an den schlesischen Un¬
ruhen! Der hohe Mann hätte eigentlich sagen sollen: Welp's Bro¬
schüren seien Schuld an der Theuerung der Lebensmittel und der Ar¬
muth der Fabrikarbeiter.
— Das erste Bändchen des „ewigen Juden" ist bereits in Leip¬
zig (bei Kollmann) deutsch erschienen; und zwar erblickte die Ueber¬
setzung in Kleinparis und das Original in Großparis an einem und
demselben Tage das Licht der Welt. Man kommt wirklich in Ver¬
suchung, an Hexerei zu glauben. Doch der ewige Jude hat gewiß
Siebenmeilenstiefel an, und das Sprachkleid, das ihm der Uebersetzer
(Herr WeschcY angedolmetscht hat, verräth auch hinlänglich die Stra-
patzen des forcieren Marsches, den er gemacht hat. Hoffentlich wird
der mysteriöse Reisende jetzt Zeit haben, die Toilette zu wechseln, und
aus andern Buchhandlungen, etwas eleganter gekleidet, hervorgehen.
— I. H. Merivale, von dem erst vor Kurzem gleichzeitig mit der
Bulwer'schen eine Uebersetzung der Schiller'schen Gedichte durchgängig
im Versmaß des Originals erschien, starb am 25. April in seinem
65. Jahre, wahrend er eine verbesserte zweite Auflage seiner Ueber-
>etzung mit großem Fleiße vorbereitete. Er ist von deutscher Herkunft.
— seine Großmutter mütterlicher Seits war eine Lübeckerin — lernte
aber erst im späten Alter, aus Liebe zur deutschen Literatur, die
deutsche Sprache. Als Frucht seines Studiums veröffentlichte er die
Uebersetzung der lyrischen Gedichte Schillers, die an Treue die Bul-
wer'sche übertrifft, obgleich sie nicht immer die rhetorische Gluth des Ori¬
ginals mit gleichem Glück wie Bulwer erreicht hat.
— O'Connell's Haft ist keine so ritterliche mehr, wie anfangs;
er darf keine Deputationen empfangen und ist in seinem Verkehr mit
der Welt sehr beschränkt. Die Repealagitation scheint aber doch täg¬
lich an Jntensivität und Hartnäckigkeit zu gewinnen. Welcher Geist
in Irland herrschen muß, zeigt ein von allen Zeitungen erzählter Vor¬
fall. Aus einer Freischule in Dublin sind mehrere irische Knaben
ausgestoßen worden, weil sie sich geweigert hatten, den Repealknopf,
das verbotene Abzeichen ihrer Partei, auch nur während der Lehrstunde
abzulegen. Von solchem Eigensinn hat man wohl in Deutschland
heutzutage keinen Begriff.
— Es wundert uns, daß die Heldengestalt Abd-el-Kader'ö noch
keinen Poeten begeistert hat. Nicht einmal im Ballet hat man ihn
und seine malerischen Schaaren angebracht. Der einzige Gewinn, den
der Algierkrieg, außer ein Paar Büchern, der europäischen Cultur gebracht
hat, ist — der Burnus. Vielleicht ist Marocco, das jetzt Mode
wird, glücklicher. Poeten, die darauf reflectiren, sollten sich den Wink
nicht entgehen lassen, den alle Zeitungen geben; das Kriegsgeschrei
der Maroccaner besteht nämlich in einem dumpfen: Ha, ha, ha!
(Den unbekannten Herrn Einsender einiger sehr interessanten Mit¬
theilungen „von der polnischen Grenze" ersuchen wir freund¬
lichst, sich uns zu erkennen zu geben. So willkommen uns derglei¬
chen Einsendungen wären, so können wir ihnen, so lange sie aus u n-
bekannter Hand uns zukommen, keinen Platz in den Grenzboten
einräumen.
Ich muß unnnllkürlich lächeln, während ich diesen Titel hin¬
schreibe. — Wiener Kunstausstellung! Ja, wäre ich Heine, der
über Nichts Alles zu sagen weiß, oder Meinert aus der Theater¬
zeitung, der über ein Heiligenbild Dittenbergcr's mit der größten
Salbung tradirt, ohne auch nur eine Miene zu verziehen! Aber Sie
verlangen einen Bericht, tu t'-is voulu, Keorxe v-in-Jm, tu t'us voulu.—
Nach diesem Anfang glaubt vielleicht der Leser, daß ich uns Oester¬
reichern Nichts zutraue, z. B. kein Talent, kein Verständniß? — Gott
bewahre, ich habe den größten Respect vor uns, und kämen heute
zehntausend norddeutsche und negirten uns Alles weg, Theodor
Mundt an der Spitze, sie negirten mein Vertrauen zu uns nicht
weg. — Man gebe nur Bauer einen Marmorblock, und er stellt
euch eine Madonna, Venus, Apollo oder Christus her, so schön wie
einer im weiten deutschen Reiche. — Man gebe L'Allemant zehn¬
tausend Gulden, und er malt euch eine Historie hin, so grandios,
wie sie Grabbe beschreibt. Ich will nur beispielsweise die beiden
nennen; von vielen andern ausgezeichneten Talenten, die einst ruhm¬
los zum Orcus niedersteigen, gar nicht zu reden. Aber man gibt
Leuten wie Bauer und L'Allemant weder einen Marmorblock noch
zehntausend Gulden, und darum ist die Kunstausstellung mager, p-m-
vrointonote.
,^
Die Sonne der hohen und allerhöchsten Gnaden leuchtet nur
auf die Häupter der Italiener und begeistert sie zu Kunstwerken, wie
die erbärmlichen: Foskari von — ich glaube, Grigoletti hieß der
große Mann, oder zu Gebilden in Erz wie die unästhetische Statue
des Kaiser Franz in Graz, vom Cavalliere Marchese ausgeführt.
Man olltewirklilauben, Marchese sei ein geheimer Carbonaro
und habe sich durch dieses Monument an Kaiser Franz rächen wol-
len, wenn der Meister nicht Orden trüge. — Auch wenn eS an politischen
Gründen fehlt, scheut man sich nicht, Ausländer dem Heimischen vorzu¬
ziehen. — So gab man vor Kurzem mit Uebergehung der vater¬
ländischen Künstler einem berühmten Münchner den Auftrag, die
Statue für einen neuen Brunnen auf der Freiung zu fertigen. Die
Strafe folgte auf dem Fuß. Der berühmte Münchner schickte die
geschmackloseste Composition ein. -— Wenn ein Weiser fehlt, fehlt er
recht, heißt es im Sprichwort. — Aber der Contract war geschlos¬
sen, und die hiesigen Künstler weinen mit dem einen Auge, während
sie mit dem andern schadenfroh und spöttisch zwinkern. — Wo soll
den Zurückgesetzten der Muth herkommen, woher die Begeisterung?
Der schöne Quell nationaler Inspiration wird ihnen ja auf diese
Weise nur verbittert, und unsere Kunst ist noch zu schwach, zu arm,
als daß sie auf eigene Faust keck und frei in die Welt greifen und sich
um keine ihrer Umgebungen kümmern könnte. — Sie geht noch im¬
mer nach Brod und wird wohl noch lange darnach gehen. Die
Details der Ausstellung beweisen das.
Wie dem Dichter, der ein gesetzmäßiger Oesterreich«? bleiben
will, Nichts als die Lyrik, so bleibt dem österreichischen Maler Nichts
als die Natur im engsten, äußerlichsten Sinne des Wortes. Die
Geschichte muß ihm verschlossen bleiben, denn über den Pinsel wie
über die Feder wacht die Alles schwarz sehende Censur. — Wir
werden nie Historienmaler haben, wie wir keine Geschichtsschreiber
besitzen. So kommt es, daß die Landschaftsmalern eine ungeheure
Ausdehnung gewonnen, die noch größer werden konnte, wenn ihr
nicht der beschränkte patriotische Sinn der Oesterreicher im Wege
stünde. Steiermark, Ober-Oesterreich, Tyrol sind ewige Quellen, aus
denen sie schöpft; zum Glück gehört nun auch der Lombardische Gar¬
ten zu Oesterreich, und unsere Maler sind glücklich, auch dahin manch¬
mal einen Ausflug machen zu dürfen, ohne die schwarz und gelben
Schranken zu überschreiten. Dieser Localpatriotismus aber ist die
Ursache der unendlichsten Monotonie: die Herren Teid, Gauermann,
Hannußk, Schödelberger, Steinfeld sind immer und ewig dieselben.
Gauermann fühlt das und blieb von der diesjährigen Ausstellung weg,
er, der doch noch der angenehmste, poetischste von Allen war. — Beim
Anblick einer Gauermann'schen Landschaft hörte man das Glocken¬
geläute des Alpenviehs, den Jodler, sah man den Gemsenjäger, die
steiermärkischen gutmüthigen Gesichter und glaubte man vom Erz¬
herzog Johann sprechen zu hören. — Man hätte ihm noch lange
zuhören und zusehen können, aber er blieb klüglich aus, noch da man
ihn vermißt, während man die Andern gar nicht bemerkt, da sie noch
da sind. — Die Herren Alt, Vater und Sohn, machen von der
letzten Arrondirung der Monarchie einen vortrefflichen Gebrauch. —
Sie bringen alljährlich eine oder mehrere Landschaften aus dem Süden,
voll der heitersten Sonne und südlichsten Romantik. — Das Bild
von Rudolf Alt „die Certosa" ist so schön und wunderbar wie das
Original. — Wahrhaftig das höchste Lob. — Etwas Abwechslung
in die österreichische Gemüthlichkeit brachte der Franzose Tauneur
mit seinen wilden Seebildern, und der Holländer Van Haaren mit
seinen Winterlandschaften. In diesem Mann lebt der Genius der
Kunst noch fort, der so grillenhafter Weise sich vor Jahrhunderten
schon in dem flachen, kühlen Holland eingebürgert und die Ruis-
daels :c. aus baumwollenen Holländern zu Dichtern gemacht. Sollte
man nicht meinen, der Genius wohne gerne mit der Freiheit auf
einer Stube, auch wenn diese nicht Aussicht hat auf antike Ruinen,
grüne Berge und silberne Ströme? Van Haaren kennt die Poesie
des Winters und bannt sie auf die Leinwand, wie Niemand. —
Er könnte aus allen Maipoeten begeisterte Jänner-Besinger machen,
und Nikolaus könnte durch ihn viel leichter die Ehre seines Landes
retten, als durch alle Broschüren des Herrn von Gretsch. Neben
Van Haaren behauptet Kriehuber den ersten Platz mit seinen AquareU-
landschaften. — Der Mann ist auch ein Oesterreicher und wählt
meist dieselben sujets wie seine Landsleute; da erkennt man aber,
wie jedes Auge anders sieht, und sein Auge ist ein geniales. Nichts
von Gemüthlichkeit, Nichts von kleinlicher Sentimentalität, da ist Alles
wild, schroff, zerrissen. Seine Bilder sind die Porträts einer un.
glücklichen, verwilderten Erde; durch die Steinritzen sieht man i»
ihr innerstes Herz, und die Bäume und Sträucher sind nur das ver¬
wahrloste Haar einer Verzweifelnden. — Kriehuber's Gesicht hat
mich immer an das wilde, steinigte Graubünden erinnert mit seinen
Katarakten, Abgründen und verwitterten Felsen, und wie sein Gesicht,
sind seine Landschaften. — C. Hasenpflug Klosterruine bei Mor¬
genbeleuchtung. — Das eine Jahr: Klosterruine bei Morgenbeleuch-
tung, das andere Jahr: Klosterruine bei Morgenbeleuchtung, und
so ewig fort in schöner Abwechselung. Man weiß es schon und
kann es beim (Antritte in die Zimmer mit Gewißheit voraussagen:
im Saale VI. an der mittleren Bretterwand an der Ecke hangt eine
Klosterruine von Hasenpflug, nur daS Eine ist ungewiß, ob bei
Morgenbeleuchtung oder Abendbeleuchtung. Da ist unser Ernst,
wenn auch nicht so vollendet in der Technik, doch mannigfaltiger in
seinen architektonischen Stücken.
So weit mit Landschaft und Architektur. — Mit der Genre¬
malerei sieht es schlechter aus. Da braucht schon der Geist freien
Spielraum, er muß in alle Verhältnisse greifen, lyrisch, humoristisch,
satyrisch, episch. Von all dem aber bleibt dem Oesterreicher seiner
Natur nach nur das lyrische Element. Aber Peter Fendi ist todt,
sein Schüler, der talentvolle Carl Schindler, ist ihm nachgefolgt; wer
bleibt uns als Waldmüller, L'Allemant und etwa Trent und einige
wenige Unbedeutende. Ammerling, Schiavone gehören in eine
andere Kategorie; Waldmüllers „Erstehen zum neuen Leben"
ist wohl das beste Genrebild der diesjährigen Ausstellung. Ein alter
Landmann, der nach lebensgefährlicher Krankheit zum ersten Male wie-^
der hinaustritt in den erwachenden Frühling, in Gottes frische, freie
Natur, er, der sich demüthig schon zum letzten Wege bereitet
hatte. — Seine Kinder stützen ihn, wie er über die Schwelle seiner
Hütte tritt und unwillkürlich die Kappe vom greisen Schädel zieht
und begeistert zum Himmel blickt. O eine Idylle, schöner und rüh¬
render als alle von Voß und Hölty, eine Idylle, bei der man wei¬
nen möchte. — Waldmüller, weil er eine derbe, gesunde Natur ist,
wird verkannt von denen, die das Superfeine, Neberzarte lieben; weil
er seinen Bäuerinnen derbe rothe Backen gibt, spricht man ihm alle
Romantik ab; es geht ihm wie so vielen Poeten, die sich nicht
nur mit Veilchen, Liliendust und Mondschein abgeben wollen. —
L'Allemant mit seinen plänkelnden Husaren zeigt, wie er sich
schnell einen Namen machen könnte, wenn er sich nur eine My-
stification a 1a Willibald Aleris erlauben wollte, und anstatt
seines irgend einen berühmten Namen in den Katalog, setzen
ließe, z. B. H. Venet. — Trent ist ein glücklicher Nachahmer des oben¬
erwähnten verstorbenen Schindler. — B>rabäö, der Ungar, ist unter
den Malern seines Vaterlandes, was Josika unter seinen Schriftstel¬
lern. Ein ungarischer Romantiker! — Die Hoffende, die Trau¬
ernde, die nachdenkende heißen drei Bilder, deren Vater schon
aus den Überschriften leicht zu erkennen ist. Es ist natale Schia-
vone, der an sentimentalen Töchtern der Art so reiche Vater, der schon
in einem Jahre mehr Mävchen malte, als es seit zwei Jahrhunder¬
ten in Kurhessen Maitressen gab, und das will viel sagen! — Re¬
volutionen wird er keine hervorbringen, wohl aber rasche
Wallungen des Geblütes, nicht nur in den Adern eines Wieners,
sondern auch in denen eines verhegelten Norddeutschen, und wenn er
noch so viel abstrahirt. So sind die Bilder Schiavone's; ob das
gut ist oder schlecht, überlasse ich dem individuellen Urtheile des einzelnen
Lesers. Auch glaube ich, sind diese Bilder mehr den Studienköpfen
zuzuzählen, als dem Genre. Daß sie nicht Poetcne sind, dafür
bürgt die Sittlichkeit der Wienerinnen.—Ganz anders ist es mit den
sogenannten Studienköpfen Ammerling's. Dieser Maler, der früher
nur das Reizende, nicht die Schönheit kannte, der Knalleffecte in
Farben, aber keine eigentlichen Eindrücke hervorzubringen wußte, hat
nun in Rom eine hohe Schule durchgemacht und heroisch alle die Feh¬
ler abgelegt, die blendenden Unarten, die ihn vor Jahren zum Ab¬
gott der Wiener machten. Italien konnte ihn zwar nicht lehren,
was Schönheit sei, denn das lernt sich nicht, aber den tiefen poeti¬
schen Sinn, den Sinn für die hohe Schönheit, die man nicht nur
mit dem Auge sieht, die man auch denken und fühlen muß, diesen
Sinn, der unter dem österreichischen Materialismus begraben lag, hat
die italienische S011115 geweckt und zu herrlichen, vollendeten Blüthen
hervorgezogen. Diese Blüthen heißen in der diesjährigen Ausstellung
und in der prosaischen Sprache des Katalogs.- Italienische Mädchen,
zwei alte Männer, ein Mann, Thorwaldsen's Porträt, Rebccka und
noch zwei Wiener Porträts. — Wir können unmöglich diese Bilder
beschreiben. Von einer Landschaft, einem Historienbilde lassen sich
wenigstens die Details auszählen, aber was soll man an diesen ein¬
zelnen Gestalten hervorheben? Beschreibe mir Einer den Mondschein,
die Krystallhelle eines Quells oder dergleichen Ureinfaches, Urschö-
»es. Aber wunderbar ist es mit diesem Maler! Er componirt
nicht, ich glaube auch, er denkt nicht; aber er hat Phantasien, Er¬
scheinungen; er sieht einzelne Gestalten, er hält sie sest, und ein wun¬
derbares Gebilde tritt aus der Leinwand, ein Gebilde, das er nicht
zu nennen weiß, dessen Ursprung er nicht kennt, das aber durch und
durch schön ist. So mit dem einen seiner Bilder, er nennt es Re-
becka; warum? weil dieses wunderbare Weib einen Krug trägt; hielte
es einen abgeschnittenen Kopf in den Händen, es wäre wohl leichter
für eine Judith zu halten. Ammerling ist ein großer Maler! Seine
Porträts können neben den besten aller Zeiten bestehen, seine anderen
Bilder aus neuerer Zeit übertreffen in Farben und Zeichnung die
ver meisten lebenden Maler. — So hätte Schrozberg vielleicht auch
werden können, aber die Mode hält ihn auf dem einen Fleck, auf
dem er sich schon vor Jahren befand, und er wird wohl auch nicht
mehr weiter kommen. Sehr zu loben ist noch BumbaS mit seinem
Porträt des Klavierspielers Filtsch, des armen Jungen, der neben seinem
Klaviere dasteht, wie der heilige Laurentius mit seinem Rost.
Wahrhaftig, man könnte dieses Bild zu den historischen zählen, denn
es wird Zeugniß geben von der Schmach unserer Zeit, von unserer
Grausamkeit gegen die wehrlosen Kinder, die man zu Wundern ma¬
chen will durch Plagen und Torturen, gleichwie die Kamisarden aus
ihren Kleinen Seher und Propheten machten. — Wie er dasteht, der
arme Treibhausvirtuos Filtsch; welche traurige Geschichten man in
seinem blassen, abgezehrten Gesichte liest! und das Alles hat das
Ungeheuer daneben gethan.
Und nun zur Geschichte, zur Historienmalerei! — Ich enthalte
mich aller Einleitungen, aller Bemerkungen, wie z. B. die Historien¬
malerei jetzt an der Zeit wäre, wie die österreichischen Maler, auch
wenn sie könnten, die interessantesten Stoffe aus ihrer Geschichte nicht
benutzen dürsten, z. B. die Hussitengcschichte, die Lessing so großartig
ausgebeutet hat, serner, daß die sogenannten Nazarener Führich, Kup-
pelwieser, Dittenberger gar nicht mehr so populär sind, als ehedem,
kurz aller dieser Bemerkungen enthalte ich mich, sonst wird die kürzeste
Einleitung länger als die Besprechung. Was bietet uns der Salon an
Historienbildern? Zwei biblische Bilder von Führich, aus denen man
nie den Maler des „Gang nach Emaus" und des „Gang Mariä"
erkennen würde. So nüchtern, so hölzern hat Führich wohl nie ge¬
malt. Aber um des Einen Frommen willen „der Gang nach Emaus",
sei Führich Alles vergeben. Perger, dem schon manches Historische
gelungen, ist dies Jahr hinter sich selbst zurückgeblieben. Napoleon's
Ueberfahrt aus der Insel Lobau ist ein herrlicher Moment und
könnte ein gutes Bild geben. Aber ein Napoleon sieht nach der er¬
sten verlorenen Schlacht ganz anders aus; da auf dem Bilde läßt
sich ein Mann mit finsterem Gesichte, der mit Napoleon Ähn¬
lichkeit hat, über ein Wasser setzen. — Das und nicht mehr sagt das
Bild, und dabei Alles so fahl! Auf einem anderen Bilde wollte der¬
selbe Maler TM) in einem schrecklichen Momente darstellen und macht
eine Karrikatur aus ihm. Dittenberger mit seinen Madonnen ist ab¬
geschmackt! Ich sage das so ruhig und ohne alle Kritik und Aus¬
einandersetzung, weil ich fest überzeugt bin, daß Jeder, der nur Ein
Bild von Dittenberger gesehen, mir ohne Säumen beistimme. Ich
fühlte mich gedrängt, das zu sagen, während ich alles eigentlich
Schlechte übergehe, nur weil Dittenberger in Folge des Einflusses der
sogenannten Nazarener sich ein gewisses Air gibt und dieses Air gerne
erhalten wissen möchte. Eben so freue ich mich, ganz ruhig sagen
zu können, daß „die Erweckung des heiligen WenzeSlaus" ein crasses,
häßliches, widerliches Bild ist, in Colorit und Zeichnung weniger
als schülerhaft. Das Bild aber ist von Petter Anton, und Petter ist
Director oder Professor an der hiesigen Akademie! —
Das ist die Wiener Ausstellung vom Jahre 1844. Außerdem Er¬
wähnten nur noch Heyke ausgenommen, der aus Aegypten herrliche
Orientalen mitgebracht, und eine Landschaft von Nottmann, die ich oben
aufzuzählen vergessen, ist Alles mittelmäßig und schlecht. — Unter
den Sculpturen zeigen die Statuetten von Alezy außerordentliches Talent.
Anstatt des Schlusses erlaube ich mir einen Theil aus dem
Briefe einer geistreichen Frau hier herzusetzen. Sie schreibt, nachdem
sie noch weniger als ich gelobt, Folgendes: Was den Rest betrifft, so weiß ich
nicht, ob, wenn man nur ihn schenkte, ich ihn nach Hause tragen ließe.
Geistlosigkeit ist der eigentliche Charakter der diesjährigen Ausstel¬
lung; diese geht so weit, daß selbst Narrheit, dieser auf den Kopf
gestellte Geist, darin fehlt. Lächerliches, Verrücktes, wie in früheren
Jahren, ist kaum vorfindlich, nur die trostloseste Mittelmäßigkeit. —
Wenn man die Säle durchwandert, wird Einem zu Muthe, wie beim
Lesen der Gedichte von Fitzinger, einer Novelle von Strande, oder
österreichischer Almanache überhaupt. Langeweile, eisige, allmäch¬
tige Langeweile ist der Eindruck, den man mit fortnimmt. Und dies
ist das Kunststreben einer großen Monarchie, einer großen Residenz
insbesondere. Wissen Sie, was mich traurig macht? Zu denken, daß
diese Erbärmlichkeiten die Frucht von vieler Menschen ganzer Lebens¬
mühe sind.
Wenn es überhaupt eines Beweises bedürfte, daß die geistige
Entwickelung einer Nation mit ihrem politischen Leben in einem in¬
nigen Zusammenhange steht, so würde Belgien, der jüngste Staat
Europas, ihn liefern.
So wie die politische Geschichte dieses Landstrichs, in dessen
Thälern und Ebenen ein urwälscher und ein urgermanischer Stamm
in dichtester Nachbarschaft sich eingenistet haben, den Kampf zweier
entgegengesetzten Elemente zeigt, die oft gewaltsam einander widerstre¬
ben und oft nicht minder gewaltsam sich zu vereinigen suchen, weil
die Nothwendigkeit sie dazu zwingt, so zeigt auch die Geschichte der Kunst
denselben Kampf. Dieses Auf- und Niederwogen des romanischen und
deutschen Lebens erscheint fast regelmäßig wie Ebbe und Muth, und
immer, wenn das eine Element eine Zeitlang die Oberhand gewon¬
nen, tritt die Reaction ein, um für einen kaum längeren Zeitraum
die Oberhand zu behaupten.
Drei Namen bezeichnen die drei Hauptabschnitte der flamändi-
schen Kunstgeschichte: Van Eyk, Rubens, Wappers. Letzterer
ist zwar weit entfernt, durch sein Genie an der Seite jener beiden
Großmeister glänzen zu können; in der Geschichte der flamändischen
Kunstentwickelung ist er jedoch, so wie sie, der Meilenzeiger und Fah¬
nenträger einer neuen Epoche.
Wie zu den blühenden Zeiten der Elisabeth Shakspeare sich er¬
hob und dem Geist der englischen Poesie für alle Ewigkeit seinen
Schwerpunkt gab, so war es auch die glänzende Epoche der burgun-
dischen Herzoge, zu einer Zeit, wo die niederländischen Provinzen an
Reichthum und Cultur Deutschland überflügelten, in welcher die Ge¬
brüder Van Eyk den Genius der flamändischen Malerei zuerst firirten.
Das große burgundische Reich, welches mit dem heutigen Oesterreich
in Bezug auf die verschiedenartigsten Länder und Nationalitäten, die
es zusammenfaßte, manche Aehnlichkeit hatte, konnte und wollte auch,
eben wie Oesterreich, keine Centralisation; gerade in der Getrenntheit
und Abgeschiedenheit der einzelnen Stämme und der Territorialein¬
theilung sahen die burgundischen Herzoge das beste Mittel zur Consolidir-
ung ihrer Herrschaft. Doch waren diese einzelnen Provinzen und Nationa¬
litäten durch die Gewohnheit, von einer Dynastie beherrscht zu werden zu ei¬
ner Art innerem Zusammenhang gekommen. Zwar stritten sie sich um die
Hegemonie, gerade wie heute Slaven, Magyaren und Deutsche sich
in Oesterreich um das Uebergewicht streiten; indeß war der germanisch¬
niederländische Bestandtheil der überwiegendste, weil diese Provinzen am
reichsten, am vorangeschrittensten waren in Handel, Gewerbe und
Kunst, weil Brügge die Nebenbuhlerin Venedigs war. ^) So wur¬
den die Brüder van Eyk, gleich Shakspeare — obgleich ihre Schö¬
pfungen nicht mit jenen des alle Vergleichung überragenden Briten
in Parallele zu bringen sind — für das Genie ihrer Nation der
kühnste, schöpferischste und befruchtendste Ausdruck. Die naive ger¬
manische Art der Anschauung, der kräftige, freudige Sinn für das
Leben der Farben ist seit jener Zeit ein Eigenthum, ein Kennzeichen
aller flamändischen Maler geblieben. Allerdings hat nach dem Tode
der beiden Brüder der nationale Sinn der von ihnen geschaffenen
Schule sich eine Zeitlang wieder verloren. Allein dies war ja auch
nach der Zeit des Shakspeare der Fall. Wie die Flitterepoche der
französischen Literatur zur Zeit des vierzehnten Ludwigs die Englän¬
der zu tausend Uebersetzungen und ihrer Nationalität widerstrebenden
Nachbildungen verlockte, eben so wurden die niederländischen Maler
des sechszehnten Jahrhunderts von den Wunderwerken der Italiener
angezogen und gaben sich Nachahmungen hin, die ihrer sinnlichen,
derben Nationalität nicht angepaßt waren. Das germanische Ele¬
ment wurde, statt weiter ausgebildet zu werden, von dem romanischen
verdrängt, und dennoch rächte es sich durch die Zähigkeit, mir der es
selbst aus den Werken der Besten unter diesen flamändischen Nöm-
lingen, wie Franz Floris, Michael Corie :c. hervorguckt, so lange,
bis endlich Rubens eS wieder zu Ehren brachte.
Mit Rubens beginnt die zweite, echt nationale Epoche der nie--
derländischen Schule. Die verheerenden Kriege der spanischen Furie
waren endlich ausgekämpft. Belgien, d. h. die südlichen Niederlande,
erfreuten sich unter der Negierung von Albrecht und der Infantin
Jsabella der Ruhe; Alles lebte wieder auf — auch die Kunst. Ru¬
bens, dessen Eltern vor dem Schwerte des Krieges nach Köln geflo¬
hen waren, kam zurück in sein Vaterland, errichtete seine Staffelei in
Antwerpen und focht mit seinen Jüngern Van Dyk, Jordans, To
niers u. s. w. einen Befreiungskrieg durch, dessen Trophäen in allen gro-
ßenGemäldegalerien hängen als kostbarste Denkmäler originellerKunstkraft,
Da hier nicht von der älteren flamändischen Schule, sondern
von der seit 1830 die Rede sein soll, so kann ich auf eine nähere
Auseinandersetzung jener Rubens'schen Epoche, die ohnehin jedem
Kunstkenner hinlänglich bekannt ist, nicht eingehen. Wie nach
dem Tod Aeleranders, die Feldherren, welche er gebildet, sich in sein
Reich theilten, so theilten sich die Schüler, welche der nationale Mei¬
ster erzogen, in seine Herrschaft. 5)
Aber Antwerpen hörte auf, der Mittelpunkt dieser Schule zu
sein; sie zerstreute sich und ihr Vaterland verlor allmälig ihre Spu¬
ren, Der westphälische Friede machte dem dreißigjährigen Schlachten
ein Ende, aber er tödtete zugleich den Handelsflor Südniederlands.
Der vierzehnte Artikel des Tractats von Münster decretirte die Sper¬
rung der Scheide. Antwerpens Hafen wurde zur Einöde und der
Reichthum der alten Welthandelsstadt ging an ihre Rivalin Amster¬
dam über. Die Kunst, die zu allen Zeiten nicht blos nach Brod,
sondern auch nach Braten geht, zog mit. Holland beherrschte fortan das
Meer mit den Ruderschlägen seiner Schiffer und das Land mit den
Pinselschlägen seiner Maler. Wie die kleinen ärmlichen Kähne der
Wassergeusen einst die stolze spanische Flotte besiegten, so besiegten
jetzt eine Reihe von niederländischen Künstlern mit den ärmlichsten
Gegenständen, die sie in Haus und Hof zum Vorwurfe ihrer
Staffelei erhoben, die stolzen katholischen Altarmaler. Es war eine
echte Malerei des Protestantismus. Sie protestirten gegen das Allein¬
seligmachende der Kirche in der Kunst und bewiesen pantheistisch, daß
Gott überall sei, in der Kneipe versoffener Burschen, wie auf den
wilden Wogen des schäumenden Meeres, in den Blättern eines
leblosen Fruchtstückes, wie in den Reihen einer weidenden Heerde.
Die holländische Malerschule ist der Repräsentant des Goethe'schen
Spruches:
Greif nur hinein in's volle Menschenleben,
Und wo Du es fassest, ist's interessant.
Rubens starb im Jahre I64V und fünf und fünfzig Jahre
später starb in Belgien der letzte bedeutende Maler seiner Schule,
Erasmus Quellin. Fortan unterlag die flamändische Malerschule
denselben Einflüssen, denen auch die flamändische Sprache unterliegen
mußte. Die Heere Ludwigs XIV. rissen ein Stück nach dem andern
von dem burgundischen Kreise los. Ganz Europa ward Affe der
französischen Mode, wie sollte das benachbarte Belgien sich freihal¬
ten? Was an einheimischen Kräften von Bedeutung war, wie
Van Loo, Van der Meuten, wurde von Paris angezogen und
diente dem Gold des „großen Königs." Hingegen fanden die gir¬
renden Schäferinnen Watteau's, die gepuderten ZeuSe und die
reifröcklichen Nymphen hundert Nachahmer im Vaterlande Van Eyk's.
Die trocknen Lehren des Antwerpner Malers Andreas Lens (Ver-
fasser der auch in's Deutsche übersetzten „Abhandlung über die Tracht
der alten Völker und des Versuchs über den guten Geschmack in
der Malerei,) konnten eben so wenig als sein trockener, poesieloser
Pinsel dem nationalen Geschmack auf die Beine helfen. Als um
vollends der bei allen seinen starren Irrthümern dennoch so gro߬
artige und gewaltige David, der Maler der Revolution und der
Kaiserzeit, die Kunstwelt Europas zu beherrschen begann, wie die
Armeen seines Vaterlandes die Schlachtfelder beherrschten, da untere
lag auch der letzte Rest von Anhänglichkeit an die nationale Kunst
in Belgien; die Truppen Frankreichs besetzten das Land, seine Prä-
fekten proscribirten die nationale Sprache, seine Commissäre entführten
die nationalen Kunstoenkmäler nach Paris und seine Maler verwehr¬
ten jede Rückkehr zu den alten einheimischen Kunst-Traditionen. Noch
mehr, während zur Zeit der Restauration in Frankreich eine neue
Schule emporkam, und Gros, Gerard und Prudhon ihren Leh¬
rer David verdrängten, war dieser nach Brüssel übergesiedelt und
hielt daselbst durch das Gewicht seiner Anwesenheit und seiner Per¬
sönlichkeit jeden andern Keim neben sich nieder.
So kam das Jahr 1830 heran und es ereignete sich plötzlich
ein Zufall, ein Schicksal, wenn man will, das in der Geschichte der
Kunst zu einem der seltsamsten gehört. Die politische Gereiztheit der
Belgier gegen die Hegemonie der Holländer hatte ihren Gipfel er¬
reicht. Alles, was die Nationalität des niederländischen Südens
aufstacheln, erhitzen und begeistern konnte, war von den Führern
der belgischen Presse und Kammernopposition aufgeboten worden.
In den Straßen Brüssels rollte es bereits dumpf, die Luft war schwül,
wie am Vorabend verhängnißvoller Ereignisse, Alles ahnte, daß eine
politische Krisis vor der Thür sei, die auch richtig in den letzten Ta¬
gen des Septembers zum Ausbruch kam.
Einen Monat früher, d. h. im August 1830, wurde in Brüssel
herkömmlicherweise die Kunstausstellung eröffnet. Die Zahl der ein¬
geschickten Gemälde war sehr groß. Die Nachzügler der französischen
Kunst hatten sich breiter als je gemacht, abgesehen von einigen Land¬
schaften und Genrebildern, waren alle Wände mit Mythologie, mit
griechischer und römischer Geschichte wie ausgetäfelt; da fanden sich
alle Gräuel des Atreus, Agamemnon mit seinem ganzen Hause,
Griechen und Römer mit Kürassierhelmen, religiöse Bilder in der
gräulichsten Weltlichkeit. Die Menge der Besucher gaffte hier und
dort, drängte sich aber in Gruppen und Haufen vor einem Gemälde,
das ohnstreitig als das erste und dominirende dieser ganzen Aus¬
stellung betrachtet wurde. Dies Bild hatte sich weder unter den
Griechen, noch unter, den Heiligen seinen Gegenstand ausgesucht, son¬
dern stellte eine kleine, aber denkwürdige Episode aus dem niederlän¬
dischen Befreiungskriege dar, eine ergreifende Scene aus der Belage¬
rung von Leyden im Jahre 1574. Folgendes ist der Stoff.
Die Stadt hatte den belagernden Spaniern den muthigsten Wi¬
derstand geleistet; aber die Lebensmittel waren ausgegangen, der
Hunger ist auf den Gesichtern Aller gemalt, das Volk drängt auf
Uebergabe, das Haus des Bürgermeisters Van der Werff wird ge¬
stürmt, man verlangt, er solle die Schlüssel der Stadt dem Feinde
übergeben. Da tritt er heraus, bleich, aber ruhig, unter die wüthende
Menge. Ich habe den Staaten gelobt, diese Stadt zu halten, ich kann
mein Wort nicht brechen; Brod habe ich keins für Euch, aber wenn
Ihr mein Blut trinken wollt, nehmt es hin und sättigt Euch daran.
Diese Scene war.weder in einem besonders großen Rahmen,
noch mit dem gewöhnlichen Theatereffekt gemalt, aber die dramati¬
sche Gruppirung, die Wahrheit des Ausdrucks, vor Allem aber das
harmonische classische Colorit, mahnte unwiderstehlich an die alten
vaterländischen Meister. Alle Welt wollte den Namen des Malers
wissen, er hieß Wappers. Wappers? kein Mensch kannte ihn;
man erkundigte sich und hörte, es sei dies der Name eines jungen
Malers aus Antwerpen, eines Zöglings der dortigen Akademie, die
mühsam, aber fruchtlos den Spuren der Rubens'sehen Schule nach¬
wandelte. Das erste Mal nach fast hundert Jahren flössen aus diesem
versiegten Brunnen wieder frische, helle Tropfen, trug dieser verdorrt
geglaubte Baum wieder goldene Frucht. Rubens! der Name war
plötzlich wie durch eine Zaubererinnerung auf allen Lippen, es war, als
fiele der Schleier den Leuten von den Augen und als erkennten' sie
mit einem Male den Götzendienst, den sie bisher vor fremden Altä¬
ren getrieben. Dieser revolutionäre Geist gegen die bisher herrschende
Kunstdynastie wurde durch die Revolution gegen die herrschende
Königsdynastie nicht verdrängt und in den Hintergrund geschoben.
Während die Volkshaufen in den Straßen bivouakirten, während man die
neue Constitution des Landes besprach und die Selbständigkeit dessel¬
ben verlangte, discutirten die jungen Maler über die Reconstituirung
der alten flamändischen Schule und verschworen sich zur Unabhängigkeit
von dem bisherigen Regime. Das Glück, welches die politische Revolu-
tion der Belgier krönte, stachelte die Geister zu Wagstücken aller Art, das
Selbstvertrauen war zurückgekehrt, Nationalität! war das begeisternde
Losungswort der Generation geworden, die Blicke wurden in die
Vergangenheit zurückgeworfen, man suchte nach Geschichte und nach
Brücken zur Verbindung zwischen der Gegenwart und den glorreich¬
sten Epochen von ehemals. Man fing wieder an, die reichen strah¬
lenden Gemälde der alten Meister zu studiren; man suchte hinter das
Geheimniß ihrer mannigfachen uno prächtigen Farbentöne, ihrer so
tiefen, so bezaubernden Harmonie zu kommen. Die Kirchen mit ihren
reichen Gemälden lind das Museum zu Antwerpen mit seinen kostbaren
Schätzen wurden nie leer. Drei volle Jahre dauerte dieser Enthusiasmus,
und die Zeit kam heran, wo die erste Brüsseler Ausstellung nach der
Revolution (die vom Jahre 1833), eröffnet wurde. Ein neues Schau¬
spiel bot sich dar, nicht minder merkwürdig, als das frühere; eine
zügellose Reaction der Coloristen, von der es schwer ist, eine Vor¬
stellung zu geben, das Erzeugnis? einer bis zum Schwindel feurigen,
ja rasenden Jugend, die unter dem Panier der romantischen Schule,
— ein Ausdruck so vieldeutig als verworren — die letzten Ueberreste der
von den Nachzüglern der classischen Kunst, d.h.der David'schen Schule,
aus dem Felde schlagen wollte. Mit einem unglaublichen Enthusias¬
mus hatte man sich wieder an Rubens geschlossen; freilich hätte man
gut gethan, wenn man mit dem Bestreben, die Rubens'sche Färbung
sich anzueignen, auch das Studium des Rubens'schen Zeichnens ver¬
einigt hätte. Aber leider machte sich jene Kunstjugend mit einer sehr
unvollständigen Einsicht in die Zeichnung ihres Vorbildes, und mit
einer oberflächlichen und übertriebenen Vorliebe für seine Farbe an's Werk.
Die meisten Bilder dieser Ausstellung glichen bloßen Farbenbrettern,
denen die Form fehlt, nicht blos die ideale, die Poesie der Form,
sondern oft sogar die sinnliche, die blos äußerliche Gestalt
und ihre Verhältnisse. Es war aber die Reaction, die sich
bei dieser Ausstellung aussprach, und als solche war sie na¬
türlicherweise übertrieben, gewaltsam, ausgelassen; um nur nicht hin¬
ter dem Ziele zurückzubleiben, nahm man einen Schwung darüber
hinaus. Die Muth war übergetreten und hatte Alles mit sich fort¬
gerissen. Um gerecht zu sein, darf man nicht verschweigen,
daß die Anhänger der David'schen Schule jener ungestümen
Jugend die größten Dienste leisteten. Allein diese Revoluti¬
on der Kunstrichtung, die in einem und demselben Momente mit
der politischen Revolution Belgiens begonnen hatte, hielt auch glei¬
chen Schritt mit letzterer. Allmälig sah die erstaunte Welt dieses
Belgien, dessen zwölfmonatliche Existenz man Anfangs bezweifelte,
dessen Ruder von einer Hand voll junger Leute, die eben erst die
Journalfeder aus den Händen gelegt, geführt wurde, sich immer fe¬
ster constituiren und Maßregeln ergreifen, die — wie z. B. das Ei-
senbcchnproject — Kühnheit mit Sicherheit zugleich verbanden. Die
anarchischen Elemente des ersten Augenblicks wurden bezwungen, und
der junge Staat stand bald so fest auf seinen eigenen Füßen, als
wäre er von „Gottes Gnaden" und nicht durch das „souveräne Volk"
organisirt worden. Dasselbe Schauspiel zeigte sich auch bald unter
der jungen, neu aufblühenden Malerschule. Bereits bei der zweiten
Brüsseler Ausstellung, im Jahre 1836 (die Kunstausstellung findet in
der Hauptstadt Belgiens von drei zu drei Jahren statt), zeigte sich
eine vollständige Organisation der jungen Schule. Der blinde, anar¬
chische Uebermuth hatte sich gelegt, die Zügellosigkeit hatte sich Regeln
unterworfen. Bei dem Einen zeigte sich die Farbe von tieferem, wah¬
rem Gefühl belebt, bei dem Andern verriethen die Linien ernstes wis¬
senschaftliches Studium, der Enthusiasmus begann sich mit Beson¬
nenheit zu paaren. Was dieser Ausstellung eine besondere Bedeu¬
tung gab, das war die große Anzahl von historischen Bildern; die
Gegenstände derselben waren nicht mehr dem griechischen und römi¬
schen Alterthume entlehnt, sondern den Chroniken und Annalen der Lan¬
desgeschichte entnommen. Die zwei Kunstausstellungen der Jahre 1839
und 18t2 sind in einigen ihrer Resultate auch dem großen deutschen
Publicum bekannt geworden; die historischen Bilder von de Keyzer,
von Gallait und de Bievfe haben die Runde durch den größten Theil
Deutschlands gemacht. Die Genrebilder Braekleer's, die Thierstücke
Verboekhoven's u. s. w. sind in Tausenden von Lithographien ver¬
vielfältigt worden, und diese liegen Jedermann vor, um über die
Conception urtheilen zu können, und um auch den Ungläubigsten zu
überzeugen, daß die Flamänder das Zauberwort der alten Vorfahren
wieder gefunden haben. Der Gang der neueren belgischen Schule
bewegte sich parallel mit der neueren französischen Malerschule, welche
allerdings schon früher durch Gerard, Gros, Vernet sich der Nachah¬
mung des Fremden entzogen hatte, allein die französischen Maler,
welche sich hinsichtlich des Colorits an keine alte nationale Schule
anschließen konnten, zerfielen in vielerlei Manieren und Manierirt-
heiten. Die belgischen Maler hingegen, die in ihrem Vaterlande die
Quelle eines eigenthümlichen Kunstlebens besaßen, thaten nichts An¬
deres, als in die neuerweckte Schule einen dem Volke entsprossenen
Geist wieder einzuführen.
Die belgische Regierung, der man es zur Ehre nachsagen muß,
daß sie gerne nach Elementen sucht, welche dem Geiste der Nationa¬
lität Nahrung und Aufschwung verleihen können, pflegt das Genie der fla-
mändischen Künstlerjugend mit eifrigen Händen. Diesen Farben- und
Formensinn der Nation, die ruhmvollen Erinnerungen, die sich daran
knüpfen, betrachtet die Negierung als ein kostbares Nationalgut, das
ihr anvertraut ist und das zu bewachen und zu vergrößern ihr eben
so sehr am Herzen liegt wie die Verwaltung des Staatsschatzes. In
keinem Lande der Welt gibt es auf einem so kleinen Raum eine so
große Unzahl von Kunstschätzen, als in Belgien. Nicht weniger als
dreiundvierzig Akademien und öffentliche Lehrsäle für Malerei, höhere
Zeichnenkunst und Architectur hat Belgien aufzuweisen; die Zahl der
Zöglinge beläuft sich auf sechs bis siebentausend. Ich will die Haupt¬
schüler und die Meister an denselben hier in einer kurzen Skizze
vorführen.
Vor Allem die glorreiche Akademie von Antwerpen, jener Herd
der Rubens'sehen Schule und so vieler alten wie jüngeren Meister.
Diese Akademie zählt über fünfhundert Schüler. Neun Professoren
und zwei Gehilfen ertheilen hier Unterricht; Wappers ist Direk¬
tor; als Professoren wirken die Maler de Keyzer (Historie); Leps,
Braekleer, De Jonghe, De Block (Genre); Jacobs (Sce-
stücke); GecfS (Bildhauerkunst); ferner unterrichten mehrere Pro¬
fessoren im Graviren, in Architektur, Geschichte, Archäologie, Al-
gebra, Geometrie u. s. w. Die jährlichen Ausgaben dieser Anstalt
betragen ungefähr 27,000 Francs, wozu der Staat ein Drittel und
die Stadt zwei Drittel steuert. Die Regierung gibt übrigens noch
jährlich zwei Stipendien, jedes zu 2500 Francs, diese Stipendien
werden solchen Zöglingen zu Theil, die bei dem Concurs, der alle
drei Jahre stattfindet, die ersten Preise davontragen. Der Preis¬
gekrönte genießt dieses Stipendium durch vier Jahre, um im Aus¬
lande, namentlich in Italien, seine Studien ergänzen zu können.
Die Provinz Antwerpen hat überdies noch eine Maler-Zeichnenakade¬
mie in Mecheln von 450 Zöglinge», unter der Leitung des Historien¬
malers Waulcrs, und zwei kleinere Schulen in Lirre und Turnhout.
Die Malerakademie in Brüssel zählt nicht weniger als K00 Zög¬
linge. Ihr Director Ravez gehört zum Theil noch der französischen
Schule an, allein der Thiermaler Verboekhoven, der Genremaler
Mabon, der Landschafter Lauters, die Historienmaler De Biefve und
Gallait, die Bildhauer Geefs (Wilhelm), Jehotte und Simonis,
lauter Matadore der jungen belgischen Kunst, machen die Akademie
der Hauptstadt zu einer mächtigen Rivalin ihrer altersgrauen und
vortrefflichen Antwerpener Schwester. Außerdem besitzt die Provinz
Brabant noch eine Malerschule in Löwen von 460 Zöglingen, ferner
in Tirlemont und Nivelle, welche gleichfalls gegen 160 Zöglinge ha¬
ben mögen; in Löwen befinden sich die verdienstvollen Maler Mathieu
und Van Eyter, und der Bildschnitzer Geerts, der so eben die
wunderbaren Chorstühle in dem Antwerpner Dom vollendet hat.
Brügge, die Heimathsstätte der Ban Eyks, hat eine Maler¬
akademie von 400 Zöglingen und muß jährlich aus Mangel an
Raum ungefähr hundert zurückweisen. Courtrai'ö Malerakademie
zählt ungefähr 200 Schüler.
'
Ferner hat die Provinz Westflandcrn eine Malerakademie in
Upern mit 150 und eine in Ostende mir 100 Zöglingen und außerdem
mehrere blühende Zeichnenschulen an verschiedenen Orten.
Die Provinz Ostflandern ist noch reicher gesegnet; die Akademie
in Gent zählt über 500, die in Alost 230, die in Audenaerde 100,
die in Se. Nicolas 100, die in Grammont 50, die in Termonde
130 Zöglinge. Die Akademie von Lüttich hatte bisher nur 300 Zög¬
linge, da aber gegen 200 junge Leute sich noch zudrängten, so hat
die Stadt das Hospital Se. Abraham angekauft, diesem Zudrange
genügen zu können. In Lüttich lebt der originelle, wenn auch ver¬
schrobene Maler Wierz, der die Manie hat, colossale Figuren in
übermenschlicher Große zu malen und sie dann mit einer spitzigen
Feder gegen die Kunstkritiker zu vertheidigen, wodurch er, nebst an¬
dern Auffälligkeiten, eine der bekanntesten Figuren Belgiens gewor¬
den ist.
Die Provinz Hennegau hat in Mons eine Akademie mit 200
Schülern, in Tournai, wo Gallait seine Studien gemacht hat, 160,
und in drei andern Städten noch zusammen 235 Kunst-Zöglinge.
Die Provinz Namur hat eine Malerschule mit 180 und eine Zeich¬
nenschule mit 100 Zöglingen; letztere jedoch ist mehr sür Arbeiter
bestimmt. Die größte Provinz Belgiens, das arme halbdeutsche
Luxemburg, ist am schlechtesten bestellt, sie wird sogar von der aller-
kleinsten belgischen Provinz, von Limburg überflügelt, denn diese hat
doch wenigstens — 36 Zeichnenschüler.
Fragt man nun, was dieses Heer von jungen Kunstbeflissenen
so zahlreich unter die Fahne lockt, so muß man, abgesehen von der
moralischen Triebfeder eines schönen Ehrgeizes und dem Drang nach
Idealen, doch auch den Glanz der äußern Stellung in Anschlag
bringen. Ein Künstler von einigem Talente sieht in Belgien seine
Zukunft gesichert. Die Kunstausstellung, welche da den bezeich¬
nenden Namen «xnositinn n n lion ale alö tMo-ax etc. führt, fin¬
det alle Jahre statt und alternirt zwischen den drei Städten Brüssel,
Antwerpen und Gent, so daß an jede dieser Städte alle drei Jahre
einmal die Reihe kommt. 5) Die Brüsseler und die Antwerpner
Kunstausstellung ist jedesmal wie ein großes Landesereigniß. Von
allen Seiten bringt die Eisenbahn die patriotischen und kunstsinnigen
Beschauer herbei; alle politischen Journale bringen Wochen und Mo¬
nate lang Kritiken; Broschüren erscheinen, in allen Gesellschaften wird
von Nichts als von der Ausstellung gesprochen, und in Wort und
Schrift wird polemisirt, wie bei den heißesten Kammerdebatten. Der
junge Künstler hat somit nicht nur Gelegenheit, sein Talent in kur¬
zen Zwischenräumen zur Beurtheilung auszustellen, sondern er wird
bei einigem Verdienste sogleich bekannt, gepflegt, unterstützt, der Pa¬
triotismus bemächtigt sich seines Namens und man halt ordentlich
Rechnung über die Fortschritte, die ein junger Mensch in dem vori¬
ge,? Jahre gemacht hat und in dem nächsten muthmaßlicherweise ma¬
chen kann. Dabei bleibt man nicht bei leerem Gerede stehen, sondern
greift thatsächlich dem Künstler unter die Arme, Abgesehen von den
Unterstützungen, die das Gouvernement den jungen Zöglingen ertheilt,
werden namentlich zur Unterstützung der Historienmalerei große Be¬
stellungen von der Negierung gemacht. So entstanden die trefflichen
historischen Bilder, die vor Kurzem in Deutschland ihren Triumphzug
hielten, und mehrere andere von De Keyzer und Wapvers, von
denen die des Erstem eben so bewundernswerth in der Conception
alö in der Technik sind. Die religiöse Malerei hat in Belgien leider
ein allzugroßes Feld, da die reiche Geistlichkeit, die reichen Kirchspiele
und der Privatpietismus dieses Feld immer für die Künstler am ergie¬
bigsten machen. Ich sage leider, denn erstens ist die Zeit dieser Ma¬
lerei vorüber; eS fehlt den Künstlern der Glaube, die Naivetät, die
Begeisterung der mittelalterlichen Maler; zweitens ist der Zweck die¬
ser Gemälde nicht mehr derselbe, denn auch dein Publikum, d. h.
jenem Theile, der sür die Schönheit eines Bildes Augen und Ver¬
ständniß hat, geht dasselbe ab, wie den Malern, auch ihm fehlt es
an religiöser Hingebung und Einfalt; endlich, weil diese Art von
Malerei am allerleichteflm zur Fabrikarbeit ausartet, da der Künst¬
ler in der Verzweiflung, Nichts Neues erfinden zu können, was nicht
schon die alten Meister unübertrefflich hingestellt haben, sich allmälig
entweder einer effekthaschcnden Koketterie oder einer stumpfen Nach¬
ahmung hingibt. Auf diese Weise ist schon manches große Talent
zu Grunde gegangen, das, wenn es sich lieber auf dein weiten
Felde der Historie bewegt hätte, originelle Auffassungen und neue
Situationen in der Darstellung gefunden hätte.
Die Hauptstütze finden jedoch die belgischen Maler in der Auf¬
munterung und in dem Reichthum des Belgischen Philisters. Ja,
so widersprechend die Worte Philister und Kunst einander zu sein
scheinen, so findet malt sie in Belgien dennoch oft Hand in Hand
mit einander. Mit Ausnahme Hollands gibt es sicher kein zweites
Land in der Welt, wo man so viel Privatgcinäldesammllingen findet,
als in Belgien. Zu einem anständigen Hause gehört in der Regel
eine gewählte Bildersammlung, und »se genug findet man letztere anch
da, wo das übrige Hauswesen nicht damit harmonirt. Ja, ganz
kostbare Sammlungen befinden sich oft in Handen von Leuten ohne
alle Bildung, die aber für die unterscheidenden Merkmale eines gu¬
ten Gemäldes so scharfe Augen haben, daß sie den Strich des einen
Meisters ganz genau von dem des andern zu unterscheiden wissen.-i-) Es
ist dies eine nationale Erbschaft, ein Nationalvermögen, angeregt
und fortgepflanzt durch die zahlreichen Denkmäler früherer Kunst.
Fast jeder Gebildete in Belgien ist ein kleiner Professor der Kunst¬
geschichte (d. h. der niederländischen, die Deutschen und Italiener
sind ihm unbekannt), und sicherlich findet man nirgends bei Laien
eine solche Kenntniß der verschiedenen Baustyle, zumal aber der go¬
thischen Architectur, wie eben in Belgien. Es gehört also hier nicht
eben eine besonders ruhige Eristenz und feine Weltbildung dazu, um
zur Unterstützung der Kunst und des Künstlers angeregt zu werden,
sondern es liegt instinktmäßig in der Nation. Der von der Regie¬
rung zur Leitung der Exposition ernannte Ausschuß läßt Subscrip-
tionsbögen bei allen Bürgern circuliren. Die Subscription ist zu
einem sehr mäßigen Preis gestellt. Für die eingegangene Stimme
kauft die Commission eine Anzahl Gemälde, die dann, wie es auch
bei den deutschen Kunstwerken Sitte ist, unter den Subscribenten ver-
looft werden. Was aber bei deutschen Kunstvereinen nicht Sitte, das
ist, daß eine solche Subscription jedes Mal (abgesehen von dem, was
der König und Private ankaufen) sich auf 60—80006 Franken
I. Kuranda.
— Mein letztes Schreiben sprach die Hoffnung aus, demnächst
einer interessanten Bekanntschaft theilhaftig zu werden, und ich halte
es kaum abgesandt, als dieselbe auch bereits in Erfüllung ging.
Die Prinzessin Bacciochi-Camerata war nämlich so liebenswür¬
dig, den Baron Se., welcher mich bei ihr eingeführt, und mich selbst
zu einem Besuch auf ihrer Besitzung Villa-Elisa, nahe bei Aquileja,
einzuladen, wohin auch sie nach einem längern Aufenthalt in Florenz
sich zurück begeben wollte, und der 29. October gab uns den Wan¬
derstab in die Hand, um die erste Nacht ganz in der Nähe auf der
Villa al Leoni, die, in den Apenninen liegend, der verwittweten Für¬
stin von P.. gehört, gastfrei auch von ihr zu dieser Einkehr aufge¬
fordert, hinzubringen. Schon vor unserer Abreise hatten wir in Flo¬
renz einige unbedeutende. Erdstöße wahrgenommen, dennoch aber
einen sonnigen Tag gehabt, und erst gegen Abend begann es zu reg¬
nen. In al Leoni angelangt, verspürte man darauf um 9 Uhr einen
abermaligen ziemlich heftigen, doch kurzen Stoß, der Alles erzittern
machte und einen Theil der Gesellschaft sehr beunruhigte; da aber
keine zweite Erschütterung nachfolgte, faßte man sich wieder und ging
gegen eilf zu Bett.
Ich jedoch blieb noch lange, in Erwartung neuer Bewegungen,
lesend wach, bis ich endlich, da Nichts sich bemerkbar machte, ein¬
schlief, doch nur um bald darauf sehr beklommen wieder aufzuwachen.
Meine Repetiruhr sagte mir, daß es in der zweiten Stunde sei.
Draußen regnete es, und der Wind ließ sich vernehmen; durch die
Fenster sah ich einen blaßhellen Streifen gegen Osten, der in dieser
Jahreszeit aber den Aufgang der Sonne noch nicht anzeigen konnte.
Mir war's, als hatte ich ein Vorgefühl merkwürdiger Dinge, die
da kommen sollten, doch blieb ich im Bett der Kälte wegen, die in
den letzten Tagen des October auf den höheren Gebirgspunkten
schon empfindlich ist. Ich warf mich hin und her und begriff mei¬
nen eigenen Zustand nicht, als plötzlich gegen 3 Uhr der erste neue
Stoß erfolgte, der mit einem heftigen Getöse das auf Felsen gebaute
Haus in seinen Grundfesten erschütterte, mich beinahe aus dem Bett
warf, die Wandmauer, an der dasselbe stand, von oben bis unten
spaltete, und den Mörtel überall herumstreute. Die Thüren öffneten
sich dabei von selbst, und Ratten und Mäuse kamen überall hervor
und pfiffen und schrien!
Ich hatte mich emporgerichtet, um, falls diesem Stoß, welcher
mehrere'Sekunden anhielt, noch ein ähnlicher nachfolgen sollte, das
Lager zu verlassen, Auge und Ohr für die merkwürdige Naturer¬
scheinung gefaßt offen haltend, als nach ungefähr 3 Minuten eine
neue Erschütterung, jedoch schwächer, sich wahrnehmen ließ und von
da ab noch eine Menge mitunter ganz leiser Oscillationen, als wenn
die ausgehobene Erde sich wieder in ihren Angeln festsetzen wollte,
dieselbe bewegten.
Im Hause war Alles wach geworden. Ich hörte das Schreien,
Weinen und Beten des Gesindes und der Bauern im Hofe, und
jetzt kamen auch der Prinz P. und der Baron Se. mit Lichtern her¬
bei, um sich von meinem Dasein zu überzeugen. Sie verwunderten
sich sehr, mich nicht gleichfalls angstvoll auf den Beinen zu finden,
spendeten meinem Muth das ihm gebührende Lob, welches derselbe
hiemit auch bei Ihnen in Anspruch nimmt, — mit zu beben, wenn
die Erde bebt, passirt sonst wohl noch Stärkeren, und Sie müssen
bedenken, daß ich ein Neuling bei dem Schauspiel war — und
überhoben mich dann vollends der Nothwendigkeit, aufzustehn, in¬
dem sie die aus ihrem Schloß gesprungene Thür wieder verschlossen.
Allgemach beruhigte sich darauf der Tumult im Hause sowohl
wie in der Natur und auch ich schlief nun noch ruhig fort bis 8
Uhr Morgens. Beim Erwachen fand ich einen ziemlich dichten Nebel
auf Berg und Thal gelagert, dazwischen Regen und auch Sonnen-
schein, welches eine wunderbare, fast unheimliche Beleuchtung hervor¬
brachte, und bis zum Mittag wiederholte schwache Stöße. Die Be¬
wohner der Villa erschienen noch ziemlich verstört und namentlich ihre
Herrin, welche in unsrer Gegenwart die Berichte ihrer Bauern em¬
pfing, die zum Theil bedeutenden Schaden erlitten. Haus und Ne¬
bengebäude waren auch nicht verschont geblieben, am betrübendsten
aber lauteten die Nachrichten aus dem eine halbe Stunde entfernt
liegenden Städtchen Barberini, dessen Kirchthurm eingestürzt war
und wo viele Einwohner die Zerstörung ihrer Häuser beklagten.
Unter solchen Umständen in einem heitern Beisammensein den¬
noch gehindert, setzten wir früher, als es anfangs unser Plan gewesen,
die Reise weiter fort. Als letztes Wort vom Erdbeben sei übrigens
gesagt, daß mau aus der adriatischen Seite, wie wir unterwegs er¬
fuhren, nur wenig davon verspürt, wogegen aber leider die Zeitungen
bald genug über die heftigen Erschütterungen jenseits des adriatischen
Meeres und besonders in Ragusa, Cattaro u. s. w. berichteten. Die
dortigen beklagenswerthen Küstenbewohner Dalmatiens leben nun
schon seit Monden inmitten von fast täglichen Erdstößen. Nachdem
wir, bei jeden Augenblick wechselndem Wetter, namentlich auf der
Höhe von Covigliago dergestalt von Stürmen umbraust waren, daß
es schwer hielt, Pferd und Wagen aufrecht zu erhalten, langten wir
endlich mitten in der Nacht dennoch glücklich in Bologna an, tra¬
fen daselbst unvermuthet mit der Prinzessin Bacciochi-Camcrata und
ihrem Sohn zusammen und setzten von nun an unsern Weg in ih¬
rem Geleite fort, wodurch derselbe an Annehmlichkeit nur gewinnen
konnte.
In Ferrara besahen wir den Dom, die Bibliothek und das so¬
genannte Gefängniß des Tasso, so wie Eleonorens Wohnung und
nahmen nächst diesen dichterischen Erinnerungen auch noch die Per-
sikate — getrocknete Pfirsich, welche man hier ganz vorzüglich berei¬
tet, zu uns. Padua's Merkwürdigkeiten zu besichtigen gönnten wir
uns darauf gleichfalls Zeit, ließen uns mit großer Geduld alle Wun¬
der des K'r-in, Kimto (8t. ^ntoiiin» von Padua) vorerzählen und
fuhren von hier aus, indem wir unsern Wagen vorausgehen ließen,
mit der Eisenbahn bis nach Mestre und von da alsdann noch weiter
in's Nachtquartier gen Treviso. Hier wurde die Fürstin krank. Es
mußten Aerzte herbeigeholt werden, die verschiedene Medicamente und -
vor allen Dingen Ruhe verordneten, ein Element, in welchem jedoch
die Nichte Napoleons eben so wenig als einst er selbst zu leben ver¬
mag und deshalb trotz einer Übeln Nacht andern Morgens doch
schon wieder im Wagen saß, um Abends in Conegliano neue Kuren
zu beginnen. Hatten diese nun angeschlagen, oder half sich die gute
Natur der Prinzessin von selbst, kurz, sie verließ diesen Ort fast ganz
hergestellt und lud mich in Palma-nuova, wo ein Phaeton mit eig¬
nen Pferden ihrer harrte, freundlichst ein, denselben mit ihr zu be¬
steigen, worauf sie mich alsdann mit kräftiger Hand die 8 Miglien,
welche wir noch von Villa-Elisa entfernt waren, kutschirte.
Da haben Sie einen Maßstab dieser 36 jährigen originellen Frau,
die Alles ist, nur kein Weib, deren Geist aber häufig Funken sprüht,
die an den ihres großen Oheims erinnern!
Sie ist, wie Sie bereits wissen, die Tochter Elisa'ö — einer
Schwester Desjenigen, der Kaiser von Frankreich war, als er diese
zur Großherzogin von Toscana stempelte, — und des Prinzen Felir
Bacciochi, eines Corsen. Mit vielen Anlagen geboren, doch in all
ihren Eigenthümlichkeiten und Liebhabereien auf das männliche Ge¬
biet hinüberspielend, hätte sie wohl einer besonders sorgsamen Leitung
bedurft, um sich harmonisch zu entwickeln, während der frühzeitige
Tod ihrer Mutter — Elisa starb bereits im Jahr 1820 — in ihrer
Erziehung große Lücken ließ, die der Vater mit dem besten Willen
nicht auszufüllen wußte. Es war und blieb ein seltsames Wesen diese
Prinzessin Napoleon — wie sie mit Bornamen heißt — voll der
heterogensten Elemente, die zu verschmelzen man endlich den Plan
entwarf, sie mit einem jungen schönen Mann zu verheirathen, der zu¬
dem Erbe eines in Italien hochgeehrten Namens und ansehnlicher,
wenn gleich verschuldeter Besitzungen war. So wurde unsre Heldin
im I9den Jahre die Gemahlin des Grafen Philipp Camerata. Aber
das Glück dieser jungen Ehe war kaum nach Monaten zu zählen,
denn die geistige Unbedeutendheit des Mannes konnte eine Frau wie
diese am wenigsten ertragen, und es fand nur zu bald eine gänzliche
Trennung Statt, in welcher der einzige Berührungspunkt, ja fort¬
dauernder Zankapfel zwischen Beiden ihr einziger Sohn geblieben ist,
dessen Erziehung jedoch hauptsächlich die Prinzessin leitet. Sie hat
seinem Vater, welcher in Ancona lebt, dagegen ihre sehr reiche Aus¬
steuer überlassen und nie Geldansprüche an ihn gemacht, was der
einzigen Leidenschaft desselben, dem Geiz, sehr geschmeichelt habe» mag,
während sie selbst im Gegentheil zu Verschwendung geneigt, das be¬
deutende Vermögen ihrer Mutter rasch unter die Leute brachte, im
Jahr 1841 aber so glücklich war, den reichen Vater wiederum zu
beerben!
Fürst Felir Bacciochi, dessen einziger Sohn vor neun Jahren im
Jünglingsalter an einem unglücklichen Sturz mit dem Pferde in der
Villa Borghese zu Rom starb, und dessen alleinige Erbin daher die
Prinzessin blieb, war aber, die Meinungen seiner Tochter kennend,
bei Abfassung des Testaments vorsichtig genug gewesen, die größere
Hälfte seines Nachlasses in ein Fidel-Commiß zu verwandeln, so
daß jene nun zwar 200,000 Franken jährlicher Renten bezieht, den
Haupttheil des Capitals anzugreifen jedoch keine Befugniß hat. Da¬
gegen blieb ihr das Recht, im Fall ihr Sohn ohne Erben das Zeit¬
liche segnen sollte, einen Andern aus der Familie Bonaparte oder
der Familie Bacciochi noch bei ihren Lebzeiten zu substituiren, und
man sagt, daß sie hievon zu Gunsten ihres Neffen, des Prinzen Na¬
poleon Montfort, den sie sehr liebt, Gebrauch machen werde. Dieser
Prinz ist ein sehr ausgezeichneter junger Mann, der ganz die Phy¬
siognomie Napoleons hat, und von dem es sich nur bedauern läßt,
daß er nicht eine seinen Fähigkeiten und Kräften angemessene Stel¬
lung einnimmt. Das Dateo la- niente in Italien eignet sich nicht
dazu, Charaktere zu befestigen und ein sprudelndes Jugendleben wür¬
dig auszufüllen. Freilich mag der Gedanke an das, wozu man bet
mehr Gunst des Schicksals hätte berufen sein können, die Ansprüche
überhaupt auch wohl etwas zu hoch spannen. Gestürzte Throne
geben immer falsche Stellungen und der legitime Herzog v. Bordcam-
gilt in seiner jetzigen eben so wenig als die napoleoniden.
Auch daS sehr markirte Gesicht der Prinzessin ist ganz der Na¬
poleonische TvpuS; ihr Wuchs von mittlerer Größe geht zu sehr in's
Breite und hat keine gefällige Formen. Als junges Mädchen soll
sie äußerst lieblich gewesen sein, doch seitdem- sie sich zu sehr vernach¬
lässigt, aller Toilette und Eleganz Haß geschworen hat und absicht¬
lich weder weiblich noch graziös erscheinen will, kann ihr ArußereS
auch keinen angenehmen Eindruck mehr machen! Dennoch überrascht
sie bei all diesen Mängeln an Reiz, ja wohl gar an Anstand, oft¬
mals durch ein wahrhaft imposantes Wesen, das jedoch mehr den
^nu»! 8<-iA»l!ni' als die Fi-cuick; plump darstellt, und ist eben so
noble und großmüthig, als sie capriciös und aufbrausend sein
kann. Nur männliche Beschäftigungen, Studien und Vergnügungen
vermögen sie zu fesseln. Sie ist reich an Kenntnissen in den mei¬
sten positiven Wissenschaften, wenn diese gleich auch nicht immer sehr
geordnet sind. Sie spricht und liest Französisch, Englisch, Deutsch,
Italienisch; reitet, fährt, jagt, ficht und schießt, aber wie man einen
Saum macheu muß, dürften Sie sie vergebens fragen. Beständige
Bewegung ist ihre zweite Natur geworden. Ein merkwürdiges
„mixtum cnmp<i8i»»in!" rufen Sie aus, und ich gebe Ihnen Recht,
es ist ein Mann-Weib, dem das eigne Geschlecht zuwider ist, ohne
daß jedoch auch das männliche sich ihrer besondern Vorliebe rühmen
dürfte! Wenigstens was Galanterie und deren Auswüchse betrifft,
so sind ihr die im höchsten Grade verächtlich und vermag Niemand
in dieser Hinsicht sie auch nur des leisesten Makels zu zeihen. Wie
liebenswürdig und voll Aufmerksamkeit sie übrigens als Wirthin sein
kann, davon habe ich während meines achttägigen Besuchs bei ihr
selbst die wohlthuendsten Proben erhalten.
Villa-Elisa findet sich noch auf keiner Karte, denn sie ist die
erst seit vier Jahren begonnene Schöpfung der Prinzessin, die vor¬
dem «me weit schönere Besitzung am Gebirge bewohnte, welche sie
an den Herzog von Blacas verkauft hat. Villa-Elisa hieß sonst
„die ^«um-nnlu, tu 8t. Mcolu" und war ein altes Tempelherrn¬
gut, ein unbedeutendes modernes Wohnhaus, ziemlich verwilderte
Wiesen, Felder und Weinpflanzungen, — so erkaufte es die Prin¬
zessin von einem Privatmann und fing an dicht ueben dem großen
und schönen Eigenthum ihres Vaters sich anzusiedeln, denn nur eine
Viertelstunde von Villa-Elisa entfernt liegt Villa-Vicentina, ein Kirch¬
dorf, das auf Specialkarten zu finden ist, woselbst Elisa Napoleon
gebaut und gepflanzt hat und auch begraben liegt.
Der dortige Park, an welchen sich jetzt der neue junge, von der
Prinzessin erschaffene anschließt und welcher im Vereine mit diesem
einen sehr bedeutenden Umfang einnehmen wird, hat, bereits seit 30
Jahren herangewachsen, sehr schöne große Bäume, unter denen ge¬
jagt und gefischt wird, denn auch ein lieblicher Bach, die Mondina,
zieht seinen silbernen Streifen durch das frische Grün hin. Bedeu¬
tende Wirthschaftsgebällde umgeben daselbst ein Schloß, welches öde
und unbewohnt steht, weil die Prinzessin eine Antipathie dagegen
hat, und ungeheure Fruchtböden und eben so große Weinkeller —
jedoch über der Erde, da wenig Fuß unter der Oberfläche immer
Wasser ist — sind gleichfalls vorhanden, wie denn überhaupt Villa-
Vicentini ein Gut ist, welches jährlich 100,000 Franken rentirt und,
nicht zu dem von ihrem Vater gestifteten Majorat gehörend, der
Prinzessin ausschließlich als Eigenthum anheim gefallen,
Villa-Elisa dagegen bringt gar Nichts ein, sondern kostet viel¬
mehr seiner Herrin noch große Summen, da sie sich'ö in den Kopf
gesetzt, einen schönen Landsitz daraus schaffen zu wollen; ein Vor¬
wurf, welcher bei dem größten Aufwande doch nur theilweis gelin¬
gen wird, da das Terrain zu viel Hindernisse darbietet. Wenig¬
stens gehörte das erfinderische und alle Schwierigkeiten besiegende
Genie eines Pückler dazu, um zu seinem Ziel zu gelangen.
Was mich betrifft, mir wäre die Idee in einem so flachen, sum¬
pfigen Boden gar nicht gekommen, wo allerdings gutes Korn, aber
nur schlechter Wein wächst, wo die Berge well entfernt stehn, die
Sommer zu heiß und die Winter kalt und feucht sind.
Gewissermaßen nach Inspiration ihrer Laune führt die Besiz-
zerin von Villa-Elisa hier nur ihre Gebäude auf. Vier große,
mit dem eigentlichen Wohnhause in Verbindung stehende Gewächs¬
häuser sind angefüllt mit den seltensten Pflanzen, während die Stal¬
lungen von den verschiedensten Viehsorten wimmeln. Der schöne
große Platz vor dem Hause bildet ein Bowling-green von Orangen
und Citronenbäumen, hier freilich nicht wie zu Florenz in dem Erd¬
boden fest wurzelnd, sondern in Kübeln aufgestellt und von vielen
köstlichen acclimatisirten Gewächsen gruppenweise umgeben. Eine
Veranda mit Gitterwerk und Schlingpflanzen zieht sich vor den bald
hohen, bald niedrigen Gebäuden her und das Ganze, wenn gleich
unregelmäßig und bizarr, bietet doch einen gefälligen Anblick.
Auch das Wohnhaus hat trotz seiner mannigfachen Anbaue
und Auswüchse viele Bequemlichkeiten und Agremens; es enthält
eine ausgesuchte Bibliothek, reiche Kupferwerke, ein Billard und andre
Spiele, eine gute Küche und einen vollen Keller; nur jenes Heimi¬
sche, was das Herz anspricht, den gemüthlichen Comfort, die Atmo¬
sphäre der Häuslichkeit würden Sie hier vergebens suchen, und zwar
aus dem Grunde, weil die Besitzerin selbst nicht in ihnen zu athmen
versteht. Ueberfluß vermag das nicht zu ersetzen, ja der oft ver¬
schwenderisch unnütze Ueberfluß bringt mitunter sogar einen unange¬
nehmen Eindruck hervor.
Auch ist für die Ruhe der Gäste allzu viel Vieh vorhanden, und
Wallenstein, der bekanntlich weder Hundegebell noch Hahnengeschrei
ertragen konnte, würde nicht eine Nacht hier haben zubringen mögen.
Ich hätte bei der Unsumme von Ratten und Mäusen beinahe Hat-
to's Schicksal gehabt, geriech häufig in Kämpfe mit ihnen und fand
eines Morgens sogar eine zerquetschte Maus im Bett, bei welchen
Anlässen ich dem Katzengeschlecht im Hause noch einige Vertreter
mehr gewünscht.
Ochsen, Kühe, Schafe, Schweine (lauter vorzügliche Racen) und
ein Paar Dutzend Pferde, deren junge Abkömmlinge — denn auch
Pferdezucht wird hier getrieben — in den Wiesen umher laufen,
füllen die Ställe. Die Basse-Cour ist überreich an allem möglichen
Geflügel und ebenso bunt und mannigfaltig zeigt sich die menschliche
Bevölkerung, zusammengesetzt aus Engländern, Franzosen, Deutschen,
Jllyriern und Italienern aus allen Provinzen. Die Fürstin hat eine
besondere Vorliebe für die Engländer, die in der Mehrzahl Haus,
Garten, Ställe und Remisen in Ordnung halten, wodurch das Ganze
sehr gewinnt, wenn es auch viel kostet, doch das berücksichtigt unsre
Heldin nicht. Sehr ergötzlich war es mir, zu vernehmen, wie jene
Kinder des fernen Nebellandes sich sogar auch hier in politische Far¬
ben abtheilen und als Tories, Whigs und Jrländer oder O'Connel-
liften angesehen sein wollen. So halten sie sich auch der Parteien
verschiedene Journale und dcbattiren oft mit vielem Ernst über
ihre Interessen, obgleich es noch nicht bis zu Meetings gekom¬
men ist.
Nur allabendliche Monstre-Versammlungen sämmtlichen Diener-
Personals aus allen Nationen, einige 30 an der Zahl, unter dem
Prüsidio der Tory-Sara, Hausmeisterin und Beschließerin von Villa-
Elisa, finden, vom besten Appetit beseelt, an einem Tische Statt, wo
die Befriedigung des Magens vorerst jede andre Frage in den Hin¬
tergrund drängt, und volle Schüsseln als das wünschenswertheste
Gut erscheinen.
Die kleine Festung Palma nuova, circa acht Miglien von der
Villa entfernt, ist die Grenze von Italien und den illyrischen Pro-
vinzm, in deren Gebiet die Besitzung gehört; Trieft, der Hauptsitz
ihres Gouvernements, liegt acht und zwanzig Miglien weiter, Udine
zehn, Görz, wo die verbannte ältere Linie der Bourbonen lebt, acht,
Aquileja fünf, die nächste Poststation auf der großen Straße nach Wien
heißt Romans.
In der Nähe von den beiden Villen Elisa und Vicentina spricht
man noch ein etwas corrumpirtes Italienisch, da die Einwohner, wie
der Name besagt, italienische Colonisten sind; in geringer Entfer¬
nung aber ist Alles slavisch. Was einen saubern Tuchrock trägt,
spricht auch schlecht oder gut Deutsch. Deutsch und Italienisch sind
die Sprachen der Regierung, der Herrschaft, der Bildung und des
Progresses!
DaS Meer, welches sich von der illyrischen Küste zurückzieht,
hat Moräste hinterlassen, die vier bis fünf Miglien von Villa-Elisa
beginnen, von Aquileja, sonst ein Seehafen, ist es jetzt mehrere Mig¬
lien entfernt, und Malaria herrscht in der ehemals so glänzenden Stadt,
dem Sitz eines Patriarchats, der ehemaligen römischen Kolonie und
Hauptstadt der Venetier. Die Jämmerlichkeit deS jetzigen Aquileja
mit tausend fünfhundert Einwohnern und einem armen Pfarrer, der
früher Caplan in Villa-Vicentina war, läßt sich gar nicht beschrei¬
ben, und das Einzige, was noch Zeugniß von der versunkenen Pracht
gibt, sind die römischen Münzen und Alterthümer, welche man fort-
während daselbst ausgräbt.
Von dem uralten hohen Campanile aus überschauten wir das
weite Lagunenland, welches sich vor uns ausbreitete. Die Prinzessin
erzählte mir dabei, wie im Jahr 1815 ihr Oheim, der einstige König
von Westphalen, sich hier ankaufen gewollt und die Unterhandlungen
mit dem Grafen Cassis, dem fast ganz Aquileja nebst dessen Gebiet
gehört, bereits dem Abschlüsse nahe gewesen. Auch die österreichische
Regierung begünstigte dies Project und wollte dem ehemaligen König
den Titel eines Herzogs von Aquileja ertheilen, als die Rückkehr
Napoleons von Elba Alles wieder über den Haufen stürzte.
Die Grafen Cassis — egyptisch-koptischen Ursprungs — kamen
unter Maria Theresia, vor einer Christenverfolgung fliehend, mit ih¬
ren Schätzen in den Hafen von Trieft und in's Land, sind aber seit¬
dem verarmt und immer verschuldeter geworden, so daß jetzt Advoca-
teil und Prokuratoren in den großen Besitzungen herrschen, deren
Prachtgebäude die schmutzigen Ruinen Aquilejas überragen.
Diejenigen Glieder der Familie, welche in der Nähe von Villa-
Elisa auf ihren Landsitzen wohnen, sollen zur Gesellschaft ganz un¬
tauglich sein, wie denn überhaupt fast gar keine annehmbare Nach¬
barschaft vorhanden, indem die reichen Gutsherrn der Umgegend:
die Strossaldos, Torrianis, Colloredo u. A. sich kaum zur Jagdzeit
sehen lassen und ihre Revenüen in Wien, Trieft oder Venedig ver¬
zehren !
Ein Canal führt aus dem adriatischen Meere nach Cervignano,
dem Kreishauptort, von welchem Villa-Elisa abhängt, und bildet da¬
selbst einen kleinen Hafen, der Transport- und Commerz-Bequemlich.
ketten darbietet. Cervignano ist kaum eine Stunde Wegs von der
Villa entfernt.
Die Regierung thut ziemlich viel für das Land; besonders ist
der jetzige General-Gouverneur Graf Stadion vom löblichsten Eifer
beseelt, und Schulen und Unterrichts-Anstalten, die bis dahin ganz
fehlten oder doch sich in der traurigsten Verfassung befanden, werden
angelegt und verbessert. Die Prinzessin, mit Stadion befreundet,
trägt viel und thätig dazu bei. Auch Brücken, Dämme und Wege
werden in Ordnung erhalten, was hinsichtlich des nur zu sehr im
Ueberfluß vorhandenen Wassers höchst nöthig ist; namentlich zerstört
der nahe Jsourzo nur allzu häufig wieder, was eben erbaut worden. —
Die physische und intellektuelle Bildung der Bewohner dieses
Landstrichs ist übrigens nicht sehr zu loben; die slavische Race ist
häßlich und ihr Wesen hat viel Träges und Abstoßendes an sich. —
Ausflüge in die Umgegend, auf welchen ich mir Notizen der
Art sammelte, Jagd- und Fischpartien und die interessanteste Unter¬
haltung im Hause hatten meinen Aufenthalt in demselben höchst
angenehm verkürzt, so daß mir der Zeitpunkt der Abreise fast allzu
schnell Keranrückte und ich mit den dankbarsten Gesinnungen von un¬
serer gütigen Wirthin Abschied nahm, die übrigens die Villa auch in
den nächsten Tagen schon wieder verlassen wollte. Angestrengte Bewe¬
gung ist ihr stets ein Mittel, sich von körperlichen Uebeln wieder her¬
zustellen, das ihr gern zu Kopf und Brust steigende Blut zu beruhi¬
gen, und so hatte sie denn rasch den Plan entworfen, ihren Sohn
selbst nach Straßburg, wo er unter Aufsicht eines Hofmeisters seu-
dire, zurückzubringen, damit eine Reise an den Rhein und in die
Schweiz zu verbinden und doch in vier Wochen bereits wieder zurück
zu sein. Auf die Angaben ihrer Reisen und deren Dauer soll man
sich übrigens nicht sehr verlassen können. Noch im vorigen Früh¬
jahr hat sie einen Verwandten nur bis Mailand begleiten weiter,
weder Wäsche noch Kleidungsstücke mitgenommen und ihre Rückkehr
auf den sechsten Tag anberaumt, während sie, einmal im Zuge, sich
bis Neapel verirrt und erst nach sechs Monaten wieder zum Vor¬
schein gekommen ist.
Was übrigens den jungen Grafen Camerata anbetrifft, so scheint
mir nicht, als ob die Resultate seiner Erziehung glänzende sein wür¬
den, vielmehr ist diese selbst unter der obersten Leitung einer doch
immer extravaganten Mutter eine ziemlich verfehlte. Seit seinem
sechsten Jahre in der Schweiz bald dieser bald jener Pensionsanstalt
übergeben, dann in Italien und jetzt in Frankreich mögen wohl be¬
reits mehr Systeme an ihm herum gearbeitet haben, als zu seinem
wahren Heil förderlich sind und das alte deutsche Sprichwort „viele
Köche verderben den Brei," wird sich auch an ihm bewahrheiten.
Von Herzen erschien er mir äußerst gut und in seiner Denkungsart
rechtlich) eine solidere Bildung würde auch den Mangel.an Genie
besser ausgeglichen haben.
Seinem wohl überlegten Rückreise-Plan folgend, begab sich Ihr
gehorsamer Diener, der nicht zu den ercentrischen Touristen zu zäh¬
len ist, darauf von Villa-Elisa zuerst nach Trieft und von da nach
Venedig, welche beiden Städte er bereits vor sechszehn Jahren schon
ein Mal gesehen und in seiner Erinnerung wieder aufzufrischen Ver¬
langen trug.
In Trieft fand ich den alten Handels- und Hafenlärm, doch
auch viele neue Vergrößerungen und Verschönerungen. Nur wehte
leider die kalte Bora, der Regen strömte, und auf den Höhen war
Alles mit Schnee bedeckt. In Venedig war das Wetter aber zum
Glück wieder besser geworden. Diese einst so prachtvolle und dann
so heruntergekommene Stadt hat sich, seit sie zum Freihafen erklärt,
wurde, doch etwas wieder in die Höhe geschwungen. Die Marmor¬
paläste sehen nicht mehr ganz so melancholisch aus, da nicht so viele
mehr unbewohnt stehen, und ihr Werth ist auf's Neue einigermaßen
gestiegen. Sonst wurden sie häufig von Engländern gekauft, die sie
abbrechen und in ihre Heimath transportiren ließen.
Einen sehr vortheilhaften Kauf hat übrigens vor Kurzem noch
die Herzogin von Berry gemacht, indem sie den herrlichen Palast
Vendrcmini für 160,000 österreich. Lire, mit Allem, was darin ist, er¬
standen. Allein an Gemälden und kostbaren Marmor-, Porphyr-
und Jaspis-Säulen enthält der Palast einen Schatz von 60,000
Francs an Werth. Wie es heißt, wird die Herzogin künftig ihre
Winter in dem neu erworbenen Eigenthum zubringen.
Im Ganzen sieht sich die Stadt jetzt viel reinlicher an, als vor
Jahren, und der Pauperismus, um die Armuth mit ihrem modernen
Namen zu benennen, hält sich mehr versteckt; Straßen und Kanäle
sind belebter. Des Nachts ist Venedig nun auch mit Gas erhellt,
und diese Beleuchtung bringt in der ohnedies wunderbaren Stadt
einen ganz einzigen Effect hervor; vorzüglich erscheinen der Marcus-
platz mit der Kirche und dem Dogenpalast märchenhaft — unge¬
fähr wie Dekorationen in einer Zauberoper. Der Bau der Eisen¬
bahn durch die Lagunen vermehrt auch das Treiben ringsum; im
nächsten Jahr wird sie fertig sein, und schon fährt man per Dampf
eine gute Strecke auf dem Viaduct in die See hinein. Diese Rie¬
senarbeit macht der neueren Zeit Ehre und kann sich den Unterneh¬
mungen der alten Römer würdig zur Seite stellen.
Viele meinen, wenn die Eisenbahn sertig und im Gange sei,
werde Venedig das Meiste von seiner Eigenthümlichkeit verlieren und
eine gewöhnliche Continentalstadt mit Hafen werden; das hat aber
Nichts zu sagen, seine innere Construction bleibt ja dieselbe, so lange
man nicht alle Kanäle ausfüllt und ein künstliches Festland hervor¬
bringt. Im Gegentheil, der Anblick der vielen Arkaden mitten im
Wasser, die meilenweit fortlaufen und dampfende Maschinen nebst
ihren bevölkerten und beladenen Schweifen gleichsam in der Luft und
durch die Luft tragen, wird noch überraschender und effectreicher sein.
Herbst und Venedig passen recht eigentlich zusammen, obgleich Eins
durch das Andre nur noch trauriger wird. Bäume, Blumen, Gesang
der Vögel sucht man hier auch im Lenz vergebens.
Für mich würde ein längerer Aufenthalt in der ehemaligen Be¬
herrscherin der Meere durchaus nicht ersprießlich sein, denn trotzdem
ich nun schon geraume Zeit die heitern Lüfte von Toscana einathme,
bin ich doch immer noch zu sehr Hypochonder, um dort nicht wieder
ganz in den Fehler der — passen Sie auf, was jetzt für ein impo¬
santes Wort kommt — Heautontimornmenie zu verfallen!
Nicht wahr, das hat Klang? es lebe die deutsche Gelehrsam¬
keit, denn in dem Werk eines unsrer Professoren über deutsche Lite¬
ratur habe ich jüngst den Ausdruck gefunden, der in teutonischer
Sprache ganz einfach — doch halt! Sie können ihn zugleich als
ein Räthsel betrachten, dessen Losung Sie in Spannung hält. Fällt
das Errathen zu schwer, so schaffen Sie sich Heyse's Wörterbuch
an, falls Sie's noch nicht besitzen, und lernen es daraus den deut¬
schen Gelehrten und mir nachthun, wie man mit fremden hochtraben¬
den Worten stolzirt und unverständlich wird. —
Also, um wieder aus Venedig zurückzukommen, so ist die dor¬
tige Stille, nur von dem monotonen Rufen der Gondoliere und dem
dumpfen Getöse ihrer Nuder unterbrochen, Nichts weniger als auf¬
heiternd, und ich begann schon vor Abschluß der Zeit, die ich zu mei¬
nem dortigen Aufenthalt bestimmt, mich nach der anmuthigen Bin¬
nenstadt zurück zu sehnen. Die Abende brachte ich gewöhnlich in
dem ersten Theater Fenice zu, welches recht gut lind fast immer mit
einem zahlreichen Publikum angefüllt ist. Ich sah dort auch den
jungen Admiral und Helden Erzherzog Friedrich, wie er seine Lor¬
beeren der schönen und talentvollen Gräfin Theresa Th... zu Füßen
legte. Man sagt, die Neigung sei ernst, doch scheint es mir trotz der
uralten Abstammung des Grafen Th..., der einen hohen Civilposten
in der Stadt bekleidet, sehr zweifelhaft, ob jemals hier die Myrthe
sich dem Lorbeer gesellen wird. Verbindungen der Herrscherfamilie
mit dem Unterthan gehören zu den Seltenheiten, obwohl von der
schönen Welserin an bis zu der Gattin des trefflichen Erzherzog Jo¬
hann in Steiermark ihre Möglichkeit auch in dem Hause Habsburg
bewiesen worden. Unter den ab- und zugehenden Fremden in Ve¬
nedig sind stets viele Russen, da es hier zwei griechische Kirchen und
einen Archimandriten und Popen gibt, während in dem nahen Li-
vorno wohl auch eine griechisch-orthodoxe Kirche ist, deren Geistliche
aber nur der neugriechischen und der italienischen Sprache mächtig
sind. Nur in Rom ist außerdem noch eine russische Capelle unter
dem Schutze der dortigen russischen Gesandtschaft vorhanden.
Es scheint in der That, daß die Eisenbahnen auch auf die Lite¬
ratur förderlich einwirken, wie es die Grenzboten bereits einmal in
Bezug auf die dramatischen Dichter hervorgehoben haben. Kaum sprin¬
gen die Knospen an den Bäumen unserer Glacisalleen, so steigen un¬
sere jüngeren Literaten auch schon über diese in die Waggons und
lassen sich von den Fittigen des Dampfpegasus in alle Gegenden
Deutschlands entführen. Da sechzig Pfund Gepäck frei ist, so neh¬
men sie so wenig Wäsche als möglich mit und füllen ihr Felleisen
desto fleißiger mit dramatischen Manuskripten, die sie auf ihrer Wan¬
derung alle an Mann bringen wollen. Das wissen aber die Bühnen¬
vorstände Deutschlands recht gut und machen sich größtentheils aus
dem Staube, d. h. gehen gleichfalls auf Reisen, um junge Mann¬
schaft für die gelichteten Reihen ihrer Kunst-Armee zu werben, oder
sich an kleinen Höfen große Orden zu holen und zwei Monate lang
unter engagcmentslustigen Actricen und unflüggen Dramatikern auf
Staatskosten ein herrliches Seigneurleben zu führen.
Hr. v.Holbein, welcher nächstens denRegierungsrathstitel erhalten soll,
verläßt zu Ende des Monats Juni Wien und tritt eine Reise nach
Deutschland an, bei der es ihm hauptsächlich um das Engagement
jugendlicher Künstler zu thun ist, indem einige der hiesigen Kräfte
sichtbar gealtert haben und selbst dem illusionstrunkenen Burgthearer-
Publicum nicht mehr recht genügen wollen und den Wiener Witz her-
auffordern. Korn ist beinahe stimulos geworden und dient schon
zweiundvierzig Jahre, Löwe's lyrisches Feuer wird jetzt schon zuweilen
zur vis comica, und Herr Lucas hat nur ein kleines Rollenfach, in
dem er wirklich anspricht, und auch er zählt schon einige vierzig Le¬
bensjahre. So ist denn der liebenswürdige und vielseitige Fichtner die
einzige Stütze der wichtigsten Partien des Repertoire's, nachdem ein
Herr Richter aus Bremen, den jetzt die Leipziger Bühne engagirt hat,
weil er keine kleinen Rollen spielen wollte, ausgeschieden. An Damen
gebricht es dem Burgtheater freilich nicht. — Saphir hat einen sehr
angenehmen Beweis seiner Beliebtheit erhalten. Gewöhnt, auf einem
glänzenden Fuß zu leben und den Werth des Geldes en gontillinmino
zu betrachten, sind ihm Verlegenheiten :>, 1:< mon-ne:!lip «I'^sri.ixnk
nicht gespart worden. Dieser ist er nun durch das Einschreiten seiner
AnHanger enthoben worden. Seit einiger Zeit lies't man in hiesigen
Blättern die Aufforderung des Advocaten i»r. Neumann an alle Gläu¬
biger des Herrn Saphir, mit ihren Forderungen sich an ihn zu wen¬
den. Diese Forderungen sollen — wenn anders die Volksstimme Got¬
tes Stimme ist — auf ein ziemlich bedeutendes Kapital sich belaufen.
Alles wird bezahlt. Es ist nämlich eine Gesellschaft aus den reichsten
hiesigen Finanziers zusammengetreten und hat eine unverzinsliche An¬
leihe subscribirt, aus der die verschiedenen Gläubiger befriedigt werden
sollen, so daß die gute Laune und die bürgerliche Stellung ihres
Lieblings nicht ferner getrübt werde. Als Garantie für diese Anleihe
wird Saphir's Journal, der „Humorist", in Zukunft von Seiten der
Actionäre verwaltet werden; Saphir erhält für seine persönliche Re¬
daction monatlich die Summe von 2W Gulden C.M. und jeden
Druckbogen insbesondere mit vierzig Gulden C.M. honorirt. Man
erzählt einige sehr lustige Bonmots, die Saphir bei dieser Gelegen¬
heit den Actionären applicirt haben soll. Ich würde Ihnen diese klei¬
nen Details nicht mittheilen, wenn sie nicht eine der wenigen Per¬
sönlichkeiten unserer Wiener Journalistik betrafen, an denen man im
Auslande auch Antheil nimmt, insbesondere aber weil Saphir wenig¬
stens gewohnt ist, daß man etwas über ihn schreibt, sei es nun Lob
oder Tadel. Der größte Theil unserer übrigen Literaten ist von ei¬
ner Empfindlichkeit gegen die kleinste Polemik, von der man sicherlich
in der deutschen Presse keinen Begriff hat. Dadurch, daß diese Her¬
ren gewohnt sind, daß man von der Censur aus jede Reibung und
jeden Angriff zu verhindern sucht, ist ihre Haut so butterweich gewor¬
den, daß der kleinste Hieb ihnen ein Geschrei auspreßt, als stacken sie
am Spieße. Da werden dicke Stoßseufzer über den Mangel an freie¬
rer Prcßbewegung ausgestoßen, und wie Jemand in einem „ausländi¬
schen" oder inländischen Blatt einen motivieren Tadel etwas derb aus¬
spricht, so heulen sie wie die kleinen Kinder. Ich will ein kleines
Beispiel anführen. Ein junger Literat, Namens Sieglander, but in
Fränkl's Sonntagsblättern einige satyrische Ausfalle gegen den musika¬
lischen Kritiker der Theaterzeitung, Herrn Heinrich Adami, sich erlaubt,
weil dieser das Ballet die erste, edelste und erhabenste aller Künste
genannt hat. Darauf schreibt Herr Adami eine „Abfertigung", wo¬
rin folgende Stelle vorkömmt: Wer ist dieser Herr Siegländer? Was
hat er geschrieben, daß er sich erlauben kann, über einen Schriftsteller,
der durch eine lange Reihe von Jahren in dem gelesensten deutschen
Blatte Kunstgegensiände bespricht und sich durch seine bescheidenen
und redlichen Urtheile die Achtung eines ausgebreiteten Lesekreises er¬
worben zu haben glaubt, lustig zu machen? — Dieser Passus ist be¬
zeichnend. Man wird jedem Schriftsteller gerne zugestehen, sein Ur¬
theil gegen eine Mißdeutung so derb, als er will, zu vertheidigen;
aber wenn man dabei dem Angreifenden seine Keckheit vorwirft, weil
er jung und noch Nichts geschrieben hat, so riecht das nach jenem
österreichischen Herkommen, nach welchem jeder Kanzleischreiber und
Polizeisoldat wie ein Gesalbter des Herrn gegen jeden gedruckten Ta¬
del geschützt sein muß. Ich kenne weder Herrn Siegländer', noch habe
ich je etwas von ihm gelesen; ich erfahre aus der Abfertigung des
Herrn Adami zum ersten Male, daß ein solcher Schriftsteller hier eri-
stirt. Aber wäre er der jüngste aller Literaten in den fünf Weltthei-
len und wäre Herr Adami Goethe, Schiller, Shakspeare, so stände
jenem das Recht zu, ihn nach Belieben zu tadeln. Die Literatur ist eine
Republik und keine Bureaukratie. Wo wäre das deutsche Schrift-
thum, wenn jeder jüngere Schriftsteller in Ehrfurcht vor dem erster¬
ben müßte, „der durch eine lange Reihe von Jahren in dem gelesen¬
sten deutschen Blatte Kunstgegenstände bespricht" u. s. w. Wenn nur
erst die Bahn zu einer ehrlichen freimüthigen Kritik offen wäre .......
dann solltet Ihr noch andere Dinge hören, verehrte Herren! Betet für
die Censur; an dem Tage, wo sie stirbt, stirbt eine große Zahl von
Euch mit, eben weil Ihr eine lange Reihe von Jahren--und
so weiter.
Der alte lustige Castelli gibt jetzt eine ausgewählte Sammlung
seiner Schriften, die wohl mehr als hundert Bände betragen, in drei¬
zehn Bänden heraus. Einen schweren Schlag hat die hiesige Jour¬
nalistik durch das Abtreten des Dr. Groß-Hofsinger erlitten, dessen
gesinnungsvolle und geistsprühende Feder nicht wenig zur Verherrlich¬
ung im Auslande beigetragen; der würdige Mann gab zuletzt noch
ein wohlfeiles Tageblatt: „Vindobona" heraus, ganz im Format zu
Pfesserdütcn. Trotzdem ging es nicht und kostete doch nur dreißig
Kreuzer monatlich! Da dachte sich der schwergeprüfte Publizist, das
Wiener Publikum ist unverbesserlich, und legte die trockene Feder nie¬
der. Zuerst verlangte er von der Staatsverwaltung in ziemlich dicta¬
torischer Weife zwölftausend Gulden Entschädigung, oder eine lucra-
tive Stelle, denn, dahin ging seine Argumentation, man habe ihn
durch Vorspiegelungen nach Oesterreich gelockt und ihn dann auf's
Eis gesetzt. In Wahrheit that der Staat sehr viel für den Erredac-
teur; man zahlte ihm in der Form von Pränumeration auf zweihun¬
dert Exemplare eine nicht unbeträchtliche Subvention und ertheilte ihm
überdies eine Concession, wie sie kein anderes Blatt der Monarchie
besitzt, selbst die Wiener Hofzeitung nicht. Mit dieser geriet!) der Herr
Doctor auch bald in Conflict, da er sich erlaubte, politische Nummern
zu bringen, ohne sie stempeln zu lassen, und Ankündigungen aufzuneh¬
men, ohne dafür einen Pachtschilling zu entrichten. Die Behörde ließ
das geschehen, bis endlich die Eigenthümer jener Zeitung klagend auf¬
traten, und es nun dem Herrn Groß-Hofsinger untersagt wurde, fer¬
nerhin politische Nachrichten ohne Stempel zu geben und Inserate
aufzunehmen, da für das Privilegium des Anzeigeblattes die Heraus¬
geber der Wiener Hofzeitung die jährliche Summe von zweiundvier¬
zig tausend Gulden an den Staat bezahlen. Seither laborirte sein
Journal an Abonnentenmangel und ist jetzt selig entschlafen. Eine
Tabaktrafsik in der inneren Stadt, die ihm verliehen wurde, wird ihn
ohne Zweifel für seinen zweideutigen Ruhm (?) entschädigen.
Der Verein zur Besserung entlassener Sträflinge, der anfangs
auf so vielfältige und hartnäckige Hindernisse stieß, hat am 2. Juni
seine erste Generalversammlung gehalten und den durch gediegene pub¬
lizistische Werke bekannten Regierungsrath Graf Barth von Barthen-
heim zum Director erwählt. Der Verein zählt jetzt schon eintausend
dreihundert vierundzwanzig Mitglieder mit dreitausend neunhundert
dreißig Gulden Beiträgen; sechstausend dreihundert Gulden erhielt der¬
selbe an Geschenken und zweitausend fünfhundert siebenzehn Gulden
in Staatsschuldverschreibungen, so daß die Geldmittel, worüber man
derzeit verfügen kann, die Summe von zwölftausend fünfhundert Gul¬
den übersteigen. Wacker ist jedenfalls die Tendenz des Vereins,
und besonders deshalb beachtenswerth, als er hier den ersten
Schritt bildet, der zur Milderung des moralischen und physischen Elends
auf materiellem Wege gethan wird, da man nachgerade einsieht, wie
heuchlerisch und niederträchtig es sei, die abgemagerten Hände des
Unglücklichen zum Gebet zu falten und ihn auf Gott zu verweisen,
statt ihm zu helfen und ihn Theil nehmen zu lassen an der brechen¬
den Tafel des Ueberflusses, die vor dem Prasser steht. Diese pietisti-
sche Nichtswürdigkeit, welche die Augen fromm verdreht und mit der
Hand den Beutel zuhält, ist sonderlich in Preußen zu Hause, wo
man Kirchen baut statt Arbeitshäuser und die Droschkenführer in die
Messe schickt, wahrend die Husaren die hungrigen Weber in Schlesien
in die Pfanne hauen. Der wahre Triumph der Humanität wird aber
darin bestehen, daß man vor dem Fallen bewahrt, nicht die Gefallenen
schirmt. Auch den Gefallenen gebührt Sorgfalt und es bleibt dies
immerhin ein schönes Wirken, aber schöner noch ist die Sorge um
den Redlichen, den die Armuth noch nicht verführt hat, und der blos
einer schützenden Hand bedarf, um niemals zu straucheln. Das sind die
Leute, die man zum Gegenstand der öffentlichen Wachsamkeit machen
muß, denen ihr Nichts zu geben braucht als Arbeit, um sie glücklich
zu machen. Kümmere sich die Gesellschaft um diese nicht, und schenkt
sie ihre Zärtlichkeit blos den Verbrechern, die weniger standhaft gewe¬
sen in ihrem Stoizismus, so lenkt sie den Verdacht auf sich, aus sei
die Quelle ihrer Mildthätigkeit nicht Menschenliebe, sondern die
Furcht vor der Energie des Verbrechens!
Die Empörung der Fabrikarbeiter in Prag dürste Ihnen durch
deutsche Blätter bereits bekannt geworden sein; die österreichischen be¬
obachten, wie gewöhnlich, ein aufgedrungenes Stillschweigen und ihre
Redactcure lesen dann als Neuigkeit in der Augsburger Allgemeinen
Zeitung, was sie schaudernd selbst erlebt. Daher nicht selten die Er¬
bitterung der Correspondenzartikel aus Wien. Wäre diesen eine Be¬
sprechung, wenn auch eine censurüberwachte, gegönnt, diese Behörde
bekäme dann keine so bitteren Pillen zu schlucken, als gewöhnlich ge¬
schieht. Die Allgemeine Zeitung zählt viertausend Abonnenten in Oe¬
sterreich, somit erhalten die in ihr mitgetheilten Nachrichten eine grö¬
ßere Publizität, als wenn sie in allen österreichischen Journalen zusam¬
men abgedruckt wären. Wie wohlwollend die Augsburgerin über Oe¬
sterreich berichtet, ist bekannt; nun aber die Berichte in der Kölner
Zeitung, in der Oberpostamtszeitung u. s. w. Das Unpraktische die¬
ses Verfahrens ist selbst der Eensurbehörde klar und scheitert vielleicht
an der Eigenwilligkeit Einzelner. Soll der hiesige Journalist an die
Hofkanzlei (welche ungefähr unser Obercensurcollegium bildet) appelli-
ren? Bei ihrer höheren Einsicht ist vielleicht oft Erfolg zu hoffen,
aber etwa nach Wochen, wenn die Neuigkeit keine mehr ist, und so
ist dieser Appellationsweg nur Büchern oder Aufsätzen, die an keine
Zeit gebunden sind, offen. Nur die (k. k. privilegirte) Prager Zeitung
machte die offizielle Mittheilung der vorgefallenen Excesse und nannte
die Polizei als zwei Tage früher von ihnen unterrichtet!! die aber die
Thätlichkeiten nicht verhindern konnte. Die Arbeiter verlangten die
Abschaffung der Perontie-Maschinen und zerstörten auch einige in
verschiedenen Fabriken. Thatsache ist es, daß alle Arbeit eingestellt
und laut eines uns vorliegenden Briefes die Ruhe nach sechs Tagen
noch nicht ganz hergestellt ist. So schmerzlich und verlustempsindlich
diese Vorfalle sind, so dürfte ein noch Empfindlicheres für die Fabri¬
kanten der Monarchie dadurch abgewendet sein, nämlich die vom Fi¬
nanzminister, Freiherrn von Kübel, projectirte Aufhebung des Prohi-
bitiv-Systems, welche bereits im verflossenen Jahre beschlossen und
durch bildliche Vorstellung der Fabrikanten verschoben wurde. — Fa¬
briken und Straßen sind mit Militär und Kanonen besetzt, die Weiber
der eingezogenen Arbeiter durchjammern mit ihren Kindern die Straßen
und erzwecken die Freilassung ihrer Männer.
Die Reibungen zwischen der hiesigen Bürgerschaft und ihrem
Bürgermeister setzen sich fort und es ist davon die Rede, daß er nach
Prag als Hofrath befördert werde, eine Auszeichnung, die er unter so
zweifelhafter Beleuchtung ausgeschlagen haben soll. Als er sich bei
unserem eben so liberalen als liebenswürdigen Censurhofrathe von Malz
darüber beklagte, daß man die Nummern jener Blätter, namentlich der
Oberpostamtszeitung, die sein Verfahren besprochen, nicht unterdrückt,
erhielt er die gradsinnige Antwort, daß er selbst dasselbe nicht anders
melden würde. — Oehlenschläger befindet sich seit einigen Tagen in Wien
und wurde im Salon des Fürsten Metternich von diesem der Fürstin
mit den Worten vorgestellt: „Dies ist der Dichter, der sich nicht be¬
gnügt, die Herzen in Einer Sprache zu erobern, er schreibt dänisch und
deutsch." — Die Verleihung des Ordens i»mir lo mvritv an den
italienisch-österreichischen Dichter Manzoni brachte den seltsamen Um¬
stand wieder zur Sprache, daß ihn von österreichischen Unterthanen
bis jetzt ein Ungar (Liszt), ein Slave (Copitar), ein Italiener (Man¬
zoni) und noch kein Deutscher erhalten hat. Wahrscheinlich um der
Nothwendigkeit auszuweichen, ihn Grillparzer und Hammer ver¬
leihen zu müssen. Ich bemerke nebenbei, daß ein Dichter oder
Gelehrter in Oesterreich, wenn er ausschließlich ein solcher ist, nicht
ordensfähig ist. Der Ausspruch eines bereits verstorbenen hohen Staats¬
mannes: ,-,Ein Büchelmacher verdient kan Orden" ist sprichwörtlich
geworden. Doch ist es zweifelhaft, ob Manzoni den Orden annimmt,
da er das Kreuz der Ehrenlegion vor einigen Jahren mit Dank zu¬
rückgewiesen. Dasselbe erhielt so eben der gelehrte Scriptor unserer
Hofbibliothek, Herr Ferdinand Wolf.
So eben erfahren wir, daß ein in Ihrem Blatte bereits ange¬
kündigtes Werk: „Eine Criminalstatistik Oesterreichs" von der Cen¬
sur verboten worden sei, trotzdem daß der Versasser, Freiherr von Sa-
maruga (Sohn des staatsreferentlichen Hofraths) von Sr. Excellenz
dem Grafen Thaafe aus amtlichen Quellen zu schöpfen die Erlaubniß-
erhielt und dieser die Dedication des Werkes angenommen hatte.
Zwei Dinge haben in der letzten Woche die Unterhaltung viel
beschäftigt: erstlich die Reden, die der Prinz von Preußen als Gro߬
meister der preußischen Freimaurer-Logen am Johannistage in der
großen Loge „zu den drei Weltkugeln" gehalten, und zweitens ein im
Kroll'schen Garten angefangenes und im „Odeum" fortgesetztes De¬
ines zwischen zwei Herren, die, da sie zu den sogenannten höheren
Standen gehören, durch das rücksichtslose Verfahren, das dabei gegen
einige Frauen beobachtet wurde, den Unwillen des Publicums um so
mehr auf sich gezogen haben. — Was zunächst das Freimaurerfeft
betrifft, so sollte man sich allerdings darüber wundern, daß die Ge¬
heimnisse der „Brüder" jetzt so unter die Leute kommen, aber wir
haben daran nur zu erkennen, daß der Drang nach Oeffentlichkeit
auch in dieser Sphäre den Sieg über die Geheimnißkrämerei davon¬
trägt. Bald wird es keines Eugen Sue mehr bedürfen, um uns
Mysterien zu enthüllen, denn wo das Wohl der Menschheit betheiligt
ist, da kann und darf es keine Mysterien geben. Also auch ohne in
die Geheimnisse des Maurerthums eingeweiht zu sein, weiß hier alle
Welt, daß der Prinz von Preußen in einer eindringlichen Rede unsere
Gesetzgebung in Schutz genommen und dabei den Toast auf das Wohl
seines königlichen Bruders ausgebracht habe. Der Prinz Friedrich der
Niederlande als Großmeister der holländischen Freimaurer und viele
Deputirte anderer großen Logen waren dabei als Gäste anwesend. —
Jene beiden Herren, die wegen Beleidigung von Frauen an zweien
öffentlichen Orten einen Lärm veranlaßten, dem sich ein Dritter anschloß,
welcher dabei den Säbel zog, wollen ihre Sache durch ein Duell aus¬
fechten, das jedoch — es mag nun ausfallen, wie es wolle — Nichts
dazu beitragen kann, die Beleidigung wieder gut zu machen, die durch
jenen Vorfall der öffentlichen Sitte zu Theil geworden. — Die Be¬
wegungen an unserer Börse haben sich nach 'Ablauf des verhängniß-
vollen letzten Juni — an welchem allerdings mehrere, jedoch nur sehr
unbedeutende Lichter verlöscht sind — gelegt, und auch der Schrecken
über die Actienordonnanz vom 24. Mai hat sich allmälig verloren, so
daß nun bald wieder Alles in das alte Geleise zurückgekehrt sein und
eine neue Schnellfahrt beginnen wird — freilich mit verminder¬
tem Muth und mit größerer Vorsicht. Große Freude hat es erregt,
daß der würtenbergische Geheime Rath den Antrag einiger hiesigen
Capitalien, die Eisenbahnen daselbst auf eigene Rechnung und nur
unter ähnlicher Betheiligung des Staates, wie bei der Hamburger
Bahn, zu erbauen, abgelehnt hat. Es würde dadurch die hiesige Börse
nur in noch größere Verwickelungen gekommen sein, und bei den au¬
ßerordentlichen Terrainschwierigkeiten Würtembergs werden die dortigen
Eisenbahnen sehr bedeutende Kosten und in den ersten zehn Jahren
gewiß auch eben so bedeutende Einbußen den Unternehmern verursa¬
chen. Nun sind zwar unsere süddeutschen Freunde durch den Zoll¬
verein daran gewöhnt worden, daß wir norddeutsche durch Versteue¬
rung des französischen Weins, den wir trinken und sie nicht, so wie
durch den Mehrverbrauch von Kaffee und Zucker, einen Theil ihrer
Staatsausgaben tragen, wie wir ihnen auch ihre Grenzsestungen bauen
helfen, während wir die unserigen an der russischen und polnischen
Grenze allein bauen müssen; aber es wäre doch in der That etwas zu
viel, wenn wir nun auch ihre theueren Eisenbahnen mit unserem Gelde
bezahlten. Recht naiv waren die Artikel, die von Stuttgart aus über
diesen Gegenstand in der Augsburger Allgemeinen Zeitung erschienen.
Denn so sehr wir auch damit übereinstimmen, daß es besser sei, wenn
der Staat und nicht die Privatspeculation den Bau der Eisenbahnen
übernimmt, so haben wir doch über das Geschrei lächeln müssen, wel¬
ches Jene darüber erhoben, daß sich einige „Wucherer" erboten hat¬
ten, ihr Geld in würtembergischen Eisenbahnen anzulegen. Die abscheu¬
lichen Wucherer! — An der in diesem Jahre hier bedeutend verminderten
Baulust merkt man es recht, daß sich die Speculation mit ihren
Kapitalien einem anderen Gegenstande zugewendet hat. Inzwischen
laßt der König die von ihm begonnenen Bauten mit Eifer fortsetzen,
so daß wenigstens unter dieser Art von Arbeitern keine Noth herrscht,
während freilich auch in unseren Baumwollenfabriken und Kattun-
druckereien, eben so, wie in Schlesien und Böhmen, mancher Arbeiter
feiert. Inzwischen fürchtet man doch nicht, daß es hier zu ähnlichen
Excessen kommen werde, wie in Petcrswaldau, Langcnbielau und Prag,
da vorauszusehen ist, die Regierung werde nach den gemachten Er¬
fahrungen die Fabrikanten in dem Bestreben, ihre Arbeiter zu beschäf¬
tigen, so viel als möglich unterstützen. — Unserem Marinemaler, Pro¬
fessor Krause, dem es im vorigen Jahre gelungen, auf der Reimer-
schen Gemäldeauction einen schönen Murillo, den „barmherzigen Sa¬
mariter" herauszufinden und für wenige Thaler zu erstehen, verdanken
wir jetzt auch den Besitz eines der ausgezeichnetsten Bilder des alten
niederländischen Malers Ferdinand Voll, nämlich seiner „Sängerin
Vincentina", die Krause einem Privatmann in Königsberg für tau¬
send Thaler abkaufte, und die für jede Bildergalerie mindestens den
dreifachen Werth hat.
— Aus Marocco. (Privatmittheilung!) Geehrtester Herr Re¬
dacteur! Sie müssen sich durch das Datum dieses Briefes nicht ir¬
ren lassen; Schreiber dieser Zeilen ist nicht aus den mohamedanischen
Raubstaaten, sondern aus Lobenstein, also eigentlich auch ein Deut¬
scher und hat sogar Philologie studirt. Als stellvertretender Secretan
des H. Attache des fürstlich Fliedersheimschen Gesandten am Hose Sr.
Majestät des Kaisers von Fez und Marocco, ist er in die auswärtige
Politik eingeweiht und hat die diplomatische Carriere nicht ohne hohe
Protection und vielversprechende Aussichten betreten. Da er indeß
schon früher sich mit der Literatur beschäftigte und auch jetzt noch in
etwas genirenden Verhältnissen lebt, glaubt er dem Beispiel jener jun¬
gen Diplomaten, die durch politische Correspondenzen sich im Hos-
und Cabinetsstvl üben, um so eher folgen zu dürfen, als er in der
That durch Ihr geschätztes Blatt sich ein wesentliches Verdienst um
Lobenstein und das übrige Deutschland zu erwerben schmeicheln kann.
— Ich bin, offen gesagt, kein Radicaler, weil dies mit meiner Stel¬
lung durchaus nicht vereinbar wäre; allein, obschon ich seit einigen
Jahren im Schatten des maroccanischen Thrones lebe und von Sr.
Majestät mehrmals mit besonderer Huld angeblickt wurde, habe ich
noch nicht allen Patriotismus verlernt; namentlich erwachte mein deut¬
sches Herz, als ,es sehen mußte, wie auch hier das Franzosenthum
einzudringen und durch seine sittenlosen, anarchischen Ideen das Hei¬
ligste zu untergraben bemüht ist.^ Meine gegenwärtige Tendenz ist
daher, erstens die undeutschen Einflüsse in Marocco zu bekämpfen, und
zweitens ein innigeres Verständniß zwischen dem maroccanischen und
dem germanischen Element zu vermitteln; daß hier auch weitere prak¬
tische Zwecke verfolgt werden,dürften Sie später selbst erkennen. In den
nachfolgenden Notizen schildere ich Ihnen vorläufig die hiesigen Zu¬
stände, wie sie sind, nicht wie sie mit gewohnter Lügenhaftigkeit von
den Pariser Blättern dargestellt werden.
Ich kann mir denken, daß man bei Ihnen Marocco für einen
barbarischen Staat hält. Es liegt das im Wesen der modernen Ober¬
flächlichkeit. Man kann jedoch darüber nur lächeln; denn was soll
nicht Alles barbarisch sein? Ist doch sogar Rußland dieser Vorwurf
gemacht worden! Marocco ist, nächst Modena und dem nordischen
Kaiserthum, einer von den sehr wenigen Staaten, die man Staaten
der Ordnung nennen darf; dieser Vorzug ist um so höher anzuschla¬
gen, als neuerdings auch die Türkei, der Hauptsitz legitimer Macht,
zu wanken beginnt und durch die Künsteleien der propagandistischen
Politik völlig zerrüttet ist. Die natürliche patriarchalische Verfassung
ruht hier auf unerschütterlichen Säulen; Thron und Altar sind eine
unüberwindliche Einheit, und in der Person Sr. geheiligten marocca-
nischen Majestät ist nicht nur alle Staats-und richterliche Gewalt
concentrirt, sondern sie ernennt und befehligt auch unmittelbar alle
Erecutivbehörden, vom obersten Bey, dem Minister der Aufklärung,
bis zum Gehilfen des Henkers; sie regiert und gubernirt, darin liegt
die sicherste Bürgschaft, daß kein Unrecht, sondern stets nur der wirk¬
liche Wille des Alleinherrschers geschehen kann. Mulei Abderrha-
man hat in großsinniger Weise das tiefste Bewußtsein seiner er¬
habenen Stellung ausgesprochen und das Unwürdige jeder sogenannten
konstitutionellen Beschränkung am besten durch die einfachen Worte
bezeichnet: er begreife nicht, wie man ihm zumuthen könne, Sklave
seines gegebenen Wortes zu sein. In der That kennt man hier zu
Lande diese kleinliche Nachrechnerei nicht, sondern es herrscht das un¬
bedingteste Vertrauen. Und Seine Majestät hat im Laufe einer
segensvollen Regierung, deren Angedenken durch herrliche, über Gene¬
rationen hinausreichende Königsthaten fest gegründet ist, bewiesen, daß
der vernünftige Fortschritt nur von einem überlegenen, die Weltver- >
Haltnisse und die Menschen kraft seiner hohen Geburt klar überschauen¬
den Geiste ausgehen kann, wenn er in seinen Mitteln und Waffen
vollkommen unbeschränkt ist. Daß der Kaiser dieser, von allwaltender
Vorsehung erwählte Geist ist, lies't man unverkennbar in seinen Zü¬
gen. Mulei Abderrhaman ist ein großer und starkgebauter Mann von
hübschem Antlitz, dem der weit herabwallende, mit einzelnen Silber¬
haaren gezierte schwarze Bart ein imposantes militärisch prophetisches
Ansehen gibt; auf seine Stirne hat ver Herrschaft Genius den glor¬
reichen Stempel geprägt und sein Blick soll in herablassender Milde
auf die Frauen des Harems eben so magnetische Kraft äußern, als
er, auf den Sklaven gerichtet, durchbohrend und gleichsam erstarrend
ist. Wie die griechischen Völker der Levante sich von dem Jupiter¬
kopf des nordischen Weltherrschers erzählen, so ist unter den Stäm¬
men des abendlichen Atlas von dem „Strahlenhaupt" des echten Ab¬
kömmlings des Propheten eine allgemeine Rede. Nichts gleicht der
Grazie, mit der Mulei Abderrhaman zu Pferde sitzt oder die Pfeife
raucht, und, wie Eingeweihte flüstern, könnte mancher hochgepriesene
Mime von der Art, wie er das Schnupftuch wirft. Bedeutendes für
Kunst und Heldendarstellung lernen. Von dem reichen Geist des
maroccanischen Alleinherrschers zeugen zahllose Anekdoten, die, vom
Hofe ausstrahlend, sich wie plätschernde, gemüthlich und wohlthätig
anregende Lebensquellen über die sandigen Flächen des Landes ver¬
breiten. Mulei Abderrhaman hat ein unbedingtes Recht über das Le¬
ben jeder Creatur in seinen Staaten; und sein glorreicher Vorfahr
Mulei Ismael, t>er im volksthümlichen Bewußtsein der Herrschergewalt
mit großartig barockem Humor zu tändeln liebte, pflegte, wenn er zu
Pferde stieg, jedesmal dem aufwartenden Sklaven den Kopf abzu¬
schlagen; Äbderrhaman ist mehr von religiös melancholischen Sinn er¬
füllt und vergießt nur selten theurer Diener Blut, wenn er nicht
gereizt wird. — Beiläufig bemerkt, hat seine Majestät durchaus kei¬
nen Anstand genommen, den Hoheitstitcl, dem unser theurer Landes¬
fürst sich beizulegen geruhte, freundlich anzuerkennen.
Der musterhafte Geist, der die Armee beseelt, ist wohl nur der
Frömmigkeit des Kaisers zuzuschreiben; die Truppen stehen unter der
Aussicht der Mvllahs, welche sie täglich zu den vorgeschriebenen Ge¬
beten und Waschungen anhalten, und an den Fasttagen werden die
Garderegimenter im Hof des Palastes oder in der Moschee einge¬
schlossen, damit kein Frevel geschieht. Außerdem pflegt der Kaiser die
obersten Offiziere zu seinen religiösen Uebungen und Disputationen
zu beordern, und der jetzige Feldmarschall-Bey soll seine schnelle Er¬
hebung wesentlich dem Fanatismus verdanken, den er bei diesen Er¬
bauungen an den Tag legt. Die Lieutenants und die Fähndrichs
zeigen ein viel Solideres Wesen, als in andern Ländern, und gehören
zu den frömmsten Soldaten der Armee. Da die Uniform eine von
Gesetz und Sitte geheiligte ist, so beschränken sich die Reformen gro-
ßentheils auf die Bartpflcge; darin aber hat Mulei Äbderrhaman, im
Sinn einer vorgeschrittenen Zeit, wahrhaft schöpferisches geleistet. —
Der Kunstsinn des Kaisers und das lebhafte Interesse, das er
an den geistigen Productionen aller Völker nimmt, äußert sich in
wunderbar vielseitiger Weise. Seine Majestät hat sich die Porträts
sämmtlicher europäischen Fürsten kommen lassen, damit er sich täglich
durch Autopsie von ihrem guten Aussehen und Wohlbefinden über¬
zeugen kann. „Sie sind alle meine Brüder", sagte er, „der größte
wie der kleinste;" ein Beweis, wie sich die strengste Religiosität mit
aufrichtiger Duldsamkeit vereinen läßt.
Da man jetzt so vielfach sich mit Colonisationsplänen beschäftigt,
warum hat man noch gar nicht an Marocco gedacht? Dieses Land
ist wie geschaffen für deutsche Auswanderer; ich meine nicht blos solche,
die in der weiten Welt ein dürftiges Brod suchen, sondern Leute aus
höhern und namentlich gelehrten Ständen. Um nur von den Philo¬
logen zu sprechen, welch ein Gewinn für sie wäre der Atlas, dieses
Gebirge, das bei den Alten eine so fabelhafte Rolle spielte! Noch
sind in seinen Schluchten Alterthümer genug vergraben, um ein gan¬
zes archäologisches Cabinet zu füllen. Das Marocain ist so billig,
wie in Deutschland das Schweinsleder. Die Munificenz Sr. Majestät
aber ist allbekannt;'am wenigsten kommt es ihr, dem Ausland gegen¬
über, auf einige Orden oder Titel an. Meines Wissens hat leider
noch kein deutscher Gelehrter eine maroccanische Auszeichnung erbat-
ten; und daran ist blos unsere schwache nationale Haltung und vor
Allem unsere Ohnmacht zur See schuld.
Bald hatte ich einen wichtigen Punkt vergessen, der für die politische
Weisheit, die vernünftige Humanität dieses Staates zeugt und
für den deutschen Ansiedler ein unschätzbarer Vortheil wäre: hier hat
er nicht die jüdische Concurrenz zu fürchten, die ihm, und gerade nur
ihm, in Europa so viel trauriges Herzleid bereitet. Hier kann es
nicht passiren, daß man mit einem gebildeten, oder wohlhabenden oder
gar beide Eigenschaften vereinigenden Manne spricht und hinterher
erfahren muß, es sei ein Jude; in keiner Gesellschaft wird das Auge
durch den Anblick von Aerzten, Schriftstellern oder Künstlern belei¬
digt, die eigentlich Juden sind. Eben so wenig wird der Handels¬
mann, der Handwerker oder Krämer sein Gewerke durch die Theil¬
nahme dieser ganz undeutschen Race verunehrt sehen und mit ihrem
unbefugten Fleiß und Geschick concurriren müssen. Endlich wird Ei¬
nem der widerliche Eindruck erspart, wirkliche Deutsche zu sehen, die
in moderner Sentimentalität und Selbstvergessenheit mit diesen Leu¬
ten wie mit ihres Gleichen umgehen. Mancher Staat ist einmal da¬
zu verurtheilt, eine große Anzahl Juden unter seinen Unterthanen zu
zählen, und kann sich ihrer nicht entledigen; denn sie sind anmaßend
genug, ihre Existenz damit zu entschuldigen, daß sie seit mehr als tau¬
send Jahren da seien; als ob ein Unrecht durch die Zeit zum Recht
würde. Warum haben solche Staaten nicht den Muth, Marocco's
Beispiel zu folgen? Marocco hat diese unangenehme Menschenclasse
in die ihr gebührenden Schranken gewiesen, innerhalb derselben aber
ihr jede menschliche Freiheit gelassen. Sie zahlen eine sehr einträgliche
Kopfsteuer und können dafür auf bestimmten abgelegenen Plätzen
wohnen und ihre Todten begraben; sogar eine gewisse Sorte von Ge¬
werben ist ihnen zum Lebensunterhalt gestattet, so dürfen sie z. B.
Wasserträger, Kanalraumer und Abdecker werden; wo ich nicht irre,
sind sie zu letzterer Hanthierung sogar verpflichtet. Und ich gestehe
gern, daß mir ein solcher Jude weniger unangenehm ist, als ein gebilde¬
ter, den ich am Ende als ebenbürtigen Menschen behandeln soll. Die
schwere körperliche Arbeit hat den Vortheil, daß sie keine höheren Be¬
dürfnisse in ihnen aufkommen laßt, so daß die übrige Bevölkerung
vor jeder neidischen Regung bewahrt ist. Selbst den Judenhaß kennt
man hier nicht, da der Haß in der Verachtung untergeht, die ihr Zu¬
stand einflößen muß. Man lege nur die falsche Scham ab und handle
auf ähnliche Weise, so wird das ekelhafte Geschrei nach Judeneman¬
cipation bald aufhören.
Nach diesem Allen können Sie sich denken, welches hier die all¬
gemeine Stimme über das Aerwürfniß mit Spanien ist. Wahrlich,
Spanien hat durch seine curiose Empfindlichkeit seine politische Un¬
reife sattsam erwiesen. Sie haben vielleicht gehört, daß jenes Land
hier einen Consul, Namens Darmont hatte, der — eigentlich ein Jude
war. Denken Sie, das ritterliche, altkatholische Spanien, welches
selbst in bessern Tagen das heroische Beispiel gab und sämmtliche Kin¬
der Israels aus dem Lande trieb oder verbrannte! Wenn das Ca-
binet von Madrid selbst nicht so viel Zartgefühl hatte, um das Un¬
schickliche und Peinliche dieses Verhältnisses zu erkennen, so sollte es
wenigstens dem hiesigen Cabinet danken, das so delicat war, um im
Stillen für es zu 'handeln. Mulei Abderrhaman, in edler Weise
der uralten Fehden zwischen Mauren und Spaniern vergessend, ließ
nämlich diesem Darmont durch eine feine diplomatische Wendung den
Kopf abschlagen. Daß Frankreich mit seinem hohlen Liberalismus
darüber aufbrausen würde, ließ sich erwarten; aber Spanien hatten
wir mehr Tact und weniger Donquiroterie zugetraut.
Zum Schlüsse möchte ich Sie bitten, in meinem Namen der
deutschen Presse zu bedeuten, daß es sehr unklug wäre, gegen einen
Staat von dem Umfang und der Macht Maroccos fortwährend mit
kränkenden Spötteleien zu polemisiren, wie es seit einiger Zeit, in Be¬
zug auf einen großen nordischen Staat, Mode geworden ist. Die
deutschen Zeitungen wissen gar nicht, wie sehr sie die Censur nöthig
haben, da selbst diese sie nicht vor gefährlichen Verirrungen behüte»
kann. Mit wahrer Genugthuung las ich gestern in der Allgemeinen
Zeitung eine warnende Notiz der Art, die von einem wohlwollenden
und in die Verhältnisse tief eingeweihten Manne herrührt. Noch einmal,
es ist sehr unklug, die Sympathien jener großen Mächte zu verscher¬
zen, die am Ende die einzige Bürgschaft für den Bestand Verkleinern
Souveränetaten bei uns sind. Man sollte doch so viel sehen, daß
gewisse Meoiatisirungsgclüste noch immer nicht ganz eingeschlafen sind.
Hochachtungsvoll Ihr ergebenster :c. -c.
— Die schönsten Worte sind heutzutage am wenigsten eine
Wahrheit; ganze Zeit - und Nationalstimmungen, die sich mit vollen
Backen ausposaunen, werden oft durch Ein vielsagendes Factum
schneidend widerlegt und zeigen sich als die hohle Blase, die sie
sind. Ja, man hat auf manchen Seiten eine förmliche Manie, Nichts
rein zu lassen und überall eine Spur seiner Erbärmlichkeit anzubrin¬
gen; ich denke dabei stets an die Erzählung eines Reisenden, der sich
beklagte, daß ihm in Preußen die schönsten Gegenden seltsam verlei¬
det wurden; bald sah er bei einer romantischen Schloßruine am Rhein
die schmutzigen Jacken preußischer Husaren zum Fenster heraushängen,
bald drängte 'sich auf dem schönsten Punkt, auf dem eigentlichen Bel-
vedere einer malerischen Gegend — das Zuchthaus vor mit frechro-
lhen Ziegelmauern. Der Mann war unstreitig ein Hypochonder, aber
etwas Wahres ist doch dran. Auch uns wird, die „schöne Ge-
gerd" der Tagesgeschichte nach jedem Gesinnungstrompetentusch durch
>eine factische Gegendemonstration verleidet. Nicht in denen aber, die
mit Fingern darauf weisen, liegt der Hohn, liegt die Bitterkeit, son¬
dern in den Thatsachen selbst. Wer wollte es läugnen, daß der Kö¬
nig von Preußen persönlich erfüllt ist von ritterlichem Sinn und
Streben ? GelingtHm es aber, diesen Geist auch der preußischen Wirk¬
lichkeit einzuhauchen, oder siegt nicht vielmehr, wo es zum Thun
und Lassen kommt, der unausrottbare incarnirte bureaukratisch poli¬
zeiliche Charakter? Kaum ist das Cartel zwischen Preußen und Ru߬
land wieder hergestellt und sogleich wird ein Exempel statuirt, an dem
man vorausschmeckcn kann, welche Früchte die entonto corcki-no zwischen
der russischen und borussischen Macht in Zukunft tragen wird. Graf
Gurowsky, — den wir keineswegs als politische Capacität feiern wol¬
len, der aber jedenfalls bei allen extremen Meinungswcchseln ein un¬
schädlicher Flüchtling ist — hielt sich bekanntlich seit seiner Flucht aus
Russisch-Polen in Schlesien auf, wo er in Zurückgezogenheit die todt¬
kranke, jetzt gestorbene Mutter pflegte. Plötzlich erhält er den streng¬
sten Befehl, sofort und auf einer Awangsroute die preußischen Staaten
zu verlassen. Sollte Nicolaus, der in London das exilirte Polen aus
eigener Tasche unterstützen wollte, jetzt, wo er wieder in seinem sichern
Petersburg thront, diesen einen gebrochenen, gehetzten Mannso sehr fürch¬
ten, daß er Preußen drängt, dem eben abgeschlossenen Cartel eine halb
rückwirkende Kraft zu geben? Oder sieht man in Berlin dem hohen
Meinherrscher seine Wünsche an den Augen ab? Wir können darüber
nicht urtheilen. Aber fragen darf man wohl, wie sich dies Benehmen gegen
einen harmlosen Flüchtling verglichen mit dem neulichen Betragen der
englischen Aristokratie gegen eine ganze Colonie von Flüchtlingen aus¬
nimmt? Man weis't uns ja immer auf England hin, auf das bluts-
und geistesverwandte Britenvolk. Ist diese polizeiliche Liebenswürdig¬
keit ritterlich, oder will Preußen damit vor dem Auslande, wohin es
Gurowsky mit seinen Klagen stößt, das echt germanische Element, die
Gastlichkeit und die Großmuth der deutschen Nation repräsentiren?
Wir wissen sehr wohl, und wir hoffen, daß auf die erste Nachricht
von Gurowsky's Ausweisung allerhand Berichtigungen folgen werden.
Es kann aber nicht schaden, wenn die Presse diese erste Nachricht nach
ihrem dürren Wortlaut beleuchtet. Denn häusig sind die offiziellen
Berichtigungen, wenn sie auch die erste Mittheilung einer Unrichtig¬
keit zeihen wollen, nur eine Andeutung, daß die besprochene Maßregel
nachträglich modificirt und gemildert wurde.
Die Handhabung der militärischen Disciplin erfordert unstreitig
Strenge. In der österreichischen Armee, welche aus so heterogenen
Nationalitäten wie leine andere zusammengesetzt ist, kann an die
gänzliche Abschaffung der bestehenden barbarischen Strafen leider noch
lange und hauptsächlich so lange nicht gedacht werden, als es noch
üblich bleiben wird, Individuen wegen Vergehungen oder Jm-
moralität zur Strafe zum Militär abzustellen. Wenn daher Oester¬
reich in der militärischen Rechtspflege und in seinem Diöciplinarwesen
bisher zur wichtigen Gründen keine zeitgemäße Reform versucht
hatte, so folgt hieraus keineswegs, daß man höchsten Orts vielleicht
an Gassenlaufen und Stockprügeln in Oesterreich mehr Vergnügen,
als in Frankreich und Preußen finde; denn es sind vielleicht in kei,
ner Armee so viele höchste Befehle erlassen worden, welche die hu¬
manster Absichten hinsichtlich der Leibesstrafen aussprechen und jedem
Commandanten die schöne Pflicht auferlegen, so viel als möglich die
barbarischen Strafmittel zu vermeiden. Zur Ehre der österreichischen
Armee sei es gesagt, daß besonders die höheren Commandeurs, von
diesem milden Geiste des Monarchen beseelt, Nichts unterlassen, um
dem Allerhöchsten Willen nachzukommen. Allein wundern muß man
sich, daß bei dem anerkannten Bestreben der Regierung, jene Bestra¬
fungen, welche zum Abschrecken der verderbten Menschheit nicht ganz
beseitigt werden können, doch wenigstens so selten als möglich ein-
reden zu lassen, — daß in einer szientifischen Branche, in der Ar-
tillerie — Bombardier-Corps ausgenommen — die Disciplin mit
dem Stocke mehr, als in einem wallachischen Regiments gehandhabt
wird. Wird man eS wohl glauben, daß von den weltberühmten
österreichischen Kanoniers wenigstens der zehnte Theil wegen Tabak¬
rauchens im freien Felde, wegen AufHängens des Stockes auf den
Säbel, wegen vorschriftswidrigen Aufsehens des Hutes, wegen kleiner
Verspätung nach dem Zapfenstreich und wegen anderer ähnlichen dem
Dienste unschädlichen Kleinigkeiten zu Krüppeln geschlagen und zu
ehrlosen Menschen geprügelt werden? — Auch ich würde gewiß nie
geglaubt haben, daß diese empörende Willkür in der Artillerie herrsche,
wenn ich nicht zu meinem eigenen Leidwesen ein Augenzeuge man¬
cher Erecution gewesen wäre, deren bloße Erinnerung mein Inneres
mit Indignation erfüllt. Damit sich ein Jeder von der Bestrafungs¬
weise einen Begriff machen könne, will ich nur einige wahre Fälle
hier citiren! Bevor ich jedoch die Erzählung dieser speciellen Falle
beginne, kann ich unmöglich einige Reflexionen unterdrücken.
Ich war, wie ich schon erwähnte, nach meiner Assentirung nicht
beim Negimentsstabe, sondern einige Stunden davon casernirt. Bei¬
läufig mochte ich zehn Tage in kaiserlichen Diensten gestanden haben,
als der Regimentsbefehl verlesen wurde, daß den folgenden Tag
alle neuen Leute zum Stäbe abgesendet werden sollen, nachdem da¬
selbst eine große Erecution stattfinden werde. Gleich nach dem Be¬
fehlausgeben belehrte mich ein Kamerad, weshalb diese neuen Leute,
worunter auch ich einbegriffen war, bei dieser Erecution zu erschei¬
nen hätten. „Daß die neuen Leute solchen Erecutionen beiwohnen,"
sagte er, „geschieht darum, damit sie sich daran gewöhnen, bevor sie
selbst zubauen müssen; denn es gibt darunter immer welche, die so
dumm sind, daß sie Anfangs dem Spitzruthenlaufen ohne „Neuigkei¬
ten" (Ohnmachten) nicht einmal zusehen, geschweige erst zubauen
können. Wenn Sie daher, er meinte mich, morgen bei dieser Ere¬
cution nur durch Mienen ein Mitleid verrathen, so müssen Sie das
nächste Mal wieder zum Stäbe zum Zuschauen ausrücken." Es
war eine sehr große und sehr lange Erecution. Beiläufig fünf oder
sechs wurden wegen Desertion zum drei- bis sechsmaligen, ein Dieb
zum achtmaligen Gassenlaufen abgeurtheilt und auch abgestraft. Wäh¬
rend diese Unglücklichen die fürchterliche Gasse, in welcher dem ent¬
blößten Dulder die drohenden Geißclruthen auf seinem martervollen
Wege entgegenwirken, theils gravitätisch auf- und abschritten, theils wie das
verfolgte Wild durchrannten, liefen die Korporale von beiden Seiten
hinter der Gasse von zehn zu zehn Mann, um sich zu überzeugen,
ob die Geißelnden ihre Schuldigkeit leisten. Wurde Jemand darauf ertappt,
daß er seine Hiebe mäßigte, oder wohl gar versäumt habe, so hatte
selber nach vollzogener Erecution selbst eine Erecution an seinem
eigenen Körper zu gewärtigen, die nach Umständen auch mit fünfzig
Stockstreichen zugemessen wurde. — Während sich die Deserteurs und
der Dieb mit dem sogenannten Gassenauf- und Gassenablaufen be¬
lustigten, wurden auch drei andere gebildete Artilleristen, lauter ver¬
wegene Tabakraucher, die von dem Obersten Tags zuvor in einem
Wachthause auf frischer That überrascht worden, vor den Augen der
neuen Leute jeder mit dreißig Stockstreichen betheilt, und wir „neuen
Leute" als Zuschauer hatten daher die beliebige schone Wahl, unsere
Gefühle entweder am Gassenlaufen, oder an Stockprügeln abstum¬
pfen zu können. Ich war ein guter Mimiker! — Der unsere Sen¬
timentalität gardirende Korporal war mit meiner Jnsentimentalität
so zufrieden, daß ich vermöge seines Zeugnisses für die Zukunft einer
Zuschauerstelle entbunden ward und in Folge dessen die weit ehrenvollere
übernehmen konnte, selbst zubauen zu dürfen. Als daher zum ersten
Male jene Compagnie, in welcher ich diente, das erforderliche Ere-
cutionspersonale beistellte, wurde ich nicht wie andere weichliche See¬
len zurückgelassen, sondern es war mir vergönnt, mit den achtung¬
gebietenden Veteranen der Compagnie, deren linke Nockseite mit
„Braimtweinstern-Orden", schlechtweg Veteranzeichen genannt, und
eisernen Kreuzen als Belohnung ihrer Mitarbeitern an dem Sturze Na¬
poleons geziert war, — zur Erecution mit auszurücken. Ich war
von dieser Ehre wohl durchdrungen, aber als Debütant konnte ich
mich in meinem Innern doch nicht einiger menschlichen Regungen,
nämlich einer Bangigkeit und eines ängstlichen Mitleids, erwehren.
Erst nachdem der Delinquent in der geformten Gasse die Ruthen,
welche seinen nackten Rücken bis aufs Blut durchgeißcln sollten, an
seine ehemaligen Kameraden, nunmehrigen Schergen ausgetheilt
hatte, und ich hinter meinem Rücken den Korporal witterte, der in
seinem zehn Mann langen Bezirke die auszutheilenden Hiebe gardiren
und die aus Nachlässigkeit unterbliebenen zählen sollte, erwachte mein
Ehrgefühl, welches mit der aus Vorsicht hinter der Gasse in Bereit»
schaft stehenden Bank sympathetisch zu correspondiren anfing, und ich
nahm meinen ganzen Muth zusammen und hieb mit solcher Kraft
unbarmherzig auf den zerfleischten Rücken meines Mitmenschen, das-
ich nicht nur diesmal nicht, sondern auch nach keiner anderen Erecution
mehr, der ich später als Mitscherge beiwohnen mußte, auf der er¬
wähnten Bank bäuchlings ausgestreckt, von einem Korporal getadelt
wurde. — Wenn wir von diesen Uebungen in der Menschenliebe
zurückkehrten, pflegten wir psychologische Unterredungen zu halten.
Zuerst wurde die Kunstfertigkeit des die gesetzliche Gewalt ausüben¬
den Korporals mit Kennersinn geprüft. Fiel das Urtheil zu seinen
Gunsten aus, so durste man mit demselben ungescheut hervortreten.
— Aber, Herr Korporal! Sie sind ein classischer Hauer, — schon
beim sechsten Hiebe spritzte dem X . . . das Blut bei den Beinklei¬
dern heraus! — Und ähnliche Lobpreisungen erschallten von Mund
zu Munde. — Der Korporal, wenn derselbe nicht etwa ein verdor¬
bener Student, oder sonst ein von falscher Sentimentalität verderbter
Mensch war, hielt sich durch diese Lobeserhebungen sehr geehrt, und
das beseligende Bewußtsein, selbe zu verdienen, entlockte ihm dann
gewöhnlich unter einem stolzen lieblichen Lächeln die gefühlvolle Aeu¬
ßerung: Wenn ich einmal Jemandem zu Gevatter stehe, so muß er
zeitlebens an mich denken! Mit einem Worte, man konnte einen
Korporal nie besser flattiren, als wenn man ihm die Ehre zusprach,
der beste Hauer in der Compagnie, oder wohl gar, wie man einen
solchen nannte, der beste Negimentöhauer zu sein. — Nachdem der
moralische Werth des bei einer Erecution sunctionirenden Korporals
nach Verdienst von seinen Untergebenen abgeschätzt worden, — ging
man zu der Werthschätzung des abgestraften Kameraden über, dessen
Verbrechen, wie bekannt, mit dem letzten Hiebe auf die Legitimitäts-
Nachbarschaft verflogen ist, und dessen Heroismus, während
der Erecution, nun zum Maßstabe seines moralischen Wer¬
thes diente. Hat Einer eine ganze Klafter (ein beliebter Kunst¬
ausdruck in der ganzen österreichischen Armee), d. h. fünfzig Prügel
ohne die Füße mehr als einmal gewechselt zu haben, ohne Geschrei
und Lamentationen, erhalten, und hatte derselbe nach vollendeter Ere¬
cution, nachdem er sein schuldiges: „Ich danke gehorsamst für die
gnädige Strafe", mit allem Anstand gesprochen, — die Bank, auf
welcher derselbe durch seinen Stoicismus die nach Ruhm dürstenden
Korporale zur höchsten Anstrengung reizte, — mit einer unschuldigen
Naivetät davon getragen, — dann war er ein braver Kerl, und die
Herzen aller verwandten Seelen schlugen ihm entgegen, selbst die¬
jenigen, die in der Kunst, Schläge auszuhalten, ohne einen Zug zu
verändern, Meister waren und oft, nicht hundert, sondern tausend
Prügel classisch ausgehalten zu haben sich rühmen konnten, nannten
ihn dann Bruder und würdigten ihn ihres belehrenden Umgangs.
Es gab in der Zeit meines Eintrittes in die Artillerie Viele,
die ungeachtet dessen, daß diejenigen Individuen, welche sich eines
Diebstahls, oder einer Desertion und derlei schwerer Verbrechen
schuldig gemacht haben, nach ihrer Abstrafung aus der Branche aus¬
geschieden worden, — wegen sogenannter Svldatenstückchen, als:
Excesse, Insubordination, Tabakrauchen, unvorschristmäßiges Hut¬
aufsetzen :c., — mithin nicht wegen schlechter Streiche, den An¬
tipoden ihres Kopfes mit zahlreichen Stockstreichen haben entgelten
lassen, und diese standen in der Compagnie in großem Ansehen bei
ihren Kameraden. Wenn man von einem gebildeten Kanonier sagen
durfte, — er hat schon wenigstens zehn Mal eine Negimentsstrafe,
nämlich fünfzig Stockstreiche, ohne sich zu mucksen, erhalten, so mußte
ein Laie einen Respect vor ihm haben. Diese Art Virtuosen, welche
mit der Zeit Säufer zu werden pflegen, machten sich gewöhnlich ein
Vergnügen daraus, für ein kleines Recreationsgcld auf Branntwein
Privatlectionen darin zu geben, und ließen sich auf Wachstuben oder
sonst dazu geeigneten Salons gegen eine kleine Belohnung auf den¬
jenigen Ort, der sonst nur gesetzmäßig den Korporalen vermöge ihrer
Autorität zugänglich war, einige Stockstreiche auch von Profanen
appliciren. — Solche Menschen hatte jede Compagnie aufzuweisen,
und sie trugen unwillkürlich sehr viel dazu bei, daß das Prügelsystem
in seinem Ansehen nicht nur aufrecht erhalten, sondern auch das
stoische Prügelhalten zu einer Bravour erhoben wurde. — Ein Ka¬
nonier, der nicht das Glück hatte, sich ausweisen zu'können daß er
wenigstens einmal auf der Bank gelegen, durfte durchaus nicht
auf die Achtung seiner meisten Kameraden Anspruch machen; denn
da hieß es: der will auch was reden und hat nicht einmal fünfund¬
zwanzig bekommen. — In der Compagnie, wo ich diente, befand
sich ein gewisser Fischer Hans, — Gott tröste ihn, er ist be¬
reits todt, — der die Liebe seiner Kameraden im höchsten Grade
genoß und auch von seinen Vorgesetzten wohl gelitten war. Er verdiente
Beides. — Er war der beste Sünger in der Compagnie und ein
vorzüglicher Jodler, dabei ein vortrefflicher Gesellschafter, wenn er
nicht total besoffen war, — in seinem Dienste accurat, ein guter
Kamerad, ein Wütherich vor dem Feinde, ein seelenguter Mensch und
der eminenteste Prügelküßler (Prügelaushalter) im ganzen
Regiment?. Ihm waren nur an einem einzigen Theile des Körpers,
den ich aus Respect nicht nennen will, gesetzmäßig über zweitausend
fünfhundert Stockprügel in optim» toi-ma durch lauter kunstverstän-
digeKorporale nach der Compagniematrikel zugemessen worden, ohnejene
Privatschläge zu erwähnen, die derselbe aus Liebhaberei und in den
vorerwähnten Privatlectionen ungezählt bekommen hatte. — Dieser
brave Kanonier war als ein altgedienter Mann seit dem ersten Fran-
zosenkriege so an die Schläge gewöhnt, daß er im wahren Sinne
des Wortes durchaus ohne Schläge nicht leben konnte. Eines Ta¬
ges hatte er einen kleinen Zwist mit einem Korporal, der zugleich
sein Schlafkamerad war, und es entwischte ihm bei den diesfälligen
Debatten das unschuldige Wort „Sau". — Fischer kam in Arrest
und den folgenden Tag zum Rapport. Nach Anhörung der Umstände
dictirte ihm der Hauptmann wegen respectlosen Benehmens gegen
den Korporal fünfundzwanzig Stockstreiche. Fischer's ganze Ambition
war bei der Ankündigung dieses Urtheilöspruches im höchsten Grade
rebellisch, so daß er sich zu der Aeußerung hinreißen ließ und dem
Hauptmann beim öffentlichen Rapport sagte: Herr Hauptmann, ich
habe seit drei Jahren nie weniger als fünfzig Stockstreiche bekommen,
und Sie wollten mir die Schande anthun, mir nur fünfundzwanzig
zu geben? Was werden denn meine Kameraden von mir denken? —
Der Hauptmann, ein wahrer Menschenfreund, der seinen Untergeber
nen lieber mehr als weniger Schläge ertheilte, zeigte Fischer an das
Regimentscommando an, und zu seiner nicht geringen Freude war
seine Ehre gerettet, — er erhielt fünfzig Prügel. Diese heroischen
Beispiele wirken häufig auf die Richtung des Ehrgefühls beiden neuen
Leuten; denn eben so wahr wie es ist, daß bei manchem Menschen
das Ehrgefühl hercmsgeprügclt wird, eben so wahr ist es, daß bei
Vielen eine ganz andere Art von Ambition erweckt wird, welche darin
besteht, ein guter „Prügelküßler" zu sein. Es sind keine feinen Ge¬
schichten, die ich in dieser Beziehung mit angesehen, aber sie sind
belehrend. — Ein junger Mann, der im Civil sich mit der Musik
ernährt, und daher «-o ipso von der leichten Sorte war, schloß sich
gleich nach seiner Assentirung an einige Kameraden an, die keine
Furcht vor Strafe erschreckte, sobald es sich darum handelte, die
bezeichnete Grenze der militärischen Freiheit zu überschreiten, um ih¬
ren noblen Trieben nach Unterhaltung und feineren Vergnügungen
zu stöhnen, — kurzum, es waren wahre Freiheitsmänner. Diesen
lustigen Brüdern schloß sich der vorerwähnte Rekrut an, mit welchen
derselbe in den ersten Wochen seiner Dienstzeit wegen Ausbleiben
über den Zapfenstreich arretirt wurde. Damals galt ein scharfer
Befehl hinsichtlich dieses Vergehens; denn jeder Schuldige wurde ohne
Rücksicht auf Conduite mit vierzig Stockstreichen bestraft. Ich befand
mich gerade auf der Wache, als diese fünf Mann arretirt wurden,
und erinnere mich lebhaft ihres Gespräches.
Jetzt, Brüderchen, sagte der Eine der lustigen Brüder zu dem
neuen Compagnon, jetzt gilt es Deine Jungfrauschaft. Wenn Du
ein Kerl bist, so wirst Du uns keine Schande machen und Dich
auf der Bank nicht wie ein Matt geberden. — Es handelt sich nur
um fünf oder sechs Streiche, sind diese einmal oben und das Fleisch
erwärmt, dann spürt und fühlt man ohnehin Nichts mehr, und man
kann auf sich hernach losdreschen lassen, daß es eine Freude ist, und
der beste Hauer muß zu Schanden werden. Vergiß jedoch nicht, ei¬
nen Knäuel Tabak in den Mund zu stecken, und so oft als der Kor¬
poral den Stock fallen läßt, beiße herzhaft drein und hüte Dich,
einen Schrei auszustoßen. — Du mußt jedoch, fuhr er fort, nicht
vergessen, den Offizier, der die Eremtion führen wird, um Nachsicht
zu bitten, sonst könnte Dir diese Unterlassung als Halsstarrigkeit aus¬
gelegt und Du wegen dieser aufs Neue bestraft werden. Der Neu¬
unterrichtete erwiederte diese wohlmeinende Zusprache mit einem iro¬
nischen Lächeln und zeigte oder affectirte eine Ruhe, die Alle in Ver¬
wunderung setzte. Glaubt Ihr denn, sagte er, daß ich Euch Schande
machen werde? Ich will Euch zeigen, daß Ihr alle stolz auf mich
sein könnt. — Die Arretirtcn mußten beim Compagnierapport er¬
scheinen; der betreffende Hauptmann war ein humaner Mann, und
wo derselbe die Strenge der höheren Befehle unten konnte, so that
er es gewiß. Er sagte daher den vier bekannten Freiheitsmännern:
Ihr seid vier incurable Lumpe, und wenn ich Euch höheren Orts
melde, so bekommt Ihr Jeder vierzig Streiche; allein ich will es
dieses Mal bei einer Compagniestrafe bewenden lassen aus Rücksicht
für den jungen Mann, den Ihr verführt habt; und indem er sich an
diesen wendete, sagte er: Er fängt seine Laufbahn äußerst schlecht
an, ich will dieses Mal aus Seine, Jugend und auf Seine Un-
erfahrenheit Rücksicht nehmen, sonst würde ich Ihn ebenso wie Seine
sauberen Kameraden heute schon strecken lassen. — Dieser erinnerte sich
der väterlichen Worte, welche an ihn in der Wachstube gerichtet wor¬
den waren, er erinnerte sich ferner seiner Zusage, daß er seinen Ka<
meraden keine Schande machen wolle, und brannte daher vor Be¬
gierde, diesen schönen Beweis seiner erhabenen Gesinnung an den
Tag zu legen. Er erwiederte daher dem Hauptmann: Euer Gnaden,
Herr Hauptmann, ich bitte unterthänigst, mit mir keine Ausnahme
zu machen; es wäre eine Schande für mich, wenn ich beim gleichen
Vergehen mit meinen Kameraden einer Nachsicht theilhaftig würde,
ich will jede Strafe mit ihnen theilen. Der edeldenkende Hauptmann
war keineswegs ein Mann, der nicht den scheinbar edelmüthigen An¬
trag zu würdigen gewußt hätte, wenn derselbe aus einer edleren
Quelle entsprungen wäre. Uebrigens lag schon in dem übermüthigen
Antrag ein spöttischer Trotz, der mit dem militärischen Geiste unver¬
träglich ist und daher mit Recht geahndet werden mußte. Er wurde
mit den übrigen vier Kanonieren mit fünfundzwanzig Stockstreichen
und zwar zuletzt abgestraft. Seine Vorgänger hatten ihre Strafe mit
verdientem Beifall, wie sich von solchen routinirten Leuten erwarten
ließ, überstanden: allein er selbst ercellirte. — Als ihn die Tour zum
Niederlegen traf, stellte sich derselbe zur Bank und sagte in einem
trotzigen, nicht bittenden Tone zum Offizier: Herr Lieutenant, schen¬
ken Sie mir was von meiner Strafe, — und ohne seine Antwort
abzuwarten, legte er sich hurtig nieder, und fünf Streiche waren be¬
reits gefallen, wo derselbe nach einem jeden zur Belustigung der Zu¬
schauer spöttisch lächelte. Da befahl der Offizier, er solle aufstehen,
in ein nahes Zimmer geführt und dort untersucht werden, ob sein
Beinkleid nicht etwa ausgestopft wäre. Man sand Nichts! Die Ko¬
mödie wurde auf gleiche Art fortgesetzt. Erst nach dem zwölften oder
dreizehnten Streiche wiederholte er lächelnd seine frühere Bitte: Herr
Lieutenant, schenken Sie mir was! Der Lieutenant antwortete: Er weiß
ja, daß ich Ihm Nichts schenken kann. Da entgegnete er ihm: Ich
weiß wohl, Herr Lieutenant, daß Sie selbst Nichts haben, aber ich
thue ja nur meine Schuldigkeit. — Mit welchem rohen Jubel er nach
überstandener Strafe von seinen Strafgenossen empfangen wurde, läßt
sich denken, und daß ihm auch die Achtung von den übrigen Kame¬
raden, die bereits den Korporalsftock verkostet hatten, nicht vorent¬
halten wurde, ist gleichfalls zu errathen. Diese allgemeine Achtung
wurde noch gesteigert, als er wegen seiner satyrischen Anspielung auf
die Armuth des Lieutenants am dritten Tage nach dein früheren
Vorfalle die ihm vom Regimentsstabe auferlegten fünfzig Stockstreiche
mit einer beispiellosen Anmuth hinnahm. Er eilte mit Riesenschritten
stillem hohen Ziele entgegen. Schon im dritten Jahre wurde er
wegen Absentirung von seinem Wachposten mit achtmaligen Gassen¬
laufen abgestraft und systemmäßig von der Artillerie zur Infanterie
übersetzt, und da derselbe dort während des Standrechts eine Deser¬
tion versuchte, soll er, wie es verlautete, durch den Strang seinen
frühzeitigen Tod gefunden haben. Hat diesen Menschen die Prügel¬
strafe gebessert?
Man hat wohl hie und da im Leben Momente, da man an
Erfindung der tollsten und aberwitzigsten Unmöglichkeiten sein Ergöz-
zen hat, da man in süßer Trunkenheit dem regellosen Spiele der
Phantasie sich hingibt. Man umfliegt die ganze Erde, ohne doch
deshalb von der Stelle zu kommen. Man ist allwissend, ohne im
Mindesten dazu gethan zu haben, und was dergleichen geistreiche und
nicht geistreiche Phantastereien mehr sind. Aber man sollte doch wohl nicht
meinen, daß es je Einem eingefallen, die Gebilde solch müßiger Stun¬
den in ein System zu pressen und diese systematische Narrheit der
Welt als Ergebniß eines tiefen und eindringenden Forschens aufzu¬
tischen. Man irrt. Die speculative Philosophie hat diesen Beitrag
zur Menschenkunde geliefert. Wenn in Predigten und Romanen Flos¬
keln, wie Erhabenheit über Zeit und Raum und tgi. sattsam und bis
zum Ekel ausgebeutet werden, so will dies wenig besagen; — wenn
aber das philosophische Denken gerade da am allermeisten sich aus¬
spreizt, wo in der That am allerwenigsten sich denken läßt, so ist
dies eine wunderliche Selbstironie. Mag sein — eine unbewußte.
Die Kirche hat das Wunder in die Welt gesetzt; aber sie war doch
ehrlich genug, dies offen zu künden und geradezu alle Vernunft von
sich abzuweisen. liittio est avec»: das war ein klarer Satz; und man
wußte, was man zu thun und zu lassen hatte. Ganz anders die
Philosophie. Wenn sie aus selbstgefälliger Prahlerei der Vernunft zu¬
rief, die langverschlossenen Augen zu öffnen, so versetzte sie dieselbe
doch sogleich in die nächtigen Regionen des Undenkbaren, darin sie
eben auch Nichts schauen konnte. Man braucht nur die klaren und
scharfen Schcidemarken des Wahns zu verwischen, so ist jene welt¬
bekannte Frage: Was ist Wahrheit? unbcantwortlich. In dem Zwei,
fel, den sie ausspricht, ist die Berechtigung jedes speculativen Jrrlichte-
rirens enthalten, und fürwahr seit Jacob Böhme hat man redlich
Gebrauch davon gemacht. Je toller, desto besser. In den Irrlichtern
sah der Aberglaube neckische Kobolde, ruhelose Geister—in den Phi¬
losophen die Feinde seiner gemüthlichen alten Illusionen. Freilich ha¬
ben sie in ihrer pedantischen Systemwuth diese Illusionen auch nur
ungemüthlich gemacht — nichts desto weniger waren es unschuldige
Gesellen, wenn man sie beim Tageslicht besah. —
In den gesunden Sinnen besitzt der Mensch das unwiderlegliche
Zeugniß der Wahrheit und — er erfand eine besondere Wissenschaft
für die unsinnlichen Dinge, darin er alle Scheu und Scham abwarf
und Widerspruch auf Widerspruch häufte. Ein neuer unsinniger Ba¬
belbau! Wenn wir Alles nur in der Zeit und im Raume wahrneh¬
men, so ward für diese besondere Wissenschaft auch eine besondere
zeit- und raumlose Einheit erfunden; — wenn die Unterschiede nur
neben und nach einander eristiren — so wurden sie hier in diese
einige Einheit zusammengepreßt; wenn der Begriff ein durch sein Ob¬
ject bestimmter und fester ist, so ward er hier zum flüssigen, sich aus
sich selber sortbildenden Moment des Systems. Der Hegel'schen
Sophistik erging es nämlich, wie jenen unglücklichen Melancholikern,
die an Nichts in der Wirklichkeit mehr Gefallen finden und verzwei¬
felnd eine eigene innere unmögliche Welt sich erbauen. Eine solche
Schwarzseherei hat denn mit ihrer Zerrissenheit immer großes Glück
gemacht, weil man hinter dieser gar wohlfeilen Unzufriedenheit eine
höhere geistige Natur wähnte. Wer kennt ihre Sentimentalität nicht?
ihr seltsames Geberden, wenn sie mit ihrem Traumleben an den Ecken
der Wirklichkeit zerschellt, jenes Heulen und Zähnklappern, das in
lyrischen Ergüssen von je beliebt wurde? Deutschem Fleiße, deutscher
Gründlichkeit war es vorbehalten, Methode in diese Seufzer zu brin¬
gen! —
„Es ist die Logik als das System der reinen Vernunft, als das
Reich des reinen Gedankens zu fassen." 5) Und diese reine Ver-
nunft. dieser reine Gedanke? Das Reine trübt sich doch wohl nicht
durch sich selber, sondern empfängt den trübenden Beisatz erst- anders¬
woher. Es ist dies die alte Frage: wie es möglich sei, daß der
Unterschied aus der reinen Einheit hervorgehe; hier ist ein neuer
vergeblicher Versuch, sie zu beantworten. Man wird diesen breiten Gra¬
ben, vor dem die Philosophie von je gestanden, nie überspringen. Das
Licht ist an und für sich ein einiges — aber doch erst dadurch, daß
seine Strahlen an den Gegenständen mannigfach gebrochen werden,
entsteht der Wechsel der Farbe. - Wie sollte das Licht sich in sich
selber brechen? — Das heißt denn doch die Sache gerade umkehren,
die Welt aus dem Gedanken aufzubauen, da vielmehr der Gedanke
selbst ein Product der Welt ist. Man braucht nur aufmerksam der
Genesis des Begriffs nachzugehen, um zu der unumstößlichen Gewi߬
heit zu gelangen, daß er kein fertiger, kein absolutes Prinzip ist,
daß er vielmehr erst aus der Anschauung selbst hervorgeht. Es sei
erlaubt, einmal Unmögliches zuzumuthen! Man nehme einen Men¬
schen, der aller Sinne beraubt und somit der Berührung der Welt
völlig entnommen ist, und die Unmöglichkeit des Denkens ist unzweifel¬
haft, gälte es auch nur, diesen reinen Gedanken zu fassen. Denn so
sehr er nach Emporkömmlingsweise seinen natürlichen Ursprung in
den Schatten zu stellen sich abquält, so hat er als letzte Abstraktion
von allem Gegebenen gerade die ganze Welt zu seiner Voraus¬
setzung. — Ein solch sinnloser Unmensch aber wäre ein von den
Schranken der Einzelheit freier und somit der einzig wahre Träger
der Hegel'schen reinen Vernunft. Die Logik ist „die Darstellung Got¬
tes, wie er in seinem ewigen Wesen vor Erschaffung der Natur und
eines endlichen Geistes" ist. Aber ein solcher Gott, ist er nicht
selbst wieder erst eine Idee, die aus dem Dasein der Welt erschlossen
wurde? Daß der Glaube diesen Schluß unterschlug und den umge¬
kehrten an die Stelle setzte, ist eine Selbstvergessenheit —wie sie doch der
Philosophie nicht zukommt. Mail irrt nicht, wenn man unter den
Naturforschern die meisten sogenannten Atheisten zählt — es liegt
dies in der Natur der Sache. Wer sich wahrhaft in die Natur ver¬
senkt hat, der hat nicht erst nöthig, ihre Realität aus einem Jenseits
des Traumes und ver Phantasie herzuleiten. Nur die Verzweiflung
an der Welt und am Leben war es, welche den Himmel geschaffen
und ihn nichts desto weniger mit den Reizen dieser Erde ausgestat¬
tet. Der Philosoph aber sollte vor Allem des Ausspruchs eines sei¬
ner alten Meister: i«s Iium-ums »o» esso I»xeu«l!t8, «ed j„tol-
lis.'mais eingedenk sein. Da ist mehr Wahrheit und Lebensweisheit
als in allen Systemen zusammen. War der kirchliche Gott ein Pro¬
dukt aller der Widersprüche, die in der Wirklichkeit keine Statt fan¬
den und deshalb außerhalb derselben in einer anderen Welt einen
Haltpunkt suchten, so ist dieser philosophische Gott ein wahrer Sün¬
denpfuhl des Hegel'schen Denkens. Von je hat es die Menschheit
bequem gefunden, im Namen Gottes ihr Unrecht auszuüben — ein
um so abscheulicheres, da man ihm den Stempel der Heiligkeit auf¬
drückte. Die Speculation führte in die „verwirrenden Räume der
Ewigkeit" und barg dort die Gewalt, die sie der Welt anthat. Es
ist dies aber das große Verdienst des letzten Systems — und wir
sprechen hier in allem Ernste — daß es die höchste Potenz, das Ex¬
trem des bisherigen Philosophirens in sich dargestellt und dadurch die
Menschen für immer davon frei gemacht hat. Die Verzweiflung an
der Welt wendete einst den Sinn der Religion des Jenseits zu —
die Verzweiflung an dem Jenseits des Gedankens muß uns nunmehr
der Anschauung, der Erfahrung wieder zuführen. Man wird uns
Deutsche fürder nicht mehr schelten, daß wir einer überfliegenden
Speculation huldigen; man wird uns bald nicht mehr nachsagen,
daß wir in anderen Welten besser bewandert sind, denn in der eige¬
nen. — Man wird uns nicht mehr hohler und aberwitziger Theo¬
rien bezüchtigen dürfen — eine unüberwindliche Sehnsucht nach dem
Greifbaren und Fühlbaren, nach dem concreten, sinnlichen Dasein
muß uns packen. — Auch der Wahn läßt sich homöopathisch heilen,
und es sind der Fälle wohl schon mehrere vorhanden, daß Irre von
dem in's Groteske getriebenen Spiegelbilde ihrer Narrheit wieder
gesundeten. Hegel ist unser größter rationaler Jrrenarzt: das deut¬
sche Volk muß ihm ein Denkmal errichten! —
Wenn man einen Gott setzte, so legte man ihm lauter Pra'di-
eate bei, die wohl dein Leben entnommen, aber doch auch zugleich von
den nochwendigen Bedingungen, unter welchen sie hier erscheinen, los¬
gelöst waren. Dasselbe geschieht in der Logik. Hier sind es die Kate-
gorien, der in seine Einzelheit auseinander gelegte vorgebliche Inhalt,
die Producte des Denkens, die von wirklichen Verhältnissen abgezo¬
genen Schemen, denen nur eine besondere und ganz aparte Wahr¬
heit zugeschrieben wird. Dabei ist aber alles Liebenswürdige der Re,
ligion, jenes subjective Interesse der Erbauung und Stärkung durch
den Glauben abgestreift, wodurch der Mensch immer wieder in die
ursprüngliche Verwandtschaft mit dem Himmel tritt. Dürrer und
finsterer, als die dürftigste und armseligste Dogmatik aus den ersten
Zeiten nach der Reformation, läßt das System keine Begeisterung
zu, als die der Pedanten und Consequenzenmacher. Der feurige und
thatkräftige Fanatismus der Religion ist in den Fanatismus der
Phrasen umgewandelt! —
Wenn man einmal, ohne den Vorsatz, um jeden Preis ein He¬
gelianer werden zu wollen, an die Logik geht und die einzelnen Ka¬
tegorien derselben wahrhaft zu verinnerlichen und in Fleisch und
Blut umzusetzen keine Mühe scheut, so bleibt die innere Hohlheit der¬
selben nicht lange verborgen, —> Ewig dasselbe Nichts, das aus tau¬
send Larven den Forscher anstiert! Man hat oft darüber gestritten
und gespöttelt, wie die Einheit von Sein und Nichtsein denkbar. Dem
lag aber ein totaler Mißverstand zu Grunde. Dieses Sein, der reine
Ausdruck des reinen Gedankens, ist schon an und für sich selbst nicht
mehr, als das Nichts. — Aller Inhalt, alle Unterschiede sind vorher
beseitigt worden, und nun ist diese Identität nur natürlich. Man
dachte beim Sein aber immer noch an ein Seiendes, weil man nicht
begreifen wollte, wie da noch vom Sein die Rede sein könne, wo in
Wahrheit nur daS absolute Nichts gemeint wird. Diese verkehrte
Nomenclatur ist nun aber einmal die spezifische Eigenthümlichkeit die¬
ser Philosophie, die etwa an jene Eigenthümlichkeit der Wirthe erin¬
nert, die einen und denselben Wein unter den verschiedensten Namen
und zu den verschiedensten Preisen ihren Gästen schenken. — Viel¬
mehr ist eine ganz andere Frage aufzuwerfen: die nach dem Unter¬
schiede von diesem Sein und dem Nichtsein, Beantworten wir sie
aber wohl irrig, wenn wir den verschiedenen Klang der Bezeich-'
mung als seinen einzigen Grund angeben? Wer kaum der Worte
genug zu finden weiß, um die Verachtung der Aeußerlichkeit und ih¬
rer Trivialitäten an den Tag zu legen, wie der Philosoph — dein
geschieht schon Recht, wenn sie ihm wider Willen und Wissen einen
neckischen Streich spielt. Wohl soll von allem und jedem Unterschied
abstrahtrt werden, um zum logischen Sein zu gelangen ^ und den¬
noch wird noch ein Unterschied festgehalten, sei er auch selbst wieder
ein verschwindender, sei er auch selbst nur ein Unterschied des Na¬
mens. — Das ist das klarste Zugeständniß der Unmöglichkeit solchen
Abstrahirenö. Dieses ewige Sollen und doch nicht wirklich Können
— es ist der fortlaufende Widerspruch des Systems. - Man wird
lneraus denn schon ermessen können, welche Bewandtnis; es mit der
Entwickelung solchen Anfangs zum weiteren Inhalt hat.
niliila nihil in! Das ist ein so alter Satz, daß ihm selbst die ur¬
alte crvütil) <- vit.it» Nichts anhaben darf; mit einem Wunder läßt
sich bekanntlich nicht rechten. Man darf aber nur die nächste Kate¬
gorie ein wenig sorgfältiger prüfen, um ihn von Neuem bewahrheitet
zu finden. Aus der Einheit von Sein und Nichts soll das Werden
resultiren. „Das reine Sein und das reine Nichts ist also dasselbe.
„Was die Wahrheit ist, ist weder das Sein, noch das Nichts, son¬
dern daß das Sein in Nichts und daS Nichts in Sein nicht über¬
sehe, sondern übergegangen ist. Aber eben so sehr ist die Wahrheit
„nicht ihre Ununterschiedenheit, sondern daß sie nicht dasselbe, daß sie
„absolut unterschieden, aber ebenso ungetrennt und untrennbar sind
„und unmittelbar jedes in seinem Gegentheil verschwindet. Ihre
„Wahrheit ist also diese Bewegung des unmittelbaren Verschwindens
„des Einen in dem Andern, das Werden, eine Bewegung, worin
„beide unterschieden sind, aber durch einen Unterschied, der sich ebenso
„unmittelbar aufgelöst hat." ») Wir mochten es unsMicht versagen,
diese ganze Stelle herzusetzen: sie ist ein charakteristisches Beispiel der
dialektischen Methode. — Es wird Etwas zu einem anderen Etwas:
etwa Wasser zu Eis, ein Samenkorn zu einem Baume. Das Was¬
ser ist als solches in einem fortwährenden Verschwinden begriffen, bis
es Eis geworden, — zugleich ist aber damit unmittelbar das Ent¬
stehen des Eises verknüpft, das bis dahin nicht vorhanden gewesen.
Wenn dies die Weise alles Werdens ist, so ist doch ein solches nicht
ohne ein bestimmtes Ding, das da wird, gedenkbar. Entzieht man
dieses Substrat, so ist das Werden selbst vernichtet - denn es wird
Nichts. — Das Werden ist also untrennbar von den werdenden
Dingen, man mag etwa sagen, die allgemeine Eigenschaft solcher.
Wie jeder einzelne Baum dieses sein Baumsein — 8it ve»i.t vvrlw!
— all allen anderen einzelnen Bäumen gemeinschaftlich hat und dem¬
gemäß die Allgemeinheit mit seiner Einzelheit unmittelbar verbunden
und eins ist, so hier. Die Hegelsche Kategone aber hat auf eine
widernatürliche Weise dieses Allgemeine von seinen Trägern getrennt
und für sich allein firirti sie spricht von einem Werden, das nicht
wird — sie will es construiren aus dem reinen Sein und Nichtsein,
d. h. aus dem Nichts überhaupt und bringt es denn auch varüber
nimmer hinaus. — Siehe da! Die logische Lüge! Und diese andau¬
ernde Abstraktion von willkürlich an einander gereihten Verhältnissen
und Beziehungen des Lebens — und es ist im Verlauf der Logik
die Rede von Mechanismus, Chemismus, Leben, von der Idee des
Guten und des Wahren — diese Verflüchtigung in eine schatten¬
hafte Allgemeinheit, dieser Gedanke ohne einen Denkenden will denn
zuletzt gar mit absoluter Nothwendigkeit die Natur aus sich produ-
ciren — die farblose monotone Idee die Mannigfaltigkeit und Uep¬
pigkeit des tausendfarbigen und tausendformigen Lebens — der ewige
einige Gott — die Fülle deS Daseins in Zeit und Raum. — Aber
Natur, Zeit und Raum sind Phrasen, wie Sein, Werden, Dasein
u. s. f., und daß die Phrase sich selber beweist, ist eben kein origi¬
nelles Kunststück.
An einem klaren Julimorgen begab ich mich nach dem Bahnhof
und verließ auf der Eisenbahn Berlin, „das große Straußenei im
Sande", welches die Sonne der Bildung ausbrüten soll. Draußen
war der Boden dürr; die Vegetation konnte zu keinem festen Ent¬
schluß kommen. Bleichsüchtige Getreidefelder wechselten mit blödem
Kiefernholz, und nur selten kam durch blaublühenden Flachs oder
purpurne Mohnpflanzungen einige Farbe in das Bild — sonst
dominirte die Kartoffel. Das Land sah aus, als schäme es sich,
nicht einmal die schüchterne Birke ernähren zu können; ringsum zeigte
sich Alles glanzlos und schlaff, nur der Staub hatte allein noch
Energie.
Von Angermünde aus überließ ich mich dem Rütteln des Post¬
wagens. Prenzlau und Pasewalk wurden erreicht, verwischte Städte
ohne Physiognomien. Der Abend zog über die Felder, weit umher
lag dichte Finsterniß — wir waren in Pommern. Ein junger Mensch,
auf dessen breiten Lippen sich die Dummheit bequem ausstrecken konnte,
erzählte uns: Prenzlau und Pasewalk hätten vormals fortdauernd
im Kriege gelebt, aber die Prenzlauer wären von den Pafewalkem
bedeutend aufs Haupt geschlagen worden, und noch heutigen Tages
bewahre man zu Pasewalk die Köpfe von sieben Rathsherren aus
Prenzlau. Die alte Fehde glühe auch noch immer unter der Asche
fort, und wenn ein junger Pasewalker nach Prenzlau aufs Gymna¬
sium gethan würde, dann bekomme er wenigstens doppelt so viel
Prügel, als ein Anderer, und zwar aus Nationalhaß. Er — der
Erzähler — müsse das wissen, denn er sei ein Pasewalker von Ge¬
burt und habe fünf Jahre lang das Prenzlauer Gymnasium besucht.
Mir gegenüber saß eine Dame mit vollem Elfenbeinarm, dem
man ansah, daß er gewöhnlich kalt war, daß er aber in traulichen
Stunden sür einen Pygmalion wohl feuriges Leben gewinnen mochte.
.Allen Anzeichen nach mußte sie aus Berlin, oder vielleicht sogar aus
Potsdam sein. Die Dame lächelte beim Schluß der Erzählung. —
Uebrigens ist es wahr: es gab eine Zeit in diesem Winkel zwischen
Oder und Elbe, wo Städte, Ritter und Geistlichkeit einander rastlos
in den Haaren lagen, wie der treffliche Klöden das in seinem „Quitzow's"
so frisch, so treu und so naiv zu erzählen weiß. Noch findet man
hin und wieder auf einzelnen Anhöhen, zwischen Fichten- und Eichen¬
waldungen, die Trümmer von Burgen, in denen jene märkischen
Recken gewohnt haben. Originelle Raus- und Saufbolde, die immer
Courage und Durst besaßen, und die wo möglich noch tiefer in Schul¬
den steckten, als ihre ritterbürtige Nachkommenschaft.
Der Pasewalker sagte, es sei sehr Schade um jene Zeit, und
Alles müsse aufgeboten werden, sie wieder zurückzuführen. Damals
war der Edelmann noch was werth und konnte leben wie Gott in
Frankreich. Wenn zwei Adelige Krieg hatten, so machten sie sich
ein wahres Vergnügen daraus; sie brannten dann nämlich die Dorf-
schaften ihres Gegners nieder und trieben den Bauern ihre Heerden
fort. Sich selber aber thaten sie Nichts. Und wenn doch zufällig
Ritter Jobst in die Gefangenschaft des Ritters Kurt geriet!), so sprach
der Letztere: Ritter Jobst, Ihr seid mein Gefangener auf Ehrenwort
und müßt mir fünfhundert Thaler Lösegeld bezahlen! Nun jagten
und soffen die Beiden den ganzen Tag zusammen. Ritter Jobst aber
schrieb an seinen Vogt, er solle die sünftundert Thaler, gut oder bös,
von den Unterthanen eintreiben, und diese mußten bezahlen, damit
ihr „gnädiger Herr" nur wieder heimkehren konnte. Ja, bei Gott!
Es war eine schöne Zeit, und ich hoffe sie bald von Neuem aufleben
zu sehen, fügte er mit einem Gesichte hinzu, welches polizeiwidrig
dumm aussah.
Ich fragte ihn, ob er vielleicht auf die deutsche Adelszeitung
abonnirt sei, er antwortete „Ja!" und wir kamen nach Anklam, als
der Wächter eben Mitternacht abtütete. Fröstelnd hüllte ich mich in
den Mantel und schlief ein. Als ich erwachte, war das Wetter kalt
und trübe; die Sonne ging hinter Wolken auf, und bald fing ein
betriebsamer Regen an zu strömen. Wir erreichten Greifswald, eine
öde, graue Stadt, in der uns glücklicherweise warmer Kaffee erwar¬
tete. — Die Ostsee kündigt sich unscheinbar an — man glaubt ei¬
nem Landsee entgegenzureisen. Unsere Berlinerin, oder vielleicht so¬
gar Potsdamerin, welche den Cooper, den Sue und den Marryat
gelesen hatte und jetzt nach Putbus in's Seebad ging, wollte uns
trotz aller Betheuerungen nicht glauben, daß sie das baltische Meer
vor Augen habe. Ihr fehlte das Erschütternde des Anblicks, das
Wellengebrause, Mövengeschrill und Sturmgeheule. Statt dessen fand
sie nur einen kahlen Wasserstreifen, flache Ufer, hier und drüben und
zur Seite festes Land — die Dame würde sehr unbefriedigt gewesen
sein, wenn sie nicht Alles sür Scherz gehalten hätte.
'
Stralsund hat durch Wallensteins Schwur: „Ich muß es haben,
und wenn es mit Ketten am Himmel hinge!" eine unverdiente Be¬
rühmtheit erlangt. Das ist gerade, als wenn Journalisten das fade
Buch irgend eines befreundeten Autors durch gigantische Redensarten
künstlich emporgeschraubt hätten. Mit großen Erwartungen nimmt
man es zur Hand und findet Nichts als — Langeweile. Stralsund
liegt auf der Schattenseite der Cultur, und man merkt wohl, daß
schmutzige Fischhändler es gegründet haben. Plumpe, unschöne Gie¬
belhäuser, krummenge Gäßchen, elendes Pflaster — das ist die Stadt.
Ein schmaler Weg am Ufer, voller Gerümpel, Balken, alten Fässern
und Unreinlichkeiten — das ist der Hafendamm. Und hier sollte ich
achtundvierzig Stunden verweilen! Nach Rügen konnte ich nicht hin¬
über, denn die Dächer glänzten naß, und aus allen Rinnen, von
allen Bäumen troff der Regen hastig herab.
Ein Aufenthalt in diesem Theile Pommerns kann übrigens wohl
als Vorstudium zu einer Reise nach Schweden betrachtet werden. Es
herrscht eine gewisse Wahlverwandtschaft zwischen beiden Ländern,
und die Provinz Schonen hat in Boden und Vegetation noch ganz
den pommer'sehen Charakter. Außerdem mußten, durch eine zweihun¬
dertjährige politische Verbindung mit Skandinavien, viele schwedische
Sitten hier Wurzel fassen. Die Lebensweise der Stralsunder hat noch
mancherlei Fremdartiges in sich, und man pflegt die Suppe nicht als
die nothwendige Ouvertüre einer Mittagöoper zu betrachten, sondern
schaltet sie lieber in der Mitte ein. Auch der Dialekt läßt jene Wahl¬
verwandtschaft erkennen, insofern ihn die Schweden für Deutsch, die
Deutschen aber für schwedisch halten. Es wird in dieser Küsten¬
gegend der letzte Versuch gemacht, unsere Sprache zu reden, und man
kann den Versuch nicht eben einen gelungenen nennen. Die Vocale
schlagen fast alle in ein dickes a und ö um; die Consonanten sind
indifferent geworden, und für den Fremden kaum zu unterscheiden.
Nachahmbar ist dieser Dialekt gar nicht, weil der Mund erst durch
den häufigen Genuß pommcr'scher Klöße diejenige Geräumigkeit er¬
halten haben muß, welche er nothwendig erfordert. So stolpert er
aus vollen Backen daher — ein Dialekt in den Flegeljahren — mit
spitzen Ellenbogen und schlotternden Beinen, stößt überall an und
erregt Lachen, wo er sich blicken läßt.
Was ich vorhin von,der Stadt Stralsund sagte, paßt ziemlich
für den ganzen Gau; er liegt auf der Schattenseite der Cultur, oder
stellt den Epheu vor, der sich mit zähen Ranken an die Schutt- und
Trümmerhaufen des Mittelalters klammert. Die Reaction kann kei¬
nen besseren Boden für ihren Samen finden, als den pommer'schen,
denn hier ist noch viel feudalistischer Urwald, den die Art des Fort¬
schritts selten angerührt. Man darf sich nur in Stralsund umsehen,
wie da im Rathhause, vor der langen Reihe von Nachtwächterspie¬
ßen, ernsthaft eine Wache steht, und wie die Leichenbitter mit Degen
bewaffnet einherschreiten, dann wird Einem schon ganz mittelalterlich
zu Muthe. Aber das sind äußerliche Erscheinungen, das ist nur des
Pudels Haut. Dahinter wohnt Vorliebe für Privilegien, Monopole
und Zunftwesen, welches Letztere selbst der Gewerbefreiheit wider¬
standen hat, ohne ihr einen Stein seiner chinesischen Mauer zu opfern.'
— Die Ehrlichkeit der Pommern ist, wie ihre Grobheit, zum Sprich¬
wort geworden. „Grob hält gut!" sagen sie. Gerade, als ob ein
ehrlicher Mensch nicht auch höflich sein könnte.
Zwar ist Pommern ein stockprosaisches Land, aber Finsterniß
hat immer eine Art von grauenhafter Romantik, und darum gibt es
eine Menge pommer'scher Sagen, in denen fast regelmäßig Monsieur
Is Vi-Mo seine Rolle spielt. Sie sind wenig bekannt, und ich will
eine der hellsten und frischesten wiederzugeben suchen.
Bei Stargard liegt, zwischen fetten Weidenhügeln, die Madüe,
ein platter blauer See, und vor der Reformation spiegelten sich die
Thürme und Zinnen des Klosters Kolbatz in ihm. Hier wohnte seit
einiger Zeit der Pater Martin, welcher weit aus Italien hergekom¬
men war, doch nicht freiwillig, sondern auf Befehl seiner Obern und
zur Strafe für das Aergerniß, das er tagtäglich gegeben. Man
weiß ja, wie nachsichtig die Herren stets gewesen sind, wo es fleisch¬
liche Sünden galt, und deshalb kann man wohl behaupten: Pater
Martin muß es etwas toll getrieben haben. Derselbe sah sonst wie
andere fromme Mönche aus: seine Platte brauchte nicht geschoren
zu werden, denn es wuchsen doch keine Haare darauf; in seinem
glänzend feisten Antlitz funkelten zwei lüsterne Augen. Die rothen
Wangen, das Doppelkinn, der Bauch, dessen kein Falstaff sich hätte
schämen dürfen ... all diese Einzelheiten deuteten an, wie gut dem
ehrwürdigen Pater das Fasten und Kasteien in Italien bekommen
war. Aber wunderbarer Weise nahm, seit Martin sich zu Kolbatz
befand, der Vollmond seines Antlitzes immer mehr und mehr ab,
und auch das runde Bäuchlein wurde schwächer. Still und traurig
schlich er durch die gewölbten Hallen, aller Lebensmuth schien ihm
dahin, und seine Ordensbrüder brachten tausend Vermuthungen vor,
was ihm wohl fehlen möge.
Eines Tages, als Pater Martin aus dem Refectorio kam, hielt
er im Klostergarten folgendes Selbstgespräch: Nein, das ist nicht
auszuhalten! Statt des goldig blauen Himmels diese Witterung, die
aus drei Achtel Nebel und fünf Achtel Regen besteht! Statt der
weichen, feurigen Südländerinnen die kalten plumpen Bauerdirnen!
Statt der üppig schwellenden Tafeln diese Hospitalmahlzeilen —
ich magere so zusehends ab, daß sich leicht die Zeit berechnen läßt,
wo gar Nichts mehr von mir übrig sein wird. Wie haben wir heute
wieder gespeist! Zuerst jene sprichwörtliche „blaue Grütze", dann ein
Stückchen Rügenwalder Spickgans, und dann Maränen — Marä-
nen? Gerechter Gott! diese kleinen grätigen Fischchen, die in Italien
kein Facchino essen würde, verhalten sich zu unseren hesperischen Ma¬
ränen, wie Disteln zu Dattelpalmen. Crassus hatte Fische in seinem
Behälter, die er so innig liebte, daß er die Hingeschiedenen beweinte
und sie prächtig bestatten ließ. O, ich möchte auch weinen, wenn
ich an die glänzenden Maränen denke, deren perlmutternes Fleisch
sich in feinen Blättern ablöst, einer silbernen Rose vergleichbar. Der
Teufel soll mich holen, und meinetwegen noch zwölf Mönche dazu,
wen» er im Stande ist, mir eine Schüssel Märtirer zu verschaf¬
fen ---!
Der Leser weiß, daß zu jener Zeit ein weit freundlicherer Ver¬
kehr, als jetzt, ich möchte beinahe sagen, ein gewisses Familienverhält¬
niß zwischen den Menschen und dem Teufel stattfand. Man rief
ihn und er kam. Darum hatte Pater Martin seine Worte kaum
ausgesprochen, so rauschte es in den Büschen, und leibhaftig stand
der Gottseibeiuns vor ihm. Es war aber nicht der moderne Satan,
der sich längst seinen Klumpfuß hat operiren lassen und sich nun,
in Civil oder Uniform, wie andere Leute trägt. Auch nicht Mephisto
mit dem Mäntelchen von rother goldverbrämter Seide und der Hah¬
nenfeder auf dem Hut, denn damals waren noch keine Commentare
zu Goethe's Faust geschrieben. Der alte echte Teufel war es, mit
Horn und Schweif und Klaue — jenes historische Costüm, das ei¬
gentlich so gut wie andere wieder hergestellt werden müßte.
Man möge nicht etwa glauben, Pater Martin sei sehr erschroc¬
ken gewesen — das würde sich in seiner Stellung schlecht geziemt
haben. Zwar erwartete er nicht, daß ihn der Teufel sogleich beim
Wort halten würde, doch da es einmal geschah, so benahm sich Mar¬
tin, wie es sich für einen Mann von Welt und Erziehung schickt.
Er schloß mit dem Bösen einen Contract, worin folgende Paragra¬
phen vorkamen:
Ob die Herren den Contract, herkömmlicher Weise, schriftlich
machten, oder ob sie das Ganze als einen Gegenstand unter fünfzig
Thaler betrachteten, wobei auch mündliche Uebereinkunft bindend ist
— das weiß ich nicht und kann darüber keine Auskunft geben. Ge¬
nug, der Satan fuhr vergnügt von dannen, und auch Pater Martin
befand sich anfangs in der besten Laune; er tanzte ordentlich vor
Lust, wenn er an sein Leibgericht dachte, das er für solchen Spott¬
preis erhalten sollte. Aber nach und nach wurde er stiller und schwer¬
mütiger. Sei eS, daß die Grütze oder die Nügenwalder Gänse¬
brust ihm UnVerdaulichkeiten machte — genug, sein Gewissen regte
sich, und er ging endlich zum Abt, um ihm Alles zu beichten. Die¬
ser schüttelte zwar vorwurfsvoll das Haupt, allein er versprach doch,
das Möglichste zu versuchen, ob er den dummen Teufel nicht über¬
listen könne.
Inzwischen war es Nacht geworden, und eine dichte pommersche
Finsterniß bedeckte die Welt. Der Abt öffnete das geheime Kloster-
pförtchen, bog die Brombeeren zurück, die eS umrankt hatten, und
schlich hinaus. Am Rande der Madüe, wo zwischen spitzen grünen
Schwertblättern die gelben Wasserlilien wuchsen, verbarg er sich hin¬
ter einem Heuhaufen, der wie eine Mönchskappe geformt war, und
den die Bauern deshalb noch jetzt „eineKaputze" zu nennen Pflegen.
Alles ist finster und still ringsum; nur aus den gothischen Fenstern
der Klosterkirche glüht trübrvthlicher Lichtschein, und zuweilen flattern
von dort Orgelklänge und Bußgesang herüber. Auch Pater Martin
liegt zerknirscht am Altar und richtet sein Gebet an den heiligen Pe¬
trus, der ja bekanntlich ein Liebhaber von Fischen gewesen ist.
Draußen geht plötzlich ein Sausen und Brausen an. Wie wenn
der Sturmwind um seine schöne Braut den Mantel schlägt und mit
ihr durch die heulenden Lüste flieht, so kam der Teufel wieder nach
Kolbatz gezogen. Auf seinem Rücken hing der Sack voll Maränen,
die er direct aus Italien hergeholt hatte. Der Orgelton und das
„V«-ni cro-ttoi- Spiritus!" der Mönche machten ihm nervöse Zufälle,
doch setzte er sich entschlossen wartend auf einen Stein. Endlich wird
es still im Kirchlein, die Lichter verlöschen, und er will dem Pater
nun die Maränen abliefern. Da hört man hinter dem Heuhaufen
einen Hahn krähen, und Flammen sprühen aus des Satans Augen.
Zum zweiten Male erschallt das lustige Frühgeschrei, der Teufel stampft
mit seinem Pferdefuß, daß der Boden dröhnt, und zum dritten Male
läßt unser Abt ein recht natürliches „Kickeriki!" vernehmen.
Da schwingt sich Signor Diavolo wutschnaubend empor, und
es riecht nach Schwefel, als ob ein Weinhändler in seinem Keller
beschäftigt wäre. Der geprellte Höllenfürst zieht hinweg und findet
nur in dem Gedanken noch Trost, daß er seine nutzlose Reise nach
Italien ja beschreiben und herausgeben könne. Als er über der Ma-
düe schwebt, beschäftigt ihn dieser Gedanke so sehr, daß ihm der Sack
voll Maränen entfällt und in die Wellen sinkt. Seitdem leben dort
die bunten Fische, zart und schön, wie die Seen Italiens und der
Schweiz sie nur irgend bieten. Sie haben durchaus nichts Inferna¬
lisches an sich, und die frömmsten Leute entblöden sich nicht, ihre
Tafeln damit zu schmücken.
So lautet die Sage, und man kann daraus die zeitgemäße
Moral ziehen: daß es wohl des Versuches lohnte, schmackhafte Fische
nach Gewässern zu versetzen, wo sie nicht heimisch sind, und wo der
gebildete Jchthyophage ihren Genuß entbehren muß. Man sieht ja,
daß es möglich ist, sse zu acclimatisiren,, denn Friedrich der Große
hat auch den Sterlet (^cipvoser liutllenus) aus der Wolga und
dem Jaik nach Pommern bringen lassen. Derselbe kommt dort noch
zuweilen vor, und bei besonders festlichen Gelegenheiten ziert Einer
den königlichen Tisch.
Am Abend vor meiner Abreise bellte sich der regnerische Him¬
mel ein wenig auf, aber im Osten blieben düstere Wolkenballen la¬
gern, und grellgoldig ging die Sonne unter. Das Stralsunder Rath-
haus mit seiner alterthümlich durchbrochenen Fa^abe und den Kirch¬
türmen daneben glühte so energisch, daß der Widerschein blendend
in mein gegenüberliegendes Zimmer siel .... Alles deutete auf
Regen und Sturm.
Morgens war es doch noch leidlich hell, und der Westwind
fegte den Himmel von Dünsten rein. Im Hafen schaukelte die „Kö¬
nigin Elisabeth", ein schönes Dampfboot; ich bestieg dasselbe, und
mit dem Glockenschlage verließen wir das Land. Zur Linken hatten
wir die schmale Insel Hiddensee, zur Rechten zeigten sich Rügens
flache Ufer, hinter denen Stubbenkammer, das Carrara der Kreide,
emporstieg. Auf dem Eiland ruht Hertha's keuscher Hain mit dem
tiefen, stillen See, wo einst Sklaven den Wagen der Göttin waschen
mußten, und wo die Unglücklichen dann in der blauen Fluch unter¬
gingen, damit sie von den Eleusinien Nichts verrathen konnten. Hier¬
her wandern alljährlich in den Hundstagsferien die Lehrer und Schü¬
ler norddeutscher Gymnasien; ihren Tacitus in der Hand, betreten
sie mit ehrfurchtsvollem Schauer die classischen Stätten, gedenken der
alten Rugier und schreiben ihre Empfindungen in's Tagebuch.
Ich aber kümmerte mich um Hertha, Tacitus und Rugier nicht
— ich fuhr ja wieder einmal auf der freien frischen See und jubelte
„Thalatta! Thalatta!" Alle Sorgen, allen Kummer warf ich von
mir; ich vergab allen Recensenten und sog in vollen Zügen die
kräftige Meerluft ein. Zu Mittag waren wir auf der Höhe von
Arkona, die Sonne stand als ein großes Freudenauge am Horizont,
und die laue, blaue See glitzerte und schimmerte ordentlich vor Lust.
Auch auf dem Schiffe war es nicht traurig und still. Wir hatten
Tyroler an Bord, zwei Männer und ein Mädchen, welche gegen
Norden zogen, um den Skandinaviern ihre hellen Berglieder vorzu-
jodeln. Den Einen hätte ich freilich lieber mit Stutzen und Alpstock
auf den Felsen sehen mögen, denn er war ein schöner Mann, und
alle seine Bewegungen zeigten jene frische Entschlossenheit, welche nur
ein Volk erwirbt, das fortwährend von den Gefahren der Alpenwelt
umgeben ist und sie besiegen muß. Das Leben in der Fläche macht
blöde und unsicher. Sein Kamerad mochte aber wohl Einer von
denjenigen Tyrolem sein, die heute als Handschuhhändler, morgen
als Sänger und übermorgen als Vagabund auftreten; es flog ein
wüster, lauernder Zug über sein ewig lächelndes Angesicht. Das
Mädchen hatte schwarze erfahrene Augen, und man fühlte bald, daß
sie zum Tempeldienst der Vesta verdorben sei.
Unsere Reisegesellschaft planirte sich im Halbkreis auf dem Deck;
den Mittelpunkt nahmen die Tyroler ein, sie sangen und spielten,
tanzten und jodelten in Einem fort. Ich saß zu den Füßen einer
jungen Schwedin, welche mir die schwierigsten Wörter ihrer Mutter¬
sprache vorsagte, doch benahm ich mich so täppisch bei der Lection,
daß die hübsche Lehrmeisterin gar nicht aufhörte zu lachen. Die Küste
schwand indessen, hinter uns, wir waren Stundenlang nur von Him¬
mel und Wasser umgeben; allein wir bemerkten es kaum, denn spie¬
gelglatt lag die See, einem silbernen Binnenwasser vergleichbar. Der
Berliner Kammermusikus, der die Reise mitmachte, war sogar halb
und halb ärgerlich, denn er meinte: ein ganz kleines Stürmchen hätte
er doch gern erlebt.
Während uns die Zeit in Scherz und Lust vorübergaukelte, hob
sich das schwedische Ufer aus den Wellen empor, und bei Sonnen¬
untergang landeten wir im Hafen von Ystadt. Es ist das ein klei¬
ner engbrüstiger Ort mit einem einzigen Kirchthurm, aber lautes Re¬
gen und Treiben wogte vom Quai bis zum Gasthofe hinauf. Im
Menschengewühl sah ich sogar eine cigarrenrauchende Dame, und
wie man sich im fremden Lande aller heimathlichen Spuren freut,
so begrüßte ich hier gerne diese Vorläuferin der Frauenemancipation.
Aus dem Hotel rauschte mir ebenfalls eine helle Munterkeit entgegen,
die Sprachen mancher Völker tummelten sich durcheinander, und in
der Mitte stand Herr Lund, des Hauses ehrlicher Wirth, stets be¬
müht, die tausend obwaltenden Mißverständnisse auszugleichen.
Es gibt immer ein sonderbares Gefühl, wenn man sich Abends
in einem Lande findet, das durch und durch verschieden ist von dem,
welches man Morgens verlassen hat. Und Schweden tritt gleich sehr
charakterfest auf; die kleinsten Sitten und Zustände äußern sich sehr
rationell, es fehlt jener leise schattirte Uebergang, den man bei Völ¬
kerschaften sieht, die nur durch polirische Grenzen von einander ge¬
schieden sind. Wie gesagt, das Land stellt sich von Hause aus u»
sprünglich und eigen dar, aber die Erwartung einer gewissen rauhen
Kälte und Stille der Bewohner, welche ich mitgebracht, sollte schon
in Ystadt vertilgt werden. Im Hausflur und auf der Treppe rausch¬
ten seidene Gewänder an mir vorbei; ich sah hohe Damengestalten,
schlanke Taillen und lachende Augen. Das Halbdunkel mehrte den
Reiz der Neuheit noch, und ich war ganz trunken vor Ueberraschung.
als mich ein Sonnenschirm-Fächer neckend auf die Schulter traf.
Mein Zimmer lag vom heraus, die Fenster beherrschten weit
den Meeresspiegel, und ich fand dasselbe für ein kleines Hafenstädt¬
chen recht gut mit Sopha, Lehnstühlen und Himmelbett eingerichtet.
Unter der Mousselinwolke deö Letzteren schlief ich vortrefflich, bis Herr
Lund mich früh mit der Sonne weckte, um mir anzukündigen: der
„Svithiod" zeige bereits seine flatternde Rauchstandarte am Horizont.
Gegen sechs Uhr legte das Boot an, ich bestieg es und fühlte mich
ziemlich fremd und unheimlich darauf. Die Reisegesellschaft kam von
Lübeck; sie hatte bereits Leid und Freude mit einander durchlebt und
schien wenig geneigt, noch einen unerfahrenen Neophyten in ihre ge¬
schlossene Loge aufzunehmen. Solch Verhältniß hat immer etwas
Peinigendes. Mit mir schifften sich nur die Tyroler und etliche hun¬
dert Schweine ein, welche gepökelt waren — nämlich die Schweine.
Nachdem ich die Präludien überstanden, wurden die Anker ge¬
lichtet. Das Wetter war schön, aber die See rauschte hoch, und auf
den blaugrünen Blättern der Wellen blühten silberweiße Schaum¬
lilien. Mehrere Passagiere sahen blaß aus, ihre Nasen traten spitz
hervor, und zuerst sielen die Tyroler der Seekrankheit anheim. Nep¬
tun mochte wohl ärgerlich sein, daß die Kinder der Berge sich in
sein Reich gewagt, und diese wünschten sich zu den höchsten Alpen
hin, wo die Lawine niederdonnert, wo Gebirgswasser sich gewaltsam
Bahn brechen, und wo die Nagelfluhe Alles, was ihr nahe kommt,
zu begraben droht. Es gibt keine unzuverlässigeren Ausdrücke, als
Muth und Gefahr — das hängt eben nur von Gewohnheit ab.
Der allein ist muthig, der unerwarteten, nie gesehenen Schrecken mit
kühnem Auge und ruhigem Herzen entgegengeht.
Das Schiffsglöcklein läutete, wir wurden zum Frühstück gerufen.
So eine schwedische Frühkost entwickelt sich nicht ohne gewisse epische
Breite. Bald nach dem Aufstehen genießt man einen liop cassv me<I
8korrw>-, d. h. mit Zwieback, und zwei Stündchen später setzt man sich
an den vollständig gedeckten Tisch. Hier nimmt man zuerst einen
8»I>, nämlich ein Glas Kümmel- oder Anisbranntwein, dann trinkt
man Thee, ißt Butterbrod, Schinken, Wurst, Käse und Bier dazu,
und am Ende folgt noch ein ohren Kvtträtt-Beefsteaks, Cotelettes
oder dergleichen. Während der Mahlzeit zeigte sich die Gesellschaft
schon offener und zugänglicher; ich begriff nun, daß ich von interes¬
santen Charakteren umgeben sei, und diese Ueberzeugung machte mich
eben so heiter als entgegenkommend. Ich will ganz kurz die Sil¬
houetten einiger Personen zeichnen, welche der Zufall im Salon des
„Svithiod" vereinigt hatte.
Oben an der Tafel saß unser Capitain, ein hübscher Mann mit
jovialen Augen. Er hatte für jeden Passagier eine besondere Auf-
merksamkeit, auf jede Frage ausführliche und freundliche Antwort —
er war Schwede durch und durch. Dann kamen zwei zahlreiche
Predigerfamilien, mit denen, als Pensionärin, eine kleine Gräfin
reiste. Nie sah ich ein reizenderes, unschuldigeres Kindergesicht, al¬
lein ihre großen braunen Augen schienen bestimmt, künftig einmal
unsägliches Glück und Unglück anzurichten. Neben ihnen saß ein
hochgewachsener Mann in einfachster bürgerlicher Tracht; seine ganze
Haltung ließ jedoch den Militär nicht verkennen. Graf S. war es,
ein Nachkomme jenes Freundes und Feldherrn Friedrich's des Gro¬
ßen, welcher den Sieg bei Prag am 6. Mai 1757 mit seinem Le¬
ben erkaufte. Er kam eben von der Heuernte auf den Gütern, die
dem tapfern Vorfahr gehört harten, und die dem Erben lange ent¬
zogen wurden, weil ihr Besitz nicht hinreichend documemirt war.
Aber Friedrich Wilhelm III. sagte: „Recht muß Recht bleiben, wenn
man auch nicht Brief und Siegel darüber vorzeigen kann!" und gab
der Familie ihr Eigenthum zurück, das eine halbe Million werth ist.
Des Grafen Nachbarin war Fru Nyberg, eine schwedische
Dichterin, die unter dem Namen „Euphrosyne" schreibt. In Deutsch¬
land kümmert sich freilich kein Mensch um die „Viktor ni' Lupliro-
sz^ne", doch jeder gebildete Schwede kennt sie und ihre Verfasserin.
Diese mag einst schön gewesen sein, jetzt aber sind Furchen, wo
vormals Blüthen waren. Euphrosyne ist 1785 geboren — Schrift¬
stellerinnen erkaufen ihren Ruhm theuer genug für den Preis, daß
ihr Alter in jedem Lerikon steht. Eine schwarze Tüilhaube mit feuer¬
rothen Blumen bedeckte ihr Haupt, und um den Hals trug sie große
Bernsteinkorallen, eine goldne Uhrkette und ein sammetnes Lorgnet¬
tenband. Sie blieb immer still und in sich zurückgezogen, sprach we¬
nig, und verlebte den größten Theil des Tages unten in der Sa¬
bine. Fru Nyberg kehrte von Paris zurück, und mit ihr reiste ein
junges Mädchen aus angesehener Familie. Emilie Holmberg,
so heißt sie, hat ein reiches musikalisches Talent; ursprünglicher Reiz
zeichnet ihre Liedercompositionen aus, welche um so günstiger empfan¬
gen wurden, als die Muse der Tonkunst dem Lande Schweden bis¬
her nur spärliche Geschenke gab. Es schwebte etwas ungemein Zar¬
tes und Elfenartiges um die ganze Erscheinung dieses Mädchens.
Lange Locken flatterten an ihren durchsichtig weißen Schläfen herab,
zwei Taubenaugen schauten fromm und freundlich in die Welt, und
nur ein leiser Anflug von Melancholie dämpfte ihren Spiegel.
Emilie zeigte sich unbefangen und plauderte gern mit den Männern;
ihre Seele war zu rein, um prüde sein zu können.
Zur Seite der Componistin saß ein hübscher jugendlicher Mann
im weiten Kaftan von grünem Sammet, Baron R, ein Nachkomme
dessen, der mit Ankarström und Horn geloos't hatte, wer den König
erschießen solle. Wir konnten uns keinen munterem und liebenswür¬
digem Reisegenossen wünschen. R. wollte keinen Moment ohne Ge¬
nuß verfliegen lassen, und man sah es seiner hohen markigen Figur
an, daß ihm die physische Kraft gegeben sei, die zu solchem Stre¬
ben erfordert wird. Er war früher einer der berühmtesten Löwen
Stockholms; hundert Abenteuer, hundert pikante Novellen blitzten
in seinem dunklen Blick, und ein seiner Materialismus lag auf allen
Zügen. Vor Kurzem hatte R. ein blühend schönes Weib genommen,
und sowohl dies, als eine gediegene Bildung milderte seinen unge¬
stüm feurigen Sinn, wenn ihm auch zuweilen der Witz noch etwas
champagnerwild von den Lippen brauste. Aber immer war er frisch,
angeregt und geistvoll, die Schlaffheit kannte er nicht.
Auf der andern Seite des Tisches hatte sich zuerst ein Englän¬
der placirt, ein echter Engländer, der während des Essens für jede
Unterhaltung verloren ging. Sein Nachbar, ein junger Forstmann
aus Dänemark, war mir, seit ich das Schiff bestiegen, zutraulich
und freundlich entgegengekommen, und auch ich fand Vergnügen im
Umgang mit ihm. Nun folgte der geniale Violinspieler Nagel mit
seinem lebhaften Frauchen. Sie kamen von Amerika, wo er für sil¬
berne Töne goldene Realen eingetauscht, und beide befanden sich in
bester Laune. Nagel, ein Jude von Geburt, stammt aus Laibach
und wird von den Stockholmer Musikfreunden sehr geschätzt. Er ist
ein vollendet schöner Mann und spricht sieben Sprachen mit glei¬
cher Eleganz.
Neben Madame Nagel hatte ich Platz gefunden, und meine an¬
dere Nachbarin war eine junge Schwedin, von der ich nur erfuhr,
daß sie Maria hieße. Sie mochte kaum über achtzehn Jahre alt
sein, und man kann sich wirklich kein reizenderes Wesen denken. Der
schlanke und doch volle Wuchs; die unbeschreiblich feine Haut, durch
welche das Gewebe der Adern schimmerte; der Carmin ihrer Wein-
gen, zarter Emaille vergleichbar; kohlschwarzes Haar und cyanenblaue
Angen — das Alles vereinigte sich zu einem entzückenden Bilde.
Aber hin und wieder flog ein ängstliches Zucken um Maria's Mund,
wie die Mimosa zusammenfährt, wenn ein Insekt ihre Blätter be¬
rührt. Das Mädchen hatte gewiß schon viel Lust und Schmerz er¬
lebt, sie hatte vom Baum der Erkenntniß gekostet — man konnte
es im tiefen traurigen Geheimniß ihrer Augen lesen. Nur mit kur¬
zen Worten antwortete sie auf meine vorsichtigen Fragen, sie war
sint wie ein gebrochnes Herz.
Bei Maria saß ein mercantilischer Jüngling aus Lübeck, der
sich noch möglichst vergnügen wollte, ehe er nach Finnland ging,
und an seiner Seite befand sich Monsieur Robineau, ein kleiner
flotter Franzos. Er reifte, um Aufträge auf bunte Papiere, Cham¬
pagner, Goldleisten und seidne Waaren zu sammeln, doch das Haupt¬
geschäft machte er mit ewig gutem Humor. Von seinem spaßhaft
häßlichen Gesicht war unter dem dichten Barte wenig zu sehen, er
trug ein rothes Mützchen und sah wie ein säbelbeiniger Gnome aus.
Keinen Augenblick konnte er still bleiben, fortwährend rückte er mit
dem Stuhl und schleuderte sprühende Witzraketen über die Tafel. —
Es kamen hierauf noch beinahe ein Dutzend Passagiere, von denen
sich durchaus Nichts weiter sagen läßt, als daß sie auch auf dem
Schiffe waren.
Man wolle es nicht übel deuten, wenn ich meine Reisegefähr¬
ten so umständlich beschrieb, als ob es eine Schlachtordnung ho¬
merischer Helden wäre. Was hat der Seefahrer wohl sonst für Ge¬
genstände, die seine Aufmerksamkeit fesseln, seine Leser interessiren
könnten? Einsam rauscht das Schiff durch die Wasseröde, und gibt
es ja grandiose Naturschauspiele, dann pflegt sich ein reisender Schrift¬
steller selten in der Lage zu befinden, um sie nachher mit treuen
Farben zu schildern. Diesmal verhielten sich Wind und Wogen
noch ziemlich ruhig, es flog nur ein frisches Lüftchen über den wal¬
lenden Spiegel hin, und während wir an der grünen, kornreichen
Küste von Schonen entlang unsre schäumende Furche zogen, stieg im
Süden Bornholm empor. Kaum hatten wir aber den letzten Land¬
streifen aus dem Gesicht, da wurde das Wetter wüst und wild.
Unser Dampfboot schaukelte so gewaltig, daß die kaum Genesenen
sich von neuem krank fühlten, und der Sturm jagte die Wellen über
Deck, auch uns Gesunde vertreibend.
Einige Worte werden hinreichend sein, die Localität des Schif¬
fes anzudeuten. Vorn liegen die Cabinö der Damen, zu denen kein
Mannsbild hinunter darf, und im Hintertheil ist die große Cajüte.
Diese enthält den elegant eingerichteten Salon, von zwölf Herren-Cabi-
nen umgeben. In jeder Zelle befinden sich zwei Betten über einander,
und sie kann, nach dem Salon zu, entweder durch eme feste Maha-
gonythür, oder durch eine leichte Seidengardine geschlossen werden.
Dies bietet den Männern die ungemeine Behaglichkeit, sich, während
die Damen bei schlechter Witterung den Salon suchen müssen, in
ihre Häuslichkeit zurückziehen zu können. Hinter der blauen Gardine
kleidet man sich um, streckt sich auf dem Lager aus und hört drin¬
nen die Unterhaltung. Ja, man plaudert sogar mit den Damen,
und oft wissen diese kaum, aus wessen Zelle die Stimme tönt, die
sich in ihre Gespräche mischt. Das gibt dann zu Irrthum und La¬
chen Veranlassung.
Als oben auf dem Deck, der überströmenden Wellen wegen,
nicht mehr zu dauern war, hatten wir uns im sichern Raum des
Salons versammelt, und es wurde hier ein musikalischer Zirkel ar-
rangirt. Der kleine verschmitzte Tyroler trug jene possierlichen Stück¬
lein vor, die in Oesterreich so sehr beliebt sind. Auch Fräulein
Holmberg sang, und Nagel begleitete sie auf der Guitarre. Es
waren größtentheils schwedische Volkslieder, und aus diesen sehn^
süchtigen Weisen mit ihrer schmeichelnden Wehmuth blühte mir Schwe¬
dens Volkscharakter recht unmittelbar entgegen. Einer brachte die
Nachricht, des Wetters Ungestüm habe sich ein wenig gelegt, und
wir gingen, in Mäntel gehüllt, auf dem nassen Deck umher. Da
kam ein andres Dampfschiff — der „Gaulhiod" — an dem unsri-
gen vorbei, wir salutirten einander und begrüßten uns mit den
Passagieren drüben so vertraut, als ob es lauter Freunde und Be¬
kannte wären.
Nach dein Souper eröffneten wir von neuem den musikalischen
Salon, und Emilie, die junge Sängerin, bezauberte mich. Sie
war nicht groß, ihrem Gesicht fehlte es an Farbenfrische. Ein mat¬
ter Teint, dunkelblondes Haar und graublaue Augen lassen sich
nicht schön nennen, aber wenn sie die Guitarre nahm, wenn sich
ihre Lippen zum Gesang öffneten, dann belebte sich das Alles. Ueber
die Wangen zog ein leises Noth, die Augen glänzten seeleninnig
und die Locken rollten müde um das liebe Angesicht, wie Thränen¬
weiden, durch die der Mondstrahl schimmert. Hierzu nun die
Streiflichter der schwankenden Schiffsampel; der düstere Hintergrund
des Gemaches; im Innern ein Kreis entzückter Hörer; draußen
das Stampfen der Maschine, das Brausen der Räder, das Kra¬
chen der See . . . dies vereinigte sich, um eine eigne, feenhafte Sce¬
nerie hervorzubringen.
So haben auch wir unsere große Woche gehabt, unsere Juni¬
tage, unsere Straßenemeuten, unsere braun und blau geprügelten
Tricoloren, die vollständigste Revolution gegen die Dynastie — der
Kattundrucker. Ware die Sache nicht so verteufelt ernsthaft, man hätte
sie für Spaß halten können. Eine Revolte in Prag! Achtzehnhundert
Menschen, die sich zusammenrotten und ein förmliches Lager bilden
— seit der Schlacht am weißen Berge hat man solches hier nicht
gesehen, und doch gibt es hier keine subversive Presse, keine Pam¬
phlets ä la Treumund Welp. Was würde der schlestsche Oberprä¬
sident von Merkel sagen, wenn er den hiesigen Scenen beigewohnt
hätte! Haben etwa „Ost und West", oder „die k. k. privilegirte Pra¬
ger Zeitung" durch ihre revolutionären und communistischen Artikel die
Drucker aufgereizt?
Die halb komische und ganz ernsthafte Episode, die wir hier er¬
lebten, hat mancherlei große Lehren in ihrem Gefolge, einen t'-dient-t
«locvt: mimo, daß der Mensch überall ein Mensch ist, er mag nun
den National, oder die Prager Zeitung, oder auch gar Nichts lesen;
secunilo, daß das Fabrikenwesen in allen Ländern der Welt eine
große Krisis herbeiführen wird, und daß Lyon und Manchester auch
in Schlesien und Böhmen ihr Widerspiel haben.
Lassen Sie mich die hiesigen Vorgange näher beleuchten. Die
Lage der hiesigen Kattundrucker ist sehr zu unterscheiden von der der
Weber in Langenbielau :c. Die dortigen Arbeiter, in zwei, drei Dör¬
fern concentrirt, deren Bevölkerung nur von den dort etablirten Fa¬
briken lebt, wo der Fabrikherr gewissermaßen die Arbeiter als seine Leib¬
eigenen betrachten kann (wie es denn wirklich dort vorgekommen ist,
daß einer der dortigen Fabrikanten seine Arbeiter zwänge alle ihre
Nahrungsmittel und sonstigen Bedürfnisse von ihm zu kaufen), befin¬
den sich in einer ganz anderen Lage, als unsere Kattundrucker, die in
einer Stadt von nahe an einmalhundert zwanzigtausend Einwohnern
hundert andere Gewerbe und Beschäftigungen finden, so daß der Fa¬
brikant hier ihnen keine Gesetze vorschreiben, und wenn der Lohn
nicht im Verhältniß zu der Arbeit steht, Zedermann seinem freien
Willen folgen kann. Auch sind die hiesigen Kattundrucker in so fern
nicht mit den schlesischen Webern zu vergleichen, als diese schwächlich,
von Jugend auf zu einer fast verkrüppelnder Arbeit erzogen, keinen
anderen Nahrungszweig betreiben können, als eben diesen, während
der Kattundrucker erst bei voller Kraft dieser Handthierung sich unter¬
ziehen kann, und die Art der Arbeit seine Muskeln noch mehr stählt.
Man hat diese kräftigen, prächtigen Bursche, die in fast militärischer
Ordnung in's Jägerhaus des Baumgartens hinauszogen, nur zu se¬
hen brauchen, um die Ueberzeugung zu gewinnen, daß diese Menschen
jedem Gewerbe willkommen sein werden, wo man handfeste Männer
braucht. Auch war es nicht Lohnherabsetzung, was die Aufregung
herbeiführte, sondern die Einführung neuer Maschinen. Am 17. Juni,
an einem Montage, d. h. beim Eintritt der Werkeltage, kamen die
Drucker der Portheimischen Fabrik und verlangten von ihrem Vorge¬
setzten ihre gewöhnliche Arbeit. Die Portheimische Fabrik, eine der
größten Kattunfabriken Oesterreichs, hatte drei neue Perotinemaschincn
aufgestellt, und den Druckern wurde daher der Bescheid, sie müßten
vor der Hand warten und könnten erst später beschäftigt werden; die
Drucker wurden grob, der Mann wurde grob, und da obendrein die
Fabrikbesitzer Israeliten sind, was immer bei den ihnen Untergebenen
leichter Widersetzlichkeit und Erbitterung herbeiführt, so suchten sich die
Leute frischweg zu rächen und schlugen die Maschinen in Stücken.
Von bier aus zogen sie nach dem nahen Holschowitz, wo eine andere
Fabrik, die Dormitzer'sche, sich befindet, überredeten die dortigen Druk-
ker, gemeinschaftliche Sache mit ihnen zu machen, und ihre Erbfeinde,
die Maschinen, zu zerstören, was auch geschah. Von hier ging es nach
der Stadt, der Brandeis'schen Fabrik zu, welche dasselbe Loos theilte,
und sofort auch andere Fabriken. Wohlgemerkt, nur die Maschinen
wurden zerstört, an das Eigenthum der Besitzer wurde keine Hand
gelegt, und zu ähnlichen empörenden Plündcrungssccncn, wie sie in
Langenbielau stattfanden, regte sich kein Gedanke; der natürliche Sinn
dieser Leute hielt sich blos an Maschinen, die sie um ihr Brod brach¬
ten, oder zu bringen drohen. Auch ist es falsch, wenn man diesen
Leuten vorwarf, daß ihr Haß dadurch entstanden, weil diese drei Fa¬
brikanten Juden sind, denn wenige Tage darauf fanden dieselben Sce¬
nen bei den christlichen Fabrikanten in Reichenberg statt, wo nur das
herbeieilende Jägerregiment die Fabrikgebäude zu schützen vermochte.
Auch hier eilte bei der ersten Kunde, welche die Behörden erhielten,
das Militär herbei, um die -Fabriken vor schlimmeren Loose zu schüz-
zcn. Auf allen öffentlichen Plätzen wurden die Wachen verstärkt. Die
Drucker, die sich nun zusammengethan, und deren Anzahl sich auf
achtzehnhundert belief, zogen Tags darauf in ruhiger Ordnung, ohne
die mindesten Ercesse sich zu Schulden kommen zu lassen, nach dem
Baumgarten, um dem Erzherzog Stephan und dem Obersiburggrasen
die Ursachen ihrer Beschwerden vorzulegen. Sie erhielten die besänf¬
tigende Antwort, sie möchten nur sofort an ihre Arbeit gehen, man
werde ihre Sache ernstlich untersuchen. Während voller acht Tage
wurde jedoch in keiner Fabrik gearbeitet, wie gewöhnlich bei solchen
Gelegenheiten, erhitzten sich die müßigen Leute in den Wirthshäusern
allerlei liederliches Volk, an welchem jede große Stadt so reich ist.
strömte aus seinen Schlupfwinkeln herbei und schloß sich an, oder
rottete sich auf eigene Faust zu Haufen zusammen. Die Judenfabri¬
ken brachten allmälig die Gedanken auf die Juden selbst; man sprach
von Plünderung. Die Judenstadt, hieß es, besitze große Reichthümer,
die einer näheren Bekanntschaft wohl werth seien. Mittlerweile führte
der Weg hie und da einen Juden durch die Straße, der auf Abschlag
mißhandelt wurde. Indessen war man auch in anderen Theilen
der Stadt vor Excessen besorgt, die Wachtposten wurden noch mehr
verstärkt, das Militär in die Easeriien consignirt und das kluge Mit¬
tel gebraucht, die militärischen Streitkräfte mit einer gewissen Osten¬
ration durch die Straßen ziehen zu lassen und vor jedem bösen Ver¬
suche abzuschrecken. Placate wurden an 'den Straßenecken angeschlagen,
worin zur Ordnung und zur Ruhe unter Androhung der gesetzlichen
Strafe gegen Aufwiegler und Ruhestörer ermahnt wurde. End¬
lich fanden jedoch mehrfache Verhaftungen statt, sowohl unter den
Druckern, die bei der Zerstörung der Maschinen auf der That ergrif¬
fen wurden, wie auch unter dem lärmenden Pöbel, unter dem sich
mancherlei fremdes müßiges Volk befand, das auch fogleich über die
Grenze gewiesen wurde. Am Montage darauf versammelten sich die
Weiber der Verhafteten und durchliefen schreiend die Straßen, man
möge ihre Männer frei geben und nicht wegen ein Paar Juden so
viel Christen verhaften. Eine große compacte Volksmenge, von die¬
sem Geschrei angezogen, versammelte sich in der Tuchmachergasse
vor der Epstein'schen Fabrik, warf Steine in die Fenster und machte
Anstalt zu stürmen; eine Abtheilung Militär rückte nun in geschlosse¬
nen Reihen herbei, ohne jedoch die Menge zum Weichen zu bringen,
vielmehr soll einer der Offiziere von einem Steinwurfe sehr schwer
verwundet worden sein. Unser trefflicher Bürgermeister, der Herr Ap-
pellationSgerichtsrath Müller, begab sich indessen unter die aufgeregte»
Massen und stellte ihnen vor, wie sie selbst in ihr Unglück rennen
wollten, indem das Militär die Weisung habe, nach dreimaliger ver-
gcblicher Aufforderung Feuer zu geben. Die eindringlichen Reden die¬
ses populären Mannes, dem sich auch noch andere Bürger anschlössen,
so wie der Anblick der imposanten Militärmacht wirkten endlich so
weit, daß die Menge sich verlief, ohne daß es zu dem traurigen Ge¬
brauch der Waffen kam. Mittlerweile hatte die bessere Einsicht bei
den aufgeregten Druckern gewirkt, die Meisten kehrten wieder in die
Fabriken zurück, Andere suchten anderweitige Arbeit, und die Ruhe
und Ordnung ist vollkommen wieder hergestellt. Betrachten wir die¬
sen traurigen Vorfall nicht in seimr Einzelnheit, rechnen wir die be¬
trübenden Ereignisse in Reichenberg dazu, wo sogar Blut geflossen ist,
obschon keine religiösen Antipathien dort zu Grunde liegen konnten;
betrachten wir die schlestschen Ereignisse, wo gleichfalls die Schuld
nicht auf religiöse Vorurtheile gewälzt werden kann, so finden wir
ein gemeinsames Uebel als Grundursache. Es ist diese nicht etwa
blos der Egoismus der Fabrikanten, sondern der noch weit unverzeih¬
lichere Egoismus des Staates. Wie der Fabrikant nur den eigenen
Vortheil bedenkt, der ihm aus der Arbeit erwachst, ohne übrigens um
den Arbeiter sich zu bekümmern, so denkt der Staat auch nur an
den Vortheil, den ihm die Fabriken bringen, ohne um die Fabriciren-
den zu sorgen. Der Staat aber ist eine moralische Person und
muß daher auch moralischer sein, als der Fabrikant. In seinen Augen
darf nicht blos der Fabrikherr, sondern auch die mitarbeitenden Kräfte
als Fabricircnde betrachtet werden ; er muß für die Aufmunterung
und das Wohl der Arbeiter eben so besorgt sein, wie für das des
Arbeitgebcndcn. Allerdings ist dies ein Feld, wo die Kritik leichter ist,
als der schöpferische Gedanke; noch haben leider die socialen Theorien
ihre praktische Möglichkeit nicht erreicht, und mit dem besten Willen
kann der Staat blos hie und da flicken, nachhelfen, ohne radical zu
organisiren; selbst England, das durch lange Erfahrung uns so über¬
legen ist, hat noch kein Mittel gefunden, daS Interesse des Fabrikan¬
ten mit dem des Arbeiters in ein gleiches naturrechtliches Verhältniß
zu bringen. Unwillkürlich kommt man bei Betrachtung dieser Lage
auf den Gedanken, ob die forcirte Industrie der Fabriken wirklich
eine Wohlthat für den Staat ist, und ob die Staaten wirklich die
Aufgabe haben, auf eine und dieselbe Weise mit einander zu concur¬
riren. In Oesterreich zumal, und noch insbesondere in Böhmen, wo
die Agricultur noch so viele Verbesserungen zuläßt und erheischt! Wür¬
den die Capitalien, die jetzt in einer flüchtigen, fieberhaften Baumwol¬
lenindustrie verwendet werden, dem Lande nicht einen bleibenderen,
gleichmäßigeren Nutzen bringen, wenn sie in seinem Boden und seiner
Bebauung angelegt werden? —
Es hätte nicht viel gefehlt, so würde» wir auch in Preußen eine
Art von Juliordonnanzen erlebt haben, durch welche die halbe Pre߬
freiheit, deren wir uns jetzt erfreuen, wieder ganz aufgehoben worden
wäre. Es war nämlich davon die Rede, daß unser Obcrcensurgerichl,
welches — so lange sein jetziger Präsident, der StaatSsecretär Bor¬
nemann, an dessen Spitze steht — als eine Garantie dafür betrachtet
wird, daß sich die Censur nicht wieder die alten willkürlichen Ueber-
griffe erlaube, nicht länger fortbestehen solle. Und zwar heißt es im
Publicum, daß die Weberaufstande in Schlesien, welche man unbe-
greiflicherweise den Einwirkungen der Presse beimifit, im Staatsmi-
nisterium den Antrag veranlaßt haben, das Obercensurgericht aufzu¬
heben, dessen freisinnigen Entscheidungen die Schuld beigemessen wird,
daß aufregende Zeitungsartikel und Broschüren nicht blos die Censur
passirten, sondern auch in die Weberdistricte kamen. Wir dürfen uns
Glück wünschen, daß diese Ansicht, die ein bloßes Symptom der Krank¬
heit mit der ihr zum Grunde liegenden Ursache verwechselt, im Staars-
ministerium nicht den Sieg davon getragen hat. Von der Presse läßt
sich dasselbe wie vom Wein sagen: „Sie erfindet nicht, sie plaudert
aus." Allerdings kann ein solches Ausplaudern unbequem, ja ver¬
letzend sein, aber man bessere nur, was dahinter steckt, und dann wird
auch kein Geheimniß mehr zu verrathen sein, welches das Tageslicht
zu scheuen braucht. — Unser Criminalpolizei-Director Duncker soll
vor einigen Tagen mit einer Mission, die mit der Weberangelegcnhcit
zusammenhängt, nach Schlesien und Böhmen abgereist sein. Wir glau¬
ben jedoch, auch das werde nicht zum Ziele führen. Herr Duncker ist
in seinem Genre gewiß ein nicht blos unentbehrlicher, sondern auch
in Deutschland von keinem Andern übertroffencr Mann. Aber die
armen Weber gehören gar nicht in den Bereich des Herrn Duncker.-
sie sind weder Verbrecher, noch Demagogen, sie sind ein leidiges Pro-
duct unserer gesellschaftlichen Einrichtungen, unserer Fabrications- und
Concurrenz-Zustände, sie sind Proletarier und Hungerleider. Keines
der dem modernen Staatsorganismus zu Gebot stehenden administra¬
tiven, gerichtlichen und militärischen Hilfsmittel hat sich bis jetzt noch
als ausreichend gezeigt, jenen Uebelständen abzuhelfen, und es bedarf
dazu, wo nicht einer völlig neuen Gesetzgebung, doch der Einführung
anderer Maßstäbe in die vom Staate ausgehende Vorsorge für seine
Angehörigen. Leider ist aber nicht zu hoffen, daß man zuerst in
Deutschland eine solche Reform vornehmen, daß man z. B. einen
Theil der ungeheueren Kosten, welche die im Frieden unnützen stehen¬
den Heere verursachen, auf die Organisation eines Arbeiterheeres ver¬
wenden werde. Sind doch auch England und Frankreich, diese uns
sonst in allen politischen und praktischen Dingen so sehr voraneilender
Völker, in dem, was der Zeit noth thut zur Beseitigung des Prole¬
tariats und der Jndustriesklaverei, noch zurückgeblieben; um wie viel
weniger ist also zu erwarten, daß wir Deutschen die rechten Mittel
ergreisen werden!
Die Frage, ob durch das Verlagsrecht, das der Buchhändler Koll¬
mann in Leipzig von Eugen Sue erworben, ein Anspruch auf den
deutschen Rechtsschutz gegen Nachdruck und anderweitige deutsche Ue¬
bersetzungen begründet worden sei, hat die hiesige Presse in den letz¬
ten Tagen viel beschäftigt. Namentlich wurde diese Frage in der
„Voßischen Aeitung" und in dem „Magazin für die Literatur des
Auslandes" erörtert. In der ersteren hat sich der bekannte Buch¬
händler und Buchhändlerbörscnvorsteher, Herr C. F. Enslin, entschie¬
den dafür ausgesprochen, daß unter den obwaltenden Umstanden dem
Herrn Kollmann sowohl in Preußen, als in Sachsen ein Rechtsan¬
spruch zustehe; in der zweiten Zeitschrift ward jedoch dagegen rcmon-
strirt, und zwar von dem Standpunkte, daß das Autorrecht, so lange
in dieser Beziehung keine internationalen Verträge bestehen, mit der
Nationalität wesentlich verbunden sei, und daß, wenn die Gesetzgebung
auch jetzt schon in Frankreich und in Deutschland dem Ausländer un¬
ter gleichen Bedingungen gleiche Rechte wie dem Inländer zusichere,
darunter doch nicht verstanden sei, daß ein Ausländer, der im Auslande
in einer fremden Sprache schreibt und dort seine Erzeugnisse ursprüng¬
lich herausgibt, durch einen bloßen Scheinvertrag oder auch durch
ein wirkliches Abkommen mit einem inländischen Verleger die Rechte
eines inländischen Autors erwerben könne, so lange dies eben nicht
durch einen internationalen Vertrag auf der Grundlage vollständiger
Reciprocität festgestellt sei. Wir sind geneigt, uns dieser letztern An¬
sicht ebenfalls zuzuwenden, doch gestehen wir gern, daß die Frage noch
mancher anderen Auslegung fähig, und daß es daher wünschenswerth
sei, sie von einem Tribunal auf der positiven Grundlage des Gesetzes
entschieden zu sehen.
Unsere Theatcrwelt hat in der vorigen Woche durch den Tod des
dramatischen Schriftstellers, Eompositeurs und Opernregisseurs, Herrn
Karl Binni — bei dem fortdauernden Mangel an productiven Talen¬
ten, besonders für das Lustspiel — einen wirklichen Verlust erlitten.
Blum hat vor ungefähr sechsundzwanzig Jahren nach der Rückkehr
von einer Reise nach Frankreich und Italien das Vaudeville auf die
deutsche Bühne gebracht, die bis dahin von dieser Art Liederspiel noch
wenig kannte. Besonders sein „Schiffscapitän" hat die Reise durch
ganz Deutschland gemacht. Nachmals wußte er mit Glück einige
Eharakterlustspiele Goldoni'S und Alberto Nota's der deutschen Bühne
zu acclimatisiren. Durch seine „Mirandolina" machte er sich beson¬
ders um solche Schauspielerinnen verdient, die, wie Fräulein Char¬
lotte von Hagn, in einer Mischung von Koketterie und Schalkheit
ihre Starke zu finden wissen. Und für sie namentlich schrieb er auch
die Lustspiele: „Der Ball von Ellerbrunn", und die „Herrin von der
Else" und bearbeitete den widerwärtigen „Marquis von Letorrii>res".
Wundern Sie sich daher nicht, wenn Fraulein von Hagn besonders
betrübt über das Ableben Blum's scheint. ^ Sie hat ihm selbst einen
Kranz gewunden und mit einem eigenen Gedichte unter Thränen auf
den Sarg gelegt.
Seit dem Decret über den Bau der Staatseisenbahnen ist kein
so wichtiger Schritt bei uns gemacht worden, als die Zollherabsetzun-
gen, welche der am 1. Juli publizirte neue Zolltarif enthalt. Poli¬
tisch ist dies als ein ungemein annähernder Schritt an den Zollverein,
d. h. an Deutschland überhaupt, für die Zukunft Oesterreichs sehr
bedeutsam. Der Kaiserstaat nähert sich dadurch seinem natürlichen
Alliirten wieder. Der Zollverein, den man bei seinem Entstehen hier
sehr geringschätzend betrachtet hatte, lockerte allmälig die Stellung Oe¬
sterreichs in der Mitte der deutschen Nation. Die neue Zeit mit ih¬
ren materiellen Tendenzen verlangt neue Formen und Bande; statt
der alten Reichsgrafen und Fürsten sitzen jetzt die Fabrikanten und
Kaufleute auf der Grafenbank. Hatte früher Oesterreich durch jene
sein Uebergewicht durchgesetzt, so hat Preußen es nun durch diese.
Der Adelsstolz hat dem Geldstolz Platz gemacht. Von-t Jo foci-vt du
monde. ...... Vom Gesichtspunkt der Staatsfinanzen wird dem neuen
Zolltarif großes Lob gespendet. Namentlich weil derselbe auf Vernich¬
tung des Schmuggels, des Krebsschadens Oesterreichs, zielt. Dagegen
schreien die Fabrikanten — wie sich von selbst versteht, citiren ihre
immer bedrohlicher werdende Lage, weisen auf die Prager Arbciterun-
ruhen hin, kurz, spielen ganz die frühere Rolle des Adels, der den
Staat nach seinen Interessen geführt sehen wollte und nicht genug
Privilegien und Schutz für sich allein erhalten konnte. Indessen geht
doch ein großer Theil der öffentlichen Stimme dahin, daß ein Han¬
delsministerium eine unausweichliche Sache sei, indem Baron Kübeck,
ein so großer Finanzmann er ist, doch zu sehr den Staat und seine
Nöthen im Auge haben muß, indeß die Einzelinteressen nicht genug perdre-
ren und auch nicht genug verstanden sind. Es ist auch kein Grund
da, warum man diesem gerechten Wunsch der öffentlichen Meinung
nicht entgegen kommen sollte, und wenn es wahr ist, daß Baron
Kübeck in's Staatsministerium treten und der Vicepräsident, Ritter
von Breyer, an seine Stelle treten soll, so dürfte zugleich auch ein
Handelöpräsidium eingeführt werden. — Vor wenigen Tagen langte
hier ein Buch an, welches das Interesse des Publicums nicht wenig
in Anspruch nimmt; es führt den Titel: „Russisch-politische Arith¬
metik", und ist gegen das vielbesprochene Buch von Tengoborsty ge¬
richtet, dessen falsche Berechnungen zwar bereits wiederholt nachgewie¬
sen worden sind, namentlich in der Kölnischen Zeitung (vom Verfasser
des Buches: Oesterreich und seine Zukunft — wie es scheint) aber
doch nie so schlagend, wie in dem in Rede stehenden Werke, dessen
Verfasser ein sehr tüchtiger Rechtsgelehrter, Herr !),-. Wiesner, ist,
der auf dem Titel die sonderbare, aber sehr ehrenhafte und wohlmo-
tivirte Bezeichnung Deutsch-Böhme seinem Namen hinzufügte. Das
Werk weis t nämlich dem russischen Staatsrath von Tcngoborsky un-
widerleglich nach, daß dessen Buch nicht im österreichischen Interesse,
wie es hieß, sondern im russischen geschrieben ist und die Absicht hat,
im österreichischen Staate Drachcnzähne zu säen und die Negierung
zu neuen Steuerauflagen zu veranlassen, die den Unterthan drücken
und zum Mißvergnügen reizen müssen. Nicht etwa Irrthümer sind
es, die Wiesner dem Tengoborsky'schen Buche nachweist/ sondern Ab¬
sichten, offenbare Verdrehung, Auslassungen, falsche Additionen, fal¬
sche Citate österreichischer Statistiker, so daß Tengoborsty z. B. das¬
jenige als Bruttoeinnahme angibt, was Springer als Reinertrag
darstellt u. s. w. Es ist eine merkwürdige Polemik in diesem Buche,
die auch den interesstren muß, der sonst kein Behagen findet. Merk¬
würdig ist, daß Wiesner, der hier als publizistischer Schriftsteller so
gewappnet hervortrat, wie es bei einem österreichischen Schriftsteller
kaum vorauszusetzen ist, bisher seine Mußestunden mit Leidenschaft
der dramatischen Poesie zugewendet hat. Auf dem Burgtheater, so
wie auf dem Theater in Weimar hat namentlich eines seiner Dramen
ihm eine schöne Anerkennung erworben. Aber die Zeit der poetischen
Träumerei geht für Oesterreich zu Ende. Der Ernst bemächtigt sich
seines jungen Geistes, die politische Bühne verdrängt die Theaterhel¬
den und die Welthändel treten an die Stelle der Backhändel. Dies
ist charakteristisch für die Entwickelung in Oesterreich. Seit Lenau
und Grün genügt den österreichischen Poeten das Liebes- und Land¬
schaftsgeklingel nicht mehr. Selbst Halm hat in Sampiero dies be¬
wiesen und einen leichten politischen Anlauf genommen. Die Prosa
vollends hat der alten Baumgärtnerischen Aesthetik V-liet gesagt, und
man darf nur die Correspondenzen, die aus Oesterreich hie und da in
die Kölnische und die Augsburger Zeitung, in Biedermann's Monats-
schriftkommen, lesen und mit denen einer früherenZeit vergleichen, um den
Ausschwung der Geister bei uns kennen zu lernen. — Sie haben in
einer Ihrer letzten Nummern der hier erscheinenden Wiener Zeitschrift
eine derbe Lection gegeben, obgleich die Mühe zu sparen gewesen wäre
— da man gegen Todte nicht zu Felde zu ziehen braucht und das
erwähnte Blatt in der Agonie liegt. Auch — erlauben Sie, daß ich
es offen sage — thaten Sie dem armen Witthauer Unrecht, wenn
Sie ihm eine Denunciation Schuld gaben — er ist blos ungeschickt
und versteht die Sache nicht. Wer heißt Sie auch dem Redacteur
eines Wiener Modeblattes politische Bildung zutrauen? Herr Wit¬
thauer schreibt Theaterrecensionen, über diesen Punkt hinaus geht seine
schriftstellerische Thätigkeit und Anschauung nicht. Es ist ein braver
Mann, d. h. es kann ihm Niemand nachsagen, daß er sich seine Re¬
censionen von den Schauspielern bezahlen läßt; ein ehrenhafter Cha¬
rakter, d. h. ein wackerer Schulmeister, der keine Schulden und Streiche
macht, bereden Sonntag bei einem andern Banquier zu Tische geladen wird
und daher auf seinen guten Ruf hält. Bei der Censur ist Herr
Witthauersehrgut angeschrieben, nicht weil er etwa servil ist, sondern weil
er als Pedant und veralteter Jopfmensch die moderne Richtung gleich
ihr nicht leiden kann und sie daher mit der Vorlegung solcher Artikel
nicht behelligt, in denen ein frischer moderner Geist lebt. Das beste
Beispiel von dem Jdcenschwung, der dieser Art von Gesinnung ei¬
gen ist, haben Sie ja an dem bekannten Ordensgedicht, das Witthauer
zu Grillparzer's letztem Geburtstage machte. Hammer-Purgstall und
Bauernfeld sprachen sich bei jenem schönen Feste mit würdiger Gesin¬
nung aus, das Gedicht des letzteren namentlich sagte, ohne Effect-
hascherei, das Sinnigste, was ein freimüthiger Dichter bei dieser Ge¬
legenheit sagen konnte. Witthauer, der es gewiß eben so gut und
ehrlich meinte, konnte natürlich nicht zurückbleiben und kam richtig
auch mit einem Geburtstagsvers angestiegen. Und was war's? Grill-
parzer hatte wie Uhland und noch andere ausgezeichnete Männer den
<>r<jro near lo merito nicht erhalten. Der arme Grillparzer! Alle
Welt sieht es für ein Glück an, daß die Orden in der Regel so un¬
geschickt vertheilt werden; das gehört ja dazu. Es wäre sogar ein
Unglück, wenn man einmal darin tactvoller verführe; denn bei ge¬
wissen Leuten könnte das Ordens- und Bändchenwesen am Ende wie¬
der in Ehrfurcht und Ansehen kommen. Witthauer aber muß sich
erst einen kühnen Schwung geben, um sich über die seinem Freunde
widerfahrene Zurücksetzung zu erheben. Und so singt er denn, nach¬
dem er von den Sternen am Himmel gesprochen:
Da haben Sie's. Wenn nur ein anderer Brauch eingeführt würde,
daß der Orden immer an den rechten Mann käme, — da war' uns
geholfen! Und zuletzt heißt es, mit der rührenden Resignation und
dem begeisternden Trotz eines schmollenden Kindes:
Dreimal armer Grillparzer! Nicht nur, daß du den Orden nicht
bekommen hast, Du mußt Dich auch noch von Deinem tactvollen
Freunde darüber trösten und beruhigen lassen; und Du darfst ihm
nicht einmal was sagen, weil es ein guter Mensch ist und es treu
gemeint hat. Mir kam Grillparzer wie ein Opferlamm vor. Wit¬
thauer dagegen triumphirte, als sein Vers gedruckt war, mit stolzen
Schritten umher und hatte eine kindische Freude, daß er für das
kühne Gedicht das innren-Uur durchgesetzt hatte! —
Noch bezeichnender für die politischen Begriffe dieses Jour¬
nalisten ist folgende Wiener Episode, welche Ihnen vielleicht nicht
bekannt sein dürfte. Als während Dingelstedt's Anwesenheit in Wien
einige Redactoren eine Bittschrift an die Staatskanzlei um gelindere
Censur einreichten, da schloß sich Wirthaucr von dem Unternehmen
aus. Warum denken Sie? Etwa aus Furcht? Gott behüte! Oder
aus Servilismus? Auch nicht, denn, soweit er es eben versteht, ist
Witthauer wirklich freisinnig und wünschte so gut wie die Andern
eine weniger unbequeme Censur. Warum also? — Weil Saphir,
mit dem er gespannt ist, einer der Mitunterzeichner war. So wissen
die Herrn Person und Sache zu trennen. Mit so großartigen An¬
schauungen kann man allerdings die erhabensten Ziele erreichen. Ich,
denkt der Mann, ich bin anständig, ich darf um Preßfreiheit bitten,
aber wenn ich sie mit dem da theilen soll, — nein, da will ich
lieber gar Nichts haben. — Ich bitte Sie, was war denn das fa¬
mose Verbrechen, welches die ganze deutsche Journalistik Dingelstedt
so heftig vorwarf, anders? Er hatte ebenfalls nur gesagt: Ich ver¬
diene Preßfreiheit, Ihr da in Wien, ihr seid ihrer nicht würdig. —
Was die schäumende „Erklärung" betrifft, die Sie in der Wiener
Zeitschrift gegen Ihr Blatt gesunden haben werden, so scheint sie mir
jedenfalls nicht so arg gemeint. Ich bin überzeugt, Witthauer würde
bei jedem neuen Angriff, von woher er kommen mag, ganz dasselbe hersa¬
gen mit geringem Wortuntcrschied; es ist eine ausgezeichnete Erklä¬
rung, denn sie paßt auf alle möglichen Falle.
Seit den Mittheilungen des Fürsten von Pückler und Heinrich
Laube's über Algerien und seine Zustände ist in deutscher Sprache
wohl Nichts vernommen worden, was mit so frischer Lebendigkeit und
natürlicher Kraft in die Anschauung jener Dinge versetzt, als dies
durch das vorliegende kleine Buch geschieht. Der Verfasser, ein jun¬
ger oldenburgischer Offizier, überdrüssig eines wcchsellosen Friedensdien-
stcs und begierig nach Thätigkeit und Erfahrung, wie sie sein Stand
zu wünschen berechtigt ist, nahm im Juli 1839 aus den freundlich¬
heimischen Verhältnissen den Abschied und ging nach Spanien, um
dort Kriegsdienste zu nehmen. Viele wackere Deutsche sahen wir in
den letzten Jahren jenen Schauplatz der Gefahren und Abenteuer auf¬
suchen, aber fast immer auf die Seite des Rückschritts und des Un¬
glücks, auf die Seite des Don Carlos, reihte sich dieser Zuzug. Hier
sehen wir einmal einen jungen Deutschen, dessen Eifer die Sache des
Fortschritts und der Neuerung ergreift, und der zu den Fahnen des
damals tapfer und kühn aufsteigenden Espartero treten will! Allein
es gelingt ihm nicht, und obschon er den Vorzug hat, der spanischen
Sprache vollkommen kundig zu sein und seinen Cervantes wie seinen
Homer geläufig zu lesen, so findet doch der Ausländer so große Schwie¬
rigkeiten, daß er seinen Zweck hier aufgibt, dagegen die Augen nach
Afrika wendet und daselbst bei den Franzosen Dienste nehmen will.
Nach mühsam erlangter Ueberfahrt wird er in Algier als Freiwilliger
bei der Fremdenlegion aufgenommen.
Hier dient er nun zwei Jahre, zuletzt als Korporal der Voltigeurs,
denn zu Ofsiziersstellen werden meist nur Franzosen ausersehen. Die
Wechsel eines thätigen Kriegslebens, die Mühen und Leiden der an¬
strengenden Märsche, die Lust der Gefechte, die mannigfache Natur
des Landes, das bunte Völkergemisch der Einwohner, die dargebotenen
Anschauungen und unwillkürlichen Stimmungen, alles Dieses beschreibt
er in kurzer, ungezierter Rede, immer von Gegenstand zu Gegenstand
forteilend, ohne je selber solche Betrachtungen anzustellen, die besser
der Leser aus dem Ueberlieferten nach Belieben schöpfen mag. Ein
verehrter Freund schreibt uns hierüber sehr bezeichnend: „In sich ge¬
zogen und verschlossen, wie der Verfasser ist, würde er ohne besondere
Anregung nie dazu gekommen sein, sich von dem Erlebten und des¬
sen tastender Schwere durch die Darstellung zu befreien. Sein Buch
ist reines Naturprodukt, und hat in seiner nackten Thatsächlichkeit, in
seinem Ernste der Behandlung, in der schmucklosen, einfachen, scharf
wie ein Dolchstoß auf's Ziel gehenden Art der Rede und des Satz-
bancs eine ruhige Kraft, die an antikes Naturgewächs erinnert. Diese
Blatter sind auch wirklich rein aus der Erinnerung geschrieben, jede
fremde Unthat fehlt, nur was der Schreiber selbst sah und erlebte,
hat er verzeichnet, ohne Phrase, ohne Schmuck, ohne eine Spur von
eitler Selbstgefälligkeit." Wir können dies Urtheil durch die Eindrücke,
welche wir von diesem Buch empfangen, nur bestätigen; es ist ein
Buch reinen Sinnes, frischer That, ein Buch ohne Flausen! —
Auf den Ruf und Charakter wirft es ein schönes Licht, daß der
edle Großherzog von Oldenburg den jungen Kriegsmann nach der Rück¬
kehr von seinem Abenteuer in seinem früheren Dienstalter wieder auf¬
nahm, und daß seine Kameraden ihn, der sich des Offiziercanges be¬
gab, um als Gemeiner und Korporal Kriegserfahrung zu sammeln,
als Offizier mit Freuden wieder in ihrer Mitte sehen. — Wir be¬
grüßen und empfehlen mit wahrer Theilnahme dieses frische Buch,
welches uns aus Oldenburg seit Kurzem als ein zweiter willkomme¬
ner Beitrag echter Schilderung naturwüchsigen Lebens erscheint, und
gerade der Gegensatz der sehr verschiedenen Stoffe und Bildungsstufen
in beiden nöthigt uns eine nähere Beziehung zwischen beiden auf.
Der frühere Beitrag ist die von Herrn Professor Stahr herausgege¬
bene treffliche Schrift über Helgoland, von der wir anderweitig schon
gesprochen haben. —
Das Carrell zwischen Preußen und Rußland ist erneuert; man
kennt noch nicht seine einzelnen Punkte, aber so viel ist vorauszuse¬
hen, daß sich an der Grenze auch jene herzerhebenden Scenen erneu¬
ern werden, die bei den Königsbergern in so gutem Angedenken stehen.
Wenn die russische Kanone hinter dem Flüchtling donnert, werden
deutsche Bauern wieder auf die Menschenjagd gehen und sich einen
kleinen russischen Blutsold verdienen; die preußischen Behörden wer¬
den die schöne Pflicht haben, den gehetzten Ausreißer zu fangen, zu
fesseln und dem freundlichen Nachbar auszuliefern, in dem beruhigen¬
den Bewußtsein, daß der Unglückliche, einige Stunden später, ohnedies
unter den Streichen der Knute verendet, den Fluch der Verzweiflung
auf den Lippen; es wird allerdings auch wieder vorkommen, daß
den Preußen diese Mühe erspart wird, weil die Grenzkosaken sich ihren
Fang auf dem Gebiet des befreundeten Nachbarstaates selbst holen,
und vor den Augen ihrer Mitarbeiter binden werden. - Man kann
wohl, zur Ehre Preußens, annehmen, daß die allgemeine und tiefe
Empörtheit über diese Scenen auch etwas dazu beigetragen, daß mit
der Cartellerneuerung gezaudert wurde. Wäre dies Gefühl nur le-
bendig geblieben! Aber hinterher kam die kleinliche Berechnung, die
jämmerliche Klage über Angelegenheiten und Kosten, welche die Masse
der Fremdlinge verursache, und dies unterstützte die s. g. höheren! Rück¬
sichten, die einen neuen Ausliefcrungsvertrag dictirten. Abgesehen
von der Uebertreibung, deren sich die offiziellen Berechnungen und
Klagen befleißigten — was wär's denn, wenn ein Staat der Intel¬
ligenz, ein Staat, der fast nur auf dem moralischen Gewicht der öf¬
fentlichen Meinung ruht, ein Repräsentant deutscher Würde und Sitt¬
lichkeit, wenn, sagen wir, solch ein Staat sich's jährlich eine halbe
Million kosten ließe, damit seine'Bürger sich nicht zum Schergendes
rohen, übermüthigen Nachbars hergeben müßten! Setzt man doch
gern sein Leben ein für die Ehre, warum nicht eine halbe Million?
Was man auf antike griechische Schauspiele verwendet, wär' es nicht
eben so gut angewandt, um sich moderne russisch-griechische Schau¬
spiele in der eigenen Hausthüre zu ersparen? Ist diese Forderung
so ungeheuer? Es wird nicht an Stimmen fehlen, die das Senti¬
mentalität nennen; denn so weit ist es schon gekommen in dem christ¬
lich-germanischen Deutschland, daß zu dem Abscheu vor der Pädago¬
gik der Knute eine „kosmopolitische, unpraktische Sentimentalität" gehört.
Aber spricht nur die Stimme der Menschlichkeit aus jener Forderung?
Nicht auch die Stimme der Ehre, des Nationalgefühls? Wenn ein
Journalist oder Romanschreiber eine französische Phrase nachspricht,
hui! wie wird da gleich die arme müde Nationalität aufgehetzt und
mit vollen Bausbackcn aufgeblasen — und hier soll sie stumm sein?
Seht doch, wie sich Staaten benehmen, die wirklich ein lebendiges
Nationalgefühl beseelt! Was thut — nicht Frankreich, nicht England,
sondern nur — das kleine Belgien, welches Flüchtlinge aller Länder
und aller Stände nicht nur nicht ausliefert, sondern im Lande behält,
schützt und unterstützt! Wir sind überzeugt, Rußland dürste nicht
lange an einen großen, politisch und national würdigen Staat grenzen,
wie Preußen jeden Augenblick sein könnte — ohne etwas von seinem
civilistrendem Einfluß zu empfinden, ohne wenigstens gezwungen zu sein,
der Desertion seiner Conseribirten durch humanere Behandlung zu
steuern. Aber, freilich, die Weltverhältnisse, die „praktischen" Rück¬
sichten! England ist wohl auch praktisch, und doch kann man sicher
sein, daß es selbst bedeutende Allianz- und Handelsvortheile mit einem
russischen Cartell der Art nicht erkaufen würde. Wo aber sind unsere
Vortheile, wo sind die Wohlthaten des Cartells, wo sind nur die
nimm» i.)->n»>im'? Ach, wir sind so billig geworden, daß man uns nicht
einmal zu bestechen braucht, damit wir unsere Seele verschreiben. Ja,
wenn wir praktisch sein wollen, sind wir blos brauchbar, sehr brauch¬
bar für den praktischen Sinn Anderer. Wir sind inhuman aus
Mangel an Energie, barbarisch aus Sentimentalität. Denn im Grunde
war's doch nur Sentimentalität, was zur Erneuerung des Cartells
führte: falsche Pietät nämlich für die Traditionen der heiligen Allianz,
— Abdullah Pascha von Trapezunt hat ein vortreffliches
Mittel erfunden, um die gewaltsamen Reformen, zu denen man den
Divan zwingt, zu mildern und mit Besonnenheit in's Leben zu füh¬
ren. Das willkürliche Kopfabschlagen hat der Sultan in der Consti-
tution von Gut-Chanes verboten, ein Bischen Prügeln aber steht frei.
Was thut daher Abdullah Pascha? Ach, Abdullah Pascha ist ein
routinirtcr Geschäftsmann und weiß sich zu helfen. Wem er sonst in
aller Geschwindigkeit den Kopf hätte abschlagen lassen, den läßt er
jetzt nach Belieben zu Tode prügeln. Diese Praxis soll in der Tür¬
kei ziemlich allgemein sein. Wahrlich, Abdullah Pascha wäre, mut-e-
t',8 init-mit'is, wie die Censur sagt, ein Muster von einem europäi¬
schen Bureaukraten.
— Weitling, der kommunistische, schriftstellernde Schneiderge-
selle, ist nach Ueberstehung seiner Haft mit dem Schub von Zürich
nach Magdeburg befördert worden und sollte seine Militärpflicht, der
er sich entzogen hatte, „laut rechtskräftigen Erkenntniß" (?) erfüllen.
Indessen wurde er dazu unfähig befunden. Ein amtlicher Artikel der
„Magdeburger Zeitung" bespricht seine Ankunft in einem Tone, als
gälte es, entweder die Monarchie Preußen an dem glücklich besiegten
Schneidergesellen zu rächen, oder die deutsche Zugend vor dem Ge¬
fährlichen zu warnen; da wird keines von den beliebten offiziellen Schimpf-
und Kraftworten gespart, „Umtriebe", „Böswilligkeit" u. s. w. Wir
sind keine Weitlingianer, aber diese puterhahnartige Wuth gegen ei¬
nen armen Teufel, wie er, scheint uns eben so lächerlich, wie roh
und erbärmlich. So viel man weiß, hat sich Weitling, davon abge¬
sehen, daß er seine untauglichen Glieder dem preußischen Helm und
Waffenrock entzog, Nichts gegen Preußen zu Schulden kommen las¬
sen, und für sein Vergehen ist er in Zürich hart genug bestraft wor¬
den. Was will man noch? Aber freilich, sein Vergehen bestand in
Ansichten und Gesinnungen, die — gleichviel, ob unsinnig und ohn¬
mächtig oder nicht — weniger bestraft, als verfolgt werden müssen,
und so würde es uns nicht wundern, wenn der Staat irgend einen
Vorwand ergriffe, um sich noch einmal mit allen Waffen der Unter¬
suchung gegen ihn zu rüsten. Vielleicht stößt auch das gelehrte Feuil¬
leton der „Preußischen Allgemeinen Zeitung" in's Bockshorn und
zerbricht sich den Kopf, um ihn nicht nur todt zu schlagen, sondern
ihm auch, wie Herwegh, eine classische Grabschrift zu setzen.
— Aus dem Großherzogthum Posen, nahe der russisch-polnischen
Grenze, schreibt man uns: Von den Chicanen, denen selbst die an¬
ständigsten Reisenden beim Passiren der Grenze ausgesetzt sind, spricht
man nicht mehr; es ist ein zu herkömmliches Uebel. Sehr oft wird
die Post bedeutend langer, als billig ist, aufgehalten, um jeden ein¬
zelnen Passagier, trotz seines guten Passes, der kleinlichsten und un¬
angenehmsten Untersuchung unterwerfen zu können. Oder es fallt
dem Inspector am Hauptzollamte von Stupce ein, am Sonntag Nie¬
mand über die Grenze zu lassen. Diese neue Art strengerer Sonn¬
tagsfeier ist völlig ungesetzlich, allein man weiß zu gut, wie unnütz
eine Klage gegen russische Beamten ist, und bei dem raschen Wechsel
derselben hofft man jedesmal auf die bessere Laune jedes neuen An¬
kömmlings unter diesen kleinen Machthabern; wenn man sich auch
regelmäßig zu tauschen pflegt. — Größere und wahrhaft schauerliche
Sensation macht die Art, wie die nun begonnene Rekrutenaushebung
betrieben wird. Junge Ehemänner werden von ihren Weibern und
Kindern, einzige Söhne aus den Armen hochbetagter Eltern, deren
letzte Stütze sie sind, gerissen; kaum daß man ihnen einen Augenblick
zum Lebewohl auf Nimmerwiedersehen läßt. Indessen haben die Be¬
hörden in Kalisch ein originelles Trost- und Ermuthigungsmiltel er¬
funden, um den Eonscribirten keine Zeit zum Nachdenken zu lassen.
Im Kasernenhof, wo sie eingebracht werden, stellt man ein ganzes
Musikchor mit Trommeln und Pfeifen und singlustigen Russen auf,
die einen höllischen Spektakel machen müssen; und doch ist dieser me¬
lodische Lärm oft nicht stark genug, um das Stöhnen und Jammern
der armen Leute zu übertäuben. Rücksichtsloser verfährt man natür¬
lich mit den Juden. Um Ihnen davon einen Begriff zu geben, will
ich nur den jüngsten Fall erzählen. Der Sohn eines anständigen,
obschon nicht wohlhabenden jüdischen Mannes hielt sich, wie es hieß,
in Kalisch verborgen, um eine Galgenfrist vor seiner Absenkung nach
Kiew zu gewinnen. Das an sich genug harte Gesetz macht, bei sol¬
chen Vorfällen, die Gemeinde für den Flüchtling verantwortlich. Man
schlug jedoch diesmal willkürlich den kürzeren Weg ein und hielt sich
an den Vater, der ohne Weiteres ergrissen und unter den üblichen
Mißhandlungen in's Gefängniß geworfen wurde. Er erlangte indeß
theils durch Verwendung, theils durch Geldopfer feine Freiheit wieder.
Nun aber wurde ihm von der Polizei eine verschärfte Execution in's
Haus geschickt; er sollte für jede Stunde ungefähr einen preußischen
Thaler zahlen, bis er seinen Sohn herbeigeschafft haben würde. Da
der Vater wirklich nicht um den Aufenthalt des Sohnes wußte, fo
konnte er in einigen Tagen an den Bettelstab gebracht sein. Glückli-
cherweise ahnte der junge Mann die Gefahr seines Vaters und stellte
sich nach kurzer Zeit von selbst ein. Solche Fälle kommen häufig
vor und gehören noch lange nicht zu den schreiendsten.
— Die Mainzer Advocatenversammlung ist nun ganz vereitelt.
So weit also erstreckt sich in Deutschland die Freiheit der Association!
Die beabsichtigte Versammlung hatte nicht einmal unmittelbar prak¬
tische Zwecke; nur eine Berathung, eine Discussion über die entfernte
Möglichkeit von Reformen und von einer annähernden Gleichgestal¬
tung im deutschen Rechts- und Gerichtswesen sollte stattfinden; und
diese theoretische Debatte, die bei der deutschen Zerstücklung und an¬
dern Hindernissen durch die Presse zu dem kleinsten Resultat einen
Umweg von Jahren machen muß, soll des natürlichen Rechts und
Vortheils freier Mündlichkeit nicht genießen! Seit zum letzten Mal
der Hahn gekräht und Niklas Becker gesungen hat, wie viel tausend¬
mal haben die Regierungen ihren guten Willen proclamict, die poli¬
tische Entwicklung der Nation zu fördern. Man scheint jedoch kein
anderes Mittel der Entwicklung zu können, als eine bittere Erfahrung
nach der anderen. Deren aber hat Deutschland genug eingenommen
seit viel hundert Jahren; von all den Mixturen der vielen Aerzte, die
um sein Lager stehen, liegt ihm die Bitterkeit auf der Zunge, ist
sein Antlitz so grämlich verzogen. — Wenn sich Studenten mit
politischer Lectüre befassen; wenn die Belletristik, vom Geist der
Zeit ergriffen, sich um die Welthändel kümmert; oder wenn der Fa¬
brikarbeiter Rechenschaft vom Staat fordern will für die stiefva¬
terliche Liebe, die man ihm widmet, so heißt es, mit einem
scheinbaren äußerlichen Recht wenigstens: sie mischten sich in Dinge,
die sie nicht verstünden, die nicht ihr Fach seien. Ist das Recht nicht
das Fach des Advocaten? — Merkwürdig ist der Stufengang, den
die Maßregel gegen das projectirte Meeting genommen hat. Erst kam das
preußische Verbot und diesem erst folgte das kurfürstlich hessische. Wa¬
rum nicht umgekehrt? Hessen-Kassel konnte wenigstens fürchten, daß
in Mainz der Prozeß Jordan genannt würde. Was drückte das preu¬
ßische Gewissen? Als endlich der Verein doch zu Stande kommen zu
wollen schien, mußte Mainz selbst seine Thore den gefürchteten Ad¬
vocaten schließen, d. h, die großherzoglich hessische Regierung versagte
dem Verein die Oeffentlichkeit und die Mündlichkeit, die Freiheit der
Rede nämlich; ein mit absolutem Veto bewaffneter Regierungscom-
missär sollte den Debattirenden auf den Mund sehen.
Seraing. magisches Wort, dessen Nennung allein Rauchsäulen,
feurige Schlünde und sprühende Schlote, tosende Hämmer und zischende
Metallfluthen vor die Seele des Hörenden hinzaubert; Seraing, Be¬
herrscherin aller Elemente, Erzeugerin der schönsten Dampfschiffe des
Rheins, der besten Zugbeweger der Eisenbahnen; Muster aller
Fabrikniederlassungen, welches eine Stadt aus sich selbst erzeugt
und ernährt und den Namen seines Gründers unsterblich macht für
alle Zeiten, — wer wird nicht erwartungsvoll aufhorchen, wenn er
von Dir etwas hören soll, und freudig aufmuntern den Erzähler?
Aber werde ich genügen können dein wißbegierigen Statistiker,
der mich nach Anzahl und Flächenraum fragt, oder dem Mechaniker,
der Maß und Kraft wissen will! Gewiß nicht! Nur was nach
mehrmaligem flüchtigem Anschauen während drei bis vier Stunden
der Seele sich eingeprägt, kann ich im Allgemeinen wiedergeben, aber
ich unterstehe mich nicht, eine gewissenhafte Beschreibung, eine detail-
lirte Auseinandersetzung liefern zu wollen.
Wenn man von Jemappe aus über die zierliche, hoch über
der Maas schwebende Kettenbrücke sich dem Etablissement nähert,
so verschwinden bald die Rauchwolken und weißen Dämpfe, die früher
über der ganzen Gegend gelagert schienen, selbst das Tosen der Ma¬
schinen und Hämmern, das früher als ein verworrenes Geräusch
an unser Ohr schlug, wird weniger laut gehört; — man steht
vor einem schönen Schloßgebäude, im französischen Styl ausgeführt;
— hohe Bäume beschatten den Eingang, auf der Seite dehnt sich
ein Park aus, saust fluchend bespühlt die Maas das nahe Ufer; mit
einem Worte, je mehr man sich den Fabrikanlagen nähert, um so
leichter kann man vergessen, wo man sich befindet, — eine wahrhaft
idyllische Ruhe liegt ausgegossen über dem Eingänge, und wüßte
man es nicht, wahrlich man würde es nicht ahnen, so nahe bei dem
Lärmen und Hämmern eines Etablissements für Maschinenbau zu
stehen, welches als das größte und bedeutendste des Continents all«
gemein anerkannt ist.
Denn das große, palastähnliche, im Innern noch einen weiten,
viereckigen Hof einschließende Hauptgebäude, welches theils für Modell-
kammern in Beschlag genommen, theils zu Bureaur und zur Director-
wohnung benutzt ist, sondert den Eintretenden von den eigentlichen
Fabriken ab und hindert den Lärm und das Getöse derselben, bis
zu uns zu dringen. Es ist übrigens nicht leicht, auf rechtliche Weise
diesen Eingang zu überschreiten, d. h. zu der Besichtigung der Anstalt
zugelassen zu werden. Die Eigenschaft als Fremder, die in Belgien
Paläste und Museen, ja Privatsammlungen vor uns ausschließt,
reichr hier nicht mehr aus; — der große Zudrang aller Na¬
tionen machte die Maßregel nöthig, die Thore allen nicht besonders
Begünstigten zu schließen Ich verdankte meine erste Zulassung der
Bekanntschaft mit einem Freunde Cockerill'ö, meine zweite der Ver¬
pflichtung, die ich übernommen, von meinem Besuche öffentlich Rechen-
schaft abzulegen. In dieser Eigenschaft ward ich auf das Freund¬
lichste empfangen, und ein Zögling übernahm es, mich zu begleiten
und mir auf meine Fragen Auskunft zu geben. Es befindet sich näm¬
lich in dem Etablissement eine Menge junger Leute aus England,
Deutschland, Holland, Frankreich, Italien und selbst Nußland, die
sich dem einen oder andern Zweige des Maschinen- und Fabrikwesens
oder des Bergbaus widmen und sich hier aufhalten, um eine praktische
Ausbildung zu erlangen.
Herr Deppe, mein freundlicher Führer, war ein Belgier, wenn
schon seine Liebenswürdigkeit auf einen Franzosen, seine Gründlichkeit
auf einen Deutschen hätte schließen lassen.
An der Hand dieses Führers durcheilte ich nun die in langer
Reihe sich hinziehenden Ateliers, Schmieden, Hochöfen, Zimmer- und
Landungsplätze, ohne mich aufzuhalten, bis wir nach einem Marsche
von mehr alö zwanzig Minuten an dein Ende der obersten Kohlen¬
werke ankamen. Wir wollten nämlich systematisch verfahren; und da
die verschiedenen Werkstätten nach einer bestimmten Ordnung auf¬
geführt sind, so war es natürlich, mit dem Orte anzufangen, der den
Urstoff zum Betriebe des ganzen Etablissements, die Steinkohlen,
liefert.
Steht man hier auf der sanft sich erhebenden Anhöhe, wo die
mit einer Kraft von fünfhundert Pferden arbeitende Maschine täg-
lich an 500,000 Pfund Kohlen emporhebt und das stets zufließende
Wasser herauspumpt; sieht man diese ungeheuren Schornsteine von
beinahe dreihundert Fuß Höhe sich neben uns erheben; beobachtet
man die stille Gewalt des in einander greifenden Räderwerkes, den
gewaltigen Umschwung der Flugräder (vol-mes), das majestätische
Auf- und Absteigen der mehr als dreißig Fuß langen Balancir-
stange — so kann man, von der gigantischen Große eines solchen
Werkes hingerissen, kaum zur Besinnung, vom Staunen kaum zum
ruhigen Beschauen gelangen. Dann erfährt man, daß Alles, was
man steht, von dem einfachen Ziegelsteine bis zur großen leichtge¬
wundenen und durchsichtigen Eisentreppe Produkt der Anstalt ist,
welche Alles, mit Ausnahme des rohen Eisensteines und der Baum¬
stämme, in sich selbst erzeugt — man blickt zurück auf die Reihe der
Werkstätten, zu unsern Füßen, auf die Gluth der Hochöfen, auf den
Dampf und Rauch der Maschinen, und dann erst erkennt man, welche
ungeahnte Größe in dieser Vereinigung so vieler Fähigkeiten und
Kräfte, so vieler Hände und Intelligenzen liegt, und eine tiefe Ver¬
ehrung ergreift uns vor dem Geiste, der das so riesenhaft Erdachte
so siegreich ausgeführt.
Eine sanftgeneigte Eisenbahn führt die Produkte der beiden
Kohlenwerke durch deren eigne Schwere mit Schnelligkeit zu den
Koakofcn, die mit ihrem dunkelrothen Feuer die Steinkohlen zu wei¬
ten» Gebrauche zurichten. Dicht dabei stehen die sogenannten
Wärmeöfen, wo der Eisenstein durch vorläufiges Glühen zum Schmel¬
zen vorbereitet wird. Bis zu diesen Oefen hin macht auch der dem
Etablissement zugehörige Kanal, welcher Eisensteine und Holz herbei¬
führt und die fertigen Produkte auf Schiffen oder gar die auf dem
großen, an seiner Seite liegenden Zimmerplatze construirten Dampf¬
schiffe selbst in die Maas und von dort in den Rhein:c. wegführt.
Dieser Kanal ist wieder einer von den Hauptknoten, die uns
auf die Gesammtheit des Wirkens dieser Anstalt' hinweisen; dieser
Kanal, auf dem die rothen Eisensteine und rohen Balken den statt¬
lichen Dampfschiffen und zierlichen Lokomotiven, begegnen, wo der
Stoff bescheiden das Produkt grüßt, dem er gleich zu werden trach¬
tet, um stolz und glänzend diesen Ort zu verlassen, wo er unschein¬
bar und verachtet eingezogen.
Wie gesagt, man erwarte keine ängstliche Beschreibung von mir;
nur das hervorstechend Merkwürdige, das am meisten in die Augen
allende will i berühren.
Dazu gehören ohnstreitig die beiden ungeheuren Hochofen in
der Form zweier oben verbundenen Pyramiden, jede von einem gro¬
ßen eisernen Cylinder überragt, über welche die weißen und hellgel¬
ben Flammen hoch emporschlagen und eine düstere Rauchwolke ver¬
breiten, so oft eine neue Ladung Koak und Eisenstein, durch Dampf¬
kraft gehoben, hineingeworfen wird. Unten aber ergießen sich,
so oft der Zapfen ausgestoßen wird, die feuerbraunen Wogen, schad¬
los in die mannigfaltigen Sandformen geleitet und in ihrer Ver¬
kühlung als gröbstes Eisen erscheinend. Nur für wenigen Gebrauch
jedoch genügt diese erste Bildung; eine Menge kleiner Schmelzöfen
dient dazu, die erste rohe Masse abermals und abermals umzuschmel-
zen, bis tüchtiges, solides Gußeisen zum Vorschein kommt und in
weiter unten befindlichen Werkstätten beHauen, abgeschliffen und ge¬
glättet wird.
Andere Massen des mehr oder weniger ungeschmolzenen Roh¬
eisens gehen in das Atelier der Eisenhämmer (litminoir) und theil¬
weise in die Schienenfabrik über.
Die Größe und Zweckmäßigkeit der Einrichtungen machte es
dieser Anstalt bei der Wohlfeilheit der Urstoffe möglich, in den Eisen¬
bahnschienen mit den größten Fabriken Deutschlands und selbst Eng¬
lands zu concurriren, so daß im vergangenen Sommer eine Be¬
stellung von sieben Millionen Kilogramm dieses Productes für die
Construction der ba irischen Eisenbahnen abgeliefert wurde. Die
Fabrikation dieser Schienen ist vielleicht das Großartigste und Jnte¬
ressanteste, was die ganze Anstalt aufzuweisen hat. Man betrachte
diese ungeheuern Massen des zum Weißglühen, ja fast zur Schmelz¬
hitze gebrachten Eisens, dessen Glanz in der Tageshelle äugender-
letzend strahlt; ungeheure Zangen reißen die glühenden Klumpen auf
den mächtigen Amboß, dessen gewichtiger Hammer dieselben zusam¬
mendrückt wie einen feurigen Schwamm, daß die glänzenden Fluthen
der Schlacken sich rundum ergießen, bis ein wiederholtes Glühen und
Auspressen das Eisen rein und geschmeidig erscheinen läßt zum vor¬
gesetzten Gebrauch.
Nun wird es von Neuem geglüht, die für jede Schiene nöthige
Masse vereinigt und nach vorläufiger Zurichtung zwischen zwei mäch¬
tigen Walzen, von denen die untere fast flach, die obere nach der
Durchschnittsansicht der Schiene eingefurcht ist, mit unwiderstehlicher
Gewalt zur eigentlichen Schiene geformt; nur widerstrebend gibt die
gewaltige Masse nach, und Funken sprühen ringsumher auf den Bo¬
den hin und zwingen den sorglos Zuschauenden zu schleuniger
Flucht.
In der ganzen Eisenindustrie gibt es wohl keine schönere Er¬
findung als die Anwendung der Walzen, zur Bereitung der Schie¬
nen sowohl, als auch des Schmiedeeisens überhaupt. Jedermann
weiß, daß der durch bloßes Schmelzen und Wiederschmelzen des
Eisensteins gewonnene Stoff, das sogenannte Gußeisen zu dem ge¬
wöhnlichen Schmiedegebrauche untauglich ist; dazu wird es gewöhn¬
lich in den Eisenhütten durch wiederholtes Wcißglühen und Häm¬
mern zugerichtet.
Aber welche Mühe, aus einem rohen Klumpen eine überall
gleich dicke Stange oder gar ein dünnes Blech zu bereiten, wie viele
Hammerschläge, wie viele Aufmerksamkeit und Geschicklichkeit wird
dazu nicht erfordert! Nun denke man sich zwei aus dem festesten
Eisen bereitete, durch Dampfkraft, mit kraftverstärkendem Flugrade,
in Bewegung gesetzte Walzen; in der obern befinden sich mehrere
Rinnen, von denen die zweite stets enger ist als die erste. In der
breitesten dieser Rinnen wird die durch den Amboß von den Schlak-
ken gereinigte Masse nur ein wenig gestreckt, aber von den Arbei¬
tern augenblicklich zurückgezogen und in die zweite Rinne gedrängt;
und dies wird so lange fortgesetzt, bis eine Eisenstange von gewünschter
Dicke und Länge gewonnen ist. Auf ähnliche Weise wird das Eisen¬
blech verfertigt, nur daß statt der Rinnen hier die größere und ge¬
ringere Entfernung der Walzen von einander die Dicke des Eisens
bestimmt.
Ich habe eben die Anwendung der Walzen zur Bereitung des
Schmiedeeisens und des Eisenbleches eine schöne Erfindung genannt,
und doch scheint dieselbe so einfach, daß man sich wundern könnte,
wie man nur ein Gewicht darauf legen kann, wenn man nicht wüßte,
wie die einfachsten Sachen oft am schwersten zu finden sind. Ebenso
ging es hier.
Napoleon hatte bei der Continentalsperre auch das englische
Eisenblech verbannt, bei der Unentbehrlichkeit dieses Artikels aber eine
hohe Prämie auf die Fabrikation nach englischer Manier ausgesetzt.
Die Eisenfabrikanten erschöpften sich in Versuchen aller Art; trotz der
scheinbaren Einfachheit aber verfiel Keiner auf die Walzen. Da be¬
merkte der Besitzer eines Eisenhammers in einem Winkel Belgiens,
im Hoyouthale, nahe bei dem Städtchen Huy an der Maas, eines
Tages einen höchst zerlumpten Menschen an seiner Thüre, in wel¬
chem er bald einen Engländer erkennt. Aus Mitleid oder Specu-
lation nimmt er ihn auf, läßt ihn anständig kleiden, und obgleich
er selbst kein Englisch, der Aufgenommene nur wenige französische
Worre kennt, bringt er heraus, daß derselbe in einer Eisenhütte in
England gearbeitet hatte. Trotz der geringen Bildung des Arbeiters
erkennt Herr Delloye (das war der Name des glücklichen Fabrik¬
herrn) bald das Prinzip der Blechfabrikation durch Walzen, —
Versuche werden angestellt, mißglücken anfangs, führen aber endlich
zu dem erfreulichsten Resultat, so daß er den doppelten Preis davon
trägt, zuerst den von Napoleon ausgesetzten und dann den, der ihm
durch die alleinige Fabrikation des gesuchten Artikels erwachsen mußte.
Nach dem Frieden wurde die Erfindung durch erneuerte Verbin¬
dung mit England Gemeingut, schwierig aber blieb es stets, mit den
durch die Natur und die Größe ihrer Fabriken begünstigten Englän¬
dern zu concurriren. Seraing, dessen Stolz und Prinzip es ist, Alles
zum Maschinenbau Nöthige in der Anstalt selbst hervorzubringen,
adoptirte natürlich die Stangen- und Blechfabrikation, und wie jeder
einzelne Zweig, so setzt auch dieser nun durch die gigantische Größe
der Unternehmung in Erstaunen.
In den hierzu bestimmten Werkstätten reiht sich Ofen an Ofen,
Amboß an Amboß,'Walze an Walze. Hier blendet die Gluth des
in weißer Helle strahlenden Feuers das Auge, dort ergießen sich die
glühenden Schlacken unter dem gewichtigen Hammer; hier sprühen
die Funken von den Walzen umher, dort schneiden in ruhiger Kraft
ungeheuere Scheeren Eisenstangen von der Breite eines halben Fu¬
ßes und der Dicke eines Zolles in fußlange Stücke zur weiteren Be¬
arbeitung.
Was die Aufmerksamkeit des Beschauers dieser Anstalt zunächst
in Anspruch nimmt und ihn zur Bewunderung hinreißt, ist, wie in
dem Vorhergehenden angedeutet worden, diese ungeheuere Kraft, die
der Mensch es verstanden, sich dienstbar zu machen, wodurch er, blos
mit leitender Hand hinzutretend, die einzelnen Elemente sich gegen¬
seitig bekämpfen und nach seinem Willen formen läßt. Eine Ma¬
schine, von der Kraft des in Dampf verwandelten Wassers getrieben,
hebt mit der Kraft von dreitausend Menschen die Erzeugnisse der
Erde aus ihrem Innern an die Oberfläche; und eben diese Erzeug¬
nisse, die Steinkohlen, sind es, die den Eisenstein in flüssiges Me¬
tall verwandeln und im Verein mit den schweren eisernen Hämmern
und Walzen in eine Form (Eisenstangen und Eisenblech) verwandeln,
die die fernere Umgestaltung mehr und mehr erleichtert.
Je weiter wir uns übrigens von dem Ausgangspunkte entfer¬
nen, um so mehr finden wir diese früher blos einfach geleitete Kraft
mit dem menschlichen Geiste vereinigt, wir kommen nun in Werk¬
stätten, wo die durch eine außerhalb befindliche Dampfkraft getriebe-
denen Maschinen neben ihrer, die menschliche bei Weitem überstei¬
genden Kraft von menschlicher Einsicht belebt und wirklich beseelt schei¬
nen. Hier dreht sich ein ungeheurer künftiger Dampfcylinder von
Gußeisen um einen langsam, aber unermüdlich arbeitenden stähleinen
Meißel, und die liniendicken Stücke des spröden Metalles weichen der
ruhigen Gewalt, dort werden andere auf ähnliche Weise im Innern
glänzend polirt, und zu der Kraft fügt sich mathematische Genauig¬
keit; hier werden durch einfaches Vor- und Zurückschieben schwere
Stangen des härtesten Eisens glatt gehobelt, daß die durch Reibung
und Kraft fast zum Glühen erhitzten Spähne sich krümmen und dre¬
hen, wie die hölzernen aus dem Hobel des Tischlers, dort dringen
mit unwiderstehlicher Gewalt Bohrer in die dicksten Eisenstücke und
bringen in wenigen Secunden Höhlungen und Löcher hervor, an
denen ein Arbeiter mir seinen Werkzeugen sich stundenlang abgemüht
haben würde.
Unablässig, aber ruhig fahren alle diese Maschinen in ihren
Arbeiten fort; hier und da gibt ihnen ein Aufseher eine neue Rich¬
tung, bringt neue Arbeit herbei und die Maschine, die ihr Werk ge¬
endigt, zum Stehen. Alles geschieht, ohne daß ein Wort gesprochen, ein
Befehl gegeben würde, in vorgeschriebener Ordnung, nur begleitet von
dem Wirbeln der großen Walze, die alle Kraft enthält, dem Schnur¬
ren der Riemen, die die Walze mit den einzelnen Maschinen in Ver¬
bindung setzen, dem Schwingen der Räder und dem Kreischen und
Knarren der Meißel und Bohrer.
Wer muß nicht staunen, wenn er hier die Maschinen mit
größter Genauigkeit das hervorbringen und vollenden sieht, was wir
als von Menschenhand verfertigt bewundern würden! Aber Alles
gelingt den Maschinen doch nicht; deshalb finden wir auf unse-
5em langen Wege noch eine Reihe von Schmieden und Werkstätten,
wo die kleineren zum Maschinenbau nöthigen Stücke durch Arbeiter
zubereitet und ihrer Vollendung nahe gebracht werden.
Diejenige Werkstätte jedoch, wo die Maschine ganz in den Hin¬
tergrund tritt als Helferin, wo sie höchstens zum Herbeischaffen und
Fortbringen angewendet wird, ist das große Atelier der Locomotiven.
Hier in dem weiten, von Eisenbahnen durchschnittenen und durchkreuz¬
ten Saale staunt man die glänzend polirten, zum Gebrauche fertigen
Locomotiven neben den halbgefertigten und den eben begonnenen an;
man sieht diese Wunder der Industrie aus den in so vielen Werk¬
stätten vorbereiteten Einzeltheilen gleichsam unter seinen Augen ent¬
stehen, und hier ist es wieder der Mensch selbst, der uns entgegen¬
tritt, und zwar als der Vollender des Ganzen. Er, der den Plan
entworfen und das Einzelne durch die verschiedenen Naturkräfte hat
ausführen lassen, vereinigt jetzt die Theile zum vollendeten, wirksamen
Ganzen. Hier ist es, wo die Maschine, die noch so künstlich gelei¬
tete Naturkraft, den thätigen und prüfenden Geist des Menschen nie
wird ersetzen können!
Und somit wären wir denn wieder angekommen nahe beim
Eingange, wir haben die Kohlen hervorheben, das Eisenerz ankom¬
men und schmelzen sehen, wir haben das Metall verfolgt in seinen
vielen Gestaltungen, bis die Locomotive auf der einen, das Dampf¬
schiff auf der andern Seite, den Sieg des menschlichen Geistes über
den Naturstoff bekundend, stolz und prächtig hervorgehen; und es bleibt
uns Nichts übrig, als die ungeheuren Säle in Augenschein zu meh-
men, in denen die in natürlicher Größe künstlich'in Holz gefertigten
Modelle aller Räder und Wirbel, ja jedes noch so kleinen Stückes
jeder Maschine, (und es werden deren von aller Art in Seraing ge¬
macht) in langen Reihen geordnet und zum bequemen Gebrauche
mit Zahlen und Zeichen versehen, sich uns darbieten.
Die größten und prächtigsten Räume des früher fürstbischöflichen
Palastes, an den sich das ganze Etablissement anreiht, sind zu
dieser interessanten Ausstellung in Beschlag genommen und stellen
wohl eben so würdig den jetzt hier herrschenden Geist der Industrie
dar, als die Bankette und Festmähler der frühern Zeit das damals
hier herrschende Prinzip repräsentirten.
Indem wir zum Schlüsse einen prüfenden Blick auf das Ge¬
schriebene werfen, sehen wir uns genöthigt, daraus aufmerksam zu
machen, wie sehr unsere Beschreibung hinter der Wirklichkeit zurück¬
geblieben ist. Wie Vieles haben wir, von dem Drange der Dar¬
stellung fortgerissen, übergehen oder unberücksichtigt lassen müssen!
Haben wir doch kaum im Vorbeigehen von dem großen Schiffs¬
zimmerplatz gesprochen, wo gewöhnlich mehrere Dampfschiffe in Con-
struction begriffen liegen, und dessen genauere Betrachtung allein schon
Staunen erwecken würde; noch weniger konnten wir von den Kupfer-
und Messinggießereien, von den Werkstätten, wo dieses Metall be¬
sonders bearbeitet wird, von der Gasbereitungsanstalt, von dem
großen Saale, in welchem eine Ebenifterie zur Verfertigung der
Tischlerarbeit bei den Da npfbooten versucht worden ist, oder von
den Bureaur für Verwaltung :c. reden.
Nichts desto weniger hoffen wir dem Leser einen allgemeinen
Begriff von der Großartigkeit dieser Anstalt gegeben zu haben und
schließen unsern Bericht mit der Aufforderung an Jeden, der das
schöne Maasthal von Lüttich bis Namur oder Dinant bereiset, sich
mit einem Empfehlungsbriefe an Herrn Pastor, den zeitlichen Di¬
rektor, zu versehen und das herrliche Etablissement selbst in Augen¬
schein zu nehmen.
,
Oesterreich äußert in der neuesten Zeit auf dem Felde der äu¬
ßeren Politik eine verhältnißmäßig nur geringe Thätigkeit, und die
Sorge für den inneren Staatshaushalt, so wie das Bestreben, die
nationalen Regungen der verschiedenen Volksstämme, deren Verein
die bunte österreichische Monarchie bildet, im Schach zu halten, scheint
gegenwärtig die volle Aufmerksamkeit der Negierung in Anspruch zu
nehmen. Indem der Blick der Staatsmänner auf den Tariftabcllen
und PostVerträgen gar beifällig verweilt, sind ihre Augen schwä¬
cher für die Dinge, die unvermerkt die europäischen Staatsver¬
hältnisse umgestalten, so daß Oesterreich bei dem nächsten Ausbruche
leicht eine Stellung einnehmen konnte, ganz verschieden von der¬
jenigen, in deren Besitz es beim Abschlüsse des Weltsriedens gewesen.
England und Rußland haben sich jetzt in die moralische Herrschaft
der Welt getheilt, und ihre Politik hat allein einen festen fortschrei¬
tenden Geist, indeß die Friedenspolitik des französischen BürgcrkönigS,
die Unentschlossenheit des unfertigen Preußens und der nothgedrun¬
gene Conservatismus Oesterreichs die übrigen Stimmführenden Groß-
mächte zu einer Rolle zwingt, die sich gegen jene ziemlich passiv ver¬
hält und die britische Energie und russische Schlagfertigkeit mehr durch
diplomatische Gründe zu Paralysiren sucht.
Doch hat Frankreich in Nordafrika festen Fuß gefaßt und Preu¬
ßen durch den Zollverein eine große innere Eroberung gemacht, Tha¬
ten, denen Oesterreich in demselben Zeitraum Nichts entgegen halten
kann; aber darum ist dasselbe keineswegs müßig gewesen, nur mit
dem wesentlichen Unterschiede, daß sich, wie gesagt, seine Thätigkeit
mehr nach Innen gewendet hat, wo der Gefahren und Bedrängnisse
manche lauern, »reiche dringend Abhilfe heischen, soll der alterthüm--
liebe Ball deö Erbstaates nicht aus den Fugen weichen.
Der Kitt aber des modernen Staates kann sein entweder Na-
tionaleinheit, oder freie Institutionen, oder endlich materielle Macht.
Oesterreich entbehrt aber, wie Jedermann weiß, sowohl der
Nationaleinheit, als der Nepräsentativ-Verfassung, und dort, wo noch
Volksfreiheit gilt, entwickelt sich gerade im Schutz dieser Freiheit das
Bestreben der Lostrennung vom fremden Stamm. Es bleibt also
der Regierung blos das Dritte, nämlich die materielle Macht, und
dieser widmet sie nun, als dem eigenen Rettungsanker des Staates,
ihre volle Thatkraft, und sie übersieht keine Erscheinung der Zeit,
welche diese Macht fördern und heben kann, ohne sie zu dem Gegen¬
stand ihrer Prüfung und mit raschem Entschluß zu ihrem Eigenthum
zu machen. Vielen ist die Entschiedenheit, womit der verschuldete
Staat sich zum Bau colossaler Eisenbahnlinien entschloß, unerwartet
gewesen, allein diese kennen Oesterreich nur oberflächlich; sonst wür¬
den sie recht gut wissen, daß man daselbst in derlei Dingen eine
Energie entwickelt, die oft zur Kühnheit wird, und die man in sei¬
nem Verfahren gegen Außen, zumal gegen Rußland, freilich nicht
gewohnt ist/
Seit jenen siegreichen Feldzügen, durch welche Eugen voll Sa-
voyen die Monarchie nach Osten ausrundete und den kaiserlichen
Adler bis nach Belgrad trug, haben alle Kriege Oesterreichs den
Charakter der Vertheidigung; jene unüberwindliche Zähigkeit, welche
den Besitz zu retten sucht, aber auch jene energielose Schwerfälligkeit,
welche allen Defensivbewegungcn anzuhaften pflegt. Mit diesem Feld¬
herrn hat Oesterreich aufgehört, erobernd zu sein, sein Bild ist der
Grenzgott im Buche der österreichischen Geschichte, das eine jugend¬
liche Gesicht vom Januskopf des großen Staatencompleres, der sich
an der mittlern Donau gelagert hat.
Durch eine seltsame Fügung des ironischen Zufalls hat die Hof¬
kammer die Gemächer eines Palastes inne, den der letzte österreichi¬
sche Eroberer, dem die schönsten und großartigsten Gebäude der Re¬
sidenz ihren Ursprung verdanken, sich in der Himmelpfortgasse erbaute.
Ein würdiges Aeußere, wie es der Geschmack, und eine solide Pracht,
wie es der Reichthum eines Prinzen erwarten ließ, der das Lustschloß
Belvedere und den Palast, welcher nun dem Kriegsministerium über-
lassen worden, meist nach eigenen Plänen ausführen ließ. Der Con¬
trast in der Bestimmung dieses Palastes, der einst die französische
Lebenseleganz beherbergte, die Prinz Eugen von Savoyen aus Pa¬
ris nach Wien gebracht, und der die mit dem Fürsten de Ligne wieder
ausgestorben ist, und der jetzt die staubigen Acten bewahrt, auf denen
geschrieben steht, daß Oesterreich weit mehr ausgegeben hat, als es
einnimmt, scheint im Grunde doch nicht gar so grell und unverein¬
bar; denn schon Montecuculli that den gewiß wahren Ausspruch,
daß zum Kriegführen drei Dinge erforderlich seien: erstens Geld,
zweitens wieder Geld, und drittens abermals Geld. Mag darum
einst in diesen weiten Prunkgemächern, in denen jetzt blasse Bureau¬
kraten gebückt an Schreibtischen hocken, der klirrende Sporn der be¬
rathend auf- und niederschreitenden Generale ertönt sein; mögen
zwischen diesen schweigsamen Mauern jene kriegerischen Entwürfe
entstanden sein, durch welche die Monarchie geworden, was sie ist,
indeß man jetzt hier mit den Herren Rothschild, Sina und Eskeles
Staatsanleihen abschließt und um die Provisionsprocente feilscht:
der Unterschied ist nicht ganz so groß, als er scheint, denn hat
man damals über die Ausführung der That unterhandelt, so
unterhandelt man nun wegen der Möglichkeit derselben, und
jedenfalls muß heute beim Ausbruch eines Krieges der Gedanke
der Staatsmänner früher der Bank zufliegen, als den Regimentern.
Deshalb ist die Ironie nicht so treffend, als sie dem thatenlustigen
Offizier erscheint, wenn das Finanz- und Kriegsministerium sich beide
in den Nachlaß des glücklichen Feldherrn getheilt und ihr Zelt in
den Hallen aufgeschlagen haben, in denen der letzte Angreifer des
österreichischen Heeres gewaltet.
In früheren Zeiten besaß jede einzelne Provinz ihre eigene Hof¬
kammer, welche die finanzielle Seite der Verwaltung besorgte und
sich namentlich der Administration der Staatsgüter und der Bewa-
chung der Regalien widmete, aus welchen der österreichische Schatz
noch immer ein sehr bedeutendes Einkommen zieht, indem das Salz¬
regal allein jährlich zwischen achtzehn und neunzehn Millionen Gul¬
den abwirft. Diese Vereinzelung entsprach so ganz der Entstehungs¬
weise des Staates selbst, der sich auch nur durch allmälige Erwer¬
bung vordem selbständiger Länder gebildet hat, daß sie noch lange
Zeit fortbestand, als die Monarchie bereits jenen Grad der Vollstän--
digkeit erreicht hatte, deren sie sich heute erfreut. Erst unter Karl Vl.,
dem Vater der Kaiserin Maria Theresia, wo sich der von Frank¬
reich überkommene Geist moderner Verwaltungstheorien auch in Oe¬
sterreich Geltung verschaffte, gestaltete sich ein eigentliches Centralisa¬
tionsorgan für den Staatshaushalt, wie es das Militärwesen bereits
im Hofkriegsrathe besaß. Doch blieb diese Finanzcentralstelle noch
immer in Abhängigkeit von der Hofkanzlei, die der politischen Lan-
desverwaltung vorsteht, und welche nach den damals gegebenen Be¬
griffen und Umständen an Wichtigkeit überwog. Die neueste Zeit
und vorzüglich die wachsende Last des Schuldenwesens, das in Folge
der fünfundzwanzigjährigen Kriege gegen den revolutionären Westen
überHand genommen, vervollständigte die Selbständigkeit der Finanz¬
behörde, da ein Cabinetsschreiben vom 30. April 1816 die bisher
bestandene Creditshofeommission, Banko-Hof--Deputation und Com-
merzhofstelle in eine abgesonderte Hofstelle vereinigte, deren Wirkungs¬
kreis bald alle übrigen überragte in ähnlicher Fortbildung, als die
Geldaristokratie erstarkte und die Banquiers anfingen, politische Per¬
sonen zu werden.
Alles, was Fabriken und Industrie, Handel und Münzwesen
betrifft, die Deckung des Staatsbcdarfes, die Verzinsung und Tilgung
der Staatsschulden, die Abschließung neuer Anlehen, die Administra¬
tion der Staatsgüter, die Hebung der Regalien, Gefälle, der Mauth
und des Zolles, — gehört eben so gut zum Ressort der Hofkammer,
die seither auch, weil sie alle Provinzen ohne Unterschied umfaßt,
die allgemeine Hofkammer heißt, als die Eintreibung der indirecten
Steuern und der Taren jeder Art, das Tabakmonopol, das Stem-
pelgefälle, das Lottowesen, die Bemessung und Verleihung von Pen¬
sionen, so wie der Gnadengehalte, in so fern diese nicht von der
Entscheidung des Staatsrathes abhängen und die betreffenden Ent¬
schließungen nicht unmittelbar aus dem geheimen Cabinet deS Kai¬
sers herabgelangen; allein auch da noch ist nur in der Hauptsache
entschieden und eine provisorische Ziffer ausgeworfen, welche die Hof¬
kammer sodann nach ihrem eigenen Crmessen modificiren, entweder
erhöhen oder herabsetzen kann, so daß wohl die Verleihung einer
kaiserlichen Gnade an sich einzig von dem Willen der Majestät, des¬
sen Organ der Staatsrath bildet, abhängig ist, der Betrag aber,
wenn die Sache eine Geldangelegenheit, wieder gänzlich der Beur-
theilung der Finanzhofstelle anheimgestellt bleibt. Consequenterweise
untersteht auch das gesammte Kassenwesen der ganzen Monarchie
dieser wichtigen Centralbehörde, welche daher mit den vielverzweigten
Fäden ihrer geschäftlichen Obliegenheiten das Ganze des modernen
Staates wie mit einem Netze überzieht, und deren tiefeingreifende
Thätigkeit bis in die ärmste Hütte an der fernsten Reichsgrenze ver¬
spürt wird.
Bei der großen Rolle, die das Geldwesen gegenwärtig im Staats¬
leben spielt, darf es nicht verwundern, wenn die Hofkammer als die
wichtigste Hofstelle in Oesterreich betrachtet wird und diese auch ei¬
nen ungewöhnlichen Grad von Bewegung entfaltet, der mit der star¬
ren Ruhe der übrigen Verwaltungszweige in einem jedenfalls bemer¬
kenswerthen Contrast steht. Während der Hofkriegsrath die Reform
des Heeres bei einigen zweckmäßigen Abänderungen in der Bekleidung
und der dringend nothwendigen Aufbesserung der Gehalte der Sub¬
alternoffiziere sein Bewenden finden ließ und tiefere Griffe in das
organische Leben der Armee bisher sorgfältig vermied; während die
Polizeihofstelle, welche auch die Censurgeschäfte handhabt und das
Volksleben überwacht, in einem Geiste waltet, der den Zeiten der
ärgsten Aufregung und der Zügellosigkeit eines insnrgirten Landes
anpassend wäre; während die Hofkanzlei als politische Centralbehörde
die eigenen Ordnungen aufrecht erhält, welche den gesellschaftlichen
Zuständen längst vergangener Epochen entsprochen haben mögen, aber
jetzt, wo die Entfesselung des Bodens und die möglichste individuelle
Freiheit die ersten Bedürfnisse sind, nicht mehr genügen wollen; wäh¬
rend die oberste Justizstelle bis jetzt den Strom neuer Ideen, der die
römische Gerichtswege mit besoldeten, inquisitorischen Richtern durch
Oeffnung der Gerichtssäle und unabhängige Geschworne zu ger-
manisiren strebt, beharrlich gestaut hat, — betrat die Hoskammer zum
nicht geringen Erstaunen der Menge in der jüngsten Zeit den Weg
rascher Reform, und unter ihrem Einflusse erschienet! eine Reihe neuer
Gesetze, denen man, wird auch ihre wohlthätige Wirkung von vielen
Seiten bestritten, doch immerhin das Verdienst entschiedenen Wollens
und jener Unruhe des Fortschrittes lassen um>ß, welche bei der Un-
beweglichkeit österreichischer Verwaltungsprinzipien schon als eine Wen¬
dung zum Bessern und als ein Zeichen beginnenden Lebens anzu¬
sehen wäre.
Daß gerade die Hofkammer indem österreichischen Vcttvaltuilgs-
körper die Initiative der Reform ergriffen, kann eben so wenig be¬
fremden, alö wenn ein einzelnes Individuum die Umwandlung seiner
Lebensweise und socialen Verhältnisse mit der Reform der finanziel¬
len Seite beginnt, denn auch der Staat basirt heut zu Tage auf
dem goldenen Boden des Finanzwesens, und desto mehr, je weniger
ihm eine moralische Basis geboten scheint. Es ist sonach der Libe¬
ralismus der Spekulation, der Jnstinct des Egoismus, das Gebot
der Nothwendigkeit, welche aus die Reformbahn hinweisen, und es
gewinnt oft den Anschein, als geschehe das Gute hier nur, um mit
den goldenen Früchten desselben das Ueberlebte auf anderen Gebieten
künstlich zu stützen und zu conserviren. Doch davon werden wir noch
in der Folge reden, wenn die Art des Fortschreitens selbst näher be¬
zeichnet werden soll, und in jüngsten Regungen des Neformgeistes
den Charakter deö leitenden Prinzips selbst nachzuweisen suchen.
In der letzten Zeit hat sich der Umfang und möglicherweise
auch die Wichtigkeit der Hoflammer noch vermehrt, indem nach dem
Tode des Fürsten Lobkowitz, der den Posten eines Präsidenten
der montanistischen Hvfkammer seit 1834 bekleidete, dieser gesonderte
Amtskörper mit der allgemeinen Hosiammer vereinigt ward. Das
Bergwesen und die Münzung hatten schon vordem zum Ressort der
Hofkammer gehört und nur der Wunsch, den aus Galizien abberu¬
fenen Gouverneur, Fürsten Lobkowitz, angemessen zu placiren, bewog
damals die Negierung zur selbständigen Einrichtung einer Hofkam¬
mer im Münz- und Bergwesen. Fürst August von Lobkowitz stand
nämlich an der Spitze deö galizischen Guberniums zu Lemberg, als
im Jahre im Königreiche Polen der bekannte Aufstand aus¬
brach und zugleich die asiatische Cholera ihre traurigen Verheerungen
anrichtete, welche um so verderblicher waren, als um dieselbe Zeit
gerade die Einfühlung der Accise zu mancherlei Bedrückungen führte,
und die herrschende Krankheit durch einen drückenden Nothstand noch
gefährlicher wurde. Lobkowitz, der etwas vom Blute der alten Ari¬
stokratie in seinen Adern harte und sich nicht so leicht in die passive
Stellung eines puren Beamten zu finden vermochte, in welcher der
österreichische Adel noch allein Ansehen und Macht genießen kann,
hielt es unter diesen Umständen für gerathen, damit das Gefühl ma¬
terieller Noth die ohnehin nur leise schlummernden nationalen Spin-
pathien im Volke nicht zur That werden lasse, was bei der Be¬
wegung im stammverwandten Nachbarlande leicht möglich war,
die sogenannte Verzehrungssteuer, welche auf dem Volke als eine
ungewohnte Last ruhte, bis auf Weiteres aufzuheben. Diese Ma߬
regel war an sich recht staatsklug, und vielleicht ist es gerade sie,
welcher man die Erhaltung der Ruhe im österreichischen Polen vor¬
zugsweise verdankt, denn wie zahlreich auch der Uebertritt österreichi¬
scher Unterchanen zu den polnischen Insurgenten stattfand, zumal un¬
ter der Jugend: auf galizischen Boden kam nicht die mindeste
Ruhestörung vor. Allein Lobkowitz hatte sie eigenmächtig durchge¬
führt und erst darnach in Wien Anzeige davon gemacht, wo man
derlei Vorgreiflichkeiten sehr unwillig aufnimmt und den Verwaltern
der Provinz keinen so großen Spielraum gewährt, als ihn solche Be¬
schlüsse erheischen würden. Gleichzeitig beobachtete der Fürst, dem
man ohnedem slavische Sympathien zuschrieb, wahrscheinlich ohne
Grund, an der mit einem bewaffneten Cordon umzogenen Grenze
gegen Nußland und Polen eine strenge Neutralität, die es ihm nicht
erlaubte, die verfolgten Heerestrümmer der polnischen Armee zu des-
avouiren und den russischen Truppen, die als Verfolger das öster¬
reichische Gebiet betraten, ihre Waffen zu lassen. So angemessen
dieses Verfahren auch erscheinen mag, so erhob dennoch der russische
Gesandte am österreichischen Hofe gegen den Gouverneur in Galizien
Klagen über ungebührliche Behandlung der russischen Truppen und
deren demüthigende Gleichstellung mit Rebellenhorden. Dieser Schritt,
so wie jene Einstellung der Accise auf unbestimmte Frist bewogen
die Negierung zur Zurückberufung des Fürsten aus Lemberg, wodurch
zugleich dem russischen Cabinet eine diplomatische Genugthuung ge¬
währt ward. In Wien verlebte der Fürst einige Jahre im Schein
der Ungnade, bis mit Cabinetsschreiben vom 8. November 1834 der
montanistische Theil der Hofkammer als eine besondere Hofstelle hin¬
gestellt und Lobkowitz zu ihrem Präsidenten ernannt wurde. Im
Winter des Jahres 1842 starb der Fürst in Folge einer Verkältung,
und die beiden Kammern kamen wieder unter denselben Leiter, der¬
malen den in der neuesten Zeitgeschichte oft und rühmlich genannten
Baron Kübeck.
Schuselka, welcher in der jüngsten Zeit durch eine Reihe politi¬
scher Flugschriften und durch seinen noch immer unentschiedenen Preß-
prozeß eine ständige Zeitungsnotiz geworden, war mehrere Jahre Er¬
zieher in einem fürstlichen Hause, aus welcher Stellung er indeß, trotz¬
dem daß der Fürst demselben eine lebenslängliche Pension zusicherte,
für den Fall, daß er die Erziehung der Prinzen vollständig durch¬
führen wolle, bald wieder ausschied, um sich ganz und gar der Li¬
teratur zu widmen. Die Acten seines Prozesses sind spruchreif
und liegen noch immer bei der Staatskanzlei; sowohl die Sage
von seiner Verurtheilung zur Festungsstrafe in Munkacs, als auch
das Gerücht von seiner Verwendung im Cabinet des Staatskanzlers
sind gänzlich aus der Lust gegriffen.
Keine Veränderung im höheren österreichischen Staatsdienst hat
in der neuesten Zeit so viel Zeitungslärm verursacht, als der Abtritt
des Finanzministers Baron Eichhoff und dessen Ersetzung durch den
gegenwärtigen Hoskammerprästdcnten Baron Kübeck. Ueber den Trieb¬
federn dieses Ereignisses liegt ein gewisses Dunkel, das wir nicht zu
lichten vermögen, und welches erst die Fackel eines zweiten Hormayr
unseren Kindern ausheilen wird. Baron Eichhoff war königlich han-
növerscher Offizier, und ward bei der Schifffahrtscommission zu An¬
fang der zwanziger Jahre in Mainz verwendet; hier lernte er den
geistvollen Staatsmann Graf Kolowrat kennen, der in dem Hause
von Eichhoff's Schwager zu Mainz wohnte und von Seite der k. k.
österreichischen Negierung gleichfalls bei der genannten Schifffahrlö-
commission beschäftigt wurde. Graf Kolowrat empfahl den jungen,
talentvollen Capitän seiner Regierung und rühmte seine Verdienste;
als er darauf als Oberstburggraf nach Böhmen zurückkehrte, er wirkte
er dem königlich hannoverschen Offizier die Anstellung als Gubernial-
rath beim böhmischen Gubernium, aus welcher Stellung er in
der kürzesten Frist, gleichzeitig mit der Beförderung des Grafen zum
Staatsminister, zum Hofrath und später zum Präsidenten der Finanz¬
behörde vorrückte. Seit seinem Sturze lebt er abwechselnd in Wien
und auf seinen Gütern in Mähren.
Mit dem Antritt des Kammerpräsidenten, Baron Kübeck, ge¬
wann ein großer Theil der Staatsverwaltung eine erhöhte Regsam¬
keit; der Leser kennt die großartigen Maßregeln, welche seit drei Jah¬
ren unter der aufgeklärten Verwaltung dieses ausgezeichneten Chefs
des österreichischen Finanzwesens in's Leben getreten sind, er weiß
auch wahrscheinlich die verschiedenartigen Urtheile, welche dieselben in
den Journalen und im Publicum hervorgerufen haben, und kann sich
somit selbst eine Ansicht bilden von der Energie und der unermüd¬
lichen Thätigkeit, womit Baron Kübeck sein Ressort besorgt. Die
Regulirung des Briefportos, die Post-Verträge mit den mei¬
sten Staaten Europas, das neue Stcmpelpatent, die Organisirung
der Finanzwache aus den beiden Bestandtheilen der früheren Grcnz-
und Gefällenwache und so manche Erleichterung des inländischen
Gewerbsfleißes, wozu erst neulich wieder die Herabsetzung des Salz¬
preises von sieben Gulden auf zwei Gulden per Centner für alle
Fabrikanten, welche Salz in größeren Quantitäten zum Betrieb ih¬
res Geschäftes bedürfen, wie z. B. zur Darstellung von Salzsäure,
Glaubersalz und verschiedenen Chlorverbindungen, gekommen ist. Diese
letzte Erleichterung scheint man hauptsächlich dem, wie wir glauben,
auch in öffentlichen Blättern erwähnten fiskalischen Prozeß gegen den
Hofzuckerbäcker Herrn Dehne zu verdanke», der viele Jahre
hindurch das in seinem Geschäfte bei der Eisbereitung verwendete
Salz durch chemische Mittel wenigstens zum Theil wieder gewann
und sodann heimlich an Private verkaufte, wobei er sich auf die
Voraussetzung stützte, dieses Verfahren könne ihm nicht verwehrt wer¬
den, weil er das verkaufte Salz nicht ursprünglich selbst erzeugt habe,
was allerdings eine Verletzung des Staatsmonopols wäre, sondern
es vorschriftsmäßig vom Staate bezogen und richtig bezahlt habe.
Wir kennen alle Einwürfe, welche gegen die beregten Neuerun¬
gen gemacht worden sind, und haben jene zahllosen Artikel fleißig
gelesen, in denen die deutsche Presse (außer einigen Broschüren vor¬
züglich Biedermann's deutsche Monatsschrift, die sächsischen Vater-
landsblätter, die Kölnische Zeitung, die Deutsche Allgemeine Zeitung,
Wöniger's Staat und Bülow-Cummerow) den Verwaltungsgang deö
österreichischen Necker, wie man den österreichischen Finanzminister zu
nennen beliebte, beleuchtet hat, und erinnern uns jenes finanziellen
Sturmes, den die von ihm verfügte Creditbcschränkung der Wiener
Banquiers bei der Nationalbank hervorbrachte und dessen Hauch die
scheinbar festen Häuser Geymüller und Steiner umwarf. Allein es
scheint uns außerhalb der Tendenz dieses Artikels zu liegen, der sich
mehr mit der äußeren Physiognomie der Hofkammer in Wien be¬
schäftigen soll, hier in staatswirthschaftliche Erörterungen einzugehen,
wozu sich vielleicht bald eine schicklichere Gelegenheit finden dürfte,
und deshalb beschränken wir uns vorerst blos darauf, die Stellung
des neuen Präsidenten und die Schwierigkeiten derselben anzudeuten,
wobei es nicht unzweckmäßig sein wird, seine Persönlichkeit und nä¬
heren Verhältnisse im Auge zu behalten.
Baron Kübeck zählt gegenwärtig zweiundsechszig Jahre und hat
ein gesundes, kräftiges Aussehen, eine leichte Haltung und einen fe¬
sten Gang. Seine Züge sind feingeschnitten und verrathen viel Geist;
eine lächelnde Freundlichkeit läßt beinahe eher einen Hofmann, als
einen Staatsmann vermuthen, wenn nicht in absoluten Monarchien
Beides beisammen sein müßte. Er ist sehr höflich und von erempla-
rischer Geduld, was ihm bei seinen alle vierzehn Tage stattfindenden
Audienzen wohl zu Statten kommen mag; nie unterbricht er den
Bittsteller in seiner Rede, und kein Zeichen der Mißstimmung läßt
den Sprecher fühlen, wie albern sein Vortrag, wie unvernünftig sein
Begehren, wie lästig seine Weitschweifigkeit auch sein mag. Wenn
er spricht, geschieht es lispelnd und bündig. Dabei ist seine Haltung
voll Anstand, das Auge freundlich, aber scharf, die eine Hand ruht
auf dem grünen Schreibtisch, oder auf der Stullchne. Auf der lin¬
ken Seite des schwarzen Fracks blitzt ein großer Stern von Brillan¬
ten, um den Hals schlingt sich ein rothes Band mit dem Kreuz des
Leopoldordens. Baron Kübeck ist zum zweiten Male vermählt, und
auch bei der Wahl seiner zweiten Gemahlin zeigte er seine unabhän¬
gige Denkungsweise. Die Frau Baronin Kübeck ist die Tochter ei¬
nes angesehenen Wiener Bürgers, eine hohe, schlanke, blasse Gestalt,
voll Geist und Anmuth und mit einer entschiedenen Vorliebe für
englische Sitte. Letzteres erinnert unwillkürlich, daß die Stellung und
der Charakter unseres Hofkammerpräsidenten mehr denen eines eng¬
lischen, als eines österreichischen Ministers gleichen. Von bürgerlicher
Herkunft so hoch emporzusteigen, kenntnißreich und doch voll prakti¬
schen Geistes, Hofmann und doch unabhängigen Charakters, dies
ist in Oesterreich wenigstens nicht Regel. Das Haus dieses Staats¬
mannes wird außerdem durch die Anwesenheit seiner jugendlichen
Tochter geziert, einer der anmuthigsten und lieblichsten Erscheinungen
der Wiener Damenwelt.
Bei seinen rastlosen Arbeiten wird der Baron Kübeck vorzüglich
von dem Viceprästdenten, Ritter von Breyer, unterstützt, der sich gleich
ihm durch Eifer und Kenntnisse aus mittellosen Stande zu einem
hochgestellten und einflußreichen Staatsbeamten emporgeschwungen hat
und Doctor der Jurisprudenz ist. Die Ideen kommen von Jenem,
die Details sind die Frucht des Bienenfleißes von Letzterem. Man
sagt, Ritter von Breyer sei für den Posten des Kammerpräsidenten
bestimmt, sobald Baron Kübeck in'ö Staatsministerium treten sollte,
was nebst der Erhebung in den Grafenstand nicht lange ausbleiben
dürfte. Dabei ist Kübeck den geselligen Freuden nicht abhold und
ein großer Freund der schönen Künste.
Was seine Stellung dem Publicum und dem Adel gegenüber
so schwierig macht, das sind die demokratischen Hoffnungen, welche
das eine auf ihn setzt, welches darum leicht in Klagen der Täuschung
ausbricht, und die scheelen Blicke, mit denen ihn der andere beobachtet.
Baron Kübeck kann sich gar nicht zeigen, wie er ist; seine Ideen
müssen so vielfache Prüfungen bestehen und so vielfältige Modifika¬
tionen erleiden, bevor sie ein'ö Tageslicht der Oeffentlichkeit treten,
daß sie oft kaum mehr sein Eigenthum zu nennen sind. Da macht
sich die Noth des Schatzes geltend, dort influirt der Hochgeborne,
der nicht gerne im Verhältniß zu seinem Einkommen besteuert sein will,
und so entstehen denn mannigfache Lücken, welche die ursprüngliche
Intention vernichten. Unter diesen Umständen darf eS uns nicht
mehr befremden, wenn die Fassung mancher neuen Einrichtung dem
Bedürfniß widerstrebt und der höchste Stcmpclbetrag, welcher früher
hundert Gulden betrug, jetzt blos zwanzig s-) beträgt, während jetzt
da, wo einst drei Kreuzer für den einfachen Brief bezahlt wurden,
sechs Kreuzer bezahlt werden müssen. Um vollkommen verantwortlich
dazustehen, müßte dem österreichischen Finanzmann ein freieres Feld
gegeben werden, als es bis jetzt der Fall ist. Das Geldwesen ist
heut zu Tage das Nervensystem eines Staates, und ein Finanzmini¬
ster, der reformirend austreten soll und muß, um alte Schäden des
Staatskörpers zu heilen, muß mit der Vollmacht eines Arztes be¬
kleidet werden. So wenig der Doctor am Krankenbette von einer
Commission beaufsichtigt wird, die seine Recepte prüft und annimmt,
oder verwirft, eben so wenig sollte im Staate, sobald einmal die
Nothwendigkeit erkannt worden, daß ein anderes System eintreten
müsse, ein thatkräftiger Finanzier bevormundet und bewacht, sondern
ihm vielmehr ausgedehnte Befugniß zu Theil werden, damit die
Reorganisation, die keine partielle bleiben soll, in allen ihren Theilen
rasch und besonnen, kühn und durchdacht in's Werk gesetzt werden
könne. Was nützt die Einsicht des Ministers, daß sich viel ersparen
ließe, wenn nicht solche Anordnungen in's Leben treten, welche diese
Ersparungen bezielen? Wenn ein herrschendes politisches System auf¬
recht erhalten und zugleich das Staatseinkommen gehoben werden
soll, so entsteht nothwendig ein natürlicher Conflict mit der Kasse des
Staates, der nach der Stärke der vertretenen Interessen sich entschei¬
det. Ueberwiegt der politische Einfluß, so greift die Finanzmacht zu
Auskunftsmitteln, d. h. zu modernen Staatsanleihen. Baron Kübeck
ist anfangs mit Entschiedenheit gegen die Geldaristokratie aufgetreten,
er fühlte besser, als das gesammte Publicum, die Aufgabe des Staats¬
mannes, der einen Blick in die Zukunft hat, nämlich den Krieg des Vol¬
kes gegen die Banquiers, der in Frankreich bereits begonnen hat und
den die kommenden Geschlechter ausfechten werden, um Staat und
Volk aus den goldenen Klauen dieser modernen Harpyen zu befreien,
die sich mit dem Volksschweiß mästen und Regierungen und Natio¬
nen gleichmäßig prellen. Allein bald sah er sich genöthigt, wieder
einzulenken, weil das Anleihensystem nicht aufgegeben werden konnte,
und mit diesem System eine strenge Behandlung der Makler unver¬
trälii.
Selbst die weise Maßregel, die auf eine Ermäßigung der Ein¬
fuhrzölle ausgeht und im vorigen Jahre so großen Lärm erregte,
konnte nicht durchdringen. Es mag unentschieden bleiben, ob es
nicht billig sei, die durch das vom Staate adoptirte Prohibitivsystem
hervorgerufene Industrie, in der viele Capitalien stecken und bei wel¬
cher eine Anzahl von Interessen betheiligt sind, nicht so mit einem
Male durch ungehinderte Concurrenz von Außen zu bedrohen, son¬
dern sie vielmehr durch allmälige Zollreduction an größere Han¬
delsfreiheit zu gewöhnen, aber in Betreff der Colonialwaaren unter¬
liegt die Verdienstlichkeit der Sache gar keinem Zweifel, und gleich¬
wohl ist bisher Nichts geschehen. Man hat es bis zum Ueberdruß
wiederholt, daß hohe Eingangszölle nur eine Prämie für den
Schmuggel seien und die Zollkasse bei niedrigern Abgaben besser fahre,
indem die Verlockung zum schmuggeln wegfalle und der Verbrauch
im eigenen Land sich steigere, und überdem hat Oesterreich nicht das
Interesse von Colonien zu wahren, denn es besitzt keine; den Fabri¬
kanten ist Frist gegeben worden, warum aber auch den fremden
Kaufleuten, die uns Kaffee, Zucker, Gewürz u. s. w. zuführen?
Diese braucht Oesterreich wohl nicht zu schützen?
Das Ausland hat gar keinen Begriff von dem Umfang, in
welchem an Oesterreichs Grenzen der Schmuggel bis in die letzte
Zeit betrieben worden ist, besonders in Italien und in Böhmen.
Auch die Behörden hatten lange Zeit keine richtige Vorstellung von
der Ausdehnung dieses Schleichhandels, der den Staatsschatz jähr-,
lich um Millionen betrügt, bis endlich umfassende Denunciationen
das Unwesen aufdeckten und amtliche Untersuchungen die furchtbare
Wahrheit an's Licht brachten. In Böhmen dienten die Stollen der
Bergwerke zu heimlichen Wegen für'das lichtscheue Pascherwesen, und
in Prag befanden sich ganze Niederlagen, aus denen man mittelst
Anweisungen von Wien aus jede Waare beziehen konnte. Gegen
zwei Millionen Bewohner sind theils thätige Beförderer, theils wis¬
sentliche Konsumenten geschwärzter Handelsgüter gewesen. Im Ge¬
birge knallen die Büchsen der Bewaffneten lustig um die Wette, und
in Venedig befolgen Gondoliere im Dienste von Kaufleuten eine ganz
eigenthümliche Taktik, um Waaren hineinzuschaffen. Eine Anzahl
von fünfzig bis sechszig Kähnen rudert plötzlich zugleich auf die Ein¬
fahrt beim Zollamte los, wo man nur einzeln einfahren soll, und
während ein Theil davon leer ist, >beladet man den anderen mit
Waaren. Werden nun auch einige dieser Kähne angehalten, so trifft
eS nicht selten solche, die keine Waaren geladen haben, und deshalb
blos in die Ordnungsstrafe verfallen. Die übrigen Gondeln eilen
einstweilen fort und sind bald in Sicherheit. Die Kaufleute hatten
eine förmliche Schadenversicherungsgesellschast gebildet, bei der sie recht
gut bestehen mochten.
Die Zollfrage und der Fortbau der großen Staatseisenbahn¬
linie dürften die nächsten und wichtigsten Fragen bilden, mit denen
sich Baron Kübeck beschäftigen wird; auch ist die Rede von einem
allgemeinen Maß-, Gewichts- und Münzsystem für alle Provinzen
der Monarchie, das der Berathung unterliegen soll, und wobei man
entweder das Decimalsystem, oder den Vereinsfuß zu Grunde legen
wird. Jedenfalls zeigt die Hofkammer zu Wien eine anerkenncns-
werthe Regsamkeit, die nicht ohne segenreiche Folgen bleiben kann,
wenn auch die Früchte nicht über Nacht reifen.
Diese Hofstelle besitzt eine bedeutende Zahl guter Kopfe, wie es
denn auffallen muß, daß in ihren Bureaur viele Literaten und Dich¬
ter angestellt sind. Das Personale ist sehr groß und besteht außer
dem Präsidenten aus vier Vicepräsidenten, fünfundzwanzig Hofräthen,
einunddreißig Hofsecretären und fünfzig Hofkanzlisten nebst einer
Menge Unterbeamten. Hofrath nett, der im vorigen Sommer in
postalischer Mission längere Zeit in Berlin gewesen, hat elegante No¬
vellen geschrieben und gegen den Hofrath Hammer einen linguistischen
Federkampf geführt, der seiner Zeit viel Aufsehen erregte; Hofrath
Kraus ist der Verfasser des „Christlichen Staats Prinzips",
das bereits die zweite Auflage erlebte, der modernen Partei aber nicht
recht behagen will. Zwei andere Hofräthe, Graf Sermage und Ba¬
ron schlechta haben Gedichte drucken lassen. Hofrath Habermann
ist seit Jahren Vorstand des Wiener Kunstvereins, und übt als sol¬
cher einen wichtigen Einfluß auf die österreichischen Kunstzustände.
Grillparzer, dessen Werth man in Deutschland noch immer nicht ge¬
nug würdigt, ist gleichfalls bei der allgemeinen Hofkammer angestellt
und bekleidet die Stelle eines Archivdirectors. Der bekannte Reifende,
Bergrath Rußegger, welcher derzeit zu Hall in Tyrol ist, und von
dem in Stuttgart ein großes Werk über Aegypten im Druck erscheint,
wozu der österreichische Generalstab die Karten lieferte, war längere
Zeit ein Mitglied dieses ausgezeichneten Amtskörpers, wie es der
bekannte Bergrath Haidinger und der zu Konstantinopel den türki¬
schen Bergbau leitende Bergrath Paulini noch jetzt sind.
Der Lustspieldichter Bauernfeld, der vierzig Jahre alt wurde, ehe
er eine Anstellung erhielt, diente auch bei der Hofkammer in Wien,
desgleichen ein Graf Heuscnstam, der am Burgtheater unter dem
Namen Theodor Stamm die Tragödie „ein weibliches Herz" (sie ist
bet Cotta im Drucke erschienen) ausführen ließ, und so eben ein
Epos „Hesperus" herausgab. Auch der bekannte Operntertdichter
Otto Prechtler ist Beamter der Hofkammcr. An jungen Poeten und
Journalisten fehlt es noch weniger, und es gibt nach meiner Ansicht
vielleicht keine andere Behörde in der gesammten österreichischen Mo¬
narchie, die so viele schriftstellerische Federn aufzuweisen hätte, wenn
dies auch nicht eben von allen Seiten gut vermerkt wird.
Bemerkenswert!) erscheint noch die Eigenthümlichkeit, die sich in
der jüngsten Zeit, und namentlich unter dem derzeitigen Präsidenten
herausgebildet hat, wornach dem bureaukratischen Grundelement immer
mehr technische und industrielle Elemente beigemischt werden, was auf
ein richtiges Erkennen der Zeitbedürfnisse und Vorurtheilsfreie Auf¬
fassung der Verhältnisse hinweist. So wurde eine Generaldirection
der Staatöbahnen geschaffen, welche unter der Leitung eines tüchtigen
Chefs steht, des Hofraths Francesconi, und eine Centralstelle für den
praktischen Bergbau, der die Beförderung der technischen Seite des
Montanisticumö zur Aufgabe hat und sich unter der Direction des
Hofrathes Bayer befindet, der lange Zeit an der Spitze des böhmi¬
schen Bergbaues gestanden.
Es soll die Absicht sein, diese beiden technischen Behörden nach
und nach zu verschmelzen und ihnen auch die unter dem Namen des
Hofbaurathes bestehende Centralstelle für das Bauwesen beizugesellen,
wodurch der industrielle Geist des Landes ein bestimmtes und um¬
fassendes Organ erhielte. Die im folgenden Jahre stattfindende In¬
dustrieausstellung, zu deren Besorgung bereits nach den Zeitungsnach¬
richten allerhöchsten Orts eine Commission aus Mitgliedern der Hof¬
kammer, der Hofkanzlei der nicderösterreichischen Landesregierung und
des Industrie- und Handclsstcmdes unter dem Vorsitz des Präsiden¬
ten, Baron Kübeck, ernannt worden sein soll, wird ohne Zweifel den
giltigsten Beweis liefern von den großartigen Fortschritten, die die
österreichische Industrie unter dem Schutze dieses aufgeklärten und
geistvollen Staatsmannes gemacht hat.
Ziemlich gut und ruhig verging die Nacht, doch um drei Uhr
weckien mich Kanonenschüsse — wir waren auf der Rhede von Kal¬
mar. Ich sprang vom Lager und eilte aufs Deck, wo eben keine
warme Luft wehte. Mein Freund und Gefährte, der Däne, sagte
mir herzlich Lebewohl und stieg in's Boot, das ihn zum Lande brin¬
gen sollte. Dort drüben lag, hart an den Meereswogen, vom kalten
Morgennebel umwallt, die Stadt mit ihren blutrothen Häusern und
mit der grauen Kuppelkirche, einer Moschee ähnlich. Etwas entfern¬
ter zeigte sich das alte Schloß. Hierher berief Margaretha, die nor¬
dische Semiramis, im Jahre 1397 die Stände der drei skandinavi¬
schen Reiche, denn sie hatte die Kronen von Dänemark, Schweden
und Norwegen auf ihrem Haupte vereinigt. Hier schmolz sie die
widerstrebenden Elemente zu Einer Monarchie zusammen und gab
ein feierliches Gesetz, die kalmarische Union, das sich auf drei Haupt¬
pfeiler stützte. Erstens: der König wird gewählt; — zweitens: er
bewohnt abwechselnd alle Lande seiner Herrschaft; — drittens: un¬
angetastet bleiben jedem Reiche sein Senat, seine Rechte und sein ur¬
sprüngliches Gesetz. Durch diese Union büßte Skandinavien Glück
und Freiheit ein. Schon Margaretha verletzte alle Punkte derselben,
und nach ihrem Tode wälzten sich langwierige Kriege über den Staat.
Roth ging die Sonne hinter Oeland auf, als unser Schiff wie¬
der in Gang kam, und vor ihren Strahlen zogen die Dünste in
ganzen Ballen sort — Kalmar zeigte sich in vollster Morgenhelle.
Mich fröstelte aber und ich ging wieder zur Kajüte hinab. Dieselbe
machte einen absonderlichen Eindruck durch die verschiedenartigen Bil>-
der und Gruppen, welche man darin erblickte. Es herrschte ein mat¬
tes Halbdunkel; die Ampel brannte noch unsicher und drohte zu ver¬
loschen; durch die beschlagenen Fenster schimmerte der Morgen her¬
ein, und der Engländer hatte sich Licht angezündet, um sich zu rast-
ren. Aus jeder Hütte tönten andere Laute; der Lübecker schnarchte
laut, Baron R. klimperte auf der Guitarre, Monsieur Nobineau sang
eine Barcarole, und Jeder verlangte mit Ungestüm nach irgend et¬
was. Alles rief Karte, unseren neckischen Schiffsjungen, und rast¬
los galoppirte dieser wohl fünfzig Mal quer durch den Salon, ohne
vor den vielen Befehlen einen einzigen ausführen zu können.
Karte, bring' mir den Kaffee, oder — bei meinem Barte! — ich
laß Dich spießen, sobald ich türkischer Kaiser werde!
So rumort und spektakelt es durcheinander. Karte stürzt athem¬
los umher, und Jeder hält ihn ab, den Andern zu bedienen.
Nachdem sich endlich die Parteienwuth ein wenig gelegt, wurden
Alle befriedigt; ich trank meinen warmen Kaffee und stieg wieder
empor, um frische Luft zu schöpfen. Es war oben noch ganz still,
nur ein brauner Junge putzte das Messingwerk. Bin ich zur See,
so kann ich, wenn ich auch nirgendwo Land erblicke, jenes Gefühl
großartiger und ungeheurer Einsamkeit nicht finden, das so oft ge¬
schildert worden ist. Mich trägt das Dampfschiff, ein herrliches Werk
der Gottheit, der Gottheit im Menschen — des Geistes. Wie viel
Bildung gehörte dazu, seinen hundertfachen Mechanismus zu erden¬
ken und auszuführen! Diese Bildung, oder doch das sichtbare Er¬
gebniß derselben, verknüpft mich mit der ganzen cultivirten Welt, und
die Schrecken der Einsamkeit können mich nicht erfassen. Sehe ich,
früh Morgens auf's Deck tretend, den Schiffsjungen beschäftigt, mit¬
ten unter Klippen und wallender See die Metallknopfe der Galerien
zu Poliren, so ist das unzweifelhafte Bildung. Weit Verlorner und
verlassener fühlte ich mich droben im Volsker« und Hernikergebirg,
wo Oede, Schmutz und Rohheit mich umgaben; wo mich aus ge¬
brochenen Säulen, aus zerfallenen Aquäducten eine vormalige, ge¬
storbene Bildung mit leeren Augenhöhlen entsetzlich anstarrte.
Während ich mich mit solchen Gedanken trug, kam Maria, hell
und schön wie der Morgen, auf's Verveck. Sie sagte: „Der Schlaf
sei ein Feind des Unglücks, darum komme er nicht zu ihr." Vor¬
sichtig und freundlich fragte ich sie «ach ihren Schicksalen, und es
schien dem Mädchen erwünscht, einen Theil der pressenden Last von
der Brust durch Mittheilung abwälzen zu köunen. Auf- und nieder¬
gehend erzählte sie mir ihre traurige Geschichte, um so trauriger, je
alltäglicher sie war. Vor zwei Jahren wohnte in Stockholm, ihren
Eltern — wohlhabenden und angesehenen Leuten — gegenüber, eilt
fremder Diplomat. Maria entwickelte sich damals zur Jungfrau;
feurig war ihr Herz, ihre Phantasie erregt, und sie sehnte sich nach
Liebe. Der schöne stolze Mann widmete ihr seine Aufmerksamkeit,
sie fühlte sich geschmeichelt, und in ihre Träume stahl sich sein Bild.
Er setzte die feinsten Verführerkünste in's Werk, all jene teuflisch geist¬
reichen Künste ... und sie wurde sein. Die Eltern ahnten Nichts
davon, aber das Mädchen war glücklich. Da ward ihr Geliebter
von seinem Hofe abberufen; noch fand er indeß Gefallen an ihr
und forderte sie auf, ihn zu begleiten. In einer grauen eisig kalten
Octobernacht drückte Maria die Thüre des elterlichen Hauses hinter
sich zu und wischte eine Thräne aus dem Auge. Sie eilte an's Schiff,
und ehe die Sonne heraufstieg, lag schon manche Welle zwischen ihr
und dem schwedischen Strande.
Sie wußte nicht, wohin es ging, fragte auch nicht darnach, bis
zwei Tage später das Dampfboot landete. Eine weite, prächtige
Stadt umgab sie — es war Se. Petersburg, Anfangs ging es
recht gut; sie mochte die Wohnung nicht verlassen und lebte nur
daheim mit dem Manne ihrer Liebe. Aber immer kälter wurde der¬
selbe, er behandelte sie gleichgiltig, zuletzt sogar rauh und barsch.
Da wollte das Herz ihr brechen und nirgends fand sie' einen Men¬
schen, dem sie ihr unaussprechliches Leid hätte klagen können, denn
unter Russen lebte sie.
Der Verführer war ihrer überdrüssig, das merkte sie wohl. Al¬
les brachte ihn in Zorn gegen sie, sogar ihre verweinten Augen. Er
verbot ihr das Weinen, und als sie es doch nicht lassen konnte, schlug
er sie ... er schlug sie mit denselben Händen, mit denen er ihr einst
Wange, Locke und Brust liebkosend gestreichelt hatte. Oft blitzte in
Maria's Geist der Gedanke des Selbstmords auf, allein ihr fehlte
der Muth dazu. Sie verkaufte den Schmuck, den sie als Geburts¬
tagsgabe von ihren Eltern empfangen, doch die gelöste Summe reichte
nicht hin, die Kosten einer Ueberfahrt nach Schweden zu decken. Sie
mußte bei dem Ehrlosen um das Fehlende betteln, und er warf's ihr
wie ein Almosen hin, obgleich er froh war, das Mädchen los zu
werden. So fuhr sie nun wieder der Heimath entgegen.
Maria erzählte das Alles kurz, schmucklos, mit einer entschlosse¬
nen Ruhe. Mir war dabei zu Muthe, wie in den Kinderjahren,
wenn ich grausige Gespenstersagen hören mußte. Es rieselte mir
durch'ö Blut, und meine Haare sträubten sich. Solche Thaten ge¬
schehen täglich im Schooße der cultivirtesten Staaten, und nirgendwo
gibt es ein Gesetz, ein Recht, welches den Schändlichen, der Dieb
und Mörder zugleich ist, infam erklärt und ihn seiner verdienten Strafe
überliefert. Nein — solche Gesetze gibt es nicht! Aber das Urtheil
der Welt stellt ihn an den Pranger, die gute Gesellschaft brandmarkt
ihn und wendet sich von ihm ab? O nein, auch das nicht! Er hat
viel Glück bei den Mädchen, sagt man, und eS sei ihm nicht zu ver¬
denken, daß er seine Jugend genieße. Selbst die nobeln Damen, die
den Goethe nicht lesen, weil er unmoralisch ist, flüstern sich zu von
seinen galanten Abenteuern und von dem hübschen blassen Kinde,
das er mitgebracht, und nennen ihn einen interessanten Mann. Er
bleibt in Amt und Würden, die keuschen Jungfrauen lechzen nach
seiner Huldigung, und die Mütter rechnen ihm geläufig die Talente
ihrer Tochter vor. Aber auf das schuldlos gefallene, durch Höllen¬
künste verführte Mädchen wird der Stein geworfen; stolz auf ihre
unverlockte Tugend wenden sich die lüsternen Pharisäerinnen von ihr
ab, und nicht einmal der helldenkendste Mann besitzt Entschlossenheit
genug, dem elenden Vorurtheil gegenüber zu treten. Mit kalter Lieb¬
losigkeit straft man sie, die durch heiße Liebe gesündigt hat. Der
Verführer bleibt ein Ehrenmann, aber die Verführte wird ehrlos. O,
man möchte dabei den Verstand verlieren, aber es geht nicht mehr,
denn ich glaube, unser ganzes Zeitalter ist vor Ueberfeincrung bereits
toll geworden.
Die kleine Gräfin kam lachend und singend die Treppe von der
Damenkajüte heraufgesprungen, umfaßte ihre „liebe Maria!" und
schmiegte sich dicht an sie. Ich habe nie eine rührendere Scene ge¬
sehen. Das holde Kind, dessen Seele makellos wie eine Lilie war,
blickte vertrauend und fromm zu Maria empor. Aber Maria senkte,
schmerzlich getroffen, das Antlitz zur Erde, ihre Lippen zuckten, und
die Wunde ihres Herzens blutete. Man sah das an den Wangen,
die plötzlich so purpurroth wurden; sie fühlte sich in diesem Moment
gewiß sehr schuldbelastet und unglücklich, doch glich sie den schönen
Sünderinnen auf guten alten Bildern vom Weltgericht, denen ein
Engel Vergebung bringt. Die kleine Gräfin war der Engel, und
sie war es nur, weil noch kein Flecken den Spiegel ihrer kindlichen
Unschuld trübte. Wäre sie älter gewesen und hätte schon eine Er¬
kenntniß des Bösen gehabt, sie würde sich „indignirt" abgewendet
haben, wie es die Andern thun.
Bald fand sich mehr Gesellschaft oben ein; das Wetter war
frisch und blau, und wir suchten der Zeit wieder Flügel zu leihen.
Buntere Unterhaltung hat vielleicht nie das Deck eines Schiffes be¬
lebt. Die Tyroler hatten sich erholt, und fehlte ihrer Gefährtin auch das
volle Alpenrosenroth noch, so konnte sie doch wieder die Harfe schlagen.
Das gab nun heitere Terzette, Jodeln, Spiel und Gesang. Emilie
Holmberg trug wunderhübsche Lieder eigener Composition vor, und
ich feierte sie durch ein Akrostichon. Obgleich ich sonst diese poetische
Zwangsjacke nicht leiden mag, ist sie doch zuweilen ganz passend,
denn Frauen und Mädchen freuen sich der Verse weit mehr, wenn
sie ihren Namen unvertilgbar an der Stirne tragen. Der Anfang
ist mir noch erinnerlich:
Am liebenswürdigsten war Monsieur Robineau. Bald silhouet-
tirte er Jemand aus der Gesellschaft, bald schnitt er zierliche Land¬
schaften aus. Dann trieb er allerhand Mummenschanz. Unsere in
den Cabineten umherliegenden Kleider waren ihm willkommene Gar¬
derobestücke, rothes Zahnpulver und Kohle mußten ihm als Schminke
dienen; jetzt kam er als Türke, jetzt als Engländer auf's Verdeck und
erregte jedesmal laute Fröhlichkeit durch sein komisches Bewegen. So¬
gar unser Brite lächelte. Zuletzt setzten Robineau und der verschmitzte
Tyroler sich vis a vis, und Jeder zeichnete den Andern ab. Wie
die Beiden sich nun gegenseitig so durchdringend anstierten, wie dann
die Stifte emsig über's Pergament flogen, und wie das Manöver
sich oftmals wiederholte — eine lustigere Scene kann man sich nicht
denken, und am Ende waren die Bilder ähnlich genug.
So kam der Mittag, so kam der Abend heran; um acht Uhr
sahen wir den Leuchtthurm von Langsort und eine Stunde später ge¬
langten wir in die Scheeren. Oede, kahle Graniteilande sind es,
anfangs ohne Baum, ohne Gras, und zu Tausenden ziehen sie sich
die siebzehn Meilen bis Stockholm hin. Hoch ragen sie aus der
Muth empor, die sich überall durch dies Felsenlabyrinth in ge¬
bogenen Strömungen windet. Doch keine keckromantischen Formen
bilden diese Jnselklippeii. Jahrtausende ruhten sie unter dem Mee¬
resspiegel, und da haben die rastlosen Wellen alle Ecken und Kan¬
ten abgespült. Sie sind langweilig glatt geworden, wie Leute des
Hofes; nur rothe und gelbe Kryptogamen bringen zuweilen einen
Wechsel in ihren trüben, graubraunen Farbenton. Also stehen sie da,
eine unbesiegbare steinerne Wachtarmee, den Weg nach Stockholm
vertheidigend, und wo ein Schiff es versuchen wollte, zwischen nam
durchzuschleichen, müßte es rettungslos zu Grunde gehen. Nur zwei
fahrbare Wasserstraßen gibt es, und beide werden von starken Forts
gedeckt.
Steffens nennt diese Scheeren die höchste Potenz einer trüb¬
seligen, poesielosen Gegend, doch möchte ich nicht unbedingt in das
Urtheil einstimmen. Von den Eingebornen kann dabei keine Rede sein,
denn ihnen hat gewiß dies unschöne Chaos einen heimathlichen Reiz ver¬
liehen, und sie würden es wohl kaum mit Anderm vertauschen. Dem
Reisenden bietet die wilde, niegesehene See- und Felsenöde so viel
Ueberraschendes und Unerwartetes, sie regt seine Phantasie so gewal¬
tig auf, daß er den Mangel der Vegetation und des blühenden Le¬
bens beinahe vergißt. Nur der Fremde, dessen Vaterland im schönen
Süden liegt, und der, hierher verbannt, seine Tage vertrauern muß
— er mag wohl vor Sehnsucht und Heimweh sterben können.
Als wir weiter in das granitne Tohuwabohu vordrangen, krüp-
pelte zuweilen eine einzelne Fichte auf den Scheeren, und es hatten
Fischerfamilien ihre grauen Holzbaracken an den harten Fels geklebt.
Dort wohnen die Armen, sind in Nach: und Sturm auf der See,
stets von Gefahren umringt und verzehren die Fische, oder tauschen
in Warholm ihren Fang gegen etwas Gemüse um. Ihnen wächst
kein Grün, sie wissen Nichts von Bildung, sie leben mit dem See¬
hund auf derselben Klippe und haben nicht viel mehr Bedürfnisse
als er. — Ob sie wohl glücklich sein können? Gewiß! Wenn es
uns, deren behagliches Dasein von tausend künstlichen, mannigfach
complimten Bedingungen abhängt, auch fast unmöglich scheinen
will.
Die Schiffsuhr schlug Zehn, die glühenoe Erzkugel der Sonne
war bereits im Meere verlöscht, und doch wurde es nicht dunkel.
Wir waren im Norden. Zwar tönte noch Gesang und Lautenspiel
auf dem Deck, allein ich suchte bald mein Lager, um desto zeitiger
wieder auf zu sein. Mit dem Glockenschlage Drei stand auch der
Graf S. in seiner Schlafmütze vor mir und weckte mich. Er ist ein
viel zu guter Schwede, als daß er zugeben könnte, ein Fremder solle
an den Schönheiten seines Landes schlafend vorüberfahren, und wir
waren nicht mehr weit von Warholm. Mit der Sonne zugleich kam
ich auf'S Verdeck, und ob mich gleich bitter fror, so wich ich doch
nicht von der Stelle. Karte, der einen wahren Jnstinct für unsere
Bedürfnisse besaß, hatte sich auch aus dem Schlafe gerafft und ließ
mir Kaffee kochen. Die Scheeren sahen jetzt nicht mehr so steinern
nackt wie am vorigen Abend <of. Hohe Tannen und Eichen um¬
hüllten sie zum Theil mit saftigem Grün, und rothe Bauerhäuschen
lugten durch den Baumschlag. Herrlich fluthete die blaue See in
unzählbaren Schlingungen und Windungen durch die gigantische Klip--
pengruppe; eine ganze Flotte von Fischerbooten mit weißen Segeln
schwamm gleich Möven dazwischen umher, und die Frühsonne glühte
Alles mit heißem Purpur an.
Noch ein interessanter Anblick erwartete mich als Entschädigung
für die Stunden, die ich dem Morpheus entzogen hatte. Vor uns
rauschte und spritzte das Wasser an einer Stelle ganz eigenthümlich;
der Steuermann stieß mich an und sagte: ich solle Acht geben, das
seien Seehunde. Es mochte eine Horde von achtzehn bis zwanzig
sein; sie ließen uns ruhig herankommen, streckten furchtlos die Köpfe
aus der Fluth, unser großes Näderschiff verwundert anglotzend. Muth
und Neugierde sollen charakteristische Züge im Naturell der Robbe
sein, und ich habe wahrlich noch niemals ausdrucksvollere Thier¬
physiognomien gesehen. Aus dem dicken glatten Kopf, ohne bemerk¬
bare Ohren, funkeln die großen schwarzen Luchsaugen, und der dichte
Bart, der sich um's Maul hinzieht, gibt ihnen kecke, trotzige Mienen.
Ein gedrungener, dehnbarer Hals verbindet dies ernsthaft-komische
Antlitz init dem spitz zulaufenden Leibe, der die Länge eines ausge¬
wachsenen Mannes hat. Vorn sitzen, nahe am Kopfe, die kurzen
Ruderbeine, während die Hinterfüße sich beinahe ganz mit dem Schwanz
vereinen. Die Robben zeigten nicht die mindeste Furcht, wie nahe
wir auch an ihnen vornberrauschten, und ich hatte das Vergnügen,
die persönliche Bekanntschaft von Geschöpfen zu machen, welche ich
bisher nur aus zoologischen Museen, aus Jagdstiefeln und Neisekof-
fern kannte.
Man schießt den Seehund hier an der schwedischen Küste ge¬
wöhnlich mit Flinten, und das Schrot muß ihm durch die Augen ge¬
hen. Trifft ihn eine Büchsenkugel, so sinkt er damit unter und wird
nicht wieder gefunden. Höher im Norden aber belauert man Nachts
auf dem Eise die schlafenden Heerden, umschleicht sie, daß sie nicht
in's Meer zurückfliehen können, und erlegt sie mit eisenbeschlagenen
Keulen. Die Schnauze ist ihr empfindlichster Theil, und einen flüch¬
tigen Schlag darauf, so richten sie sich niemals mehr empor. DaS
Meer, sagt man, sei des Nordländers Acker und die Robbe seine
Ernte. Grönländer und Eskimos leben allein von diesen Thieren.
Sie essen das Fleisch, trinken den Thran, erleuchten und erwärmen
ihre Hütten mit dem Speck. Mit den Sehnen nähen sie, -wie mit
Zwirn, und die Knochen liefern Nadeln dazu, aber auch Messer, Ga¬
beln und Werkzeuge. Aus den Gedärmen machen sie sich wasserdichte
Hemden, Zeltbehänge, Thranschläuche und halbdurchsichtige Fenster¬
scheiben. Die Bärte des Seehundes dienen ihnen zum Putz, wie
der Gemsbart den Tvrolem, wie die Marabouts den Damen in un¬
seren Salons. Aus den Fellen bereiten sie ihre Gewänder, schneiden
sie Riemen und überziehen sie ihre Canots damit. Kurz, die Noth
macht erfinderisch, und fängt der Polarbewohner nur Robben genug,
so ist für alle seine Wünsche hinreichend gesorgt. Wenn wir solche
Erzählungen hören, wird uns eiskalt und schaurig, und wir hüllen
uns dann noch einmal so wohlgefällig in den Mantel unserer besten
Cultur.
Um vier Uhr waren wir bei der Seefestung Warholm. Sie
bietet ein mehr malerisches, als imposantes Bild. Einige Mauern
und Wälle mit Schießscharten, ein starker runder Thurm von grauem
Stein — das liegt Alles recht romantisch da, sieht aber gar nicht
finster drohend aus und soll den Seeweg doch unnehmbar beherrschen.
Oben auf der Mauer stand, frierend in den Mantel gewickelt, ein
Wachtposten und rief uns durch das Sprachrohr an. In demselben
Allgenblick, als der Capitän antworten wollte, bemerkte er ein Dampf¬
schiff, das, um die Krümmung biegend, dem Svithiod entgegenkam.
Ungeduldig fragte der Wächter schon zum zweiten Male, und wir
schwebten in der Doppelgefahr, entweder mit jenem Boote zusammen¬
zustoßen, oder aus der Festung eine Kugel in die Planken zu erhal¬
ten. Denn man versteht auf Warbolm keinen Spaß, wie das noch
vor Kurzem das kaiserlich russische Dampffahrzeug „Jschora", dessen
Führer nicht antworten mochte, zu seinem Nachtheil erfahren hat.
Schnell rief unser Eapitän nun die geforderte Auskunft nach dem
Castell hinüber und gab seinen Leuten die nöthigen Befehle.
Wir begegneten einem schönen Kriegsdampfschiff, das die schwe¬
dische Flagge führte und den Kronprinzen Oskar — den Enkel
eines Advocaten und eines Seidenhändlers — mit seiner Gemahlin
nach Deutschland trug. Er hatte Stockholm in stiller Nacht verlas»
sen, um allen Förmlichkeiten, allem öffentlichen Geräusch zu entgehen.
Auch in Warholm sahen sie jetzt das Boot, und eine Schaar Artil¬
leristen kam eilig auf den Wall empor, um die Salve zu geben.
Rothe Feuerblume» entfalteten sich, graue Rauchmassen wirbelten, und
ihnen folgte ein Donner, der aus den vielen Felsenbuchten im hun¬
dertfachen Echo zurückrollte. Je mehr wir uns entfernten, desto län¬
ger wurden die Pausen zwischen Blitz und Knall, aber den letztern
hörten wir noch, als Fort und Schiff unseren Blicken längst ent¬
schwunden waren.
'
So gings denn weiter, und eine Stunde später erschien uns
Stockholm.
Seit der Gelehrten-Versammlung im vorigen Herbste ist der
Name unserer freundlichen Stadt in Deutschland bekannter geworden,
und ein Bericht aus derselben dürfte Allen willkommen sein, die ent¬
weder jener Versammlung beiwohnten, oder sonst wie immer Inter¬
esse an unserem schönen Alpenlande finden. Seitdem haben wieder
zwei Stiftungen dieses bereichert, deren voller Genuß zwar erst den
Enkeln vorbehalten ist, die aber auch wir schon ob ihrer für alles
Gute und Edle im Lande unermüdeten Stifter dankbar erwähnen
müssen: es ist der vom Erzherzog Johann zu Stande gebrachte „hi¬
storische Verein für Steyermark, Kärnthen und Krain" und die
durch unsere Stände jetzt in's Leben tretende „Realschule" in Gratz'
Die Statuten des ersteren geben Zweck und Verfassung desselben
wnd, jener ist: „Erhaltung und Aufhellung der Geschichte der inner-
österreichischen Provinzen und Ueberlieferung der Begebenheiten des
inneren und äußeren Lebens derselben an die Nachwelt", der bei ge¬
hörigem Ausammenwirken leicht erreichbar sein dürfte; bekannt ist der
Neichchum dieser Länder an Stoff für Historiker, Geographen, Natur¬
forscher, Maler, Alterthümler, Romantiker u. f. w.; ihnen ist nun
ein Sammelplatz eröffnet, wo sie Alle früher oder später zusammen¬
treffen dürsten und sich gleichzeitig hilfreiche Hand bieten können. An
dem „Zusammenhalten" ist nicht zu zweifeln, so lange der hohe Stif¬
ter persönlich um der Spitze steht, wie wir dies bei allen seinen übri¬
gen Stiftungen in Steyermark mit Vergnügen bemerken. Ueberall ist
er aber auch zugleich eines der thätigsten und sachkundigsten Mitglie¬
der selbst, so als Stifter des Johanneums auch Naturforscher und
Mathematiker; als Gründer und Präsident unserer Landwirthschafts¬
gesellschaft zugleich rationeller Landwirth: im Hochland auf seinem
Bauernhofe, in Untersteycr auf seiner Herrschaft Stainz, in den Pi-
kerer Rebenhügeln auf seinem Johannisberge; so als Gründer und
Präsident des innerösterreichischen Gewerbe- und Jndustrievereins auch
selbst werkthätig und unermüdet für Aufschwung derselben; so als
Gründer und Präsident des montanistisch-geognostischen Vereins in
und für Immer-Oesterreich ist er zugleich technisch gebildeter Nodmei-
ftcr in Vordernberg ; so finden wir ihn endlich schon 1^12 besorgt um
Aufhellung der Geschichte unserer Länder durch seine Preisfragen,
wodurch erst Studien und Forschungen um Vaterlandskunde wesent¬
lichen Aufschwung bekommen und Männer vom Fache und anerkann¬
ten Ruhe sich damit seither beschäftigten. Daß der neue Verein dies
Streben ferner befördern, dabei aber auch für's Einzelne sorgen wird,
ist nicht zu zweifeln; jedes Land sieht seine Privatinteressen durch
seine Provinzial-Direction vertreten und die liililiollit-et 8t>ri»alt zu
Grätz wird für Bewahrung der steyerischcn Geschichtsmomente sorgen,
wie die es,i-e»kinn zu Klagenfurth für Kärnthens, und die c.'ri'inoui
zu Laibach für Krains Geschichte und Geographie; ihnen allen wird
sich ein Antiquitätenkabinet und ein Archiv anschließen, die für jedes
Land das Jnteressanteste sammeln und bewahren sollen; für's Allge¬
meine aber wird eine Zeitschrift sorgen, die um so wünschenswerther
ist, als die vortreffliche kärnthner'sche bereits vor mehreren Jahren
einging, für Krain keine solche besteht und die steyermärkische (sich
ebenso — und vielleicht noch mehr — von ihrem eigentlichen Aiele
entfernend, wie die ältere Serie) eben im Absterben begriffen ist, we¬
nigstens kaum mehr ein Lebenszeichen von sich gibt, sich aber auch
Niemand weiter darum kümmert und man es sein läßt, so sehr auch
einzelne Aufsätze (von Professor Maly, I. G. Seidl, Karl Leidner,
August Mandl, Dr. Muchar, Unger u. s. w.) als interessante Licht¬
punkt im bunten — oft trüben — Durcheinander glänzten. Der Grund
davon dürfte bei der Unternehmung liegen, indem bekanntlich weder
an Material, noch an Abnehmern Mangel ist, doch weiß man diese
nicht zu befriedigen, jene nicht zu benutzen.'
Die Schreibseligkeit über Gratz (oder Grätz — wies beliebt)
selbst nimmt ungemein zu, und während man durch Schreiner's Grätz
doch Alles — sogar die Leser — erschöpft meinte, erscheinen: Bal-
dauf's Chronik, Oblat's topographisches Gemälde (eigentlich Umarbei¬
tung Vonsiedler's) und Steinach's Beschreibung von Grätz. Während
im ersten Werke, woran auch Muchar, Unger und Weylein arbeiteten,
und das herrliche Stahlstiche zieren, welches Alles in's Detail zieht, und wo
endlose Aifferreihen die Genauigkeit bestätigen, sogar jede Gubernialverord>
mung, womit ein Kanal zu graben und dergleichen dew.'lugt wurde, mit
Datum und Nummer angeführt ist — können du andern nur als
einfache Handbücher, als vorübergehende Erscheinungen gelten; auch
von Dr. und Professor Puff haben wir eine solche in seinem reich¬
haltigen Itineraiio stiri-lco zu erwarten. Der höchst lächerliche Streit
über die Schreibweise von Grätz hat zwar aufgehört (nur ist zum
Schrecken aller Abonnenten noch eine Abhandlung im nächst zu er¬
wartenden Hefte unserer Zeitschrift angekündigt) und kein vernünfti¬
ger Mensch spricht mehr darüber, aber gespannt stehen sich die Wort¬
führer der Parteien noch gegenüber und wären auch allenfalls bereit,
einen dreißigjährigen Krieg zu eröffnen (man rieth ihnen schon, sich
darüber zu schlagen), doch sind sie klug genug, um zu schweigen; al¬
lein dieser Streit weckte andererseits die Vertheidiger der slavischen
etymologischen Interessen, und Krempl's slavische Geschichte der Steyer-
mark dürfte neue Verhandlungen herbeiführen. Der Centralpunkt un¬
serer gelehrten Welt bleibt das Johanneum und zwar in jeder
Hinsicht als Lcsekabinet, als Leseanstalt, als Museum, als Bibliothek
u. s. w. und die Zahl der Studirenden sowohl als Besucher mehrt
sich jährlich, wie sich auch die Anstalt selbst im Geiste der Zeit hebt,
während die k. k. Universität in steif-legalem unabänderlichem Stande
bleibt; hier beschränkt sich die Zahl der Studirenden auf die Dienst¬
suchenden, und diesen wird ihr Wissen gesetzlich vorgemessen, während
die Vorlesungen am Johannes (über Naturwissenschaften, Mathema¬
tik, Landwirthschaft u. f. w.) frei in Bezug auf Gegenstand und
Zuhörer sind.
Trotz dieses herrlichen Instituts war noch eine Anstalt für die
untere Klasse, eine Vorbereitungsschule für's gemeine Le¬
ben nothwendig, und die Schöpfung derselben verdankt das Land den
Bemühungen der Repräsentanten des Bürgerstandes am diesfälligen
Landtage; so entstand die Realschule, wofür die Stände bereits ein
großartiges Local neu und zweckmäßig erbauten und die Concurse für
die Lehrfächer (Religion, deutschen Styl, Naturgeschichte und Geo¬
graphie, Zeichnungslehre, Mathematik und Kalligraphie) bereits aus¬
geschrieben sind, wozu sich bei den hohen Besoldungen von 800 si.
C.M. viele Competcnten melden dürften. Manche Fächer wären noch
sehr erwünscht gewesen, worüber wir also noch immer nach Wien ge¬
wiesen werden, was zu beseitigen der erste Zweck des Ganzen war —
doch haben die hohen Stände, von je für Bildung väterlich sorgend,
wie es besonders in der neusten Zeit so viele Prämien- und Stipen¬
dienstiftungen, der Ankauf des landwirthschafrlichcn Musterhofes, Grün¬
dung der montanistischen Lehranstalt in Vordernberg, Unterhalt meh¬
rerer Sprachmeister, Gründung der Bildergalerie und Zeichnungsaka¬
demie, solide Besetzung des Theaters und thätige Theilnahme an allen
edlen Privatvereinen oder wohlthätigen Anstalten u. f. w. beweisen —
vor der Hand für eine Grundlage gesorgt, auf die sich in der Zeit
schon ein zweites und drittes Stockwerk anbringen läßt. Jedenfalls
tragen die zwei neuen Stiftungen dazu bei, daß wir mit Recht für
unsere Stadt um die Aufnahme in die gelehrte Welt Deutschlands
bitten dürfen und daß wir gesichert sind, unsere Steiermark nicht so
leicht wieder in den Völkcrgraus der Barbarei zurücksinken zu sehen,
da sie an der Grenze derselben ausgesetzt ist.
Allerdings ist der Cartelvertrag zwischen Preußen und Rußland
wieder abgeschlossen, allerdings ist dadurch die Verbindlichkeit erneuert,
die russischen Missethäter und Deserteurs, die sich auf preußisches
Gebiet geflüchtet, der ihrer wartenden strengen Bestrafung auszuliefern;
aber ein so arger Rückschritt ist dieser Vertrag doch nicht, wie die
letzte Nummer der „Grenzboten" ihn nennt. Er ist vielmehr als
ein Fortschritt zu bezeichnen, wenn man ihn mit dem ehemaligen Ver¬
trag und mit dem früheren Stand der Dinge vergleicht; denn
I) ist vorgesehen, daß keine Flüchtlinge, die wegen politischer Ansich¬
ten und Vergehungen in Nußland verfolgt werden, oder die irgend
eine Sünde gegen die horrende russische Steuer- und Zollgesetzgebung
begangen haben, von Preußen ausgeliefert werden; 2) soll jede Aus¬
lieferung erst geschehen, nachdem ein preußisches Obergericht entschie¬
den, daß das Verbrechen der Auszuliefernden auch in Preußen mit
einer Criminalstrafe verbunden sein würde, und 3) endlich dürfen nicht
mehr, wie früher, Preise auf die Einsaugung von Deserteurs ausgesetzt
werden, was leider oft dazu beitrug, die diesseitigen Bauern und
andern Grenzbewohner zu wahren Menschenjägern zu machen. Ja,
es ist sogar festgestellt, daß, wenn es einem solchen armen Teufel von
Deserteur gelungen ist, sich zwei Jahre im Lande aufzuhalten, dann
diesseits keine Verbindlichkeit mehr vorhanden ist, ihn auszuliefern.
Hoffen wir, daß das Mitleid und die Menschlichkeit oft genug Mit¬
tel finden werden, dieses Gastrecht eintreten zu lassen, denn das Loos
eines russischen Rekruten, besonders wenn er ein geborner Pole, ist
wahrlich sehr bemitleidenswerth. Nicht zu übersehen ist übrigens
auch, daß der neue Vertrag geeigneter, als die bisher bestandenen
Verhältnisse ist, die wackeren Ostpreußen dagegen zu schützen, daß ihr
Gebiet von Kosaken und Baschkiren verletzt werde. Bisher ging es
nämlich am Niemen ungefähr eben so her, wie an der Tafua, gleich
den Marokkanern überschritten die russischen Kabylen oft genug das
Grenzgebiet, bald um einem Ueberläufer, und bald auch, um preußi¬
schen Unterthanen, die vielleicht ihre Passe nicht überall vorgezeigt,
nachzusetzen und sie zurückzuschleppen. So schreiend nun auch solche Ge>
bietsverletzungen oft waren, konnte doch selten eine Genugthuung da»
für erlangt werden. „Gott ist hoch und der Czar weit", sagen die
Russen, wenn sie ausdrücken wollen, daß sie sich Manches erlau¬
ben können, ohne eine Strafe zu befürchten. Wenn in solchen Fallen
diplomatische Reclamationen stattfanden, dann ward freilich eine Un¬
tersuchung angeordnet, aber das Forum der Kosaken befindet sich am
Don, und dort ist man gewöhnlich sehr nachsichtig gegen Fehler, die
am Niemen oder an der Weichsel begangen, und durch die blos ei¬
nige Ausländer beeinträchtigt wurden. Gegenwärtig ist nun aber fest¬
gestellt, daß eine gemischte Commission von Preußen und Russen solche
Gebietsverletzungen sogleich untersuchen und deren strenge Ahndung
bewirken soll. Sie sehen also, die Sache hat auch ihre guten Seiten,
und da es bei dem gegenwärtigen anarchischen Zustand an der Grenze
unmöglich länger bleiben konnte, so liegt jedenfalls ein Verdienst da¬
rin, eine Convention mit so günstigen Bedingungen erwirkt zu haben.
Das berüchtigte Ehescheidungsgesetz ist nun wirklich einstweilen
unter den Tisch gefallen, denn das, was kürzlich in dieser Beziehung
in der Form einer Cabinetsordre veröffentlicht wurde, betrifft nur das
Forum der Ehescheidungsprozesse, welches künftig die Oberlandesgerichte
sein sollen, bei denen zugleich ein -lllvorntus mittiiinnnii, ein Staats¬
anwalt, der die Aufrechthaltung der Ehe zu verfechten hat, angestellt
wird. Von den Zuchthaus- und anderen Strafen, die den schuldigen
Gatten treffen sollten, so wie von dem ungeheueren Einflüsse, der den
Geistlichen eingeräumt war, ist jetzt keine Rede mehr. Hoffentlich
werden auch unsere Provinzialstände, denen anheimgestellt ist, auf
jene Intentionen zurückzukommen, so gescheidt sein, es bei der ictzi-
gcn Ehescheidungsgesetzgebung bewenden zu lassen.
'
Man spricht davon, daß, nachdem Hallers Restaurations-Jdeen
im Berliner politischen Wochenblatt so treffliche Dienste geleistet, der
Nachfolger Haller's in der Schweiz, Herr Friedrich Rohmer, der mit
seinem Freunde Bluntschli die große Entdeckung gemacht, daß der
Organismus des Staates mit dem des Menschen die größte Achnlich-
keit habe und daher eben so vor Erhitzungen, wie vor Erkältungen
behütet werden müsse, hierher berufen worden sei, um an der Stelle
des >>i. Ainkeisen die Redaction der Allgemeinen Preußischen Zeitung
zu übernehmen.
Leopold Schefer, der liebenswürdige Dichter des „Laienbrevicrs",
war aus Muskau hierher gekommen und hat sich einige Tage hier
aufgehalten, um, wie es heißt, eine illustrirte Ausgabe des eben ge¬
nannten Werkes besorgen zu helfen. Obwohl seiner ganzen Aeußer-
lichkeit nach Kleinstädter, lebt doch in dem Innern dieses Mannes die
ganze Welt mit ihren religiösen, politischen und philosophischen Ideen,
die sich auch in allen seinen Dichtungen abspiegeln. Auch als geiht-
vollen Komponisten — eine Seite, von der er bisher wenig bekannt
war — hat man ihn diesmal hier kennen gelernt. So hat er unter
Anderm unserer Singakademie eine schöne Composition von Schiller's
„Auch das Schöne muß sterben" mitgebracht und gewidmet.
"
Viel besprochen wird die von der „Kölnischen Zeitung gebrachte
Nachricht, daß ein durch seine Lebendigkeit bekannter Hegelianer, l)>.
Agathem Bmary, die Fahne dieser philosophisch-politischen Partei ver¬
lassen und mit deren Gegnern unterhandelt habe. Es wäre traurig,
wenn sich dieser neue Abfall bestätigte, aber wir glauben nicht daran,
trotzdem daß die Erklärung, die Herr Bmary darüber in den hiesigen
Zeitungen veröffentlichte, nicht geradezu auf die Sache losging und
sich dasjenige, was eigentlich darüber Licht zu geben vermag, noch
vorbehielt.
Zu Frankfurt an der Oder, wo während der eben stattfindenden
Messe der durch seine Skurrilitäten und schlechten Witze bekannte Wein¬
wirth Louis Drucker Gastrollen im Theater angekündigt hatte, kam
es in demselben vor einigen Tagen zu sehr ernsten Auftritten, indem
das Publicum die ihm dargebotenen Obscönitätcn mit einem Takt, den
wir der Masse nicht zugetraut hatten, nicht dulden wollte und den
auf die Bühne nicht gehörenden Weinwicth von den Brettern hinunter¬
Wenn Herr Feodor West wöchentlich an die Elegante schreibt,
daß er Nichts zu schreiben weiß, so wären Sie bald um meinen Be¬
richt gekommen, weil ich zu viel weiß. In der That, Schlesien ist
jetzt ein wahres Schlaraffenland für Eorrespondenten, der Stoff läuft
auf allen Gassen umher, fertig und mundrecht, die Feder im Rücken,
man darf nur zulangen. Indem ich mir überlege, was ich Ihnen
schreiben soll, hat sich die Masse des Stoffes bald in zwei Hälften
gesondert; hier der außerordentlich zahme, der sich in Juc,i verarbeiten
läßt, und dort der zahme schlechtweg, der sich vor ver Scheere des
Censors fürchtet und deshalb emigriren muß. Ja, unsere Censur!
In ihrer Naturgeschichte gehört der Hase zum reißenden Geschlechte
der Bären, und eine unschuldige Eintagsfliege wird gemordet, weil
das Vergrößerungsglas einen Ansatz von Krallen an ihr entdeckt.
Dürfte ich mir etwas wünschen, so würde ich um eine Besitzung
bitten, die ich mit den Breslauer Censurstrichen des Zeitraums vom
5. Juni bis heute umspannen könnte. Ich glaube, ich käme besser
weg, als Frau Dido. Durch die Censurinstruction sollen die Gren¬
zen naher bezeichnet sein, innerhalb welcher die Presse vor der Scheere
des Censors sicher ist. Auf dem Papiere sind die Grenzen da, aber
in der Wirklichkeit nicht. Hätten sonst zwei Ministerin-Rescripte,
eins von Rother, das andere von Flottwell, ungeahndet gestrichen
werden können? Das Ober-Censurgericht soll der Censorwillkür
Schranken setzen, soll die höchste Instanz für die beschwerdeführcnden
Schriftsteller sein. Das hat .die ganze Welt geglaubt, und wir glaub¬
ten es bis jetzt auch. Seitdem aber unser Censor einen Artikel zum
zweiten Male gestrichen, nachdem das Ober-Ccnsurgericht den ersten
Strich aufgehoben hatte, sind wir anderer Meinung. Mit einem Worte,
unsere Censur wird mit einer jedes Gesetz, geschweige denn das Recht
aus den Augen setzenden Willkür gehandhabt. Diesen unglaublich
scheinenden, trotzdem aber wahren Thatsachen noch ein Wort hinzu¬
zufügen, wäre unnütz. Leider stehen diese Thatsachen nicht vereinzelt
da, es finden sich dergleichen in allen Zweigen der Verwaltung vor.
Ihre Mutter ist die Viclregiererei und die Beamtenwillkür. Es mag
der königliche Verstand anordnen, gebieten und verbieten, was er
will; seine Subalterne, von dem unbedeutendsten polizeilichen Riech¬
organe bis zum drohenden Finger der Präventivgesetze, sind souverain
und folgen ihrem eigenen weisen Ermessen. Die Polizei ist im
Stande, den König aufzuheben. Die Zeitungen haben die Beschlag¬
nahme des Briefwechsels der Bettina mit ihrem Bruder gemeldet und
als Grund dazu einen Formfehler angegeben. Dieser bestand nicht
darin, daß der Name der Herausgeben» auf dem Titelblatte fehlte,
fondern lag vielmehr, wie versichert werden kann, in der alle Titula-
turregcln umstoßenden Apostrophe der Dedication: „Mein lieber Prinz
Waldemar." Die Polizei duldet solche Abnormitäten in einem christ¬
lich germanischen Staate nicht und inhibirt den Debit des Buches.
Bettina erwirkt durch Alexander v. Humboldt den königlichen Befehl,
das Buch solle unverzüglich frei gegeben werden. Die Polizei thut's
nicht. Erst als der König, von der lausitzer Reise zurückgekehrt,
abermals seine Willensmeinung kundgibt, werden die sieben Siegel
gelöst. Deuten diese Vorkommnisse nicht auf ein revolutionäres Ele¬
ment in unserem Beamtenthume hin? Die Bureaukratie war's vor¬
züglich, welche unsere Presse illoyal, subversiv und revolutionär
nannte. Ich frage, auf wen passen diese Epitheta besser, auf die
Presse, welche auf vorgeschriebenen Wege Schutz sucht, oder auf
unseren Censor, der mit einem Striche die Censurinstruction, das
Ober-Censurgericht und die klar ausgesprochene Willensmeinung un¬
seres königlichen Herrn annullirt? Im preußischen Beamtenthume
steckt ein Geist des Widerspruchs gegen die Heiligkeit der geltenden
Gesetze, weil der Beamte selbst Gesetz zu sein glaubt! Das Fleisch
will Wort werden und eine umgekehrte Erlösung vollbringen. Merkt
euch das, ihr liberalen Heiden! Man spricht davon, daß die preußi¬
schen Censoren geheime Jnstructionen erhalten hätten, wonach die
Grenzen für Besprechungen, welche auf der socialen Scala vom Ge¬
frierpunkt des Pauperismus bis zum höchsten Grade des Reichthums
auf- und abtanzen, namentlich für Schlesien, bedeutend eingeengt
sein sollen. Solche Geheimnisse werden nicht etwa erst offenbar,
wenn die Todten auferstehen, sondern verrathen sich tagtäglich selbst
durch die Liniarzeichnungen des Rothstiftes. Durch die Erlebnisse
unserer Publizisten zieht sich bereits seit dem 5. Juni, dem Tage
des Weberaufstandes, diese Offenbarung wie ein rother Faden hin,
noch genauer gesagt, seit dem Morgen des 5. Juni, wo der Ober-
Präsident Herr von Merckel aus dem Wagen, der ihn nach Langen-
bielau tragen sollte, einem seiner Untergebenen zurief: „Und was die
Zeitungen betrifft — natürlich tiefes Stillschweigen." Jetzt begann
die Zeit der Lügen. Die auswärtigen Blatter brachten so abenteuer¬
lich entstellte Berichte über die Borgänge im Gebirge und die Berli¬
ner Korrespondenten - logen so gewaltig nach allen Enden der Welt
hinaus, daß uns hier ganz unheimlich zu Muthe wurde. In dieser
Hinsicht zeichnete sich besonders die gekreuzte Null in Ihrer Allg.
Deutsch. Ztg. aus. Welcher Quellen sich dieser Mann bediente —-
davon nur ein Beispiel. Ein Schützen-Lieutenant Herr von Ser.,
der zum Schutze der Fabrikanten mit in das Gebirge gezogen war,
ist in der ganzen Stadt wegen zweier Eigenschaften bekannt: er ver¬
eint mit einer ziemlich schwächlichen Körperconstitution eine ausneh¬
mende Galanterie gegen das schöne Geschlecht. Als sich Jemand nach
dem Befinden der Schützenabtheilung erkundigte, äußerte ein Witz¬
bold: „Die Grünröcke machen hin und wieder Attaquen gegen die
Gebirgsmadel und zwar meist mit Glück. Angekommen ist bis jetzt
nur Herr von Ser., der sich etwas kühn vorwagte und deshalb von
einer traiter Dirne mit einem nassen Sacke todt geschlagen worden
ist." Und stracks berichtet der „stets gut unterrichtete" Correspondent
der Allg. Deutsch. Ztg.: „Herr von Ser. ist geblieben." — Ein hie¬
siger Assessor hat es übernommen, den Ober-Präsidenten von Schlesien
gegen die Stimmen, welche ihn beschuldigten, über die Lage der We¬
ber unseren König getäuscht zu haben, dadurch zu vertheidigen, daß
er der schlesischen Presse Communismus und Aufwiegelei vorwirft.
Er verfährt dabei mit einer so raffinirten Böswilligkeit, daß man aus
jeder Zeile seine Lakaiengesinnung herauslesen kann. Warum discre-
ditirt Herr Prof. Butan sein Blatt durch Aufnahme solcher publizi¬
stischen Bettelhastigkeiten? — Eben erfahre ich, daß seit vorgestern
das Amt des Censors für beide hiesige Zeitungen, aus den Händen
des Regierungsrathes von Ebertz in die des Herrn von Schönfeld
übergegangen ist. Kann die Presse hierin eine Genugthuung für das
gesetzwidrige Verfahren erblicken, das sie bis jetzt unter Herrn von
Ebertz erduldet? Schwerlich! Sie hat als Ersatz nicht einmal die
Hoffnung, daß es von nun an besser werden wird, weil die diesfäll-
sige Wirksamkeit des neuen Censors aus früherer Zeit bekannt ist.
„Dulden und ausharren" — mit diesem Motto sollte sich unsere
Presse schmücken. — Ich habe diesen Gegenstand vielleicht weiter
ausgedehnt, als es billig ist, aber ich hielt es für nothwendig, die
Welt von unseren Leiden in Kenntniß zu setzen und zugleich eine
Entschuldigung für den unseren strebsamen Publizisten hie und da
gemachten Vorwurf einer zu geringen Entschiedenheit zu beanspruchen.
Für das nächste Mal etwas zur Charakteristik unseres gesammten
Interessante Mittheilungen aus Hamburg lassen sich leichter ver¬
sprechen als schreiben. In der letzten Zeit hat sich nichts Wichtiges
ereignet, Nichts, was in den Brennpunkt des allgemeineren Interes¬
ses zu rücken wäre, jedoch diene mir der Werner'sche Hochverraths¬
prozeß, welcher, bis jetzt noch unentschieden, unzweifelhaft mit einer
Freisprechung enden wird, zum Anknüpfungspunkte. Unsere Manufac-
turwaaren- und Bankokontogemüther sind kaum für andere, als mer-
cantilische Dinge erregbar. Nur an der Börse, diesem geweihten Tem¬
pel, errichtet dem gemünzten Götzen des Jahrhunderts, rollt das Blut
rascher durch unsere Adern, nur hier schlagen unsere Pulse lebhafter
und die lumini-s I)In«v» der freien Hansestadt finden hier täglich
Spannung und Erregung. Der Werner'sche Prozeß, öffentlich ver¬
handelt, ließ einen großen Andrang, namentlich solcher Schau- und
Hörlustigen erwarten, welchen die Gelegenheit erwünscht scheinen konnte,
tiefere Blicke in unser Criminaljustizverfahren bei einem politischen
Rechtshändel zu thun. Dies Verlangen muß jedoch wenig vorherr¬
schend gewesen sein, denn der Saal, obwohl ein hier so außergewöhn¬
liches Schauspiel darbietend, zeigte nur eine geringe Zahl anderer Per¬
sonen, als die zunächst Betheiligten. Herr Werner, dessen Verhaftung
im vorigen Jahre Gegenstand einer Unmasse von Zeitungsartikeln ge¬
wesen, hatte durch seine die Reformfrage kräftig anregende Schrift:
„An Hamburgs Bürger und die vom Gebiet" nicht geringes Aufse¬
hen erregt, hauptsächlich aber durch die bald nach dem Erscheinen sei¬
ner Broschüre, die im Grunde nur das oft Gesagte in neuer und
schlagender Weise wieder zu Markte brachte, kund gewordene Aengst-
lichkeit der Behörden. Letztere haben sich in der ganzen Angelegenheit
vielfacher l'nix r>.,s schuldig gemacht. Man denke nur an die aben¬
teuerliche Manuscriptentdeckunqsreise des Polizeisecretars Mevius —
kürzlich, ich erinnere mich nicht recht, von welchem Monarchen, mit
einem Orden belohnt, wie sein großes Vorbild Duncker zu Berlin —
nach Tönningen, um das Erscheinen des zweiten Heftes der Ansprache
Werner's an Hamburgs Bürger und die vom Gebiet zu verhindern.
In der That hat die von Vielen mit Begier erwartete Fortsetzung
nie das Licht der Welt erblickt. Das Auftreten des Herrn Werner
als politischer Schriftsteller und Reformator würde übrigens größeres
Gewicht erhalten haben, seine Behandlung während der Haft — worin
man ihn vierundzwanzig Stunden ließ, ohne ihm nur einmal die Ur¬
sache derselben mitzutheilen — würde eine achtungsvollere gewesen
sein, ohne gewisse Vorfalle früherer Zeit, die ihn nicht in einen Staats¬
prozeß, sondern in eine polizeiliche Untersuchung gewöhnlicher Art ver¬
wickelt hatten. Doch aus Achtung für einen Mann von Talent und
Gesinnung sollten Dinge, welche übrigens durch eine neuere Erklärung
der dabei Betheiligten sich wesentlich anders darstellten, als es früher
der Fall gewesen, keine weitere Beachtung finden.
Unser Neubau schreitet vorwärts, daß Einem dabei das Herz im
Leibe lacht. Man sieht ordentlich die Häuser wachsen, und nament¬
lich bietet die Alstergegend mit dem Jungfernstieg, von dessen neuen
Gasthöfen ich allen Reisenden besonders das in großartigem Styl er¬
baute und vortrefflich geführte Hotel Se. Petersburg empfehle, eine
wahre Ix-Ho vu«, deren Reize eine prächtige Brücke aus Granitstei-
nen, kürzlich aus Norwegen hier angelangt, binnen einiger Zeit in
nicht geringem Grade erhöhen wird. Dir Neubauten führen mich auf
das fürchterliche Brandunglück zurück und auf die Unterstützungsgeldcr,
die aus allen Weltgegenden bis zum Betrage von fast drei Millionen
Thalern einliefen, und von denen jüngst das letzte Verzeichnis) ausge¬
geben ward. Es enthält eine Art Rechnungsablegung über die Ver¬
wendung der Hauptsumme jener Gelder, doch bei Weitem nicht in so
detaillirter Art, wie sie von Vielen gewünscht und von Andern fast
herrisch gefordert wurde. Es dürfte das Ausland interessiren, zu er¬
fahren, daß die vom Hilfsverein eingeforderte Rückzahlung der Unter¬
stützungsgelder Gegenstand lebhafter öffentlicher Debatten geworden,
zunächst veranlaßt durch einen hochbegüterten Buchdruckern- und Leih¬
bibliothekbesitzer, den der Brand vielleicht wirklich in einige finanzielle
Verlegenheiten gebracht hatte, und der nun, als es sich um Rückgabe
der bezogenen Gelder handelte, mit althansestädtischer Starrköpfigkeit
unter dem Beistande eines unserer tüchtigsten Rechtsgelehrten, die
Meinung verfolgt, er brauche Nichts zurückzuzahlen. Und er bezahlte
auch Nichts. Heftigkeit oder Eigensinn ist ein solides Panzerhemd.
Ein bedauerliches Mißverhältniß träte nun ein, wollte man die wirk¬
lich Armen ganz in der Stille zu eben der Rückzahlung zwingen,
welcher sich ein Wohlhabender durch entschlossenes Weigern und Ap¬
pellation an die Oeffentlichkeit zu entziehen gewußt hat.
Sonst gibt es für heute nichts Interessantes in Bezug auf Li¬
teratur und Literaten, es wäre denn die Errichtung des großen Lese¬
institutes der Herren Perthes, Besser, Maule, wo man sich für we¬
nige Mark jährlich den Kopf dumpf und stumpf zu lesen vermag,
obwohl sich die Auswahl nur auf deutsche, französische und englische
Journale, Nevues und Bücher beschränkt. — Campe, der einzige un¬
serer Buchhändler, welcher etwas Namhaftes unternimmt, soll wieder
verschiedene Schwärmer und Raketen zum Absender bereit halten. Ich
weiß nicht, ob die glückliche Langschläferin Austria wieder durch Cam-
pe'sche Rippenstöße ein Weniges geweckt werden soll. Ein neuer Band .
Heine'scher Gedichte ist hingegen bestimmt unter der Presse, und eine !
Broschüre über das traurige Loos der russischen Grenzjuden.
— Der vielbesungene, in allen Panoramen verherrlichte, in allen
Schulen tradirte und mit antiken Glanzthaten des Patriotismus ver¬
glichene Brand von Moskau, ist nach Treumund Welp (s. dessen
neueste Petersb. Skizzen) nicht mehr und nicht weniger als eine
Mythe, im allermodernsten Sinne des Wortes. Welp läugnet natür¬
lich nicht, daß Moskau während der französischen Occupation abge¬
brannt ist, wohl aber, daß der russische Patriotismus es war, der
in altskythischer Weise, selber die heilige Stadt angezündet; und man
muß gestehen, daß Welp seine Behauptung mit guten Gründen zu
stützen weiß. Zuerst wurde er durch die Aeußerungen vieler älteren
Russen gegen die Tradition mißtrauisch, zur moralischen Ueberzeugung
aber ward sein Unglaube durch einige Umstände, die in der That
vom größten Gewicht sind. In Petersburg war man bei der Nach¬
richt vom Ausbruch des Brandes eben so bestürzt, wo nicht mehr,
wie Napoleon; die Stimmung war so kleinmüthig, daß der französi¬
sche Kaiser, wäre er unterrichtet gewesen, den vortheilhaftesten
Frieden hätte dictiren können. Von einem Plan war also keine Spur,
davon abgesehen, daß ein so heroischer Entschluß gar nicht in dem
weichen und schwankenden Charakter Alexander's lag. Man müßte
annehmen, daß der Held der Tradition, Rostopschin, auf eigene Faust
die That wagte. Allein Rostopschin war anfangs ebenfalls entsetzt
und wüthend über die Brandlegung, wie er auch später den Ruhm
als eine Schuld von sich abzuwälzen suchte; überhaupt schien anfangs
weder Rostopschin, noch Alexander, noch das russische Volk die Fol¬
gen des Brandes voraus zu sehen oder nur zu ahnen; vielmehr hielt
man die Franzosen selbst für die vandalischen Urheber dieses Ratlo-
nalunglucks. Erst als, nach einiger Zeit, die „große Armee" unter
Frost und Entbehrungen zu erliegen anfing, ermannte sich Alexander,
und später kam man auf die Idee, den Brand, der die Schwin¬
gen des französischen Adlers versengte, als einen Act heroischer Selbst¬
aufopferung darzustellen, die russischen Annalen mit einer Großchat
zu bereichern und sich in Europa einen gefurchtsten Namen zu ma¬
chen; künftige Feinde Rußlands sollten denken, sie würden es, bei
einer Invasion, mit Numantinern zu thun haben. Dies wäre, wenn
es sich bestätigte, für den russischen Volksgeist sehr bezeichnend. Die
Entstehung der Feuersbrunst erklärt Welp als ein höchst natürliches
Ereigniß oder vielmehr als eine Nothwendigkeit, die Napoleon vor¬
aussehen und der er hätte vorbeugen müssen, wenn die Franzosen
in ihrem Leichtsinn nicht vergessen hätten, die Eigenthümlichkeiten des
feindlichen Landes im Voraus zu erkunden und zu berücksichtigen.
Der russische Pöbel, sagt Welp, sieht lieber brennen, als er löschen
hilft; die prompter Löschanstalten, welche Nikolaus in Petersburg
eingeführt, werden selbst dort sehr flau und träge angewandt, so oft
der, Kaiser nicht zugegen ist; auch im Frieden gehört das Brandlegen,
wie in allen halbcivilisirten Ländern, zu den gewöhnlichsten Excessen
des diebslustigen Pöbels. Um wie viel sicherer war es zu erwarten,
bei der Verwirrung der Kriegszeit, in einer großen Stadt, die von
ihren Herrn aufgegeben, von nachlässigen Feinden besetzt, von raub¬
lustigen Gesindel voll war, und wo die geflüchteten Einwohner im
ersten panischen Schreck große Schätze zurückgelassen hatten? — Welp
warnt schließlich vor dem unbedingten Glauben an russische Dar¬
stellungen und Berichte, wo es eigenen Ruhm und Größe gilt. Wie
die Deutschen viel zu wenig, so thäten die Russen viel zu viel darin.
— Der bairische Freiherr von Hallberg, bekannt unter dem
Namen: Eremit von Gauting und berühmt durch die vielen Reisen,
die er noch jetzt, in seinem achtzigsten Jahre, unternimmt, soll dem
Kaiser von Rußland ein Memoire übersandt haben mit unmaßgeblichen
Rathschlägen, wie die freien Tscherkessen am besten zu unterjochen
wären. Man behauptet, der alte Sonderling sei, als ihn die Lust an¬
wandelte, den Kaukasus zu besuchen, mit Schamvl in Berührung ge¬
kommen und von diesem beleidigt worden; darum suche er sich jetzt
auf diese edle Weise zu rächen. Die Behauptung ist etwas abenteuer¬
lich. Soll man aber annehmen, der Eremit wolle sich auf seine al¬
ten Tage ein halbes Dutzend Orden von einigen kleinen deutschen
Souveränen verdienen, die sich vielleicht, aus zarten Vcrwandtschafts-
rücksichten, für jede russische Eroberung interessiren? Seltsam genug,
daß unser deutscher Adel, den die Kampfluft in's Ausland treibt, sich
immer ausschließlich auf die reaktionäre und despotische Seite schlägt;
es wäre nicht seltsam, wenn eine politische Tendenz oder die Rücksicht
auf die Wünsche der respectiven Regierung, denen die heutige Aristo-
kratie sich nicht eben mit mittelalterlicher Unabhängigkeit gegenüber¬
stellt, zugegeben würde. Aber nein, es ist bloße Abenteuerlust, blos
ritterlicher Sinn, was unsere Paladine in's Feld ruft; denn es sind
sogar liberale Aristokraten unter ihnen. Wenn man diese Herren un¬
ter den Fahnen des Don Carlos erblickte, so mochten sie sagen und
sagten's auch: Wir sind auf dieser Seite, nicht um für Inquisition
und Despotismus zu kämpfen, sondern weil hier am meisten altspa¬
nische Romantik ist, weil hier ein ritterliches Gebirgsvolk für seine
nationalen Freiheiten streitet. — Wie kommt es aber, daß die jungen
preußischen Adeligen, die bis jetzt nach dem Kaukasus gingen, immer
nur auf der russischen Seite standen? Sind die Tscherkessen nicht
ritterlicher, als die russischen Rekruten- und Strafregimentcr? O meine
Herren, sein Sie überzeugt, Sie können unter den Helden des Kau¬
kasus viel romantischere und gefährlichere Abenteuer bestehen, als in
den Reihen der Kosaken. Der Begriff: ritterlich, muß in der moder¬
nen Epauletten-Zeit sich doch wesentlich verändert haben. Es ist al¬
lerdings möglich, daß religiöse Rücksichten diesen jungen Nachwuchs
des Ritterthums in die russischen Reihen führen; man ist da gewisser¬
maßen militärischer Missionär, moderner Kreuzfahrer und trägt mittel¬
bar zur Verbreitung des Christenthums bei. Das wird am Ende
auch den barocken baierischen Freiherrn bestimmt haben; es wäre nur
zu wünschen, daß er seine Pläne selbst ausführte und sich mit dem
ebenfalls ergrauten, wirklich freien Herrn Schamvl persönlich mes¬
sen könnte/ Das wäre Romantik.
— Die deutsche Einheit ist schon wieder auf eine bedauerliche
Weise gestört worden, und zwar, wie von jeher, nur durch die In¬
triguen des Reichs- und Erbfeindes, durch Frankreich. Wer könnte so
blind sein, um nicht einzusehen, daß der Mi til-ittor in keiner andern
Absicht geschrieben ist, als um einen Erisapfel zwischen die Vorfechter
deutscher Einheit zu werfen? Sieht man nicht an dem wüsten, plan¬
los hingeworfenen Unsinn der Anfangscapitcl, daß es Sue gar nicht
darum zu thun ist, einen Roman zu schreiben? Der jun vri-und mag
literarisch ausfallen, wie er will: seinen politischen Zweck hat er be¬
reits nur zu gut erreicht. Der tieser Blickende wird es keineswegs
für einen Zufall halten, daß Sue's Buch im Constitutionnel, in dem
alten Organ des eingefleischtesten Deutschfeindes, Thiers, abgedruckt
ist, und man wird sich das riesenhafte Honorar erklären können, wel¬
ches der Autor im Voraus erhielt; ein Honorar, welches bei uns
kaum ein — scher oder — scher Premierminister für den gelungensten
diplomatischen c«>>w, in auswärtigen oder inwendigen Verlegenheiten,
erhalten dürfte. Das Unheil besteht nicht blos darin, daß die Unzahl
der Uebersetzungen inneren Zwiespalt und Neid, Concurrenz, Bankerotte
und Pauperismus herbeiführen muß; nicht darin, daß eine Masse begabter
Köpfe, am Narrenseil des juif vrrimt festgehalten, von der Verfechtung
politischer Interessen abgezogen wird; eben so wenig in den französischen
Sympathien, die das Monstrebuch beim Leihbibliothekenpublicum anfa¬
chen kann: sondern vorzugsweise indem unseligen Hader, der mit einem
Male wieder zwischen den zwei deutschen Vettagsherren ausgebrochen ist;
zwischen Cotta und Vrockhaus. Die Häuser Cotta und Brockhaus,
die modernsten Repräsentanten des uralten Zwiespaltes, der seit den
Guelfen und Ghibellinen in mannigfachen Gestalten durch die
Geschichte des Reiches geht, hatten seit kaum zwei Jahren die alte
Fehde einschlafen lassen. Nichts schien die Uneinigkeit wieder wecken
zu können; weder die Ehescheidungs-, noch die Gustav-Adolphvereins-,
noch die Cattelfrage, selbst die Hoheitsfrage wurde beigelegt. Deutsch¬
land war ruhig, die Einheit schien eine Wahrheit zu werden. Welsen
und Gibellinen, Oesterreich und Preußen, Süd- und Norddeutschland,
hatten sich versöhnt. Da kommt derjml' en-und, und das Band,
woran Jahre lang gesponnen wurde, hat einen Riß. Wir müssen
bemerken, daß das Cabinet der Augsburgec Allgemeinen die Feind¬
seligkeiten eröffnete, indem es mit hämischen Zeigefinger auf den Mit
«-ri'und in der Deutschen Allgemeinen, einer von „dem deutschen Ge-
schichtschreiber Butan geleiteten"Zeitung hinwies. DasCabinet von Leipzig
gab mit vielleicht erzwungener Ruhe, aber in würdiger Haltung
seine Gegennote; den gewichtigsten Vcrtheidigungsgrund hat es
jedoch, aus diplomatisch-dynastischen Rücksichten, ausgelassen. —
Der jnik tirrimt steht im Feuilleton, nicht in der Zeitung, und man
kann den Chef der politischen Redaction eben so wenig für das Feuil¬
leton verantwortlich machen, wie den Premierminister für die Privctt-
speculationen des regierenden Fürsten. Dies hätte das Cabinet von
Augsburg bedenken sollen.
— Man erzählt, daß im Nassauischen Heere die Peitschen¬
strafe eingeführt werden soll. Es ist nur gut, daß zwischen den
Bundesstaaten ein unauflösliches Cartel besteht. Sonst dürsten die
an Nassau grenzenden Länder in eine eben so unangenehme Lage
kommen, wie jüngst Preußen an der russischen Grenze; denn in
Folge des harten Strafreglements würden wohl Tausende von Ueber¬
läufern, wo nicht gar das ganze Nassauische Heer, über die Grenze
strömen. Völlig unglaublich dünkt uns das Gerücht von der Peit-
chenrcform nicht, da es wohl möglich ist, daß durch das zarte Fa¬
milienband mit „einem großen nordischen Staat" ein wohlthätig an¬
regender Geist über Nassau gekommen wäre; nur sollte man in die- -1
sein Fall, der Consequenz wegen, statt Peitsche lieber Kantschu und !
Knute setzen. —
Jndem ich den herrschenden Geist unter den Gemeinen und Kor¬
poralen, welchen das Prügeln hervorzubringen pflegt, berührt habe,
will ich auch andeuten, welche Willkür bei der Bestrafung, vorzüglich
bei den Compagnien, bis Dato noch besteht.
Im Allgemeinen kann man gewiß annehmen, daß die höheren
Vorgesetzten humaner und die höchsten die humanster sind; während
die Bestrafungen in den Compagnien am meisten von Laune und
Willkür abhängen, indem der Compagniecommandant als erste
Instanz oft unumschränkt seinen falschen Ansichten folgen darf, oder
auch nicht selten persönliche Abneigung oder kleinliche Leiden¬
schaftlichkeit seine Sentenzen leiten; wo hingegen die höheren Vorge¬
setzten, die nicht unmittelbar mit den unteren Chargen verkehren, die
ihnen vorgelegten Thatbestände gewöhnlich ohne Leidenschaft prüfen
und darnach ihre Urtheile fällen. Wenn auch wirklich ein höherer
Vorgesetzter nicht von dem humanen Geiste beseelt sein sollte, der ihm
vom höchsten Orte zur Pflicht gemacht wird, so kommt derselbe nur
in den Fall, wirkliche Vergehungen verhältnismäßig äußerst strenge
zu bestrafen, sehr selten aber in den Fall. Unschuldige mit Strafen
zu belegen. Wenn daher ein solcher strenger hoher Vorgesetzter Dieb¬
stahl mit achtmaligen Gassenlaufen bestraft, in welchem Falle ein
anderer, milder gesinnter das fünfmalige Gassenlaufen als Mannum
eintreten ließe, so ist dieses doch bei weitem nicht so grausam, als wenn
ein Hauptmann einen Mann, der den Zapfenstreich verabsäumt oder
den Hut nicht nach Vorschrift aufgesetzt hat, mil fünfundzwanzig
Stockstreichen belegen laßt, den ein anderer human denkender entwe¬
der mit einigen Stunden Krummschließcn oder mit etlichen Tagen
Hausarrest bestraft halte. Die Tyrannei wird verhältinßmäßig in
den Artillerieregimentern von den Compagniecommandanten häufiger
ausgeübt, als in der Infanterie, weil sich die Hauptleute wegen der.
zerstreuten Dislocirungen mehr überlassen sind und ihr Thun nicht
immer von Stabsoffizieren überwacht werden kann. Freilich sollte
auch hier der Willkür durch die Anordnung, daß jeder Schuldige oder
Angeschuldigte beim öffentlichen Rapport in Gegenwart eines Offi¬
ziers und der Unteroffiziere über sein Vergehen vernommen werden
soll, ein Kappzaum angelegt sein. Allein diese weise Anordnung, wenn
sie auch wirklich befolgt wird, verhindert nur so viel, daß ein Haupt¬
mann, wenn derselbe ein Tyrann ist, nicht ohne Anlaß den ersten
Besten, der ihm unterkomme, zu seinem Vergnügen krumm schließen
oder mit Stockstreichen belegen lassen kann. Sein Pouvoir erstreckt sich
von gänzlicher Freisprechung von einer Strafe bis zu fünfundzwanzig
Stockstreichen. — Er bewegt sich daher immer gesetzmäßig in seinem
Pouvoir, wenn er auch das Marimum eintreten läßt. — Wenn da¬
her der beim Rapport anwesende Offizier mit der vom Hauptmann
abgemessenen Bestrafung unzufrieden oder eigentlich nicht einver¬
standen wäre, so steht es ihm wohl frei, dem Letzteren mit aller Ehr¬
erbietung eine Vorstellung zu machen, aber wenn der Hauptmann
auf seiner Sentenz beharrt, so wird selbe doch vollzogen. Dem Of¬
fizier steht dann allerdings frei, im Dienstwege die Anzeige davon zu
machen. Aber, Du lieber Gott, da gibt's eine Menge nisi! —
Nach dieser gar nicht erschöpfenden Auseinandersetzung wird sich
wohl Niemand wundern, daß die Gerechtigkeitspflege in der Com¬
pagnie nur von der Individualität abhängt und von unten keiner
tyrannischen Willkür begegnet werden kann. Und wenn auch die
Obern manche willkürliche Tyranneien erfahren, so folgen sie dem
Grundsatze: „Wo kein Kläger, ist auch kein Richter", und es bleibt
daher beim Alten. Zum Beweise des Gesagten folgen hier zwei
Fälle.
Ein Kanonier, der bereits im zehnten Jahre untadelhaft diente,
stand bei einem Holzmagazin auf Wache. Nachmittags um ein Uhr
kam ein Offizier mit einem Arbeitspersonal, um das in diesem Ma-
gazin vorhandene Holz zu schichten. Der auf der Wache stehende
Kanonier sah anfangs der Arbeit zu, aber da bei den geöffneten Thü¬
ren und bei der Anwesenheit so vieler Individuen für die Sicherheit
dieses Magazins Nichts zu befürchten war, so setzte sich derselbe in
einem Winkel im Magazin nieder und schlief sanft ein. Der Zufall
wollte, daß der Hauptmann dieses Kanoniers von eben der Seite in
dieses Magazin trat, wo derselbe fest schlief. Dem Hauptmann ge¬
lang es, ihm den gezogenen Säbel wegzunehmen, und dann weckte ihn
derselbe aus. Der Kanonier wurde alsogleich abgelöst und in Arrest
gesetzt. Der diesfällsige Kriegsartikel lautet: „Wer seinen Wachposten
treulos verläßt, auf demselben einschläft :c., soll in Kriegszeiten mit
dem Tode, in Friedenszeiten aber schärfstens bestraft werden." Als
die Kunde von der Arretirung dieses Kanoniers in der Compagnie
sich verbreitet hatte, wurden allerlei Urtheile über die Art seiner Be¬
strafung im Voraus gefällt, und dasjenige, daß derselbe an das Re-
gimcntscommando gemeldet würde, erhielt die größte Consistenz. Zur
größten Verwunderung Aller wurde dieser Kanonier vermöge Com¬
pagniebefehl wegen Nachlässigkeit auf den, Wachposten rücksichtlich
seiner sonstigen ausgezeichnet braven Aufführung zwölf Stunden in'S
letzte Glied versetzt, mit zweistündigem Intervall krumm geschlossen und
sodann seines Arrestes entlassen. Hätte der Haupfmcmn diesen Vorfall
dem Regimentscommando der Wahrheit gemäß gemeldet und diesen
Kanonier mittelst Species liicti übergeben, so würde derselbe unfehl¬
bar entweder vermöge kriegsrechtlichen Urtheils in die Gasse gekom-
men oder unmittelbar vom Obersten im Wege der Gnade mit fünf¬
zig Stockstreichen belegt worden sein. — Der Hauptmann war aber
ein edler Mensch und ein gefühlvoller Mann, der seine Macht er¬
kannte, aber nicht mißbrauchte.
Ein Kanonier, der im vierten Jahre diente und durchaus gute
Conduite und vortheilhafte Bildung hatte, stand in einer gesperrten
Kaserne auf dem Nachtpoften, damit nicht während der Nacht die
Gänge verunreinigt und anderer Unfug getrieben werden könnte. Sein
Hauptmann kommt nach Mitternacht nach Hause und trifft diesen
Kanonier, statt auf- und abgehend, auf der Gangmauer sitzend an.
Er fragt ihn, warum er sitze? Der Kanonier antwortet, sein Fuß
schmerze ihm auf einmal so sehr, daß er durchaus nicht stehen
könne. Der Kanonier wird ebenfalls abgelöst und in Arrest gebracht.
Vor dem Frührapport wurde derselbe zum Arzte geführt, welcher ihn
untersucht und in das diesfällige Marodbuch „8laut-me" einschreibt.
Der Kanonier erscheint beim Rapport und wiederholt neuerdings die
Ursache, warum er nicht stehen konnte, sondern sitzen mußte, und fügt
noch bei, daß er wegen einer halben Stunde, die er noch auf dem
Gang- oder Nachtposten zuzubringen hatte, nicht den Korporal wel-
ken und sich ablösen lassen wollte, bemerkt auch zugleich, daß wohl
zwischen einem Posten bei einem Magazin, bei Kanonen :c. und
zwischen einem Nachtpostcn, wo nicht einmal der Säbel gezogen werde,
ein großer Unterschied wäre. Der im ersten Falle citirte Kriegsarti¬
kel wurde dem Kanonier vorgelesen und dann derselbe befragt, was
er unter „strengstens bestraft" verstehe? Unter „strengstens bestraft"
war die Antwort, verstehe ich Stockprügel und Gassenlaufen. Nun
also iffs recht, versetzte der Hauptmann, — da Er auf dem Posten
gesessen, statt gestanden ist, — da der Arzt Seine vorgeblichen Fu߬
schmerzen als Verstellung anerkennt, und Er überhaupt noch die Keck¬
heit hat, den Nachtposten für einen minder wichtigen Posten als an¬
dere auszulegen, so werde ich Ihm heute, da Er noch keine Strafe
hat, fünfundzwanzig Stockstreiche geben lassen. Hiermit war der
Rapport beendigt und der anwesende Offizier erkielt den Auftrag,
den diesfälligen Befehl aufzusetzen und dem Hauptmann zur Unter¬
schrift vorzulegen. Es war an einem Geldtage, wo die Mannschaft
in Gegenwart deö Offiziers und der Unteroffiziere ihren Sold er¬
hält. Als die Mannschaft abgegangen war, fragte der Offizier, der
erst zur Compagnie kam, was der arretirte Kanonier für ein Mann
sei, und sowohl der Feldwebel als alle Unteroffiziere konnten ihn
nicht genug loben. Sie erzählten, daß derselbe mit dem Fuße mehr
als ein halbes Jahr im Spital zugebracht habe und auch im Bade
gewesen, daß dieser Fuß sichtbar um etwas kürzer als der andere sei und
derselbe ohne Weiteres seinen Abschied schon erhalten hätte, wenn er
nicht die Hoffnung zur Wiederherstellung hegte und den Militärdienst
nicht ungerne verlassen möchte. Es scheint, sagte der Feldwebel, daß
der Arzt auf diesen Menschen einen Groll habe; denn, setzte derselbe
hinzu, so viel ich weiß, hat er von ihm Geld unter dem Vorwande,
ihm die Entlassung vom Militär zu verschaffen, erpressen wollen, wel¬
ches aber der Kanonier, als seinem Wunsche entgegen, zurückwies,
und daher ist das heutige „Simulant" wohl erklärbar. — Der
Offizier begab sich mit diesen Nachrichten zum Hauptmann und stellte
ihm vor, daß es ungerecht wäre, diesen Kanonier wegen des au¬
genscheinlich unverschuldeten und obendrein geringfügigen Vergehens
mit einer körperlichen Strafe zu belegen, um so mehr, da nach dem
allerhöchsten Befehle so viel als möglich diese verhaßte und entehrende
Strafe zu vermeiden wäre. Thun Sie Ihre Schuldigkeit, sagte der
Hauptmann, ich weiß, was ich thue und werde es verantworten; ob
ich recht oder unrecht handle, das kümmert Sie Nichts, — ich bin
der Commandant. Nach einem nochmaligen Versuche, den Haupt¬
mann zu menschlicherer Gesinnungen zu stimmen, erfolgte die Ver¬
sicherung, daß der fragliche Kanonier fünfundzwanzig Prügel haben
müsse, so wahr er Hauptmann wäre. Nun stieg dem Offizier die
Galle auf, und er erwiederte ihm: Und er soll sie nicht bekommen,
wenn ich auch cassirt werden sollte. Ich lasse nunmehr den Offizier
selbst diesen Vorfall erzählen, wie ich ihn aus seinem eigenen Munde
hörte. — Ich ging, erzählte er, zu einem Kameraden, um mir Rath
bei ihm zu holen. Er rieth mir, zum Major zu gehen. Ich that
es. Der Major überhäufte mich mit Vorwürfen, weil ich zu weit
gegangen sei, und fertigte mich mit den Worten ab, daß er sich in
Compagniegeschichten nicht mische und der Hauptmann ohnehin wisse,
was er zu thun habe. Uebrigens, sagte er, ist es gegen allen Dienst,
gegen alle Disciplin, den Hauptmann in seinen Gerechtsamen hem¬
men zu wollen und höhere Vorgesetzte außer der vorgeschriebenen Zeit
und außer der Ordnung zu behelligen. Der Commandant war ab¬
gereist und kehrte vor Abend nicht zurück. Ich weiß nicht, warum,
aber ich setzte es mir einmal in den Kopf, den Kanonier zu retten.
Was war zu thun? — Ich wollte nur eben bei einem anderen Ka¬
meraden einen guten Rath einholen, als mir der Stabsarzt dieser
Garnison begegnete, dessen Freundschaft zu besitzen ich mich rühmen konnte.
Ich erzählte ihm in Kürze, in welchem Jmbroglio ich mich befände, und
er war so gütig, mir zu erlauben, ihm diesen Mann in derselben
Stunde vorzustellen. Ich eilte, den Kanonier aus dem Arreste zu
holen, und führte ihn zu diesem Stabsarzte. Kaum sah der Letztere
den Kanonier, so erinnerte er sich auch augenblicklich, ihn in der
Behandlung durch längere Zeit gehabt zu haben, und stellte also
gleich ein Zeugniß aus, daß derselbe wirklich mit einem Uebel be¬
haftet und kein SimulaM sei, und ich führte den Kanonier selbst
wieder in seinen Arrest zurück, — das Zeugniß, wie es sich von
selbst versteht, blieb in meinen Hänven. Ich suchte damit den Haupt¬
mann auf, — aber er war auf die Jagd gegangen. Ich verlangte
den Major zu sprechen, man wies mich ab. Ich berathschlagte mich
mit Mehreren, allein die Meisten stimmten darin überein, „der Ge¬
horsam sei die erste Pflicht''. — Aber mein Gott! dachte ich, wenn
ich das Todesurtheil in der Tasche hätte, und ich konnte einem Men¬
schen mit einer Pflichtverletzung das Leben retten, warum sollte ich
es nicht thun? — An mir liegt es, ob ich diesem Mann fünfund-
zwanzig Stockstreiche aufladen lassen soll, oder nicht, und er ist un¬
schuldig. Erequire ich den Befehl nicht, so werde ich gestraft,
vollziehe ich ihn, so habe ich vielleicht einen Menschen auf Zeitlebens
unglücklich gemacht; denn ich fühlte es zu tief, daß, wenn mich je¬
mals das Unglück getroffen Halle, mit einer entehrenden Strafe be¬
legt zu werden, ich diese Schande nicht überlebt hätte. Und es be¬
traf einen gebildeten, guten, braven Menschen, der vielleicht von den¬
selben Gefühlen bestürmt wurde, wie ich. — Ich schwankte zwischen
Pflicht und Menschlichkeit, ich hatte die Wahl zwischen meinem eige¬
nen Untergang und der Rettung eines fremden, vielleicht undankba¬
ren Menschen! Mit einer Unentschlossenheit und unrer tausend Käm¬
pfen betrat ich zur bestimmten Stunde die Kaserne. Die Compagnie
war bereits gestellt, der Arrestant stand vor der Fronte, die fluchwür¬
dige Bank seitwärts in Bereitschaft. Der Befehl ward vorgelesen,
der Kanonier zitterte wie Espenlaub, die Todesfarbe überzog sein
blühendes Jugendantlitz, — mir rann der Schweiß unter dem ge¬
waltigen Seelenkampf von der Stirne tropfenweis. — Die Bank
wird herbeigeschleppt, —- ich befahl „Niederlegen". Ein tiefer Seuf¬
zer, der sich dem Unglücklichen aus seiner Brust emporarbeitete, ein
trostloser Blick, der auf mich siel, hat meine Unentschlossenheit gebro¬
chen. Bestimmen Sie einen Korporal, sagte ich zum Feldwebel. Und
als jener die gehörige Positur eingenommen, und der Feldwebel mir
mittelst Salutation zu verstehen gab, daß Alles in Bereitschaft sei, sagte
ich „Anfangen". — Nun wird der Stock mit aller Kraft aufgehoben
und geschwungen, aber mein donnerndes „Halt" verhindert dessen
schmerzhaften Fall. Stehe Er auf, sagte ich zum Kanonier, und Sie,
sagte ich zum Feldwebel, melden dem Herrn Hauptmann, daß die
Erecution vollzogen worden ist. Der Kanonier war frei und ich ging
mit einem Gefühl, dessen Natur ich nicht kannte, oder noch besser ge¬
sagt, ohne alles Gefühl aus der Kaserne hinaus. — Ich war mit
mir uneins, ob ich recht oder unrecht gehandelt, — meine Hand¬
lung war nicht das Resultat meiner Ueberlegung, sie war die Frucht
der momentanen Ueberraschung, mein Gefühl übermannte meine Ver¬
nunft. — Mein erster Gang war zu einem Freunde, um sein Urtheil
über das so eben Vorgefallene zu hören; aber ich fand keinen Trost.
— Die Geschichte wurde in der ganzen Garnison binnen wenigen
Stunden ruchbar, und ich fand unter allen meinen Bekannten nur
einen einzigen Hauptmann, der mir einen guten Ausgang prophe¬
zeite und meinen Muth mit dem Beisatze aufrichtete, indem er
mir sagte: Und wenn es wider besseres Hoffen mit Ihnen nicht gut
ausfallen sollte, so entschädigt Sie vollkommen das Bewußtsein, daß
Sie einen solchen Entschluß fassen und ihn ausführen konnten! —
Bei meiner Nachhausekunft fand ich ein Aviso, daß ich den folgen¬
den Tag beim Stabsrapport zu erscheinen habe, welches vorauszu¬
sehen war. In der Frühe überbrachte mir der Korporal den Früh¬
rapport, in welchem der gestrige Vorfall mit folgenden Worten ge¬
meldet war: Kanonier N. sollte vermöge löblichen Compagniebefehls
wegen Nachlässigkeit im Dienste mit fünfundzwanzig Stockstreichen
bestraft werden, es wurde jedoch nur der Befehl vorgelesen, und die
Strafe auf Befehl des Herrn Jnspcctionsoffiziers nicht vollzogen. —
Diesen Rapport mußte ich unterschreiben. Als ich beim Compagnie¬
rapport erschien, wurde von Seite des Hauptmanns der Vorfall
gar nicht erwähnt, sondern blos als der Kanonier seinen Dank we¬
gen der gnädigen Strafe ausdrücken wollte, befahl er demselben spöt¬
tisch, sich bei mir zu bedanken, welches derselbe auch that und ich
annahm. — Nach dem Rapport ging ich und der Hauptmann zum
Major, welcher mir mein unüberlegtes Handeln vorstellte und mich
schon im Voraus wegen des Verlustes meiner Charge bedauerte. Von
da ging es zum Commandanten. — Der Commandant fand durch¬
aus keinen Ausdruck, um mein Vergehen zu bezeichnen. Ich diene
bereits sechsundvierzig Jahre, sagte er, und ein solcher Fall
ist mir noch nicht vorgekommen. Zwei solche Offiziere in der Armee,
wie Sie sind, würden alle Disciplin über den Haufen werfen, da¬
her müssen Sie sich es selbst zuschreiben, wenn Sie ein Erempel statui-
ren müssen. Sie geben Ihren Degen ab, den Sie nicht mehr tra¬
gen werden, und jetzt gehen Sie zum Garnisonsprofoß!"
Beiläufig zwei Stunden mochte ich bet demselben gewesen sein,
als ich zum Garnisonsauditor gerufen wurde, welcher vorläufig von
mir die näheren Umstände meines Vergehens erfahren wollte. Wir
waren jederzeit gute Freunde. Als ich ihm alle Details erklärte und
das Zeugniß des Stabsarztes producirte, rief er: Victoria! Nichts
geschieht Ihnen, und Sie sind heute noch auf freiem Fuße. Höher
als Gehorsam steht die Pflicht, eine Strafe von einem Unschuldigen
abzuwenden; aber gesetzt den umgekehrten Fall, so haben Sie ja
Alles früher gethan, um nicht ungehorsam werden zu müssen; folg¬
lich ist es ja die Schuld Derjenigen, die Sie hierzu gezwungen ha¬
ben, und überdies ist das Vergehen des Kanoniers keinesweges
von solcher Art, daß eine körperliche Strafe hätte eintreten sollen
und dürfen.
Mein Degen wurde mir den folgenden Tag auf höhern Be¬
fehl mit der Weisung zurückgegeben, daß ich mich als meines Arrestes
entlassen bei meinen Vorgesetzten melden solle. Mein Commandant
schien schon von meiner gewonnenen Freiheit in Kenntniß zu sein,
sagte mir jedoch, daß ich, um nicht in weitere Kollisionen mit dem
Hauptmann zu gerathen, bis auf weitere Befehle keine Dienste zu ver¬
richten habe. Nach zehn Tagen kam von der General-Artillerie-
Direction ein Befehl, und ich wurde in eine entfernte Provinz ver¬
setzt. Was der höchsten Stelle über mich berichtet wurde, ist mir
unbekannt geblieben, nur so viel weiß ich, daß dieser Vorfall mich
in großen Nachtheil bei der öffentlichen Meinung und bei allen
Vorgesetzten brachte.
Noch eine Begebenheit muß ich zum Belege des Vorigen er¬
wähnen, die in der ganzen Armee großes Aufsehen erregte. Um
deren Authenticität herzustellen, werde ich auch die.Hauptpersonen,
die mir bekannt sind, ohne Scheu nennen.
In den dreißiger Jahren marschirten mehrere Compagnien von
Pesth nach Dalmatien, unter welchen sich auch jene des Capitän-
Lieutencmts Georg Edler von Neuwaller befand. Neuwaller war
ein unmoralischer Mensch und zugleich im strengsten Sinne des Wor¬
tes ein Tyrann. Seine Lieblingsstrafe war Stockprügel, und wie
schon erwähnt worden, kann ein Hauptmann nie wegen Mißbrauchs
der Amtsgewalt zur Rechenschaft gezogen werden, wenn derselbe sein
Pouvoir, nämlich die ihm eingeräumte höchste Strafe von fünfund¬
zwanzig Stockstreichen, nicht überschreitet. Neuwaller bewegte sich
ganz natürlich in dem Geleise seines Pouvoirs; allein ihm galt ein
jedes Vergehen gleich. Tabakrauchen, lange Haare, schmutzige Ad-
jüstirung, Diebstahl, Betrug, Insubordination und alle diese Ver¬
gehungen wurden in seiner üblen Laune nach Einem Maßstabe,
nämlich mit fünfundzwanzig Stockstreichcn bestraft. Hauptsächlich
aber waren sein Fourierschütz und der auf Cassa-Inspection comman-
dirte Kanonier seinen Brutalitäten am meisten ausgesetzt. Der
Hauptmann pflegte spät und gewöhnlich berauscht nach Hause zu
kommen. Da das Thor der Kaserne, in welcher derselbe lo-
girte, gesperrt war, so mußte ihm jederzeit entweder sein Fourierschütz
oder der auf Cassa-Inspection stehende Kanonier das Thor öffnen.
Hatte es sich einmal ereignet, daß Neuwaller längere Zeit draußen
warten mußte, so konnte auch der schuldtragende gewiß einer sichern
Strafe gewärtig sein, und derjenige, den das traurige Loos traf,
auf beständige Cassa-Inspection commentirt zu werden, wußte schon
im Voraus, daß er von diesem Höllendienste nicht früher befreit
werde, als bis er den unschuldigsten Theil des Körpers, der
so oft die Vergehungen des Kopfes entgelten muß, zum Opfer ge¬
bracht hatte. — Zur besseren Verständlichkeit muß ich erwähnen,
worin der Dienst einer Cassa-Inspection bestand. — Bei allen
Compagnien hat der Hauptmann die Verpflegs- und sonstigen Gel¬
der in seinem Quartiere aufzubewahren Damit in seiner und seines
Dieners Abwesenheit kein Einbruch in sein Quartier geschehen könne,
oder um auch allenfallsigen Vorwänden vorzubeugen, daß diese Casse
von Jemandem beraubt worden sei, ist es eingeführt, daß jeder
Compagnie-Commandant eine Cassa-Inspection hält, die hauptsäch¬
lich in Abwesenheit des Hauptmanns oder seiner Familie das Quar¬
tier hüten muß.
Viele Hauptleute lassen diese Inspektionen bei sich übernachten,
und viele, besonders die verheiratheten, wählen sich einen verläßlichen
Mann, der auf beständige Cassa-Inspektion bei ihnen angestellt ist
und daher keine andern Dienste verrichtet. Dieser beständigen Cassa-
Jnspectionen bedienen sich besonders jene Hauptleute, die mit zahl¬
reichen Familien belastet sind, als eines Dienstboten, der ihnen
Nichts kostet. Neuwaller war ledig, aber sein Diener, der ein wahrer
Märtyrer war, hatte natürlich wenig Anhänglichkeit an seinen Herrn,
und er traute ihm daher auch nicht; deswegen mußte auch jederzeit
derjenige Kanonier, der bei ihm auf beständige Cassa-Inspektion
commandirt war, in seinem Quartier übernachten. Nachdem durch
die Abstrafung eines Kanoniers, der bisher diesen Dienst als bestän¬
dige Cassa-Inspection verwaltete, dieser Posten in Erledigung kam,
fiel die Wahl des Hauptmanns auf einen Mann in der Compagnie,
der bereits dreizehn Jahre diente und selbst unter dem Commando
Neuwaller's jeder Strafe entgangen war. Dieser Kanonier, dessen
Namen ich wahrlich vergessen habe, und den ich der Kürze wegen
Klein nennen will, trat seinen Dienst mit größtem Widerwillen,
und wie der damalige Compagnie-Oberlieutenant Preishl selbst er¬
zählte, nur darum an, weil er keine Ursache seiner Weigerung an¬
geben konnte. Er äußerte sich sogleich nach dem Befehlausgeben ge¬
gen seine Kameraden, daß diese Anstellung für ihn unheilbringend
sein werde. Eine kurze Zeit gelang es ihm, allen unbilligen An¬
forderungen Neuwaller's zu genügen; allein durch die Länge der Zeit
wurde der Hauptmann durch die außerordentliche Aufmerksamkeit
Klein's verwöhnt und fing an, denselben auf alle mögliche Weise zu
fetiren. Besonders konnte Klein, wenn ihn die Jour traf, nie genug
zeitig bei der nächtlichen Nachhausekunft des Hauptmanns erschei¬
nen. Ncuwaller, gewöhnlich wie eine Kanone besoffen, artete bei
dem geringsten Verzug auf die roheste Art in Schimpfwörtern und
Drohungen aus, welche letztern er jedoch niemals in Vollzug
setzte; denn wie es gewöhnlich bei Säufern der Fall ist, wissen sie
nach Verlauf einiger Stunden ruhigen Schlafes von dem in ihrem
Rausche Vorgefallenen Nichts, und überdies war Klein den folgen¬
den Tag nach einem solchen Brutalitätösturm eben so altert und
dienstbeflissen, wie vorher. Eines Tages jedoch, als der Haupt-
manu bei seiner Nachhausekunft wieder wie ein Vieh gegen ihn
wüthete, sagte derselbe zu seinem Schlafkameraden, nämlich zum
Fourierschützen, er könne es nicht mehr aushalten, und er wisse nicht,
was er anstellen solle, um von dieser Anstellung mit Ehren los
zu kommen? „Mit Ehren? — sagte der Fourierschütz, — mit Prü¬
geln können Sie wohl davon kommen, oder Sie schlagen den Haupt¬
mann todt."
Nicht lange nach diesem Colloquium fand man den Hauptmann
auf der Stiege, welche zu seinem Quartier führte, erschlagen, uno
eine Holzart neben ihm. Der Kanonier und der Fourierschütze lagen
im tiefen Schlafe, als diese Mordthat entdeckt wurde. Sie wurden
beide in Haft genommen, aber der Kanonier, dessen Unschuld Nie¬
mand bezweifelte, ja sogar von seinen Offiziers verbürgt wurde,
ward nach kurzer Zeit aus Mangel an Beweisen lib inktmitiit ab-
solvirt, diente wie früher mit seiner gewöhnlichen Accuratesse sort
und erwartete seinen Abschied. Der Fourierschütz, der durch die no¬
torische Mißhandlung, die er von seinem seligen Herrn zu erdulden
gehabt, viele Motive zur Rache hatte, und durch den Rath, den er
dem Kanonier ertheilte, nämlich den Hauptmann todtzuschlagen,
aufs Höchste prägravirt war, wurde im Arrest fortbehalten. Nach
einem Jahre beiläufig langte der Abschied für den Kanonier Klein
vom Regiments-Commando bei der Compagnie an. Klein wurde
zum Rapport bestellt. Der Nachfolger des erschlagenen Hauptmanns
setzte Klein hiervon in Kenntniß, wollte ihn aber überreden, noch
ferner zu dienen und sich gegen Beförderung zu reengagiren. Zu
höchster Verwunderung aller beim Rapport Anwesenden kniet
Klein nieder und sagt: „Ich habe den seligen Herrn Hauptmann
erschlagen und sehe beständig sein Gesicht vor meinen Augen. Ich
will sterben!" Alle wünschten, es wäre ein Anfall von Wahnsinn
gewesen; allein die Unschuld des noch immer im Arrest schmachten¬
den Fourierschützen und das folternde Gewissen hießen Klein eine That
gestehen, welche jeder redliche Mann aus Sittlichkeitsgefühl nicht billi¬
gen konnte, aber nur wegen des Thäters, nicht wegen des Erschla¬
genen, ungeschehen wünschte. Das Resultat dieser Katastrophe
war, daß man bei dem gewaltsamen Tode Neuwällers sagte: „Gott
sei Lob und Dank, daß dieses Vieh todt ist," und daß man bei dem
Tode seines Mörders, der seine Seele am Galgen in Zara aus¬
hauchte, allgemein rief: „Gott sei seiner Seele gnädig! — er war
ein braver Kerl!" Im Uebrigen blieb es beim Alten, die Disciplin
wird von den Hauptleuten wie vorher nach Willkür, gut und schlecht,
mild und barbarisch gehandhabt, und die Fourierschützen und Privat¬
diener bleiben i in strengsten Sinne des Wortes Sklaven —
wie früher.
„Ohne Nationalität keine Freiheit. Nationalität ist die Grund¬
bedingung alles Völkerlebens, ist die Form seines Daseins. Die
Freiheit ist seine Erfüllung" — in diesem Allsspruche Karl Grün's
möchten wir das Stichwort der politischen Bewegungen der jüngsten
Vergangenheit erblicken. Sich zur rechten Auffassung nationaler In¬
teressen durchzuringen, in ihnen die concrete Form zu finden für das
Abstractum — Freiheit, dies war die Aufgabe unserer vorjährigen
Journalistik, dadurch aber, daß die deutsche periodische Presse diese
Aufgabe wirklich gelöst, manifestirte sie aufs Neue und glänzender
alö je, daß der Odem des Lebens, welcher erst seit wenig Jahren
ihr inwohnt, immer gewaltiger ihren ganzen Organismus zu durch,
geistern beginnt. Die Regeneration, die das abgelaufene Jahr brachte,
kam nicht plötzlich, nicht gewaltsam zu Tage; seit I84le war jene
innere Umgestaltung vorbereitet, und obgleich im Streite über das
„National oder liberal?" der Sieg sich unterdessen zeitweilig auf die
Seite des kosmopolitischen Liberalismus geneigt hatte, diente dies doch
blos, uns bei dem trockenen Brod vager Theorien und bei dem
zur höchsten Abspannung berauschenden Trank abstracter Freiheits¬
begeisterung so recht den Hunger und Durst fühlen zu lassen nach
etwas Festem, concret Wirklichem. Wie sich nun jener jugendliche
Enthusiasmus im Laufe des verwichenen Jahres abgeklärt, geläutert
hat, sich angerankt an unsere nächsten und höchsten Interessen, das
geistige und materielle Wohl der Nation — dies nachzuweisen und
zwar speciell an dem Entwicklungsgange unserer Journalistik, ist die
Aufgabe des vorliegenden Aufsatzes.
Am 24. December 1842 hatte man in Preußen den Jahres¬
tag der freieren Presse gefeiert, preußische und sächsische Blätter durf¬
ten inländische Interessen mit einer Freimüthigkeit besprechen, tadeln,
persiffliren, wie man sich's ein paar Jahre früher in unserm lieben,
schleppfüßigen Vaterlande kaum hätte träumen lassen; Herwegh war,
gleich einem neuen Messias, durch die Hosianna rufenden, Palmen
streuenden deutschen Gauen gen Berlin gezogen; man sprach hin
und wieder schon von einer jährlich zu begehenden Herweghöfeier,
der Club der Freien an der Spree fristete sein Bestehen zum Aer-
ger aller ruhigen Leute, kurz, die Sonne des neuen Jahres schien
heiterer als je aufgehen zu wollen über den Häuptern der Liberalen,
— da brach statt dessen plötzlich die vernichtende Katastrophe herein.
Herwegh's Audienz beim Könige bildete den Wendepunkt; der feurige
Poet hatte vergessen, daß mit großen Herren nicht gut Kirschen
essen ist, und der königliche Wunsch eines Tages von Damaskus ist
für ihn schier zu spät gekommen. Wir wollen kein weiteres Wort
verlieren über diese zum Ueberdrusse durchgesprochenen Begebenheiten;
für unsern Zweck genügt, daß sich von jenem Tage an die Grundsätze
des preußischen Guberniums als völlig ungeänderte kundgaben. —
Unmittelbar an Herwegh's Ausweisung knüpfte sich sür's Erste das
Debit-Verbot der Leipziger Allgemeinen Zeitung, als eines,
„durchaus Preußen feindselig gesinnten" Blattes, dem sich nur ein paar
Tage später die Concesstonscntziehung der Deutschen Jahrbücher
anreihete. Rüge hatte eben erst öffentlich erklärt: „Es komme nunmehr
darauf an, das Nolksbewußtsein aus den Illusionen, worauf unser
jetziges politisches und religiöses Leben ruhe, emporzuheben, die Mas¬
sen in Bewegung zu setzen, die Kirche in die Schule zu verwandeln
und eine wirkliche, allen Pöbel absorbirende Volkserziehung daraus zu
organistren, das Militärwesen damit zu verschmelzen, das also ge¬
bildete und organisirte Volk sich selbst regieren und Justiz handhaben
zu lassen " Der Artikel schloß sodann damit, die Auflösung des
Liberalismus in Demokratismus zu proclamiren. Durch dieses
kurze Resum«- hatte es Rüge den Behörden schließlich noch recht
leicht gemacht, das Verbot der Jahrbücher dadurch zu rechtfertigen,
„daß sich dieselben nach allen Richtungen ein Verneinen ohne Maß
und Ziel zur Aufgabe gestellt hätten, so wie ein Unterwühlen aller
Fundamente des christlichen Staates." — Nun war einmal das
Verfahren gegen die verhaßte Bewegungspartei eingeleitet, und die
Sache nahm rasch und entschieden ihren weiteren Gang. Am 14. Ja¬
nuar wurde der Dichter der unpolitischen Lieder seiner Professur
entsetzt, weil — wie er selber sich ausdrückt — das preußische
Landrecht nicht sein Gradus ad Parnassum gewesen. Der entschei¬
dende Schlag aber sollte erst geführt werden durch die Unterdrückung
der Rheinischen Zeitung. — Das Blatt hatte in der letzten
Zeit des Bestehens gar manchen seiner früheren Freunde verloren,
der Katholicismus der Rheinprovinz fühlte sich tief verletzt durch die
vielen offenen Angriffe auf das positive Christenthum, und besonders
hatten mehrere Artikel über die bairische Kniebeugung große Indigna¬
tion unter den Mittelklassen erregt, so daß selbst die letzte General¬
versammlung der Actionäre, freilich etwas zu spät, die lauteste Un¬
zufriedenheit aussprach über die ungemessenen Formen der bisherigen
Redaction und den oppositionellen Standpunkt zwar festgehalten
wünschte, aber in etwas rücksichtsvollerer Weise. Ja, die Rhein¬
länder sind geborene Liberale, aber keine Radicale, obgleich die Ko¬
blenzer noch in demselben Jahre ihre Rhein- und Moselzeitung we¬
gen allzu conservativer Tendenzen — aus dem Casino ballotirten! —
Vergeblich hatte sich einer der Redacteure des Blattes in Person nach
Berlin begeben, und die rheinischen Anwälte:c., welche eine Petition
zu Gunsten der Anathematisirten unterzeichneten, erhielten, nach altem
Brauch, blos einen tüchtigen Rüssel. Wir möchten es übrigens eben
für kein Zeichen politischen Scharfblickes halten, daß es unsere Staats¬
männer für nöthig erachteten, jenen excentrischen Liberalismus mit
Gewalt auszurotten, was doch nur zu feindseliger Erbitterung reizte,
während die gefährlich erfundene Richtung sich bereits zu überleben
begonnen und einen großen Theil ihrer wärmsten Anhänger ver¬
loren hatte. Aber die Ministerien waren diesmal, ohne es zu wissen,
ein Werkzeug in der Hand Gottes, und so haben sie den Liberalis¬
mus — ausgerottet? — nein! sie haben ihn gekräftigt, geläutert, sie
haben wesentlich dazu beigetragen, das frühere, in der Luft schwebende
Gebäude niederzureißen, so daß wir nachgehends die Fundamente
eines neuen Hauses aus festen Grund zu legen vermochten. Die
Rheinische Zeitung hat in einem le-MvF articlo „am letzten Tage"
ein merkwürdiges, sybillinisch mysteriöses Prophetenwort gesprochen,
aber die Zukunft hat dasselbe, wie uns bedünkt, jetzt schon Lügen
gestraft. Die Redaction gesteht nämlich ihre Selbsttäuschung, bekennt,
daß sie auf eine haltlose Basis gebaut habe und so zu den Todten
gehen müsse, während der Lebende, wie immer, Recht behalte.
„Ja," ruft sie aus, „ihr Lebenden in Augsburg, Berlin und Köln
habt Recht, ihr rechnetet klug; noch habt ihr Recht, aber bald
wi-rd der Tag eures Unrechts kommen!" —
. Die Richtung hatte sich überlebt, darum vermochte sie den An¬
griffen von Außen keinen genügenden Widerstand entgegenzusetzen,
aber man zweifle deswegen nicht, daß sie bei dem sogenannten gro¬
ßen Publicum noch zahlreiche Anhänger besessen: — 12,000 Abon¬
nenten hatte die leichtfertige, ungründliche „Locomotive" mit lauter
liberalen Witzen und Späßen sich gewonnen binnen dreiviertel Jahr
inmitten dieser kritischen Zeit. Die Mannheimer Abendzeitung, welche
es unter K. Grün's trefflicher Leitung nicht über 1200 Abonnenten
gebracht, hat nun, da sie die Hälfte ihres Raumes mit Studenten¬
gezänk und vagen Raisonnement des abstracten Liberalismus anfüllt,
ein beneidenswert!) corpulentes Abonnenten-Register auszuweisen:c. —
Wenden wir nun unsere Blicke denjenigen Erscheinungen zu,
welche die neue Entwicklungsphase unserer periodischen Presse im
vergangenen Jahre am entschiedensten bekunden.
Schon Rüge, so sehr er durch und durch Philosoph (?) war,
hatte eine Ahnung verspürt von dem, was der Zeit Noth thue, und
eröffnete demnach den Jahrgang 1843 seiner Deutschen Jahr¬
bücher mit einer „Selbstkritik des Liberalismus", worin er bekennt,
,,daß alles Philosophiren und alle Systeme ohne praktische Anwen¬
dung gar keinen Werth hätten, mithin auch eigentlich keine wahre
Philosophie seien." Man kam damals zu der Ueberzeugung, daß es
mit dem Discutiren in Versen und Prosa über Freiheit, Nationali¬
tät, Einheitsdom noch nicht gethan sei; daß man vielmehr auf das
Vorhandene in scharfer Bestimmtheit eingehen müsse, damit die
materielle Basis des Volkes erst stark werde; daß sich nachgehend?
auf ihr auch die geistige Freiheit in recht vollem Maße verwirklichen
könne. Solche Ansichten Hütte man ein Jahr früher mit Entschieden¬
heit nicht aussprechen dürfen, ohne für einen ErzPhilister verschrien
zu werden, wie es ja z. B. die Oberdeutsche Zeitung oft ge¬
nug hat erfahren müssen, daß man sie mit dem Spitznamen des
„Runkelrübenblattes" ,c. aufzog. Jetzt aber hörte man laut und
zum allgemeinen Beifall verkündigen, daß wir trotz all unserer Phi¬
losophie des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts von den
Engländern und Franzosen geplündert und an den Rand eines Na-
tionalbankerottcs gebracht worden seien, während im Gegentheile der
deutsche Zoll- und Handclsvercin, nicht von Philosophen erfunden
und verwirklicht, das finanzielle Gleichgewicht unter den Nationen
einigermaßen wieder hergestellt habe und mehr als alle literarischen
Discussionen beigetragen zur Erhebung des Gemeingeistes und Na-
tionalgefühles.
Indem sich diese neue Anschauungsweise Bahn gebrochen, waren
auch von Seiten der Tagespresse neue Bedürfnisse zu befriedigen,
neue Organe mußten sich für dieselbe bilden an der Stelle der ge¬
fallenen Vertreter der früheren Richtung. Drei Zeitschriften aber sind
es, welche, damals neu auftretend, uns als besonders maßgebend er¬
scheinen für den Umschwung unserer Journalliteratur: List's Zoll-
vereinöblatt, Giehne'S deutsche Wochenzeitung undBie-
dermann's deutsche Monatsschrift (seit 1843 in neuer Ge¬
stalt.)
Friedrich List, „der O'Connell der deutschen Industrie", suchte in
seinem Blatte mit eindringlicher Beredsamkeit die materiellen Inter¬
essen der Nation zu verfechten, er sprach von vornherein aus, seine
Obliegenheit finde er dann, „ein Hochwächter der Industrie und des
Ackerbaues, des Handels und der Schifffahrt der Deutschen zu sein,
aber auch überhaupt Referent und Sammler aller in die vorgenann¬
ten Zweige und in die National-, Staats- und Finanzwissenschaft
überhaupt einschlagenden Thatsachen und statistischen Notizen. Unser
Ehrgeiz," fährt er sodann fort, „strebt dahin, Deutschland ein Jour¬
nal zu liefern, wie es bis jetzt noch keines besessen, wie es keine an¬
dere Nation besitzt, ein Centralblatt sämmtlicher materiellen Interessen
des Finanzwesens und der Staatswirthschaft." — Trefflich geschrie¬
bene Abhandlungen über das nationale Schutzsystem, den Anschluß
Hannovers, die deutsche Flotte, die Auswanderung, ein deutsches Ei¬
senbahnnetz :c., so wie die gediegene, zeitgemäße Tendenz der Zeit¬
schrift überhaupt gewannen ihr in Kurzem so zahlreiche Freunde, daß
sie bereits im Juni ihren Nahmen erweitern konnte und eine zweite
Auflage des ersten Semesters veranstalten mußte bei immer steigender
Abonnentenzahl.
Aehnliche Grundsätze, doch auf einen weit größeren Kreis des
Stoffes ausgedehnt, verfolgte Giehne's Wochenzeitung, indem
sie versprach, die Politik der Oberdeutschen weiter zu führen und de¬
ren Verlassenschaft an Sympathien und Antipathien, an feindseliger,
wie an freundlicher Gesinnung zu übernehmen; indeß haben die Ha--
ber'schen Vorfälle im Herbste vergangenen Jahres ihr ein Ende ge¬
macht.
Biedermann's Monatsschrift trat in einigen Punkten
dem Glaubensbekenntniß Giehne's geradezu entgegen, indem sie er¬
klärte, sie sei ein Organ der nationalen Partei, aber den Enthusias¬
mus der Oberdeutschen Zeitung für den Dombau und ein übertrie¬
benes Schutzsystem theile sie so wenig, als deren Fremdenhaß; dage¬
gen wolle sie, bekämpfend die Meinung der philosophisch-radicalen
Partei, die Deutschen zurückführen von der müßigen Speculation, der
dürren Theorie, in deren Bahnen sie sich lange genug umhergetrieben,
währenv andere Völker, von praktischeren Führern geleitet, zu Macht
und Glück emporgestiegen seien. —
Die neuen Principien durchdrangen mehr oder weniger fast alle
politischen Blätter groß und klein, während sich zugleich von den äl¬
teren bedeutenderen Journalen die Kölnische und die Augsbur¬
ger Allgemeine Zeitung mit Entschiedenheit für die nationale
Partei erklärten. Der letzteren mochte ein solcher ^Umschwung der
Dinge besonders erwünscht gekommen sein; denn früher, da eS sich
um liberal oder konservativ handelte, hatte sie überhaupt einen schwie¬
rigen Standpunkt zu behaupten gehabt, und von der Rheinischen
Zeitung, dem Telegraphen:c. war ihr so arg zu Leibe gegangen
worden, daß die Redaction einmal erklärte: „In diesen Tagen, wo
unser Blatt von Leuten, die ihre Stunde zu wählen wissen, Angriffen
der wunderlichsten Art ausgesetzt ist, erwächst eine gewisse Callosität,
wie von selbst, und das ist eine dankenswerthe Gabe der gütigen
teleologischen Natur. Man wird ganz hörnen durch das tägliche
Bad in diesem oft recht wässerigen Drachenblut." Von der anderen
Seite hatten ihr dagegen sogar konservative Leute gehörig zugesetzt,
und die Gräfin Jda Hahn-Hahn spricht — man höre! — „von
den re v o lutionären Publicisten der Allgemeinen Zeitung, die Preu¬
ßen das Unheil und die Absurditäten einer Repräsen-
tativverfassung aufdringen möchten!" Großer Gott, Gila-
digste, was müssen wir Andern aber erst für satanische Sansculotten
sein, wenn die friedfertigen Männer von Augsburg schon Revolutio¬
näre heißen! —
Der allmälige Uebergang unserer Journale zu nationalen Prin¬
cipien und schließlich das entschiedene Ergreifen derselben hatte übri¬
gens auch in äußeren Begebenheiten Anstoß und mächtigen Hebel
gefunden, wodurch sich nachgerade eine innige Wechselwirkung zwi¬
schen der Presse und den Vorgängen der Wirklichkeit vorzugs¬
weise ausbildete. In diesem Sinne führen wir zuvörderst an: die
Sprachkämpfe zu Gunsten des deutschen Elements im
Westen und Norden Deutschlands. — Durch politische Machinationen
war uns schon seit Jahrhunderten unser Meer, die Nordsee, ihrem
besten Theile nach entrissen; die Niederlande, statt sich in ihrem ei¬
genen Interesse recht eng an das alte Stammland anzuschließen, zo¬
gen es vor, durch Allianzen mit fremden Staaten ein auf Sand
gebautes, sehr zweideutiges politisches Dasein zu fristen, den deutschen
Handel zu bedrücken und, wie H. Oppenheim sagt, „nach der allge¬
meinen Befreiung wieder ihre alten Gebühren, d. h. ihre Ungebüh-
ren am Rheine anzulegen." Allein im Süden Belgiens hatte seit
den Tagen der wieder errungenen Selbständigkeit der vereinigten Pro¬
vinzen der deutsche Geist sein Haupt wieder erhoben im Gegendruck
gegen die kaum abgestreiften napoleonischen Fesseln. Der alte Stamm
der Vlamingen sollte wunderbares Zeugniß ablegen für die tiefwur¬
zelnde Kraft, mit welcher deutsche Nationalität alle Stammgenossen
durchdrungen hat; denn seit vollen zweihundert Jahren war hier äu¬
ßerlich scheinbar jeglicher Nerv deutschen Wesens abgeschnitten. Der
Funke, welcher anfangs nur verstohlen unter der Asche geglimmt
hatte, brach mit der großen Umwälzung des Jahres 1830 zu einem
kleinen Flämmchen, zu riesigen Flammen aus; Nichts fruchtete eine
diplomatische Lüge des Franzosenthums, mit welcher eS die Gluth zu
löschen wähnte und statt dessen Oel hineingoß; die Vlamingen waren
es allen Ernstes müde, Frankreichs Heloten zu sein und zu bleiben.
„Schüchtern wagte die vlämische Bewegung erst hier und da in ei¬
nen» Artikelchen kleiner Blätter, oder in einen: bescheidenen Versehen
unter den Anzeigen eine Klage, später schlich sie sich in's Feuilleton,
darnach schrieb sie Bücher, endlich sandte sie vierzigtausend Protesta¬
tionen nach der Kammer der Volksvertreter und gab ein Volksfest,
auf dein zwei belgische Minister erschienen und sich nicht schämten, in
ihrer Muttersprache Reden zu halten" — so hat ein Vlaming das
Wachsen der Bewegung geschildert.
Mit ähnlicher Entschiedenheit und gleichfalls siegreich war man
in Schleswig den Anmaßungen eines künstlich aufgepfropften Danis-
muö entgegengetreten. Schon die Worte, mit welchen der königliche
Commissär im December 1842 die Ständeversammlung zu Schleswig
schloß, —- „daß die staatsrechtliche Selbständigkeit des Herzogthums
Schleswig solle aufrecht erhalten werden," — hatte einen hellen Wi¬
derklang in allen deutsch gesinnten Herzen des Landes gefunden. In»
Juni sang man auf dem Volksfeste zu Jevenstedt Arndt's: „Was
ist des Deutschen Vaterland?" Bei der Journalistenversammlung zu
Rendsburg bewährte sich eben so entschieden die Sympathie für die
engste Verknüpfung mit dem Stammlande, und man beschloß sogar,
zum äußeren Zeichen dieser Gesinnung die Asche Lornsen'ö vom Gen-
fersee in's Vaterland abholen zu lassen und dort demselben ein wür¬
diges Denkmal zu errichten.
Solche und ähnliche Vorfälle waren nicht verloren für Deutsch¬
land, für die deutsche Presse, sie zündeten, sie trugen wesentlich dazu
bei, unsere Journalistik, wo nicht zur nationalen Richtung hinzufüh¬
ren, doch dieselbe wesentlich darin zu kräftigen. Man sann plötzlich
nach, man erinnerte sich dessen, was Deutschland im Laufe der Zeit
verloren habe, man etymologisirte und fand — sonst hatten es nur
todte, gelehrte Bücher gewußt, — daß die französischen Städte- und
Dörfernamen des alten Burgund und Lothringen ursprünglich deutsch
geklungen, die erste deutsche Sprachkarte erschien, und die verlorenen
Provinzen des Westens und Nordens waren nicht vergessen auf der¬
selben. Auch der Humor fehlte bei der Sache nicht, namentlich an¬
geregt durch die verunglückte Feier des Vertrages von Verdün, aber
man fragte doch auch dabei ganz ernsthaft: Wo liegt Verdün? In
Frankreich. Wo lag es früher? In Deutschland — und das Fest
wurde eine traurige, stille Gedächtnißfeier, ein politischer Allerseelen¬
tag, wobei wir in uns gingen und uns all der schönen deutschen
Gaue erinnerten, die uns seit Jahrhunderten entrissen worden.
Das Project einer deutschen Flotte, einer deutschen Flagge regte
nicht minder die Gemüther auf. Giehnc's Wochcnzeitung repräsentirt
die damalige Stimmung bei der Sache in folgenden Worten: „Es
kommt dem deutschen Volke allmälig wieder zum Bewußtsein, daß eine
Nation, welche nicht auf dem Meere groß ist, Nichts bedeutet. Die
Geschichte predigt ihm laut, daß alle fteien, lebensvollen Nationen
sich auf dem Meere gestärkt und verjüngt haben. Mit Scham er¬
kennt es, einst die seetüchtigste Nation, jetzt auf dem Meere ein Spott
selbst der kleinen geworden zu sein." List sprach in seiner scharfen, feu¬
rigen Weise über „Helotenthum und Knechtschaft der Deutschen zur
See," und das Lächeln der Klugen über die phantastischen Illusionen
der nationalen verschwand, als man statistische Berechnungen anstellte
und zum größten Erstaunen fand, daß Deutschland eine größere
Gesammtflotte besitze, als Frankreich, ja daß die Weser¬
marine allein großer sei, als ein Viertheil der französischen
Gesammtmarine.
An diese Fragen schloß sich uoch ein echt nationales Thema
„über deutsche Kolonien", wozu namentlich der Ankauf der Ländereien
in Teras durch eine Gesellschaft von Fürsten und Adeligen Anstoß
gab. Bei dem bisherigen Auswanderungswesen gingen die Auswan¬
derer für unser 'Land gänzlich verloren. „Wann wird Deutschland
lernen", so fragte man sich, „daß die jetzige Auswanderung, die es
unbekümmert vor sich gehen läßt, es an Kapitalien und Arbeit arm
macht, und daß es die Aussicht auf Gründung deutscher Staaten in
anderen Welttheilen durch seine Sorglosigkeit wegwirft? Kann der
deutsche Bund nicht thun, was die belgische Regierung thut, Kom¬
missäre ausschicken, um über Kolonien, die von Gesellschaften zu grün¬
den wären, zu berichten, oder mindestens Nachricht über das Schick¬
sal der Auswanderer einzuziehen, zur Organisation der Auswanderung
beizutragen? Bisher verlor sich der Einzelne in der fremden Masse:
es gilt, Korporationen zu bilden, die fremdem Eindruck widerstehen
können." —
So hatten die politischen Blätter reichen, ja überreichen Stoff
zu besprechen. Die Theilnahme des Publicums, durch die vorherge¬
hende Periode des pikanten kosmopolitischen Liberalismus einmal ge¬
reizt, aber auch endlich übersättigt, fand hier neue Themen, der höch¬
sten Aufmerksamkeit werth: es waren die Interessen der Nation, welche
fortwährend debattirt wurden, es war darum auch Ehrensache der
wiedererwachten Nation, an der Debatte Theil zu nehmen, die Jour¬
nale zu lesen. Auch an einem äußeren Symbole des nett aufleben-
den Nationalbewußtseins fehlte es nicht; denn als der Kölner Dom
von einer freien deutschen Kirche zu einer preußisch-katholischen, zum
königlich preußischen privilegirten Einheitsmonumcnt herabgchmkcn war,
und die einst ganz ernste und würdige Sache in's Komische, ja Aer-
gerliche sich zu ziehen begann, da sollte die Sache Jordan's (zuerst in
weiteren Kreisen durch Welcker und E. E. Hoffmann angeregt) das
Flammenzeichen der echten deutschen Einheit werden — freilich ohne
hochobrigkcitliche Bewilligung.
Diese durchgreifenden, vielfach neu gestaltenden Impulse unseres
öffentlichen Lebens markten selbst der philosophischen und belletristischen
Journalistik ein neues Gebiet ab. Die Jahrbücher der Gegen¬
wart (seit dem I. Juli) wollten vermitteln zwischen dem Leben und
der Wissenschaft und haben sich durch strenges Festhalten dieses Grund¬
satzes jetzt schon einen weit größeren Wirkungskreis eröffnet, als die
Deutschen Jahrbücher, obgleich sie die Welt viel weniger mit Geschrei
erfüllen.
Das rein belletristische Element vermochte selbst die Eristenz der
betreffenden Blätter nicht mehr genügend zu sichern. Th. Hell, der
Almanachsonnetten- und Näthseldichter, sah sich genöthigt, die Redac-
tion des Prototyps dieser Gattung im schlimmen Sinne, der Dr es-
t euer Abendzeitung, aufzugeben, nachdem sie binnen kurzer Zeit
von tausend Abonnenten auf fünfhundert heruntergekommen war.
Schmieder kaufte das Blatt und hat eine Regeneration desselben ver¬
sucht. Der Pilot, von Mundt gegründet, zuletzt von F. Saß re-
digirt, einst ein tüchtiges Blatt, ging ein, und daß Saß vergessen
hatte, eine Aufenthaltskarte zu lösen, war sicherlich nicht der einzige
Grund der Katastrophe. Die besseren übrigen Vertreter der periodi¬
schen Belletristik dagegen wußten ihren Platz zu behaupten, indem sie
sich mit größerer oder geringerer Entschiedenheit der Besprechung so¬
cialer Interessen zuwandten; die literarischen Feuilletons der politi¬
schen Blätter nahmen dagegen merklich zu an Reichthum des Stoffes,
an gediegener Haltung, überhaupt an Bedeutsamkeit, so daß sich hier
eine gefährliche Rivalität für die belletristischen Blätter zu ent¬
falten scheint. Nur Laube machte bei der Uebernahme der
Eleganten (aus Kühne's Händen) geflissentlich eine Ausnahme
von der allgemeinen Neuerung. Er erließ nämlich in dem Prospec-
tus zu Beginn des Jahres 1843 ein förmliches Manifest gegen die
Uebergriffe der geschmacklos philosophischen und unreif politischen Kri¬
tik in der schönen Literatur. „Die Produktion müsse man in Schul)
nehmen gegen die grassirende bloße Gesinnung. Gesinnungsvolles
Talent, nicht talentlose Gesinnung habe in der Belletristik zu herr¬
schen, und letztere habe sich in allen Hauptvertretern zu vereinigen,
wenn nicht in Deutschland die eigentlich belletristischen Zeitschriften in
Kurzem untergehen sollten an den Eingriffen politischer Zeitungen und
den Mißgriffen belletristischer Redactionen, die statt um Talente, um
politische Notizen bekümmert seien."
Wir haben keine erschöpfende Darstellung unserer vorjährigen
Journalistik geben wollen, wir trachteten blos, nachzuweisen, wie ein
neues Element die ganze Masse derselben in Gährung versetzt, wie
sich alte, unbrauchbare Bestandtheile niedergeschlagen haben, neue an
ihrer Stelle in die Höhe gestiegen sind: den Abklärungsprozeß des
deutschen Liberalismus in der Journalistik wollten wir beschreiben.
Darum haben wir nicht geredet vom Obercensurgericht, nicht von
Paulus-Schelling, nicht vom Commun-ismus, acht vom Bisthum
Jerusalem, nicht vom Gustav-Adolphverein und nicht vom Gro߬
mogul, der ja bekanntlich auch im besprochenen Jahre als Journalist
aufgetreten ist. Noch ferner lag uns das Kritisiren der einzelnen
Organe, welches hier ohnedies Danaidenarbeit wäre, denn in den
Lagern, wo das Feldgeschret „Partei" heißt und heißen soll, kann die
Kritik nicht gedeihen. Jeder hat hier Recht, Jeder blos den höchsten
Zweck vor Augen, und das kann man den Leuten eben nicht weg-
disputiren, gleichwie jener Hamburger Professor, der sich schwer be¬
trunken in der Gosse wälzte und, von dem Nachtwächter aufgerüttelt,
tiefere zurief: Freund, störe mich nicht, ich bewundere die Allmacht
Gottes im Staube!
Der Weberausstand ist beigelegt, oder vielmehr niedergeschlagen.
Von den verschiedensten Seiten sind darüber Stimmen laut geworden,
büreaukratische, wie journalistische, industrielle und Proletarierstimmen;
sie mögen es meistens redlich gemeint haben, aber wie den Einen
die Sachkunde, so fehlt den Andern die Ruhe und die Unbefangen¬
heit, um die Wirren und ihre letzten Gründe mit klarem Blick durch¬
schauen zu können. Das Volk selbst, das den drückenden Schuh am
besten fühlt, ist wie gewöhnlich stumm und scheint bis jetzt noch nicht
den berufenen Sprecher gefunden zu haben. Leider erwacht die Be¬
redsamkeit deö Volkes erst, wenn das Uebel den Gipfel erreicht hat;
es ist dann freilich eine sehr wirksame Beredsamkeit, — man kann
sie weithin hören — aber sie besteht eben nur in unarticulirtem Weh-
und Wuthgeschrei, das den lang verhaltenen Schmerz in kurzen Stößen
über die Welt ausschüttet, Schrecken, aber kein Licht verbreitet; sie ist
nur ein Hilferuf aus blinder Nacht, der erst zum Fragen, Suchen
und Reden auffordert. Ohne mich für den berufenen Sprecher hal¬
ten zu wollen, glaube ich doch wenigstens Einiges zur Lösung der
schwierigen Frage beitragen zu können. Meine Befähigung dazu kann
und will ich durch nichts Weiteres darthun, als durch meinen frühe¬
ren langjährigen Aufenthalt in Schlesien, namentlich auf dem Schau-
Platze der letzten Aufstände, und durch spätere, oft wiederholte Reisen
nach allen Theilen dieser Provinz , wo ich durch meine eigenen An¬
gelegenheiten oft in unmittelbare Berührung mit dem Volke, und
besonders mit den arbeitenden Classen, kam. Gerade der aufmerk¬
same Reisende kann seine Unbefangenheit am ehesten behaupten, und
sollte mich auch hin und wieder die zum Sprichwort gewordene schle-
sische Einfachheit und Biederkeit bestochen haben, so bin ich mir doch
bewußt, daß ich auf der anderen Seite eben so die Bemühungen der
Regierung für das Wohl ihrer Unterthanen erkannte, wenn jich
auch die Mittel nicht immer dem Zwecke entsprechend fand.
Uebermuth, wie Einige denken, kann die Unruhen unmöglich
hervorgerufen haben, da selbst die Baumwollenweber in Peterswaldcm
und Langenbielau, obgleich viel besser gestellt, als die armen Leinen¬
weber höher im Gebirge, noch immer vor dem Zustande des Ueber-
müthigseins, oder — wie der Schlesier sagt — des vom „Haberge-
stochenwcrdens" bewahrt sind.
Eben so wenig trägt das moderne Sündenböcklein: die leidige
Presse, der man so gern jeden preßhaften Zustand aufbürden möchte,
die Schuld. Gesetzt, die armen Weber hätten sogar die Schriften
Treumund Welp'S gelesen; — wozu es ihnen nicht blos an Zeit
und Geld, sondern auch an Geduld und Athem zu den etwas lan¬
gen Perioden dieses Schriftstellers fehlen dürste; — sie wären davon
dennoch nicht verführt worden. Die Herren, die das Volk nicht ken¬
nen und selbst nur unter papiernen Himmel und in bücherstaubiger
Atmosphäre leben, — sowohl die Schriftsteller-, wie die Beamtenfe¬
dern — stellen sich überhaupt die Wirkung der Presse etwas gar zu
unmittelbar und schießpulverartig vor; sie meinen, weil Beides, Schie߬
pulver und Druckerschwärze, in demselben Jahrhundert aufgekommen,
sei Beides eine ähnliche Waffe. Wäre dies wirklich der Fall, so hätte
die Presse eine größere Macht für den Augenblick, als alle Armeen
Europas, und nicht die mindeste nachhaltige Wirkung. Die Erfah¬
rung aber lehrt das Gegentheil. Wo wären wir jetzt in Europa,
wenn Alles das, was seit hundert Jahren, trotz der schärfsten Ne-
gierungsmaßregeln, gedruckt worden ist, unmittelbar gewirkt hätte!
Mußten wir nicht schon längst, mit allem Bestehenden, in die Luft
gesprengt sein? Die am meisten tncriminirten Schriften beweisen oft
in der Länge der Zeit, daß ihre Wirkung eine ganz andere, als die
erwartete ist, und daß nur Das eindringt, was nach langer Bespre¬
chung und Prüfung die Probe des praktischen Lebens bestanden hat.
So hat man gegen die angeblich aufregenden Tendenzen Welp's ge¬
schrien, und es ist nicht zu läugnen, daß dieser Volksmann, bei dem
besten Willen, in blinder Energie oft viel zu weit geht; aber Welp
hat mich den Judenhaß bei den Webern anzuschüren gesucht, und
zwar durch die lächerliche Anklage in den Zeitungen, daß die Juden
auf daS allgemeine, für die Weber angeregte Mitleid speculiren und
den Flachs aufkaufen und vertheuern wollten; gegen diese Tendenzen
Welp's hat keine offizielle Feder geschrien, Niemand hat daran gedacht, die
Juden gegen die falsche Anklage zu vertheidigen, und doch haben sie keine Un¬
bill erfahren. Es kann als ehrenvolles Zeugniß für beide Theile gelten,
für die Weber und für die jüdischen Fabrikanten, deren es im schle-
sischen Gebirge viele gibt, daß der Ausbruch sich eben nur gegen
solche richtete, die, auch ohne Juden zu sein, ihnen besondere Veran¬
lassung hierzu gegeben; während in Prag, wo ein Schriftsteller, wie
Welv, ganz unmöglich ist, der Aufruhr, wie ein Blitz, von seinem
ersten natürlichen Leiter ab-und auf die GesammtheitderJuden sprang; —
nicht weil er mehr Grund dazu als dort hatte, sondern aus dem Man¬
gel an jener Volksbildung, die in Schlesien doch etwas größer ist, als in
Böhmen, und daher auch die Diatriben einer zu heftigen Feder leicht
verwindet oder gar nicht beachtet.
Einige Brutalität der Fabrikanten, namentlich aber die Habsucht
derjenigen, die den Weber ganz als ihren Sklaven betrachteten und
mit allen seinen Bedürfnissen von sich abhängig machten, gab wohl
den ersten äußerlichen Impuls bei den Banmwollenwebern. Ihnen
schlössen sich dann erst die Leinenweber an, die an und für sich wohl
nie den Muth und die Kraft dazu gehabt hätten, und die eben nur
die furchtbarste Noth zu dem verzweiflungsvollen Schritt hinreißen
konnte. Wodurch aber diese Noth gerade jetzt eine so entsetzliche Höhe
erreicht, obgleich so ziemlich seit dem Jahre 1826 die Leinen--' und
Baumwollenfabrikation, wenigstens für die armen Weber, nur selten
einträglicher war, glauben wir leicht nachweisen zu können. Doch
halt! Noch sind wir mit dem Capitel von der Presse nicht zu Ende.
Die Presse hat wohl geschadet med hätte, wäre das Vertrauen des
Volkes zur Regierung nicht so groß, noch mehr schaden können. Nicht
aber durch das, was sie gedruckt, sondern durch das, was sie nicht
gedruckt hat. Die Zeitungen der Hauptstadt durften nämlich, wie es
heißt, auf Hoheit Befehl, kein Wort von den vorgekommenen Unruhen
veröffentlichen. — Darum konnte man allgemein in Schlesien als die
Hauptveranlassung zum Aufstande die angeben, daß man bei der
amtlichen Vertheilung der eingegangenen milden Gaben an die
Weber die rückständigen Steuern davon in Abzug gebracht. — So
wenig sich diese Härte von der Negierung glauben läßt, so ist es
doch möglich, daß übertriebene Beamtenbeflissenheit sich dergleichen zu
Schulden kommen ließ. Vielleicht ist aber auch gar nichts Wahres
daran, was ja leicht durch eine Untersuchung sich ergeben müßte. —
Dieses Gerücht hätte aber gar nicht Raum finden können, wenn ein
offener Thatbestand mitgetheilt worden wäre.
Daß die Webernoth gerade jetzt den Höhepunkt erreicht hat,
davon scheint mir der Grund zumeist in dem, etwa in den letzten
zehn bis fünfzehn Jahren im Gebirge überHand genommenen Colo-
nisiren zu liegen. Gutsbesitzer, die bei den besten Holzpreisen ihre
Forste abholzten, fanden es dann leichter und einträglicher, den Bo¬
den in Erbpacht zu geben und Colonien anzulegen, als wie ihn selbst
zu bebauen.
Dadurch wurde es den Armen scheinbar sehr leicht gemacht,
eigenes Besitzthum zu erwerben. Für das wenige Land wurde ge¬
wöhnlich zwanzig Silbergroschen bis ein Thaler Erbpacht angesetzt.
Wie verlockend war es da nicht sür den armen Weber, der sich schon
lange nach eigenem Herde sehnte, schnell zuzugreifen! Da wurden
die kleinen Ersparnisse überzahlt, die etwaige geringe Erbschaft
noch dazu geschlagen, zur Noth noch auf Freunde, die doch auch
helfen würden, gerechnet, und ein Stück Land, gewöhnlich von vier
bis acht Morgen an sich gebracht. Vor Allem mußte nun eine Hütte
oder wenigstens ein Obdach gebaut werden. Der Gutsbesitzer war
so menschenfreundlich, das Holz dazu herzugeben und die Hälfte des
Betrages zu stunden. Damit wurden denn aber auch gewöhnlich fast
alle Mittel aufgerieben, der arme Mann hatte dann kein Geld mehr
zum Ausbau, und noch weniger welches, um sich Vieh anzuschaffen.
Was sollte er nun anfangen? Zu seiner Arbeit zurückkehren, oder den
zumeist noch mit Stöcken und Steinen übersäeten Boden ausroden
und urbar machen? Gewöhnlich versuchte er Beides und vernach¬
lässigte, wie natürlich, Beides; und so kam es fast immer, daß
nach Jahr und Tag diese Stelle, die endlich etwas Wirth- und nutz¬
bar zu werden begann, vom Gericht wegen rückständigen Grundzin¬
ses, Holzgeldeö, sonstiger Schulden, dabei sogar auch Steuern und
Erecutivnsgebühren, öffentlich verkauft wurde. Wenn sich zwar auch,
was freilich nicht immer der Fall, — zuweilen wurden dergleichen
Stellen auf Subhastativnswege für wenige Thaler erstanden! — ein
ziemlicher Käufer fand, für den ersten Anbauer hatte dieses gar kei¬
nen Nutzen. Für's Erste hatte die Gutsherrschaft zumeist zehn Pro¬
cent von jedem Verkauf für sich vorbehalten; dann waren aber auch
Kosten entstanden, und das Gericht machte sich und den Gerichts¬
herrn vor allen Andern bezahlt, und der frühere Besitzer ging ganz
leer, oft noch mit Schulden belastet aus. Ein solcher, um alle seine
Ersparnisse und um den Lohn mehrjähriger, sehr schwerer Arbeit ge¬
kommener Mann aber ist, wie leicht einzusehen, durch und durch
ruinirt, und für ihn fast keine Möglichkeit mehr vorhanden, je wie¬
der auf einen grünen Zweig zu kommen.
Diese trostlose Gewißheit hatte oft zur Folge, daß der von
Hause aus fleißige, nüchterne Arbeiter, der sehr genügsam bei seinen
spärlich zugezählten Kartoffeln mit stark gewässerter Buttermilch gelebt,
plötzlich faul und liederlich wurde. Daß bei Vielen, die schon gleich
von vornherein mit einem gewissen Leichtsinn in den Hausstand, der
ihnen so gar leicht vorgemalt war, traten, diese Metamorphose noch
schneller vorkam, wird Jeder natürlich finden; um so mehr, als auch
im Gebirge die Schulbildung sehr vernachlässigt ist, und jeder halb¬
wüchsige Bursche auch gewöhnlich schon sein „Mädel" hat, was zu¬
meist dem steten Zusammenleben und Arbeiten in engen Räumen zu¬
zuschreiben sein mag. Auch ist der Mangel an Schulunterricht in den
localen und Familienverhältnissen zu suchen, und kann der sehr sorg¬
fältigen Regierung hierbei gewiß Nichts zur Last gelegt werden. Die
Schulen sind wohl nirgends besser organisirt, als in Preußen, den¬
noch haben mehrere Gebirgsdörfer, namentlich in den neuen Colo-
nien, zusammen nur Einen Schullehrer. So ist es manchmal beim
besten Willen durch den ganzen Winter den Eltern nicht möglich, die
Kinder in die Schule zu schicken, da sie dieselben ohnedies zu Hause bei
der Arbeit brauchen. Es ist nämlich nichts Seltenes hier, Kinder
von sechs Jahren schon mit Spulen beschäftigt und überhaupt an¬
strengend zur Arbeit angehalten zu sehen. Ob ich hier die Wahr¬
heit gesagt, dürfte bald an Ort und Stelle in den neuen Kolonien zu
erkennen sein. Wie wenig Häuser befinden sich da im Besitz der er-
sten Anbauer! Ja, manche mögen schon drei bis vier Mal den Be¬
sitzer gewechselt haben, und die abgezogenen leben in der größten
Dürftigkeit. —
Diesen Verhältnissen glaube ich zumeist die so sehr überHand
nehmende Noth und theilweise Verschlechterung im Gebirge zuschrei-
ben zu müssen, und nur so ist es erklärlich, daß urplötzlich das all¬
gemeine Mitleid nach langem gänzlichen Jgnoriren sich hierher ge¬
richtet hat. Bisher war man gewöhnt, das nur allmälig mehr und
mehr um sich greifende Elend der Weber als das gewöhnliche Loos
ihres ardens- und entbehrungsreichen Lebens zu betrachten. Und bei
verjährten Uebeln — mögen wir es uns nur gestehen — sind wir
Deutschen viel zu bedächtig, Um schnell Hand an'ö Werk zu legen.
Gewöhnlich stört es die Bequemlichkeit; und dann ist es ja lange
genug so gegangen, warum sollte es nicht noch länger so bleiben kön¬
nen? — Anders aber war es, als man, wenn auch nicht zur Ein¬
sicht der Veranlassung, doch zu der kam, daß man hier mit einer
anderen, schrecklicheren Noth zu thun habe. Da zeigte sich das deut¬
sche Gemüth in seiner Reinheit wieder, und Jeder opferte gern sein
Scherflein für die nothleidenden Brüder, auch wenn er die ^Geheim¬
nisse von Paris" nicht gelesen. Leider aber dürften diese Gaben, so
reich sie auch ausfallen, kaum mehr wie Palliativ wirken, und der
kurze, in das Leben der Armen hineinfallende Sonnenblick die dar¬
auf folgende Finsterniß noch düsterer machen, wenn nicht gründlichere
Wege eingeschlagen werden. Welche dazu am geeignetsten sein mö¬
gen, wird die Regierung hoffentlich bald ausfinden; doch will ich
auf einen, der mir leicht ausführbar dünkt, hinzuweisen mir erlauben.
Es ist viel für und wider das Dismembriren gesprochen wor¬
den; es mag auch dem Staate in mancher Beziehung wünschens-
werth sein, große, reiche Grundbesitzer, doch noch wichtiger muß es
ihm sein, wenig Nothleidende zu haben. Dies kann nur durch Zer¬
theilen großer Güter in ganz kleine Parzellen und dadurch bewirk¬
ten größeren Ertrag des Bodens ermöglicht werden. Hat erst leder
Weber, nach Verhältniß seiner Familie, einen halben oder ganzen
Morgen guten tragbaren Ackers, dann baut er seine Kartoffeln und
Gemüse mit leichter Mühe selbst, und für die wesentlichsten Bedürf¬
nisse wäre dann gesorgt. Das Uebrige müßte, wie immer, von dem
Fleiß, der Geschicklichkeit und der Sparsamkeit des Einzelnen ab¬
hängen.
Diese heilsame Abwechselung zwischen der Arbeit im Felde und
am Stuhle dürste auch für die Zukunft die Folge haben, daß man
selbst bei den Webern nicht mehr so viel hohlwangige und hohlciu-
gige Gestalten sähe, wie man sie jetzt allenthalben auf liliputanischen
Unterkörpern mit keuchender Brust herumschleichen sieht.
Wünschenswert!) wäre es auch noch, wenn von Seiten des
Staates die niedrigsten Steuerclassen von ein bis zwei guten Gro¬
schen pr. Person monatlich Denen, die etwa das fünfzigste Jahr er¬
reicht haben, erlassen würden. Wahrlich, der arme Weber hat bis
zum funfzigsten Jahre, wenn er so alt wird, mehr gearbeitet, als der
Reiche, und wenn er ein hundertjähriges Alter erreichte!
Ein schnell hereinbrechendes Alter ist aber auch meist die Folge
der übergroßen Anstrengung, der Erwerb wird noch beschwerlicher,
die Berichtigung der Steller immer weiter hinausgeschoben, bis der
Erecutor an die Thür der niedern Hütte pocht und mit ihm der
Wendepunkt des ganzen Lebens eintritt.
Das Ehrgefühl, nie den Erecutor unter seinem Dache gehabt
zu haben, ist zerstört, die Kosten der Erecution aber den Verhält¬
nissen nach so bedeutend, daß der Arme sie nicht erschwingen kann,
sein bestes, sauer erworbenes Habe pfänden lassen muß, so immer
mehr und mehr in Armuth sinkt und Nichts in der Hand behält als
den Bettelstab. — Welcher Art die Dismembration am zweckmäßig¬
sten vorgenommen werden könnte? Zumeist wohl durch eine Commis¬
sion sachverständiger und uneigennütziger Leute, die besonders darauf
sähen, Güter von anerkannt gutem Boden zu acquiriren, in kleine
gleichmäßige Felder einzutheilen und den Preis den Verhältnissen gemäß
anzusetzen. Obgleich ich nicht, wie Herr Alberti in Schmiedeberg,
die Unrechtmäßigkeit des Dismcmbrirens überhaupt, oder des einem
Privatmann sich hierbei ergebenden Gewinnes einsehen kann; —
jedenfalls fährt der einzelne Käufer, und wenn er gar den Morgen
um einige Thaler zu theuer bezahlte, was doch ganz von ihm ab¬
hängt, noch immer besser dabei, als bei dem früher angeführten in
Erbpachtnchmen vieler Morgen Urlands — so muß es doch im In¬
teresse der Armen wünschenswert!) sein, jeder kaufmännischen specu-
ation den Weg hierzu abzuschneiden. Aus diesem Grunde müßte
aber auch auf eine ganz unparteiische Commission gesehen werden,
damit man nicht etwa, aus übertriebener Rücksicht für den Verkäufer,
einen zu hohen Preis für manches Gut bewilligte. —
Mögen diese Worte eben so unbefangen, wie ich sie ausgesvro^
chen, aufgenommen und ein etwaiger Irrthum eben nur als solcher,
nicht aber als vorsätzliche Täuschung betrachtet werden. In einem
künftigen Briefe denke ich Ihnen die Zustände Oberschlesiens, der
Hütten- und Bergarbeiter namentlich, auseinanderzusetzen.
Wir haben hier sehr lachen müssen über die Erklärung des eng¬
lischen Ministeriums im Unterhause: daß auch Oesterreich das Brief-
geheimniß nicht achte, sondern die Briefe auf der Post, so oft es ihm
gut dünkt, öffne. Du mein Gott! Wenn England an Oesterreich sich
ein Beispiel in solchen Dingen nehmen will, da wollen wir ihm eine
schöne Liste von noch ganz anderen Sachen schicken! Oesterreich —
hieß es ferner in den bekannten Untcrhausverhandlungen - öffnet
die Briefe ohne Scheu, aber es drückt in solchem Falle nicht das frü¬
here Siegel, sondern das Postsiegel darauf. Wer nur die Engländer
so genau unterrichtet hat! Ich wünschte, daß einer dieser hochweisen
Unterhausmänner hier das gefährliche Geschäft eines Correspondenten
für deutsche Blätter einige Wochen ausüben möchte, dann würde er
bald wissen, daß das Postsiegel nicht immer geöffneten Briefen auf¬
gedrückt wird. —
Uebrigens ist dieser Monat ein wahrer Wonnemonat für Wiener
Zeitungsco'rrespondenten; nicht nur, daß der neue Jolltarif und die
Prager Arbeiterunruhen lang entbehrte Stoffe liefern, es ist auch die
Katze aus dem Hause, und die armen geängstigten Mäuschen können
sich ein bene thun. Mit anderen Worten: die Censur ist auf Rei¬
sen und braucht theils in irgend einem Badeort die Kur gegen Blut¬
aufregungen und Hypochondrie, theils sucht sie sich durch Relsean-
schauungen über deutsche Bewegungen zu belehren. Möge sie was
lernen, unsere gute Censur; alt genug ist sie dazu. —
Emil Devrient spielt jetzt bei Carl im Theater an der Wien mit
ungeheuerem Beifall. Es erklärt sich jetzt, warum dieser vortreffliche
Künstler am Burgtheater nicht so durchgegriffen hat, als zu erwarten
stand. Emil Devrient ist einer jener Schauspieler, die glänzender al¬
lein, als im Ensemble sich bewegen. Durch einen großen Theil des
Jahres auf Gastrollen reisend, bildete sich bei ihm jene Art von Dar¬
stellung aus, wie in den Porträten von Van Dyk, wo der Hinter¬
grund ein dunkler bleibt, damit das ganze Licht auf die Haupttheile
des Körpers fällt. -Emil Devrient ist gewöhnt, sich selbst als den
Mittelpunkt eines ganzen Abends zu betrachten, und er hat dazu alle
Gaben der Natur und alle Resultate langer Studien. Aber an einer
guten Bühne, wie am l'KviUre Siam^-us und am Hofburgtheater
verlangt man noch eine dritte untergeordnete, aber nöthige Eigenschaft,
nämlich Selbstverläugnung. Der beste Schauspieler darf da nicht
mehr als eine Ziffer in der Mitte anderer Ziffern sein, zusammen erst
soll eine Summe daraus werden. Wäre Devrient Mitglied unseres
Burgtheaters, so würde er in den ersten vierzehn Tagen seine Stel¬
lung und die Traditionen dieses Theaters erfaßt haben und dann vom
Publicum um so mehr verstanden werden. Im Theater an der Wien,
wo das Publicum kein Ensemble erwartet, sondern alle Aufmerksam¬
keit den Qualitäten des einzelnen Schauspielers zuwendet, da ist De¬
vrient die vollkommene Anerkennung geworden, die ihm gebührt. —
Baison, der im Durchschnitte an Emil Devrient sich herangebildet
hat, kam bei seinem Gastspiele der Umstand zu Gute, daß das Pu¬
blicum mit geringeren Ansprüchen in's Theater ging und mehr fand,
als es suchte; obgleich zwischen ihm und Devrient noch viel Baum¬
wolle zu legen ist. Der Schauspieler Marr geht vom Burgtheater
ab, um bei dem neuen Theater in Leipzig einen Platz einzunehmen.
Es ist dies ein ziemlich seltener Fall, der aber bei einem strebsamen
Schauspieler leicht zu erklären ist. Marr hat hier nicht das Rollen¬
fach und allmälig auch nicht die Laune gefunden, um die Gunst des
Publicums sich zu erwerben. Er war ein unbeliebtes Mitglied, und
es gereicht ihm zur Ehre, daß er lieber seine Stelle aufgegeben hat,
als länger in dieser Situation zu verharren. Sein Contract lautete
auf neun Jahre. Er war von Deinhardstein engagirt worden; Herr
von Holbein hatte jedoch Schwierigkeiten gemacht, als nach den con-
tractmäßigen ersten zwei Jahren das Anstellungsdecret dem Kaiser zur
Unterschrift hätte vorgelegt werden sollen. Ein Prozeß, der sicherlich
zu Gunsten Marr's ausgefallen wäre, stand in Aussicht; es wurde
jedoch der Mittelweg eingeschlagen, daß Marr vom Burgtheater ab¬
geht und dafür eine Entschädigung von VWV Gulden C. M. erhalt.
— Weil ich gerade von Theaterdingen spreche, so muß ich zwei
Angaben eines Ihrer Korrespondenten berichtigen. Es ist keineswegs
entschieden, daß Herr Pokorny die Direktion des Kärthnerthor-Theaters
erhält; vielmehr soll der bisherige Pächter Ballochini wieder von
Neuem einrücken. Traurig genug! Ferner ist Deinhardstein's Mote-
sens keineswegs so erfolglos ausgefallen, daß er blos drei Mal gege¬
ben wurde. Dieses Lustspiel hat große Vorzüge, wenn auch der
Plan nicht zu den neuen Erfindungen zahlt. Es ist ein Ausfluß
der Reaction, die in neuerer Zeit in ganz Oesterreich gegen das übel-
bestellte Beamtenwesen sich manifestirt. Es ist bemerkenswert!), daß
Halm und Deinhardstein, beide Regierungsrathe! in ihren zwei besten
Productionen einen Anlauf zum politischen Drama genommen haben.
Der „Sampiero" wie der „Motesens" haben eine bestimmte.poli¬
tische Je-ce zu Grunde liegen, die, wenn sie unter andern Censürver-
hältnissen ihre Ausführung erhalten hätte, mit scharfen Spitzen ihr
Ziel getroffen haben würde. Der Wille war gut — aber das Fleisch
ist schwach, oder vielmehr es mußte geschwächt werden, die Spitzen
mußten schüchtern in allgemeine, censurfähige Andeutungen abgestumpft
werden, und der politische Mutter-Gedanke wird nur von dem Kriti¬
ker, nicht aber vom Publicum entdeckt. Um so eher ist es hier die
Pflicht des Erstem, auf die Intention des Dichters aufmerksam zu
machen, da es für die geistigen Richtungen, die in Oesterreich in
letzterer Zeit sich ankündigen, charakteristisch ist, daß zwei höhere
Staatsbeamte, wovon der eine Neffe des Bundestagspräsidenten und
der andere beeideter Censor ist, innerlich zu Ideen und Stoffen ge¬
trieben werden, in denen alle die modernen Elemente leben und we¬
ben, die mit ihrer äußern Stellung im Widerspruche sind.
Die „Grenzboten", ihrer anfänglichen Bestimmung nach deut¬
sche Boten von den uns entfremdeten vlaemischen' Brüdern jenseits
der Grenze, haben zunächst wohl noch die Pflicht, Acte zu nehmen
von dem, was an dieser Grenze sich ereignet, und so müssen sie
denn auch mit Bedauern berichten, daß der deutsche Zollverein sich
veranlaßt gesehen, an jener Grenze einen neuen Schlagbaum zu er¬
richten und den durch die rheinisch-belgische Eisenbahn so schön ver¬
mittelten und erleichterten Verkehr der beiden Nachbarvölker wieder
zu erschweren. Eine königl. prcuß. Eabinetsordre vom 21. Juni be¬
stimmt nämlich, daß das von Belgien eingehende Eisen, sowohl in
roher, als bereits verarbeiteter Gestalt, sofort einem hohem Zoll als
bisher zu unterwerfen sei und vom I. September ab, wo auch für
englisches, schwedisches und anderes ausländisches Eisen eine höhere
Besteuerung eintritt, noch fünfzig Procent mehr an Steuer entrichten
soll, als das Eisen des übrigen Auslandes. „Diese letztere Anord¬
nung", heißt es wörtlich in jener Cabinetsordre, „soll außer Wirk¬
samreit treten, wenn die von der königl. belgischen Regierung dazu
gegebene Veranlassung wegfällt." Also „Karnickel hat angefangen",
wie man auf Berlinisch zu sagen pflegt. Belgien will nämlich die
deutschen Mosel- und Rheinweine so wie die in Elberfeld, Krefeld
und Berlin fabricirten Seidenwaaren nicht mehr zu demselben er¬
mäßigten Zollsatze zulassen, zu welchem es die Bordeaux- und Cham¬
pagner-Weine, so wie die Lyoner Seidenwaaren zuläßt. Hier ist also
das bekannte Wort in Anwendung gebracht: „Schlägst Du meinen
Juden, so schlag ick) Deinen Juden." Es fragt sich nur, wie dabei
die christlichen Consumenten fahren und ob der christlich-germanische
Staat gegen einen andern, wenn auch nur halb germanischen, doch
ganz christlichen Staat solche Grundsätze in Anwendung bringen darf.
Wir bezweifeln übrigens sehr, daß die vom Zollverein angewandte
Netorsion in Belgien die erwarteten Folgen haben werde; wenigstens
hat man bis jetzt noch nicht vernommen, daß sich Frankreich durch
die im vorigen Jahre stattgefundene deutsche Zollcrhöhung einiger
Pariser Modeartikel habe bewegen lassen, die von ihm gegen Deutsch¬
land in Anwendung gebrachten Differentialzölle zurückzunehmen.
Ein ganz ähnlicher Cartelvertrag, wie kürzlich zwischen Preußen
und Rußland, ist jetzt auch zwischen Preußen und dem Großherzog-
thum Luxemburg abgeschlossen worden. Auf Deserteurs brauchte die¬
ser Vertrag nicht ausgedehnt zu werden, weil ein Cartel über die
Auslieferung derselben schon durch die Bundesverfassung zwischen allen
zum deutschen Bunde gehörenden Staaten besteht. Die einzige Merk¬
würdigkeit an diesem Vertrag ist übrigens, daß ein deutscher Freiherr,
der Staatskanzler für das deutsche Großherzogthum Luxemburg, unter
einer in deutscher Sprache abgefaßten Urkunde seinen Namen nicht
anders als „de Blochausen" unterzeichnet. Es ist dies ein recht cha¬
rakteristisches Merkmal von dem französieren, Wesen in Luxemburg,
das auch durch die jetzt dort begründete ultcakatholisch-absolutistisch¬
deutsche Zeitung schwerlich wieder gcrmanisirt werden wird.
X<1 vocem germanisiren muß ich doch auch des von den Her¬
ren Wöniger, Firmenich und von Holtzendorff beabsichtigten Vereins
zur Erhaltung der deutschen Nationalität gedenken. Von diesem Ver¬
ein hat man bisher Manches in auswärtigen, aber noch kein Wort
in hiesigen Blattern gelesen, und nun hören wir, daß wir diesen
Umstand unserer Censur zu verdanken haben, welche den Druck der
Aufforderung zur Begründung jenes Unternehmens nicht eher gestad-
den wollte, als bis dasselbe die Genehmigung der Regierung erhalten.
Diese Genehmigung soll jedoch eben so wenig zu erwarten sein, wie
die des ebenfalls vrojecnrten Vereins zur Hebung der niederen Volks-
classen, welcher zunächst für dieselben eine neue Zeitschrift herausge¬
ben wollte, um dadurch wo möglich die zahllosen kleinen Blatter zu
verdrängen, die hier ohne allen Plan und höheren Zweck, blos zur
Befriedigung der schalsten Lesesucht herausgegeben werden.
In diesen Tagen sind hier vor dem königlichen Schlosse, dem
sogenannten Lustgarten gegenüber, die beiden in Erz gegossenen Rosse
mit ihren russischen Führern aufgestellt worden, welche der Kaiser Ni¬
kolaus unserem Könige zum Geschenke gemacht hat. Die Rosse, eine
Arbeit des bekannten Pferde-Sculptors, Baron Klot von Jürgenburg,
werden allgemein bewundert, nicht so jedoch die Russen, die hier mit¬
ten in Deutschland den Zügel führen. Die Heldengestalt des großen
Kurfürsten, die auf der anderen Seite des Schlosses hoch zu Rosse
sitzt, soll, seitdem die Russen ihm so nahe stehen, die eherne Hand
an das Schwert gelegt haben.
Seit der großen Ausstellung von 1842 war es fast ganz still
im Kunstleben, nur zuweilen kam ein Fremdling aus Düsseldorf, Bel¬
gien, Frankreich, der eine Zeit lang die Aufmerksamkeit der Kunst¬
freunde in Anspruch nahm. Sonst aber konnte man nicht bemerken,
daß man in einer Stadt lebe, welche eine Akademie hat, die noch an
vierhundert Maler zahlt, von denen beinahe die Hälfte Professo¬
ren sind, und daß man in Berlin sei, der Hauptstadt von Nord¬
deutschland, wo ein kunstsinniger Herrscher ......die Künste zu erhe¬
ben suchen soll zu der Höhe einstiger Bedeutsamkeit! — Wenn
ich Die sehen könnte, welche diese Worte lesen, so würde ich ein
schmerzlich bitteres Lächeln bemerken, das ihre Lippen umspielt, wenn
sie nämlich Eingeweihte in den Kunstzuständen der Gegenwart, d. h.
wenn sie Künstler oder wahre Kunstliebhaber sind.
Berlin hat kein Kunstleben, wenn es auch Freskogemälde
und Christusse in der Vorhölle malt, und Berlin wird kein
Kunstleben haben, ehe man nicht zu der Ueberzeugung kommt, daß
junge kräftige Talente, welche in die Zeit hinein gehören, bedeutsamer
und gewaltiger für den Fortschritt sind, als alte, welche einst groß
waren, weil in einer Zeit, die noch schlechter war, als die unsre. —
Auch die Kunst ist nicht göttlich frei genug auf der Welt, daß ihr
Jünger nicht unter dem Einflüsse des Alters stehen sollte. Als Titian als
Greis seine herrlichsten Schöpfungen wieder zusammenholte, um sie,
wie er sagte, zu verbessern, da gaben ihm seine Schüler, die nun klü¬
ger waren, als er, einen Firniß, der die Farben nur ganz leicht ver¬
band, den sie nach seinem Tode, wie es auch wirklich geschah, mit-
sammt der neuen Sudelei herunterwaschen konnten. ^- Das war so
klug und schön, so innig und kunstverständig, daß es fast aussteht,
als sei es in unserem Jahrhundert passirt! Dennoch sind in Berlin
in neuester Zeit Fortschritte geschehen, wenn auch nur solche, die auf
das äußere Wesen der Kunst hingehen. Ich meine damit zwei per¬
manente Ausstellungen, welche vom Kunstverein und vom Kunsthänd¬
ler Kuhr veranstaltet wurden.
Der Kunstverein stellt in einem eigens dazu bestimmten Locale
die Bilder aus, welche ihm Jahr aus, Jahr ein zum Kauf angebo¬
ten werden. Das ist ein Fortschritt, aber kein genügender, insofern
nicht Jedem erlaubt ist, die Bilder zu sehen. — Der Kunsthändler
Kuhr hat ein brillantes Local eröffnet, in dem er die Werke einhei¬
mischer und ausländischer Künstler, die ihm zum Verkauft eingesandt
sind, ausstellt. Hier steht Jedem der Eintritt gegen ein jährliches
Abonnement, oder gegen ein einzelnes Entrve frei.
Ich will mich heute mit den Werken beschäftigen, welche der
Verein der preußischen Kunstfreunde zur Verloosung angekauft und
in der Akademie ausgestellt hat. — Man hätte voraussetzen können,
daß der Verein durch das lange Ausgeftclltsein der angekauften Bil¬
der zu deren richtiger Erkenntniß hätte kommen müssen. Aber leider
geschah das nicht; — der Verein hat lange nicht so viel Mittelmä¬
ßiges, ja so einzig Schlechtes gekauft. — Ein Bild von Eybel, eine
Scene aus Walter Scott's.Roman Woodstock, schien Liebling der
Menge geworden zu sein, weil alte, ehrwürdige und jugendliche schöne
Gesichter darauf sind. Wir übersehen die Vorzüge des Bildes durch¬
aus nicht, können aber vor Allem die Eintönigkeit der Beleuchtung
nicht begreifen, welche in dem Bilde herrscht. Warum trifft alle Fi¬
guren ein und dasselbe Licht? . . . warum sitzt nicht eine oder die
andere im Schatten? — Ein zweiter Fehler, den ein Maler wie Ey¬
bel doch nicht machen sollte, ist die an einzelnen Stellen pastose Be¬
handlung des dunklen Hintergrundes. Das Auge wird durch solche
Glanzlichter im Schatten, welcher gerade hier auffallend viel waren,
so verwirrt, so abgeleitet, daß es vom wahren Licht des Bildes, das
ist die Handlung, abkommt. — Ein Pferderennen von Stef-
feck ist eines jener südlich kräftigen Bilder, deren Stammvater der
leider zu früh geschiedene Leopold Robert, der begeisterte Prophet der
Campagna, ist. — Ein Schäfer mit seiner Heerde von Otto
Meyer zeigt den Einfluß Robert's noch mehr, denn es geht selbst in
sein Genre hinein, aber der Einfluß ist ein günstiger, weil Robert
vielleicht der bedeutendste Maler des Jahrhunderts war. — Die
Lauscherin von E. Meicrheim ist in der überaus delicaten Ma¬
nier dieses Malers, die ihn zum Liebling des Publicums macht. Hier
ist sie wirklich an ihrer Stelle und das Bild eines seiner schönsten.
Unter den Landschaften, Mariner und Prospekten ist einiges Verdienst¬
volle, aber auch Einiges, was seiner furchtbaren Schlechtigkeit wegen
gesehen zu werden verdient. Agricola's Ansicht von Capri hat
die glückliche Farbe, die ihm stets eigen ist; aber die Stimmung ist
nicht so durchgehend, wie wir sie sonst von ihm gewohnt sind. -
Der Abend auf dem Riesengebirge von Behrendsen hat
dagegen sein größtes Verdienst in der Stimmung und in der kecken,
dreisten Ausführung. Das eigentliche Pcädicat Bild können wir ihm
jedoch nicht zugestehen. Es ist eine höchst glückliche Studie, die frei¬
lich besser ist, als manches Bild. — Die Abendlandschaft von
Wegener ist ein Bild, denn das ist keine Ansicht, keine Studie. . .
sondern eine Composition. Nimmt man dazu, daß die schönste abend¬
liche Stimmung den Beschauer auch nicht einen Augenblick frei laßt,
so erkenntman in diesem kleinen Bilde einen der besten Ankäufe des Vereins.
Wir kommen jetzt zu einem Maler, der uns seit Jahren, so
lange er nämlich in Berlin ist, mit einer Masse von Bildern beehrt
hat, deren durchgehender Gedanke in einem einzigen hinreichend aus¬
zusprechen ist, und der sich somit in allen wiederholt. Wir meinen
Eichhorn. Wenn wir Gedanke s>gen, so ist das eigentlich ungerecht,
denn wir können diesem Maler durchaus keinen Gedanken zugestehen.
Er malt italienische und griechische Porträtlandschaften, den'Tempel
des Jupiter, die Villa d'Este, hier den Se. Peter in Rom, aber Al¬
les aus einem Topf, in einer und derselben Stimmung, in einer und
derselben nichtssagenden. Die Palette Eichhorns ist feststehend, seine
Farbenscala ist so zur Manier geworden, daß wir uns wundern,
warum er nicht schon ein Buch über das Colorit geschrieben hat, wo¬
rin es heißt: Den Himmel malt man so; eine Säule wird unbedingt
diese Farbe bekommen. — Dennoch müssen wir gestehen, daß sein
heutiges Bild: Ansicht des Se. Peter in Rom zu den besseren
gehört. Wir können nicht umhin, Eichhorn statt jeder ferneren Be¬
sprechung an einen Vorgänger zu erinnern, der ihm ein besseres Bei¬
spiel sein sollte: Canaletto. Einen noch unbedingterer Tadel ha¬
ben wir, obgleich es uns leid thut, über zwei Andere auszusprechen.
Hoguet gibt ebenfalls seit Jahren Mariner, deren eine der anderen
auf's Haar in ihrer Schlechtigkeit gleicht. Hoguet kam aus Paris
und brachte le Poitevin's und Jsabcy's Untugenden mit, ohne ihrer
Eigenthümlichkeit theilhaftig geworden zu sein. Wir läugnen nicht,
daß sein erstes Bild durch seine colossale Schmiererei Einen über den Hau-
fen warf. Sein zweites war noch starker, und so ist er immer west
rer auf einer Bahn fortgeschritten, hat sich eine Manier angewöhnt,
wie wir sie fast noch nie sahen, so plump, so abgeschmackt und un¬
gereimt. Und das nennt der Referent der einzigen Berliner Zeitung,
welche sich ausführlich mit Kunstkritik beschäftigt, (der Vossischen)
Freiheit der Ausführung. Aber er hat es wenigstens nicht ungestraft
gethan. In derselben Zeitung erschien wenige Tage spater eine zwar
eingesandte, aber darum doch gute Annonce, die sich kurz, aber derb
über die diesjährigen Ankaufe des Vereins aussprach. Es hieß darin:
„Glaubt der Borstand etwa, daß das Publicum eine beschmutzte
Leinwand für ein Bild ansieht, weil es ihm, dem Vorstand, ge¬
fallt, diese Sudelei mit dem Titel: Felsen an der englichen Küste, zu
belegen?" — Es ist der richtige Ausdruck, beschmutzte Leinwand.
Wenn ein Anstreicher mit seinem Firniß Bilder malt, welche ein gro¬
ßer Verein kauft, muß die Kritik einer Eckensteherfaust gleichen. —
Eine Parthie im Thiergarten von Dähling ist das dritte in diesem
Bunde. Darüber laßt sich wenig sagen. Doch auch das laßt sich
erklaren . . . Wenn man der Sohn eines Professors der Akademie
ist, kann man immerhin schülerhaft malen und seine Bilder doch an
einen Verein verkaufen, unter dessen Vorstand mancher andere Pro¬
fessor sitzt. — Schließlich erwähnen wir noch ein kleines humoristi¬
sches Genrebilo von Gönne: „Peter muß Lehrgeld zahlen", mehrere
architectonische Ansichten von Beckmann und Gärtner, welche von
solchen Follen nur gehoben werden können.
Kupferstiche und Lithographien lassen wir unberührt, um noch
wenige Worte über ein Bild des berühmten Belgiers de Biefve zu
sagen, dessen Compromiß der Edelleute so viel Aufsehen erregte und
noch immer erregt. Es wurde für einen Berliner Sammler, wie
man sagt, für den Preis von fünftausend Thalern gemalt, und wenn
wir auch nicht sagen, daß dieser Preis unverdient ist, so müssen wir
doch bedauern, daß ein einheimischer Künstler, Lessing, für seinen
Huß, ein Bild von viel gewaltigerer Bedeutung, abgesehen von dem
vierfach größeren Format, nur eintausend Thaler mehr empfing.
Das Bild ist historisch; der Gegenstand: der Abschluß des Friedens
von Cambrav (>" p-ux alö-i «i-no«) durch Margarethe von Oesterreich,
Statthalterin der Niederlande und Muhme Karl's V., mit Luise von
Savoyen, Mutter Franz I. von Frankreich, am 3. August 1529.—
Ueber die künstlerische Bedeutung der Handlung wollen wir nicht
rechten. Der Friede ist unterzeichnet, die beiden ältlichen Frauen rek
chen sich sitzend über einen Tisch hinweg die Hände. Die Composttion
würde sich vortrefflich zu einer Medaille eignen, so grade, beinah
senkrecht grade und gleichförmig sitzen sich die beiden gegenüber; aber
die Malerei ist aus der Vereinigung des Idealen der Italiener mit
dem Realen der Niederländer hervorgegangen, und wahrlich! man
kommt kaum zum Lob, ... weil man bewundert. Da ist eine Ruhe,
eine Würde in der kleinsten Kleinigkeit, die so unbedacht thut, daß
sie der Augenblick geschaffen zu haben scheint; eine Gediegenheit, eine
Pracht, die die Modellirung des Einzelnen bis aufs Höchste treibt.
Van Dyk konnte nicht schöner malen, ... hier ist Rubens's Natur¬
wahrheit, aber getrennt von seiner oft unverkennbaren, übertriebenen
Derbheit. Es ist in diesem Bilde eine so künstlerische Anordnung
und Ausführung des Beiwerkes, aber doch eine so verständige Mäßi¬
gung in Betreff der Hauptsache, daß das Auge mit wahrem Ver¬
gnügen von dem Sammt und der Seide der Gewänder auf den
wappengekrönten, vergoldeten Sessel übergeht. Das nennt man ma¬
len! wahrhaftig! ... das nennt man malen. — Warum kann
Lessing nicht so coloriren, dann würde kein Streit mehr sein zwischen
ihm und den Belgiern. Aber trotz dem soll und muß der Streit
zu seinen Gunsten ausfallen, denn er vertritt die Richtung des
Idealen, während seine Nachbarn der Apotheose des Fleisches
huldigen!
In meinen nächsten Briefen werde ich auf das vorerwähnte
neu eingerichtete Institut des Kunsthändlers Kuhr, auf die perma¬
nente Ausstellung einheimischer und fremder Bilder zum Verkauf
eingehen.
— Ueber die Cartelerneuerung zwischen Rußland und Preußen,
welche von einigen tonangebenden Berliner Correspondenten mit Ruhe
aufgenommen und beruhigend mitgetheilt wurde, erheben sich jetzt doch
sehr besorgte, nichts weniger als preisende Stimmen. Die Erneuer¬
ung, heißt es, sei gar nickt mehr erwartet, ja für eine der gewöhn¬
lichen Erfindungen der „schlechten Presse" gehalten worden. Die
„Weserzeitung" bemerkt, es werde nun vorkommen, daß Deutsche ge¬
gen Deutsche auf die Jagd würden gehen müssen; in Polen gebe es
eine große Anzahl von eingewanderten Deutschen, die ihren Glauben
und ihre Sprache bewahrt hätten und sich nicht entschließen könnten,
ihre deutsch erzogenen Söhne dem barbarischen russischen Militärdienst
zu opfern; seit dem Erlöschen des vorigen Cartels seien die meisten
dieser jungen Leute, aus einem großen Bezirk im Weichselthale, über
die Grenze geflohen und gerettet worden, bis auf Einen, der das Un¬
glück hatte, von den Kosaken erjagt zu werden und unter der Knute
zu sterben. Wie das nun werden solle? — Die „Kölnische Zeitung"
hebt hervor, welche Ungleichheit darin liege, daß der Preuße in Ru߬
land nach dem russischen, der Russe in Preußen nach dem preußischen
Gesetz bestraft werden solle; der Preuße könne demnach in Rußland
wegen einer Aollgesetzübertretung nach Sibirien, der Russe in Preußen
mit einer Geldstrafe loskommen u. s. w. Ferner seien mehrere Punkte
des Cartels der zweideutigsten Auslegung fähig, und Rußland habe
nur zu sehr die Mittel und den guten Willen, um die wenigen, aus
Noth gemachten Concessionen durch nachttägliche Bestimmungen und
Tarifsätze zu eludiren. Endlich — so urtheilen die am meisten Be¬
theiligten in Königsberg und anderen Grenzorten — sei das Cartel
nur für Rußland, nur für den Gegner nothwendig — denn so
müsse man einen Staat bezeichnen, der, bei allen Freundschaftsver¬
sicherungen und in Friedenszeiten, den Nachbar durch solche Grenz-
sperre und Plackereien schädige. Das Cartel sei wie ein ohne Noth
und Schwertstreich geschlossener schlechter Frieden; denn die Handels¬
repressalien, die Preußen durch den Besitz der Weichselmündung zu
Gebot gestanden, seien nicht einmal in Gedanken versucht worden.
Statt der neulichen Angelegenheiten aber, durch die russische Emigra¬
tion, werde man wohl noch schrecklichere Scenen an der Grenze erle¬
ben. All diese nachträglichen Raisonnements werden das Cartel
nicht mehr aufheben, aber sie deuten auf großen Sturm. Die Wohl¬
thaten des Vertrages müssen sich nun bald zeigen, und die öffentliche
Meinung, die man beim Abschluß desselben etwas voreilig überhört,
oder gar nicht gefragt zu haben scheint, wird bei dieser schmerzlichen
Enttäuschung und bei der völligen Hoffnungslosigkeit aus eine Genug¬
thuung für die alten Unbilden, um so erbitterter an dem russisch¬
preußischen Bande zerren.
— Während man in Berlin (siehe unsere heutige Berliner Cor-
respondenz Nro. I.) dem von Firmenich, von Holhcndorss und We¬
niger projectirten Nationalverein kaum die königliche Concession, ge¬
schweige besonderen Schutz voraussagt, cursiren anderwärts ganz ent¬
gegengesetzte Randglossen zu diesem seltsamen Unternehmen. Da in¬
dessen die Berliner erst durch auswärtige Blätter davon erfuhren, so
wäre es wohl möglich, daß sie auch über den Ursprung und mysteri¬
ösen Hintergrund der Aventure schlechtere Witterung hätten, als die
Fernstehenden; jedenfalls hat die außcrbcrlinische Ansicht viel innerliche
Wahrscheinlichkeit, sie lautet ungefähr folgendermaßen: Also ist von
Berlin aus wieder ein großer Trompetentusch erklungen durch die
deutschen „Gauen". Ein Nalionalvercin, mit allerhöchster Bewilligung
und geheimer Protection, proclamirt sich mit Einem Male, wie auf
festen Säulen gegründet, und bekennt den edlen Zweck, die Grenzen
Deutschlands (gegen Russen oder blos gegen Wälsche?) zu schützen,
so wie die confessionelle Duldung (blos gegen Katholiken, oder auch
gegen Protestanten?) im Innern des Vaterlandes zu befördern. Der
Hauptgründer des Vereins ist ein Günstling des gewesenen Kronprin¬
zen, eine allerhöchste Aufmunterung, vielleicht sogar erste Anregung
ist daher mehr als wahrscheinlich; und schon soll eine ganze Schaar
hochgestellter Beamten und Professoren dem Verein beigetreten sein.
Wie aber soll der patriotische Zweck erreicht werden? Auf ruhige, an¬
ständige Weise, d. h. vielleicht auch gar nicht. Die Gründer sind,
nach der „Würzburger Zeitung", der Regierung eine Bürgschaft, daß
der Verein nicht „ausarten", d. h. wohl, daß er Spaß verstehen,
daß er nicht etwa die Deutschen in den Ostseeprovinzen oder die Po¬
len in Warschau gegen Rußland aufwiegeln, daß er überhaupt nicht
mehr als zweckessen und mit vollen Gläsern schönredend toastiren werde.
Wem soll das frommen? Soll der Nation dadurch wirklich eine hei¬
lige Legion für Einheit und Freiheit herangebildet, sollen nur einige
Sorgenstühle für invalide politische Nachtwächter herbeigeschafft, oder
gar so eine Art kleine Tafelrunde für die um ihren Spaß gekomme¬
nen Ritter des Schwanenordens hergerichtet werden? Ist es aber
Ernst damit, ja spricht sich, wie Einige behaupten, der mit Noth un¬
terdrückte Ekel vor dem östlichen Nachbar darin aus, wozu die Ge-
heimthuerei der Protectoren? Wozu die Faust im Sacke, wozu 'ohn¬
mächtige Jncognito-Demonstrationen machen, die mit allen offenen
Schritten in der auswärtigen Politik im vollsten Widerspruch stehen?
Wer so national fühlt, um Vereine jener Art im Ernst zu erfinden,
wird nicht so sehr Schwächling sein, um blos hinter den Coulissen ein
Bischen Hofdemagogie und Nationalität zu spielen. Die Zeiten sind
^ja nicht so gefährlich; die Gegner Deutschlands (die auswärtigen näm¬
lich) nicht so übermächtig, wir leben nicht im Jahre 1809. Oder
will man es weder Draußen, noch Innen verderben? Will man den
Ideen der Nation durch Privatdilertanterei vergüten, was man in
nur zu berechneter, trocken ernsthafter und praktischer Politik ihnen
wegnimmt ? Nein, das kann nicht Ernst sein. Warum ließe man
sonst nicht den natürlichsten offenen Nationalverein ungehindert wal¬
ten? Warum würde man sonst das Volk überall in seinem Triebe
nach freier Association beschränken? Ist die deutsche Presse nicht
auch ein Verein für Deutschlands Wohl ? Hatte die in Mainz pro-
jecrirte Advocatenversammlung etwa nicht nationale Zwecke? Wahrlich,
es ist zu wünschen, daß die Spielerei gar nicht begonnen werde; bes¬
ser trostlose Langeweile, als neue Illusionen. Die einzige Frucht da¬
von wäre, daß sich das Ausland wieder einmal auf unsere Un¬
kosten lustig machte. Se. Petersburg hätte keine Furcht vor diesem
Verein, es wäre vielleicht nicht einmal darüber böse; Paris würde
schadenfroh lächeln und der Brite, was wir da so langathmig zu be¬
denken geben, mit dem einzigen Worte: liuinliuK! abfertigen.
— Manches büreaukratische Herz mag in stillem Triumph ge¬
pocht haben, bei den letzten Verhandlungen des englischen Parlaments
über die Verletzung des Briefgeheimnisses; und manche Bcrüchtigungs-
feder hätte wohl gern, — läge nicht ein zu schamloses Bekenntniß
darin — höhnisch hingewiesen auf das freie Albion und gerufen:
Seht, Ihr Thoren, auch dort gilt kein Bricfgeheimniß, auch dort ist
die Freiheit, von der Ihr fabelt, nicht sicher vor privilegirten Ein¬
bruch am hellen lichten Tage. — Aber will man die britische Insel
in diesem Punkt mit dem Festlande vergleichen, so werden immer
noch so viel gewichtige Gründe, so viel wahre Freihcitsfelsen, in die
englische Waagschale fallen, daß wir dagegen hoch in den vogelfreien
Lüften zappeln. Ohne Zweifel sind in England zu allen Zeiten Briefe
erbrochen worden; der Staatssecretär hat die gesetzliche Befugniß'
dazu, aber nur in jenen seltenen Fällen, wo die Sicherheit des Staa¬
tes auf dem Spiele steht; sonst darf nur der Brief eines bereits in
Anklagestand Versetzten arretirt und muß dann auch offen vor den
Gerichtsschranken deponier werden. So wurde es vom englischen
Volke verstanden, so wurde es dem Herkommen und der nationalen
Sitte gemäß gehalten. Der toryistische Staatssecretär Graham aber
scheint von seiner Befugniß den ausgedehntesten Gebrauch, und zwar
in auswärtigem Interesse, gemacht zu haben; und kaum wurde dies
offenbar, so erhob sich auch die tiefste Entrüstung, die lebhafteste"
Agitation in allen Classen der Gesellschaft dagegen, wurden auch auf
das Entschiedenste sichere Garantien und ausdrückliche Gesetze dawider
verlangt. Was diesen Mißbrauch in den Augen des englischen Vol¬
kes noch gehässiger machte, daß er vorzugsweise gegen Flüchtlinge
und gegen die Unterthanen fremder Staaten gerichtet war, — dem
Briten selbst kann aus der Brieferöffnung, bei dem dortigen Gerichts¬
verfahren, wenigstens keine polizeiliche Verfolgung erwachsen — das
würde wohl bei uns hinreichen, die Spionnage zu vertheidigen, wenn
sie überhaupt einer Vertheidigung bedürfte. Ein italienischer Flücht¬
ling, Mazzini, ein Geächteter, welcher der Großmuth englischer In¬
stitutionen seine Sicherheit und seine Eristenz verdankt, konnte durch
seine Anklagen einen Sturm gegen die Regierung des Landes herauf¬
beschwören, in welchem er ein geduldeter Fremdling ist. Eben so
dürften sich wohl polnische Flüchtlinge in Preußen über die geheime Er-
brechung ihrer Briefe beschweren?. Zweifelt nur Ein Mensch auf dem
Continent daran, daß die Regierung alle seine Privatgeheimnisse be¬
lauschen darf, daß sie die ausgedehnteste, gefährlichste und empörendste
Geheimpolizei durch ihre Posten organisirt hat? Gibt es nicht Tausende,
die eine Scheu besitzen, sich in ihren Briefen an die vertrautesten Freunde
in allen Dingen auszusprechen ? Und doch wo fallt es Jemand ein, wo würde
es gewagt, oder könnte es gewagt werden, darüber zu klagen? Mit
wie leichtem Achselzucken, mit wie nonchalantem Nasenrümpfen wür¬
den die kleinen Premiers unserer kleinen sogenannten Verfassungsstaa-
ten eine Beschwerde oder Anfrage der Opposition darüber abfertigen!
Als in London die Brieferössnung zur Sprache kam, hat keine euro¬
päische Negierung, außer der französischen, es für nöthig gefunden,
ihre Staatsbürger zu beruhigen und die Existenz einer Postinquisition
in Abrede zu stellen; selbst Frankreich aber, welches durch Heuchelei
der Tugend huldigte, ist minder freisinnig zu nennen, als das eng¬
lische Ministerium, welches den Mißbrauch offen und ehrlich einge¬
stand und — freilich, weil es muß — jeder Debatte darüber und
jedem Reformantrag bereitwillig entgegenkommt. So unangenehm die
Entdeckung wirkte, daß auch in England diese krummen Wege ge¬
bräuchlich sind, so erhebend ist das Schauspiel, welches die Agitation
des englischen Publicums gegen die Briefspionage bietet; die zahllosen
-Petitionen und Protestationen aus allen Theilen des Landes und das
geheime Untersuchungscomirv werden die Frage nicht diesesmal erledi¬
gen, aber sie gewiß nicht wieder einschlafen lassen, bevor die Sache der
Freiheit Genugthuung erhalten. Das englische Volk hat, in dem
köstlichen Gefühl seiner Sicherheit und im Vertrauen auf seine Kraft,
die Agitation gar nicht einseitig und grämlich, sondern auch mit alt¬
gewohnten gesundem Humor betrieben. Nicht blos der Deputirte,
der Journalist, der Gcmcindebeamte, selbst Buchbinder und Kunsthänd¬
ler .geißelten in vielfach ergötzlicher Weise das Li-niiitminx c>l I^et-
tei-s. So wurden Oblaten verkauft mit witzigen Devisen, z. B. ein
aufgesperrter Krokodilrachen mit der Unterschrift: Spazieren Sie nur
gefälligst herein: eine gespannte Büchse mit den Worten: Nehmen
Sie sich den Inhalt zu Herzen; ein Paar Handschellen: Möge es zu
Handen kommen u. s. w. — Uebrigens wollen Kenner behaupten, daß
die Londoner Briefspione wahre Neulinge und plumpe, recht unschul¬
dige Stümper in ihrem Fache sind, da sie im Erbrechen und Wieder¬
siegeln noch eine höchst altmodische Methode befolgen, wahrend die
Kunst in anderen Großstädten die raffinirtesten Fortschritte gemacht
hat.
— Der „ewige Jude" von Sue verdient wahrlich nicht die grim¬
migen Ausfälle, mit denen einige Zeitungen jetzt regelmäßig ihre Spal¬
ten füllen — die undankbaren Zeitungen! Es wäre vielmehr zu wün¬
schen, daß die sämmtlichen achthundert namhaften deutschen Buchhänd¬
ler verurtheilt würden, gleichzeitig das Monstrebuch zu übersetzen, zu
drucken und dem Pariser Autor ein imaginäres Monopol ö, la Koll-
manu für zwölftausend Franken abzukaufen. Es wäre eine gute Lehre;
eine kleine Lection wird auch, bei der vielsingcrigen Concurrenz und
dem schwachen Appetit, den im Ganzen das Publicum zeigt, nicht
ausbleiben. Davon abgesehen aber, welche Komik, welche köstliche
Narrheiten und Absurditäten bringt dieser Mit err-uit in unser trüb¬
selig ernstes und grämlich langweiliges Leben! Der Rattenfänger
konnte unter den Kindern von Hameln keinen so allerliebsten Aufruhr
hervorbringen, wie jener in dem ganzen Heer und Troß der freien deut¬
schen Presse hervorruft. — So eben erfahren wir, daß in einer hie¬
sigen Druckerei eine Extraausgabe des „ewigen Juden" für alte
Leute, nämlich mit sehr großen, soliden Buchstaben veranstaltet wird,
so daß man sie bequem ohne Brille wird lesen können. Das ist ein¬
mal vernünftig. Warum sollte auch blos die junge Generation die
Segnungen des modernen Geistes genießen? Ist es nicht schön und
rührend, daß nun auch Großväter und Großmütterchen mit zitternden
Fingern nach der erquickenden Pariser Postille greifen und mit blöden
Augen in das neue Morgenroth gucken, ohne die altmodische Brille
auf die Nase zu setzen? Konnte sich das antike Sparta, kann sich das
patriarchalische China einer zarteren Rücksicht für das Alter rühmen?
Nur möchten wir, daß darum die Kindheit nicht vergessen wird; es
wäre gewiß eine lohnende Speculation, den ewigen Juden extra für
die buchstabirende Jugend herauszugeben, mit bescheidenen Illustratio¬
nen natürlich, die ja in unserer Zeit so beliebt sind, um die Wißbegier
des kindlichen Publicums zu reizen; zugleich würde diese buchsta¬
birende Jugend sich spielend einen guten deutschen Styl angewöhnen,
denn die Uebung im Uebersetzen hat bei uns die Weschvs und an¬
dern Stylisten in Masse hervorgebracht. Da fällt uns aber noch eine
Speculation ein, auf die ein oder der andere deutsche Buchhändler
gewiß reflectiren wird. Wie wäre es, wenn man den ewigen Juden,
in ein verständliches Judendeutsch übertragen, mit hebräischen Lettern
gedruckt, herausgäbe! In der nächsten Michaelismesse würde man
an den polnischen Juden, die nach Leipzig kommen, reißende Abneh¬
mer finden. Denn ist der ewige Jude nicht gewissermaßen auch ein
Jude? Und was für einer! Ein recht alter und orthodoxer, der
ihre Sympathien im höchsten Grade erwerben muß. Man brauchte
nicht einmal bis zur Messe zu warten, sondern könnte einige tausend
Exemplare sogleich über die Grenze schmuggeln, besonders unter die
russischen Grenzjuden, die ohnehin eines Trostes bedürfen und, wenn
sie die Leiden Morok's und des von den Bestien zerrissenen Pferdes
lasen, gewiß die russische Knute für Bagatelle halten würden. —
Genug, wir sind nicht undankbar gegen Sue und seinen jun orr-tut;
es ist ein guter, censurfähiger Stoff, wie er Einem nicht alle Tage
geboten wird. Wir wünschten nur, daß Paris jedes Jahr, wenn
nicht eine Revolution, doch stets nur ein solches eclarantes Ereigniß
lieferte. Wovon sollte man sonst in Deutschland leben? —
"
— Bei Besprechung der „hohen Braut von Heinrich König,
macht Robert Heller in den „Rosen" auf einen andern König, der
auch etwas für'ö Volk gethan, den von Osterode nämlich, aufmerk¬
sam, welcher wegen seiner Anklage des Ministeriums Münster in
Celle gefangen gewesen. Diese Art, selbst in rein literarischen Artikeln
die Freuden und Leiden der politischen Welt nicht zu vergessen, ist
für die heutige Journalistik bezeichnend, aber man kann sich diese Ab¬
schweifungen gefallen lassen, wenn sie in solchem Sinn und zu sol¬
chem Zweck geschehen. „Dr. König", sagt Heller, „hat nach der
Abbüßung seiner Strafe Nichts zurück erhalten, als seine auf einen
gewissen Aufenthaltsort beschränkte Freiheit. Er ist in zerrüttete
Verhältnisse versetzt worden, von seiner juristischen Fähigkeit kann er
nur noch als Schriftsteller Gebrauch machen, und auch in dieser Be¬
ziehung scheint ihm nur der alte Thüringer Freund treu geblieben zu
sein, der ehemalige „Reichsanzeiger", die jetzige „Nationalzeitung der
Deutschen" . . . ,,J» einer Zeit, wo man den Männern, die ihrer
Gesinnung wegen mit ihrer bürgerlichen Stellung verfallen sind, glän¬
zende Aufnahmen, Feste und Sammlungen bereitet, O'Concil's-Renten
gewährt für Jordan's Familie, für Hach, für Jahr, sogar für einen
Breslauer Professor, der ohne Familienverpflichtungen lebt und durch
die Entziehung seiner Professur in keine schlimmere Lage gerathen ist,
als in die, sich seinen Erwerb durch schriftstellerische Thätigkeit zusichern, in
einer solchen Zeit ist es wohl statthaften einen so schwer geprüften Mann
zu erinnern, wie der Osteroder König. Allerdings kann er die deutschen
Gauen nicht bereisen und sich persönlich vorstellen in Berlin und Leip¬
zig, in Köln und in dem Frankfurt, wo der Bundestag sitzt." — —
Heller berührt damit eine schwache Seite unserer politischen Wohlthä¬
tigkeit. Wir sprechen oft sehr vornehm über den eitlen, theatralischen
Patriotismus der Franzosen ab; sind wir aber besser? Muß uns das
Unglück nicht auch erst in die Ohren schreien und Gelegenheit zu bril¬
lanten Demonstrationen geben? Mußte Jordan nicht erst ein ruinir-
ter Mann sein, bevor man seiner dachte? Als König, ein bejahrter,
kränklicher Mann, in dem feuchten Kerker von Celle saß und die harte
Behandlung ihn zu tödten drohte, kamen einige ärmliche Spenden
zusammen; seitdem ist er vergessen. König ist nicht nur Patriot, son¬
dern auch ein kenntnißreicher Publizist und arbeitet unter schmerzlichen
Entbehrungen an einem umfassenderen Werke. Es gibt ja so viele
liberale Buchhändler in Deutschland, die in „Zeitgeschäften" sich ein
kleines Vermögen gesammelt haben. Warum bietet Keiner dem Dr.
König eine helfende Hand ? Wenn das nicht geschieht, sollte man das
Publicum zu Subscriptionen auffordern.
— „Se. Lavatus und die Phvsiognomen" heißt ein fein und
sinnig geschriebenes Sittenbild aus dem vorigen Jahrhundert von
F. G. Kühne, welches das Morgenblatt mittheilt. Der berühmte
Lavater war kein Poet von Bedeutung, aber ein poetischer Mensch, ein
Prophet in seinen eigenen und in Vieler Augen, in den Augen un¬
serer Zeit ein christlich-romantischer Schwärmer, mit einem Anflug
von halb wissenschaftlicher, halb pietistischer Charlatanerie und Herrsch¬
sucht, was schon damals der gesunde Goethe zu spüren schien.
Dieser merkwürdige Schweizer nun tritt uns in dem Kühne'schen
Bilde mit sprechender Ähnlichkeit und Treue, wie aus dem Rahmen
eines alten Fanuliengemäldes mit lebensgroßen Figuren, entgegen. Die
Erzählung ist sehr glücklich dem Sohn eines alten Reichsfürsten in
den Mund gelegt, der die pedantische und patriarchalische gute
alte Zeit repräsentirt, wo die Prinzen an unsern großen und
kleinen Höfen eine Erziehung erhielten, welche französische Wcltmanns-
bildung und reichsdeutsche Eharakterstrenge vereinigen sollte. Der
alte Reichsfürst ist ein Verstandesmensch, der über Jenseits und Un¬
sterblichkeit in's Reine kommen will, und dabei ein phystognomischcr
Adept, wie es heute phrcnologische gibt. Das Ganze ist eine Studie
aus dem ersten Bande eines Romans, der in der Sturm- und
Drangperiode spielt. Wir glauben, man kann von dieser neuesten
Production Kühne's eine sehr werthvolle Bereicherung der modernen
Literatur erwarten.
— Von Eduard Boas, den die Leser der Grenzboten als einen
anmuthigen Erzähler und Touristen kennen, liegt uns ein sehr an¬
sprechendes kleines Gedicht vor: „Pepita, italienische Idylle." (Leip¬
zig, Verlag von Leopold Voß, 1844.) Vielleicht kennt es der Leser
schon aus der „Zeitung für die Elegante Welt", worin es früher in
einzelnen Abtheilungen erschienen war. Es ist eine poetische Erinne¬
rung aus Italien, dem Stoffe nach ein bloßes Genrebild, eine Skizze,
die das Liebesabenteuer eines deutschen Doctors der Philosophie mit ei¬
nem hesperischen Kinde, das zwar gern barfuß geht, aber voll Naivetät
und Grazie ist, recht humoristisch zeichnet. Nur ist das metrische
Kleidchen, das Boas dem Kinde umgehängt hat, etwas lose; viel lo¬
ser als die Form von Heine's Atta Troll, an den auch die Seiten¬
blicke auf seine heimischen Pappenheimer erinnern.
Die Fürstin Martini saß in ihrem Zimmer am Schreibtisch;
es war um die Mittagsstunde. Ihre ganze Umgebung trug eine fast
überladene Pracht zur Schau, die das Auge mehr blendete, als ihm
wohlthat und selbst der Eigenthümern fast aufgedrungen schien, denn
ein größeres Wohlgefallen daran hätte wohl mehr Sorgfalt auf die
Anordnung des Ganzen verwendet, welches ziemlich chaotisch durch
einander stand; feiner Geschmack wenigstens machte sich nirgends gel¬
tend. Da waren Massen von Vergoldungen an den Wänden und
dem Mobiliar, Spiegel an Spiegel, Gemälde — und mitunter
herrliche Originale — aber in unvortheilhaftester Beleuchtung bis an
den Plafond hinauf, von welchem wiederum schwere Kronleuchter
herabhingen. Kostbare Uhren, die mit jedem Schlag das Ohr
durch irgend eine Melodie belästigten; Postamente mit Bildhauer¬
arbeit, Vasen, künstliche und natürliche Blumen, Teppiche, Marmor¬
tische, reich gestickte Ottomanen und Sessel, und was der Lurus noch
mehr auf dem kleinen Punkt zusammengeschaart hatte. Die Besitze¬
rin all dieser Herrlichkeiten war dagegen in ein ganz einfaches, weißes
Negligv gehüllt und schien bei ihrer Arbeit, die zugleich Kopf und
Hand beschäftigte, sehr von der drückenden Wärme, die im Zimmer
herrschte, belästigt, denn sie wehte sich häufig dabei mit einem gold¬
gestickten Fächer, der neben ihr lag, Kühlung zu. Unstreitig mochte
wohl ihr anormales Embonpoint viel zu ihrer Erhitzung beitragen;
ohne dasselbe wäre sie fast schön zu nennen gewesen, so aber hatte
das Ebenmaß der Formen allzu sehr gelitten. Jedenfalls indeß
machte ihr Gesicht durch einen vorherrschenden Zug von Gutmüthig¬
keit einen sehr angenehmen Eindruck. Wollte man ihr Alter tariren,
würde man zwischen den Grenzen von Dreißig bis zu Vierzig, ohne
sich ganz genau vergewissem zu können, umherirren müssen. Da
öffnete sich die Thür. Ein, in bunte und zugleich reiche Livree ge¬
kleideter, rabenschwarzer Mohr trat ein und meldete den vierten
Stiefsohn der Fürstin, Don Lorenzo de' Principe Mcmtini. Sie
winkte Gewähr, legte Papier und Feder in eine elegante Mappe,
auf welcher das Mantinischc Wappen in Mosaik eingelegt war, und
erhob sich dann dem Eintretenden entgegen. Doch ehe sie noch sei¬
ner ansichtig wurde, erblickte sie ihr eignes Bild in einer nahestehen¬
den Psyche und mußte laut auflachen, denn mitten über das sehr
echauffirte Antlitz, welches die herabgelassenen rothseidenen Gardinen
im Widerschein fast carmoisin färbten, zog sich ein langer Dinten-
streif. „Pfui doch, ich sehe ja aus wie ein Krebs, wie ein roher
und gekochter in einer Gestalt!" rief sie aus und war noch bemüht,
sich der schwarzen Schminke zu entledigen, als Don Lorenzo, ein
sehr brünetter junger Mann, aber von interessantem Aeußern, herein¬
trat. Nachdem er der Fürstin die Hand geküßt, und ihr gegenüber
in der Ottomane Platz genommen hatte, auch einige unbedeutende
Redensarten gewechselt worden waren, begann er plötzlich, zu einem
für ilM wichtigen Thema übergehend: Nun, meine theuerste Mut¬
ter! Haben Sie Ihr Versprechen erfüllt und noch ein Mal zu mei¬
nen Gunsten mit dem Fürsten geredet? Ich brenne vor Begierde, die
Resultate davon zu erfahren! — Ach, liebster Lorenzino! entgegnete
die Dame mit einer Verlegenheit, die sie dadurch zu verbergen suchte,
daß sie noch ein Mal rückwärts in Zden Spiegel sah und an
ihrem Fleck rieb, ich kann Ihnen leider gar nichts Erfreuliches mit¬
theilen. Was ich auch that, um ihn der Sache geneigter zu machen,
Ihr Vater ist und bleibt unerbittlich! — Ha! rief der junge Mann
hier heftig aus, und was hat er Begründetes an meiner Wahl
auszusetzen? Ist nicht Marianna Ricci eins der schönsten Mädchen
von Florenz? Untadelig wie Wenige und eben so adelig als die
MantiniS? — Ganz gewiß, bester Lorenzino, daran zweifelt kein
Mensch, aber Sie wissen ja längst, wie Ihr Vater in dem Punkte
denkt. Ahnen hat er genug, darin braucht ihm Niemand mehr etwas
zuzubringen, doch um den angeerbten Glanz derselben ungetrübt zu
erhalten, handelt es sich um Geld — um viel Geld — und leider
schir das der holden Marianna! — In der That, es steht einem
Fürsten von solchem Geschlecht übel an, stets kaufmännische Specu-
lationen zu machen, rief hier Don Lorenzo mit einem höhnischen
Lachen. Die Fürstin aber sagte empfindlich: Wenn diese kaufmän¬
nischen Spekulationen gelingen, sind sie in der That ganz vortrefflich,
um schlecht arrangirte fürstliche Häuser wieder in die Höhe zu brin¬
gen. Ein Glück für den Fürsten Thomas, daß mein Bater Handel
auf dem schwarzen Meere trieb; und auch seinen Söhnen kommt es
wohl zu gute! — Vergebung! bat der junge Mann mit neuem,
wiederholtem Handkuß und im Tone wirklichen Gefühls, ich über¬
eilte mich, aber meine theure Mutter weiß zu gut, wie ihre Söhne
auch noch in edlerer Rücksicht als auf das leidige Geld ihren Ein^
tritt in unsere Familie zu schätzen wissen! — Ja, ja, Ihr seid gute
Kinder! entgegnete darauf die Fürstin, vollkommen beschwichtigt, und
mit einem freundlichen Blick auf ihren Liebling Lorenzo; und ich
möchte gern Euer Aller Glück, wenn mein Bestreben nur nicht so oft
an dem Starrsinn Eures Vaters scheiterte. Dennoch wollen wir noch
nicht alle Hoffnung in diesem Falle aufgeben. Don Hen hat auch
seine Vermittlung versprochen; vielleicht legt selbst der Großherzog
ein gutes Wort ein und am Ende reussiren wir doch. Nur vor allen
Dingen Geduld und ja kein Trotz, der würde die ganze Angelegen¬
heit rettungslos verderben!
Da trat wiederum der goldbetreßte Mohr ein und meldete der
Stiefsöhne dritten: Don Thomaso de' Principe Martini, worauf sich
Lorenzo, noch ein Mal sein Glück der mütterlichen Vorsorge anem¬
pfehlend, beurlaubte. — Heilige Jungfrau! sagte die Fürstin, sobald
sie allein war, sich fächelnd; waS wird aus meinen Briefen nach
Rußland werden, ich komme ja gar nicht zu Athem, und die Hitze
erdrückt mich! Da öffnete sich auch bereits die Thür und es er¬
schien Don Thomaso, ein sehr schöner junger Mann; seine schwarzen
Augen sprühten Feuer, seine Adlernase über einem fein gespaltenen
Mund gaben dem Antlitz etwas JmponirendcS, dem aber doch zu¬
gleich, wenn er lächelte, nicht das Einnehmende fehlte, und da die¬
ser wohlgebildete Kopf auf einem im Uebrigen ebenfalls tadellosen
Körper saß, so konnte man ihn mit Recht zu den ausgezeichnetsten
Männergest^leer rechnen.
Daß tst Fürstin bei All dem ihm nicht so wie dem nachgeben-
deren und ihr seine Verehrung offener zeigenden Lorenzo gewogen
war, hätte man aus dem Umstand entnehmen können, daß sie ihm
einen Sessel hinschob, während Lorenzo den Platz an ihrer Seite
auf der Ottomane bekam, doch war im Ganzen sein Empfang nicht
weniger freundlich. Auch schien er heut besonders hingebend und
weich gesinnt, denn er küßte die kleine mütterliche Hand mehrfach
mit einer Innigkeit, die nicht, wie wohl sonst, blos Form war, ja
ließ sich plötzlich, das Alltagsgespräch unterbrechend, knieend auf ein
Polster zu ihren Füßen hinab und sagte: Mutter! vergönnen^ Sie mir
eine ernstere Unterhaltung, in der es sich um das Glück meines Le¬
bens handelt, das zugleich in Ihren Händen ruht! — All Ihr Hei¬
ligen!" rief hier die Fürstin, sich diesmal die hellen Schweißperlen
von der Stirn trocknend, aus; Iliebster Thomasino! nur nicht auch
eine Heirath mit einem Mädchen ohne Vermögen. Sie wissen ja,
was uns der Lorenzo darin schon für Sorge macht! Wär' es das,
müßt' ich gänzlich depreciren. — Auch wenn Sie den Namen derjeni¬
gen hören, die ich liebe? Es ist Ihre Pflegetochter, Mutter! Elisa
Seltikow, das treffliche Mädchen, die Ihnen in allen Tugenden
gleicht!
— Thomasino! Ihr seid nicht gescheidt, sagte die Fürstin, sich
kraftlos in die Kissen zurücklegend, >in der That, das fehlte noch,
um das Gewicht meines Verdrusses voll zu machen!
— Und warum das, Mutter? Thomasino bediente sich heut vor¬
zugsweise dieser Benennung, die er sonst lieber zu umgehen pflegte.
Ist Elise nicht reizend und talentvoll und gut, und Ihnen bereits
werth wie eine Tochter! — Ja, ja! erwiederte die Fürstin, sich
aufrichtend und ungeduldig; aber was hilft das Alles, da sie arm
wie eine Kirchenmaus ist! Thomaso, kennen Sie denn Ihren Vater
nicht, um sich einzubilden, er werde zu einer solchen Heirath jemals
seine Einwilligung geben? Und welchen Vorwürfen wäre ich aus¬
gesetzt, wenn er nur das Mindeste von der Geschichte erführe, da
ich daS Mävchen in's Haus gebracht! O, es ist abscheulich, wie
mich das angreift! und hier brachen Thränen aus der Geängsteten
Augen. — Aber, theuerste Mutter! Beruhigen Sie sich doch! Sie,
die dem Fürsten Thomas ein so großes Vermögen zugebracht, sollten
— wenn er uns auch alle tyrannisirt, am wenigsten vor ihm zittern.
Nur über den kleinsten Theil Ihrer Einkünfte zu unsern Gunsten dis-
ponirt, und die Ettstenz der holden Elise sowohl, als die Ihres
dankbaren Sohnes wäre gesichert. — Sie reden, wie es Unverstand
und Leidenschaft Ihnen eingeben. Ich habe über Nichts frei zu dis-
pontren in der Art und setzte mit einer Fürsprache in solcher Sache
nur meine eigene. Ruhe aus's Spiel, die so schon oft in diesem Pa¬
last gefährdet worden. In der That, es wird mir Nichts anders
übrig bleiben, als Elisabeth wiener nach Nußland zu schicken, wenn
sie ihre Stellung hier so verkennt und Sie zu Thorheiten verleitet!
— Ich beschwöre Sie, Mutter! nur Elisen keinen Vorwurf! Erst
seit Kurzem hat sich ihr mein Gefühl entdeckt, und wenn sie mich
auch ahnen ließ, daß sie nicht kalt dagegen ist, hat sie doch auch
geschworen, ohne Ihre Einwilligung mir nicht das Mindeste zu ge¬
währen !
Da trat zum dritten Mal der Mohr ein und meldete die Her¬
zogin von Castiglione, die Gemahlin des ersten Stiefsohns der Für¬
stin, welche gern angenommen wurde, denn die erregte Dame war
froh, nur vorerst von dieser peinlichen Unterredung loszukommen.
Don> Thomas» aber sagte aufspringend in bitterem Ton: Ja, die
Lieferantentochter, sie ist willig aufgenommen in dem fürstlichen Ge¬
schlecht der Mantinis, weil ihr Vater ungerechte Reichthümer zusam¬
mengescharrt, die auch sogar ihre galante Lebensweise zu Ehren brin¬
gen müssen; ich würde mich schämen an meines Bruders Stelle! —
Das überlassen! Sie ihm! entgegnete die Fürstin trocken; wollen Sie
aber Rang und Stand verläugnen, finden Sie Armuth einladend,
gut, steigen Sie in das Schäferleben hinab; wo nicht, so beugen Sie
sich vor der noch größeren Aristokratie des Geldes, ohne welches sich
selbst das adeligste Geschlecht in seinen Prätensionen nur lächerlich
macht.
Die Fürstin war gereizt durch den Ausfall Thomaso's auf die
Mißheirathen und entließ ihn kalt, der seinerseits wiederum eben so
die Herzogin, seine Schwägerin, grüßte, die in der brillantesten Toi¬
lette eintrat, als er eben der Thüre zuschritt, um das Zimmer zu
verlassen; die galante Dame war jedoch eine zu warme Verehrerin
der Schönheit, als daß sie dem stattlichen Mann, unbeschadet seiner
Laune, nicht hätte einen sehr huldvoller Blick schenken sollen. Wir
aber überlassen die beiden Frauen darauf ihrer sich um Canaans und
Modejournale drehenden Unterhaltung, bei welcher jedoch unsere Für¬
stin dies Mal sehr zerstreut erschien, und benützen die Zeit, um uns
indeß etwas näher die Verhältnisse der Familie anzuschauen.
Fürst Thomas Martini, das Oberhaupt des Hauses, ist der
Typus eines italienischen Kr-in^ sol^neur der nun fast verschollenen
Zeit, unumschränkter Herr, ja Tyrann in seinem Pa.last, wie in sei¬
ner ganzen Familie; er beherrscht sie Alle, selbst seinen jüngeren Bru¬
der, obgleich derselbe die Stelle eines Premierministers bekleidet.
Neben Stolz und Herrschsucht bildet Geldliebe, um nicht Geiz zu
sagen, einen seiner Hanptcharakterzüge, doch bedarf er des Geldes
auch, um den Glanz deö Hauses aufrecht zu halten, welches er die
Aufgabe seines Lebens nennt, und spart eS wenigstens da nie, wo
er es für nöthig erachtet, ihn zu zeigen; wie er denn in diesem Sinne
eben sowohl Opfer bringt, als er sie von den Seinen fordert. —
Zwar wird in Italien die Ebenbürtigkeit der Frau überhaupt nicht
sonderlich berücksichtigt, dennoch aber hätte es der stolze Fürst, als er
— bereits in hohem Alter — noch zu einer zweiten Ehe schritt, wohl
sehr erwünscht gefunden, wenn seine Gemahlin zugleich Rang und
Reichthum besessen; die Reiche triumphirte jedoch jedenfalls bei seiner
Wahl über die Vornehme, und so wurde die Tochter eines Kauf¬
manns aus Odessa Fürstin von Martini. Nach dem Tode ihrer
Eltern, als eine schon etwas überreife Jungfrau eine Reise nach
Italien unternehmend, hatte sie sich des ihr zusagenden Klimas we¬
gen längere Zeit in Florenz aufgehalten, dort die Bekanntschaft des
Fürsten gemacht, seinen Antrag erhalten und — allerdings Specula-
tion gegen Spekulation setzend — ihn angenommen. Frau und Für¬
stin, ja die erste Dame in Stadt und Land zu werden, schien ihr
eben so wünschenswert!), als demjenigen, der sie dazu machen konnte,
ihre Reichthümer, und während er bei dem Zählen der Goldstücke
den Mangel an Ahnen übersah, berechnete sie nicht, daß er bereits
siebenzig Jahre zählte. Auch war der alte Herr in der That noch
eine ganz stattliche Erscheinung und ein förmlicher ni-alt-öl>.l>t, ^»»v
eterna« zu nennen; würdevoller Repräsentant eines der edelsten Ge¬
schlechter sowohl, als auch sein und galant von Manieren.
Im Anfange der sonderbaren Ehe mochte die arme neue Für-
sein übrigens doch wohl nicht allzu zart von ihrem Gemahl, besser
Gebieter, behandelt worden sein, und es besonders schwer gehalten
haben, dem pointillcusen Ceremonie! ihres jetzigen Standes zu seiner
Zufriedenheit zu entsprechen; doch gut und nachgebend, wie sie war,
hatte sie sich mit der Zeit in Alles schicken gelernt und erfreute sich
jetzt wirklich von seiner Seite achtungsvoller Rücksichten. Noch besser
war aber das Betragen ihrer Stiefsöhne gegen sie. Es eristirten
deren vier, die sich in Ehrfurcht vor dem Vater beugten. Der älteste
Sohn des Hauses mit dem Titel secuncl» x«5»nu8, Herzog von Ca-
stiglione, war längst mit der einzigen Tochter eines Millionärs aus
Pisa, eines ehemaligen Lieferanten, verheirathet, und hatten bei die¬
ser Partie ähnliche Rücksichten, als bei der späteren väterlichen vor¬
gewaltet. Auch war er, sonst ziemlich unbedeutend, mit den errun¬
genen Vortheilen ganz zufrieden und ließ seine Gemahlin, wie sie
wollte, auf dem Fuße der großen Welt in Florenz leben. Der zweite
Sohn, Marquis Cajatico betitelt, ist zugleich Gouverneur von Li-
vorno, Marmechef und General, und zwar ohne jemals Lieutenant
gewesen zu sein, welche Stufe doch sogar der große Napoleon, der
noch eine gewichtigere Carriere machte, sieben Jahre besetzt halten
mußte. Er war zugleich der Glückliche, der in einer reichen auch eine
ebenbürtige Gemahlin sich errang, und bereits Vater einer zahlreichen
Familie. Für Thomaso und Lorenzo, deren specielle Bekanntschaft
wir bereits gemacht, eristirten leider keine Titel mehr in der Familie
und sie hießen Dorf, wie nach spanischer Etikette alle nachgebornen
Sohne von Fürsten, für die keine Auszeichnungen der Art mehr üb¬
rig geblieben. Sie lebten im Palaste des Vaters und besaßen wei¬
ter keine Alimente, als die er ihnen eben nicht allzu freigebig verab¬
reichte; ihre Arbeiten im Ministerium des Oheims, Don Heri, hat¬
ten außer der Ehre bis jetzt auch noch weiter keine Früchte getragen.
Unstreitig empfanden die jungen Leute ihre drückende Abhängigkeit
tief. Hätte Fürst Thomas gewollt, konnte er sie längst günstiger
stellen, doch von seinem Haupte mußten alle Strahlen des Familien¬
glanzes ausgehen, und das nahm, wie er behauptete, seine ganze
Baarschaft in Anspruch. Warum machten es die jüngeren nicht
den älteren Brüdern nach und consolidirten sich durch reiche Heira-
then? waren sie doch schöne Männer, denen es garnicht fehlen konnte,
wenn sie sich nnr nicht allzu wählerisch bewiesen. Aber all Ihr Hei-
ligen! da beging Don Lorenzo die Tollheit, sich in ein Mädchen zu
verlieben, die weiter nichts, als schön, gut und — arm war. Der
Fürst schäumte, als er es erfuhr und man ihm zumuthete, dem Paar
nicht allein seine Einwilligung, sondern auch die Mittel zu einer an¬
ständigen Existenz zu verleihen, und Vermaß sich hoch, auch nicht ei¬
nen Bajocco zur Verwirklichung solches romantischen Unsinns her¬
geben zu können und zu wollen. Die Paläste und Villen des armen
Mannes gehören übrigens in Florenz wie in Rom zu den schönsten.
Seine Galerien und Kunstsammlungen stellt man den besten gleich
und die Juwelen des Hauses machen königlichem Schmucke den Preis
streitig. In gleichem Ueberfluß füllen fünfundzwanzig bis dreißig
Wagen aller Art die Mantinischen Remisen, so wie die Ställe von
Rossen wimmeln, und ein Heer von Jägern, Mohren, Läufern und
Bedienten harrt des despotischen Winkes ihres Herrn und bedient
die Gäste, wenn er, was freilich selten, aber dann auch mit verschwen¬
derischer Pracht geschieht, die vornehme Gesellschaft zu glänzenden
Festen bei sich versammelt. Ein solcher Tag war der heutige. Die
höchsten Kreise des florentinischen Adels, mit ausgezeichneten Frem¬
den untermischt, hatten Einladungen zum Diner erhalten und saßen
um die fürstliche Tafel gereiht, welche unter der Last kostbarer Ge¬
rätschaften und ausgesuchter Speisen zu brechen drohte. Der Gast¬
geber, Grandezza mit Galanterie in seinen Manieren vereinend, suchte
durch jene den Männern zu imponiren, indem er mit dieser die Da¬
men sich zu verbinden strebte, während seine Gemahlin, bei solchen
Gelegenheiten doppelt an der Zugabe ihres Embonpoints, der Er¬
hitzung, leidend, sichtbar erschöpft, dennoch über ihre Kräfte hinaus
bemüht war, Jedermann etwas Angenehmes zu sagen, ohne daß sie
dabei weiter eine falsche Würde in Anspruch nahm. Ausgezeichnet
schöne Frauen befanden sich unter den Geladenen. Nicht allein Ita¬
lien, Spanien und Frankreich hatte seine Repräsentantinnen daselbst,
sondern auch Deutschland wurde durch die Prinzessin von ^ darge¬
stellt, erstes Mitglied des sogenannten Löwengartens, in dem freilich
weibliche Würde weniger gilt, als Genuß und Vergnügen. Nicht
so in die Augen fallend, ohne Prätensionen und Coquetterie, aber
doch sehr anmuthig erschienen dagegen zwei junge Mädchen, welche
sich schräg einander gegenüber saßen und häufig liebevolle Blicke mit
einander wechselten: es waren dies Marianna Ricci, die Geliebte
Lorenzo's, und Elisa Seltikow, der Fürstin Pflegetochter; Beide Freun¬
dinnen. Wenn eines Theils die Ungebundenheit weiblicher Sitten
in Italien erst mit dem Eintritt in den Ehestand beginnt, so gehörte
ein so holdes züchtiges Mädchenbild', wie Marianna, dennoch
immer zu den Seltenheiten. Freilich war sie auch noch sehr jung,
nicht über siebzehn Jahre, und die Liebe zu Lorenzo hatte sie gleich
an der Grenze des kindlichen Alters als Palladium empfangen. Eli¬
sabeth Seltikow'S Lebensfrühling mußte sich schon zeitig mannichfachen
Stürmen beugen. Vater und einziger Bruder wurden in Folge
politischer Vergehungen nach Sibirien verbannt, als sie noch zu
-den Kindern zählte, und die kränkliche Mutter starb an diesen er¬
schütternden Ereignissen langsam dahin, ihre schutzlos zurückbleibende
Tochter der Mutter der Fürstin Mcmtini empfehlend, mit der sie in
gemeinschaftlicher Pension zu Moskau einst Jugendfreundschaft ge¬
schlossen hatte. In derselben Anstalt verlebte auch Elise einige Jahre,
großmüthig auch von der Fürstin unterstützt, nachdem diese selbst zur
Waise geworden, und später mit irgend einer günstigen Gelegenheit
zu ihr nach Italien geführt, wo es ihr vollkommen gelungen war,
sich die Liebe der theuern Wohlthäterin zu erringen.
Thomaso's Leidenschaft für sie, da ihn wohl frivolere Verbin¬
dungen gelockt, machte seinem Herzen alle Ehre, denn Elise besaß
mehr noch geistige Vorzüge als körperlichen Reiz, aber zu Beider
Glück konnte sie unter den obwaltenden Verhältnissen dennoch schwer¬
lich beitragen, im Gegentheil den sicheren Aufenthalt der so schutz¬
bedürftiger Jungfrau im fürstlich Mantinischm Palast nur gefährden.
— Sagen Sie mir doch, wer ist die Dame dort mit dem an-
dalusischen Auge? fragte, nachdem man vom Tische aufgestanden,
Don Heri, der Premierminister, einen italienischen mit allen Neuig¬
keiten und scandalösen vertrauten Kavalier, der ihm oft zu referiren
pflegte; sie scheint mir gewaltig auf die Eroberung meines Neffen
Thomaso auszugehen.
— Kennen Ercellenza die Marquise von Villa Garcia noch
nicht? entgegnete der Berichterstatter erstaunt; die, seit sie in Florenz
anwesend ist, unserer ganzen Männerwelt den Kopf verrückt?
— El, el, und hier faßte Don Heri — von welchem übrigens
wohl vermuthet werden kann, daß er sich in obiger Art nach Jemand
erkundigte, der ihm bereits nicht mehr fremd war — scherzhaft an
seine Stirn, ich will nicht hoffen! Schön und lebhast aber ist die
Dame, wissen Sie nichts Näheres von ihr? — Vorerst, erwiederte
der Cavalier sehr froh, daß er die Wißbegier Sr. Ercellenz in et¬
was befriedigen konnte, muß ich mein Erstaunen über Don Heri's
Scharfsinn ausdrücken; andalusische Augen, wie treffend und wahr,
da die Besitzerin derselben in der That Spanierin ist. Vor einigen
Jahren sah ich sie zuerst in Paris, da war sie noch bei weitem
schöner und — sehr galant; ja, waS mehr sagen will, man mur¬
melte davon, daß sie mit ihren Gunstbezeigungen stets politische
Personen zu beglücken strebe! Ihr Gatte soll in Spanien irgend
einen ministeriellen Posten haben und die reizende Hälfte gern auf
Reisen schicken, weil er ein Freund von Neuigkeiten ist. Ha, ha, ha,
Ercellenza verstehen! Hier hat sie auch noch ein ganz junges Mäd¬
chen bei sich, welches sie für die Tochter ihres Mannes ausgibt; es
ist eine schlaue und gewandte Dame. , Don Thomaso mag sich in
Acht nehmen. — Und jene dort in der auffallend prächtigen Toilette,
nahm Don Heri darauf wieder das Wort, ohne anscheinend auf das
Vorhergehende Wichtigkeit zu legen, die so entsetzlich schwätzt und
lacht und Lorenzo nicht los läßt, die muß auch eine Ausländerin sein.
Fürst Thomas hat ja heute die halbe Fremdenwelt geladen.
— Das ist die Gräfin P . . aus Wien, von der man sich
gleichfalls merkwürdige Dinge erzählt. Nachdem sie geschieden und
lange die Geliebte des Fürsten T ... f, des Don Juan der Kai¬
serstadt, war, dieser aber sich endlich verheirathet und sie frei gegeben
hatte, läßt sie sich von einer somnambüle — denn sie ist abergläu¬
bisch, par «lossiis Jo marcliv — prophezeihen, daß sie in Italien ei¬
nem Prinzen begegnen würde, dessen Name mit P . . beginne und
mit einem i endige. Unverzüglich nimmt sie darauf Paß und eilt
nach Florenz. — Und wird doch nicht etwa meinen Neffen für den
Prinzen Pi nehmen? sagte Don Heri lachend, die Geschichte ist ko-
misch; worauf er sich leicht grüßend von seinem Nachbar beurlaubte
und weiter in den Saal vorschritt. Auf ein Wort, Thomasino! winkte
er diesem im Vorübergehen zu, hüte Dich vor der spanischen
Dame, die Dir sehr den Hof macht; denn eigentlich gilt ihre Zärt¬
lichkeit mir, dem Premierminister, der so glücklich ist, Dein Oheim
zu sein. — Don Heri, die Donna ist mir ganz gleichgiltig! —
Desto besser! — Ich verstehe nur nicht! — Daß es auch weibliche
Gouvernementsspione gibt, die unter so reizender Maske durch die
Welt ziehen? nun, so erfahre es und laß Dich in keine Politica mit
ihr ein. Der junge Mann verbeugte sich lächelnd, während sein
Blick an Clise Seltikow vorüberstreifte, die sich mit der holden Ma-
rianna zusammengefunden und in ein trauliches Gespräch vertieft
hatte.
Indem trat die Fürstin Martini herzu, — Don Heri, auf ein
Wort!
— Mit Vergnügen! und Beide traten in eine Fensternische.
— Hat Ihnen der Fürst schon gesagt, wie dringend sich die
Sachen wegen Rußland gestalten? — Ich weiß von Nichts. — Nun,
so hören Sie denn: Ich' werde hin müssen und zwar so bald als
möglich. Der Kaiser hat die Gesetze geschärft; bei Strafe der Güter-
Confiscation alle fünf Jahre eine Anwesenheit im Vaterlande! —
Das ist schlimm für Sie und für uns Alle! entgegnete Don Heri,
das Haupt wiegend, aber freilich, mußten sich doch sogar die Demi-
doff der Maßregel unterwerfen, obgleich sie mit dem Selbstherrscher
nahe verwandt. — Uebrigens ohne männlichen Schutz keines Falls.
— Ich dächte, Don Thomaso begleitete Sie, Fürstin! — Thomaso?
nein, nein, das geht nicht, eher noch Lorenzino. — Wie schön und
gut Marianna Ricci heute wieder ist. Haben Sie noch nichts Neues
ersonnen, Don Heri, um den Fürsten unseren Wünschen geneigt zu
machen? Ich fürchte, er steht wie ein Fels im Meer, doch soll noch
ein Mal versucht werden, ihn zu erweichen.
Neu Herzutretende machten eine Fortsetzung des Gesprächs für jetzt
unmöglich. Im Saale nebenan erscholl eine prachtvolle Concertmusik,
eine neue Komposition des Fürsten Poniatowsky, die er selbst diri-
girte. Alle Glieder dieser Familie sind mehr oder minder musikalisch,
ausgezeichnet im Gesang, und führen selbst öffentlich Opern auf, ein
Schauspiel, das in dieser Art auch noch nicht da gewesen. Die Re¬
denden verwandelten sich darauf in Hörende. Zwischen den schönen
Frauen und ihren Anbetern flogen jetzt mehr glühende Blicke als
Worte hin und her, und selbst das schüchterne Freundinnen-Paar,
Marianna Ricci und Cusa Seltikow, wagten es, von den harmoni¬
schen Tönen erregt, mit denjenigen, die ihr Herz besaßen, in der nur
für sie leserlichen Augensprache zu verkehren.
Sobald das Concert beendet war, entfernten sich die Gäste.
Don Herr aber folgte noch zuvor dem Fürsten Thomas in sein Ca-
binet, wo anfangs über die nicht mehr aufzuschiebende Reise der Für¬
stin nach Rußland ein Breites hin und her gesprochen wurde, bis
endlich der Minister auch noch die Gelegenheit wahrnahm, hinsichtlich
Lorenzo's Liebe ein günstiges Wort einfließen zu lassen. Doch blieb
dies, wie jedes frühere, vergebens; ja, der Fürst wies die brüderliche
Vermittelung in einer Weise zurück, daß, wäre nicht Don Heri von
jeher an Nachgeben gewöhnt gewesen, unfehlbar eine Entzweiung
Beider hätte folgen müssen. — Mein Sohn ist majorenn, war des
Fürsten letztes Wort, er kann Heimchen, wen er will, auch ohne meine
Einwilligung; nur auf meine Unterstützung darf er alsdann auch nicht
in« Entferntesten rechnen. Und nun verschone man mich mit ferneren
Einmischungen. In der That aber war er das seltsamste Gemisch.
Auf der einen Seite eigensinnige Vornehmheit, die sich, wie Don
Ranudo de Colibrados, ohne den Anforderungen der Gegenwart
auch nur das mindeste Zugeständniß zu machen, an die gute alte
Zeit der Adelsaristokratie lehnte, während doch aus der anderen dem
modernen Götzen Geld der größte Weihrauch gestreut wurde. Freilich
bildete er sich und Anderen ein, Letzteres nur als Relief des Glan¬
zes seines Hauses zu lieben, aber beim Lichte besehen, hätte doch die
Zärtlichkeit für den Mammon wohl noch die zu den Ahnen überwo¬
gen. In jedem Conflict wenigstens zeigte sie sich bis jetzt siegreich und
spielte so Demjenigen, der die ganze vergangene Standesherrlichkeit in
sich zu repräsentiren wähnte, mit ihrer Herrschaft einen rechten Possen.
Als die Fürstin nach dem anstrengenden Tage endlich sich allein
fand, die lästige Toilette abwerfen und ihrer Bequemlichkeit leben
konnte, hätte sie sich, für den Augenblick wenigstens, glücklich gefühlt,
wenn nicht die Liebesgeschichte Thomasino's mit Elisa Seltikow ihr
noch schwerer als die lästige Kleiderpracht auf dem Herzen gelegen.
Es war dies die Zeit, in welcher sie vor dem Schlafengehen immer
noch eine Stunde mit dem jungen Mädchen verplauderte, oder sich
von ihr vorlesen ließ, und ehe sie noch mit sich einig war. ob sie
heute nicht lieber diese Gewohnheit umgehen sollte, öffnete sich schon
die Thüre und mit der Frage: darf ich? stand die sonst immer so
sehr Willkommene auf der Schwelle. Nun war die von beiden Sei¬
ten gefürchtete Unterredung nicht mehr zu vermeiden. Seufzend trock¬
nete sich die Fürstin die immer noch perlende Stirne, trotzdem daß sie
sich des Perlengeschmcideö bereits entledigt, und ließ sich in einen
Sessel nieder, die schüchtern Nahende zu sich heranwinkend, worauf
die Strafpredigt begann, von der Aermsten, der sie galt, schweigend
und mit Thränen hingenommen. — Ich sehe Alles ein, meine theuerste
Fürstin und Wohlthäterin, entgegnete sie endlich auf die wiederholte
Schlußfrage der Dame: Habe ich nicht Recht? und würde meinerseits
auch sogleich und unbedingt entsagen, wenn ich nur nicht fürchten
müßte, Don Thomaso dadurch für immer unglücklich zu machen! —
Bah, mein Kind! welche romantische Ideen! rief hier die Fürstin fast
lachend, kennst Du denn unsere junge Männerwelt noch so wenig?
Du bist nicht seine erste Liebe und wirst nicht seine letzte sein) darum
mache Dir keine Sorgen!
Das war freilich ein schlechter Trost für ein Herz, dem Liebe
und Ewigkeit noch eins galt, was aber blieb der armen abhängigen
Elise anders übrig, als Alles, was verlangt wurde, zu versprechen?
Zwar hatte sie anfangs, gleich Don Thomaso, sich mit der Hoffnung
geschmeichelt, es werde der Fürstin ein Leichtes sein, über einen ge¬
ringen Theil ihrer Einkünfte zu Gunsten derer, die sie liebte, zu ver¬
fügen, und so ihre Verbindung möglich zu machen, doch mußte sie
jetzt, nach dem, was die sonst immer so gern wohlthätige Frau ihr
über ihre Vermögensverhältnisse in Bezug zum Fürsten auseinander¬
setzte, leider das Gegentheil einsehen. Ohne diesen konnte Nichts ge¬
schehen. Und was ließ sich hier von ihm erwarten, da er für die
zahlreichen Vorbilder hinsichtlich Lorenzo's und Marianna Ricci's
gänzlich taub blieb? — Du hast mich so schon oft weinen sehen in
diesem herrlichen Palaste, sagte zuletzt noch die Fürstin; glaube
mir, bracht' ich diese Sache zur Sprache, wäre es ganz um meine
Ruhe geschehen!
Als ein wundervolles Pleorama entfaltet sich die Stadt. Hier
kommt ein Felsenrücken hervor, mit Gebäuden bedeckt; dort sieht man
eine Thurmspitze, noch eine, und ein zweiter Stadttheil rollt sich mit
seinen schneeweißen Kirchen und Häusern amphitheatralisch auf. Zwi¬
schen beiden fluthet die See, doch die Jnselberge rücken auseinander,
tiefer wird die Bucht, und im Hintergrunde baut es sich von Neuem
licht und schön empor — eine dritte Stadt. Hier und drüben, vor
und hinter uns, überall terrassenförmige Berge und darauf die Me¬
tropole von Schweden hingelagert. Groß, prächtig und malerisch ist
der Anblick; das viele Wasser gibt ihm Durchsichtigkeit, der breite
Mastenwald bringt Leben in das Bild.
Wir legten an und mußten beinahe noch ein Stündchen auf die
Zollbeamten warten, die unsere Sachen visitiren sollten. Draußen
am Quai stand, trotz des frühen Morgens, schon ein großer Kreis
von Leuten, befreundete Passagiere zu empfangen, die auf dem Svi-
thiod mitgekommen waren. Liebesgrüße flogen hin und zurück —
endlich sank die trennende Barriere, und viele von unseren Gefährten
eilten hastig treuen Armen entgegen. Mich erwartete in der weiten
Stadt Niemand. Ich war hier fremd, verlassen . . . dies schmerzliche
Gefühl drängte sich mir unabweisbar auf. So lange man zur See
ist, merkt man davon Nichts, denn dort bilden alle Reisenden eine ein¬
zige Familie; das große tiefe Meer ist ihr gemeinsames Vaterland.
Aber wenn man das Ufer erreicht hat, wenn den Einheimischen liebe
Angehörige entgcgenjauchzen, dann wird jene Empfindung des Fremde
seins so mächtig, daß man sich ihrer nicht erwehren kann.
Die Schweden vergaßen mich jedoch selbst in der Freude nicht;
von allen Seiten tönten mir gastliche Einladungen in'S Ohr, ich
nahm Abschied und wollte gehen. Da fiel mein Blick auf Maria.
Sie sah todtenblaß aus, man horte es dem Athem an, wie heftig
ihr Herz schlug, und sie konnte sich kaum aufrecht erhalten. Auch ihr
war kein Befreundeter entgegengekommen; ein Arbeitsmann trug ihr
kleines Gepäck, und so wollte sie zu den schwer beleidigten Eltern,
wollte sie um Wiederaufnahme bitten. Ich drückte ihr theilnehmend
die Hand zum Lebewohl, und eine Thräne glänzte in Maria's blauem
Auge. Dann ging sie links, ich rechts über den Hafendamm.
Wenn ich nun den Versuch mache, meinem freundlichen Leser
Stockholm's Bild zu zeichnen, so möge er kein breites Panorama,
sondern nur eine leicht hingeworfene Skizze erwarten. — In jenen Tagen,
auf welche die Sonne der Geschichte wenige einzelne Strahlen durch
die grauen Nebelwolken wirft, hatte der Mälar einen doppelten Aus¬
fluß in die See und formte dabei eine Insel, welche später den Na¬
men „Stockholm" erhielt. Sand- und Felsenboden ragten in der
Runde empor, von dichten Baumgruppen umwachsen. Es war das
ein Aufenthalt, wie ihn Seeräuber nur wünschen können, denn nahte
vom Meere ein Schiff, so bogen sie wie ein Sturmwind hinter den
Felsenecken hervor, plünderten es und waren eben so schnell wieder
im undurchdringlichen Labyrinth der Scheeren verschwunden.
Wo der Stocksund zum ersten Male genannt wird, das ist eine
interessante Historie, vie erzählt werden muß. Zu Upsala wohnte
König Agne, aus dem Fürstenstamme der Ynglingar. Er war ein
tapferer Mann, mochte nicht müßig daheim sitzen, sondern lag be¬
ständig zur See, die kühnsten Wikingerzüge unternehmend. Einmal,
im Sommer, fuhr er zu den Finnen, verheerte ihr Land, erschlug den
König Froste und nahm dessen schöne Tochter, welche Skjalf hieß,
als gute Beute mit nach Haus. Bei Stocksund landet- er, um dort
im grünen Walde seine Hochzeit mit Skjalf zu feiern, und auf ihre
Bitte bewilligte er, daß an dem Festtage zugleich das Graböl für
ihren Vater getrunken wurde. König Agne trug eine prächtige Hals-
kette von Gold. Ein Ahnherr hatte seiner Gattin dieselbe einst zum
Geschenk versprochen, doch er verstieß sie und behielt die Heiraths-
gäbe zurück. Nun legte ein Zauberweib den Fluch darauf: die Gold¬
kette solle der Tod des mächtigsten Ynglingers werden. Und sie wurde
es, denn Skjalf war eine kühne Frau. Agne hatte beim Graböl zu
viel getrunken, und als er sich im Zelt zum Schlafen niederlegte, da
sagte Skjalf: er möge die Kette wohl hüten, daß er sie nicht ver¬
liere, und schlang sie ihm fest um den Hals. Bald hüllten Rausch
und Schlaf des Königs Sinne ein, da stand seine Gemahlin auf,
schlang ein Seil durch die Kette und über die Aeste eines Baumes.
Sie rief leise ihre Finnen herbei; diese halsen ihr den König Agne
emporziehen, und sie erhängte ihn dort. Dann schlichen sie alle zu
den Schiffen und segelten in die Heimath zurück.
^ Seit dieser Zeit hieß die Landspitze, auf der dies stattgefunden,
Agnefit. Sturlason erzählt den Vorfall, und er gäbe keinen üblen
Stoff zu einer Franenemancipationsnovclle, weshalb wir ihn hiermit
unseren Tendenz-Schriftstellerinnen bestens empfehlen wollen.
Um'S Jahr 1188 machten die Esthländer, die noch wilde Hei¬
den waren, einen Raubzug durch den Mälar und zerstörten Sigtune.
Die vertriebenen Bewohner des Ortes füllten einen hohlen Stock mit
Gold, warfen ihn in die See und folgten ihm. Er blieb haften an
einem Holm, deshalb ließen sie sich dort nieder und nannten die
Ansiedelung „Stockholm". Birger Jarl, der treffliche Fürst, erkannte
mit klugem Auge die Bedeutung des Platzes, er umbaute ihn also
mit Mauern und Thürmen und wählte ihn zu seiner Residenz. Die
Wikinger wurden verjagt, und Stockholm blühte nach und nach zu
seiner jetzigen Macht und Größe empor.
Da liegt sie nun um uns her, die grandiose Stadt; eine kühne
Zusammenstellung von Felsgebirgen, Residenz und Meer. Bergauf,
bergab klettern die Straßen; unten bespült das Wasser die Hafen¬
damme; Brücken führen zum anderen Stadttheile hinüber, und noch
weiter drüben zeigt sich der Thiergarten, dieser weite Naturpark mit
seinen Granitblöcken und Eichen, zwischen denen die Sommerhäuser
der Stockholmer liegen. Frisches nordisches Grün blickt überhaupt
von allen Seiten herein, streckt und reckt sich aus allen Winkeln und
Ecken hervor. Das macht, man hat die Natur hier nicht vertilgt,
um eine Stadt anlegen zu können, sondern Stockholm ist so recht
in'S Freie hineingebaut.
Wenn wir einen Spaziergang durch die schwedische Residenz
unternehmen, werden wir jedenfalls vom Schlosse ausgehen, denn
wie Delphi bei den Griechen ein Mittelpunkt der Erde war, eben so
ist dies der Mittelpunkt von Stockholm. Von welcher Gegend man
auch kommen mqg, überall bebt es sich groß, schon und gewaltig em¬
por, den Compaß bildend, der den Fremden in diesem Straßenlaby¬
rinth führt. Graf Nikodemus Tessin, gewiß ein kräftiger Geist, hat
den Plan dazu entworfen, und unter Karl XII. begann der Bau.
Nach Osten kehrt es dem Hafen seine breiten Flügel zu und schaut
hoch auf das Gewühl der Schiffe hinab. Des Prachtbaus südliche
Fa?abe steht in reinster Kunstvollendung, und, mit herrlichen Tro¬
phäen geschmückt, berührt sie ein Bergplateau, worauf sich ein Ode^-
list erhebt. Auch die westliche Fronte ist nicht ohne architektonische"
Schönheit, ihr Anblick wird nur verkümmert, weil es an Raum ge¬
bricht, doch gegen Norden tritt das Schloß wieder in überwiegender
Freiheit empor. Von hier senkt sich, in colossalen Formen aus ge¬
hauenen Granit erbaut, eine Rampe hinunter und sie wird Lejom-
backe, der Löwenberg, genannt, weil zwei erzene Riesenlöwen aus der¬
selben ruhen.
Folgen wir dem prachtvollen Wege, so mündet er in eine kühne
Quaderbrücke aus, welche den breiten Arm des Mälar überwölbt.
Zur Linken ist sie mit Bazars eingefaßt, während zur Rechten der
Blick frei über Stadt, Landschaft und See hinausfliegt. Unter der
Brücke liegt ein elegantes Kaffeehaus, das Strom-Parterre, von dem
sich eine kleine Insel mit hohen schattigen Baumpartien in die Fluch
erstreckt. Hier lustwandeln die Stockholmer Schönheiten gern, trin¬
ken Kaffee oder Sodawasser und erwarten das kleine Dampfboot,
welches zu festen Stunden anlangt, um nach dem Thiergarten zu
fahren.
Drüben, den Gustav-Aoolphs-Markt, säumen zwei Gebäude ein,
die in der Architectur durchaus übereinstimmend sind, ohne daßj man ih¬
nen jedoch eine edle Ausführung nachrühmen kann.- Links liegt der
crbprinzliche Palast und rechts das Opernhaus mit der Inschrift:
„?!>trÜ8 Nusis."
Gustqv der Dritte hat es erbaut und wurde darin von An-
karström's meuchlerischer Kugel getroffen. Ost stand ich vor demsel¬
ben still, das Schicksal dieses Fürsten überdenkend. Er war ein mun-
derer, kluger Knabe, und ihn erzog der jüngere Graf Tessin, ein
wahrhaft braver Mann, dem unser Wieland in, „Agathon" das eh-
rendste Denkmal errichtet hat. Gustav besaß feuriges Blut, ein wei¬
ches Gemüth und war sinnlich durch und durch. Als er zur Negie¬
rung kam, fand er ein entkräftetes Reich, die Parteien der Hüte und
der Mützen standen sich gegenüber, Bürgerkrieg drohte, und nicht der
König hatte die Gewalt, sondern der Adel. Gustav aber brach seine
Macht und das brachte ihm tödtliche, unversöhnliche Feinde, denn
ein Bürger kann Beleidigungen wohl vergessen, ein Aristokrat aber
nie. —
Nun entfaltete sich an seinem Hofe die üppigste Pracht. Er
pflegte die Künste mit freier weicher Hand; Alles, was Geist, Kunst,
Liebenswürdigkeit und Laune besaß, sammelte er um sich, und aus
diesem seltenen Kreise ragte Gustav hoch und stolz empor. Meister
in allen ritterlichen Uebungen, war er zugleich ein trefflicher Redner,
dichtete Trauerspiele, und sprühender Witz schwebte auf seinen Lippen.
Man erzählt noch viele überraschende Impromptus von ihm, und
ein Pröbchen wird deren Geist am besten schildern. — Die Gattin
des Landeshauptmanns Schröderhcim hatte Gustav's Pläne zu durch¬
kreuzen gesucht; sie wußte auch, daß er ihr deßhalb nicht gewogen
war, und wollte einen Schritt zur Versöhnung thun. Als der König
eines Tages nach Stockholm zurückkehrte, veranstaltete sie ihm den
feierlichsten Empfang. Des Hofes Damen, welche eben nicht im
Rufe besonderer Sitte und Tugend standen, waren in Amazonenklei¬
dung zu Pferde und an ihrer Spitze paradirte die Schröderheim.
Bei Gustav's Erscheinen wollte sie eine EmpfangSrede halten und
begann mit den Worten: Majestät! Wir Alle sind ausgeritten —
— Ja, ja! Das weiß ich! rief der König, ließ sie gar nicht
ausreden und ritt vorbei.
Trotz des ungezügelten Wesens und trotz der Ueppigkeit des
Hoflebens vergaß Gustav sein Volk nicht. Er reiste durch's Land,
sah selbst und'half, wo es Noth that. Künste und Wissenschaften
blühten, wie der Norden sie noch nie gekannt hatte. Aber heimlich
unterminirte der Adel, und als zufällig Hungersnoth in Schweden
ausbrach, da murrte das Volk, da drohte die Aristokratie mit einer
Schilderhebung. Auch Krieg kam noch dazu, die Lage Schwedens
war bedrängt, und Gustav hätte wohl fühlen sollen, was dein Reiche
allein zum Frommen, was ihn, allein zur Stütze dienen konnte. Statt
dessen griff er übermüthig in die rollenden Speichen der Zeit und
wollte den Gang der französischen Revolution hemmen. Nun war
er zum Verderben reif, doch nicht von Seiten der Volkspartei, gegen
die er sich gewendet, sondern vom Adel kam ihm der Tod.
Am Abend des 16. März 1792 glänzten die Fenster des Opern¬
hauses hell, Trompeten schmetterten drin — es gab einen Masken--
halt. Der König war von anonymer Hand gewarnt worden, aber
das galt ja persönlichen Muth, und Gustav bat sich nie gefürchtet.
Gegen Mitternacht betrat er, am Arm seines treuen Stallmeisters,
des Grafen Essen, im schwarzen Domino den Saal. Augenblicklich
erkannte man ihn, ein Gedränge entstand und Masken umringten
den König. Die eine rührte feine Schulter an, sie wollte sich über¬
zeugen , daß unter dem seidenen Gewände kein Harnisch verborgen
sei, und flüsterte dann: Gute Nacht, schöne Maske! —Gustav wurde
unruhig und wollte sich zurückziehen. Da fiel ein Schuß. ^« suis
Liess«! rief der König und sank in Essen's Arm. Es stürmte plötz¬
lich ein Geschrei: „Feuer! Feuer!" durch den Saal und Alles drängte
sich den Thüren zu. Aber man schloß dieselben und Niemand kam
hinaus, ohne dem Polizeiminister seinen Namen genannt zu haben.
Nachdem der König verbunden war, wurde er auf einer Bahre in's
Schloß gebracht, und wie der Zug, von Trabanten und Fackelträgern
begleitet, den Löwenberg hinanstieg, sagte der Verwundete lächelnd
zu seinem Arzte: Ich muß dem heiligen Vater ähnlich sein, denn ich
werde ja in Prozession getragen.
Vierzehn Tage später starb König Gustav und bat auf dein
Todtenbette, man möchte seinen Mörder begnadigen. Doch Ankarström
hatte das Verbrechen eingestanden und er blutete auf dem Schaf-
fot Schmach über ihn, er war ein Meuchelmörder! Wie viel eS
auch Häßliches gibt in der Welt, das Häßlichste ist der Mord. —
Vorbei! Vorbei!
Jenseits des Gustav-Adolphs-Marktes liegt der Nordermalm,
dort ziehen sich die längsten Straßen Stockholms hin und steigen zum
Theil am Bergrücken empor, wodurch schöne Perspectiven und Aus¬
sichten gewonnen werden. Namentlich zeichnet sich Drottning-Galan
aus, doch läßt sich hier so wenig, als von der Bauart Stockholms
im Allgemeinen etwas Lobendes sagen. Die Privathäuser sind flach,
kahl, unschön. Ihre weißen Fronten sehen völlig rasirt aus, denn
die Fenster springen bis an die äußerste Fronte vor und kein Ge¬
bäude besitzt architektonische Zierden, auf denen das Auge ausruhen
kann. Man will eben nur zum Nutzen bauen, Ebenmaß und Ge¬
schmack bleiben dabei unberücksichtigt, und der Stadt sehlt jede stei¬
nerne Poesie, denn überall sieht man, baar und blank, den nächsten
Zweck.- Findet sich wirklich zuweilen ein Haus, das den Ansprüchen
moderner Baukunst genügt, das große, helle Fenster, passende Gesimse
und Karniese hat, so mag man mit Sicherheit schließen, es sei von
Fremden, hauptsächlich von Deutschen errichtet worden. Die Woh¬
nungen der Schweden stehen immer in öder Nacktheit da, und sie
haben nichts Hervorragendes an der Facade, die eisernen Anker aus¬
genommen, wodurch die Balken verbunden sind.
Gehen wir nun vom Schlosse nach Westen aus, so führen uns
enge Straßen zum Nitterhausmarkt. Ernst und geheimnißvoll erhebt
sich hier das Ritterhaus, in welchem sich bei Reichstagen der Adel
versammelt. Zur Zeit Christinens gegründet, liegt eine strenge ari¬
stokratische Verschwiegenheit über dem Bau, der aus röthlichen Back¬
steinen bestellt, während eine Fülle grauer Flachsäulen und Orna¬
mente seine Facade bedeckt. Man sieht hinter den halb versteckten
Fensteraugen etwas lauern, und das dunkle, chinesisch ausgeschweifte
Metalldach sowohl, als die allegorischen Figuren auf dem Frontispice
passen zu dem Eindruck. Oben am Gesimse ziehen sich die goldenen
Buchstaben einer lateinischen Inschrift entlang, welche, nach schwedi¬
scher Vorliebe, aus Denksprüchen zusammengefügt ist. Zum Beispiel :
„t'rü'it'mein murus sacer, non 6eel<lit, nec pi-vnita-. — per labo-
i-of nur ad Iwnores. — (^ivium lortitlläo pi-keci^in»» reAni til>
wainentuin etc."
Vom Ritterhausmarkte geht man über eine Brücke und hat dann
die Ritterholmskirche vor sich. Sie ist alt, doch wurde sie so oft von
Blitz und Feuer berührt, daß ihre ursprüngliche Gestalt als unterge¬
gangen zu betrachten ist. Jetzt erscheint die Kirche als ein spitziges
Gebäude von Ziegelsteinen, und die vorspringenden Kapellen mit ih¬
ren kleinen, kupfergedeckten Thüren lassen keinen bestimmten Sept er¬
kennen. Im Jahre 1835 schlug ein Gewitter in den Thurm und eS
gab ein prachtvolles Schauspiel, als die Flammen ihn umzüngelten,
als die Glocken schmolzen, als er dunkelroth glühte und endlich nie-
Verbrach. Man hat jetzt einen hohen, gußeisernen Thurm darauf
gestülpt, und das war ein recht täppischer Einfall, denn derselbe sieht
wie eine große Nachtlampe aus. Allenfalls bringt er aus der Ferne,
wenn blauer Himmel das dunkle Eisenfiligran durchschimmert, etwas
Eigenthümliches in das Bild von Stockholm. Edel und großartig
ist die Gustav-Adolphs-Kapelle. Zwar litt auch sie von der Muth,
aber sie wurde untadelhaft restaurirt, und man bedauert nur, daß sie
so an die Kirche angeklebt steht. Sie hat eine reine, würdige Tem¬
pelform, welche selbst durch eingemischte Nococoschnörkel nicht verun¬
staltet wird, und auf freiem Platze müßte sie einen sehr guten Ein¬
druck machen.
Steigen wir von hier die in Felsen gesprengte Straße abwärts,
so kommen wir zum Gestade, wo die Dampfschiffe landen, und man
findet deren, dort wohl zwölf bis zwanzig an der Zahl. Ungefesselt
schweift der Blick über die glitzernde Fläche des Mälarsees und fliegt
in die grünen Buchten hinein, die ihn umgrenzen. Aber weiter kön¬
nen wir unseren Schritt nicht setzen und müssen deshalb zum Schlosse
hin, um den Spaziergang nach Süden zu unternehmen.
Auf dieser Seite gelangt man zuerst an die große „Kirche", von
der sich nichts Besonderes sagen läßt. Sie sieht eben wie eine Kirche
aus, doch kaum wie eine große. nahebei erhebt sich die Börse und
vor derselben liegt seur tumet, der große Markt, in welchen sich acht
Straßen münden. Hier hat das Stockholmer Blutbad stattgefunden.
Christian, der Tyrann, kam in's Land und wurde gekrönt, ob auch
die wahrhaft treuen Bürger vor den Tagen seiner Herrschaft zitter¬
ten. Was ließ sich von einem Monarchen hoffen, dessen vertrauteste
Rathgeberin die Holländerin Siegbrit war, die frühere Bier- und
Branntweinverkäuferin — ein Weib, halb Wollust und halb Fett.
Vier Tage nach der prächtigen Krönungsfeierlichkeit, am 8. Novem¬
ber 1520, schloß man die Thore Stockholms und gebot den Bewoh¬
nern unter Trompetenschall, ihre Häuser nicht zu verlassen. Dann
öffnete sich der Palast und vierundneunzig der besten Männer Schwe¬
dens kamen heraus. Draußen wartete der Henker, ihre Köpfe fielen,
und Christian stand wohlgefällig am Fenster, das blutige Schnitter¬
fest mit anzusehen. Man nahm die Leichen nicht fort, ein heftiger
Regen goß vom Himmel herab und spülte das Pflaster ab. Bis zu
der unterm Stadt flössen die rothen Ströme nieder und brachten den
Bürgern Borschaft von der entsetzlichen That.
Einst standen auf diesem Platze auch Deutsche den Schweden
gegenüber. Das war zu Ende des vierzehnten Jahrhunderts. Wäh¬
rend Albrecht von Mecklenburg die Krone trug, hatten die Hanse¬
städte sich weit in den Norden vorgedrängt und viele Deutsche leb¬
ten in Stockholm. Sie waren voll Uebermuth und achteten nicht
Gesetz noch Recht, wo es ihre Handelsvortheile galt. Die Hätte-
brüder — so nannte man sie — tobten Nachts mit Waffen durch
die Stadt. Fragte Einer: „Was gibt's da?" so antworteten sie,
ohne den Fiesko gelesen zu haben: „Deutsche Hiebe!" und schlugen
plump drauf los. Zuletzt trieben sie den Unfug gar zu arg, und
als Bertil Brun, ein Schwede, zornig darüber sprach, wurde er von
einem Hofmann halbtodt geprügelt und in den Thurm gesperrt.
Jetzt klang die Sturmglocke durch Stockholm, beide Parteien
wälzten sich in dichten Haufen nach dem großen Markte, und eS
schien offenen Kampf geben zu sollen. Aber die Hättebrüder sahen
wohl ein, daß sie es mit der Uebermacht nicht aufnehmen konnten;
sie gaben Bertil Brun los, und da verlief sich der Tumult. Als
Grenerot, der Deutschen Anführer, trat nun vor den versammelten
Rath und klagte viele schuldlose Schweden der Meuterei und Ver¬
schwörung an. Dieselben wurden ergriffen und mit hölzernen Sä¬
gen gemartert, doch gestanden sie Nichts — weil sie Nichts wußten.
In der Nacht zum 12. Juni 139? kam Als Grenerot zum Schlo߬
hauptmann und bot ihm die Hälfte vom Eigenthum der sechzig Ge¬
fangenen, wenn er sie ausliefern wollte. Jener ging den Vorschlag
ein; man schleppte sie in einem Boote fort, warf sie in ein altes
Haus und zündete es an, daß sie drin verbrennen mußten. Spä¬
ter richteten die Deutschen zur Sühne zwei steinerne Säulen auf,
und damit war Alles abgethan.
Vivat das Mittelalter! Man kann die braven Leute wahrlich
nicht hoch genug verehren, die sich alle Mühe geben, es aufzufrischen
und zurückzuführen. Sie verdienen es wohl, daß man ihnen auf
gut mittelalterlich dafür dankte! —
Stockholms älteste Gebäude sind im deutschen Styl gehalten und
es finden sich im südlichen Stadtbezirk noch manche reichverzierte
Giebelhäuser, die uns eben so altväterisch als heimathlich anschauen.
Geht man vom großen Markt über die Schleusenbrücke, so kommt
man zu dem Södermalm, dessen Straßen bald über, bald durch
einander, an starren Felsrücken hinaufklettern. Sie sind mehr pitto¬
resk als bequem, und wir folgen ihnen jetzt noch nicht, sondern
wenden uns erst zur östlichen Seite Stockholms.
Aus den Wellen steigt dort ein steiler Hügel, der Schiffsholm,
empor; oben liegt einsam eine stille Kirche, unten stehen Arsenale
und Kasernen, und ringsumher ist Alles baumgrün und frisch. Vom
Schiffsholm führt eine flache Brücke zur Kastellinsel, die aus schrof¬
fen Felsen besteht; eine kleine, malerische Beste krönt ihre Stirn, das
Marincgeräth bewachend; zur Seite erhebt sich ein riesiger Krähn,
mit dem man die Masten der Seeschiffe aufrichtet, und Militärwa¬
chen marschiren stets hin und zurück. Hinter dem Eiland öffnet sich
wieder eine Bucht, und wenn man sie durchrudert, gelangt man
zum Thiergarten. Das ist ein Park, den die Natur selbst aus wil¬
den Felspartien, aus majestätischen Eichen und klaren Wasserspie¬
geln, die in schönen Linien neugierig vorspringen, gebildet hat. Tie¬
fer liegen Nosendal, Ulriksdal und Haga, königliche Lustschlösser, von
dunkler Waldeinsamkeit oder von Blumengeländern umschlossen, und
immer blitzt die See mit ihrer blauen Romantik durch.
Wollten die griechischen Künstler ein Land, eine Stadt, oder
einen Fluß in plastischer Gestaltung wiedergeben, dann fanden sie eS
gut — nachdem ihnen das Einzelne bekannt war — sich auch vom
höchsten Punkte den möglichsten Gesammtanblick des Stoffes zu ver¬
schaffen. Dadurch kam Wahrheit und Leben in ihre Statuen. Ihrem
Beispiele nachzuahmen, bitte ich den Leser, daß er mich nun zu der
südlichen Höhe, nach Mosebacke, begleite. Terrassenförmig stürmt
hier die Subr zu den Wolken, und wir müssen bald Holztreppen,
bald enge Gäßchen hinanklettern. Ueberall sehen wir auf dem Fels¬
boden Häuser und Gärtchen unordentlich durcheinandergewürfelt;
Alles ist wüst, regellos, schmutzig, eng, aber pittoresk. Wir kom^
men endlich zu dem Gipfel, wo der Telegraph seine dürren Arme
klappernd bewegt und wo ein Garten liegt, von dessen Altane man
eine wunderbar schöne Aussicht hat.
Zur Rechten öffnet sich die glitzernde Wasserstraße nach den
Scheeren zu, und daran schließen sich, halb nackt, halb bewaldet, die
Granitfelsen deö Thiergartens mit ihren Tabagien und Villen.
Dann tritt die regelmäßige Dachreihe des Arsenals hervor, das kleine,
trotzige Kastell, die runde, basilikenartige Schiffsholmkirche mit ihrer
Kuppel, und dahinter breite, leuchtend weiße Kasernengebäude. Eine
Laufbrücke, platt auf dem Wellenspiegel ruhend, geht von dort nach
dem Nordermalm, und links unter uns hebt sich aus der innern
Stadt das königliche Schloß, hell und hoch und compact, aber ohne
Schwerfälligkeit empor. Ringsum ragen Kirchthürme, verschieden an
Form und Färbung, aus dem Häuserwald, welcher sich an belaubte
Felsrücken lehnt. Und dazwischen ist viel Helles Wasser in stolzen
Krümmungen; gerade zu unsern Füßen führt eine Brücke über dasselbe,
daneben sind ungeheure Eisenmassen aufgestapelt, geschäftig eilen die
Arbeiter dort umher, und bis zu uns tont das Klirren der geworfe¬
nen Stangen. Ein bretterner Gemüsemarkt schwimmt im Halbrund
auf den Wogen, er ist bunt mit Mädchen und Frauen vollgedrängt,
und rings haben Boote angelegt, in denen die grüne Waare feil¬
geboten wird. Zahllose Schiffe, groß und klein, kommen und segeln
ab, die Stadt mit Kanonenschüssen grüßend, und sie vollenden das
herrliche Bild.
Da singen plötzlich auf der deutschen Kirche des Glockenspieles
fromme Klänge durch die blaue Luft. Es ist das einzige in Schwe¬
den, und nach einer alten königlichen Erlaubniß darf „bei frohen
und traurigen Fällen" damit geläutet werden. Also war wohl einem
reichen Bürger der ersehnte Erbe seines Namens und seiner Güter
geboren, oder zwei Leute reichten sich mit stürmischen Hoffnungen
von Glück die Hand am Altare, oder es hatte sich ein Auge ge¬
schlossen, um die Sonne nie mehr strahlen zu sehen. Und doch lag
sie eben so goldig hell auf der schönen Landschaft; nur zuweilen flo¬
gen einzelne Wolkenschatten darüber hin.
Alexander Dumas ist ein schon ziemlich abgenutzter Name, ob¬
gleich er kaum zwölf Jahre der Unsterblichkeit zählt. Dennoch hal¬
ten wir ihn für bestimmt, fortzuleben, wenn nicht wegen seines innern
Werthes, so doch als Typus einer merkwürdigen Periode in der Ge¬
schichte des französischen Dramas. Die literarischen Revolutionen
sind unzertrennlich von den socialen, aber sie finden nicht zugleich mit
den letztem statt. Wenn die einen vollendet sind, fangen die andern
an, und vorzugsweise auf der Bühne zeigt sich die Umgestaltung des
socialen Zustandes eines Volks, so weit sie sich überhaupt durch die
Literatur verräth, am energischsten.
Wie aber die neue Gesellschaft, ehe sie die ihr passende Form
findet, eine Reihe ungeordneter Bewegungen durchzumachen hat, so
erleidet auch die Literatur, ehe sie sich mit dieser neuen Gesellschaft
in Einklang bringt, eine ähnliche revolutionäre Krisis und gelangt
nur zur Bildung einer, der gesellschaftlichen entsprechenden literarischen
Freiheit, indem sie den Weg dahin durch die vollkommenste Anar¬
chie suchen muß.
Darum ist auch die literarische oder, um uns auf die Bühne zu
beschränken, die dramatische Revolution, die in Frankreich in den
letzten Zeiten der Restauration begonnen hat, in ihrer Entwickelung
nicht ohne Analogie mit der 1789 begonnenen socialen Revolution
geblieben.
Von 1820 bis 1828 zeigte sich das Bedürfniß dramatischer
Neuerung mehr und mehr; man wünschte, man suchte und versuchte
neue Combinationen. Das Szepter Racine's und Corneille's war
den Händen der Dramatiker der Kaiserzeit entsunken und flößte
nicht mehr Achtung ein, als ehemals das Szepter Ludwigs XIV.
in der schwachen Hand Ludwig's XVI.; aber wenn man die Tradi-
lion verjüngen will, will man doch nicht ganz mit ihr brechen.
Lemercier, Lebrun, Delavigne und einige Andere vertreten die ver¬
schiedenen Stufen dieser ersten revolutionären Periode, die als das
Jahr 1789 der Bühne betrachtet werden kann. Ende 1829 fing
die Girondisten- und Bergpartei des Theaters schon an, über die
Partei der Constituante zu siegen. Vitet hatte seine 8etre8 liisto-
ri^ues, Merrimee sein l^nviUrv <le l^Iiu-k <Z-»ilI geschrieben. Alfred
de Mgny hatte den Othello Shakspeare's auf die Bühne gebracht;
Victor Hugo hatte Cromwell und Marion Delorme geschrieben und
bereitete Hcrnani vor; endlich hatte Alexander Dumas seinen Henri Hi.
auf der Bühne gesehen.
Die Julitage erschienen, und mit diesem letzten Akte, diesem ge¬
mäßigten und friedlichen Schluß der großen politischen Revolution,
sängt die wildeste Periode der theatralischen Revolution an; der un¬
gebundenste dramatische Terrorismus pflanzt sein Banner inmitten
einer regelmäßigen, prosaischen, stillbürgerlichen Gesellschaft auf. Das
Theater wird wie mit einer blutigen Fluch von Ermordungen, Blut¬
schande, Ehebruch, Nothzucht, heimlichen Geburten überschwemmt, mit
dem Schaffst und dem Henker als Dvus ex «mcliina im Hinter¬
grund; das Ganze untermischt mit mittelalterlichen Masqueradcn und
Aufzügen mit einem Ueberfluß von Heroldsröcken, Harnischen, Eisen¬
handschuhen, Degen von Mailand, Dolchen von Toledo, vergifteten
Messern, Strickleitern und derlei dramatischen Bindfaden zum Zu¬
sammenhalten des lockern Gewebes mehr. Der Dialog war eine
Mischung von Trivialität und Schwulst, reicher an Worten als an
Gedanken, und überreichlich gewürzt mit rittermäßigen Flüchen: töte-
Dien! K/MA-Vieu! la mon vient DmimiUilin! Mlieilietion!
Dies war das 1793 des Theaters. Diese dramatische Periode um¬
faßt die sieben oder acht ersten Jahre nach der Julirevolution.
Während dieser ganzen Zeit schienen die Kunst und der Ge¬
danke ganz dem Haschen nach Gemüthsaufregung, hervorgebracht
durch materiellen Effect, und der groben Augenlust untergeordnet
M sein. Dieser dramatische Terrorismus hat mehrere Berührung^
punkte mit dem politischen, bei Beiden findet sich dieselbe ungestüme
und rohe Reaction gegen alle Ueberlieferung, gegen alle Regel, alle
Mäßigung, alle Keuschheit des Styls und der Erfindung, alle Ar¬
beit des Geistes und der Sprache. Bei Beiden handelt es sich dar-
um, den größten Effect mit den größten Mitteln hervorzubringen,
ohne auf die Wahl der Mittel, ach die Wahrheit oder die Dauer
des Effects zu sehen. Bei Beiden findet man endlich mit derselben
Neuerungswuth denselben Mangel an wirklicher Originalität ver¬
einigt; denn ebenso wie aus Haß gegen die ererbten Institutionen
die Revolutionäre von I793> Neues in einem Plagiat von Rom
oder Sparta suchten, schienen auch die dramatischen Revolutionäre von
1830 in ihrem Eifer der Reaction gegen die ceremoniösen Formen
deo Racine'schen Tragödie bereit, unter dem Vorwande des Fort¬
schritts die Bühne zu den Mysterien des 12. Jahrhunderts zurück¬
zuführen.
Diese revolutionäre Krisis des französischen Theaters hatte als
Hauptrepräsentanten zwei Männer, Wctor Hugo> und Alexander Du.
mas, von denen uns hier nur der Letztere beschäftigen soll, der, wenn
er auch als Dichter und Nomanschriftstellev weit unter Victor Hugo
steht, ihn nach unserer Meinung als Dramatiker übertrifft. Dumas
hatte vom Himmel einige Eigenschaften empfangerr, die sich nicht
anlernen lassen : eine glühende Phantasie,, eine unbestrittene Kraft
der Erfindung, der Anordnung, und vor Allem der theatralischen-
Darstellung, Gefühl für die Contraste und eine ziemlich genaue
Kenntniß gewisser Bewegungen des menschlichen Herzens; aber ihm
fehlten verschiedene kostbare Eigenschaften, die allein den andern
Kraft und Leben verleihen. Er hatte keinen Styl, der, ohne die wesent¬
lichste Eigenschaft eines Werkes zu sein, doch gewiß eine der wichtig¬
sten ist. Der Styl erlernt sich zwar bis zu einem gewissen Grade durch
Uebung; aber ihm fehlten vor Allem noch die wesentlichen Eigen¬
schaften der großen Anschauung, der Tiefe, der Wahrheit, des Maßes
und der Harmonie, welche sich nicht aus der künstlichen Gluth einer
fieberhaften Inspiration erzeugen, sondern in der eifrigen Arbeit des.
Gedankens, der sich bald auf sich selbst zurückzieht, bald hinausgeht,
um in dem Studium der Vergangenheit- und der Beobachtung der
Gegenwart sein eignes Maß, seine Stütz- und Vergleichungspunkte
zu finden. Mit einem Worte, Alerander Dumas hatte zwischen der
Reflnion und der Improvisation zu wählen;, er zog die Improvisa¬
tion vor und improvisirte ein Theater, wie man 1793. eine Regie-
rmrg improvisirte. Er glaubte mit einem Schubsack voll Verbrechen
von allen möglichen Farben und Großem, voll Dolchen, Schaffottm,
Truhen und Strickleitern jeder Größe, allen Forderungen des mensch¬
lichen Geistes und Herzens genügen zu können. Doch seinen Dra¬
men, wie allen Produktionen ähnlicher Art, ist es gegangen, wie eS
der Regierung von 179Z ging, deren Dauer natürlich im umgekehr¬
ten Verhältniß zu der Heftigkeit ihrer Schrecken stand. Nach dem
Ende der Schreckenszeit hatte die Gesellschaft des Directoriums selbst
die Revolution durch die Ausschweifungen der Revolutionäre verab¬
scheuen gelernt, und getrieben von diesem Abscheu, schien sie bereit,
vollkommen in den Zustand der Vergangenheit zurückzusinken, als der
Mann auftrat, der die alte Ordnung der Dinge mit der neuen ver¬
binden und die Revolution mit sich selbst versöhnen sollte.
In demselben Zustande befindet sich jetzt das Parterre von
1843; es ist des modernen Dramas müde, und in seinem
Ekel vor idem, was man vor zehn Jahren die starken Er¬
schütterungen nannte, findet es in den Meisterwerken des 17. Jahr¬
hunderts, die ihm durch die Vermittlung eines schönen Talentes vor
Augen treten, Anregungen, in denen das Herz nur eine beschränkte
Rolle spielt, und erwartet ein dramatisches Genie, einen Dictator,
welcher die Ueberlieferung mit der Neuerung verschmelzen und versöh¬
nen und aus dieser Vereinigung ein Drama hervorgehen lassen soll,
das den Ideen und Sitten der Zeit entspricht.
Da aber dieses unbekannte Genie, dieser Messias des französi¬
schen Dramas noch nicht erschienen ist und uns Stoff zu einer Bio¬
graphie gegeben hat, so wollen wir unterdessen die von Alexander
Dumas skizziren.
Die Begabung des Verfassers des Antonv ist ein Beweis mehr
gegen die Vorurtheile, welche noch über den Unterschied der wei¬
ßen und farbigen Race herrschen, denn Alexander Dumas ist nicht,
wie euphemistisch einige Biographen sagen, von creolischer, sondern
von halbbürtiger Race. Sein Vater war Mulatte, und wenn ich
nicht irre, von allen Farbigen der Erste, welcher den Grad eines
Generals in der französischen Armee erlangte. Der General Alexan¬
der Davy Dumas, natürlicher Sohn des Marquis de la Pailleterie
und einer Negerin, wurde auf der Insel Domingo zu Jeremie am
25. März 1762 geboren. Er trat 178K als gemeiner Dragoner in
französische Dienste. Einer glänzenden Waffenthat im Lager von
Maulde in den ersten Tagen der Revolution verdankte er ein Schrei-
KS Auskneten; er wurde nach einander Oberstlieutenant bei den Hu¬
saren, Brigadegeneral und 1793 Divisionsgeneral. Er war Ober¬
befehlshaber der Alpenarmee und zeichnete sich in Italien und im
ägyptischen Feldzuge aus. Auf einer wegen Krankheit nöthigen Rück¬
reise nach Frankreich in Gesellschaft mit dem berühmten Geologen
Dolomieu zwangen Stürme das Schiff, sich in den Hafen von Ta-
rent zu flüchten. Die neapolitanische Regierung warf hier den Ge¬
neral in's Gefängniß, wo während seiner zweijährigen Gefangenschaft
seine Wunden unheilbar wurden; nach seiner Freilassung mußte
er aus der Armee treten und zog sich in die kleine Stadt Villers-
Cotterets zurück, wo er nach langem Siechthum 1807 arm, ehrlich
und von der ganzen Armee wegen seines edlen Charakters und ritter¬
lichen Muthes bedauert starb. In dieser kleinen Stadt Villers-Cotte-
rets wurde am 24. Juli 1803 Alexander Dumas geboren.
Er hat uns mit der ihm eigenen Lebendigkeit selbst seine ersten
Lebensjahre erzählt. Seine Erziehung wurde sehr vernachlässigt; seine
Mutter, die ihn leidenschaftlich liebte, und deren einzige Hoffnung er
war, denn sie besaß kein Vermögen und hatte nur diesen Sohn und
zwei Töchter, wollte sich nie von ihm trennen. Der Pfarrer der klei¬
nen Stadt brachte ihm einige lateinische Brocken bei und lehrte ihn
französische I)vnd8.nach machen. In der Arithmetik bemühten sich
nach einander drei Schullehrer vergeblich, ihm die vier Species bei¬
zubringen. Dafür, fügt der Erzähler hinzu, besaß ich alle Vortheile
einer Erziehung in der Provinz, das heißt, ich ritt jedes Pferd, ging
zwölf Lieues zu Fuß, um auf einem Balle zu tanzen, konnte gleich
geschickt mit dem Degen und der Pistole umgehen, spielte Ball in
Se. George, und fehlte auf dreißig Schritte sehr selten einen Hasen
oder ein Rebhuhn.
Die bedrängte Lage seiner Mutter nöthigte ihn bald, selbst auf
sein Fortkommen zu denken, und er ging ohne Zögern mit dreiund¬
fünfzig Francs in der Tasche nach Paris, um dort die Unterstützung
der Freunde seines Vaters, des Herzogs von Belluno, der damals
Kriegsminister war, des Generals Sebastiani, Jourdan u. s. w. nach¬
zusuchen. Der junge Abenteurer aus VillerS-Cotterets stieg in einem
bescheidenen Gasthaus in der Straße Se. Germain l'Aurerrois ab,
überzeugt, wie er erzählt, daß die ganze Welt ein Garten voll gol¬
dener Blumen sei, und daß alle Thüren sich vor ihm öffnen würden.
Doch fand er bald, daß er sich darin getäuscht hatte; die alten Freunde
seines Vaters hatten diesen fast vergessen und interessirten sich sehr
wenig für ihn. Seine Prüfungen sollten jedoch weder länger dauern,
noch schwer sein; denn er hatte noch nicht Zeit gehabt, seine dreiund¬
fünfzig Francs zu verzehren, als er sich schon in dem Sekretariats-
bureau des Herzogs von Orleans mit einem jährlichen Gehalte von
zwölfhundert Francs angestellt sah. Er verdankte diesen unverhofften
Fund dem glücklichen Einfall, sich mit einem Empfehlungsbrief von
einem einflußreichen Wähler an den General Foy, den Deputaten
seines Departements, zu versehen. Anfangs war der General wegen
der mangelhaften Kenntnisse seines Schützlings sehr in Verlegenheit,
wie er für ihn sorgen sollte, aber einen Vorzug entdeckte er bei Du¬
mas, eine schöne Handschrift, und diese verschaffte ihm jenen kleinen
Posten. .et'Nil'-Kik hiumtD n-lttüDii? jul-'- .KL rinn hj'u
Kaum hatte der Jüngling seinen Posten angetreten, als er sich
eines Tages entschloß, die literarische Laufbahn einzuschlagen, und zu
diesem Zwecke seine Erziehung von vorne anfing.
Damals, erzählt er, begann der hartnäckige Kampf meines Wil¬
lens, um so seltsamer, da er kein festes Ziel hatte, um so ausdauern¬
der, da ich noch Alles zu lernen hatte. Am Tage stets acht Stunden
in meinem Bureau beschäftigt, genöthigt, jeden Abend noch von sieben
bis zehn Uhr daselbst zu arbeiten, blieben nur die Nächte für mich
übrig. Von diesen aufregenden Nachtwachen schreibt sich die noch
jetzt fortdauernde Gewohnheit her, des Nachts zu arbeiten; eine Ge¬
wohnheit, die meinen Freunden die Menge meiner Arbeiten unbegreif¬
lich macht, da sie nicht errathen können, zu welcher Zeit ich sie voll¬
bringe. Dieses eingezogene Leben, welches Aller Augen entging, dauerte
drei Jahre, ohne daß es zu einem Resultate führte, ohne daß ich
etwas producirte, selbst ohne daß ich das Bedürfniß zu produciren
fühlte. Ich verfolgte allerdings mit einiger Neugier daS Schicksal
der dramatischen Werke jener Zeit; da mich aber weder die dramati¬
sche Constructio», noch die dialogische Ausführung dieser Arbeiten
ansprach, so fühlte ich mich einfach unfähig, dergleichen hervorzubrin¬
gen, ohne zu ahnen, daß es noch ganz Anderes der Art gebe.
Um jene Zeit kamen die englischen Schauspieler in Paris an.
Ich hatte noch nie ein einziges nichtfranzösisches Drama gelesen. Sie
kündigten Hamlet an. Ich kannte nur den von Duciö: ich sollte
den Shakspeare sehen. — Man denke sich einen Blindgeborenen, dem
das Gesicht wiedergegeben wird, der eine ganze Welt entdeckt, von
der er noch keinen Begriff hatte; man denke sich einen Adam, der
nach seiner Erschaffung erwacht ... O, das war es, was ich
suchte . . . Shakspeare. ich danke Dir! —
Wir müssen hier erklären, daß sich Alerander Dumas hier mit
seiner eigenen Geschichte einige poetische Freiheiten nimmt. Dumas
sagt hier, daß er, der noch Nichts producirt hatte, sich plötz¬
lich zu einem Gefühl seines Berufes durch eine Art von Offenba¬
rung, die direct von Shakspeare ausging, ergriffen fühlte; das ist
fast dieselbe Geschichte, wie mit Achilles auf Scyros. Sie ist sehr
poetisch, aber nicht historisch-richtig. Als die englischen Schauspieler
in Paris ankamen und Hamlet spielten, hatte Dumas seine drama¬
tische Laufbahn bereits angetreten. Ehe er sich selbst durch Shak¬
speare offenbar wurde, war Dumas sich selbst schon durch Scribe
offenbar geworden; ehe er Hamlet spielen sah, hatte er Vaudevilles
spielen sehen und Vaudevilles verfaßt, und zwar unter einem falschen
Namen und in Gemeinschaft mit zwei geistreichen Freunden. Das
eine derselben, I^t Noe« «?t 1'Knterrvm«;ut hatte einigen Erfolg.
Nachdem er Vaudevilles hatte spielen sehen, sah er auch classische
Tragödien und schrieb auch eine classische Tragödie, Christine, die vom
tun^-us zwar angenommen, aber nicht aufgeführt wurde
und später nach dem Erfolg von Henri III. in ein romantisches
Drama umgeformt wurde.
Daß Dumas sich auf diese Weise als isolirt in der allgemeinen,
ihm vorausgehenden Bewegung literarischer Neuerung darzustellen
sucht, läßt sich begreifen, er wird dadurch größer; die dramatische
Revolution geht in ihm selbst vor und er stammt in gerader Linie
durch eine Art Offenbarung von Shakspeare selbst ab. Man braucht
aber nur das erste Ergebniß dieser Offenbarung, Henri III., mit
dem ersten beste«: Drama von Shakspeare zu vergleichen, um ohne
Mühe zu erkennen, daß, wenn der Schöpfer Hamlet's einigen An¬
theil an dem ersten revolurionären Versuch Dumas' hat, der Verfas¬
ser des Cromwell, der Verfasser der Se6ne8 blistoricjues, der Ver¬
fasser der Dramen der Clara Gazul, der Verfasser von Misanthro-
pie und Nepentir, und vor Allem Walter Scott wenigstens schon zum
poetischen Capital dieses jungen Dramatikers beigesteuert hatten? Noch
mehr, zwischen Shakspeare und dem Autor von Henri III. finde ich
keine andere Aehnlichkeit, als das gänzliche Lossagen von der classi¬
schen Regel der Einheiten. Shakspeare ist ein großer Dichter, ein
tiefer Denker, ein bewundernswerther Charakterzeichner; nun sind aber
der Idealismus, die Poesie, die Tiefe und die Wahrheit der Charak¬
terzeichnung gerade die schwachen Seiten des Dramas Henri III.
und überhaupt in allen Dramen von Dumas. Shakspeare dagegen
versteht sich nicht auf die Localfärbung und Sittenschilderung; er be¬
geht die gröbsten Anachronismen; seine Jnscenesetzung ist fehlerhaft;
die Gruppirung der verschiedenen Theile seines Werkes ist nichts
weniger als geschickt; die Handlung ist fast immer schleppend und
mit einer Menge Episoden und Nebenwerk überladen, wo sich die
Barbarei seiner Zeit und seines Publicums in obscönen Witzen und
faden Wortspielen zeigt. '
Wenn sich einige dieser Fehler, vorzüglich der übermäßige Ge¬
brauch von Episoden, in Henri III. und den übrigen Dramen Du¬
mas' zeigen, so muß man dagegen sagen, daß im Allgemeinen Shak-
speare's schwache Seite seine starke ist. Der Verfasser von Angela,
Antony und Terese, dem Jdealisirung, großartige Weltanschauung,
Tiefe der Gedanken mangelt, glänzt gerade durch sein Verständniß
der mehr materiellen Seite des Dramas, durch Geschicklichkeit der
Jnscenesetzung, das Interesse der Situationen, die ungestüme Schnel¬
ligkeit der Handlung. Nun kann aber Dumas diese Vorzüge nicht
dem Studium Shakspeare's verdanken, da der englische Dramatiker
sie nicht besitzt; er hat sie aus sich selbst genommen, und sie haben
sich in ihm entwickelt durch die Reihe von Einwirkungen, welche die
Bewegung des Geistes und der Literatur seiner Zeit auf ihn gemacht
hat.
Zu der Zeit, wo der jugendliche Secretär des Palais Royal
Vaudevilles und eine classische Tragödie schrieb, zeigte sich die ro¬
mantische Revolution offen, wenn nicht auf der Bühne, so doch in
den Büchern. Als Dumas sich ärgerte, daß seine classische Chri¬
stine in dem Portefeuille der Oomvlliv frau^ise liegen blieb, beschloß
er ein romantisches Drama zu schreiben, zu derselben Zeit, wo Vic¬
tor Hugo seine Marion Delorme veröffentlichte; daraus geht klar her¬
vor, daß eine Offenbarung von Shakspeare für ihn nicht nöthig war.
Selbst wenn man von den nicht dargestellten Dramen absieht, waren
schon mehrere Versuche der Neuerung auf die Bühne gekommen,
.time 8t>ore, Jo lüili «i'^nclillousie, I^amis XI. u l?6roimv und das
bürgerliche Drama, welches Scribe von Kotzebue endlich, hatte schon
kühnen Neuerungen den Weg gebahnt. Die bewundernswürdigen
Romane von Walter Scott, die durch alle Classen der Gesellschaft
verbreitet waren, hatten nicht wenig dazu beigetragen, dies Bedürf¬
niß historischer Wahrheit in der Kunst und dem Drama mehr und
mehr nothwendig zu machen. Damals war es, wo Dumas in sei¬
nem Bureau zufällig einen Band von Anquetil fand und darin die
Geschichte Heinrich's III. las. Daraus schöpfte er die Fäden zu sei¬
nem Drama, und in vier Monaten war es geschrieben, eingereicht,
angenommen, einstudirt und zum ersten Male am 10. Februar 1829
im l'tMti-v l>nu^is mit einem ungeheueren Erfolg gespielt.
Wenn man diese Thatsachen in Betracht zieht, wird es schwer,
die Phrasen und Reime Dumas' über die mühseligen Arbeiten seines
Noviziats zu begreifen. Viele der französischen Schriftsteller haben die
Schwäche, sich als Titanen, zerrissen durch die Erinnerung an ihre
Kämpfe gegen die Erde und den Himmel darzustellen. Diese Schwäche
ließ den wohlbeleibten Balzac sagen, er sei ein unzufriedenes und
vom Blitz des Schicksals zerschmettertes Wesen; derselben Schwäche zu
Gefallen hat wahrscheinlich eine freundliche Feder die Leiden Dumas'
mit den Arbeiten des Herkules verglichen. Welcher Mensch ist aber
besser von dem Publicum empfangen worden, als der Verfasser Hein¬
rich's III. ? Welche Lebensbahn hat weniger Mißgeschick, als die
Dumas' aufzuweisen? Er kommt aus seinem Dorfe in einem Alter
von zwanzig Jahren , mit dreiundfünfzig Francs in der Tasche, un¬
wissend und mit keinem anderen Vorzug als dem einer schönen Hand¬
schrift, nach Paris. Mit solchen Eigenschaften wären tausend An¬
dere Hungers gestorben; ihm verschafften sie am ersten Tage eine
Anstellung von zwölfhundert Francs. Dann, und darin zeigt er Muth
und wirkliches Ehrgefühl, faßt er den Entschluß, in einigen Jahren
Alles zu lernen, was er versäumt hat. Nach Verlauf von zwei Jah¬
ren wird sein Gehalt auf fünfzehnhundert Francs erhöht, und man
gibt ihm die Abende frei. Jetzt fällt es ihm ein, ein Trauerspiel zu
schreiben; als es geschrieben ist, will er es aufgeführt sehen; er wen¬
det sich an N odier, den er nicht im mindesten kennt, um ihn zu bit¬
ten, ihn an Taylor, den königlichen Commissär am ^IMtrv trau^is
zu empfehlen. Robler beeilt sich, dem Wunsche des jungen Mannes
zu entsprechen; Taylor empfängt ihn mit allem möglichen Wohlwol¬
len, hört sein Trauerspiel an, führt ihn vor das Lesecomitv, und das
Stück wird ohne Opposition angenommen. Es ist wahr, daß man
es nicht gleich am andern Tage spielt; wahr, daß seine Bemühun¬
gen, die Aufführung des Stückes zu betreiben, ihn in seinen Amts¬
pflichten hindern, und daß seine unzufriedenen Obern am Ende des
Jahres den ihm gewährten Zuschuß wieder entziehen. Dumas stellt
dieses Verfahren als abscheulich dar ; aber man wird zugeben müssen,
daß diese Beamten nicht verbunden waren, sein Talent zu ehren, und
daß sie nicht einen Dramaturgen, sondern einen fleißigen Arbeiter im
Bureau bedurften. Sei dem, wie ihm wolle, Dumas, als er sieht,
daß sich die Darstellung seiner Christine in die Länge zieht, entschließt
sich, Henri III. zu schreiben. Kaum ist das Stück eingereicht, so
wird es auch schon aufgeführt; der Herzog von Orleans miethet die
ganze erste Galerie, und in Begleitung eines ganzen Bataillons von
Prinzen, Prinzessinnen, Herzogen, Herzoginnen, Gesandten und Ge¬
neralen kommt er in's Theater, um selbst eine aristokratische Claque
zu Gunsten seines Secretärs zu organisiren. Am andern Morgen
sieht sich der bis dahin unbekannte Jüngling plötzlich in einen großen
Mann, in ein unsterbliches Genie verwandelt; Corneille und Racine
sinken vor ihm in den Schatten zurück. Henri III. bringt seinem Verfasser
dreißig tausend Francs ein. Von ganz Paris fetirt, fctirt Alexander
Dumas seinerseits ganz Paris wieder. Wie geblendet von dem plötz¬
lichen Uebergang aus der Dunkelheit, von hundert fünfundzwanzig
Francs monatlich zu dreißigtausend Francs, stürzt er sich in den aus¬
schweifendsten Lurus; er trägt phantastische, prachtvolle Kleider, gibt
sardanapalischc Diners, reitet eine große Menge Pferde zu Tode und
liebt eine große Menge Frauen.
Bis Hieher ist es unmöglich, in Alexander Dumas einen von
dem Schicksal grausam mißhandelten Menschen zu sehen.
Untersucht man aber das Werk, dem er seine Berühmtheit zu
verdanken hat, so wird man bald erkennen, daß Henri III. von weit
geringerem Werthe ist, als mehrere andere Werke desselben Autors,
und daß sein Hauptverdienst darin besteht, das erste seiner Art zu
sein. Die Intrigue ist schwach und von schlechter Verwicklung. Saint-
Megnn und die Herzogin von Guise lieben sich ohne Muth, es sich zu
sagen. Aus Haß gegen den Herzog von Guise verschafft ihnen Ka¬
tharina von Medicis eine Zusammenkunft bei dem Astrologen Rug-
gieri. Saint-Mvgrin erklärt seine Liebe; die Herzogin hört ihn an
und verschwindet dann, um dem Herzog Platz zu machen, der an¬
kommt, ein Taschentuch seiner Gattin findet, wieder nach Hause eilt,
die Herzogin zwingt — er droht ihr die Hand zu zerquetschen —
eine Einladung an Saint-Mvgrin zu einem Rendezvous in ihren
Zimmern im Palast Guise zu schreiben. Der getäuschte Liebhaber
eilt zum Rendezvous, und der Herzog läßt ihn ermorden. Das ist
die ganze Intrigue; sie verschwindet fast unter dem überreichlicher
Beiwerke und den Tableaur, die Henri III. und seinen Hof darstel¬
len. In seiner Freude, endlich einmal statt der ewigen Griechen und
Römer die Höflinge Henri's III. in Wams und t>init-av8-ekiui8«eil,
Bilboauet oder Sarbacane spielend und 8auA-I)im fluchend, zu se¬
hen, verzieh das Publicum gern die Armuth der Erfindung, die Lang¬
samkeit der Handlung, die pomphaften, trivialen, oder schleppenden
Dialoge, den Mangel an Festigkeit und Ausführung in der Zeich¬
nung der Charaktere. ES that noch mehr; das Stück hatte zwei
oder drei sehr dramatische Situationen, vorzüglich im dritten und im
fünften Act; das Publicum war entzückt davon, erklärte das Ganze
für erhaben und Dumas für den französischen Shakspeare.
Inmitten der Zerstreuungen seines jungen Glückes fand Dumas
keinen Muth, ein neues Werk zu schreiben; um das Publicum zu
befriedigen, kam er auf den Einfall, seine alte Tragödie Christine
nach dem Geschmack deö Tages umzuarbeiten. So wurde daraus
ein romantisches Drama, das er StocKIwIm, ^ootainedleitu et Kome
eine dramatische Trilogie nannte. Das Stück wurde im Odeon
am 30. März 1830 aufgeführt und hatte zweifelhaften Erfolg. Diese
Trilogie (in Versen) bietet einige schöne Scenen, einige Detailschön¬
heiten dar, aber man kann sich keine sinnlosere Lectüre denken; es ist
eine Zusammenstellung von einzelnen Theilen, denen es an Einheit,
an Bewegung und an Leben fehlt; außerdem sind mit wenigen Aus¬
nahmen die Verse hart und hölzern, ohne daß Gedankenreichthum den
Mangel der Form ersetzte.
Nach Christine brachte Dumas nach einander Antony (1831)
Teresa (1832), Richard d'Arlington und Angvle (1833) auf die
Bühne. Richard d'Arlington, das Dumas gemeinschaftlich mit
Dinaur schrieb, wollen wir hier übergehen, da es ein sehr mittel¬
mäßiges Stück ist.
Was die drei anderen Dramen betrifft, so sind sie, glauben wir,
die besten Werke von Dumas und der stärkste Beweis, den er je¬
mals von seiner Originalität gegeben hat. Befreit von dem histori¬
schen Raritätenkram, der seiner ungeschulten, aber lebendigen Prosa
etwas schleppendes und Schwülstiges gibt; befreit von dem Zwange
des Alexandriners, in dem sich seine Feder verwickelte und verlor, tritt
der Verfasser von Antony, Teresa und Angele in seiner wahren Ge¬
stalt, seinen wahren Vorzügen und Fehlen vor uns, mehr ungestüm
als energisch, mehr fieberhaft aufgeregt als glühend, mehr sinnlich als
leidenschaftlich, unbekannt mit den versteckten Geheimnissen des Her¬
zens, aber vertraut mit allen Launen des anderen Theiles der mensch¬
lichen Organisation, die so Nuistro das Thier nennt. Hingerissen
von seinem Materialismus, opfert Dumas das Ideale, welches er
mißkennt, ganz dem Realen auf, welches er übertreibt und fälscht;
den Geist den Sinnen, die Seele dem Körper; aber da der reine
und einfache Materialismus sehr wenig Poetisches hat, hüllt er ihn
in ein fremdes Gewand; er kleidet die sinnliche Wildheit in Leiden¬
schaft, den Egoismus in Hingebung, das Laster in Tugend, und je^
der dieser so costümirten Typen vertritt den Charakter deö Tages
mit der Schärfe der Wahrheit.
Man hat viel gegen die Jmmoralität des Dramas Antony de^
battirt; ich glaube selbst, seine Darstellung ist einmal verboten gewe¬
sen. — Ich will die Moralität Antony'S nicht vertheidigen; es ist
der wüthendste von jenen tausend Angriffen aus die Ehre, die wäh¬
rend der Periode sittlicher und geistiger Zuchtlosigkeit, die unmittel¬
bar nach der Julirevolution eintrat, zu Tage kamen. Uebrigens liegt
die Unsittlichkeit Antony's viel mehr in den Situationen, als in den
Gedanken und in der Sprache, und das Drama ist eigentlich viel
mehr fehlerhaft, als unmoralisch. — Doch, so unreif und -widerwär¬
tig diese drei Dramen in gewissen Theilen, so fehlerhaft sie im Gan¬
zen sind, so finden sich doch auch Scenen voll rührenden Gefühles
und heißer Leidenschaft darin. Um Antony, Teresa und Angele zu drei
schönen Werken zu machen, hätte Dumas weiter Nichts gebraucht,
als ein wenig mehr Jdealisirung, ein wenig mehr Nachdenken, ein
wenig mehr Arbeit und ein wenig mehr von jener kostbaren Eigen«
schaft, die von den großen Männern heutzutage so sehr verachtet wird,
und bei den großen Männern von ehedem sich regelmäßig findet —
Geschmack.
Sollen wir die ganze Masse der Productionen der Reihe nach
aufzählen, die aus der unerschöpflichen Feder Dumas' geflossen sind?
Soll ich von dem schrecklichen Melodrama, dem l'our <le Nesle
sprechen? Von CattMne Howard, diesem Wunderding von Absur¬
dität und UnWahrscheinlichkeit? Von Napoleon, Melodrama für den
eirque ol^api<iue in zwanzig Tableaur? von Don Juan de Ma-
rana, phantastischem Melodrama; von Caligula, römischem Melodrama;
von Lorenzino, dem letzten, schwächsten und mattesten aller Erzeugnisse
des Dramatikers? Aber Alexander Dumas hat nicht allein Dramen
und Melodramen gemacht; er hat auch Komödien geschrieben, deren
eine, Alcillemliisell«? cle Kölle Ist«, wenn auch auf eine physiologi¬
sche Unmöglichkeit gegründet, sehr geistreich ist; er hat Dramas-Vau-
devilles geschrieben, wie Kean; komische Opern, wie Piquillo;
Romane und Feuilletons zu Hunderten; in dem einzigen Jahre
1840 hat Dumas zwei und! zwanzig Octav-Bände veröffentlicht.
Dann hat er noch Imin-s88lo»s «lo vo^»F<z geschrieben, wo Alles zu
finden ist, Drama, Elegien, Eklogen, Idyllen, Politik, Gastronomie,
Statistik, Geographie, Geschichte und endlich Esprit; Alles, nur keine
Wahrheit. Noch nie hat ein Schriftsteller das Publicum so an der
Nase herumgeführt, und noch nie hat sich ein Publicum das gedul¬
diger gefallen lassen. Doch hat Dumas der Leichtgläubigkeit dieses
Publicums so viel zugemuthet, daß es jetzt anfängt, gegen die Ent¬
deckungen des Reisenden mißtrauisch zu werden.
Dumas ist seit zwei Jahren mit einer ehemaligen Schauspiele¬
rin der Porte-Saint-Martin, Jda Ferners, verheirathet und hat
mehrere Kinder. Wenn er nicht auf Reisen ist, was selten vorfällt,
hält er sich gewöhnlich in Florenz auf, von wo aus er dann und
wann eine Reise nach Paris macht. Von Florenz aus entsendet oder
bestellt er die unzähligen Ladungen literarischer Erzeugnisse, deren Ver¬
kauf nicht immer gut ist, denn mit dem Artikel Dumas sind die
Märkte überhäuft. Von der beklagenswerthen Pest des Jndustrialis-
mus angesteckt, scheint Dumas sich mit Leib und Seele der Anbetung
des goldenen Kalbes hinzugeben. In welchem Theater, sei es noch
so unbedeutend, in welchem Buchladen, in welchem Unternehmen
literarischen Speculationsgeistes fände man nicht seinen Namen ge¬
nannt? Es ist Physisch unmöglich, daß Dumas Alles, was unter sei¬
nem Namen erscheint, schreibt oder dictirt. ES ist traurig, das all-
mälige Sinken eines schönbegabten Talentes zu betrachten, dem aber
leider das Gemüth des Geistes, der Geschmack, fehlt, welcher die
Würde des Schriftstellers aufrecht erhält, und ohne den das Talent
nicht lange den aufsaugenden Wirkungen der industriellen Literatur
widerstehen kann.
Es wird wohl nirgends so viel geverselt, als in Schlesien. Der
Neugeborene wird mit einer poetischen Salve begrüßt, jede Heirath
wird unter der ksiiistentia >>nelle.i vollzogen, und wenn ein Schlesier
ohne wenigstens zehn Trauergedichte in's Grab gesenkt wird, so dreht
er sich gewiß noch im Sarge um. Die Poesie ist die Hausfreundin
des Schlesiers, ohne die kein Fest gefeiert, keine wichtige Angelegen¬
heit in's Werk gesetzt werden kann. Weil aber der dichterische Fonds
sich unter die weitere und breitere Masse abgesetzt hat, so ist Schlesien
bei aller Poesie doch arm an Poeten in dem Sinne etwa, wie ein
Wald arm an Bäumen sein kann. Viel wild verwachsenes Gestrüpp,
krüppelhaftes Strauchwerk, kein aufschössiger, vollsaftiger Stamm.
Das begabtere Talent muß sich entweder auf einen anderen Boden
verpflanzen oder es bricht nach dem ersten verheißenden Anlauf in sich
zusammen und sinkt zur Gelegenheitsdichterci herab. Es fehlt der
schlesischen Erde nicht an Erzeugungs-, wohl aber an Erhaltungskraft.
Die jüngste Zeit vermag kaum einen Dichter aufzuweisen, der dieses
Namens würdig wäre. Gustav Freitag, der Verfasser eines Prämien-
Lustspiels „Kunz von Rosen" hat sich einigemal als tüchtigen Hippo-
gryphen-Reiter gezeigt, seit einiger Zeit aber sitzt er nur auf Com-
mando auf, bei aristokratischen Familienfesten, oder wenn das Thea¬
ter sich ox nliicio über etwas freut. Theodor Opitz, der zuvörderst
durch Beiträge für das Feuilleton der Rheinischen Zeitung dem größe¬
ren Publicum bekannt wurde, hat seinen Pegasus zum Lastthiere ab-
gerichtet, das, mit unpraktischen socialen Theorien bepackt, zu Markte
geht. Die Richtung, welche diese beiden Dichter genommen, ist für
die Gesammtzustände der Poesie heutiger Zeit bezeichnend. Die ge¬
sinnungslosen Spatzen, welche in der ausschließlich belletristischen Pe¬
riode auf allen Dächern zwitscherten, thun ihren Schnabel nur noch
auf, wenn sie vom Vetter Storch zum Kindtaufen geladen werden
oder von Sr. Hochgeboren dem Pfau ein gnädiges Kopfnicken erbet¬
teln wollen. Bei den Poeten mit Gesinnung gelangt das politische
Interesse bald zu einer solchen Ausschließlichkeit, daß sie kaum etwas
Anderes produciren, als gereimte Zeitungsartikel. Die Gedichte eines
schlestschen Grafen Moritz von Strachwitz sind in der Augsburger
Zeitung mit überschwenglichen Lob überschüttet; das allein würde
hinreichen, in ihre Vortrefflichkeit einige Zweifel zu setzen. Der Graf
ist in der That nichts weiter, als ein Nachtreter Freiligrath's; seine
Muse eine gewappnete Amazone, die in Ermangelung eines arabischen
Hengstes auf schlesischen Vollblutpferde die hoffnungsvollen Saaten
des Volks niederreitet. Marstall-Poesie, hie und da geschnürte Sa¬
lon-Liebeslieder. Der Cultus des Schönen ist in Schlesien somit
kaum etwas Anderes, als belletristische Werkthätigkeit. Ein Blatt,
das etwas mehr sein wollte, als ein Leuchter für all die Dilettanten-
Lichtstümpchen, und mehr Leser haben wollte, als Mitarbeiter, würde
nicht eristiren können, und man muß sich über diejenigen wundern,
welche fortwährend von der Nothwendigkeit eines Organs für schlesi-
sche Kunstinteressen sprechen. In der That besitzen wir zwar eins,
das sich für einen Träger der Ideen über dramatische Kunst und de¬
ren Darstellung ausgibt, — wir meinen den Breslauer Figaro —
aber dies Blatt gehört recht eigentlich seinem Redacteur und Eigen¬
thümer Hrn. Michaelson. Der gröbste kritische Sanscülottismus
schreit darin um Brod, und Kameraderie und offene Geldbeutel sind
die Kriterien, welche sein plebejcS Urtheil bestimmen. Die I)r. Zirn-
dorfers sind eine weitverbreitete Race und ihre Spielarten gehen in's
Unendliche. Schade, daß die Welt darüber nicht aufgeklärt werden
kann, denn man scheut sich allgemein, diese kritischen Augias-Ställe
auszumisten. Wenn somit der Cultus des Schönen in dieser Be¬
ziehung bei uns darniederliegt, so gestaltet sich die Theilnahme an der
Verehrung des Wahren und Rechten immer erfreulicher. Die ganze
junge, talentvolle Generation widmet sich der publizistischen Thätigkeit,
schwärmt, wie früher für die Scherze und Spiele der Phantasie, so
jetzt für den Verstand und beugt die Kniee vor dem heitern und kla¬
ren Bilde des Gedankens. Unsere Publizistik, in so fern sie sich der
periodischen Presse als Organ bedient, kann, die Rheinlands ausge¬
nommen, mit ,eder aus einer anderen Provinz kühn in die Schran¬
ken treten. Sie ist jung und hat als solche alle Fehler der Jugend:
immer rührig und rüstig, lahmt sie nicht hinter den Ereignissen her.
sondern faßt es, packt es bei dem ersten besten Zipfel und fängt es
frischweg an zu eraminiren. Natürlich ist hier ein Wenn mit einem
Conditional-Satze zu suppliren — wenn es unsere Censur gestattet.
Ich habe schon oft darüber nachgedacht, wie es kommt, daß gerade
die Breslauer Censur von jeher eine so unleidlich strenge gewesen ist
und noch ist; aber ich finde keinen Grund, es müßte denn gerade die
Nähe des Gebirges sein, wo die Masse gefunden wird, aus der man
Rothstifte macht. Es wäre also blos, um das Consumo mit der
Production in Verhältniß zu bringen. Da das Imprimatur hoch
hängt, und das Censurgericht weit ist, so wandern auch die meisten
gestrichenen Artikel breslaumüde in andere bessere Zonen, die viel¬
leicht oft schon drei Meilen weit vom Weichbilde der Stadt beginnen
könnten, wenn Schlesien außer den beiden Breslauer Zeitungen und
der schlesischen Chronik noch nennenswerthe Blätter besäße. Es gibt
wohl kaum zwei Blatter, die sich gegenseitig so in Schach halten
und deshalb sich in ihren Tugenden und Fehlern so ähnlich sehen,
wie die Breslauer und die Schlesische Zeitung. Da darf nur die eine
einen andern Dcmarcationsstrich nehmen, gleich macht's die andere
nach. Beide sind liberal, so weit es geht. Nachdem die Breslauer,
als die jüngere, nach einigen Schwankungen in dem gegenwärtigen
Prinzipe Fuß gefaßt, hat sie unstreitig die Jntensivität des Wollens
vor der Schlesischen voraus, welche letztere aber wiederum ihrer Colle-
gin in der Bedachtsamkeit den Rang abläuft. Die Breslauer hat
drei Hauptmitarbeiter. Dr. Leopold Schweißer, Autorität in Eisen¬
bahnangelegenheiten, einigen merkantilischen Zweigen und in juridisch-
politischen Fragen, führt eine Feder von seltener Volubilität, dabei
geistreich, scharf und als Gegner gefürchtet. F. W. Wolff, Advokat
der Armuth, des Elends und der Noth, in seiner Darstellungsweise
schroff und eckig, aber populär. August Semrau behandelt die poli¬
tischen Fragen, wie sie sich unmittelbar von den Tagesereignissen ab¬
lösen, und bespricht lokale Angelegenheiten meist in humoristischer
Weise. Unter den Berliner Correspondenten ist Dr. Wöniger leicht
herauszukennen. Der bekannte Beta hat sich zu Schanden geschrie¬
ben, er pusse nur noch blind. An der Schlesischen Zeitung ist or.
Behnsch ein fleißiger Mitarbeiter. Er besitzt viele Erfahrung, scharfe
Beobachtung, verweichlicht aber seinen Styl durch zu viele wohlmei¬
nende Optative. Stein gesinnungs- und würdevoll, markig und
nicht selten bitter ironisch. Unter den Berliner Correspondenten ist
Joel Jacobi der fleißigste; er schreibt beinahe täglich, meist aber nur
lüderlich zusammengewürfeltes Abgängsel von dem Stoffe, den er für
die Bremer und Allg. Deutsche Ztg. zusammenbäckt. Früher schrieb
er unter einem falschen Namen an die Redaction; erst seit kurzer
Zeit weiß sie, mit wem sie es zu thun hat. Ein Blatt, das bei Wei¬
tem nicht so bekannt ist, wie es dies verdient, ist die Schlesische Chro-
Nil, von Dr. M. Elsner redigirt, einem Manne von Schurf ausge¬
prägter Gesinnung und publizistischen Geschick. Der Einfluß, den
die Chronik auf die Provinzialstädte ausübt, ist unberechenbar. Ihr
Censor ist der Polizeipräsident Heinkc, dem man es nachrühmen muß,
daß er bei Weitem milder verfährt, als Hr. v. Schönfcld, wenn es
überhaupt ein Ruhm ist, nicht so zu sein, als es Andere sind. In
diesem Augenblicke, wo die reactionäre Partei nicht müde wird, der
schlesischen Presse die Weber-Unruhen in die Schuhe zu schieben, ist
es doppelt ancrkcnnungswerth, daß Dr. Leopold Schweitzer eine Reihe
publizistischer Aufsätze, aus den beiden hiesigen Zeitungen ausgewählt
und nach der Zeit geordnet, durch den Druck veröffentlicht. Dies
Unternehmen wäre sogar dann kein unnützes, wenn die Artikel an
und für sich keinen besondern Werth hatten; denn wir erhielten da¬
mit wenigstens eine thatsächliche Geschichte der Breslauer Publizistik,
einen Rechenschaftsbericht von unserem geistigen Haushalt. Das Buch
wird über zwanzig Bogen umfassen und somit auch die von d Cen¬
x.
Sehr oft, wenn ich die Abtheilung „Vaterstädtifche Blätter"
unserer täglich erscheinenden „Wöchentlichen Gemeinnützigen Nachrich¬
ten" durchfliege, kann ich mich eines frohen Lächelns nicht erwehren.
Wir sind allerdings nur Insassen eines Duodezstaates, aber wer wüßte
nicht, daß gerade kleine Leute den Kopf am steifsten tragen und sich
am wenigsten umschauen? Das ist nun seit den unglücklichen Mai¬
tagen gar nicht mehr wie früher. Wir sind viel regsamer und selbst¬
thätiger geworden. In jenen vaterstädtischen Blattern documentirt sich
diese allgemeine Wachsamkeit in sehr erfreulicher Weise, und besonders
rühmlich ist der Freimuth, mit welchem die Staatsbehörden auf öf¬
fentliche Mißstände aufmerksam gemacht und an die Pflicht der Ab¬
änderung erinnert werden. Daß letztere nicht immer gleich eintritt,
kann nicht befremden. Richt selten aber, besonders wenn die Gegen¬
stände zum Ressort der Polizei gehören, keimt aus dem gedruckten
Worte rasch die gute Saat der Abhilfe, mindestens der Untersuchung.
Zu wünschen wäre, daß überall eine solche Wechselwirkung zwischen
dem Publicum und den Behörden durch öffentliche Organe stattfände
und so «und ein wachsendes gegenseitiges Vertrauen als nächste Frucht
sich daraus entwickelte.
Das Haarburger Hafcnproject, welches in den politischen Blat¬
tern so vielfach verhandelt wurde, erregt bei allen zunächst Jnterefstr-
ten gelinden Graus und Schreck. Haben wir doch an der Altonaer
Concurrenz hinlänglich genug. Mit uns an derselben Elbseite belegen,
kann man der Stadt, die allnahe ist, die hundertjährigen Rechte so
wenig wegstreiten, wie die Tiefe und Sicherheit des Hafcnbassins.
Doch da drüben am anderen Elbufer soll und darf es nicht geheuer
sein. Daher sammelt man mit emsigster Sorgfalt alle Notizen über
beschädigte und fcstgerannte Schisse, die am hannöverschen Gegenüber
vorbeisegeln wollten, und veröffentlicht Alles in unseren Localblättern.
Ob aber die starrköpfige hannöver'sche Regierung das Haarburger Ha-
fenproject deshalb fahren lassen wird? — Da wir uns gerade auf
dem Wasser befinden, so muß ich einer entsetzlichen Gefahr erwähnen,
der sämmtliche an der Hamburger Seite vor Anker liegenden Schiffe
in voriger Woche ausgesetzt waren. Der englische Schooner Veritas
lief ein, nachdem er angezeigt, fünf Tonnen Schießpulver am Bord
zu haben, und auch für diese, bei welchen man sich fünf kleine Tönn-
chen, nicht aber das Tonnengewicht, also mehrere hundert Fasser ge¬
dacht haben mochte, die Autorisation der Einführung erhalten hatte.
Das Schiff, geschwängert mit dem unwiderstehlichsten Elemente des
Todes und Verderbens, legt sich vor Anker, und kaum einige Schritte
weit von den Pulvcrmassen lodert das Feuer der Schiffsküche, und
die Funken sprühen an die lockere Bretterwand. Ohne den Besuch
der Jollofsizianten am Bord des Höllenschisses wäre seine mörderische
Ladung entweder unentdeckt geblieben, oder mit der eingetretenen Er¬
plosion wäre eine ganze Stadt von Schiffen nicht in 'das Fahrwas¬
ser, sondern gen Himmel gesegelt. Selbst nach gemachter Entdeckung
der Gefahr kostete es, da das englische Pulverschiff bereits inclarirt
war und zu seiner Entfernung neue Formalitäten erforderlich wurden,
viel Zeit und Mühe, ehe es elbabwärts auf dem breiten Rücken des
Stromes zum beliebigen Verweilen die Anker auswerfen, konnte.
Wäre hier nicht ein schöner Stoss für eine Scene in einem Sec-
oder Flußroman -i w Marrvat und Cooper?
Um schleunig wieder aufs Trockene zu kommen, rede ich — er¬
schrecken Sie nicht — vom Theater. Doch nur ganz kurz. Ueber-
morgen haben wir hier nach endlosen Vorbereitungen die Antigone.
Dem Grabe durch eine Caprice und forcirte Begeisterung für das
alte Hellenenthum entrissen, hat die griechische Dame bei uns keine
allzu glühende Huldigungen zu erwarten. Daß sie die Hamburger
bei einiger Trefflichkeit der Darstellung zu verblüffen wissen und an
einigen Abenden bei allgemeiner Neugier das große Schauspielhaus
füllen wird, ist eher zu glauben. Gleich dem Berliner sich zu einem
künstlichen Enthusiasmus hinaufzuschrauben, auf der Stirn Tropfen
der Erregung zu schwitzen, wenn auch das Herz kalt bleibt, derglei¬
chen toui-s 6e den-ce treibt der Hamburger nicht. — Wir haben auch
dem Sommernachtstraum ziemlich kalt unseren Respect bezeigt. -
Hr. v. Holbein war einige Tage hier, vermuthlich wegen Engagements,
aber da war Nichts abzuschließen/ Die Berliner Intendantur ist ihm
zuvorgekommen. Für Hendrichs, dessen Talent zum Durchgehen sei¬
nen bedeutenden künstlerischen Gaben fast gleich zu stellen ist, wird
dieser Tage ein gut renommirter Ersatzmann sich der öffentlichen Prü¬
fung unterziehen. Unser erster Intriguant und Charakterdarsteller,
welcher längst ein Berliner Engagement in der Tasche zu haben ver¬
sicherte, macht wieder alle Anstalten zum Bleiben. Der eben so be¬
scheidene wie talentvolle Hopp«- wird auch den Berlinern bei seiner
gleichen Befähigung für das Heitere und Ernste um Vieles besser be¬
hagen. Der Herzog von Braunschweig ist minder halsstarrig und
egoistisch, als Ernst August sich in seinem Festhalten Döring's zeigte.
Hoppv galt auch hier während eines mehrjährigen Engagements für
einen hochbegabten Künstler, voll ernsten Strebens und solider Bil¬
dung. Scharfe Originalität, die das Genie, auch wenn es irre geht,
vor dem bloßen Talent auszeichnet, ist seine Sache nicht. Er ist zu
behutsam, um genial sein zu können; ein feiner, kluger Mann, ge¬
schmeidig und fügsam. Er setzt nicht, wie Döring, eine Art Stolz
darein, auf der Bühne Alles zu wagen; er schreitet fein vorsichtig,
doch selbständig, in älteren Fußtapfen, er horcht und sieht nach dem,
was man seinen Borgängern als Schwäche angerechnet, und bildet
gerade diese Seiten als seine stärksten heraus. Hopp«- paßt sehr für
Berlin, denn er hat etwas Diplomatisches, Politisches, und dennoch
eine gewisse Naivetät, die seinen Leistungen für den minder scharf¬
blickender immer noch das Gepräge des Ursprünglichen gibt.
Worüber anders könnte ich Ihnen wohl heute berichten, als über
das Attentat vom 26. Juli, das in diesem Augenblick noch alle Ge¬
müther beschäftigt und kaum einen anderen Stoss der Unterhaltung,
einen anderen Gedanken aufkommen läßt? Ich mag die in allen Zei¬
tungen befindliche Erzählung des Mordversuches, der vor einigen Ta¬
gen gegen unseren König gerichtet wurde, nicht wiederholen, aber ich
kann mich doch nicht enthalten, einiger Umstände zu gedenken, die bis
jetzt mehr im Munde der Leute, als in den gedruckten Berichten zu
finden sind. Seit Jahren nämlich ist hier unter dem Namen „Pro¬
phezeihung des Klosters Lehnin" eine in lateinischer Sprache abgefaßte
und mit einer gereimten deutschen Uebersetzung ausgestattete Rhapso¬
die verbreitet, die von einem Mönche des fünfzehnten Jahrhunderts
herrühren soll und eine Verkündigung der Schicksale des Brandenbur-
gischen Regentenhauses enthält. Die im delphischen Orakelton gehal¬
tenen Prophezeihungen in Betreff der verstorbenen Regenten vom gro¬
ßen Kurfürsten bis zu Friedrich Wilhelm III. sind, wie Sie sich den¬
ken können, alle zugetroffen, denn „hinterher ist gut provhczejlM",
wie schon ein Sprichwort sagt, das vermuthlich älter ist, als jene
Rhapsodie des antelutherischen Mönchs von Lehnin — welcher Ort,
beiläufig bemerkt, im Kreise Belzig des Regierungsbezirks Potsdam
liegt, und nur noch die Ruinen der vom Markgraf Otto I. gegrün¬
deten Abtei „Himmelpfort am See" enthält, wo mehrere Nachkom¬
men Albrechts des Bären begraben liegen. Was nun aber die Zu¬
kunft betrifft, so ist besagte lateinische Prophezeiung nicht blos noch
delphischer, wie hinsichtlich der Vergangenheit, sondern auch viel aben¬
teuerlicher und grausenerregender. Von nichts Geringerem handelt es
sich darin, als von der Ermordung eines kinderlosen Fürsten. Und
obwohl jeder einigermaßen scharfsinnige Kritiker leicht die Zeit nach¬
weisen könnte, in welcher dieses Opus im neunzehnten Jahrhundert
favricirt worden, so hat es doch bei der für dergleichen mysteriöse Dinge
empfänglichen Menge Eingang und Glauben gefunden, und Nichts
ist nun natürlicher, als daß das Ereigniß vom 26. Juli mit dem
Lehniner Mönchslatein in Verbindung gesetzt wird. Glücklicherweise
hat jedoch der ehemalige Bürgermeister Thebens die schlechte Prophe¬
zeiung eben so schlecht ausgeführt; an einem Metallknopf auf des
Königs Oberrock ist die mörderische Kugel abgeglitten, die ohne den¬
selben in die Brust, auf welcher sie nur eine Quetschung zurückließ,
eingedrungen wäre. Von der Verwirrung, die hier entstanden sein
würde, wenn des Mörders Absicht in Erfüllung ging, laßt sich kaum
ein Begriff machen. Denn weder der präfumtive Thronfolger, noch
irgend ein anderer der königlichen Prinzen ist hier anwesend, und nur
das Staatsministerium, an dessen Spitze der allerdings sehr energische
General von Boven — in Vertretung des Prinzen von Preußen —
steht, hätte die Leitung des Staates unter diesen schwierigen Umstän¬
den übernehmen können. Jedermann freut sich, daß der Himmel die
Waffe des Meuchelmords stumpf gemacht. Welcher politischen Ansicht
auch die verschiedenen Parteien sein mögen, so ist doch der Abscheu
vor der That eines im Hinterhalt lauernden Fieschi oder Alibaud in
Deutschland noch viel größer und allgemeiner, als in Frankreich.
Thebens bekennt sich dazu, nur aus Privatrache seine That vollführt
zu haben; diese hat also mit dem Staate und der Gesellschaft durch¬
aus Nichts zu schaffen und steht ganz isolirt da. Hoffen wir daher
auch, daß sie nicht der Anlaß sein werde, neue Beschränkungen einer¬
seits der Presse und andererseits der bürgerlichen Freiheit überhaupt
aufzuerlegen. Nur der Unschuldige würde durch solche Maßregeln
getroffen und die allgemeine Sicherheit würde dadurch nicht allein
Nichts gewinnen, sondern auch um so mehr gefährdet werden. Dank-
gebete sind zum Himmel emporgestiegen für die glückliche Erhaltung
des Königs, aber auch die Bitte, daß sein bevorstehender Aufenthalt
in Wien, seine bevorstehende Zusammenkunft mit dem Fürsten Met-
ternich und vielleicht auch mit dem Kaiser Nikolaus den Deutschen
keine neue Einschränkung ihrer Freiheit bringen möge!
Thebens war, bevor er Bürgermeister in dem märkischen Städt¬
chen Storkow wurde, Bürger und Lackirwaarenfabrikant in Berlin,
als welcher er sich wahrend der Cholera im Jahre 18Z1 als Präses
einer Schutzcommission auszeichnete, deren Sitz in einem der am mei¬
sten von dieser Krankheit heimgesuchten Stadttheile war, wo er zu
einer Zeit, in der man noch eine abergläubische Furcht vor der Art
der Verbreitung der Cholera hatte, alle Krankenwohnungen besuchte.
An einer gewissen geistigen Energie fehlte es ihm daher nicht, wie
dies auch aus seinen im ersten Verhör ertheilten Antworten hervor¬
geht; nichts desto weniger steht doch fest, daß er ein überaus queru-
lirender, jähzorniger Charakter, dem eine sittliche Erhebung über die
allergewöhnlichsten Interessen und Motive kaum zuzutrauen ist. —
Der Tod von Karl Streckfuß, der seit ungefähr anderthalb Jahren
aus dem Staatsdienste geschieden, in welchem er als Ministerialrath
eine angesehene Stellung bekleidete, erregt auch in der literarischen
Welt großes Bedauern. Seine meisterhaften Uebersetzungen des Dante,
Ariost und Tasso sichern ihm ein dauerndes Andenken. Als poliri¬
scher Schriftsteller hat er das merkwürdige, seinem Herzen sehr zur
Ehre gereichende Beispiel gegeben, daß er keinen Anstand nahm, den
von ihm früher gethanen Ausspruch von der Unvereinbarkeit des
Judenthums mit dem Staatsbürgerthum unserer Zeit, sobald er den¬
selben als Irrthum erkannt hatte, öffentlich zurückzunehmen. Ueber¬
haupt scheute er sich nicht, ungeachtet der in gewissen Regionen vor¬
herrschenden Neigung zu religiöser Schwärmerei seine rationellen An¬
sichten sowohl in Prosa als in Versen („Die Höllenqualen der Frömm¬
ler", ein in deutschen Terzinen gedichtetes Capriccio) auszusprechen.
Dies und der Umstand, daß ihm ein jüngerer Staatsbeamter vorge¬
setzt wurde, soll übrigens im Jahr 1842 der Anlaß gewesen sein, daß
er seinen Abschied forderte. — In der Theaterwelt wird das Abgehen
Beckmann's vom Königstädtischen Theater und das bevorstehende Auf>
treten Nestroy's auf dieser Bühne viel besprochen. Ersteres ist aller¬
dings ein empfindlicher Verlust, über das Letztere hoffe ich Ihnen in
einem meiner nächsten Berichte etwas Näheres melden zu können.
Weitling ist durch die Willkür Bluntschli's, nach Uebcrstehung
seiner Haft, nicht einfach aus dem Canton Zürich verwiesen, sondern
wie ein erst zu bestrafender Verbrecher ausgeliefert worden. Daran
mag Preußen unschuldig sein, obwohl es sich beeilte, den Bluntschli-
schcn Liebesdienst zu benutzen. Weitling sollte nun seine Militär¬
pflicht erfüllen; da er jedoch dazu unfähig befunden wurde, so blieb
er unter bürgerlicher Gerichtsbarkeit, und man sollte daher meinen, daß
er wegen der angeblichen Conscriptionsflüchtigkeit — der Untaugliche!
— ohne Proceß und Verurtheilung nicht bestraft werden könne. Allein
man hört, daß er seit der Ankunft in Magdeburg eingesperrt gehalten
wird. — Wir erwarten von dem Rechtsgefühl der „guten Presse",
daß sie dieses Wort zu Gunsten eines „Communisten", eines „Schnei-
dergesellen" ohne Weiteres für ein Zeichen verwerflicher Gesinnung
und communistischer Tendenzen erklären werde. Indessen nicht wir
sind es, die ein so großes Gewicht aus Weitling legen, sondern der
mandarincnhafte preußische Beamteneifer, der ein rechtes Fressen an
dem armen Teufel gesunden zu haben scheint. Man hört sogar, daß
sie ihn landesverweisen wollten; dagegen protestirte Weitling und be¬
rief sich auf seine Eigenschaft als Eingeborener; darauf wurde nach
Berlin geschrieben um fernere Verhaltungsmaßregeln! Ja, es bleibt
in der That kein Ausweg: Preußen muß seine Stellung als fünfte
europäische Großmacht bedenken, muß rasch eine Flotte bauen und
irgend eine ferne wüste Insel erobern, oder es muß England
eine seiner Straf-Colonien abkaufen, um Weitling deportiren zu
können.
— Kaum ist das russisch-preußische Cartcl abgeschlossen, so hört
man von einer neuen, echt mongolischen Abspcrrungsmaßregel. Die
russische Regierung will aus ihrem Grenzgebiet von der Ostsee bis
hinab an das schwarze Meer auf die Breite einer deutschen Meile
alle Hütten, Hauser und Baume rasiren und so einen künstlichen
Wüstenqürtel gegen das Ausland herstellen. Diese Vcrkehrserleichtc-
rung soll nicht etwa der russische Dank für die Erneuerung des Car-
tcls sein, — der Dank wird noch in ganz andern Dingen bestehen —
sondern Rußland fühlt, daß es nicht zu Europa gehört, und will
sich recht wirksam von ihm scheiden. Rußland kennt sich selbst
besser, als man glaubt und als es merken läßt. Möchte es nur auch
von den Andern nicht verkannt werden.
Menzel ist ergötzlich, wenn er schimpft und flucht, aber fürch¬
terlich, wenn er bewundert. Im Cotta'schen Literaturblatt (Nro.
bei der Besprechung eines Gedichtes von Bernhard Hirzel, preist
er diesen „berühmten Pfarrer", der bekanntlich in der Septcmber-
revolution 1839, den Karabiner in der Hand, — ein echter Priester!
-— die Bauern nach Zürich führte, um die „gottvergessene Regierung zu
stürzen." Ein orthodoxer Pastor, der hat freilich bei dem konservativen Men¬
zel das Privilegium, ein Bischen Revolution und Anarchiezu treiben; er
nimmt auch keinen Anstand, den fanatischen Straußfrcsser mit den alten
Propheten zu vergleichen. „Ein verführtes Volk, Buben seine Leiter, aufge-
legte Ruchlosigkeit, alles Heilige mit Füßen getreten — so fanden die
alten Propheten ihre Zeit und so fand der fromme Sänger auch hier
wieder die seinige." Wir wünschten nur einmal auch den alten Men¬
zel, Flinte oder Heugabel in der Hand, an der Spitze schwäbischer
Bauern gegen das jüngste Deutschland ausrücken zu sehen.
— Ein neues Buch von Karl Beck, welches in Berlin erschei¬
nen sollte (einundzwanzig Bogen stark), ist von der Polizei in
ganzer Auflage sogleich nach Ueberreichung des Eensureremplars con-
fiscire worden. Der Autor hat an's Obercensurgericht appellirt, doch
will man ihm wenig Hoffnung machen. Die voreiligen Verdammungs¬
urtheile einiger Philister über die Tendenz von Beck's neuestem Ge¬
dicht haben also doch etwas gefruchtet und das Vorurtheil der Polizei
bei Zeiten geweckt. Wahrscheinlich werden jetzt die bewußten Herrn
in Wien und Dresden rufen: Seht Jhr's, die Berliner Polizei ist
auch unserer Meinung; wir haben Recht gehabt. — Und die Polizei
ist ja unstreitig der beste Kritiker!
— Fallmerayer sucht (in der Augsburger Allgemeinen) noch im¬
mer zu beweisen, daß die griechische Revolution gegen die Türken ein
Unrecht war; die Türken seien viel gerechter, politisch fähiger und der
Herrschaft würdiger als die „Graten". Was will der Mann aber
jetzt, er, der vor dem lar .recvm^ki so tiefen Respect hat? Er will
beweisen, daß die wahre Bestimmung Griechenlands und der Türkei
nur eine russische sein könne. Seine Griechenfresserei ist eine Maske
für seine Russenliebe.
— Heine befindet sich wieder in Hamburg auf Besuch bei sei¬
ner alten, erkrankten Mutter. Dies scheint das einzige Band zu sein,
das ihn nach Deutschland zieht. Oder ist es die Furcht anderer Bande,
was, ihn fernhält?
Kühne hat in diesen Blättern*) der Shakspeare-Philosophie „und
kein Ende" scharfe, beizende Worte zugeworfen. Wer hat sich nicht
daran gelabt? — Wer sich nicht über jene Philosophasterei geärgerthat.
Und wer hat sich über jenes hochweise Kategorien-Geklapper
nicht geärgert? Wer kein Herz für seine Zeit, kein Herz für die Zu¬
kunft hat. Das ist einerlei Unglück, einerlei Sünde: ob die da Staat
und Leben, oder ob die da Kunst und Poesie so um ein Paar kleine
Jahrhunderte zurückmcmövriren wollen. Beide sind Sünder, weil
beide ohne Glauben sind, der einmal doch immer allein selig macht.
Man verzeihe mir eine kleine biblische Wendung; da heißt es irgend¬
wo: der Glaube ist eine gewisse Zuversicht dessen, was man hofft >
und nicht zweifelt an dem, was man nicht sieht. Friedrich Bischer
gehört zu diesen ungläubigen, hoffnungslosen, gottarmen, wortreichen
und „geistvollen Docenten", die aus der Hegel'schen Weltanschauung,
deren Triumph die Verklärung der Welt in heilige Idealität sein
wollte, eine kalte, leere, erdige, schmutzige Philosophie der Handgreif¬
lichkeit gemacht haben. Für Hegel sollte die Philosophie die Zeit,
in Gedanken ausgedrückt, sein. Für seine ihn und die Welt hofmei¬
sternden Schüler besteht das philosophische Meisterstück darin, die Zeit
und die Zukunft in die Kategorien der Vergangenheit einzuhaspeln;
lediglich die Zukunft ist es, von der und in der wir allein nur le¬
ben können, so wahr jeder frische Athemzug ein Act vorwärts ist.
Es ist nicht wahr, daß wir an der Vergangenheit leben oder gar
wieder aufleben können. Die Vergangenheit ist todt, nur ein schon
Lebendiger, ein Auferstandener kann auch sie aus den Gräbern fus-
ren. An der Vergangenheit können wir nur sterben und im besten
Fall sterben lernen. Der Dienst ist groß. den sie uns damit thut.
Wir schleppen so viel Todtes mit herein in die Gegenwart, welche
dadurch nur zu einem Schein, vielmehr zur plötzlichen Vergangenheit,
d. h. zum Tod für uns wird. Diesem müssen wir absterben, von
der Geschichte belehrt und gemahnt, daß es ein Gewesenes und Ver¬
wesendes ist, also nur durch Einen, der das Leben „von und in ihm
selber" hat, zu einem Seienden und Werdenden erweckt und beseelt,
begeistigt und verleiblicht werden kann.
Wer die Philosophie blos als Buchhalterin der Vergangenheit
hat, der hat den Tod in ihm selber; den Tod, dem er nicht abster¬
ben kann, den er nicht wegschütteln kann; der ihn verfolgt, der
sich ihm in seinen langen Professorenmantel steckt und die wohlgeleg¬
ten Falten seiner altbackenem Aesthetik sehr kategorisch zerzaust und
zerreißt und dann grinsend durch die Löcher guckt; der sich ihm auf
den Rücken hockt und in sinnverwirrender Umarmung lustig ihn zum
grausen Todtentänze reißt.
Ist Hegel schon todt zu dieser unserer Stunde, wie soll Shak-
speare noch leben für uns! „An sich und an und für sich" mag
und wird er leben in Ewigkeit, aber für uns: so daß er für uns
noch wirkte, arbeitete, daß er uns hälfe werben und schaffen um das,
was uns Noth thut? Die Todten fühlen nicht.
Und den soll ich zu den Lebenden zahlen, der kein fühlendes
Herz für die lebendige, gegenwärtige, kränkelnde, hungersterbende Men¬
schenwelt hat? „Die großen Ausrufungszeichen am Horizont der
Gegenwart heißen: Armuth und Verbrechen." Aber freilich, die opium¬
schlaffen, fleischeslüsternen Moslemin, schicken nur Blinde auf die Mi¬
narets, um den Tag mit seinem Beten und Arbeiten anrufen zu las¬
sen. Am Tisch des Sybariten gibt es keine Kategorie für die Ar¬
muth. Ein „Philosoph", dessen tiefstes und offenbarstes Geheimniß
die Weisheit ist, die da sagt: Lasset uns essen und trinken, denn
morgen sind wir todt; ja ein Gedanke, der im Genusse des Lebens
aufgeht, hat kein Organen für „Armuth und Verbrechen."
Daß der Epikuräer darum seine Finger blos mit den fetten
Brühen und saftigen Bissen der ^»die «UM« beflecke, weil er jene
riesengroßen Ausrufungszeichen am Horizont der Gegenwart nicht
sieht und kategoriengeblendet nicht sehen kann und Weltgeistentwicke-
lungo sicher nicht zri sehen braucht, behaupte der Narr in Shakspea-
re's Lear. Daß aber die Zukunft heiliges Land ist, und ihr Boden
nicht mit dem gemeinen Schuh der Lüste und des Leichtsinns betreten
werden darf — wer soll'S geschwind sagen? Ophelia, das nordische
Veilchen, oder Cordelia, der Engel, oder Desdemona, die Heilige?
Ja wohl, es gehört ein sehr zartes Gewissen, ein sehr waches
Herz, ein sehr gezüchtigter Sinn, ein sehr — über den eigenen Be¬
stand und Werth, Nothstand und Schaden — aufgeklärtes Auge
dazu, um das Höllcnfeuerzeichcn der Armuth und des Verbrechens
zu sehen. Champagnertrunken und trüffelsatt mag Einer in Herr¬
lichkeit und Freuden mit Lazarus selbst Bruderschaft machen und
Arm in Arm mit dem Frack vom Trödelmarkt spazieren gehen, unter
dem kein Hemde ist. Mit einem weltweiten Gewissen mag Einer
sündfluthssicher dem Weltgeist schon verzeihen, daß er sich die Galee¬
ren zu Brücken in seine Zukunft baut und über das Aubum'sche oder
pennsylvanische System den Kopf zerbricht.
Desdemona als Heilige anbeten und Cordelia als Engel ver¬
ehren und dem französischen Helden des Schaffotts Bravo klatschen
— zwischen Beiden liegt nur ein Schritt, ein langer, ein sehr langer,
aber doch Ein Schritt. Und man kann an einem Tage auch ohne
Siebenmeilenstiefeln sehr weit kommen.
Nun, „ein schlechtweg fleckenloser Charakter ist aber freilich eine
leere Abstraction; die ungeschickte Geschäftigkeit, womit Desdemona
ihrem Gemahl immer zur Unzeit in Cassio's Angelegenheit beschwer¬
lich wird (ein Eifer, dessen Offenheit gerade ein Beweis von ihrem
guten Gewissen ist), die kleine Lüge über den Verlust des Tuches —
dies sind Züge weiblicher Schwäche, welche einer leeren Idealität
hinreichend entgegenwirken."
Wie, wäre Desdemona ein an sich unmöglicher Charakter, wenn
diese allerdings „hinreichend entgegenwirkenden" Kleinigkeiten vollends
fort wären? Ja, ein unmöglicher Charakter in dieser Welt des Ar¬
gen und der Sünde. Außer Einem gab eS keinen Menschen, den
man keiner Sünde hätte zeihen mögen. Und ist die Lüge noch so
klein, so ist sie Sünde. Und ist die „Offenheit" noch so schön, so ist
sie Leichtsinn, so ist sie Sünde, wenn sie zur Lüge führt oder sich ge¬
sellt. Ich schreibe hier keine Moral. Aber was soll man zu dieser
„kleinen Moral" unserer philosophischen Stimmführer, unserer ästheti-
sehen Hofmeister — mitunter auch unserer nobeln Verleumder und
falschen Ankläger sagen?
Die Schwäche ist die Mutter der Sünde, und der Sohn und
Sold der Sünde ist der Tod.
Armer Moritz Napp, der Du Dich ärger behandeln lassen mußt,
als ein Schulbube, weil Du darauf bestehst, daß Ophelia, daß Cor-
delia, daß Desdemona nur dadurch Heilige geworden sind, weil
sie Sünderinnen, kleine, schöne, liebenswürdige, aber doch Sünderin¬
nen gewesen sind. Aber Friedrich Bischer hat den Hegel studirt
und Moritz Napp die Menschheit; jener hat in geistreichen Abhand¬
lungen auseinandergesetzt, was komisch ist (Kühne läßt das für gute
Schulübung gelten, heißt es aber selbst deutsche Komik), dieser hat
die Physiologie der Sprache, dieser unmittelbarsten Offenbarung des
Menschenherzens ergründet: jener hat über Shcckspeare im Verhält¬
niß zur deutschen Poesie geschrieben, dieser hat Shcckspeare übersetzt;
jener hat jüngst an der Gliederpuppe der Hegel'schen Aesthetik einige
Dräthchen zu biegen, einige Höcker ein- und etliche Beine auszuren¬
ken versucht, — so etwas gehört gewiß in die Jahrbücher der Ge¬
genwart — dieser hat Atellanen gedichtet — ja, Friedrich Bischer
ist ein sehr großer Philosoph, und Moritz Rapp ist kein großer Dich¬
ter, aber Dichter doch, und Shakspeare ist auch ein Dichter und
gottlob kein 'Philosoph, d. h. keiner von der sehr großen Sorte.
Letzteres konnte er nicht sein, weil er ersteres war. Dichter sind
Söhne Gottes und sitzen in dessen geheimsten Weltenrath, liegen,
während die anderen Jünger und Philosophen das todte Osterlamm
seciren und verschnaufen, an des ewigen Meisters weltbelebender
Brust. Was hören sie darin klopfen? Den Puls des Lebens für
die Gottgebornen; den Hammer des Todes für die Weltgebornen,
Weltweisen und Nichtweltweisen. Und aus der Welt geboren war
doch Desdemona's „kleine Lüge", aus der Welt geboren war doch
Cordelia's — wenn auch nur momentane — Herzenshärtigkeit, aus
der Welt war doch geboren Ophelia's „überreife Schönheit"?
Shakspeare war gewiß kein Moralist, soll ich es seinem Ver¬
hunzer gegenüber sein? Aber wahr bleibt's, an diesem königlichen, ja
göttlichen Dichter kann unsere philosophentodte Zeit, unsere sitten-,
gesetz-, gewissen- und gottlose Zeit so gut als aus der Bibel lernen,
was Sünde und was Sittlichkeit ist. Sünde ist Alles, was sich be-
straft mit Tod und Untergang, mit Elend und mit Thränen. Und
die Thränen der Armuth, welche unsere Zeit weinen muß, und der
Tod des Verbrechers, den sie beklagen muß, kommt er vielleicht auch
von etwas, das ungefähr wie Sünde aussehen muß? Ja, wahrlich!
so gewiß jene Thränen und jener Tod eine Geißel und Strafe für
unsere Zeit sind und nur für ihre „Philosophen" nicht sind.
Die Quelle der Uebel, an denen unsere Zeit leidet, muß ver¬
stopft werden, darüber ist Alles einig; die bösen Wasser müssen ab¬
gedämmt werden, die guten fließen von selber aus dem ewigen Spring¬
quell der gottgeschaffenen Menschenbrust. Wer soll der Brunnenmei¬
ster sein? Der Philosoph, der dem Dichter das Auge ausschlägt,
womit er in die Tiefen der Gottheit und in die Geheimnisse der
Weltzusammenhänge, in die Räthsel von Tod und Leben zu schauen
vermag? Der wahre Dichter hat den Gott in seiner Brust, den Gott
des Lebens und der Wahrheit, und läßt sich von keiner noch so
grundgescheidten Weisheit den todten Lügengötzen dafür auf den Al¬
tar der Sünde und des Verderbens pflanzen. Der wahre Dichter
ist ein Priester, der nur die Sünde opfert und nur ihre Schuld
auf dem Brautaltare verzehren läßt, damit die so von Sünde und
Schuld gereinigte Seele nun als nieverlöschender Stern am Himmel
glänze. Was mithin „nicht fleckenloser Charakter" ist, muß unter
dem Opferbeil der Dichtung sterben, damit es auferstehe zu verklär¬
tem Geistesleben. Aber die Kinder der Welt und ihrer Weisheit von
gestern sind klüger, als die Kinder des Lichts: nicht sterben sollen
ihre Helden, um zu leben, sondern leben sollen sie, um zu sterben:
lebendig todt müssen sie sein.
Der Dichter zeigt: sterben muß, was nicht ganz rein zu leben
wußte, und mit todeömuthiger Hand zerschlägt er das edle Gesäß um
des einen Fleckens willen, um es in dem beißen Todes- und Trüb-
salötiegel dem ungetrübten Himmelsglanze entgegenzuschmelzen, — da
kommt der Philosoph und zeigt: Der Flecken ist wohl da, aber es ist
kein Flecken, und das „nicht fleckenlose" Gemächte bricht der grillen¬
hafte Schöpfer nur zusammen um an dem Glanz des umgegossenen,
neugeschmolzenen Götterwerkes zu zeigen, daß dasselbe trotz des Flek-
kens ein fleckenloses war. Wundervolle Dialektik, die jeden blauen
Nebel weiß zu machen weiß!
Was wird solche Dialektik zu den blutigen Köpfen und den
hungerigen Mägen der armen verbrechenvollen Gegenwart zu sagen
haben? Freilich muß jene um ein Jahrzehend, ein und das andere
Jahrhundert zurück; freilich muß sie die Poesie, die noch ein schla¬
gend Herz im Leibe hat, an die Vergangenheit verrathen; freilich
muß sie erst Shakspeare verstehen lernen, damit sie den Puls der
Zeit begreifen lerne. Ist's der Tod, der in diesen glühenden Adern
hämmert und einen Nagel um den andern in den Sarg der noch
allzuweit in diese Zeit hereinragenden Vergangenheit schlägt, so soll
und muß die Philosophie, wenn sie zur Krankenwarte wenigstens
Gefühl und Muth hat, nach der bösen Wurzel des Todes graben,
die mit tausend Aesten und Fäden in das Herz der Menschheit sich
eingeteufelt hat; ist erst das Unkraut fort, so wird der Baum des
Lebens schon von selber wachsen, daß auch die Philosophie an seinen
goldenen Aepfeln sich wieder gesund schauen und lebendig essen kann.
Also nur fort mit dem dummen Hofmeistern von Poesie und
Leben durch eine blöde, überreife Weisheit, die kein Recht, also al¬
lerdings auch keine Pflicht an das Leben hat; eine Philosophie, die
den Tod nicht versteht, vermag nicht zu leben und Leben nicht zu
begreifen, geschweige denn zu geben. —
Am nächsten Tage zog die Fürstin mit Elisa und ihrer Diener¬
schaft ans die nahe gelegene Villa ti Castcllo. Sie erklärte, in der
Stadt ersticken zu müssen, und war entzückt, daß draußen doch wenig¬
stens Lust wehte, wenn auch immerhin noch eine warme. Allerdings
hatte die Eilfertigkeit, mit welcher sie sich diesmal auf's Land begab,
auch noch eine Nebenabsicht, nämlich Thomaso und Elisen zu trennen,
da die Söhne ihrer Arbeiten im Ministerium wegen in der Stadt zurückblie¬
ben Der Fürst wollte in einigen Tagen nachfolgen. Inzwischen feierte
man in einigen Tagen die Johannes-Feste. Dieser Trouble, welcher
für die Fremden in seiner Neuheit sehr anziehend ist, hat für die¬
jenigen die ihm schon oft beigewohnt, oder doch für einen Theil der¬
selben wenig Lockendes mehr. Namentlich ließ sich die ruheliebende
Fürstin nicht bewegen, auch nur Ein Mal die Binnenstadt deshalb
wieder aufzusuchen. Nicht ganz so ohne Verlangen blickte Elisa da¬
hin zurück und war sehr erfreut, als dle Vorbilder einer gleichfalls
in der Nachbarschaft ihre Villa bewohnenden Familie ihr die Erlaub¬
niß verschafften, mit jener den herkömmlichen großen Ball zu besuchen,
den das adelige Casino in seinem schönen Palast am Arno in dieser
Zeit gibt und welcher stets durch die Gegenwart des Hofes verherr¬
licht wird. Es war nicht früh mehr, als man daselbst anlangte, und
der jüngere Theil der glänzenden Versammlung bcrettS im Tanz be¬
griffen. Wie klopfte Cusa's Herz, als sie sich nach dem Geliebten
umsah! Wie hätte es ihrem Gefühl geschmeichelt, wenn sie ihn ab¬
getrennt von der allgemeinen Freude, ihrer gedenkend, sie vermissend,
still in sich gekehrt dastehen erblickt hätte! Aber ach! diese halbeHvffnung
mußte nur zu bald in ihr Nichts zerrinnen! Denn jene schone, be¬
wegliche Männergestalt dort an der Seite der reizenden Fremden, die
heute alle Künste der Toilette erschöpft hatte, um ihren natürlichen
Vorzügen zu Hilfe zu kommen, der Marquise von Garcia: war es
nicht Thomaso, in einer Pause des Tanzes das lebhafteste Ge¬
spräch mit seiner Dame führend? Freilich eilte er, sobald er später
Elisens ansichtig wurde, froh überrascht zu ihr hin und gab ihr sein
Vergnügen in gewiß innig empfundenen Worten zu erkennen, aber
sein Gesicht hatte auch ohne sie, und einer Andern gegenüber, vor
Freude gestrahlt, und der Fürstin höhnender Ausruf: Du bist nicht
die Erste, die er geliebt, und wirst nicht die Letzte sein! hallte, un¬
barmherzig ihr Inneres zerwühlend, durch dasselbe wider.
Arme, thörichte Elisa, von einem Manne und noch dazu von
einem Italiener das ausschließliche Gefühl zu erwarten, das höchstens
in dem reinen Frauenherzen wohnt! Empfand doch selbst Petrarca,
trotz seiner vergötternden Liebe für die schöne Laura, weder ästhetische
noch moralische Gewissensbisse, als er neben dieser reinen, ihn durch¬
dringenden Flamme noch andere nährte, die weniger zu seiner Läu¬
terung beitrugen!
Wie schon bemerkt, nimmt die großherzogliche Familie an die¬
sem Feste Antheil. Damit sie die Erleuchtungen und Feuerwerke
draußen besser schaue und zugleich von dem drunten wogenden Volke
gesehen werde, ist an diesem Tage eine eigene Tribune nach dem
Arno hin erbaut, auf welche sie mehrere Male hinaustritt. Laute
Vivats begleiten dann immer ihre Erscheinung. Ueberhaupt wird
Leopold II., der den schönen Thron der Medicäer jetzt besitzt, auf¬
richtig geliebt von seinen Unterthanen; ein Tribut, der seiner gerech¬
ten und humanen Negierung auch in vollem Maße zukommt, wie
denn ohne Frage dieser Theil von Italien aufs Vortheilhafteste ge¬
gen seine Brüder absticht, und der deutsche Einfluß darin unverkenn¬
bar ist. So wird, wenn der Großherzog mit den Seinen unter sich
weilt, nur deutsch gesprochen, und selbst seine Gemahlin, die es kaum
versteht, muß sich darein fügen, wie der ganze Hof in Manches, was
mit Grund und Boden, Sitten, Sprache und Klima des Landes,
mag es auch sonst heilsam sein, doch oft in grellem Widerspruch steht.
Auch heute nun hatte die erhabene und liebenswürdige Familie sich
durch ihre Herablassung aufs Neue die Herzen gewonnen und meh¬
rere Stunden in der wogenden Versammlung zugebracht. Nachdem
sie sich daraus entfernt, wurde die, früher nur ihr reservirte Tribune
ein Tummelplatz der allgemeinen Belustigung, und auch Marianna
Ricci und Elisa fanden sich dort zusammen. Sie standen Hand in
Hand, den prachtvollen Anblick des bis in die Kuppelspitzen erleuch¬
teten Doms, so wie des Johanneötempelö bewundernd, ab und zu
das überall in Anspruch genommene Auge von der Hohe in die
Tiefe richtend, wo vom Arno herauf gleichfalls unzählige Lichter
schimmerten. Das fröhlichste Treiben herrscht an dem heutigen Abend
auf dem Flusse. Barken und Gondeln, in denen gegessen, gemmken,
gejubelt und musicirt wird, schwimmen hinauf und hinunter. Auf
dem Ponto allo Carajo steigen zahllose Raketen in die Lust. Heite¬
rer Lebensgenuß, buntes Gewimmel überall. Man sollte denken, das
Vergnügen sei die Hauptsache in der Welt, und Thränen und Kum¬
mer nur Märchen!
Dennoch, war es nicht, als spiegele sich der glänzende Strahl
von drüben in einem Tropfen, der aus Elisa's Auge rann? —
Marianna! wenn dies Fest wiederkehrt, in einem Jahre, wie wird
es dann mit uns stehen? sagte sie leise und drückte dabei der Freun¬
din Hand.
— Vielleicht bin ich dann schon todt! entgegnete diese schwer-
müthig, und waS kann mir auch das Leben noch bieten, wenn Lo-
renzo sür mich verloren ist? — Das wird er nicht, Du Theure!
Für Dich spricht bevorwortend so mancher eifrige Mund, so Viele
sind auf Deiner Seite, die am Ende den starren Sinn des Einen
doch noch bewältigen werden, aber ich — die Tochter des Geächte¬
ten, Verbannten, wer nimmt sich meiner an? Selbst die, die mir wohl¬
wollen, schelten mein Gefühl eine Thorheit, wo nicht gar Verbrechen!
— O, Elisa! und was hilft eS mir, wenn Viele sür mich sind, und
nur der Eine, von dem Alles abhängt, gegen mich? ich werde darum
nicht glücklicher sein! — Und am Ende — flüsterte hier Elisa, ganz
nahe zu der Freundin hingewandt, in ihr Ohr, werden wir auch
Beide so geliebt, als wir lieben? wie, wenn sie auch ohne uns zu¬
frieden sein konnten und unser bald vergäßen? — Besser dann,
wir stürzten uns hinunter in den Strom, rief da Marianna leiden--
schaftlich und fast mit lauter Stimme.
— Don Thomaso! leihen Sie mir doch gefälligst Ihren Arm,
um durch das Gewühl bis an die jenseitige Balustrade zu kommen!
ließ sich in diesem Augenblick die halb lockende, halb gebieterische
Stimme der Marquise Garcia hinter dem Rücken der Freundinnen
vernehmen. Sie sahen sich um. Da stand daS Brüderpaar, offen¬
bar zu ihnen hinstrebend, der Eine aber von der Spanierin attaauirt,
während den Andern die schöne Oesterreicherin in Anspruch nahm,
die in Italien den ihr prädestinirten Prinzen Pi suchte, indem sie
ihn um seine Lorgnette bat, da sie die ihre vergessen habe.
— Die abscheulichen Weiber! sprach Elisa erbittert, als sie sah,
wie der Geliebte ihr entführt wurde. Lorenzo aber, nachdem er den
Augen der schönen Bittstellerin die gewünschte Verstärkung artig ge-
währt, trat zu Marianna heran und sagte: Ich bin in Verzweiflung,
Geliebte! Auch nicht die Fürbitte des Großherzogs hat den Fels er¬
weicht. Don Heri sagte mir, daß sie mit der größten Huld für uns
heute Abend erfolgt sei. Aber auch hier nur die alte verhöhnende
Antwort: Mein Sohn ist durchaus nicht gehemmt in seiner Wahl;
nur bin ich leider unfähig, ihn im Mindesten zu unterstützen. — Was
die arme Marianna erwiederte, so wie das klagende und zärtliche
Geflüster der Liebenden, welches nun nachfolgte, überhaupt, verhallte
in dem sie umgebenden Lärm, bis bald darauf Marianna sowohl
als Elisa abgerufen wurden, um die Rückfahrt nach Haus
anzutreten.
Die Abreise der Fürstin Martini nach Rußland war nun de¬
finitiv beschlossen. Die Nothwendigkeit erheischte sie, und so mußte
man denn all die damit verbundenen Odiosa muthig in's Auge fas¬
sen. Der Debatten über die Einrichtung des Ganzen waren viele
gewesen. Anfangs hegte der alte Fürst sogar den Plan, seine Ge¬
mahlin selbst zu chaperonnircn, dann sollte einer der jüngeren Söhne
mit, von denen Lorenzo aber nicht Lust hatte, und Thomaso von der
Fürstin abgelehnt ward, bis endlich, auch um die Kosten so viel als
möglich zu sparen, die Dame sich entschloß, in Begleitung Elisa's
und einer anständigen Dienerschaft allein zu reisen. Elisa, von der
Angst verfolgt, ihre Wohlthäterin könnte bei dieser Gelegenheit den
Plan hegen, sie ganz in Rußland zurückzulassen, bezwang gewaltsam
den Schmerz einer so langen Trennung von dem Geliebten und that
Alles, um sich die volle Gunst der Fürstin wieder zu gewinnen. Je¬
der Blick, jede Bewegung in Gegenwart Thomaso'S wurde beherrscht,
damit nur wo möglich die Erinnerung an das Vorgefallene vorerst
ganz in den Hintergrund trete, und nur unter Zittern und Zagen
begab sie sich am Abend vor der Abreise zu einem letzten Rendezvous
in den Park, hoffend, die Fürstin, von Abschiedsbesuchen umringt,
werde sie für kurze Zeit nicht vermissen.
Rasch eilte sie durch die balsamischen Duft aushauchenden Vlu-
mengänge in die schattigen Alleen hin, welche zu dem bestimmten
Platz führten, als ihr plötzlich Fürst Thomas entgegentrat. Die Her¬
ren hatten einem Diner in der Nachbarschaft beigewohnt, wobei der
Champagner nicht gespart wurde, und so glühten denn die Wangen
des Oberhaupts der MantiniS in fast jugendlichem Noth, seine Au¬
gen sprühten Feuer, und. er schien ganz in der geeigneten Stimmung,
die Würde seines Wesens ein Mal in einem kleinen angenehmen
Delassement zu verläugnen.
Aus keinem andern Grunde nun hielt er die nach einer tiefen
Verneigung eiligst vorüber wollende Elisa, die er sonst vornehm zu
übersehen pflegte, mit freundlichen Worten auf, faßte sie unter dein
Arm und kehrte mit ihr um in das verschwiegene Laubgrün. Anfangs
war die Arme über eine solche Begegnung höchst erschrocken; sobald
sie sich aber gefaßt und den gefürchteten Herrn so freundlich sah,
hielt sie dieselbe für eine gütige Vermittlung ihres Genius und be¬
schloß, die Gelegenheit nicht vorübergehen zu lassen, ohne sich wo
möglich in der gewichtigen fürstlichen Gunst festzusetzen. Sie küßte
demnach ehrerbietigst die ihr dargebotene Hand, welche sich alsbald
herabließ, die jugendliche Stirn und Wange liebkosend zu streicheln,
und nahm mit Entzücken die lobenden Worte in sich auf, die der
ganz verändert scheinende, redselige Fürst ihr spendete. — Haben sich
vortrefflich in meinem Hause betragen, sagte er, sie an sich drückend,
die jungen Leute sich fern gehalten, deren thörichtes Geschwätz immer
Unheil bringt, und mau könnte Sie Andern zum Muster aufstellen.
Da ist zum Beispiel die Mattanna Ricci, die den Lorenzo an sich
gelockt hat; aus der Geschichte kann nie etwas werden, aber wer so
vernünftig wie Sie ist, wird auch schon einsehen, daß die Gewogen¬
heit gereifter Männer ersprießlicher ist, als die aus der Luft gegrif¬
fenen Betheuerungen leichtsinniger Jugend.
So niederschlagend diese Lobrede einerseits auch für Elisa's
Wünsche war, so schmeichelhaft sprach sich doch die Gesinnung des
Fürsten gegen sie darin aus, und sie unterließ nicht, ihren Dank da¬
für, so wie die Hoffnung, derselben stets würdiger zu werden, aus¬
zudrücken. Des alten Herrn Gunstbezeigungen erwiesen sich darauf
immer wärmer, bis plötzlich das geängstete Mädchen, die Natur der¬
selben ahnend, den sie unväterlich umfangenden Arm heftig von sich
stieß und raschen Laufs die Allee hinab und aus einem Gang in
den anderen lief, um nur dem ihr anfangs nacheilenden zu entkom¬
men. Doch ihre Prüfungen waren noch nicht zu Ende. Den Plan
eines Zusammentreffens mit Thomaso hatte sie ganz aufgegeben, konnte
eS doch jeden Augenblick aufs Schrecklichste gestört werden; mit nach
dem Ausgang deS Parks strebte sie hin, um die Villa alsbald wie¬
der zu erreichen. Da, fast erschöpft in eine mit Myrrhen und Oran¬
gen eingefaßte Rotunde einbiegend — war'S ein Traum ihrer er¬
hitzten Phantasie, oder vollends vernichtende Wirklichkeit, als sie dort
auf der Ruhebank, neben der Statue des Pfeile versendenden Cu-
pido, den Geliebten in der Umarmung eines Weibes erblickte, dessen
Flammenaugcn Niemand anders als der Marquise von Garcia an¬
gehörten? Mit einem lauten Schrei sank sie zu Boden und hörte
nur dumpf, wie man zu ihrer Hilfe herbeieilte, instinctartig aber doch
das Flacon von sich stoßend, mit dem eine weiche Hand sich ihr
nahen wollte. — Ah, die Kleine zürnt! sprach darauf widerwärtig
lachend die Dame, was gilt'S, ein tlvpit -tmoureux, Don Thomaso!
ES läßt sich denken, daß ein galanter Cavalier so bequeme häusliche
Gelegenheit nicht von der Hand gewiesen hat!
Thomaso aber entgegnete unwillig: Frau Marquise, die junge
Dame, meiner Mutter Pflegetochter, ist vollkommen unbescholten und
tadellos. Sie hat ein Anrecht an meinen Schutz, und ich muß da¬
her um Erlaubniß bitten, sie in die Villa zurückgeleiten zu dürfen,
da sie morgen mit der Fürstin Italien verläßt und ein Unwohlsein
von den traurigsten Folgen sein dürfte. Auch sagt' ich es Ihnen ja
gleich voraus, daß ich für heute eigentlich nicht die Ehre haben könnte,
Ihr Führer zu sein. — El, el, ein Abschied in bester Form! gab die
Marquise aufs Neue lachend zurück, während Don Thomas» die
wieder zu sich kommende Elisa emporhob und stützte; nun, ich über¬
lasse Sie willig Ihrem barmherzigen Samariterami, da meine Hilfe
die Kleine ja doch verschmäht, meine Rosse ohnedies auch ungedul¬
dig stampfen werden. Addio, schöner Don! auf ein ander Mal! und
dahin entrauschte sie.'
Ein Strom von Thränen entrann Elisas Augen, als ihr Be¬
wußtsein vollends zurückkehrte. Schaudernd wies sie Thomaso's Bitte,
sich auf der Bank, die er so eben mit der Marquise eingenommen,
auszuruhen, von sich, winkte nur vorwärts und hörte schweigend die
Rechtfertigung an, mit der ihr Führer während des Gehens sein Thun
zu beschönigen strebte.
Die Marquise war gleichfalls Gast bei dem Diner gewesen,
welchem man beigewohnt, und in einem glänzenden Phaeton ange¬
fahren gekommen, dessen Pferde sie selbst gelenkt hatte. Natürlich
wurde die schöne, kühne Rossebändigerin vielfach bewundert, nur Tho¬
mas» wollte Zweifel in ihre Geschicklichkeit gesetzt haben. Da, als
die Gesellschaft auseinanderging, lud ihn die Dame in Gegenwart
vieler Cavaliere und unter mannichfachen Neckereien wegen seiner
Furcht so dringend ein, ihr Zügelregiment ein Mal ganz in der Nähe
zu prüfen, daß er sich lächerlich machte, hätte er länger ausweichen
wollen, und auf diese Weise in den vorerwähnten Phaeton gerathen
war.
An der Villa ti Castello darauf angelangt, hatte die Marquise
plötzlich still gehalten und den Wunsch geäußert, das Innere des
Parks zu durchstreifen; auch hier seine verblümte Weigerung nicht
beachtend. So war denn die unglückliche Promenade, l-us-me lwonv
mi»<z mi MÄUvms jeu, angetreten, und Dank sei es den ferneren ge¬
schickten Operationen der Andalusien», bis zu dem Punkt gediehen,
wo die holde Sensitive des Nordens, wie vom Bild der Meduse
getroffen, bei ihrem Anblick zusammensank. — Ich schwöre Ihnen,
Elisa! daß ich dies Weib verachte, schloß Don Thomaso seine Apo¬
logie; sie aber schüttelte, wie nicht überzeugt, das gebückte Haupt und
wehrte seine fernere Begleitung ab, da man bereits Der Villa so
nahe gekommen war, daß man von dort aus beobachtet werden
konnte. —
Florenz, Fiorenza, heißt, und wohl mit Recht, die Binnenstadt!
aber Blumen entzücken nicht blos die Sinne, sie sind auch be¬
täubend und wirken narkotisch ein, so wie hier ans die feineren Ge¬
fühle der Tugend und Ehre, daß sie noch mehr wie in anderen gro¬
ßen Städten von dem Gift der Verführung allgemach angehaucht
werden und verblassen. Es ist, als schwebte hier etwas in der Lust,
eine Art von feinem moralischem Cholerastoff, ein Seelen-Miasma,
das die festesten Grundsätze, wenn sie auch vorhanden waren, an¬
greift, corrodirt und auflvs't. Und dabei bleibt die äußere Stellung,
wenn auch etwas gebückt, bestehen, insofern nur das nöthige Deco¬
rum beachtet wird; ja man gewinnt am Ende oft noch dabei, der
öffentlichen Controle — die in der That das Geheimste an'S Licht
zu bringen weiß, — die Stirn zu bieten und sich interessant zu ma¬
chen. Gerade diejenigen, die viel zu verbergen haben, zeigen sich
am meisten überall, und die oberflächliche Achtung versagt sich ihnen
nicht, falls sie nur irgend ein äußeres Gut, Schönheit, Reichthum
oder Stand in die Waagschale legen können. Daher kommt es denn
auch, daß Florenz der Sammelplatz aller abgeblichenen, anrüchigen
Reputationen ist; eine Menge Glücksritter, Escrocs, falsche Spie¬
ler u. tgi. sammeln sich hier, und unter den Damen, welche aus al¬
len Nationen hier ab- und zuflattern, sind der galanten und zwei¬
deutigen nicht die wenigsten. In der That, es lohnt in Florenz fast
gar nicht der Mühe, tugendhaft zu sein, wenigstens für Andere nicht.
Wer es nicht um seiner selbst willen ist, der braucht hier keinen An¬
lauf dazu zu nehmen, und auch dieser hat mehr als irgend anderswo
in solch verführerischer Atmosphäre darauf zu achten, daß, wenn er
steht, er über kurz oder lang nicht dennoch falle!
Arme Elisa, mit Deinen holden Träumen von Liebe und Treue
und Männerwerth, welche Schmerzen wirst Du noch erdulden müs¬
sen, ehe Du Dich ganz von ihnen losringst! —
Noch spät am Abend, nachdem bereits jeder andere Besuch sich
entfernt, traf Marianna Ricci ein, um sich der ihr so wohlwollenden
Fürstin zu empfehlen und von der geliebten Freundin Abschied zu
nehmen; auch sie sollte in wenigen Tagen, den Beschlüssen ihrer Fa¬
milie zufolge, Florenz verlassen und zu Verwandten nach Rom ge¬
hen. Des Fürsten überall so laut und entschieden allsgesprochene
Mißbilligung hinsichtlich Lorenzo's Verhältniß zu dem jungen Mäd¬
chen hatte sie diese Maßregel nothwendig erachten lassen.
Mit unverkennbaren Zeichen von Liebe und Betrübniß sagte die
Fürstin ihr Lebewohl, und wie lange standen darauf die beiden Freun¬
dinnen Arm in Arm an dem offenen Fenster in Elisa's Zimmer,
thränenvoll in die Herrlichkeit der florentinischen Nacht hinausschauend!
— Eine Ahnung sagt mir es, wir werden uns nicht wieder se¬
hen! seufzte Elisa. — Ja, wir sind dem Unglück geweiht; auch ich
glaube es, entgegnete Marianna. Dann tauschten sie noch Ringe
und Locken und fielen sich immer wieder noch ein Mal in die Arme,
bis endliches Scheiden die Nothwendigkeit gebot und mit verhülltem
Antlitz Marianna davon wankte, während die Zurückbleibende auf
ihre Kniee sank und darnach trachtete, im Gebet Kräfte zu sammeln,
— Sie wollen wissen, ob die Fürstin Martini, deren wohlwol¬
lendes Wesen einen so angenehmen Eindruck auf Sie gemacht, glück¬
lich von ihrer Reise nach Rußland zurückgekehrt? Die Aermste wird
nimmer wieder den kalten Newa-Strand mit den lachenden Ufern des
Arno vertauschen, denn sie ist gestorben dort, und zwar schon in den
ersten Tagen ihrer Ankunft. Die Seereise hatte sie außerordentlich
allgegriffen; das Erbrechen war bis zum Blutauswurf gediehen, und
so war sie denn bereits sehr krank in Petersburg angelangt und starb,
wenn schon im Vaterlande, doch im Gasthofe, unter Fremden, und
nicht einmal Religionötrost ist ihr zu Theil geworden.
Als sie sich mit dem Fürsten Martini vermählte, war sie von
dem griechischen zum katholischen Glaubensbekenntniß übergetreten,
was die russische Regierung ignorirt und ihre Güter nicht confiscire
hatte, wie es sonst das Gesetz vorschreibt, in den letzten Augenblicken
aber blieb sie nun sowohl ohne griechischen, wie ohne katholischen
Priester; ja, eS sollen sogar ärgerliche Scenen deshalb stattgefunden
haben. Welch' arges Geschick für eine Frau, die so gut und wohl¬
thätig war, wie unsere Fürstin Martini! Ich höre noch, wie sie, die
stets an Echauffement litt, bei meinem Abschiedsbesuch lächelnd und
sich fächelnd sagte: DaS Einzige, worauf ich mich in Nußland freue,
ist, daß ich ein Mal wieder frieren kann!
Sie erinnern sich gewiß noch der jungen Dame, welche die Für¬
stin zu sich genommen, auch eine Russin, die mit einem vortheilhaf-
ten Aeußern so viel Talent und Bescheidenheit verband? Diese Arme
hat mit dem Tode ihrer Wohlthäterin gleichfalls Alles verloren und
geht jetzt — mich schaudert mitten im warmen Italien — nach
Jrkutzk in Sibirien, wo Vater und Bruder von ihr als Verbannte
leben und eine Schule errichtet haben sollen. Ich verdanke diese
Notizen der Gräfin M., welche jüngst von Petersburg hier einge¬
troffen ist. Ihr Fürwort hat dem verlassenen Mädchen dort viel ge¬
nützt, auch würde sie ihr leicht eine Stelle als Erzieherin verschafft
haben, wenn nicht ihr Entschluß so fest gestanden. In der That ein
schönes Opfer kindlicher Liebe! —
Fürst Thomas Martini zog gleich, nachdem er die Todespost
empfing, aus der Stadt auf seine Villa ti Castcllo, wo er noch ver¬
weilt. Vor Kurzem speiste ich mit ihm und seinen jüngeren Söh¬
nen in der Nachbarschaft. Sie waren Alle in tiefer Trauer, schienen
aber doch bereits ziemlich getröstet.
Der alte Herr will die Leiche der verstorbenen Gemahlin hier¬
her in's Erbbegräbniß kommen lassen, es scheint mir übrigens ganz
so, als nähme er, trotz seiner fünfundstebenzig Jahre, noch die dritte
Frau, wenn sich eine reiche dazu fände. Er sieht in der That für
sein Alter noch jugendlich kräftig aus und befleißigt sich der galan¬
testen Manieren.
Von Don Thomas» und Don Lorenzo hat Fama auch allerlei,
wenn nicht gerade in die Posaune gestoßen, doch gelispelt. Sie
kennen schon die Art und Weise der hiesigen vornehmen Welt, den
Leuten hinter die Schliche zu kommen. Wirklich, „Geheimnisse von
Florenz" gibt's gar nicht, oder es bedarf wenigstens nicht des Preß-
bengels, um sie an's Licht zu ziehen, da hier mit Auge und Ohr
Alles ergründet und besprochen wird. Es leben die Canaans! was
sollten auch italienische und selbst deutsche Edelleute ohne sie beginnen?
So soll denn zuerst Don Lorenzo, dessen lange treue Liebe zu
der schönen Marianna Ricci als etwas nie Vorgekommenes früher
allgemein Erstaunen erregte, seit die junge Dame Florenz verlassen,
von einer reizenden Löwin aus Wien erobert worden sein, die von
einer Somnambule, wie man sagt, auf ihn angewiesen worden ist,
und an deren Triumphwagen er jetzt mit allen Kräften ziehen muß.
Don Thomaso's Stern oder Unstern hatte gar eine gefährliche Lionne
über die Pyrenäen hergeführt, welche es ganz und gar auf den in der
That schönen Mann abgesehen und den fast widerstrebenden in ihre
Fesseln gelegt haben soll. Doch mißfiel dies Verhältniß besonders
seinem Oheim, dem Minister, man sagt aus politischen Gründen, und
die Dame hat daher in den letzten Tagen, nicht ganz freiwillig, wie
es ferner verlautet, die Stadt der Lilien verlassen, die um neue Zu¬
fuhr jedoch nicht verlegen ist! Eben, da ich schließen will, tritt ein
Bekannter ein und sagt mir, daß Marianna Ricci in Rom den
Schleier genommen! Holdes Mädchen! nicht über siebenzehn Jahre,
hatte das Leben kein freundlicheres Loos für Dich? Ach, vielleicht
nur, weil der Schleier von Deinen Träumen von Glück und Liebe
gefallen, hüllst Du Dich in diesen neuen, düsteren ein. So möge
er denn wenigstens dem gequälten Herzen Frieden geben. Wie sagt
Hamlet?
Geh' in ein Nonnenkloster l
„Denn der Regen, der regnet jeglichen Tag."
„Thome friert!"
Ein Jahr vor mir hatte Gräfin Jda Hahn-Hahn Schweden
besucht, und die Frucht der Reise war — wie es bei dieser Dame
unausbleiblich ist — ein Buch. Man las dasselbe in Stockholm,
und ich fand die Leute höchlich erzürnt über den Unsinn und die
Entstellungen, welche es enthält. Kommt ein Deutscher nach Schwe¬
den, so nehmen ihn die Stammverwandten als Bruder auf, und ihre
herzliche Wärme macht einen doppelt wohlthuenden Eindruck, wenn
man bedenkt, wie wichtig in unseren Tagen das gegenseitige Ver¬
trauen der Völker zu einander ist. Treten nun Unberufene hervor
und machen den perfiden Versuch, eine befreundete Nation durch
Spott und Schimpfreden zu erbittern, dann hat alle Schonung ein
Ende, dann ist es Pflicht, und geschliffenen Worten drein zu schlagen.
Man muß den Schweden zeigen, wie in Deutschland solches Ge¬
schreibsel gewürdigt wird, sonst halten sie uns drüben für ganz ent¬
artet und glauben, wir fänden unsere Lust an dem noblen Ricaniren.
Zuvörderst will ich erklären: das Werk der Hahn-Hahn ist
durchaus kein Original, sondern eine matte Nachahmung des be¬
rüchtigten Buches von Gustav Nicolai'6: „Italien, wie es wirklich
ist." Gleich diesem Autor rafft auch die Gräfin alle Schattenseiten
Schwedens mühsam zusammen, übertreibt sie bis in's Aeußerste und
erfindet welche, wo es keine gibt. Für des Landes Schönheiten aber
hat sie weder Auge noch Sinn; sie bespricht dieselben absichtlich nicht,
und ihre Schrift soll, gleich der Nicolai'schen, eine Warnungsstimme
sein, um alle Reisenden zurückzuschrecken. Die gute Frau sagt aus¬
drücklich: „Man fängt sehr an, ein Neiseintercsse für den Norden zu
gewinnen, denn bei der allgemein grassirenden Neisewuth, von der
auch ich als ein echtes Kind unserer Zeit und unserer Welt behaf¬
tet bin, reicht der Süden nicht mehr aus. Aber man kennt den Nor¬
den so wenig — ich meines Theils habe ihn nur aus Dachl's poe-
tischen Gemälden gekannt — daß man unwillkürlich Lust hat. ihn
mit den Farben des Südens zu schmücken, weil der Süden schön ist
und weil ja auch der Norden schön sein soll. Da verfällt man dem:
gleich vom Hanse aus in den heftigsten Irrthum, und ich denke mir,
eS wird recht dankenswert!) sein für Alle, die mir nachfolgen, wenn
ich aufrichtig sage, wie ich'ö gefunden habe."
Also vollkommen Gustav II. Aber man würde Nicolai belei¬
digen, wollte man annehmen, sein Buch sei ganz so fade und abge¬
schmackt, als das der Gräfin Jda Hahn-Hahn. Er glaubte doch
nur, in Italien gebe es niemals Regen und die Apfelsinen wüchsen
dort wild, wie bei uns die Schlehen. Das war kindisch, und man
mußte darüber lachen. Wenn seine Nachahmerin jedoch fortwährend
klagt und jammert, weil sie oben am Mälar, unter dem neunund-
fünfzigsten Grad, keinen heißen Süden gefunden hat, so ist es mehr
als kindisch und man muß sie bedauern. Die Gräfin traf just einen
kühlen, regnerischen Monat — doch nein! sie war keinen vollen Mo¬
nat in Skandinavien — nun geberdet sie sich, wie besessen, und
verachtet Land und Volk.
Schon bei der Ueberfahrt beginnt ihre Noth; sie friert und ist
„unzertrennlich von ihrem kleinen violetten Pelz." Ich mache noch
besonders auf das Beiwort „violett" aufmerksam, damit nicht nach
Jahrhunderten einmal behauptet werde, Jda Hahn<Hahn'ö Pelz sei
grün gewesen. Wenige Seiten später aber sagt sie noch viel bedeu¬
tender: „Ich muß über mich lachen, daß ich in Berlin nach verschie¬
denen eingezogenen Erkundigungen geschwind einen weißen Mousselin-
cmzug in meinen Koffer legen ließ; den werde ich unangetastet nach
Haus bringen — das glaubt mir nur. Ich bin unzertrennlich
von meinem kleinen Pelz---. „Schon wieder der Pelz! Das
Buch scheint für Kürschner geschrieben zu sein.
Kaum hat der weibliche Nicolai Stockholm erreicht, so fangen
auch die faden Vergleichungen an: „Neapels Goldglanz und Vene¬
digs Zauberei fehlen ganz." Es ist wohl nicht möglich? Was doch
so eine geistreiche, weit gereiste Dame für treffende Bemerkungen zu
machen weiß! — Auf dem nächsten Blatte heißt es: „Vor einem Jahr
war ich gerade in diesen Tagen in Barcelona; doch von dem Va¬
terlande der Aloeö und Orangen ist hier auch nicht einmal verglei-
chungsweise zu sprechen. Vor drei Jahren war ich am Comersee;
aber der liegt auch wie ein Feengarten jenseits der Alpen! Doch vor
fünf Jahren in Wien, in dem ungeheueren Rosenhain von Laren¬
burg u. s. w/
Wer kümmert sich darum, wo die Gräfin gewesen ist, und ich
dächte, es wäre hinreichend, daß sie schon lange und langweilige
Bücher darüber geschrieben hat. Alle möglichen Punkte Italiens,
Spaniens und der Schweiz werden mühsam zu Protocollen herbei¬
geschleppt, und gewiß kommen künftig auch noch Aegypten, Syrien
und Mesopotamien hinzu. Die Vergleiche fallen sämmtlich zum Nach¬
theil von Schweden aus, und muß die Dame auch oft gestehen, daß
hier eine Landschaft schön sei, dann vergißt sie nicht, beizufügen, dort
oder dort war es doch schöner. Zum Beispiel sie steht Nachts am
Fenster und blickt über den Mälarsee: „Nachdem ich mich fröstelnd
in meine Mantille gewickelt, trat ich vom Fenster zurück, schloß es
und sagte mit einem kleinen Seufzer: In Venedig waren die Voll-
mondönachte anders."— Man würde es kaum glauben, wenn'ö nicht
eine Gräfin wäre, die es versichert.
Alles ist ihr unangenehm, Alles widerwärtig in Schweden: Wege,
Häuser, Speise, Leute und Geld; Felsen, Bäume, Wasser und Blu¬
men ; besonders aber Sonne, Himmel und Luft. Ohne Unterlaß er¬
zählt die Gräfin von trüben Wolken und gießenden Regen und doch
siegt des Buches Trockenheit über das wässerige Element. Mir war
beim Lesen zu Muthe, wie im Berliner Thiergarten, wenn eben ge¬
sprengt wird. Ganz unwirsch bezeigt die Verfasserin sich, sobald
eine frischkühle Luft weht; Jda Hahn-Hahn scheint eine Freundin
vom Schwitzen zu sein. Sie spricht dem Lande Schweden jede Schön¬
heit, jede Erhabenheit ab in Natur, Kunst, Literatur und — mit
geringem Vorbehalt — auch in der Geschichte. Wollte ich all das
Gekeif und Gesprudel hier wiedergeben, so müßte ich fast das ganze
Buch abschreiben, und das hielte ich nicht aus. Einige Beispiele, die
recht charakteristisch für das Machwerk sind, darf ich dem Leser je¬
doch nicht ersparen.
Jda Hahn-Hahn geht durch den Park von^Haga: „Da fanden
wir denn auch drei junge Männer; sie saßen auf einer Bank, stumm
und schweigend." Sie schwatzt nun ein Breites über das geheimniß-
volle Waldgrün deö Ortes, der unwiderstehlich zur Meditation auf¬
fordert, allein als treue Schülerin Nicolai's muß ihr selbst dies un¬
bedeutende Ereigniß Stoff bieten, um einen Schatten auf die Ge¬
müthsart der Schweden zu werfen. „Doch fiel es uns recht auf" —
sagt sie — „drei junge Menschen ganz stumm bei einander sitzend zu
finden, die Sonntags zu ihrem Vergnügen ausgegangen waren. Es
scheint, als habe man hier gar nicht das Bedürfniß der Zerstreuung,
der Belustigung." Die Bewohner Stockholms sind nun bekanntlich
gerade die größten Freunde von Geselligkeit und Zerstreuungen, und
oftmals wird ihnen sogar der unhäuöliche Sinn zum Vorwurf go
macht. Aber Jda Hahn-Hahn erzielt bei ihren logischen Versuchen
auch solche Resultate, wie: daß Häringe den Durst löschen. Nämlich:
auf gesalzene Speisen muß man trinken; Häringe sind eine gesalzene
Speise; Trinken löscht den Durst, folglich — löschen Häringe den
Durst. — Nicht wahr, das ist richtig? Aber, Frau Grä¬
fin, wenn die drei jungen Männer verliebt, wenn sie unglücklich
waren? Leute mit vollen, feurigen Seelen begehen Lust und Schmerz
in einer stillen, schweigenden Feier, und eine beredte Thräne bricht
aus dem Auge hervor. Nur leere,' fade Menschen, Frau Gräfin,
haben unter allen Lebensverhältnissen breites Geschwätz!
Wie treffend unsere Nicolai-Hahn den schwedischen National¬
charakter aus geringen Einzelnheiten darzustellen weiß, wird diese
Probe gezeigt haben. Zwar erfährt man über Schweden in dem
Buche eigentlich Nichts, sondern hört dagegen die abgestandenen Re¬
flexionen der Gräfin. Mitunter gibt sie aber wirklich überraschende
Notizen. „Die rauhe Luft, Regen und Sonne machen das blonde
Haar — der schwedischen Frauen — aus dem strohfarbenen in's
Grüne spielend." Das muß ja ein ganz absonderliches Colorit sein,
und die Schwedinnen könnten sich damit recht gut als Naturmerk-
Würdigkeiten auf Messen und Jahrmärkten sehen lassen. — „Ich habe
nie gewagt, einen (Papiergeld-Zettel) anzufassen, weil man mir ge¬
sagt hat, von drei Menschen im Volk hätten zwei die Krätze!" Pfui!
so ordinär ist Gustav Nicolai nie geworden, doch das kommt viel¬
leicht daher, weil ihm die Zirkel verschlossen sind, wo man sich ver¬
traulich über das „Volk" unterhält. — Weiter: „Mit Erstaunen sah
ich, welchen Werth man hier zu Lande auf Blumen legt, denn ein
Paar Damen hatten große Sträuße in den Händen, und zwar —
von Chamillen!" Jene Damen waren ohne Zweifel mit der Lectüre
eines Hahn-Hahn'schen Buches beschäftigt und wollten sich Chamil-
lenthee kochen. — Von den Schwedinnen sagt die Gräfin auch: „Ich
wundere mich, daß sich hier nicht alle Frauen auf's Reiten legen!"
Da kann man ihr aber die beruhigende Versicherung geben, daß
wenigstens den Stockholmer Damen in diesem Punkte kein Vorwurf
zu machen ist.
Ueber die schwedische Kochkunst, welche doch eigentlich in ihr
Fach schlägt, fällt die Nachahmerin Nicolai's folgendes Urtheil: „Lachs
und Aal, Erdbeeren und saure Milch sind die Hauptbestandtheile des
Speisezettels im Hütel du Nord." Der Reisende mag sich durch diese
Schilderung, die schon Choleragefühle in uns erweckt, nicht irre ma¬
chen lassen. Ich habe mehrmals ein sehr gutes Diner im Hütel du
Nord gehalten, und die dortige Karte zählt täglich mehr als zwanzig
Gerichte auf. Allein Jda Hahn-Hahn hat einmal die Intention,
Alles zu entstellen, darum sucht sie nur die Fische, die Compots und
llol-s et'oeuvrvs aus. Das ist gerade, als ob man von einer nam¬
haften deutschen Restauration behaupten wollte, daß es dort nur grü¬
nen Sallat und saure Gurken, PreißclSbeeren und marinirte Häringe
gebe.
In Bezug auf die Landessprache läßt unsere Reisende sich also
vernehmen: „schwedisch verstehe ich nicht—merkwürdiger Weise! —
bin ich immer geneigt zu sagen; denn wenn ich es höre, so mein'
ich es bei einem gewissen germanischen Klang fassen zu können. Die
Aussprache des ä ist ganz plattdeutsch, und manche deutsche Worte
kommen auch vor, aber sie haben andere Bedeutung und werden
anders ausgesprochen, als bei uns, so daß einem das Verstehen deS
Wortes doch nicht Verständniß des Sinnes gibt, und nur Verwun¬
derung, warum ich es nicht verstehe." Mich erinnert das lebhaft an
einen Berliner Friseur, den ich auf dem Dampfschiffe antraf und der
zu mir sagte: Die schwedische Sprache is doch man eijentlich weiter
Nichts, als ein gebildetes Plattdeutsch!
Fragt man sich nun: weshalb mußte Jda Hahn-Hahn über
ein Land, worin sie ein Paar Wochen umherrciste, ohne die Leute zu
verstehen, und wo ihr Alles durchaus mißfiel, gleich ein dickes Buch
schreiben? So lautet die Antwort: ihr vorgeblicher Drang zur Schrift-
stellerei ist erkünstelt, sonst hätte sie sich gar nicht weiter mit dem
langweiligen Schweden befaßt. Drittehalbhundert Seiten quält sie
sich darüber ab; ein einziger Tag muß oft an die zwanzig Seiten
liefern, denn das Reisen kostet Geld, und Honorar ist nicht zu ver¬
achten. — Wenn ich die Gräfin hier der „Buchmacherei" beschuldige,
so fühle ich wohl, daß eine solche Anklage mit genügenderem Beweise
belegt werden muß, und ich bin bereit, ihn zu geben.
Jda Hahn-Hahn sagt gleich auf der ersten Seite ihrer Schrift:
„Ich bin ganz unwissend über Schweden, weiß Nichts von dessen
Sprache, wenig von der Geschichte, und von der Literatur Dürftiges
durch ein Paar Uebersesungen." Es würde sich für einen Bürgerli¬
chen nicht geziemen, die Selbstbekenntnisse einer Gräfin in Zweifel zu
ziehen, und ich bin also von ihrer erklärten Unwissenheit vollständig
überzeugt. Nichts desto weniger theilt die Schreiben» im Verlaufe
dieses Buches eine Masse von Geschichtscreignissen und Jahrözahlen
mit, z. B.: König Magnus Ladulas hat von 1279—1230 regiert;
Erik's, des Heiligen, Geschlecht ist 125,0 ausgestorben; Erik IV. er¬
mordete am°24. Mai 1567 den Nils Strue und starb den 26.
Februar 1577 an Gift. Sie weiß auch, daß Louis de Geer, ein
Holländer, die Minen von Dannemora im Jahre 1627 dem Staate
abpachtete, aber Linne's Geburth- und Todesjahr weiß sie nicht, ob¬
gleich sie's ihrem Klärchen gern schreiben möchte. Wenn das nicht
bloße Renommage ist, so muß man der Gräfin rathen, sich das Kon¬
versationslexikon anzuschaffen, um bei ihrer Schriftstellerlaufbahn künf¬
tig ähnlichen Unbequemlichkeiten zu entgehen.
Da nun aber Jda Hahn-Hahn in Bezug auf Schweden „ganz
unwissend" ist, so wird man natürlich zu der Frage geführt: woher
sie alle die historischen Notizen genommen habe? Es läßt sich nur
erwiedern: Dieselben werden wohl aus Neisewegwcisem, oder derglei¬
chen, abgeschrieben sein, und in der Wiederkäuung solcher Dinge liegt
eben die Buchmacherei. Jda Hahn-Hahn empfindet eS, daß mit dem
aristokratischen Paradies des Mittelalters auch die eigentliche Reise-
beschreiber-Romantik verloren ging, darum sagt sie: „Dampfschiffe be¬
schränken die Erfindungsgabe ungemein. Man läuft Gefahr, auf
jedem Schritt und Tritt von einem Nachfolger controlirt zu werden,
und muß immer darauf bedacht sein, mit einem Geographiebuch in
der einen und einem Geschichtbuch in der anderen Hand die Rich¬
tigkeit und Wahrheit der Behauptungen vertheidigen zu können. „Die
Reflexion ist treffend, aber das Resultat falsch, denn es muß heißen-
Dampfschiffe beschränken das Lügen ungemein. Und das ist gut,
sehr gut! Wir sind der geschminkten Lüge überdrüssig und wischen
sie ab, wo wir sie finden.
Die Gräfin fähet den Göthercanal entlang, sitzt unten in der
Cabine, steigt aber doch zuweilen an'S Land. „Ich bin.dermaßen aus¬
gehungert nach Blumen"—ruft sie, „daß ich über ein Dutzend Kraut-
und Rübenbeete setzte, um eine einzige Rose am Strauche zu sehen
und ihren Duft einzuathmen. Vor einem Baum blieb ich stehen,
ganz verblüfft über dessen Schönheit; seine kräftigen Aeste trugen läng¬
liche, saftgrüne Blätter, zwischen denen Büschelchen von allerliebsten
glänzendrothen Früchten hingen. Ein Kirschbaum war'S!" Ha, Nico-
lai, ich erkenne Dich wieder! Komm an mein Herz! —Nun erreicht
die hohe Reisende Gothenburg und beklagt sich über die dortige
Theuerung. „Zwei Lastträger schafften heute früh unseren Koffer vom
Dampfschiff in den Gasthof, und einer schafft sie zurück: das kostet
fünf Bankthaler; der Thaler, wie ich eben höre, gilt sechzehn und
einen halben Silbergroschen." Bravo! Jeder Zoll ein Nicolai! In
Gothenburg ist das Leben sonst sehr billig, und der Lastträger hat die
Dame geprellt, aber das Honorar bringt Alles wieder ein.
Dem Himmel sei Dank! Jda Hahn-Hahn langt endlich in
Kopenhagen an. Sie verweilt nur vier Tage in der schönen Stadt
und schreibt nur vierzig Seiten darüber. Hier lebt sie auf, denn es
gibt heiße Mittagsstunden, und die Gräfin schwitzt. „Mit wahrer
Wonne" — sagt sie — „hab' ich mein armes Mousselinkleid wieder
zu Ehren gebracht, das eine verabsäumte und gedrückte Eristenz im
Abgrunde des Koffers bis dahin führen mußte." — Es wird gewiß
eine freudige Ueberraschung unter den Kopenhagenern erregt haben,
daß Nicolai der Jüngere in ihrer Metropole doch schon einige Los-
raffung aus dem Zustande roher Barbarei, ja sogar unbedeutende
Bildungsanfänge entdeckt, denn es heißt in dem Reiseversuch ausdrück¬
lich: „Ueberall gewahrt man wenigstens den Wunsch, aus dem Ur¬
zustand des kahlen Bedürfnisses herauszukommen, der in Stockholm
noch schlummert."
Im Uebrigen dreht sich Alles, was die Gräfin von Kopenhagen
zu erzählen weiß, um Kunstschwätzereien. Siebenundzwanzig Seiten
kommen allein auf die Frauenkirche und Thorwaldsen's Statuen. Es
schmeckt wie alter Thee, und man müßte verzweifeln dabei, wäre man
heutzutage nicht gewohnt, daß jede Mittelmäßigkeit sich in ästhetischen
Urtheilen breit macht. Frau Gräfin reden außerdem über Theologie,
Politik, Philosophie und Industrie mit derselben grundlosen Fadheit.
Solche Redensarten mag man in Damenkaffees für geistreich halten,
in der Literatur hält man sie für Kaffeegeschwätz.
Wie wenig Jda Hahn-Hahn im Stande ist, ein Land mit sei¬
nem Volk und seinen Sitten zu schildern, das hoffe ich nun hinrei¬
chend dargethan zu haben. Sie sollte Compilationen und Reisehand¬
bücher schreiben, wenn sie es einmal nicht lassen kann; die würden
ihr vielleicht gelingen.
Nächst dem ursprünglichen Trieb soll aber auch ihr Freisinn eine
Berechtigung zur Autorschaft sein. Nur Schade: derselbe zeigt sich
eben so als eine leere Maske, wie der poetische Drang. Zwar weiß
die Gräfin mitunter so eine Phrase von „Freiheit und Gleichheit"
mit einzuschalten, doch dergleichen verbrauchte Kunststücke imponiren
nicht mehr. Die Hahn-Hahn befindet sich im Ritterhause, wo man
die Wappen sämmtlicher schwedischen Adelsgeschlechter aufbewahrt,
und da sagt sie denn: „In einem Zimmer standen zwei frischgemalte
Wappenschilde auf dem Ofen zum Trocknen. Ich mußte lachen." —,
Dies Geschichtchen ist aber eine absichtliche Erfindung, da seit 1840
in Schweden Niemand geadelt wurde, und Jda Hahn-Hahn hat es
nur ausgedacht, um den schlechten Witz und das Lachen dabei an¬
zubringen.
Beides hätte sie jedoch sparen können, denn man pflegt im Mo.-
nat Juli keine geheizten Oefen zu haben, und die Geadelten sind
würdige Männer, deren Stammbaum nicht aus so ferner Zeit und
aus so zweideutigen Verdiensten, wie mancher andere, entsprungen
ist. — Später spricht sie von der Königin Christine und findet es
in der Ordnung, daß diese Fürstin den „gelehrten Salvius" zum
Reichsrath erhob, wundert sich dagegen, daß sie ihren Schneider adelte.
Als sorgsamer Commentator muß ich anmerken: hier liegt ohne Zwei-'
fel ein Druckfehler vor. Jda Hahn-Hahn ist wahrscheinlich mit der
Adelung des Schneiders einverstanden, wundert sich aber über die
Standeserhebung des Gelehrten. So scheint es wenigstens natürlich
bei einer Dame, die uns von violetten Pelzen und weißen Mousse-
linkleidern unterhält. Was geht die Gräfin aber der „gelehrte Sal¬
vius" an?
Ueber den Begriff dessen, „was man Volk nennt", scheint sie
auch ganz besondere Ansichten zu hegen, bei denen Einem recht feu¬
dalistisch finster und unheimlich zu Muthe wird. Draußen im Lustschlosse
Rosesberg ist Byström's Juno aufgestellt, und man gestattet den Zutritt
nicht blos Gräfinnen, sondern auch Matrosen, und sonstigen gemeinen
Leuten. Statt sich zu freuen darüber, daß man den Schönheitssinn
des Volkes erwärmt und weckt, läßt sich die Reiseversucherm verneh¬
men: „Das ist wahrlich wie eine Profanation. Für solche Augen sind
Kunstwerke nicht geschaffen." Ach, selbst die Augen sind ordinär, wenn
der Besitzer nicht von adeliger Geburt! — Bei der Stille in Stock¬
holm wird ihr gesagt, die um,t«z-vol«-o sei auf dem Lande; sie sehnt
sich, Volk zu sehen, und bricht in die Erclamation aus: „Nein, nicht
die ki-into-volve fehlt in Stockholm, sondern Menschen fehlen."
Also zwei bestimmt von einander geschiedene Sorten; die Menschen
gehören inerrans nicht zur Kautv-v»!«« und die ti-ente-vol«-« gehört
nicht zu den Menschen. Wie geistreich, wie neu! — Die Hahn-Hahn
sagt ferner : „Eine Gräfin mag einen Bauern heirathen, sie bleibt Grä¬
fin." Das ist eben so richtig, als der Gegensatz: Eine Bauersfrau
mag einen Grafen heirathen, sie bleibt Bauersfrau.
gW-An diesen Proben vom Freisinn der Verfasserin wird der Leser
wohl genug haben und mir die übrigen erlassen. Aber ich darf auf
der anderen Seite auch nicht verschweigen, daß es doch überwiegende
Gefühlsmomenle gibt, wo die Gräfin von ihrer Höhe heruntersteige,
wo sie ganz Mensch wird. So beschreibt sie uns folgende erhabene
Scene: „Als ich in der Schweiz zum ersten Male die große Alpen¬
reise machte und eines Tages von Grindelwald über die Scheideck,
am Rosmlanigletscher vorbei und längs der Wasserfälle des Reichen-
bachö in das Thal von Meyringen kam, war ich so überwältigt von
der Fülle der Schönheit, die mich wie ein Meer umwogte, daß ich
Abends, als ich nur noch eine Kammerjungfer hatte, um ihr meine
Ertast mitzutheilen, mich mit ihr in Unterhaltung einließ und sie zum
ersten Mal in meinem Leben um etwas fragte, das nicht die Gar¬
derobe betraf/' Dieser Vorfall ist höchst interessant, doch man begreift
ihn wohl, denn je mehr die Bildung steigt, desto weniger kann sich
ein dummer Kastengeist erhalten.
Die Gräfin mag Tenier's Bilder nicht leiden, sie wittert das
demokratische Element, das darin steckt, und ihr wird übel, wenn sie
so einen gemalten Bauer sieht, der sich seine Pfeife stopft. Die Kunst
sollte sich auch wirklich niemals mit Menschen befassen» die nicht sech¬
zehn Ahnen nachweisen können. Doch dann sind sie ja , nach Jda
Hahn-Hahn, keine Menschen mehr; dann gehören sie zur lumtv-pr-
ive. - Auch an Bcllmann verletzt sie der volkstümliche Duft, und
sie sagt von dem Dichter: „Durch seine Lieder soll ein lieblicher
und hinreißender Rausch gehen; weniger durch sein Leben, denn da
hat ihn dieser Rausch zuweilen denn bum>«z»>«zue, in den Rinnstein
gelegt/' Es geht doch Nichts über die Salonsprache! Leicht und dia¬
mantenhell, der Schwinge des Kolibri gleich, flattert sie selbst über
Rinnsteine hin, ohne sich zu beschmutzen.
Dergleichen plumpe Urtheile darf man jedoch nur dann spöttisch
behandeln, wenn sie längst gestorbene Personen treffen. Sobald sich
die Frau Gräfin aber unterfängt, auf kränkende Art ehrenwerther
Zeitgenossen zu erwähnen, dann ist es nöthig, sie in die Schranke
zurückzuweisen, welche ihr gebührt. Sie äußert bei Gelegenheit von
Eckermann's trefflichem Buche über Göthe, das uns den Dichter le¬
bendig in Wort und That vor die Seele führt: zEckermann kam
mir beängstigend vor, nicht wie ein Mensch, sondern etwa — wie
Göthe's Pudel. Sagt Göthe: Wart' auf! so wartet er auf. Sagt
Göthe: Exporte! so apportirt er." Jda, Gräfin Hahn-Hahn möge
sich künftig solcher schnöden Aburtheilung über Leute, die sie gar nicht
zu würdigen weiß, und solcher unpassenden Sprache enthalten. Es
mögen irgendwo dergleichen animalische Bilder beliebt sein, in der deut¬
schen Literatur war stets eine sittliche und würdige Sprache heimisch,
und wir werden darüber wachen, daß jede noch so hochadelige
Dame sich darin ausdrückt. — Eckermann hat übrigens die Genug¬
thuung, daß Jda Hahn-Hahn sich selber bald mit Heerden, bald
mit Federvieh vergleicht. Sie springt nämlich vom Dampfboot an's
Land und sagt, um ihre Gefühle zu schildern: „So muß den He er¬
den zu Muthe sein, wenn sie aus den Ställen auf die Wiese kom¬
men." Das Leben zu Schiffe ist ihr so lästig, daß sie Schweden mit
der Erklärung verläßt: „Ich kann's nicht aushalten, den ganzen Som¬
mer wie eine Ente auf dem Wasser zu verbringen. Es ver¬
dummt mich." Nun, von sich selbst kann die Gräfin sagen, was
sie will; sie muß ihr Naturell am besten kennen, und da ist Niemand
zum Widerspruch befugt.
Hiermit schließe ich nun meine kritische Skizze, deren Ausdeh¬
nung zu der Wichtigkeit des besprochenen Products freilich im Mi߬
verhältniß steht. Aber, den Schweden gegenüber, war ich schuldig,
das Alles auszusprechen, und ich mußte mich wahrlich zügeln, um
nicht noch weitläufiger zu werden. Kommen Persönlichkeiten in die¬
sem Kapitel vor, so bin ich keineswegs dafür verantwortlich, sondern
die Gräfin Hahn-Hahn. Sie drängt ja ihre Person stets mit Ab¬
sicht vor und erzählt sogar einmal von ihrer unübertrefflichen Ma¬
gerkeit. — Ich habe eine Recension ihres „Reiseversuchö im Norden"
geschrieben, wie meine Ueberzeugung sie forderte, und sonst Nichts
in der Welt.
Wie kommt es, daß die Grenzboten, die doch so wacker über
belgische, französische und andere grenznachbarlichc Zustande berichten,
die Küstenländer des adriatischen Meeres so wenig berücksichtigen?
Auch hier verläuft sich germanisches Leben in romanisches, auch hier
gibt es Grcnzvcrhältnisse, wo Deutschland interessante Eroberungen
und Verluste durchmacht. Warum ist Triest mit seinem wichtigen
Freihafen und seiner italienisch-deutschen Bevölkerung ein Stiefkind
in der deutschen Presse, um Has sich kein Mensch kümmert? Höchstens
daß man hie und da in einem deutschen Blatte einige Auszüge aus
dem hier erscheinenden „Lloyd" zu Gesichte bekommt; Sittenschilde--
rungen, Beleuchtungen des geistigen und nationalen Lebens erinnere
ich mich kaum seit Jahren irgendwo gelesen zu haben. —
Sie werden von einem Badegäste, der hier nur seine Gesundheit
in dem lebensvollen Wasserschooße der hellen Adria stärken will und
der obendrein in der Literatur nur ein Dilettant ist, nicht verlangen,
daß er die Lücke ausfüllen soll, welche Schriftsteller vom Fach leer
lassen. Nur von einer kleinen deutschen Episode will ich Ihnen er¬
zählen, welche die hiesige deutsche Kunstwelt (!), darunter ist nämlich
jene kleine Fraction zu verstehen, welche die hiesige Handelswelt
etwa an Nichtposttagcn der Kunst zur Disposition stellt, ungefähr
durch drei Wochen beschäftigte. Ich meine das Gastspiel, welches das
Rettich'sche Ehepaar im hiesigen Theater gab, und die Borlesungen,
die Saphir hier hielt. Sie sehen, die Wiener haben es ganz darauf
angelegt, dies Küstenland zu germanisiren. Der Herr Regierungs-
rath Halm von Münch-Bellinghausen ist gleichfalls zugegen gewesen,
gleichsam als halbofsizieller Beobachter, welche Resultate diese Germa-
nisationsversuche — bei welchen seine Stücke in der ersten Reihe
fochten — hervorbringen würden. Madame Rettich tummelte in kur¬
zer Zeit zwölf oder vierzehn ihrer bekannten Paradepferde mit all der
Energie und der rhetorischen Kraft, die, verbunden mit einer leider
oft manierirten Monotonie, die Charakteristik dieser Schauspielerin bil¬
den. Sie hatte alle Wärme und Leidenschaft, als spielte sie in Wien
vor ihrem Burgtheater-Publicum. Dies zeigte mir, daß die echte
Künstlernatur überall sich treu bleibt, und daß die Rettich nicht zu
denen gehört, die, von Gewinnsucht getrieben, die Kassen kleiner Thea¬
ter auszubeuten reisen, und bei derlei Gastspielen die Farben so hoch¬
roth auftragen, oder so indifferent spielen, daß der besser Unterrichtete
leicht steht, wie nur das Geld das Ziel dieser Darstellungen ist. Selbst
Herr Rettich, mag es sein, daß die Lust, sich so recht auszuspielen,
die ihm in Wien nicht oft zu Theil wird, hier mit neuem Feuer ihn
belebte, oder daß das herrliche Opernhaus seinem Organ günstiger
war; kurz, ich fand ihn besser, freier und deshalb auch wirksamer, als
in Wien. — Die Ehrenbezeugungen von Seite des Publicums waren
italienisch, oder vielmehr deutsch, oder ungarisch, nämlich Hervorrufun¬
gen ohne Zahl, Blumen, Kränze, Gedichte (letztere von Halm). —
Dagegen siel ein als Intermezzo zwischen zwei deutschen Stücken ge¬
machter Versuch der Madame Rettich: der Bortrag eines Gesanges
aus lliriite's clivin.l comocli^ in italienischer Sprache, entschieden un¬
glücklich aus. Obwohl ich gerne glaube, Madame Rettich, eine Frau
von der umfassendsten Bildung, habe nur aus Verehrung für den
großen Dichter, und in der Meinung, den Italienern damit eine Po-
litesse zu erweisen, dieses Wagstück unternommen, muß ich doch jene
deutschen Freunde tadeln, die mit dazu die nächste Veranlassung wa¬
ren; so wahr und warm verstanden auch der auswendige Vortrag
dieser Verse war, so beleidigte doch gleich in den ersten Zeilen der ganz
und gar nordische Accent selbst unparteiische deutsche Ohren, um wie
viel mehr parteiische italienische, deren Besitzer denn auch in einem Ueber¬
maß von lächerlicher, sich verletzt glaubender Nationalität ihrer Rohheit
den Zügel schießen ließen, zum Bedauern und zur Mißbilligung aller Gebil¬
deten.—Daß Saphir in einer Stadt, wo, wie er selbst privatim sagte, man
Baumwolle denkt und Zucker und Kaffee fühlt, einem Publicum,
das manche, ja man kann sagen, die bessern Gedanken nicht schnell
genug aufzufassen vermag, dennoch sehr gefiel, ist schmeichelhaft für
sein Talent. Besonders fand die erste seiner zwei Vorlesungen, die
freilich auch in eine Woche mit dem Erscheinen des neuen österreichi¬
schen Zolltarifs siel, sehr aufgeregte Zuhörer. Von seinen Gedichten,
denen man ungeachtet vieler schönen Gedanken eine gewisse Form-
Nachlässigkeit und Absichtlichkeit des Anpassens für diese oder jene
Schauspielerin vorwerfen muß, gefiel vorzüglich das Lied vom
Frauenherzen, eines der beliebtesten Paradepferde der Madame
Rettich.
Eines der schönsten Etablissements, nicht nur in Trieft, sondern
in Europa, für Einheimische sowohl als für Fremde, ist das Lloyd;
es ist von einer Aktiengesellschaft gegründet, bei der Rothschilds die
meist betheiligten sind. Seine Dampfschiffe, gegen zwanzig an der
Zahl, durchschiffen alle Meere; eine merkwürdige Thatsache ist es,
daß noch nie der geringste Unfall eines derselben getroffen hat. Da
ist wohl viel Glück dabei, aber auch etwas Verdienst, weil in der
Wahl der Angestellten, vom Capitän bis zum Schiffsjungen, mit
der größten Umsicht und Gewissenhaftigkeit verfahren wird. Vor zwei
Jahren ungefähr ließ die Gesellschaft an einem der beliebtesten Plätze
(Eck des Corso, vis-a-vis dem l<-aer« ^rum«I»z) das sogenannte Ter-
cisteo in's Leben treten; ein wahrer Prachtbau! im edelsten Styl!
Ein großer Theil desselben an Wohnungen und Boutiquen ist ver¬
miethet; der erste Stock, prächtig meublirt, dient zu besonderen Ge¬
legenheiten, so ist er jetzt bei der bevorstehenden Ankunft des Kaisers,
der im Gubernialgebäude wohnen soll, für den Gouverneur bestimmt.
An ebener Erde wird das Gebäude von Osten nach Westen und von
Süden nach Norden von zwei langen, mit Glas bedeckten, äußerst
elegant und solid gebauten Hallen durchschnitten, die sich in der Mitte
begegnen. Bei gutem Wetter im Freien, wird im schlechten in die¬
sen Räumen die Börse gehalten, und unmittelbar an derselben, auch
zu ebener Erde, befinden sich ein Cafe, der Eonversationssaal, die
Spielzimmer, ein Schrcibezimmer, der Directionssaal und das Lese-
cabinet. In letzterm findet man nebst Tagsbrochurcn wohl gegen
sechzig deutsche, italienische, englische, französische, spanische Zeitungen,
sowohl politische als belletristische; bei letzter» wäre eine etwas stren¬
gere ästhetische Auswahl wünschenswerth; die angestellten Eustoden sind
von der äußersten Höflichkeit.
Hier finden sich auch die meisten Deutschen, die etwa noch ein
Interesse für Literatur und Politik im weitern als österreichischen
Sinne haben. Leider findet man von deutschen Blättern nur die in
Oesterreich erlaubten vor, d. h. die Allgemeine Zeitung und die öster¬
reichischen Fabrikate. Triest ist eine freie Hafenstadt, wo Alles hinein
darf, mit Ausnahme von — Ideen.
Die ganze Woche verging in Zweifeln, ob der König von Preußen
erst hierher und dann nach Ischl oder ob er direct nach Ischl sich
begeben werde. Ein so plausibler äußerer Grund auch für den Be¬
such des preußischen Monarchen zur Schau liegt (die Begleitung der
Königin, welche die Solenbäder in Ischl brauchen wird), so ist der
politische Hintergrund dennoch kein Geheimniß. Herr von Canitz per-
sifflirt zwar mit geistreichem Spott alle diplomatischen Frager, die auf
schlauen Umwegen über den eigentlichen Zweck seines Monarchen ihn
auszuforschen gedenken; ' indessen wird selbst in den Kreisen, die dem
Fürsten Metternich näher stehen, manche Andeutung laut. Zwei
so außergewöhnliche Erscheinungen, wie der Besuch des russischen Kai¬
sers in London und der Besuch des preußischen Königs in Wien, fol¬
gen einander nicht in dem kurzen Zeitraum von wenigen Wochen
ohne politischen Commentar. Kein Mensch kann sich es verhehlen,
daß die heilige Allianz einen großen Riß bekommen hat durch die offe¬
nen und heimlichen Manipulationen, welche einer der heiligen Alliir-
ten, (ein curioser Heiliger) sich an den Grenzen, so wie im Herzen "
unserer österreichischen Heiligkeit zu Schulden kommen ließ. Die Pe¬
tersburger Schlauheit, der es gelungen ist, Slaven und Magyaren,
Czechen und Deutschböhmcn gegen einander zu Hetzen, wollte auch
die deutschen Oesterreicher bei ihrer schwachen Seite fassen, bei der
Gemüthlichkeit. Ein recht gemüthliches Familienband sollte Nußland
und Oesterreich durch die Ehe des Erzherzogs Stephan mit der ener¬
gischen und schönen Prinzessin Olga umschlingen, und das Sacrament
der Ehe sollte das Sacrament der politischen Allianz unterstützen.
„Schlau ausgedacht, Pater Lamormain." Dieser Pater war jedoch
bekanntermaßen ein Oesterreicher, und es ist uns von seiner Schlau¬
heit wenigstens so viel übrig geblieben, um nicht in die Falle zu
gehen.
Unter den merkwürdigen Trophäen, die man den fremden Rei¬
senden in Se. Petersburg zeigt, befindet sich in neuester Zeit auch
ein stattlicher Korb, den man schlechtweg den Oesterreicher nennt und
von dem die Jllustrirte nächstens eine Abbildung bringen wird, den
Text dazu wird Herr Staatsrath Gretsch in einer eigenen Brochure
herausgeben. Der russische Hof soll diesen Korb jedoch reichlich mit
bittern Früchten füllen und sie mit erster Gelegenheit nach Oesterreich
schicken wollen. Der Riß, der durch diese Geschichte in die heilige
Allianz gekommen ist, bedarf nun einer geschickten Hand, um geflickt
zu werden, und die Ankunft des Königs von Preußen erhalt somit
ihre Deutung.
Ischl wird in diesem Sommer die Rolle übernehmen, die früher
Karlsbad und Töplitz spielten. Ob wir vielleicht neue Karlsbader Be¬
schlüsse zu erwarten haben? — In Begleitung des Fürsten Metter-
nich, der sich vollständig von seinem Unwohlsein erholt hat, befindet
sich der größte Theil der wichtigsten Personen der Staatskanzlei in
Zschl (Baron Werner, Baron Hügel :c.). Der Erzherzog Ludwig,
so wie der Erzherzog Franz Karl begeben sich gleichfalls dahin, und
der König von Preußen wird sich somit von den bedeutendsten Leitern
der österreichischen Politik umgeben sehen. Wahrend somit unsere
auswärtige Politik in Zschl sich concentrirt, ist unsere innere durch
die böhmischen Unruhen In nicht geringem Maße in Athem gebracht.
Die Vorfalle in Prag sind ernsthafter geworden, als man Anfangs
fürchtete. Aufgemuntert durch den nicht unglücklichen Erfolg, den die
Drucker in den Fabriken erlangten, haben sich nicht blos die Eisen-
bahnarbeiter in der Nahe von Prag, sondern auch ein großer Theil
anderer Arbeiter auf dem Lande zusammengerottet und Excesse began¬
nen, die alle Ordnung aufzulösen streben. Daß die Zeitungscorrespon-
denten, die Alles dies auf die Juden zurückführen wollten, dabei perfide
zu Werke gingen, hat man aus den Berichtigungen in der Augsburger
Allgemeinen ersehen, in welcher der Aufstand der Eisenbahnarbeiter
zuerst als gegen den jüdischen Pachter Klein gerichtet gemeldet wor¬
den, wahrend die Gebrüder Klein spater als gute Christen von altem,
urkatholischem Stamm erklärt wurden. Daß man die Judenstadt
plündern will, ist eine natürliche Geschmackssache des Pöbelhaufens,
der überall zuerst da Beute sucht, wo sie am gefahrlosesten sich dar¬
bietet. Diese Phase der Unruhen ist jedoch bereits vorüber, dagegen
ist die zweite ernsthaftere die des aufrührerischen Geistes aller Arten
von Arbeitern gegen ihre Brodherren. ES circuliren hier in Wien
jeden Tag neue Briefe, die betrübsame Auftritte melden und von einer
dumpfen Gährung sprechen, die an vielen Orten Böhmens herrschen
soll. Der Mangel an Oeffentlichkeit, das Schweigen aller Journale
macht es möglich, daß diese Gerüchte in offenbare Uebertreibung aus¬
arten. Einige Correspondenten, namentlich die der Weser-Zeitung,
beuten dieses Thema vollständig in Novcllenform aus und wir er¬
fahren auf dem kleinen Umweg über Leipzig, Bremen und Köln erst,
was in dem benachbarten Böhmen vorgefallen ist oder vorgefallen sein
soll. Ich hoffe Ihnen künftige Woche einen detaillirten Bericht über
die Hauptvorsälle in Böhmen mittheilen zu können. Ich möchte heute
nicht gerne durch Verbreitung von Gerüchten den allgemeinen Uebel¬
stand der Presse (dessen Nothwendigkeit ich übrigens wohl einsehe)
durch meine eigenen Berichte vermehren.
Dieser Tage starb hier der Anwalt unserer Stadt, der Dr. Voll-
mcyer, in Folge eines verschluckten Backhändelknochens! Der
Wiener Witz hat dabei seine ganze Kaustik entfaltet. Die Backhän-
dclzeit scheint überhaupt sich überlebt zu haben; wir ersticken daran.
ndetundw
Wahrend Friedrich Rohmer in Berlin sich befi , ie man
liest, bei der Redaction der Staatszeitung betheiligt werden soll, be¬
findet sich Theodor Rohmer hier. Ob er vielleicht seinem Bruder
Quartier machen will, im Falle die Berliner Unterhandlungen sich
zerschlagen sollten? Der österreichische Beobachter ist keine Staatszeitung.
Devrientunerörtbril¬
Im Theater an der Wien macht Emil h
lante Geschäfte. Er hat mit dem Director Karl einen Vertrag abge¬
schlossen, vermöge dessen er bei jeder neuen Rolle, in der er auftritt,
die ersten zwei Abende die Hälfte, und die darauf folgenden ein Dritt-
theil der Einnahme erhält. Um -in Beispiel anzuführen, erwähne ich
blos, daß das bekannte Stück, der Mulatte, vorige Woche bei den
ersten zwei Vorstellungen jedesmal tausend Gulden C.M. Cassa machte
und Herr Devrient in zwei Abenden den Gehalt eines höhern k. k.
Beamten einstrich. Was ist dagegen die Tantieme eines armen Dich¬
ters! — Das Burgtheater beginnt am I. August wieder seine Vor¬
stellungen. Es verlautet nicht, daß Herr von Holbern auf seiner Reise
durch Deutschland große Ausbeute gemacht und neue Gestirne entdeckt
habe. Und doch brauchen wir solche, wenn unsere Theaterabende nicht
bedeutend in's Dunkle gerathen sollen. Wünschenswert!) wäre es,
daß einige Talente, die wir in letzterer Zeit hier gastiren sahen, uns
gewonnen würden, namentlich wäre die Erwerbung des Karlsruher
Schauspielers Dessoir ein echter Gewinn. Dieser noch ziemlich junge
Darsteller besitzt eine Romantik des Spiels, wie wir seit Löwe's frü¬
herer Zeit sie nicht gesehen haben. Dieses weiche, volltömge Organ
verhilft dem Jambus wieder zu jener poetischen Harmonie, die er in
neuerer Zeit fast verloren hat. Dabei ist Spiel und Bewegung in¬
nig und graziös gerundet. Ich beobachtete ihn später bei einem Aus¬
flüge nach Pesth mit großer Aufmerksamkeit und begreift nicht, wie
die Direction des Burgtheaters sich dieses Talent entgehen laßt. —
——
Noch immer hallt das Ereigniß vom 26. Juli in allen Gesprä¬
chen wider. Berlin ist wirklich, wie irgendwo bemerkt worden, eine
durch und durch realistische Stadt. Der Meuchelmord wird freilich
eben so in jeder sittlich organisirten Republik wie hier verabscheut,
aber die Aussprüche, die Vorschlage, ja selbst die Gedichte, die hier
an jenes beklagenswerthe Ereigniß geknüpft werden, geben Zeugnis?
davon, daß Berlin in ganz anderer Weise, als etwa Paris, eine solche
Begebenheit aufnimmt. Die Meisten sehen sie gewissermaßen als ein
Familienereigniß an, und wir haben nicht wenige Frauen und Mad¬
chen gesehen, die förmlich Thränen vergossen, als sie von dem Ent¬
setzen sprachen, das die Königin bei jenem Attentat ergrissen haben
muß. Dem Herzen unserer Stadt kann dies nur zur Ehre gereichen,
doch glauben wir, daß auch in dieser Beziehung Berlin keinen anbe-
ten Charakter darbietet, als das gesammte übrige Deutschland. Alle
Vorzüge und die zahlreichen Untugenden, die von Berlin ausgesagt
werden, finden sich mehr oder weniger in jeder anderen deutschen
Stadt wieder. Allerdings gestaltet sich im südlichen Vieles anders,
als im nördlichen Deutschland, aber der Grundzug bleibt derselbe. Und
es würde in der That ein Wunder sein, wenn es nicht so wäre: denn
unter Berlins Einwohnern, und namentlich unter den Erwachsenen,
sind die Berliner, d. h. die geborenen, die Geringsten an Zahl. Aus
allen Gegenden Deutschlands sind die Menschen hierher gebracht. Hier
gibt es nicht, wie in Wien und in anderen noch dem alten Zunft¬
wesen huldigenden Städten, Privilegien, durch welche der aristokrati¬
sche Bürger gegen den Zuzug und die Mitbcwerbung fremder Kräfte
geschützt wird. Jeder Unbescholtene kann hier das Bürgerrecht erlan¬
gen, und so kommt es denn, daß unsere Bürgerschaft Namen zählt,
die dem gesammten übrigen Deutschland — Oesterreich nicht ausge¬
nommen — angehören, und daß es hier auch in allen Gewerbsclas-
sen, wie Weinhändler, Hutmacher, Friseurs ?c., Bürger von franzö¬
sischer Nationalität gibt, die sich sogar zu einer besonderen Adresse an
den König vereinigt haben, um ihm ihren Schmerz über das Atten¬
tat zu bezeugen. Zu bedauern ist nur, daß diese von unseren Zeitun¬
gen mitgetheilte Adresse so schlecht stylisirt war.
Thebens, der ebenfalls nicht in Berlin, fondern im Kreise Nimptsch
in Schlesien geboren ist, hat vor der That nicht blos sein Porträt
machen lassen, sondern auch sein Leben beschrieben und, wie es heißt,
einem Buchhändler zur Herausgabe übersandt. Man sollte kaum glau¬
ben, daß ein Mann, der beinahe sechzig Jahre alt ist, solcher Eitelkeit
noch fähig sei. Auch um einen Orden soll er früher, wie behauptet
wird, sich bemüht haben. Es würden diese Züge, wenn sie sich be¬
stätigten, charakteristischer für den inneren Menschen sein, als das
Daguerreotvpbild für den äußeren.
Vor einigen Tagen ist eine Abtheilung des Thiergartens, die
seit längerer Zeit dem Publicum verschlossen war, als „zoologischer
Garten" wieder eröffnet worden. Die bisher auf der Pfaueninsel ge-
wesene Menagerie hat man dorthin geschafft, doch fehlen noch die
merkwürdigsten Gattungen. Namentlich werden der Löwe und der
Tiger, diese Spitzen der vierfüßigen Gesellschaft, vermißt, wäh¬
rend an dem Kleinvolke der Assen und der Kängurus kein
Mangel ist. Daß ein Eintrittsgeld von fünf Silbergroschen genom¬
men wird, findet vielfachen Tadel, indem dadurch gerade derjenige
Theil der Bevölkerung, der sich andere Genüsse und Belehrungen nicht
verschaffen kann, von diesem übrigens vortrefflich durch den Garren-
direcror Lern«- arrangirten Theil des Thiergartens ausgeschlossen ist.
Mindestens an Einem Tage in der Woche sollte der Zugang ^i-.leis
sein, der wohlhabendere Theil der Bevölkerung würde es dabei doch
vorziehen, an denjenigen Tagen den Garten zu besuchen, wo derZu-
drang weniger groß ist. Inzwischen ist es erfreulich, zu vernehmen,
daß der Ertrag des Eintrittsgeldes nur zum Besten des Publicums,
d. h. zur Erweiterung und Verschönerung der Anlagen, verwendet
werden soll, während die Besoldungen der Angestellten -c. aus der kö¬
niglichen Kasse fließen. Der „Oberste des Thierreichs", wie Profes¬
sor Lichtenstein immer schon von dem Publicum genannt wurde, das
das zoologische Museum besucht, ist auch Vorgesetzter des neuen zoo¬
logischen Gartens, und von ihm, als einem sehr freundlichen und hu¬
manen Mann, darf wohl erwartet werden, daß er das Seinige dazu
thun wird, um auch den niederen Klassen jenes Vergnügen der vier¬
füßigen Gesellschaft zu verschaffen.
Nestroy aus Wien ist bis jetzt nur als „Agent Schnoferl" in
der von ihm bearbeiteten Posse: „Das Mädel aus der Vorstadt" oder
„Ehrlich währt am längsten" aufgetreten. Diese Rolle ist eben so
wie das Stück ziemlich unbedeutend; es werden also seine weiteren
Darstellungen abzuwarten sein, bevor ein Urrbeil über ihn gefällt wer¬
den kann. Vorläufig scheint es uns, als ob Nestroy hier nicht so
anspräche, wie Raimund und Ignaz Schuster, die ebenfalls hier ein¬
mal auf dem Königsstädtischen Theater gastirten. An Beifall und an
zweimaligem Hervorruf an jedem Abend hat es ihm zwar nicht ge¬
fehlt, doch hörten wir von mehreren Seiten im Publicum, daß es
schwer sei, ihm zu folgen, da er gar zu sehr wienerisch spreche.
Die Vossische Zeitung ist in Rußland verboten worden. Sie
können sich denken, wie stolz das unschuldige kleine Blatt darauf ist.
Sein Mit- und Hauptredacteur, Herr Ludwig Rellstab, der diese Nach¬
richt im Bade zu Teplitz erhielt, ist davon so freudig ergriffen wor¬
den, daß er völlig hergestellt ward, und daß ihm das ungeheuere Fal¬
len der Actien aller Eisenbahnen, deren Mitdireccor er ist, ziemlich
gleichgültig geworden.
Berlin arbeitet sich immer mehr und mehr zu einer großartigen
Weltstadt empor. Es wird nicht blos fortwährend verschönert und
vergrößert, erzeugt nicht blos jährlich so und so viele neue Hauser,
Straßen und Menschen, sondern neuerdings auch ganz großartige,
miraculose Ereignisse und Thaten. Wir meinen hier nicht die radika¬
len Bewegungen des vergangnen Winters, nicht die socialistischen
Vorlesungen Theodor Mundt's, auch nicht die Eorrespondenzen Feodor
West's, nicht den Gesellenverein und den Verein zur Hebung der nie¬
dern Volksclassen, sondern die einfache Thatsache, daß Berlin in die¬
sem Augenblicke auch einen Königsmörder in seinem Schooße birgt.
Man wird gewiß im Auslande glauben, daß Berlin an dem
Tage des Attentats in großer Bewegung und Aufregung war. Nein.
Die Masse des Berliner Volks but an Allem nur das persönliche
Interesse der Neugier, es liebt den Scandal, er mag diesen oder jenen
Inhalt haben, wenn es nur etwas zu sehen und zu hören und zu
lärmen gibt; es ist noch naiv und indifferent und vielleicht dadurch
für den Beobachter interessanter als der „politische" Philister des kon¬
stitutionellen Deutschland. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die
Nachricht durch die weite Stadt, als ich aber mehrere Stunden dar¬
auf durch die Straßen ging, sah ich wohl hier und da ein Häuflein
Menschen an einer Ecke stehen und das Bulletin lesen, sah auch die
Massen auf dem Schloschof versammelt und sich genau die Stellen
ansehen, wo die That geschehen, aber im Ganzen war doch das In¬
teresse höchst matt, der Scandal war nicht lärmend, eclatant genug
gewesen. Der Brand des Opernhauses hatte einen tiefern Eindruck,
eine größere Sensation gemacht; das war doch ein Schauspiel, da
ging doch ein großes Haus in hellen Flammen auf, die halb Berlin
erleuchteten. Ich habe unter den Tausenden von Menschen, die die
Nachricht des Mordversuchs in das Schloß getrieben hatte, keinen
Einzigen, wie bei jenem Brande, vor Staunen die Hände zusammen¬
schlagen sehen. Abends war die Königsstraße — auch unter den
Linden einige Hauser — illuminirt; der Pöbel machte aber im Ver¬
ein mit unzähligen Gassenjungen dort einen so fürchterlichen Lärm,
daß die Leute ihm sein Vergnügen bald entziehen und ihre Lichter
verlöschen mußten. In den Gartenconcerten und im Königsstadtischen
Theater sang man die „Nationalhymne", am Abend darauf brachte
im Schauspielhause ein Mann in Landstandsuniform einen Toast auf
den König aus, worauf ebenfalls die Nationalhymne gesungen wurde.
Sonntags lief man in die Kirchen, um die rührende Predigt zu hör
ren. Man irrt sich, wenn man von dem Berliner Volke meint, daß
es religiös oder pietistisch sei. Auch diesen Inhalt hat es nicht. Der
Berliner ist witzig, frivol, durch und durch Vergnügungssucht, das
„Vergnügen" sein Gott, seine Religion, sein Cultus, dem er Alles
opfert. Freilich ist auch die Sentimentalität ein Grundzug seines
Charakters, aber er lauft ihr nur nach, wo sie ihn unterhalt, die
Erbauung ist ihm nur die Uebersetzung des Vergnügens in eine andere
Sphäre. So stehen denn auch die Kirchen meistens leer — wenn es
nicht zufällig dort für die Neugier etwas gibt — wahrend die Masse
der Bevölkerung mit einer wahren Andacht nach den öffentlichen Ver¬
gnügungsplätzen wallfahrtet. Dieser eigenthümliche Charakter des
Volks ist es aber, der hier so interessante sociale Zustände und
Contraste schafft, wie sie wohl in dieser charakteristischen Weise keine
Stadt so leicht aufzuweisen hat. —
Man empfindet auch hier, wie gewiß überall, die Wirkungen
dieses so unfreundlichen Sommers. Freilich ist dies in Berlin auch
mit einem gewissen Vortheil verbunden, da bei anhaltender Hitze der
Staub in den breiten Straßen immer unerträglich wird. Die schönen
Gartenconcerre vor den Thoren sind diesmal wenig besucht, der trübe
Himmel nimmt diesen einzigen Erholungsplätzen ihren ganzen Reiz.
In den Straßen ist es ziemlich still, wie jedesmal im Sommer, wo
besonders seit einigen Jahren die neu entstandenen Eisenbahnen täg¬
lich Massen der Bevölkerung von hier wegziehen, und ein großer Theil
der Hierbleibenden vor den Thoren wohnt. Das eigentliche Leben
Berlins beginnt erst im Ocrober wieder. — Im Theater soll „Sam-
piero" kein besonderes Glück gemacht haben, und die Königsstadt er¬
freut jetzt ihr Publicum fast täglich mit einer trivialen Posse „Köck
und Guste" und dem Kindcrballet der Madame Weiß. — Von Bren¬
tano's „Früblingskranz" ist jetzt in allen Kreisen die Rede. Ich werde
Ihnen nächstens über dieses wirklich „frühlingsduftende" Buch be¬
richten. Von E. Jungnitz erscheint noch im Laufe des Sommers
eine „Geschichte der Religion in Deutschland wahrend der Zeit des
achtzehnten Jahrhunderts", die einen Theil der Bauer'schen Cultur¬
geschichte bilden wird. Von dem neuen Unternehmen des Buchhänd¬
lers Adolph Rieß, vier neue Monatsschriften unter den Titeln „nord¬
deutsche Blätter", norddeutsche Literaturzeitung", „norddeutsche kri¬
tisch-belletristische Zeitschrift" und „norddeutsche literarische Mitthei¬
lungen" herauszugeben, von denen die erste immer am I., die zweite
am 8. u. s. w. des Monats erscheinen sollte, haben Sie wohl ge¬
hört. Das Unternehmen fand Schwierigkeiten — der Censor verwei¬
gerte des Titels wegen schon die Censur der Norddeutschen Literatur¬
zeitung und diese mußte mit demselben Inhalt als „Berliner Litera-
turzeirung" ausgegeben werden. Bis die Sache entschieden ist, wer¬
den indeß die Norddeutschen Blatter als eine Monatsschrift von sechs
ins acht Bogen zu erscheinen fortfahren. Gestern aber — nach Ver¬
lauf von vier Wochen — hat die Polizei die noch übrigen Exemplare
der stark vergriffenen Auflage des ersten Hefts mit Beschlag belegt.
Den Grund zu diesem bis jetzt noch nicht erhörten Verfahren weiß
man noch nicht. Jedenfalls ist die Sache eine Frage, es muß ent¬
schieden werden, ob ein Verleger nach den bestehenden Gesetzen nicht
das persönliche Recht hat, zwanzig und noch mehr Monatsschriften
auf einmal herauszugeben.
Die Berliner gekreuzte Null in der Deutschen Allgemeinen ent¬
wickelt immer mehr Joel-Jacoby'sche Feinheiten. Es fehlt nur noch,
daß der Mann sich ganz demaskirt und mit tief gezogenem Hut den
hohen Herrschaften in Nord und Süd zugleich empfiehlt. Geist und
Gewandtheit genügen heutzutage in der That nicht mehr zur publizi¬
stischen Wirksamkeit; es gehört auch entweder etwas Charakter, oder
ein bedeutend größerer Grad von Klugheit und Schauspielertalent dazu.
Vortrefflich spielte er seine Rolle im Anfang. Als er im vorigen Jahr
mit dem Artikel über Bresson debütirte, selten, aber dann auch aus¬
führlich und mit ziemlicher Sachkunde über irgend ein wichtiges Thema
schrieb, hielten ihn Einige für einen älteren Diplomaten, Ändere für
einen malcontenten hohen Beamten, der, ohne liberal zu sein, den
gesunden Verstand und die ehrliche Derbheit des vorigen Regiments
gegen die romantisirenden Einflüsse der jetzigen Politik hervorheben
wolle und sich zu diesem Zwecke der Presse bediene. Wir mußten
damals lächeln, als wir hörten, daß man in Berlin diese allgemeines
und gerechtes Aufsehen machenden Correspondenzen Joel Jacoby zu¬
schrieb. Allmälig stieg er aus der vornehmen Obscurität herab; er
schien sich nicht mehr der Presse zu bedienen: er diente ihr, wie jeder
andere Journalier, durch Notizen über Dies und Jenes; sein auf
welche Art immer erlangtes Geheimwissen schien, bis auf einige be¬
zeichnende diplomatische Bonmots und Anekdoten, erschöpft und wurde
nun durch die stylistische Kunst der wohlfeilsten Geheimthuerei ersetzt;
eine gewisse unangenehme Salbung und eine Sucht, um jede ein¬
flußreiche Person mit feierlichen Mienen das Rauchfaß zu schwingen,
wurden auffallend; er riß die Gelegenheit dazu vom Zaune, und that
es jedesmal bei dem entferntesten und grundlosesten Gerücht von der
Pensionirung dieses oder jenes höheren Beamten (nicht obgleich,
sondern weil das Gerücht grundlos war). Alles dies, dann die häu¬
sigen Beichtmienen und verschämten Anspielungen auf frühere Schick-
sale sprachen für die Berliner Vermuthung. Er ist es und will sich
rehabilitiren, dachten wir, theils bei den oberen Machten, denen er
seine Brauchbarkeit demonstriren, theils bei der öffentlichen Meinung,
der er sich als einen zu voreilig Verurtheilten, als einen Geprüften
und endlich Geläuterten darstellen will. Mit welcher lächelnden Ruhe,
mit welcher Miene sicherer Überlegenheit vertheidigte er sich gegen die
zuweilen erhobene Beschuldigung, daß er jesuitische Tendenzen verfolge!
Neuerdings aber erweckt er wirklich die Vermuthung, daß er keinen
Posten suche, sondern sich schon von Anfang an auf seinem Posten
befunden habe und eine Mission erfülle, die sehr gut im Sinne des
modernsten preußischen „Genius", aber vielleicht noch mehr im Sinne
ganz anderer „Parrien" und „Strömungen" sein kann. Etwas klü¬
ger sollte er dabei zu Werke gehen, nicht blos um seinetwillen, son¬
dern um des Blattes willen, welches sich zu seinem Organ hergibt. Es
klingt gar zu häßlich, wenn Joel Jacoby in der Brockhaus'schen
Zeitung sich rühmt, der Revolution in den Abgrund geblickt zu ha¬
ben, und gleich darauf selbstverhöhnend ruft, wie Deutschland auf¬
lachen würde, wenn man ihn einen Revolutionär nennte! Will er
etwa sagen, daß bei ihm wahrhafte Mystvres de la Revolution zu
haben sind? — Die Anbetung des Trierer Gottesrockes vergleicht er
mit dem Interesse, das man für Schiller's, Göthe's und anderer
großen Männer Reliquien hat. Auch dies ist eine Unvorsichtigkeit,
die ein so kluger Kopf hätte vermeiden können. Eclatant aber sind
seine Berichte über das Thebens'sche Attentat. Dies Ereigniß hat ihn
auf die Entdeckung gebracht, daß die Geschichte seit 1830 ein ver-
hängnißvolles Antlitz trage (erst seit 1830!) und daß die Politik, „des
Verstandes Kind", Nichts mehr schaffen und zu Stande bringen, son¬
dern daß die Religion allein noch die Staaten zusammenhalten könne!
— So seltsam die Stimmen und Stimmungen sind, welche die ganz
gewöhnliche, in allen Ländern und zu allen Zeiten vorgekommene Ver¬
rücktheit oder Bosheit eines Meuchelmörders hervorgerufen hat, so
weit sind wir doch noch nicht. Joel sollte sich hüten, voreilig seine
letzten Pfeile zu versenden.
— Lord Rochester speiste einst in Gesellschaft von drei Geist¬
lichen verschiedenen Glaubens; der eine war Katholik, der andere Pro¬
testant, der dritte ein Presbyterianer. Es wurde ein Lachs mit einer
Sauce von Hummern aufgetragen. Der Katholik nahm den Kopf
des Fisches mit den Worten: Koma caput oncle«i»v! der Protestant
das Mittelstück, indem er sagte: In meijio virtus! endlich nahm der
Presbyterianer den Schwanz und rief: k'mis c»ron»t opus! — Da
Lord Rochester bemerkte, daß diese Theilung, des Himmels zugleich
eine Theilung des Fisches und für ihn Nichts mehr übrig war, so
nahm er den Napf mit der Sauce, besprengte die drei geistlichen
Herren und rief ganz ernsthaft: In nomine ovalen eZo bitptiz-v
V08! —
— Aus dem Altpreußischen wird uns geschrieben: Der in Dan-'
zig gegründete Gustav-Adolph-Verein, welcher übrigens auf den Dan-
ziger Regierungsbezirk sich beschränken will, nimmtauch nichtevange¬
lische Mitglieder auf, indem man der Meinung ist, daß zu einem
„wohlthätigen Zweck" Zeder, abgesehen von seiner Confession, die Hand
bieten dürfe. Man spreche heutzutage so viel von der Nothwendig¬
keit religiöser Toleranz, und doch seien die Meisten noch so intolerant,
daß sie Andersglaubenden weder Wohlthaten erweisen, noch von ihnen
annehmen wollten. — Es dürfte aber noch die Frage sein, ob der Gu¬
stav-Adolph-Verein blos wohlthätige Zwecke habe und haben solle. —
Derselbe Correspondent meldet uns, als einen Beweis seltener Duld¬
samkeit: Den 20. und 21. Juni hielten zwei katholische Geistliche
aus der heiligen Linde in dem ostpreußischen Städtchen Lyk, unfern
der polnischen Grenze, den katholischen Gottesdienst ab, wozu von
evangelischer Seite die dortige evangelische Kirche eingeräumt wurde,
wie dieses alljährlich geschieht. Gehören solche Beispiele zu den Sel¬
tenheiten? Wir erinnern uns, ähnliche Beispiele protestantischer (selten
katholischer) Toleranz aus Leipzig und selbst aus Rheinbaiern in Zei¬
tungen gelesen zu haben. Die Unduldsamkeit muß freilich noch sehr
allgemein und craß sein, wenn dergleichen „Ereignisse" der Veröffent¬
lichung werth gehalten werden.
— Dem talentvollen Rank, der das schöne, frische Buch: „Aus
dem Böhmerwald" geschrieben, ist leider etwas — Oesterreichisches
passirt; er, der Deutschland zuerst die schönsten Grüße von einem in
Waldeinsamkeit vergessenen kerndeutschen Volksstamm brachte, sitzt jetzt
im Prager Polizeigefängniß, blos weil er einen Besuch in Leipzig ma¬
chen wollte, wozu er den nöthigen Gubernialpaß nicht hatte bekommen
können. In Oesterreich hat nicht Jedermann so viel persönliche Frei- '
heit, daß er mit Sicherheit auf einen solchen Paß rechnen könnte.
Wer, wie Rank, vom Lande ist, hängt darin außerdem von der Will¬
kür der Unterbeamten seiner Landstadt ab, bei denen er das Gesuch
einreicht, und die es bei der Regierung zu bevorworten haben. Rank
wollte die kleine Tour ohne Paß machen, wurde, wahrscheinlich noch
vor der Grenze, ergriffen und wie ein gemeiner Verbrecher nach Prag
transportirt. Der junge Dichter kann sich darüber trösten; wenn die Muse
vom Polizeiknecht mißhandelt wird, so fällt das gehässige Licht nicht auf
sie, sondern auf den, der die Polizei gegen sie gehetzt hat. Wir
zweifeln sehr, ob man höhern Orts sich über das skandalöse Einfan¬
gen des jungen Poeten freuen wird; wir wollen sogar hoffen, daß'man ihn unverzüglich auf freien Fuß stellt. Solche Auftritte dienen
nur dazu, in Deutschland die unschmeichelhaftesten Vorstellungen über
Oesterreich hervorzurufen; einen andern Nutzen haben sie nicht, denn,
daß trotz aller Paß- und Polizeichicanen der geistige Verkehr zwischen
hüben und drüben nicht ewig gehemmt werden kann, hat sich — weder
zum Schaden, noch zur Unehre der österreichischen Bildung und Ge¬
sinnung — seit einigen Jahren erwiesen. Die Schuld liegt daran, daß
den Unterbeamten zu viel Macht eingeräumt wird. Soll ein Polizei-
actuar oder Dorsbürgermeister, der oft nicht einmal vollkommen Deutsch
versteht, darüber entscheiden, ob ein gebildeter junger Mann, ein
Schriftsteller, eine Spazierfahrt nach Dresden machen kann, und sich
dabei noch auf allerhöchste Meinungen und Prinzipien berufen dür¬
fen? Man sollte endlich einsehen, wozu dieses kleinliche und lächer¬
liche Bcaufstchtigungssystem führen muß.
— Von nun an wird man nicht nur künstliche Zahne einsetzen,
und nicht nur künstliche Augen aus Glas, sondern wirkliche sehende
Thieraugen, wie folgender Vorfall zeigt, den unter andern politischen
Blattern auch die Kölnische Zeitung mittheilt. Ein Alpenjäger in der
Schweiz geriech in Kampf mit einem Adler, der ihm mit dem Schna¬
bel das rechte Auge aushackte. Der Jäger ermannte sich indeß und
schoß den König der Lüfte nieder. Ein junger Arzt, von speculativer
Kühnheit, erbot sich, ihm ein neues Auge einzusetzen und zwar eines
aus dem Kopf des erschossenen Raubthieres; siehe da, das Auge wuchs,
wider Erwarten, an den Sehnerven an, sog daraus neue Lebenskraft
und funkelte und blitzte bald, wie einst, als es hoch im Aether über
Meer und Gletscher in der Augenhöhle des erlegten Jupitervogels
blitzte oder in die feurige Sonne sah. Der Jäger hat nun freilich
dadurch auf dem rechten Auge einen sonderbaren Blick bekommen, al>
kein dafür steht er so scharf, daß er vom höchsten Berggipfel dieselben
Leute im tiefsten Thal, die er mit dem linken Auge gar nicht bemerkt,
mit dem rechten deutlich sieht und nicht nur ihr Gesicht und ihre
Kleider erkennt, sondern daß er, wenn sie die Taschenuhr ziehen, sehen
kann, wie spät es sei. Der junge Arzt verfolgt nun sein Experiment weiter
und hat einem Jagdhund ein Paar Adleraugen, einem Pferde aber ein Paar
Uhuaugen eingesetzt, damit es in der Nacht nicht scheu werde. - Und die
politischen Zeitungen theilen diese neueErsindung wie einen gewöhnlichen
Pussmit,ohne an die politische Wichtigkeitderselbenzudenken! Sollte
es nicht gerathen sein, allen Zollausschern, Feldherrn, Nachtwandlern,
Criminalrichtern :c. zu befehlen, daß sie sich wenigstens auf einem
Auge den Adlerblick verschaffen, den sie in ihrem Berufe nöthig ha¬
ben? Ueberhaupt könnten Menschen, die zu viel Aehnlichkeit mit dem
Schaf besitzen, ihrer Geisteskraft durch eine solche Operation zu Hilfe
kommen. Von allerhöchsten Personen reden wir natürlich nicht, da
diese ohnedies nicht anders, als mit dem königlichen Adlerblick, gebo¬
ren werden.
— In einem russischen Grenzorte wurden unlängst fünf Ueber¬
läufer, jeder mit fünfzehnhundert Hieben, bestraft; fast Keiner über¬
lebte den tausendsten Hieb. Die Angehörigen der zu Tode Gemar¬
terten waren genöthigt, dieser öffentlichen Erecucion vom Anfang bis
zum Ende beizuwohnen. — So wird der „Kölnischen Zeitung" aus
Königsberg berichtet; der Correspondent hat die Nachricht aus dem
Munde eines achtbaren preußischen Beamten, der anderthalb Stunden
von der Grenze stationirt ist. — Das eigentlich Russische liegt dabei
in folgendem Nebenumstand, den Mer Correspondent erzählt: „Das
Fleisch hing in blutigen Fetzen von dem entblößten Gerippe herab.
Der Tod der Sträflinge hinderte aber die Henker
nicht, den Leichnamen die zugemessene Zahl Hiebe
pflichtmäßigst bis auf den letzten zu ertheilen." ^
Wie romantisch! Wie vortrefflich würde diese Scene in ein
Hoffmann'sches Nachtphantasiestück passen. Ware ich Cornelius,
ich würde stracks an die Grenze reisen und dergleichen „Bilder aus
Rußland" malen, um sie theils dem hochherzigen Nikolaus, dem
Liebling aller edlen deutschen Frauenseelen, theils dem König von
Preußen zu widmen, der wohl nur aus Rücksicht für die Roman¬
tik des Grenzerlebcns sich zur Abschließung des Cartels vermögen
ließ.
— Man hat gefunden, daß bei der jüngsten Pariser Julifeier
eben so viele Menschen (durch Erdrücken) umgekommen sind, wie
bei dem ersten Aufruhr der schlesischen Fabrikarbeiter bei Reichenbach.
Eine deutsche Revolte macht so viel Lärm, wie ein kleines Pariser Volks¬
vergnügen. Freilich scheint auf den Julitagen ein eigenthümlicher
Fluch zu ruhen; der Geist der Revolution, den man hintergangen,
will von Zeit zu Zeit ein Sühnopfer haben.
Es ist eine nicht uninteressante Unterhaltung, an einem schönen
Sommernachmittag, wenn man gerade nichts Besseres zu thun weiß
durch verschiedene Straßen von Berlin zu schlendern und, als suche
man eine Wohnung, in einige der Häuser einzutreten, an denen sich
Zettel mit der Aufschrift befinden: Hier sind meublirte Zimmer zu
vermiethen. Man macht da oft die Bekanntschaft origineller Perso-
nen, wird zufälliger Zeuge interessanter, oft spaßhafter Scenen und
Familienbegebenheiten, und wer Berlin von allen seinen Seiten gründ¬
lich kennen lernen will, den verweisen wir auch in der That auf
diesen höchst amüsanten und belehrenden Weg. Ganz anders stellt
sich jedoch die Sache heraus, wenn man bei schlechtem Wetter ge¬
zwungen ist, eine solche Tour zu machen. In dieser Lage befand
ich mich einst an einem höchst unfreundlichen Novembertage. Mit
Schnee vermischter Regen fiel in Strömen herab; ich war schon den
ganzen Vormittag umhergelaufen, war unzählige Treppen auf- und
abgestiegen, hatte schon mehr als ein Dutzend Zimmer gesehen und
noch kein einziges hatte mir behagt. Ganz durchnäßt und erschöpft
stimmte ich endlich meine Ansprüche herab und beschloß, das erste
beste, das mir wieder in den Weg käme, zu miethen. Ueber einer
kleinen Hausthür in der K—straße sah ich den Zettel glänzen; ich
trat-ein, ohne mir das Haus weiter anzusehen. Eine hübsche un-
tersetzte Frau empfing mich auf dem Flur und schloß mir das kleine
niedlich eingerichtete Parterrezimmer auf, das ich, nebst dem daran
stoßenden Cabinet, ohne weiteres Besinnen sogleich miethete. Die
K—straße, dachte ich mir, ist freilich keine der lieblichsten, doch wirst
du es ja wenigstens einen Monat aushalten. In der That stieg
mir dieselbe Betrachtung wieder auf, als ich am andern Morgen
durch die Straße fuhr, meinen Einzug zu halten. Die Häuser wa¬
ren größtemheils sehr niedrig und baufällig und sahen nebst den
wenigen Personen und Kindern, die ich vor den Thüren erblickte,
schmutzig und unreinlich aus. Endlich vor meinem neuen Hotel an¬
gekommen, besah ich mir zum ersten Male die äußere Gestalt dessel¬
ben und mußte laut auflachen. Das Häuschen hatte nur zwei Fen¬
ster in der Breite und ragte doch über die niedrigern, aber bei wei¬
tem breitern Nebengebäude ein großes Stück hervor, so daß es mit
seiner thurmartigen schlanken Figur einen höchst possierlichen Eindruck
machte. Noch lachend trat ich näher; der kleine Sohn der Wirthin
überreichte mir mit artiger Kellnermiene die Schlüssel und holte meine
Effecten aus der Droschke, auch Madame Wonnig erschien selber
und dieses Mal nicht gerade in dem nobelsten Morgencostüm. Sie
erzählte mir gleich, daß ihr Mann schon in Geschäften ausgegangen,
daß er eigentlich ein Schuhmacher sei, daß sie eine große Familie
hätten; daß sie sich ihr Häuschen, da es bei einem Umbau nicht
größer gemacht werden konnte, so in die Hohe hätten bauen müssen;
daß es aus lauter solchen Piecen, wie die meinige, bestehe, immer
vorn heraus solch ein Zimmer mit Cabinet und nach hinten hinaus
noch eine kleine Stube, die alle zum Vernüethen meublirt und immer
sehr gut besetzt seien. Herr Wonnig, ein schon etwas ältlicher Mann
mit einem exemplarisch gutmüthigen Schafsgesicht, kam dazu und be¬
grüßte mich mit unzähligen Kratzfüßen. An der An, wie seine Frau
mit ihm sprach, bemerkte ich gleich seine untergeordnete Stellung zu
ihr; sie war klug, gewandt und schlau, er im höchsten Grade ein¬
fältig. Seine stereotype Redensart war: „meine Frau sagt." Mein
Stübchen war recht warm, freundlich und behaglich; ich machte eS
mir bequem und verbrachte die ersten Tage in ruhiger Behaglichkeit.
Im Hause selbst war es ziemlich still, nur daß, wie in einem Gast¬
hof, die Klingelzuge oft gingen und man die Treppen viel auf- und
ablief. Wo die Wirthsleute eigentlich wohnten, konnte ich nicht er-
fahren, denn wenn man etwas wünschte, war man darauf ange¬
wiesen, die Klingel zu ziehen, und sogleich erschien auch der dienende
Geist in der Person des ältesten, sehr pfiffigen und gewandten Kna¬
ben. Man ist in Berlin nicht neugierig auf seine Hausgenossen und
lernt sie gewöhnlich gar nicht kennen; oft weiß man Monate lang
nicht einmal den Namen des allernächsten Nachbars, wenn man
nicht zufällig seine Bekanntschaft macht. Selbst in diesem engen
Häuschen hatte ich bis zum vierten oder fünften Abend noch Keinen
von ihnen gesehen. An diesem kam ich etwas später als gewöhnlich
nach Hause lind setzte mich eben auf das Sopha, um die vorgefun¬
dene Zeitung noch zu lesen, als ich auf dem Hausflur ziemlich laut
sprechen hörte. Da auf der Straße schon die Todtenstille der Ber¬
liner Nacht herrschte, konnte ich deutlich eine etwas rauhe, weibliche
Stimme unterscheiden, die in abgebrochenen unverständlichen Sätzen,
Worten und Ausrufungen mit sich selber sprach. Die Stimme kam
immer näher und näher, und als ich, um in meiner begonnenen Lec-
türe mich nicht stören zu lassen, meine Thür verriegeln wollte, wurde
draußen leise angepocht. Wer da so spät? rief ich. — Können Sie
mir nicht etwas Licht geben? war die Antwort. Ich öffnete und
wer beschreibt mein Erstaunen: vor mir stand ein langes hageres
Weib mit verdrehten Augen, todtenbleichen Gesicht und glühend¬
rother Nase, das lange graue Haar wild und verworren über das
schmutzige Hemd herabhängend, das ihre einzige Bekleidung aus¬
machte. Ich nahm ihr schnell das Licht aus der Hand, es an dem
meinigen anzuzünden, doch ehe ich mich umdrehte, hatte sie sich schon
durch die kleine Oeffnung, die ich an der Thür gelassen hatte, hin¬
durchgedrängt, machte letztere behutsam wieder zu und war nun im
Zimmer. Sein Sie ganz still, sagte sie, die Leute dürfen nicht
hören, daß ich bei Ihnen bin. Ich komme eigentlich, Sie zu war¬
nen. Sie sind in ein abscheuliches Haus gerathen, Sie können hier
nicht wohnen bleiben. In diesem Hause gehen alle möglichen
Schlechtheiten und Gemeinheiten vor, die Wirthsleute beherbergen
allerlei liederliches Gesindel, Spitzbuben und Frauenzimmer und schin¬
den und betrügen, daß es eine Freude ist. Da oben im obersten
Hinterstübchen wohnt ein alter Weißkopf, mit dem stehen sie im
Bunde. Denken Sie sich, dieser alte Kerl sitzt den ganzen langen
Tag da oben allein in der engen Cajüte, kein Mensch kennt ihn,
Gott weiß, was er macht, um elf Uhr, da geht er erst aus und
kommt manchmal vor zwei Uhr nicht wieder zurück. Ist das nicht
verdächtig, ist das recht und erhört von solchem alten Mann? Doch
ich sage gar Nichts. — Und diese naseweisen Kinder erst, von de¬
nen eins immer anders als das andre aussieht. Pfui über diese
ganze liederliche Brut! — Und nun ging es los mit Schimpfen und
Raisonniren auf eine Menge von männlichen und weiblichen Namen,
die den verschiedenen Hausbewohnern gehörten. Ich horte in stum¬
mem Erstaunen diesem sonderbaren Geschöpf zu, als sie aber endlich
Miene machte, zärtlich zu werden, wies ich ihr, mit der Drohung, daß
ich Lärm machen würde, die Thüre. Dies wirkte, sie ging sogleich.
Als sie noch auf dem Flur und ich eben damit beschäftigt war, meine
Thür recht fest zu verschließen, wurde die Hausthür geöffnet, und ein
kleiner alter Mann mit lang herabhängenden glänzend weißen Haaren
erschien. Ich kannte diesen Mann schon, denn ich hatte ihn früher
manchmal noch Abends spät in einer kleinen Konditorei in der Fried¬
richsstraße getroffen. Der finstre Blick seines Auges, die wehmüthi¬
gen Züge seines blassen, eingefallnen Gesichts, aus denen die
Geschichte eines schicksalsvollen Lebens sprach, dazu der kleine Hut,
den er immer beim Eintreten geschwind abnahm und sogleich hinter
sich stellte, der glattgebürstete, aber sehr fadenscheinige Rock und das
glänzendweiße, in zierlichem Knoten gebundene Halstuch hatten mich
längst auf eine interessante Persönlichkeit schließen lassen und auf
seine nähere Bekanntschaft begierig gemacht. Er saß aber immer
ernst und stumm, die Zeitung in der Hand, da, sprach nur höch¬
stens ein Paar kurze Worte mit dem Conditor, der ihn von lange her
zu kennen und besonders zu respectiren schien, bezahlte dann schwei¬
gend und ging. Dieser Mann war also jetzt mein Hausgenosse, und
ich benutzte die zufällige Gelegenheit, ihn anzureden: Können Sie
mir nicht sagen, mein Herr, wer die sonderbare Person ist, die Sie
so eben aus meinem Zimmer kommen sahen?—Hat sie Ihnen auch
schon einen Besuch abgestattet? erwiederte er lächelnd. Das ist in
der That ein sonderbares Weib. Wenn Sie sie nicht auf dem Halse
haben wollen, so seien Sie ja nicht freundlich mit ihr. Sie ist eine
pensionirte Professorswittwe, wohnt hier parterre auf dem Hofe und
ist durch den Trunk etwas verrückt geworden. Dabei hat sie einen
Dragonerunteroffizier zum Liebhaber, der sich immer Abends gütlich
bei ihr thut, und kommt der einmal nicht, so läuft sie die ganze
Nacht im Hause umher, spricht mit sich selber und klopft bei den
Männern an die Thüren. Sie ist der Satan des ganzen Hauses
und hetzt alle Leute auf einander. Sie war bei mir auch schon, ich
habe dem Wirth längst gerathen, sie aus dem Hause zu schaffen.
Ich wollte mich eben in ein längeres Gespräch mit ihm einlassen,
als ich schon wieder den Schlüssel in der Hausthür herumdrehen
horte. Im Scheine des Lichts, das durch meine geöffnete Thür fiel,
sah ich drei Personen eintreten, bei deren Erscheinen sich der alte
Herr mit einem leisen Kopfnicken gegen mich empfahl. Die Ein¬
tretenden, wahrscheinlich überrascht, in der Nacht noch Jemanden
auf dem Flur zu treffen, brachen Plötzlich ihr lebhast geführtes Ge¬
spräch ab; der Eine, ein etwas spindeldürrer Herr im Paletot und
einer sehr steifen Halsbinde, der sich gewaltig bücken mußte, um mit
seiner langen Figur durch die niedrige Hausthür zu kommen, schritt,
ohne sich umzusehen oder noch ein Wort zu sagen, die naheliegende
Treppe in jener gemessenen Haltung hinan, in der wir sogleich den
preußischen Beamten erkennen; die andern Beiden, die ihm lachend
nachblickten, waren ein, dem Anscheine nach, noch junges Frauenzim¬
mer im Mantel und Hut, deren Gesichtszüge ich nicht genau erken¬
nen konnte, und ein stämmiger, roth und verdrüßlich aussehender
Bursche von etwa neunzehn bis zwanzig Jahren, an dem ich nur
noch bemerkte, daß der graue Macintosh, in den er seine kleine ge¬
drungene Gestalt einhüllte, ihm in ungehörig schlotternder Länge ge¬
gen alle Mode fast bis zu den Füßen hing und daß seine hohe pol¬
nische Pelzmütze, seit einigen Wintern die neue Zierde der Berliner
Droschkenkutscher, sehr wunde Stellen hatte. Uebrigens trug er eine
Guitarre in der Hand, die er nach kurzem Zögern und Besinnen seiner
Dame übergab, und dann ging er ebenfalls wieder weg. Gute Nacht,
lieber Alir^ sagte diese noch, und ich befand mich mit ihr allein auf
dem Flur.— So spät haben Sie noch musicirt, mein Fräulein? fragte
ich, in mein Zimmer tretend. — Ach, sagte sie, ,das ist heut sogar
recht früh geworden; sonst komme ich gewöhnlich noch später vom
Singen nach Hause. Ich merkte an diesen Worten, daß die Kunst
wahrscheinlich ihr Gewerbe sei, und frug deshalb, wo sie dieselbe
producire. — Das ist verschieden, meinte sie, wie es sich gerade
trifft, manchmal hier, manchmal dort, gewöhnlich aber hier um die
Ecke No, 44, wo das gute baierische Bier ist und die Herren Stu¬
denten hinkommen. Mit dieser Antwort verschwand sie durch die
Hofthür, und ich wäre ihr gern nachgefolgt, um zu sehen, wo sie
denn auf dem kleinen engen Hofe, den die liebenswürdige Professo¬
rin schon inne hatte, noch eine Wohnstätte haben könne, wenn ich
nicht gefürchtet hätte, von ihr bemerkt zu werden. Ich war
zufrieden, vier meiner Hausgenossen auf so, nächtlich abenteuerliche
Weise kennen gelernt zu haben und ein Interesse an dem Minia¬
turhause in mir entstehen zu sehen. Doch war ich damals zu be¬
schäftigt, um selber nähere Nachforschungen anzustellen; und sich bei
Wirthsleuten nach Bewohnern desselben Hauses erkundigen, ist in
Berlin nicht gerathen Ich sah wohl den hagern Herrn in seiner
steifen Halsbinde jeden Morgen um neun Uhr unter meinem Fenster
weggehen, hörte die Alte sich Abends mit ihrem Amand unterhalten,
zanken und raisonniren, auch wohl bei mir anklopfen, ohne daß ich
sie einließ, sprach auch wohl hie und da mit Herrn und Madame
Wonnig, wobei ich die Bemerkung machte, daß, wenn Herr Wonnig
sich über die schlechten, theuern Zeiten beklagen wollte, seine gern
prahlende Gattin ihn sogleich mit strengen Blicken zurechtwies —
sonst hatte ich aber nichts Interessantes weiter erfahren.
So hatte ich einige Wochen ruhig in dem Hause verlebt, als
ich einst in der Nacht durch ein fürchterliches Weibergeschrei aus dem
Schlafe geweckt wurde. Ich sprang sogleich aus dem Bett, zündete
Licht an und sah bald auf dem ereignißreichen Hausflur die alte
Professorin in einem tragikomischen Kampfe mit einer jüngeren Per¬
son begriffen. Die Letztere hatte die Alte bei ihren herabhängenden
Haaren gepackt und wollte sie unter fürchterlichen Anstrengungen zur
Erde niederzausen; diese, sich noch haltend, schlug ihr mit ihren dür¬
ren Knochenhänden, ohne nachzulassen, in das wüthende, glühende
Gesicht. Dabei fiel ein wahrer Hagel kräftiger Schimpfreden zwischen
Beiden, so daß ich mich wirklich schwer entschließen konnte, das amü¬
sante Schauspiel durch meine Dazwischenkamst zu stören. Die Weiber
bemerkten mich in ihrer Wuth nicht, und erst als die Alte am Boden
lag und die Andere sich wie eine Rasende auf sie stürzte, als wolle
sie sie mit ihren Füßen zertreten, ergriff ich sie beim Arm und hielt
sie fest zurück. Das junge, schöne Mädchen, die sich wahrscheinlich
gleich schämte, daß ein Mann sie als Furie und in diesem zerzau¬
sten Aufzuge gesehen, ließ, noch zuckend an allen Gliedern, nach, und
eben hatte die Alte sich langsam erhoben, um mit neuer Wuth auf
sie loszugehen, als wir mit einem Male alle Thüren im ganzen
Hause gehen hörten. Von allen Treppen kam man herab, aus al¬
len Winkeln tauchten Gestalten und Gesichter, hohe weiße Nachtmüz-
zen und zerrissene Schlaf- und Unterröcke auf, es gab eine köstliche
Scene, eine solche ganze Hausgenossenschaft, aus dem Schlafe auf¬
geschreckt, im vollsten Neglige zusammenlaufen zu sehen, eine Schauer-
sccne, wie wenn im Robert der Teufel die Todten sich aus den Sär¬
gen erheben. Wie im Nu waren Alle zusammengeblasen und drängten
sich, mit theils schlaftrunkenen und ärgerlichen, theils neugierigen und
fragenden Blicken um das junge Mädchen, die, bleich wie ein Mar¬
morbild, den Kopf auf die Hand gestützt, auf der Treppe saß. Aber
um des Himmels willen, Mathilde, rief die Wirthin, was ist denn
los, wo kommen Sie denn so spät in der Nacht noch hier herunter?
— Ja, kreischte nun die Alte, sie hat mich hier im Finstern überfal¬
len und geschlagen, ich habe mich nur gewehrt. — Das zarte Mäd¬
chen überfällt Sie nicht, sagte der Alte aus der Konditorei, das ist
eine Lüge. — Es ist doch möglich, meinte bedeutsam der hagere
Herr, seinen Paletot vorn zusammenhaltend, den er wahrscheinlich in
der Eile statt des Schlafrocks übergeworfen hatte, das Mädchen hat
einen kleinen Teufel im Leibe und kann maliciös sein, trotz Einer.
— Ein kleines Nachtstückchen, ein nächtliches Abenteuer, lachten meh¬
rere junge Männer mit sorgsam gewickelten Locken. Sie wollte mich auch
einmal schlagen, das alte Frauenzimmer, sagte das Guitarremäd¬
chen, es kann ihr gar Nichts schaden, Mathilde, wenn Sie es ihr
einmal recht tüchtig abgegeben haben. — Meine Frau sagt, daß so
etwas im Hause nicht vorfallen darf, meinte Herr Wonnig, sich mit
Anstrengung ein gewichtiges Air gebend, und dabei zitternd vor Frost,
da er auf bloßen Füßen stand. Während dieses Hin- und Herge-
redcs hatte Madame Wonnig das Verhör begonnen; die beiden
Frauenzimmer schrien, indem sie sich die gegenseitige Anreizung vor¬
warfen, die Uebrigen sprachen mit und gaben, abwechselnd, bald der
Alten, bald der Jungen Recht, bis die Majorität endlich auf Seiten
der letzteren war und die Alte von den Wirthsleuten zur Ruhe und
auf ihr Zimmer verwiesen, von den Hausbewohnern aber nicht gerade auf
das Nobelste tractirt und eine besoffene Canaille u. s. w. genannt wurde.
Der Strom verlief sich, man kroch wieder in die Winkel, stieg die
Treppen wieder hinauf, die Thüren wurden verschlossen, es war bald
wieder ganz still in dem kleinen Hause mit seiner sonderbaren, ge¬
schäftigen Bewohnerschaft Ich war wieder allein in meinem Zim¬
mer und dachte eben noch über das Räthsel nach, wie denn diese
Mathilde, von der ich noch gar Nichts gehört und gesehen hatte, in
so später Nacht noch drei Treppen herunter und mit der Alten zu¬
sammengekommen sei, als ich leise an meiner Thüre pochen hörte.
Ich beschloß, nicht zu öffnen, aus Furcht, es sei die Nachtwandlerin,
doch das Pochen wiederholte sich zwei, drei, vier Mal, ich ging
öffnen. Vor mir stand Mathilde, noch immer leichenblaß, das Ge¬
sicht zerkratzt und blutig, Haar und Kleidung aber so ziemlich wieder
geordnet. Ich wollte hier im Hause, sagte sie, nach meinem Stirn¬
band suchen — das schöne Stirnband, die Alte hat es mir gewiß
genommen! — da sehe ich bei Ihnen noch Licht. An allen den Leu¬
ten hier im Hause ist mir Nichts gelegen, gar Nichts,' die können
Alle von mir denken, was sie Lust haben; bei Ihnen aber, der Sie
mich nicht kennen und die Geschichte zuerst mit angesehen haben, will
ich mich vertheidigen. Unter diesen Worten war sie näher getreten,
warf sich, ohne daß ich sie vorher darum gebeten hatte, auf das
Sopha, putzte mit einem überaus zarten, feinen Händchen die beiden
Lichter auf dem Tische, lehnte sich bequem in den Winkel und be¬
gann: Alle die Leute, die Sie vorhin gesehen haben, fand ich schon
im vorigen Sommer hier im Hause vor, als ich die Stube drei
Treppen hoch vorn heraus bezog. Ich komme aber mit Keinem
zusammen und weiß nur, daß die Wirthsleute für mich gerade die
größten Rechnungen schreiben. Mein nächster Nachbar ist der alte
Herr mit den weißen Locken; er spricht manchmal mit mir und scheint
mir ein gar freundlicher, lieber Mann zu sein. Doch kenne ich ihn
auch nicht weiter, denn er ist nur höchst selten einmal zu sehen. Den
ganzen Tag sitzt er und schreibt und schreibt, und Abends gegen eilf
Uhr kleidet er sich erst an, um auszugeben. Die Wirthin sagt mir,
sie wisse gar nicht, wie er sich so erhalte, denn die ganze Woche, den
Sonntag ausgenommen, wo er bei einem Verwandten zu Tische ist,
genießt er Nichts, als drei Mal täglich Kaffee und Butterbrod. Wo
er des Nachts hingeht, wissen wir Alle nicht. — Die Studenten im
Hause sind artige Herren, doch die Handlungsdiener und Stuben¬
maler ganz lächerliche Menschen mit ihren Anhängercien und Wiz-
zen und verwickelten Locken. Ein wahres Vergnügen, vom Flurfen¬
ster aus zuzusehen, wenn die sich am Sonntag anziehen; da zanken
sie sich immer, wer zuerst vor den Spiegel soll, denn Einer steht im¬
mer zwei volle Stunden. — Emilie ist ein gutes Mädchen, aber sie
spielt in den Kneipen Guitarre, ihre Mutter ist ein altes Waschweib
und ihr Bräutigam, Herr Alir, ein grober, abgeschmackter Mensch.
Nun haben Sie auch da den langen, dünnbeinigen Herrn gesehen.
Dieser Mensch stellt mir von dem Augenblick, wo ich einzog, immer¬
während nach, ich aber kann ihn nicht leiden und mag Nichts von
ihm wissen; er ist Schreiber auf dem Gericht und hält sich für sehr
schön und nimmt eine Miene und einen Ton an, als habe er Tau¬
sende zu verzehren. Ich aber habe schon meinen Bräutigam, mein
Felix ist sehr streng und etwas eifersüchtig,, und ich kann ihm wohl
gehorchen, da ich Nichts habe und er Alles für mich bezahlt. Als
ich daher den Schreiber, der mir sehr unausstehlich wurde, einmal
recht derb abfallen ließ, da fing er, noch nicht müde, an, sich hinter
die Alte, hier neben, zu stecken. Diese hatte sich von Anfang an
gleich sehr an mich herangeschmeichelt, kam alle Nachmittag mit dem
Strickstrumpf zu mir herauf und blieb Stunden lang, bis sie meinen
Felir auf der Treppe horte. Obwohl sie immer sehr nach Brannt¬
wein roch und mir manchmal höchst unangenehm wurde, war ich doch
zu gutmüthig, ihr die Thüre zu weisen. Endlich fing sie auch von
dem Schreiber an zu sprechen, was das für ein herrlicher, feiner
Mann sei, ganz anders als andere Männer; daß sie, wenn sie jung
wäre, sich schon längst in ihn verliebt hätte; daß er immer von mir
und meiner Schönheit mit der größten Achtung spreche u. s. w. Die
Anspielung auf Felir hatte mir schon nicht gefallen, als ich aber den
Braten vollends merkte, wies ich ihr die Wege und erfuhr dann auch
bald, daß der Schreiber ihr einen goldenen Ring geschenkt und noch
viel Geld versprochen hatte, wenn sie mich freundlicher gegen ihn
stimmen könnte. Seit dieser Zeit hat sie ihren ganzen Haß auf mich
geworfen und hängt mir an, was sie nur kann. Gestern nun kommt
Felir zu mir, setzt sich stumm auf das Sopha nieder und sieht sehr
verstört und wehmüthig aus. Ich sage: Felir, was ist Dir, warum
bist Du so traurig? Da fängt er gar an zu weinen und sagt:
Mathilde, Du bist undankbar, Du weißt, was ich für Dich gethan
habe, was Du warst und jetzt bist, Du vergiltst mir's schlecht. Au¬
ßerdem, daß zwei meiner Freunde Dich neulich in der Nacht auf
einem öffentlichen Balle getroffen, hast Du nun gar einen elenden
Schreiber neben mich gestellt. Zu dem ersten Vorwurf konnte ich
Nichts sagen, eS war wahr; ich hatte es nicht für nöthig gefunden,
Felir Alles zu erzählen, was, wie ich bemerkte, ihn nur stört und
ärgert, wenn er es weiß; als ich aber mitten in seiner langen Pre¬
digt das Wort Schreiber horte, da erwachte das Gefühl meiner
Unschuld, ich fuhr ärgerlich auf ihn los, er solle mir das beweisen.
Die Alte hatte es ihm gesagt, hatte ihn leise zu sich herein gerufen
und BerdachtSgründe angegeben, die ihm beweisend waren. Ich wollte
gleich hinunter zu ihr, Felir hielt mich zurück; das beweise ihm gar
Nichts, sagte er. Wir zankten uns darauf, und er ging fort. Felir
ist sonst jeden Tag zu mir gekommen, heute aber habe ich ihn ver¬
geblich erwartet und dabei immer nachgedacht, ob ich nicht der Alten
die Epistel lesen solle, unterließ es aber aus Furcht vor dein Haus-
sccmdal. Ich konnte vor Unruhe nicht einschlafen. Endlich vorhin
übermannte mich der Aerger, ich schlich mich leise auf den Hof, er¬
wartete die Zeit, wo die Alte ihrem Geliebten die Thüre öffnet und
gewöhnlich sehr stark betrunken ist, und wischte ihr, als sie wieder
nach ihrem Zimmer gehen wollte, ein Tüchtiges aus. Ich hatte ge¬
dacht, es würde sie in der dicken Finsterniß, die uns umgab, so über¬
raschen, daß sie gar nicht merken würde, wenn ich leise die Treppe
wieder hinaufliefe; sie aber fing gleich an zu schreien, hielt mich fest,
und daher die Scene, deren erster Zeuge Sie waren. Ich habe Ih¬
nen die Geschichte nun erzählt, ich weiß nicht, ob Sie mir Recht
geben; das ist mir im Grunde auch ziemlich gleich, nur stillschweigen
müssen Sie davon. Wenn nur mein Felir Nichts erfährt, der so
etwas nicht leiden kann. Morgen treibt ihn seine Sehnsucht gewiß
her; morgen früh hab' ich ihn wieder, das weiß ich. Gute Nacht!
Bei diesen Worten war sie schnell aufgestanden, hatte leise die Thüre
ausgedrückt und war verschwunden. Was hätte wohl ein moralischer
Kleinstädter, oder Jemand, der sich nur in den höheren steifen Krei¬
sen der Berliner Gesellschaft bewegt, und besonders das Wesen die¬
ser Art von Mädchen nicht kennt, zu dieser nächtlichen, ungezwunge-
nen, liebenswürdigen Geschwätzigkeit gesagt? Kaum wollte ich mich
nun endlich wieder niederlegen, als ich durch die Bretterwand, die
mich von ihrem Zimmer trennte, die Alte aus dem Bett springen und
das Fenster öffnen hörte. Sie war wahrscheinlich erst jetzt wieder
etwas zur Besinnung gekommen, die Wuth war wieder erwacht und
so sing sie nun an, in die Nacht hinaus auf den Wirth, die Wir¬
thin und jede einzelne Person des Hauses zu schimpfen. Die nicht
gerade liebliche Stimme des wunderlichen Weibes, dieser Strom der
ausgesuchtesten Schimpfwörter, die sich nur immer wiederholten, da
Niemand daraus antwortete, bildeten einen eigenen Contrast zu der
tiefen, feierlichen Stille ringsumher. Die Alte ließ mit ihrem wüthen¬
den Geschrei erst nach, als ich es ihr derb und ernst untersagte, und
es mochte wohl schon vier Uhr sein, ehe ich wieder die gehörig.- Ruhe
gewonnen hatte, einzuschlafen.
,
Als ich am anderen Morgen nicht gerade in aller Früh-, noch
ermüdet und etwas ärgerlich über den Nachtlärm, beim Kaffee saß,
trat ein fashionabler junger Mann in glänzendweißen Glacehand¬
schuhen zu mir ein, dessen Gesichtszüge mir bekannt schienen. Bei
seinem Nähertreten erkannte ich in ihm den Sohn eines hohen Be¬
amten, den ich früher schon in Gesellschaften gesehen und Clavier
spielen gehört hatte. Er war eine jener Figuren, wie man sie in
Berlin häufig sieht und daher leicht mit einander verwechseln kann;
mit allen möglichen äußeren Mitteln und Anlagen begabt, um in
den Berliner Damengesellschaften auf den Ruf eines höchst interessan¬
ten und liebenswürdigen Mannes Anspruch zu machen. Denn der
junge Mann hatte ein bleiches, glattes, nicht gerade unregelmäßiges
Gesicht mit zwei verschwimmenden, graublauen Augen und einem
sentimental lächelnden Zug um den Mund, das hellbraune Haar
glatt und schlicht an beiden Schläfen herabhängend und dazu höchst
zierliche, geschmeidige Bewegungen. Meine Ahnung war richtig, daß
dies der Felir sein müsse, von dem ich in der Nacht so viel gehört
hatte. Doch hieß er nicht Felir und nannte sich, wie er sagte, nur
so, um seinen Faun ennamen nicht bekannt werden zu lassen.
Er war übrigens betroffen, in mir einen entfernten Bekannten zu
finden. Als er kaum in das Haus getreten, war Hin die Alte
schon' mit der Geschichte der vergangenen Nacht entgegengekommen
und hatte ihn zu mir herein gewiesen, sich zu erkundigen. Ich erzählte
ihm kurz, was ich gesehen, nicht was Mathilde mir erzählt hatte.
Wie undankbar die Menschen sind, rief er aus; diese Mathilde
ist ein armes Mädchen ganz niederen Standes; ich habe sie seit zwei
Jahren beschützt, so zu sagen erzogen, um was Besseres aus ihr zu
machen, und sie macht mir durch ihr verwildertes, unfeines Wesen
und Betragen, durch ihren Ungehorsam immer neuen Kummer. Sie
werden staunen, wenn ich Ihnen bei einer anderen Gelegenheit diese
Geschichte erzähle. Er hatte eben den Hut genommen, um wieder
wegzugehen, als Mathilde, der man wahrscheinlich seine Anwesenheit
bei mir hinterbracht hatte, in's Zimmer und ihm sogleich um den
Hals stürzte. Mädchen, was willst Du? rief er in halb väterli¬
chem Tone, indem er sich mit Mühe losrang und ich mich an seiner
gesteigerten Verlegenheit weidete. Es entstand nun ein Disput zwi¬
schen Beiden; Felir sprach sehr gemessen und leise, während Mathilde
so leidenschaftlich schrie, daß auch die Alte herbeikam, die ich aber
hinauöwies. Mathilde weinte endlich und drückte Felir's Hand, er
zog sie zurück und predigte pathetisch Tugend und gute Sitte. Dabei
betrachtete er Mathilden sehr aufmerksam, ihre noch nicht geordnete
Toilette, ihr zerkratztes Gesicht, das vom Nachtwachen etwas glanz¬
lose Auge mochte ihm nicht gefallen; ich bemerkte, das Aeußere deS
Mädchens machte zum ersten Male einen üblen Eindruck auf ihn,
ich sah deutlich aus seinem Herzen einen vornehmen Ekel in sein
Gesicht steigen, sah ihn auch bald den Hut nehmen und weggehen;
ich wußte, Mathilde hatte ihn zum letzten Male gesprochen. Nach
einigen Tagen erhielt ich von ihm folgenden Brief:
„Sie haben mich neulich in einer Situation gesehen, die Sie,
da Ihnen meine Familie und ihre Stellung in der Gesellschaft nicht
unbekannt ist, gewiß in dauerndes Erstaunen versetzt hat. Es ist
mir wichtig und Ihnen gewiß nicht uninteressant, daß ich Sie über
dieses Mißverhältniß aufkläre und Ihnen die Geschichte meiner Be¬
kanntschaft mit jener untergeordneten Sphäre erzähle, in der Sie mich
gefunden haben.
„Ich muß mich aber bei dieser Gelegenheit offen und rückhalts-
los über Dinge aussprechen, die ich bis dahin noch nie erwähnt habe;
ich muß dies selbst auf die Gefahr hin thun, daß Sie meine Worte
für Prahlerei oder Ruhmredigkeit halten.
„Seit meiner frühesten Kindheit war mein Gemüth von dem
Anblick der Armuth und des Elendes immer schmerzlich bewegt, war
die Armen und Nothleidenden zu unterstützen eine meiner höchsten
Freuden. Schon als Knabe legte ich von meinem kleinen Taschen¬
gelde immer einige Groschen zurück, um sie heimlich einem alten
Bettler zu bringen, dem ich öfter vor unserer Hausthüre begegnete.
Als ich größer ward, ließ ich mir durch das Hausgesinde Hilfsbe¬
dürftige und arme Kranke nennen, denen ich dann Erquickungen und
Geld sandte. Ich unterstützte mit einem kleinen Monatsgelde arme
Familien, ließ Kinder unterrichten, bezahlte die Kosten der Einsegnung
für sie u. s. w. Endlich wurde ich durch Boz'S treffliche und rüh¬
rende Schriften auf das Elend im Ganzen und Großen und auf
das Laster und die Sündlichkeit aufmerksam, die es nothwendig er¬
zeugt, besonders auf das weibliche Geschlecht, das zur Zartheit und
zur stillen häuslichen Tugend geboren, durch die Armuth in so grau¬
senhafte, zügellose Rohheit versinkt. Jedes dieser unglücklichen Mad¬
chen, dem ich auf der Straße begegnete, fing mich nun zu interessiren
an, ich sah in ihr das Zeichen einer weit verbreiteten Demoralisation,
ein tragisches Opfer des Hungers und der Noth, und wenn sie mir
gar bei näherer Bekanntschaft die Geschichte ihrer Leiden erzählten,
so war es meine höchste Wonne, ihr hingeben zu können, was ich
bei mir hatte. Ich sprach endlich mit einem frommen Prediger, der
öfter unser Haus besuchte, darüber; der gottesfürchtige Mann sah
mich ernst an, zuckte dann mit den Achseln und sagte mir, daß all
dies sündliche Wesen aus der Irreligiosität und Glaubenslosigkeit ent¬
stehe, die besonders in den untersten Classen ihren Sitz aufgeschlagen
habe. Wenn die Leute vom rechten Glauben erfüllt wären, so wür¬
den sie selig in dem Gedanken sein, daß der Herr ihnen die sündli¬
chen, verführerischen Güter dieser Welt nicht gegeben; so würden sie
in Demuth und frommer, heroischer Ergebung gern Alles entbehren,
was der gerechte und liebevolle Vater ihnen nun einmal versagt hat;
so würden sie nicht mehr Mittel und Wege suchen, auch an den Ge¬
nüssen dieser Welt verbrecherischen Antheil zu haben, und um die
Freuden dieses Lebens den Himmel zu verkaufet. Der einzige Weg,
der einzuschlagen wäre, diesen Classen zu helfen, sei der, ihr trotziges,
weltsüchtiges Gemüth zur Demuth zu bändigen; die höchste Wohlthat,
die man ihnen erzeigen könne, die, daß man ihnen das himmlische
Gnadengeschenk des Glaubens, die Stütze der Kleinen und Armen
brächte; sie seien eben nur verlorene Lämmer der Heerde, die zu ih¬
rem Herrn und Meister zurückzubringen wären. Ich muß gestehen,
daran hatte ich noch nicht gedacht, die frommen Worte des Geistli¬
chen ließen mich merken, daß alle meine bisherige Mildthätigkeit Nichts
gewesen; ich beschloß, den wahren Weg einzuschlagen, irr Berlin um-
herzusuchen und vom Verderben zu retten, was zu retten sei. Oft
wenn ich des Abends ganz begeistert aus den reizendsten Gesellschaf¬
ten kam, ging ich noch an die Stätten des Jammers; mit einem wahr¬
haft christlichen Eifer unternahm ich mein Werk. Doch stieß ich mei¬
stens auf verstockte Sünder, sogar auf Einige, die frech genug wa¬
ren, sich ihrer Irreligiosität gar nicht zu schämen, und mir rund her¬
aus sagten, daß sie nicht mehr so läppische Narren, wie ihre Voreltern
wären, die sich unter Hunger und Qualen mit der Hoffnung auf
den Himmel getröstet hätten. Besonders interessirten mich anfangs
die Bordelle, jene Straßen und Orte, wo das Laster von Berlin sich
so massenhaft bewegt. Wie dauerten mich anfangs diese oft so schö¬
nen, unglücklichen Mädchen. Ich suchte mit einigen, die mir zart
und gefühlvoll schienen und die sich gut zu unterhalten wußten, nä¬
her bekannt zu werden. Wie wendeten sie mir aber den Rücken, wie
fühlten sie sich gekränkt und beleidigt, als ich endlich von ihrem sünd¬
lichen Lebenswandel zu sprechen anfing, wie verlachten sie mich, wie
waren sie empört, als ich gar ihren Mangel an Religion und Glau¬
ben erwähnte und ihnen das nicht ausbleibende Strafgericht Gottes
schilderte; ja, als ich einmal solch einem Wirth die Schändlichkeit sei¬
nes Gewerbes in lebhaften Farben vorhielt, da nahm er mich ruhig
beim Kragen und warf mich zur lauten Belustigung der ganzen Ge¬
sellschaft zur Thüre hinaus. Ich sah wohl ein, daß hier Nichts an¬
zufangen sei, und war eben, da mir die Sache ohnedies nutzlos viel
Geld gekostet harte, mehrere Tage ganz untröstlich über meine ver¬
unglückten. Versuche, als mir plötzlich die Bestimmung ein Wesen ent¬
gegenführte, das mir werth schien, ihm mein ganzes Mitgefühl zu
weihen.
„Eines Morgens — es sind jetzt zwei Jahre — trat ein junges
Mädchen zu mir ein und bot mir Schwefelhölzer zum Verkauf an.
Das noch ganz junge Kind klapperte vor Frost mit den Zähnen,
denn eS war eine strenge Kälte, und sie war nur mit einem dünnen
Sommerkleidchen und einem kleinen zerrissenen Tuche bekleidet, daS
kaum den zarten, weißen Hals bedeckte. Dabei sah sie so frisch und
schön aus, wie eine eben aufgeblühte Rose. Ich ließ sie mit mir
Kaffee trinken und frühstücken und freute mich, wie gierig sie diese
für sie wahrscheinlich höchst seltenen Kostbarkeiten verschlang. Aber
sie war noch so blöde und schüchtern, daß sie sich weder zu setzen,
noch auf meine verschiedenen Fragen laut zu antworten wagte. Ich
entließ sie mit einem Geschenk und schrieb mir den Namen und die
Wohnung ihrer Eltern auf. Dieselbe war vor dem Hamburger
Thore in dem berüchtigten Voigtland, und einige Tage nachher machte
ich mich dahin auf den Weg. Ich trat in eins der großen Fami¬
lienhäuser; der Inspektor wies mich auf meine Frage nach einer nu-
merirten Thür. Ich klopfte mehrere Male an, da man es aber
drin nicht zu hören schien, trat ich näher. Ein Gemisch von aller¬
hand feuchte», unangenehmen Dünsten drang mir gleich so heftig
entgegen, daß ich mir das Tuch vor den Mund halten mußte. Und
denken Sie sich, im ganzen Zimmer nur ein einziges Bett, in dem
ein kranker Mann lag, der meinen Eintritt gar nicht zu bemerken
schien; das übrige Möbel bestand aus einem kleinen Tisch und eini¬
gen zerbrochenen Stühlen, die Fenster waren theils zerbrochen, theils
mit Papier verklebt. Sechs oder gar acht halb nackte, schmutzige
Kinder, von denen das Schwefelholzmädchen, die ich gleich erkannte,
die älteste zu sein schien, saßen theils weinend, theils spielend auf
dem Fußboden herum, und die Mutter war eben bemüht, die sehr
kalte Stube durch ein kleines Feuer ein wenig zu erwärmen. Ich
hatte schon eine Minute an der Thür gestanden und war von der
ganzen Familie mit glotzenden Augen betrachtet worden, als Mathilde
— ich kann es Ihnen hier nur gleich sagen, dies war die Schwe-
felholzhändlerin — mich erkannte und ihrer Mutter etwas in das
Ohr sagte. Die arme, kaum erst aus dem Wochenbett erstandene
Frau bot mir einen Stuhl an und schilderte mir bald ihre Lage.
Ihr Mann sei früher Buchbinder gewesen und zurückgekommen, habe
darauf hier herausziehen müssen und als Tagelöhner gearbeitet, liege
aber seit einem halben Jahre, wo er das Nervenfieber bekommen,
todesmatt und fast ganz bewußtlos im Bett. In diesem Augenblick
drehte sich der Kranke herum und forderte mit matter Stimme, ohne
die Augen aufzuschlagen, einen Schluck warmen Kaffees. Aber das
feuchte Holz wollte durchaus nicht brennen, die arme Frau fing an
zu weinen, und die Scene wurde mir so herzzerreißend, der ungesunde
Dunst schnürte mir so fest die Kehle zu, daß mir unwohl wurde.
Ich ging, nachdem ich der Frau ein Geschenk gegeben und Mathil¬
den wieder zu mir bestellt hatte. Das arme schöne Kind dauerte
mich am meisten in dieser unsaubern Umgebung, ich sah sie im Geiste
schon zu Grunde gehen, der Straße oder dem Bordell anheimfallen
und beschloß, sie zu retten, es koste was es wolle. Sie kam pünkt¬
lich zu mir und war dieses Mal schon dreister. Ich ließ sie schrei¬
ben und lesen und war wirklich erstaunt über ihre Fertigkeit darin.
Sie erzählte mir, daß ihr Vater ein sehr geschickter Mann sei, sie
selber unterrichtet, und bevor er krank geworden, immer Abends mit
großer Strenge zum Lernen angehalten habe. Dies bestärkte mich
noch mehr, sie dem Elende und der niedern Sphäre zu entreißen, in
der sie geboren war; ich setzte den Eltern einen kleinen Monatsgehalt
aus und brachte Mathilden zu einer anständigen Frau, die sie im
Handarbeiten unterrichten und überhaupt aus ihr ein ordentliches,
gesittetes Mädchen machen sollte. Ich besuchte sie öfter und sah sie
zu meiner Freude immer größer, schöner und kräftiger werden. Doch
wie sich die guten Seiten ihres Wesens entwickelten, so auch die
schlechten, die sie durch ihre Erziehung erhalten hatte. So konnte sie
die Lebhaftigkeit und Ungezwungenheit ihres Charakters nicht unter¬
drücken, und wo sie ihrem Wesen die Zügel schießen ließ, sah ich mit
Beängstigung in ihr doch nur ein gewöhnliches Mädchen. Ich hatte
es mir so schön gedacht, aus dem armen Schwcfelholzlinde ein ge¬
bildetes Weib zu machen, sah aber bald meinen Traum immer mehr
und mehr zerrinnen. Als sie sich anfing wohler zu fühlen, wurde
sie auch vergnügungssüchtig, wollte, statt in die Kirche, auch Sonn¬
tags spazieren gehen und wußte mich endlich so gegen die strenge
Frau einzunehmen, bei der sie wohnte, daß ich sie von derselben
wegnahm und ihr die Stube miethete, die sie jetzt noch inne hat.
Da geht sie nun Abends, wenn sie nicht vermuthet, daß ich komme,
auf öffentliche Bälle und sagt mir rund heraus, daß sie sich lang-
weile, einen ganzen, langen Abend so allein zu sitzen, vernachlässigt
den Kirchenbesuch, knüpft eine Liebschaft mit einem Schreiber an und
prügelt sich des Nachts auf dem Hausflur mit einer alten Frau.
Ich muß sagen, daß ich, seitdem ich an jenem Morgen ihre unordent¬
liche Toilette, ihr zerkratztes Gesicht, ihr auffahrendes Wesen be¬
merkte, allen Glauben verloren habe, daß überhaupt aus dieser
Mädchenclasse, nicht etwa die feinen Damen unsrer noblen Gesellschaft,
nein, daß nur so ordentliche Mädchen aus ihr hervorgehen können,
wie wir sie unter den Bürger- und Handwerkertöchtern finden. So
tritt das Mädchen, deren Glück ich begründet, mir keck und selb¬
ständig entgegen, wagt zu gähnen, während ich ihr gute Lehren gebe,
und sagt, das sei so langweilig wie eine Nachmittagspredigt, sie
wolle das nicht hören, ich solle lieber einmal daran denken, ihr eine
kleine Zerstreuung zu machen. Ich habe ohnedies durch meine jetzt
erfolgte Anstellung als Assessor so viel neue und anstrengende Be¬
schäftigung erhalten, daß eS mir unmöglich ist, mich weiter um sie
zu kümmern, es hat mir Geld genug gekostet, ihr Handarbeiten
lehren zu lassen, sie muß nun endlich anfangen für sich selber zu
sorgen; darauf habe ich sie von Anfang angewiesen.
„Ich war es mir selber schuldig, Sie mit dieser langen Geschichte
zu ennuyren. Ich vertraue Ihnen dieselbe als ein tiefes Geheimniß
an und bitte Sie nur noch, wo und wann Sie mir auch begegnen
mögen, nie diese Affaire zu erwähnen. Die Erinnerung daran würde
nur den Schmerz über die Undankbarkeit der Menschen von Neuem
in mir erwecken."
An demselben Tage erhielt auch Mathilde einen Brief mit dem
Gelde für die Rechnung des laufenden Monats. Ihr Felir schrieb
ihr, daß er die Bekanntschaft mit ihr aufgeben müsse, da seine bal¬
dige Abreise von hier ihn ohnedies von ihrer Seite reißen würde.
Er hoffe, daß sie in den Handarbeiten geschickt genug sei, um seine
fernere Unterstützung entbehren zu können. Sie solle ordentlich und
fleißig sein und seiner guten Lehren gedenken, dann werde ihr der
liebe Gott schon seinen Segen geben. Uebrigens müsse er sich alle
weitern Briefe oder etwaigen Besuche von ihrer Seite verbitten, da
er bei seinen Eltern wohne. Er habe dem Bedienten schon strenge
Ordre gegeben, sie niemals vorzulassen.
Der gute, wohlthätige Jüngling, das sanfte, weiche Herz! Was
war ihm die Armuth, der er aufhelfen, die er civilisiren wollte? Er
verstand sie nicht, weder die ungezwungene Natürlichkeit, die sie er¬
zeugt, noch die Rohheit und den Schmutz, der aus ihr hervorgeht;
er wollte sie nur demüthig winselnd, mit bettelnden, thränenden Au¬
gen sehen. Ihr NichtVorhandensein hätte ihn um ein Vergnügen är¬
mer gemacht, sie war ihm eine romantische Spielerei, er interessirte
sich für sie, wie er sich sür die Romane von Boz und für die „Ge¬
heimnisse von Paris" interessirte. Hörte sie auf, einen romantischen
Anstrich zu haben, trat sie ihm mit ihren Consequenzen in der Wirk¬
lichkeit entgegen, so schauderte er zusammen und zog sich zurück, als
habe er sich die Finger beschmutzt. Und vollends sein Mitgefühl mit
der reizend-schönen Mathilde, das jetzt so klar und unzweideutig vor
mir lag! —
Mathilde war in rasender Verzweiflung. Denn in der That,
was sollte sie um anfangen, nachdem sie zwei Jahre lang im Ge¬
nuß eines ruhigen, sorgenlosen Lebens die Noth der „niederen Sphäre"
vergessen und die Freuden der höheren ahnen gelernt hatte? Hand¬
arbeiten verstehen ist zwar für ein junges Mädchen sehr gut, sich aber
in einer großen Stadt, bei gänzlichem Mangel an aller Bekanntschaft
und Empfehlung, plötzlich ganz und gar davon ernähren zu wollen,
ein schwieriges Unternehmen. Uebrigens war sie von Felix, wie sie
mir sagte, durchaus nicht darauf hingewiesen worden, er hatte früher
immer nur von den Gesellschaften gesprochen, in die er sie später zu
bringen gedächte. Der Schreiber, der unterdeß der Guitarrespielerin
den Hof gemacht, und ihr zur Belustigung des Herrn Alir in alle
Wein- und Bierstuben gefolgt war — von wo ich ihn auch in je¬
ner Nacht mit ihr zurückkommen sah — wandte sich jetzt wieder hoff¬
nungsvoll Mathilden zu und bot ihr seine Hilfe an. Trotz seiner
schmachtenden Blicke und unzähligen Bücklinge wies sie ihn aber stolz
zurück, er solle sich fortpacken. Wohin sollte sie nun? Ihre Eltern
waren gestorben, ihre Geschwister schon vorher auf der Straße beim
Betteln ertappt und in die Wadzecksanstalt gebracht worden. Endlich
weckte sie der alte Herr, dem sie ihre Lage geklagt hatte, eines Nachts
mit der frohen Nachricht aus dem Bette, daß er ihr eine Stelle als
Mamsell in dem kleinen Conditorladen verschafft habe. Hoch erfreut
stellte sie sich noch an demselben Morgen bei dem Conditor vor,
Tags darauf zog sie ein. O Felir, was für ein Mann Du bist!
Nur Deine zweijährige energische Wohlthätigkeit hat Mathilde der
Straße und dem Bordell entrissen. Sie ist aus einem Schwefclholz-
mädchen eine Conditormamsell geworden!
Meine liebenswürdige Nachbarin litt noch immer an derselben
störenden Schlaflosigkeit und machte oft so fürchterlichen Scandal,
daß sich endlich alle Miether ernstlich darüber beschwerten. Herr
Wonnig hatte daher von seiner Frau den Auftrag erhalten, ihr zu
kündigen, und als er ihr eines Morgens mit dem Kaffee diese frohe
Nachricht überbringen wollte, fand er sie nicht in ihrem Zimmer.
Statt ihrer erschien im Laufe des Vormittags die Polizei, sich nach
ihrem Lebenswandel zu erkundigen. Man hatte sie nämlich des Nachts
auf jugendlichen Irrwegen ertappt und arretirt. Der Polizeisergeant
kannte ihre ganze bisherige Geschichte. Sie war nicht die Wittwe
eines verstorbenen, sondern die geschiedene Frau eines noch lebenden,
jetzt aber pensionirten Professors. Er hatte sie als junger Wittwer,
wo sie sein Dienstmädchen war, geheirathet, fand aber bald, daß sie
für ihn zu ungeschickt, zu ungebildet war und die feine Gesellschaft
sich ihretwegen von ihm zurückzog. Er suchte nach einem Jahre schon
die Scheidung zu bewirken, verheirathete sich wieder und setzte ihr
einen Monatsgehalt aus. Nun gab sie sich aus Verzweiflung dem
Trunke und anderen kleinen Leidenschaften hin. Die Polizei wird
ihr jetzt wohl ein so sicheres Gewahrsam anweisen, daß sie die Be¬
wohner des Wonnig'schen Hauses fernerhin nicht stören wird.
Ihr kleines Zimmer bezog nun die große Familie Wonnig. Ich
sah sie ihre Effecten aus dem Keller heraufbringen. Da unten hat¬
ten sie also bisher im eigenen Hause wohnen müssen. Herr Wonnig
kam jetzt fast alle Morgen zu mir, mich mit einem „meine Frau
sagt" um einen kleinen Vorschuß zu bitten. In ihrem Zimmer sah
es gerade nicht appetitlich aus, denn vier ihrer Kinder waren noch
ganz klein, und die beiden älteren Knaben besuchten auch die Schule
nicht, weil sie ihren Eltern bei der Handarbeit behilflich sein mußten.
Adolph, der älteste, war einer von jenen gewandten Jungen mit so
pfiffigen, listigen Augen, mit so altklugen Redensarten und Manie¬
ren, wie man sie häufig in Berlin findet. Seine Eltern berathschlag¬
ten sich mit ihm über ihre Verhältnisse, wie mit einem Erwachsenen,
und besonders hatte Wonnig einen tiefen Respect vor seiner Klug¬
heit. Die Gespräche, die ich hier durch die hölzerne Wand horte,
ließen mich einen recht tiefen Blick in das Innere solcher Berliner
Familienverhältnisse thun. Ein gutes Geschäft, ein eigenes Haus
und dieses ganz mit Miethern besetzt, die schlechteste, ökonomischste
Lebensweise, und doch dabei Schulden, ewige Prozesse und Geldver¬
legenheiten, täglich Furcht vor der Erecution, dadurch Streit, Zank
und immerwährender Unfriede. Es ereignete sich einmal wirklich, daß
ich eines Morgens von einem Erecutor mit der Frage aus dem
Schlafe geweckt wurde: ob die Möbel im Zimmer mir gehörten?
Als ich nachher aufstand, fand ich alle meine Schränke und Tische
versiegelt.
Ueber den kleinen Conditorladen in der Friedrichsstraße schien
plötzlich der Segen des Herrn gekommen zu sein, seitdem Mathilde
hinter dem Ladentisch präsidirte. Denn das schöne Conditormädchen
hatte bald die Aufmerksamkeit der nobeln Herrn auf sich gezogen,
und Felir wäre wahrlich stolz gewesen auf sein Werk, wenn er
gesehen hätte, wie die schönsten Schnurrbärte, die elegantesten Westen
und Fracks, die Berlin nur aufzuweisen hat, sich massenweise um
sie bemühten und mit einander wetteiferten, ihr ihre Huldigungen darzu¬
bringen. Mathilde, die stolze, schöne Göttin des Conditorladens, war
der Gegenstand unzähliger heißer Wünsche geworden, man fand sie
reizend, man betete sie an und der Conditor machte seinen Schnitt.
Denn der kleine Raum war setzt von Morgen bis Abend mit Gä¬
sten belagert und Mathilde verstand es, sie mit all ihrer Liebenswür¬
digkeit zu fesseln und immer noch andere und neue herbeizuziehen.
Doch sagte sie mir, daß sie für all das Gute, das sie in ihrer neuen
Stellung erhalten, ihre Freiheit verkauft habe; sie könne nicht mehr
ausgehen, wenn sie wolle, und dies allein mache sie unzufrieden.
Auch der unermüdliche Schreiber trank jetzt täglich seinen Kaffee
bei ihr und schien nur zufrieden zu sein, daß sie nicht mehr unartig
gegen ihn sein durfte. Der alte Herr aber war durch die vielen
Gäste von seinem sonst so stillen Erholungsort fast vertrieben, er kam
jetzt sehr spät, und nicht ohne sich vorher durch das Fenster von der
schon herrschenden Ruhe überzeugt zu haben. Es war in einer tat-
ten und stürmischen Januarnacht, als ich einst dort wieder mit ihm
zusammentraf. Ob er denn heute auch noch nicht nach Hause gehen
und das Bett suchen mag? dachte ich mir. Ich wartete, bis er den
Hut nahm, und suchte mit ihm zugleich zur Thüre hinauszugehen.
Nicht ohne viele Mühe gelang es mir endlich, ihn zu begleiten und
seine anfängliche Berdrüßlichkeit über diese Störung zu verdrängen.
Es war, als wenn die nächtliche Stille, der brausende Sturm und
die menschenleeren Straßen ihn immer gemüthlicher und zutraulicher
stimmten. Wir gingen die Lindenstraße herauf bis zum Branden¬
burger Thor; ich hüllte mich fest in meinen Mantel, der Alte aber
schritt in seinem dünnen Röckchen einher, als berühre ihn die schnei¬
dende Luft gar nicht. Seit dreizehn Jahren, sagte er endlich, habe
ich mich an diesen nächtlichen Spaziergang gewöhnt, den ich in jeder
Jahreszeit und bei jeder möglichen Witterung mache. Seit dieser
Zeit bin ich auch nie am Tage aus dem Zimmer gegangen, außer
am Sonntag zu einem Verwandten. Sonst besuche und spreche ich
keinen Menschen; der Lärm und das Geräusch der Welt hat mich
längst müde gemacht und ist mir zum Ekel geworden, ich mag von
ihrem Treiben Nichts mehr sehen und hören. Als ich ihn darauf
frug, ob er sich denn nicht langweile, den ganzen Tag so allein auf
dem Zimmer zu sein, sagte er halblaut und in feierlichem Tone:
Nein, meine Beschäftigung ist die Poesie, ich lese und schreibe.
Schon längst hatte ich hinter der Manier und Ausdrucksweise dieses
Greises etwas Ungewöhnliches gesucht, das mich mit immer neuem
Interesse zu ihm hinzog; er war also Poet, seine Schreibereien Pro¬
duktionen. — Und Sie haben noch Nichts von Ihren Arbeiten ver¬
öffentlicht? frug ich weiter.—Nein, ich schreibe Nichts für die Welt,
die nicht werth ist, daß man für sie schreibt. Erj sagte das mit ei¬
nem Tone von Bitterkeit, der auf Unglück schließen ließ, das er, ver¬
dient oder unverdient, mit seinen Productionen gehabt. Nachdem wir
wieder eine Zeit stumm und nachdenkend neben einander gegangen
waren, fuhr er fort: Die Beschäftigung mit der Poesie ist mir nicht
Arbeit, sondern Erholung von den Mühen und Leiden eines langen,
schicksalerfüllten Lebens. Sie war der Sturm und Drang, das Feuer
und die Kraft meiner Jugend, sie ist noch die Freude, das unschul¬
dige Spielzeug meines hohen Alters, das Einzige, was mir aus ei¬
ner schmerzensreichem Vergangenheit übrig geblieben ist, mich in mei-
ner Einsamkeit zu erquicken. Zur Gesellschaft bedarf ich der Menschen
nicht mehr, und meine übrigen Bedürfnisse sind so gering, daß ich
von dem Wenigen, was mir meine früheren besseren Umstände übrig
ließen, bequem leben kann. Ich würde mich schämen, Jemandem
meine Lebensweise zu erzählen, und doch bin ich zufrieden damit.
Die Arbeit, der ich vor meinem Tode noch die letzten Kräfte weihe,
ist die Aufzeichnung meiner merkwürdigen Lebensgeschichte. Wenn ich
damit fertig bin, werde ich wohl auf ewig schlafen gehen. — Theilen
Sie denn aber Niemandem von Ihren Werken etwas mit? — O ja,
ich that dies zuweilen, als ich noch vertraute Freunde hatte. Sie
sind aber längst alle begraben. Er schwieg wieder und schien sich
zu besinnen. Endlich hob er etwas schüchtern an: Ich muß geste¬
hen, ich fühle jetzt das Bedürfniß, mich noch einmal Jemandem mit¬
zutheilen. Doch würde ich wohl schwerlich Einen finden, der mich
noch versteht. Nach einer Pause sagte er endlich: Besuchen Sie
mich doch einmal, Ihnen würde ich gern etwas vorlesen. Meine
Freude über den schnellen Fortschritt in dem Vertrauen des sonderlich
stolzen Mannes war übergroß, ich drückte ihm die Hand und bat
ihn, mich doch heute Nacht noch mit sich zu nehmen. Er gewährte
auch dies, und nachdem ich aus einer Weinhandlung noch eine Flasche
guten herben Ungar geholt hatte, gingen wir, da es ohnedies zu
schneien anfing, in schnellen Schritten nach Hause.
Der Alte war vorausgegangen und kam mir auf der dritten
Treppe schon mit der Lampe entgegen. Das Zimmer, in das ich trat,
war kaum ein solches zu nennen. Es war nicht so groß, daß vier
Menschen darin Platz gefunden hätten, noch daß ein Bett darin
hätte stehen können. Die Stelle desselben vertrat ein kleines Sopha.
Eine Glasthür, die auf das platte Dach des Hintergebäudes führte,
das zum Wäschetrocknen benutzt wurde, machte zugleich das Fenster
aus. Als ich es näher betrachten wollte, pfiff mir aber der Wind
den Schnee so heftig in die Augen, daß ich mich umwenden mußte.
Sie werden es hier wahrscheinlich sehr kalt finden, sagte der alte
Mann kurz, ich heize aber fast niemals ein. Ich nahm, ohne
darauf zu antworten, die zwei Gläser vom Gesims, setzte mich und
fing an einzuschenken. Der alte Mann mochte wohl recht lange kei¬
nen Wein getrunken haben, denn sein mattes Auge fing zu funkeln
an, seine Glieder wurden lebendig, die eisgrauen, verwitterten Züge
bewegten sich, es war ein Anblick, wie wenn die junge Februarsonne
über Schnee- und Eisfelder aufgeht. So saß er da, das Glas in
der Hand und in langsamen Zügen das erwärmende, belebende Ge¬
tränk schlürfend, vielleicht eine bedeutende Ruine, zerbrochen durch die
Verhältnisse und Stürme der Zeit. Die finstre Nacht, das kleine
sonderbare Haus und der alte, unbekannte und einsame Dichter in
seinem obersten, ärmlichsten Dachstübchen, welch ein Schatz, welch
eine Quelle von Romantik! Mir wurde in dieser Umgebung so warm
und weh, als wären alle die unschuldigen, träumerischen Gefühle
meiner ersten Jugend wieder in mir aufgegangen. Der Alte holte
einen hohen Stoß Papier aus seinem Schreibpult. Ich bemerkte
auf sehr unsaubern Papier eine sichre zierliche Handschrift. Er zeigte
mir sechs vollendete Dramen und einige Romane, mit der Versiche¬
rung, daß er dieselben vor seinem Tode verbrennen und Niemandem
etwas davon vorlesen werde. Endlich aber schlug er ein dickes,
schwarz gebundenes Buch auf, es war seine Lebensgeschichte. Ich
schenkte zum letzten Male ein und er fing an zu lesen. Er las mit
dumpfer, gehobener Stimme, während das nächtliche Unwetter drau¬
ßen mit der Glasthüre ein schauerliches Spiel trieb, ich aber saß
stumm und unbeweglich da und hörte und hörte nur immer, wie ein
Kind auf die Märchen der Großmutter, und als ich endlich vier Uhr
schlagen hörte, da erwachte ich, frierend an allen Gliedern, wie aus
einem langen Traum und ging. Unser Freundschaftsbund war ge¬
schlossen; der alte Mann hatte vielleicht seit langer Zeit Jemandem
einmal wieder recht herzlich die Hand gedrückt. Als ich noch über
das Gemisch von tragischer Person und humoristisch sonderlichen Kauz
nachdenkend, auf mein Zimmer kam, hörte ich die Familie Wonnig
wie im Orchester schnarchen. Welcher Contrast! Herr Wonnig und
der Einsiedler hoch über ihm! Und wenn nun Herr Wonnig einmal
alt ist und seine Frau gestorben, und seine Kinder Nichts von ihm
wissen wollen, wird er sich dann auch eine alte Poesie zur alleinigen
Gesellschafterin erwählen und in ihr den Tröst für ein zerbrochenes Le¬
ben finden können? Ich glaube nicht. Ich aber war mit dem Alten da
oben, obwohl ich deutlich erkannt hatte, daß er an der Romantik zu
Grunde gegangen, doch romantisch und sentimental gewesen; und als
ich am andern Morgen mit Kopfschmerzen erwachte, da war es mir,
als wären die Träume meines sechzehnten oder siebzehnten Jahres
im Schlafe an mir vorübergerauscht.--
Während ich noch den Umgang mit meinem neuen Freunde
fortsetzte und, wenn ich ihn gerade guter, gesprächiger Laune traf,
manches interessante Stündchen mit ihm verlebte, hatte ich auch die
Bekanntschaft des Herrn Alir gemacht. Ich verabschiedete nämlich
damals meinen Stiefelputzer, und Herr Alir, der mir seine Dienste
anbot, trat in die Stelle desselben. Doch war er nicht der Mann,
mit dem man sich unterhalten konnte; er war kurz und etwas iro¬
nisch in seinen Antworten, sonst stets schweigsam, stolz und verdrüß-
lich. Was sein eigentliches Geschäft sei, oder wo er wohnte, wußte
ich nicht. Des Morgens um acht Uhr sah ich ihn gewöhnlich mit
einem in ein blaues Schnupftuch gewickelten Pack zu seiner Gelieb¬
ten gehen. Um zehn Uhr ging er in der Regel wieder weg, kam
Nachmittags wieder und Abends gingen sie dann Beide zusammen
weg, wo er das Geschäft hatte, die Guitarre zu tragen. Emilie, die
ich nur selten sah und gar nicht sprach, sah gewöhnlich sehr bleich
aus. So war ich denn wieder mit einer eigenthümlichen, geheimni߬
vollen Figur des Hauses in nähere Berührung getreten.
Das nördlichste Ziel meiner Reise war glücklich erreicht. Nach¬
dem in der unvergleichlich schönen Felsenstadt am dunkelblauen Mä-
lar meine Sehnsucht nach dem Herzen Schwedens gestillt und zuletzt
noch der Geburtstag meines geliebten Königs gefeiert war, nachdem
ich hierauf in Sigtuna, der alten Residenz des Götterkönigs Odin,
die ältesten Ueberreste der berühmten Heidenzeit, die Ruinen ihrer
Tempel besucht und in ihnen von den Tagen der Vorzeit und dem
jugendlichen Walhalla geschwärmt hatte: — war ich in Gesellschaft
eines sehr gebildeten und lebendigen isländischen Doctors G. an
einem schönen Sommerabende in der ehrwürdigen Universitätsstadt
Upsala eingetroffen.
Diese Stadt gewährt dem Reisenden ein vielseitiges Interesse.
Ich war froh, in einem sehr gemüthlichen, liebenswürdigen jungen
Manne, Professor M. aus Wärmaland, einen freundlichen und höchst
gebildeten Führer zu finden, welcher unermüdlich war, mir die Schätze
der Stadt zu zeigen und mich mit einigen Einwohnern, namentlich
mit Professoren bekannt zu machen, unter denen besonders der be¬
rühmte Dichter und Historiker Geyer und der bekannte Botaniker
Afzelius, der letzte Schüler Linn^'s, einen sehr wohlthätigen Ein¬
druck auf mich machten.
Von allen sonstigen Schätzen der Stadt hatte das älteste und
berühmteste Denkmal der deutschen Literatur, das Original des Ulfi-
las, mich im höchsten Grade interessirt. Dies wäre schon allein im
Stande gewesen, so hoch nach Norden eine Reise zu lenken, zumal
für denjenigen, dem deutsche Sprache und Sprachforschung am Her¬
zen liegt. — Es hatte also Mfilas bereits mehr Zeit in Anspruch
genommen, als ich früher gedacht; und so war, unerwartet schnell,
der letzte Tag herangekommen, den ich mir für den Aufenthalt in
Upsala festgesetzt.. Auf den folgenden war die Rückreise nach Stock¬
holm und von da nach Danzig und Königsberg bestimmt. — Zwar
hatte mein bisheriger Reisegefährte G. mich bewegen wollen, mit
Upsala mich nicht zu begnügen, sondern weiter hinauf nach Norden
zu reisen. Mit einer seltenen Beredsamkeit hatte er sein geliebtes
Island geschildert und hinzugefügt, wenn ich nicht dorthin wollte
oder konnte, so müßte ich doch wenigstens in Schweden noch mehrere
Grade nach Norden hinauf, um die Natur auch in ihrer furchtbaren
Erhabenheit und in ihrem Graus kennen zu lernen. M. drang eben¬
falls, wenn gleich nicht mit solchem Feuer, wie der Sohn des vul¬
kanischen Eilandes, doch aber trotz aller seiner sonstigen Sanftmuth
recht sehr in mich, dem Rathe zu folgen und wenigstens sein Lieb¬
lingsland Dalekarlien zu durchwandern. Allein ich wollte nun ein¬
mal meinem Reiseplan treu bleiben. Ich glaubte mich mit dem bis¬
her Gesehenen begnügen zu lohnen, war glücklich genug, schon so
viel Romantik zu Wasser und zu Lande, im Dampfer und zu Fuß
erfahren zu haben, und bangte nach der Heimath. Kurz, es blieb
dabei. Upsala sollte der nördlichste Punkt sein, und die Rückreise
war für morgen festgesetzt. Auf den heutigen Tag aber hatte ich
noch Vieles verschoben, was nun um so schneller absolvirt werden
sollte, namentlich der Ausflug in die berühmten Umgebungen der
Stadt.
Der Vormittag ward zu einer Fahrt nach Gamla Upsala be¬
stimmt, dem alten Hauptsitze des nordischen Götzendienstes. Hier
stand schon vor mehr als zweitausend Jahren der prachtvolle Tempel
mit dem nun verschwundenen Hain; hier residirte der Oberpriester,
der zugleich Oberkönig war. Ein Theil jenes Götzentempels ist noch
in den Mauern der heutigen Kirche vorhanden. Herum liegen die
berühmten Upsala-Hogar, die Grabstätten der Altvordern. Von ih¬
nen zogen besonders drei steile Riesenhügel meine Aufmerksamkeit auf
sich, unter denen nach der Sage die drei nordischen Hauptgottheiten,
Thor, Odin und Freya, begraben liegen. Nach gewöhnlicher Sitte
der Reisenden wurde aus den drei Hügeln antiker Meth getrunken.
Der Isländer feierte mit einem Eddaischen Trinkspruch den Gott
Odin; der Wärmländer rief in schwedischer Sprache dem Donner¬
gott Thor ein kräftiges Godthor zu; und der Smaländer mußte mit
einem altdeutschen Minneliede die Liebesgöttin Freya hoch leben
lassen, Is-, Wären- und Smaland gingen begeistert ans in dem
Gedanken an das gemeinsame Walhalla, den Sitz ewiger Jugend
und heiterer Freundschaft. — Von allen drei Götterhügcln wuHen
zur Erinnerung Blumen gepflückt; von Freya's Grab nahm, ich die
schone, rothe Blume, welche zum Andenken an den großen Linno noch
heute I^nnaoa heißt. Der Nachmittag war zur Fahrt nach Ham-
mersby bestimmt, dem Gute, welches Linn» von seinem Könige zum
Geschenk erhalten hatte.
Schon öfters brachte Freund M., der selbst ein tüchtiger Bota¬
niker und Linus's enthusiastischer Verehrer war, diese Fahrt in Vor¬
schlag. Allein theils das Interesse für nordische Sprache und Alter¬
thümer, theils die lieben neuen Bekanntschaften in der Stadt hatten
mich diese Fahrt bisher aufschieben lassen. Erst heute kam sie zur
Ausführung. Es begünstigte uns das schönste Sommerwetter. Der
Sommer im südlichen und mittleren Schweden steht unserem nur
durch seine Kürze nach.
Nachdem wir an drei Gasthäusern vorbeigefahren waren, welche
sonderbarer Weise Freude, Noth und Pein heißen, empfing uns
zunächst die berühmte Morawiese. Eine ungeheuere Ebene breitete
sich vor uns aus. In der Mlle, hart am Wege, liegen die bekann¬
ten Morasteine, worauf vor grauen Jahren die Vornehmsten des
Volkes saßen, um ihren König unter freiem Himmel zu wählen, wäh¬
rend das Volk sich rings gelagert hatte. Der größte Stein war zum
Sitz für den neuerwählten König bestimmt. Erich IX., der Heilige,
ward zuerst hier gewählt.
Wir kamen hierauf durch das Dorf Danmark, das von der
großen Dänenschlacht im dreizehnten Jahrhundert seinen Namen em¬
pfangen hat, und sahen nun schon aus der Ferne die rothen Häuser
von Hammers.by, der schönen Sommerheimath Linn6'S. Ein
sonderbares Gefühl und allerlei Gedanken erfaßten mich, je mehr wir
uns dem Gute näherten. Mein lieber Jugendlehrer in den Natur¬
wissenschaften — sanft ruhe seine Asche! — stand mir jetzt lebhaft
vor Augen. Er hatte jeden Sommer in jeder Classe Botanik ge¬
lehrt, nicht den Utilitätsmännern zu Gefallen, denn diese dursten da¬
mals noch nicht mit ihren realistisch-procentlichen Prinzipien so keck
gegen die Humanisten auftauchen, als in unserer heutigen Dampfzeit,
sondern aus Liebe für die Wissenschaft selbst. Und so hatte auch ich
während der neun vollendeten Jahre meines Schullebens neunmal
Botanik studiren und auch späterhin das Gelernte wieder auffrischen
»jüssen. Denn die eben so nothwendige als ennuycmte Landplage der
Eramina — mit Recht ordnet man sie vielfältig an, da Prüfungen
den Muth des Menschen stählen — hatte auch mich in der Natur¬
wissenschaft, wie sehr sie auch seitab vom Hauptwege meiner Studien
lag, Rekapitulationen beginnen lassen, die mir recht klar vor Augen
stellten, wie man sich gratuliren könne, bei jenen Prüfungen nicht sein
eigener Examinator zu sein. Seit der letzten Prüfung, nach deren
glücklichem Bestehen gewöhnlich erst die wahre, freie Lust zu Selbst¬
studien ihre Fittige hebt, hatten die botanischen Episoden für mich
gänzlich aufgehört. Ich mochte im Buche der Natur lieber obenhin lesen,
als gründlich buchstabiren, lieber mich an der Natur als einer Summa,
denn an ihren einzelnen Summanden erfreuen und folgte dem Dich¬
ter, der da fragt:
Die ird'schen Pathen, die am Himmelsthron
Gevattern gleich jedweden Stern benennen,
Erfreu'n sie sich der schönen Nächte mehr,
Als die umhergehn und nicht Eine» kennen?
Heute aber in der Nähe der Manen des größten Botanikers, war
mein botanisches Gewissen wieder erwacht. Die Vorbereitungen zu
dieser Reise hatten sich um die Sprache und die Alterthümer des
Nordens gedreht; zur Naturwissenschaft war weder Muße, noch Lust
dagewesen. Das that mir nun sehr Leid. Unwillkürlich flogen meine
Gedanken in die botanische Schulzeit zurück. Phanerogamien und
Kryptvgamien, Dekandria und Monadelphic, solche und ähnliche
Töne säuselten in meinen Ohren; und in Opposition traten hingegen
die Motyledonen und Monokotyledonen. Dann hörte ich im Geiste
noch einmal, wie mein geliebter Lehrer von Linne sprach, dem er fast
eine göttliche Verehrung zollte, und wie er uns gestand, es wäre
seine größte Seligkeit gewesen, den edlen Mann persönlich kennen zu
lernen, oder wenigstens den geweihten Boden zu betreten, da er ge¬
wandelt und gelehrt; und wenn uns das Schicksal einmal dort oben
nach Norden hinführte, dann sollten wir die heilige Wanderung nach
Upsala und Hammersby für eine Herzenspflicht halten, die wir dem
großen Manne, uns selber und ihm, unserem Lehrer, schuldig seien.
— Nun fügte es sich, daß von allen Schülern, welche mein
Lehrer gehabt hatte, und aus deren Zahl viele tüchtige Botaniker
hervorgegangen sind, gerade ich, ein Nichtbotaniker, der erste
und einzige sein sollte, der jener Herzenspflicht genügte. Je glückli¬
cher dieser Zufall war, desto mehr fühlte ich, wie angenehm es sei,
von jener sokratischen Wahrheit: „Wir wissen Nichts, außer daß wir
Nichts wissen", so ganz allein für sich im Stillen ohne Mitwissen
Anderer überzeugt zu sein. Und hiermit verband sich zugleich ein
zweites angenehmes Gefühl, nämlich das, jetzt keinen Examinator
mehr, weder von Staats-, noch von Rechtswegen fürchten zu dür¬
fen, sondern mit allgemeinen, rechts und links ercursirenden, philoso¬
phisch verbrämten Redensarten von natürlichen und künstlichen Sy¬
stemen und Aehnlichem herumplänkeln zu können. Ist doch auch unser
Goethe von so manchem Manne besucht worden, welcher von der
Poesie so weit entfernt war, als der Tartarus vom Olymp, oder
als Berliner Blau vom Blau des Himmels. —
Jetzt stiegen wir aus und eilten zunächst dahin, wo Sinne'S
Tochter im Sommer zum Andenken an ihren Vater noch immer
einen einfachen, ländlich schönen Hof bewohnt. Wir traten ein, wur¬
den gemeldet und mit einer höchst wohlthuenden Freundlichkeit em¬
pfangen, wie man sie nur bei den einfachen, gemüthlichen Völkern
des Nordens zu finden gewohnt ist. Die Dame freute sich, daß ihr
Vater bei uns Deutschen noch in solchem liebevollen Andenken stehe,
und daß man seine Stätte so gern besuche.
Ich hatte Zeit genug, ihre Physiognomie genauer zu studiren.
Ihr Gesicht war ehrwürdig und noch sehr interessant, obwohl es be¬
reits von fünfundachtzig Sommern beschienen worden. Mein Lehrer
besaß ein sehr gutes Gemälde von Linne, das über seinem Bette hing,
und hatte uns Schüler dann und wann mit nach H.'.use genommen,
um es uns zu zeigen. Daher hatte ich mir Linnv's Ge¬
sichtszüge sehr genau eingeprägt und fand nun bestätigt, was ich schon
in Upsala gehört, daß Fräulein Linnv ihrem Vater frappant gleiche.
Vorzüglich bezeugten die Aehnlichkeit ihre freundlich lebhaften Augen
und der liebliche Zug um den Mund. Nur die stark sich kräuselnden
Haarlocken und die niedliche Haube machten das Gesicht etwas brei¬
ter und höher.
Sie erkundigte sich nach Königsberg und Danzig; beide Städte
kannte sie genauer durch die Correspondenz ihres Vaters. Doch bald
wußte ich das Gespräch wieder auf ihren Vater hinzulenken und war
ganz Ohr, da sie uns von ihm erzählte. Sie hob einige interessante
Momente seines Lebens hervor. Er sei von seinem Vater, einem
Landpredigcr in Smaland, anfangs für den Priesterstand bestimmt
gewesen, da die Mutter das Gelübde gethan, ihn nichts Anderes als
Priester werden zu lassen. Die Verlegenheit sei groß gewesen, als
der junge Linnv gar keine Neigung zum Prediger gezeigt und sich
mit entschiedener Energie auf die Naturwissenschaften gelegt. Die
Frauen aber wissen überall und immer Rath. Die Mutter habe auch
Rath gewußt, ihr Gelübde mit der Neigung des Sohnes in Einklang
zu bringen, und zum Gatten gesagt: Ja, Karl soll Priester werden,
aber ein Priester der Natur! — Später habe er eine Reise nach
Grönland unter den größten Mühen und Gefahren gemacht und auf
derselben nur fünfzig Nthlr. gebraucht, die er vom Staat als Reisegeld
für achthundert Meilen erhalten. Ganz allein sei er gereist, eine le¬
derne Kapsel mit Papier und Feder und ein kleiner Mamelsack mit
Wäsche war Alles, was er mitnahm. Dann sprach sie von seinen
Reisen in Holland, von seiner Freundschaft mit dem berühmten Phi¬
lologen Gronow, und ging hernach auf seine glückliche Häuslichkeit
und auf die letzten Augenblicke seines Lebens über.
Eine sanfte Thräne kindlicher Pietät rollte ihre Wangen herab.
— Wen könnte das Andenken an große Männer, zumal wenn es
von der Kindesliebe so treu und lebhaft vor die Seele geführt wird,
ungerührt lassen? —
Fräulein Linne hatte gerade nahe Verwandte bei sich zum Be¬
such, drei junge, blühende Mädchen, wenn auch nicht blendend schön,
so doch sehr liebenswürdig im Wesen und Benehmen, wie man über¬
haupt bei den Schwedinnen weniger prangende, imposante Schönheit,
als vielmehr ein anziehendes, zartes Aeußere und ungemeine Liebens¬
würdigkeit findet. Wir fühlten uns sehr wohl bei der ungeschminkten
Freundlichkeit und naiven Gemüthlichkeit dieser Damen.
Einige Tassen schwarzen Kaffees wurden uns präsentirt mit
mehreren SmörgaK. Dann schickten wir uns an, Limits Haus und
Garten zu besuchen. Das alte Fräulein entschuldigte sich, nicht mit¬
kommen zu können, gab uns aber die jungen Damen zu Führerin¬
nen mit: sie gehe, sagte sie, am liebsten allein herum in« Heiligthum
ihres seligen Vaters, um ihm in Einsamkeit die Thräne dankbarer
Kindesliebe zu weihen.
Ich nahm von ihr Abschied, und sie beschenkte mich noch mit
einem schonen Bilde ihres Vaters. Ein traulicher Händedruck wäre
in Schweden die gewöhnliche Abschiedsceremonie gewesen. Ich aber
konnte mich nicht enthalten, mich vor ihr zu neigen und einen ehrer¬
bietigen Kuß auf ihre Hand zu drücke».
''
Unsere Begleiterinnen führten uns zunächst in Linnvs Haus,
vor welchem ein von ihm selbst gepflanzter Kastanienbaum steht. Es
ist rings von hohen Steinen umgeben. — Alle Zimmer unseres Na.-
turheros wurden fast schweigend in erhebenden Andenken durchwein--
dert. Alle sind mit Tapeten geschmückt, und diese in den mannich-
faltigsten Gruppirungen mit Blumen bemalt, unter denen jeder Name'
nebst Erklärungen auf'S Genaueste systematisch verzeichnet steht. Im
zweiten Stock links ist ein Eintrittszimmer. Hier hängt sein wohl-
getroffenes Bilvniß. Der herzliche und denkende Natur- und Men-
schenfreund spricht aus seinem Auge. Ein Zug der Feinheit und
Heiterkeit zieht sich um seinen 'Mund. Der Hals ist frei, die Brust
gelüftet. Der Orden prangt auf seinem Gewände. Schoner prangt
das rothe Blümchen I^i»»in>i<,, das er zart in der Linken mit zwei
Fingern hält, während er die rechte Hand auf ein Buch stützt.
Wir traten in sein Schlafzimmer, das die Ueberschrift führt:
ilmocuiz vio-le>, mine» -ttlvst. (Lebet reinen Herzens, die Gottheit
ist nahe!)
Vieles Handschriftliche von ihm fand sich hier noch vor. Dieses
so wie überhaupt Alles im ganzen Hause ist bis zur Stunde in der¬
selben Ordnung und Lage geblieben, in welcher es sich bei seinem
Tode (1778) befand; und somit steigert sich das Interesse hiefür nicht
allein bei seiner Familie, sondern auch bei jedem besuchenden Vereh¬
rer. Dort in der Ecke steht noch das Bett mit den zierlichen Lin¬
nen, in welche Blumen eingewebt sind. Dabei auf einem Stuhle
liegt sein Gesangbuch, et^u sovil8l<.t 8»nK>,c,K«n, an derselben Seite
steht sein Spazierstock, eine tüchtige Weinrebe. Auf einem Tische
daneben ruht sein Doetorhut, grün mit rother Schleife. In einem
anderen Zimmer befanden sich seine Tassen und Töpfchen; jedes von
ihnen enthielt ebenfalls schön gemalte Blumen. Tausend andere Klei¬
nigkeiten, dem Enthusiasten werth und theuer, wurden beschaut.
Als wir das Haus auf das Genaueste durchforscht hatten, be¬
gaben wir uns in den Garten und zwar den Berg hinauf, wo Lin-
nv's Auditorium ist, ein einfacher, großer Gartensaal, von hohen
Tannen umkränzt. Auch hier steht noch jetzt Alles so, wie zu seinen
Lebzeiten, das Katheder und die Zuhörerbänke; im Sommer las er
bei vorgerückterem Alter hier seine Collegia, und Upsala's natureifrige
Jugend strömte aus der Stadt eine Meile weit täglich hierher.
Der Saal liegt hoch und gewährt ringsum eine prachtvolle Aus¬
sicht. Um so weniger mochte ich mich schnell von ihm trennen und
lehnte daher einen weiteren Spaziergang in das angrenzende Tan¬
nenwäldchen höflichst ab, zumal die Sonne noch heiß brannte.
Aber meine Gefährten ließen sich vom Spaziergange nicht abbringen
und schlugen mit den Damen den Weg nach dem Wäldchen ein,
indem sie versprachen, bald wieder zurückzukehren.
Da befand ich mich nun ganz allein in dem großen Audito¬
rium, betrat Linnv's Katheder und setzte mich auf seinen hohen Lehn¬
stuhl. Es eröffnete sich vor meinen Blicken die schöne Aussicht nach
den riesenhaften Grabhügeln der drei alten Götter des Nordens, die
ich Vormittag besucht hatte, neben welchen rechtshin der Kirchthurm
von Alt-Upsala sein ehrwürdiges Haupt gen Himmel erhob. Ich zog
die schöne Linnäa noch einmal hervor, die ich aufFreya's Grab ge¬
pflückt hatte, um sie zu vergleichen mit der Linnäa, welche ich vor
mir auf dem an der Wand hängenden Bilde erblickte.
I^i»ii->,«-!>, Iiorvillis, Du jedem Naturfreunde heilig! — In einer
schönen Symbolik stellt sie das ganze, reiche, der Naturbetrachtung
geweihte Leben Linnv's dar! — Still und mühevoll windet sich der
Stengel, reich an kleinen herzförmigen Blättchen durch das grünende
Kräutervolk der Wälder, sie verweilt oft, gleichsam sinnend, bei denen,
welchen sie auf dem Wege begegnet; endlich erhebt sie fröhlich ihr
zartes Blüthenglöckchen, womit sie alle zu einer Gemeinde ruft. —
So errang Linnv unter tausendfachen Mühen die Würde eines Ober¬
priesters der Natur und öffnete Tausenden die Hallen des Natur¬
tempels. —
Da sah ich plötzlich auf dem Pfade, der von dem Hause in
den Garten führt, eine ehrwürdige Gestalt wandeln. — Sie ver¬
schwand zwar ein paar Mal hinter dem Buchengebüsch, zeigte sich
dann aber wieder und schien dem Auditorium zu nahen. — Nun
sah ich das Gesicht — ich traute kaum meinen Augen — es schien
Linnv selber zu sein, — die Gesichtszüge ganz ähnlich, ähnlich die
Allongenperücke — die Limiäa in der linken Hand. — Das ist nicht
möglich! Ich träume! rief ich und rieb mir die Augen, als wenn
sie nicht recht sehen könnten. Aber immer stärker trat die Aehnlichkeit
hervor, je mehr sich die Gestalt nahte. Ich träume, dachte ich, und
doch wieder, ich träume nicht, ich sah ja mit klaren Augen ihn selbst,
den großen Meister. Ja, er war es selbst! ich konnte nun nicht mehr
zweifeln. Ich hatte nur noch so viel Zeit, schnell den Lehrstuhl zu
verlassen und mich auf die nächste Zuhörerbank zu setzen. Da trat
Linn» herein.
Er grüßte, freundlich mit dem Haupte nickend, und bestieg den
Katheder. „I^e« l-u',in»t cullegiuin" begann er: „Du, ich und der
liebe Gott über uns." Sonderbare Gefühle durchzuckten mich, aber
vorherrschend war das Gefühl einer großen Bangigkeit. Ich befürch¬
tete, daß er heute ein Repetitorium über Botanik halten wolle! —
Ich wollte ihn bitten, nicht zu repetiren, und ihm vorstellen, daß ich
schon alle meine Eramina gemacht, daß auch schon die naturhistori-
schen Prüfungen hinter mir lägen, daß ich Gott dankte, nie mehr
geprüft werden zu dürfen, daß ich bereits Doctor der Weltweisheit
und Magister der freien Künste sei, — ja, was wollte ich nicht Alles
in diesem Augenblicke, — allein mein Mund war fest verschlossen,
— ich verstummte.
Linnv sah auf seine Linnäa hin. Da vermuthete ich, daß er
mich zunächst über sie eraminiren werde. Ich recapitulirte schneller,
als je bei meinem Lehrer, die Eigenschaften dieser Blume: caudis
in-venaticus, tvrvL, wnAi^unis, rien»»»« etc. öde. — Tausend
Anderes durchkreuzte meinen armen Kopf auf verwirrende Weise.
Ich wollte sprechen, aber die Bangigkeit verschloß mir den Mund.
Nun erhob er den Blick und sah auf mich herab. Er mochte
meine Verwirrung bemerken, denn ein Lächeln zog sich über seine
Lippen hin, aber zugleich sprach sein liebevoll freundliches Auge mir
wieder Muth ein.
Mein Gedankenstrom ward gehemmt. Linmi sing sein Colle-
gium an. Er verglich das Studium der Sprache mit dem der Na¬
tur, eben sowohl als Mittel zur Gotterkenntniß wie als Zweck zur
Selbsterkenntniß. Er wies einerseits auf die Thorheit der Kurzsichtigen
hin, die da in ihrem Dünkel hier über die Zerlegung der kleinster»
Blume und dort über die Analyse des kleinsten Wortes zu spotten
sich unterfangen und glauben, daß sie im großen Buche der Natur
lesen können, ohne jemals buchstabirt zu haben. Aber dann wies er
auch auf die Engherzigkeit derjenigen hin, vie da kleben bleiben bei
dem einzelnen Wort und der einzelnen Blume und nicht Willens sind,
vom Buchstabiren zum Lesen überzugehen und sich auf die wahre
Höhe des freien Geistes emporzuschwingen. —
Linnv's Beredsamkeit war hinreißend, sein Feuer entstammend,
sein leuchtender Blick im hohen Grade wohlthuend. Ich war ein
anderer Mensch geworden. Von meiner Bangigkeit keine Spur mehr.
Ich hätte gern immer mitreden, gern in seine Begeisterung laut ein¬
stimmen mögen. Aber die Ehrfurcht hieß mich schweigen. Ich war
ganz Ohr. Nun wandte er seine Rede auf das schwedische Volk
und seine Sprache und Alterthümer. „Es ist ja ein Brudervolk des
deutschen, mit ihm aus Einem Stamme entsprossen, ein edles Volk;
rein und heiter wie seine Luft ist sein Herz, fest wie sein Urgranit
sein Charakter, und wie seine Berge hoch in den Himmel ragen, so
strebt sein frommer Sinn zum Allvater auf. Aber nicht blos lieblich
ist mein Volk und Vaterland, es ist groß und ihm wird wohl in
der Umarmung der ernsten Erhabenheit der eisigen Natur. Siehe,
diese Blume mit der schönen Blüthe verdorret höher im Norden.
Aber der Hauch der Natur, der in ihr lebt, zieht sich auch durch die
eisigen Gefilde und öden Wüsten des Gebirges. Und wo keine
Blume mehr duften kann, da lebt und athmet noch der Mensch!"
So sprach er und ich lauschte gespannt seiner Weisheit.— Da
raschelten Blätter. Verworrene Stimmen vernahm ich, sie schienen
vernehmlicher zu werden — — ich erwachte. Fort war der liebliche
Traum. Ich saß noch auf dem Katheder an die Wand gelehnt,
die Linnäa in der Hand. Bald traten meine Gefährten mit ihren
Begleiterinnen herein.
— Ich kehre nicht nach Hause zurück! rief ich ihnen hurtig und
fest entgegen.
— Wie? riefen Beide wie aus einem Munde,
— Ich bin fest entschlossen, weiter hinauf nach Norden zu wan-
den, so weit es irgend Wege und Witterung gestatten.
— Was? rief G., Sie sind fest entschlossen? Und so auf ein¬
mal unvermuthet?
— Ja, antwortete ich, mein Entschluß steht fest. Die auf der
Post bestellten Pferde nach Stockholm bestelle ich ab und eile zunächst
nach Dannemora. Morgen früh sehen Sie, meine Freunde, mich
zum Nordthor hinausfahren.
— Das ist ja herrlich! rief M., ich freue mich so sehr über
Ihren neuen Plan, daß ich Sie bis Dannemora hin begleite.
— Ich auch! fiel der Isländer ein. Aber sagen Sie, was
Sie so schnell umgestimmt?
— Ost üben, antwortete ich, unvorhergesehene Momente, —
im Alltagsleben nennt man sie Zufälle, — auf unsre Entschlüsse
einen Einfluß aus, den wir ihnen an und für sich nicht gern ein¬
geräumt hätten. Halten Sie etwas auf Träume?
— Aberglaube, Nichts als Aberglaube! erwiederte Freund G.
Wir Nordländer lieben mehr den klaren Verstand, als die täuschen¬
den Gebilde nächtlicher -Phantasie. Ihr in Euerm Süden habt's
nur immer mit Euern Träumen und Ahnungen zu thun und erzählt
Euch gern Eure Träumereien.
Ich verharrte diesmal doch in meinem „südlichen" Aberglauben
und habe es nicht zu bereuen gehabt, Ohne jenen schonen Traum,
de.r mich bestimmte, hätt' ich nie die Wunder der unterirdischen Welt
bei Dannemora und Falun und Elfvaa durchmustert, nie die hoch¬
herzigen Dalekarlier und Gustav Wasa's heilige Fluchtstätten, nie die
glückselige Einfachheit der finnischen Einsiedler und ihr Birkenbrot
kennen gelernt, hätte nie in dei düstern Waldungen der Oster-Dalclf
und bei den Eisgipfeln der Kivlen den Tanz grimmigbrummender
Bären angeschaut und nie den zitternden Ball der Mitternachtssonne
die schäumenden Wellen des heiligen Meeres küssen gesehen. —
Ohne jenen schönen Traum hätte ich nicht die herrliche Christiana
erblickt und ihre wackern edeln Sohne kennen gelernt, hätte nie vor
FricdrichShall an des großherzigen Karl's Grabe gestanden und bei
den brausenden Wasserfällen von Elfkarbley und Trolhätta staunend
meine Seele erhoben gefühlt, was ich Alles nächstens ausführ¬
licher dem geneigten Leser zu schildern hoffe.
Was sagen Sie dazu, ein pergamentener Doctor (Sie wissen,
aus welchem Felle Pergament bereitet wird) und Professor G. F.
Schreiner hat über die Sprachweise Gratz und Gratz ein Buch von
hundertzwei und fünfzig großen Octav-Seiten herausgegeben und
Sie können somit beruhigt sein, daß die Langeweile noch lange, lange
gesund fortleben wird. — So eben ist ein Buch unter dem Titel:
„Auf nach Norden", Gedicht in sieben Gesängen, in Leipzig erschie¬
nen, das einen Wiener zum Verfasser hat. Bereits vor fünf Jahren
gab er ein Bändchen episch-lyrischer Gedichte unter dem Titel „Ma¬
rien-Kränze" heraus, welches in ihm ein angenehmes, wenn auch
noch nicht völlig abgeklärtes Talent erkennen ließ; jetzt tritt es uns
durch Schilderung des Nordens, den der Dichter bereiste, entschiede¬
ner entgegen. Der unter dem Namen Eginhard sich bergende Dichter
ist ein Freiherr von Buschmann, der mit der Gräfin Hahn-Hahn das
traurige Schicksal zu erwarten hat, in Folge einer Dieffenbach'schen
Cur, der er sich vor einigen Jahren unterzog, zu erblinden. — Ana-
stasius Grün war einige Tage hier anwesend und bereitet eine voll¬
endete Uebersetzung: Krainerische Volkslieder (des Grafen bedeutende
Besitzung, auf der er lebt, Thüren am Hart, liegt in Krain) zum
Drucke vor. Seine „Nibelungen im Frack" gingen, wohl durch die
Kinnladenverrenkende Gewalt der Verse, in Oesterreich fast spurlos vor¬
über; dafür meinen die Zartheit und Romantik düftelnden Salon-
Damen sich für lange Zeit mit der Natur abgefunden zu haben,
wenn sie Jedlitzens „Waldfräulein" schön finden, von welchem einer
der bedeutendsten modernen Dichter sagte: Das Gedicht komme ihm
vor wie ein Wald, durch den man eine Heerde Böcke getrieben hat,
es duftete nur wollüstig, ohne gesundes, frisches Leben zu haben. —
I. N. Vogt balladet weiter, d. h. er vomirt Wilhelm Müller, Gustav
Schwab und erscheint, da diese Dichter in Oesterreich nicht populär
sind, daselbst als originell. Die juridische Literatur, wenn Gesetz¬
sammlungen und Compilationen so genannt werden dürfen, liegt
brach, einige Artieelschreiber in den hiesigen juridischen Zeitschriften
möchten jedoch gerne berühmt werden. — Die medizinische Jour¬
nalistik wurde um einige Zeitungen (die homöopathische) vermehrt.
Die Naturwissenschaften in Oesterreich stellen leider den schlagendsten
Beweis heraus, daß es uns an bedeutenden Talenten (nur Skoda und
Rokitanski, als Popularisirer französischer Ideen und Erfindungen, sind
anerkennungswerth) fehlt, denn hier greift die Censur, auf welche
Manche ihre Unfruchtbarkeit oder die halbe Talentlostgkeit schieben, gar
nicht ein. Der Gelehrte Endlicher muß sich von den Herren Högl
und Fladunk Herr College nennen lassen. — Für Juristen wurde
eine neue Kanzel creirt; ein Herr Doctor Beer, ein der Literatur völlig
fremder Mann, wird gerichtliche Medizin vortragen. Meißner's Schrift
gegen Justus Liebig ist wahr und grob und dürfte durch den Umstand
anderseitig interessant sein, als sie von einem k. k. Professor herrührt, der
das no» ilciinittitiir der Censur darauf erhalten hat, und sie dennoch
drucken ließ. Meißner aber ist berühmt und ein siebzigjähriger Greis
und dürste den Abschluß der Verhandlungen über seinen illegitimen
Schritt im Jenseits vernehmen. — Die historische Wissenschaft liegt
völlig brach, einige Sammler, die niemals Garben binden, wie z. B.
Kaltenbaek, glauben uns hierin zu vertreten. Frommer Glaube das!
Die Charaden und Räthsel sind in letzterer Zeit von den soge¬
nannten Rebus verdrängt worden. Es ist wirklich wunderbar, mit
welchem Aufwands von christlich-germanischer Geduld und Ausdauer
das deutsche Publicum die Tiefe dieser großen Tagesfragen zu ent¬
ziffern sucht. Wenn kein Krieg diese neue Phase der Entwickelung
unseres Nationalcharakters unterbricht, so wird man bald zu den gro߬
artigen Eigenschaften, welche die deutsche Nation bereits charakterisiren,
auch noch die fügen können, daß sie die geschicktesten Nebusentzifferer
besitzt.
Vielleicht könnte einer dieser Geschickten auch folgendes Rebus
lösen: Im Monate Februar trifft hier der Vertraute des Kaisers von
Rußland, Graf Orloff, ein, man spricht von einer Verheirathung ei¬
nes österreichischen Prinzen mit einer russischen Prinzessin, in Schön¬
brunn werden Vorbereitungen zum Empfang des Czaren gemacht, der
im Juni hier eintreffen soll. Aber der Juni kommt und kein Mensch
spricht mehr von russisch-österreichischen Hochzeiten. In Schönbrunn
wird die Tochter Ludwig Philipps empfangen, und ein Befehl des
Kaisers gebietet, daß ihr alle Ehren einer österreichischen Erzherzogin
erzeigt werden sollen. Der Czar aber geht statt nach Wien ^ nach
London, drückt dem Tory-Minister Peel freundschaftlichst die Hand,
umarmt auf der Rückreise seinen Schwager auf der Eisenbahnstation
von Potsdam vor den Augen Hunderter von Zuschauer, und das Car-
tel wird erneuert. Statt des Czaren aber wird in Wien und Ischl
der König von Preußen zum Besuche angesagt. Die Times, die fein¬
riechende, sendet zwei Eorrespondenten, wovon der eine in Wien, der
andere in Ischl sich auspostirt. Von London aber kommt ein Courier
an die hiesige englische Gesandtschaft mit der Nachricht, daß Lord
Palmerston, der Whigministcr, der Juli-Tractatmann, der einst gegen
Rußland das Portfolio dirigiere, sich aussöhnte und wieder erboßte,
nach Ischl kommen werde, und wenige Tage darauf begibt sich Sir
Gordon, der hiesige englische Gesandte, statt nach Kissingen, wie er
beabsichtigte, nach Ischl, wo die Fäden vielfacher Combinationen ihre
Lösung von der Hand des Fürsten Metternich zu erwarten scheinen;
obschon die Auflösung dieses verschlungenen Rebus weder in der Jl-
lustrirten, noch in der Theaterzeitung sich finden wird. >—
, Das Attentat gegen den König von Preußen ist hier so richtig
beurtheilt worden, daß nicht ein Mal die Börse eine Aenderung der
Fonds verspürte. Merkwürdig ist, daß die fünf Großmächte in dieser
Beziehung einander gleich stehen, und daß sowohl die Königin von
England, als der Czar von Rußland, Kaiser Ferdinand (gegen den ein
Hauptmann einst ein Pistol losdrückte), wie Louis Philipp, und end¬
lich auch der König von Preußen dem Meuchelmorde als Ziel dienten;
wunderbarer aber noch ist die Hand der Vorsehung, welche alle diese
Häupter schützte.
Die Juli-Tage, welche sonst eine Stagnation an der hiesigen
Börse hervorzubringen pflegten, sind dieses Mal, so wie auch im vo¬
rigen Jahre, spurlos vorübergegangen. Man glaubt nicht mehr an
Revolutionen — wie es scheint. Wenn nur Böhmen diesen Glau¬
ben nicht unterbricht. Es sind viele fremde Hände dort im Spiele,
und der Verfasser der Plön-e na Reoellu (Lieder auf die Rebellen),
welche auf so kühne als räthselhafte Weise vertheilt wurden, ist ge¬
wiß kein Anhänger des österreichischen Hauses. Die böhmischen Ex¬
cesse scheinen gefährlicher in ihrer Nachwirkung, in ihren dumpf ver¬
hallenden Klängen, als in ihrem Ausbruche zu sein. Es gibt viele
Partisane der alten Blutthcorie unter den hiesigen Geldphilistern. Diese
Herzloser möchten gern, daß die Regierung gleich mit Kartätschen un¬
ter die Menge schießen ließe, und gehen so weit, das milde Verfah¬
ren, welches der Erzherzog Stephan gegen die Kattundrucker einschlug,,
zu tadeln. Was ist ihnen das Volk, wenn es sich um ihr« Geld¬
kiste handelt! Möge die Regierung sich nicht beirren lassen in
dem Wege der Mäßigung, den sie eingeschlagen. Oesterreich muß in
neuerer Aelt die öffentliche Meinung mehr berücksichtigen, als es frü¬
her gethan. Möge es in der schweren Prüfung, die es in Böhmen
in diesem Augenblick zu bestehen hat, und die vielleicht so bald nicht
durchgemacht sein wird, die Aufgabe und die Erfahrungen einer zeit¬
gemäßen Politik nicht außer Acht lassen. Welche Art von Traditio¬
nen früherer Politik noch bei unseren alten Herren eristirt, davon
hatte ich dieser Tage selbst ein Beispiel An dem Tage, wo das At¬
tentat gegen den König von Preußen hier bekannt wurde, begegnete
ich dem alten Fürsten einem Greise, der vor fünfzig Jahren
eine wichtige Rolle im österreichischen Staatswesen gespielt hat. Ha¬
ben Ew. Durchlaucht auch schon die Nachricht von dem Ereigniß in
Berlin gehört? — Freilich, antwortete der alte Herr, lauter Lügen.
Man muß solche Dinge nicht glauben. — Haben Ew. Durchlaucht
keine Briefe aus Böhmen? Sind keine neuen Unruhen vor¬
gefallen? — Unruhen? siel mir der Fürst in die Rede, ich
weiß von keinen Unruhen. Glauben Sie doch dem Zeitungsge¬
schwätze nicht. Es ist nichts Unruhiges vorgefallen.---Erst diese
zweite Antwort erläuterte mir die erste. Vor fünfzig Jahren ist es
staatsmännische Methode gewesen, derlei Ereignisse kurzweg abzuläug-
nen. Damals allerdings hatte noch nicht jedes Zeitungsblatt und
namentlich jedes Handlungshaus überall seinen sichern Korresponden¬
ten. Damals waren derlei Dinge Geheimnisse. Wer die Wendung
der Zeit nicht verschlafen, sondern die Augen offen hat, ver wird
wissen, daß derlei Methode heute zu Nichts als zu Mißtrauen und
Erbitterung führt. Das Verhältniß der Regierung zu den Regier¬
ten ist ein anderes geworden. Dies möge man in Böhmen nicht
vergessen.
Recht betrübend sind die Nachrichten, die im Lause dieser Woche
aus der Provinz Preußen über die Verheerungen eingegangen sind,
welche die Fluchen der Weichsel und der Nogat dort angerichtet haben.
Nicht blos ihren auf dem Felde stehenden Reichthum, sondern auch
ihre alten Vorrathe und selbst die Häuser, die ihnen Obdach gewahr¬
ten, haben viele Tausende verloren, die jetzt einer Zukunft ohne Hoff¬
nung entgegengehen. Es wird Außerordentliches geschehen müssen,
um diese außerordentliche Noth zu mildern, und in der That hören
wir auch, daß zu diesem Behufe bereits die ersten Staatsbeamten
mit einigen hiesigen Banquiers und anderen angesehenen Bürgern
zusammengetreten sind, um in ähnlicher Weise Geldsammlungen zu
veranstalten, wie sie vor zwei Jahren für Hamburg stattgefunden ha¬
ben. Das Elend ist jetzt unstreitig in den ohnehin schon durch
die russische Grenzsperre ganz heruntergekommenen preußischen Ostsee¬
provinzen viel größer, als es jemals in dem von so vielen tausend
reichen Kaufleuten bevölkerten Hamburg war, das, wie man weiß,
der eingegangenen Tausende zum Theil gar nicht bedurft hat, da die
abgebrannte Bevölkerung sogleich Arbeit und Erwerb fand. Wer aber
wird jetzt auch den armen Bürgern und Bauern von Schweiz und
Heilsberg Arbeit und Erwerb verschaffen?
Mit Rücksicht auf die eingetretene große Calamität ist bereits die
Einberufung der Landwehr jener Provinz, die in der nächsten Woche
stattfinden sollte, abbestellt worden. Auch zweifelt man, daß der Kö¬
nig nach seiner Rückkehr aus Wien auch noch, wie er sich vorgenom¬
men, zum Manöver nach Preußen reisen werde. Die Universität
Königsberg, die in diesem Monat ihr dreihundertjähriges Jubelfest
feiert, würde dies am meisten bedauern, da sie den König, welcher
ihr Rector Magnisicus ist, bei dieser Gelegenheit erwartet hatte.
Bereits haben sich die Herren Professoren die neue Amtstracht anfer¬
tigen lassen, welche für die verschiedenen Facultäten in schwarzen,
rothen, violetten und blauen Roben besteht und worin sie sich, inso¬
fern die Person selbst nicht gar zu unstattlich ist, recht stattlich aus¬
nehmen sollen. Professor Jacob», der berühmte Mathematiker der
Königsberger Universität, der sich jetzt hier befindet, nachdem er auf
des Königs Kosten eine italienische Reise gemacht, wird nicht mehr
nach der Pregelstadt zurückkehren, sondern hier bleiben, da ihm das
hiesige Klima — wir wissen nicht, ob auch die politische Atmosphäre
in Berlin — mehr zusagt, als das dortige.
Ganz erfreulich war es, den alten Alexander von Humboldt bei
der Feier zu sehen, die ihm vor einigen Tagen die Akademie der
Wissenschaften zur Erinnerung an feine vor vierzig Jahren geschehene
Rückkehr von seiner großen amerikanischen Reise veranstaltet hatte,
und bei der auch ein Neffe Napoleons, der Fürst von Canino, zugegen
war. Humboldt ist l7Kö geboren, also jetzt fünfundsiebzig Jahr alt;
er erscheint aber noch so jugendlich und rüstig, wie ein Fünfziger.
Viel hört man hier und da über feine doppelte Stellung zum Hofe
und zur Wissenschaft raisonniren, aber gerade diese Stellung macht
es ihm möglich, der letztern so außerordentliche Dienste zu leisten, wie
er sowohl direct als indirect thut. Erst nach seinem Ableben wird
man einmal wahrnehmen, wie sehr er genützt und wie viel ihm die
Wissenschaft in Preußen zu verdanken hat.
Was doch aber die Wissenschaft mitunter für seltsame Resultate
liefert! So hat unser liebenswürdiger Physiker, Professor Dove,
durch vielfache Vergleichungen und Berechnungen herausgebracht, daß
in Europa der April und der September die beständigsten Witte-
rungsmonate sind. Wahrend nämlich die Witterung aller übrigen
Monate mehr oder weniger von Einflüssen aus Amerika (im Sommer)
und aus Asien (im Winter) abhängt, heben diese Einflüsse im April
und September sich auf, weshalb wir auch in diesen beiden Mona¬
ten immer auf schönere und wärmere Luft als in den übrigen rech¬
nen können und sie einander bei weitem mehr gleich bleiben.
Wer hätte wohl ohne die Wissenschaft jemals dem April solche treff¬
liche Eigenschaften zugetraut? Dagegen scheint es ausgemacht, daß
der diesjährige Sommer durch die amerikanischen Westwinde ganz
furchtbar verpfuscht worden.
Nicht minder überraschend ist ein anderes Resultat von Beobach¬
tungen, die Herr Professor Adolph Erman angestellt. Dieser hat
nämlich nachgewiesen, daß die Atmosphäre auf dem Meere häufig
von geringerer Feuchtigkeit geschwängert sei, als die auf dem festen
Lande. Mehrfache hygrometrische Beobachtungen, einerseits auf dem
atlantischen Meere und unter den Passatwinden, sowie andererseits in
Genf und Paris, haben dies dargethan.
Die beiden jetzt im Lustgarten aufgestellten, von Rußland ge¬
kommenen Rossebändiger sind bereits ein Gegenstand des Berliner
Witzes geworden, der sich bekanntlich gern an Allem reibt, was ihm
in die Augen fallt. Auf die Frage nämlich, was diese beiden Figu¬
ren vorstellten, ward geantwortet: das Eine sei der gehemmte Fort¬
schritt und das Andere der beförderte Rückschritt. Gewiß wird auch
jede andere deutsche Hauptstadt sich rühmen können, zwei Figuren u
Justus.
/" Von unserer Universität kann ich Ihnen gerade so viel melden,
(als Sie gehört haben. Es ist Alles in Ordnung: die Professoren
lesen ihre altbackene Weisheit von semmelgelber Heften herunter, und
die Studenten verlaufen sich hie und da in die Auditorien, verschla-
fen ihre Räusche und träumen von neuen Siegen in ritterlichen Bicr-
turnicren. Wie sich doch die Zeiten ändern! Wer 'früher von dem
geistigen Leben einer Provinz sprechen wollte, mußte bei der Univer¬
sität anfangen und aufhören, heute sängt man bei ihr an und hört
bei ihr auf, wenn man den Nachtrab des geistigen Heeres zu schil¬
dern unternimmt. Sie hat nicht einmal Anspruch aus jene Schonung,
mit der man müde, glicdersteife Invaliden behandelt; denn die Siege
sind nicht durch sie, sondern trotz ihr erfochten worden. All die
Waffen, die gegen den Stabilismus gebraucht werden, tragen nicht
das Eichungszeichen der Universttat, sondern sind in den Werkstätten
des Lebens geschmiedet. Wahrend ein Professor, dessen philosophische
Vorträge noch den meisten Zuspruch haben, in hochmüthiger Ueber¬
hebung sich gegen die Interessen des Volks feindselig hält und aus
der schattigen Kühle, in welcher seine Speculation ihr Laubhüttenfest
feiert, auf den erhitzten Kampf der Gegensätze verächtlich herabschaut,
sprechen kleinstädtische Bürger, die vielleicht niemals einen christlich-
germanischen Philosophen von Angesicht zu Angesicht geschaut, für
Oeffentlichkeit und ein freies Communalleben mit einer Einsicht und
Energie, von der man nicht weiß, wo sie mit einem Male hergekom¬
men ist. Das ist die Rache, die das Leben an der Gelehrsamkeit
nimmt. Es muß so weit kommen, daß Bäcker, Schneider und Flei¬
scher mit einem verschimmelten Gelehrten auf einer und derselben
Bierbank zu sitzen verschmähen.) Unserm Censor, dem Herrn v. Schvn-
feld, passirt das schon, obglmh er eben kein Gelehrter ist. Da bin
ich wieder bei der Censur, ohne daß ich es wollte. Doch das schadet
Nichts, ich komme da auf einen ihrer Erecutoren und durch diesen
wieder auf die Universität zurück. — Während sich die Zahl der äm-
tersuchendcn jungen Männer in Preußen von Tag zu Tag vergrößert,
gibt es Männer, welchen eine solche Last von Verpflichtungen aufge¬
bürdet ist, daß sie mehr als Menschen sein müßten, wollten sie Allem
genügen. Zu diesen gehört Herr Heinke. Er ist Polizeipräsident, Büh¬
nen- und Bezirks-Censor und Regierungsbevollmächtigter an der Uni¬
versität. Man bedenke: das Wohl und Wehe eines großen Theils
des socialen, wissenschaftlichen, Literatur- und Kunstlebens liegt in sei¬
ner Hand; in der Hand eines einzigen Mannes das Schicksal von
beinahe einer ganzen Provinz ! In seinen polizeilichen Functionen soll
er strenge, aber human sein; als Censor ist er für alle nicht polizei¬
lichen Artikel nachsichtig, d. h. was man in Breslau nachsichtig nennt.
Er censirt aber nicht eher, bevor ihm nicht die Namen sämmtlicher
Verfasser in in»,^iuv des Censurbogens notirt sind. Daß man die¬
sen polizeilichen Wissensdrang mitunter irre leitet, versteht sich um so
mehr von selbst, als die Redacteure überhaupt hiezu nicht verpflichtet
sind. Die Bühnencensur handhabt er sehr rigoros. Sein „nicht auf¬
zuführen" unter „Zopf und Schwert" bekam durch Sanction des
Ministeriums des Innern Geltung für die ganze preußische Monar¬
chie.^ Was aber die Wirksamkeit in Bezug auf die Universität be¬
trifft, so fallt sie ziemlich mit jener des Polizeipräsidenten zusammen.
Die Polizei ist ihrer Natur nach eine Anstalt, die nicht treibt und
bewegt, sondern hemmt und hält, und als solche wird sie immer mit
dem strebsamen Geiste, der nur in sich selbst Grenzen kennt, in Col-
lision gerathen. Universität und Polizei sind Gegensätze, die so weit
als möglich aus einander gehalten werden müssen. Daß die Vu^i-iiw,
an einer so sichtbaren Abspannung aller Kräfte leidet, daran ist zum
Theil ihre Präventivbedachung Schuld. So oft einzelne geistig rüstige
Studirende es versuchten, dem total faulen Corporationswesen einen
anderen sittlichen Grund zu geben, fanden sie an dem conservirenden
Schild einen hartnäckigen Widerstand und bekamen Zeit, fern von
Madrid über ihre reformatorische Narrheit nachzudenken. Die Ele¬
mente zur Neugestaltung des socialen Lebens unter den Studirenden
sind vorhanden, es fehlt ihnen nur die Freiheit der Entwickelung, um
die kindischen Spielereien der Landsmannschaften auszukehren. Bis
jetzt aber haben letztere noch inne^eine thatsächliche Bevorzugung er¬
fahren, und sobald ihre Gegenpartei^Mfahrlich zu werden drohte, fan-
'den sich Mittel, die schwerer wiegende Schale zu erleichtern. Das ist
nun freilich eine Arie, die in ganz Deutschland zum tausendsten Male
von schlechten Musikanten «In c.'ipn gesungen wird, ohne von den er¬
sten Ranglogen gehört zu werden, aber schadet Nichts, Gesang bringt
die Luft in Schwingung, und durch Luftschwingungen verziehen sich
schlechte Dünste. Ach ja, die Dünste! Die lagern sich immer dich¬
ter über unser schönes Schlesien. Wie wollten wir sie fortsingen,
wenn uns nur die Streichinstrumente zu Worte kommen ließen! Seit¬
dem das Ober-Censurgericht anfängt, bei seiner Entscheidung über ge¬
strichene Artikel die „besonderen Umstände" zu berücksichtigen und mit
dem kam-unreell- kärglicher zu werden, vergeht den hiesigen Publizisten
vollends alle Lust zum Schreiben. Ich spreche es ungern aus, weil
ich damit meiner früheren Meinung entgegentrete: das Vertrauen zu
dieser Behörde verliert sich immer mehr. Seit einiger Aelt behält
sie viele von den ihr zur Entscheidung eingesandten, auch von ihr nicht
zum Druck zugelassenen Artikeln und schickt den Verfassern blos das
Erkenntniß zu. Wenn es nun gar keine Frage sein kann, daß ein
geistiges Eigenthum auch ein Eigenthum ist, und zwar eins, das auch
einen materiellen Werth hat, wo nicht auf preußischen, so doch aus
„ausländischen" Stapelplätzen, so ist dies Verfahren des Obercensur-
gcrichts wirklich unbegreiflich, um so mehr, als der Eigenthümer die
Kosten der Remission ganz allein zu tragen hat. Ich wünsche von
Herzen, daß jene Behörde aus diesen Worten die Veranlassung nehme,
sich über diese Angelegenheit in ihrem eigenen und im Interesse so
vieler Betheiligten auszusprechen.
Daß Eduard Pelz festgesetzt worden ist, haben Sie aus den
Zeitungen erfahren. Als der Polizeirath Duncker hier angekommen
war, um inquisitorisch zu debütiren, gedachte er sogleich seines alten
Universitätsfreundes E. Pelz. Aber er wußte nicht, ob der Commili-
tone auch seiner würdig geblieben, und darum erkundigte er sich unter
der Hand bei den armen Spinnern und Webern nach ihm, ob er sich
auch ihrer Noth gehörig angenommen, und was er zu all ihrem Elende
gesagt habe. Da aber diese dummen Leute gegen die „Herren" ein
absonderliches Mißtrauen besitzen und ihnen nie die Wahrheit sagen,
so soll sich Duncker - ut l-nun t'ort — als Weber verkleidet und
ganz cordial mit ihnen gethan haben. Erst hierauf besuchte er Pelz
und schwelgte mit ihm in den Erinnerungen vergangener Tage. Nach
einiger Aelt wird letzterer nit terminum nach Schweidnitz citirt und
----festgesetzt. Weshalb? Das weiß man nicht. Bald darauf
brachte man ihn in's Jnquisitoriat nach Breslau und heute ist er
bereits frei gelassen. Pelz wird gewiß nicht schweigen.
Wie sich das Leben an der erclusiven Wissenschaft rächt, so scheint
auch im Leben selbst der niedere Stand an dem höheren Rache neh¬
men zu wollen. Unter der SMl^des neuen Geistes hat der Gäh-
rungsprozeß begonnen: die Hefen brodeln von unten nach oben, und
das Wort „Abschaum" wird Wahrheit werden. Während sich unter
der arbeitenden Classe, den Proletariern, Angstarbeitern, oder wie man
sie nennen will, ein so tüchtiger Fonds von Sittlichkeit und gesunder
Geisteskraft zeigt, bilden sich .die capitalen Goldjungen immer mehr
zu anständigen Taugenichtsen heran. Den Rom! zu spielen, die Cour
zu machen, in den Salons herumzuflattern, die Aelt durch Saufen,
Spielen und nichtsnutzige Lectüre todt zu schlagen, das genügt ihnen
nicht mehr ganz; sie wollen eine Beschäftigung haben, die mehr in
die Augen sticht, nobler, ritterlicher ist. Um diesem Bedürfnisse ab¬
zuhelfen, haben unsere schlesischen Tagediebe den Reitjagdvercin erfun¬
den, zu dem sie bereits im Anfange dieses Jahres die Statuten ent¬
warfen. In der ersten Vereinshitze begingen sie die Thorheit, einige
Paragraphen davon der Oeffentlichkeit zu verrathen, z. B. daß das
Reitjagen ihren Muth stählen und der Verweichlichung, der Folge des
langen Friedens, vorbeugen solle; daß sie die Pferdezucht in Flor zu
bringen gedächten. Als aber unsere Presse ihnen deswegen tüchtig zu
Leibe ging, schwiegen sie mit einem Male still, bis sie endlich wieder
vor einigen Tagen anzeigten, daß es ihnen gelungen, eine Meute zu
erwerben, und daß die verehrten Theilnehmer anzeigen möchten, wie
viele Hunde und Leute sie mitbringen würden. Diese Annonce,
welche nur zu deutlich verrieth, daß sie in den Hundstagen abgefaßt
sei, erregte buchstäblich allgemeinen Unwillen. Sie sollte eine Entgeg¬
nung finden, da unser Censor aber selbst Mitglied des Vereins ist, so
war dies natürlich unmöglich. Wie ich gehört habe, werden sich un-
fere sämmtlichen Journalisten als Klapperer und Hifthornblaser bei
dem ersten Jagdreiten einfinden. Schade, daß d^-e^ Seitungsschreiber
nicht freie Jagd haben, sie würden gewiß die ^ager zu Gejagten
Wir Republikaner sind nie manierlicher und liebenswürdiger, als
wenn ein Konig oder sonst ein regierendes HaWt von Bedeutung ,n
unsere Gesichtsweite kommt. Der Kor.g von Sachsen ward h-er w.e
ein Halbgott empfangen und arg-gafft D.e Kanonen onnerten, alle
Schisse im Hafen hatten festlich 'hre Naggen aufgehißt, e.ne unab-
sebba e Menschenmasse wogte am Elbquai und auf den grünen Hohen
des StiMf7nqes und der Wallonlogen. Die republikanischen Kehlen
brüllten ein so anhaltendes und kräftiges Hurrah, daß die Pferde vor
dem Staatswagen sich sah-er entsetzten, und der gallonirte Kutscher
von seiner Peitsche einen ziemlich zweideutigen Gebrauch zu machen
sich genöthigt sah. Dasselbe Schauspiel wiederholte sich in noch gro߬
artigerer Weise am Abend, als das hanseatische Musikcorps in einem
illuminirten Fahrzeuge auf dem Alsterbassin bis in die Nähe der
Wohnung des Monarchen schwamm und ihm nach eingenommenem
Diner die Ohren voll musicirte. Es war einer der wenigen schönen
Abende welche der heurige häßliche Sommer uns zu schenken ge¬
ruhte und so war es für die neugierige Menge doppelte Lockung, sich
im Junafernstiege die Rippen zu quetschen und Hurrah zu schreien.
Man versichert, daß an diesem Abend zwanzig bis dreißig tausend
Menschen des Königs von Sachsen halber auf den Beimn waren.
Daß es der bekannte humane Sinn und die sonstigen rühmlichen
Eiaensckaften gerade dieses Fürsten gewesen wären, wodurch ihm so
Las e Huldigungen zu Theil geworden, läßt sich leider nicht hinzu¬
fügen. Höchst wahrscheinlich wurde der König von Ba-ern in glei¬
cher Art bcarüßt worden sein und das, was Sie vor einiger Zeit,
bei Geleaenheit der Durchreise des Kaisers von Rußland, über das
philiströse Benehmen der Residenz Braunschweig schrieben dasselbe,
meine ick ließe sich aus den Hamburger Enthusiasmus ohne Auge-
«es?gkett auch anwenden. Vielleicht aber ist unser Republikan-sans
ein grundgescheidter Kerl, und nur, um zu hohen wahren zu kommen,
als ein Mann von feiner Sitte und reiner Wasche gepriesen zu wer¬
den, macht er Katzenbuckel, schreit er Hurrah, illuminirt und musicirr
er, so oft ein gekröntes Haupt sich zeigt, gleich viel, von welcher
Höhe und von welchem Werthe. — Die hiesigen Blatter melden,
daß auch der grüne Tisch, der für die wenigen Tage des Wands¬
becker Pferderennens — welches diesmal, im eigentlichsten Wortsinne,
zu Wasser wurde — aufgeschlagen wird, bereits die entsetzliche Frucht
des Selbstmordes zum Gedeihen brachte. Ein unglücklicher Spieler,
der mit fremdem Gelde Fortuna versucht hatte, setzte nach einem be¬
reits errungenen Gewinn von zweihundert Louisd'or das Spiel fort,
büßte Alles, bis auf das letzte Geldstück, ein, ließ sich auf der Elbe von
einem Barkenführer die tiefste Stelle andeuten und sprang, wahrend
der Andere abgewendet rudernd von dem Unheil Nichts merkte, rasch
in die Wellen, die ihn erst als Leiche dem Lande wiedergaben. An
diese düstere Geschichte möge sich eine ziemlich lustige schließen. Die
Herren unseres hochedeln und hochweisen Rathes haben in dem harm¬
losen Kinderballet der Mad. Weiß aus Wien etwas höchst Unmora¬
lisches entdeckt und trotz der viermal wiederholten Suppliken der Di-
rection des Thaliatheaters, trotz der wohlwollenden Verwendung des
österreichischen Ministerresidcnten für dieselbe, durften besagte Kleinen
ihre unschuldigen Sprünge und Gruppirungen nicht ausführen. Fama
behauptet, eine rivalisirende Theaterbehörde habe in dieser Angelegen¬
heit einige mephistophelische Thätigkeit entwickelt. Die Antigone ist in
achtungswerther Vorstellung und mit günstigem Erfolge doch, wie
begreiflich, nicht ohne Controverse der kritischen Stimmen — fünf
Mal gegeben worden. Tichatschek von Dresden füllt die großen
Räume des Stadttheaters in jeder Beziehung, was nur einem
Sänger von bedeutendem Stimmfonds und außerordentlichem Rufe
gelingen kann. Hen brichs wird trotz des neulich erwähnten
Ersatzmannes mehr und mehr schmerzlich vermißt und Döbler
läßt hier jetzt seine wirklich wunderschönen Nebelbiloer, «Ilk>!,»loi»^
von«, unter stürmischem Beifall im Stadttheater schauen. —
— In den letzten Tagen ist hier von einem originellen Menschen,
Fr. Elemens (Gerte) ein originelles Werk erschienen ^ „Das All¬
buch, eine Bibel." Ich kenne leider bis jetzt selbst nicht viel mehr
als den Titel dieser Schrift; originell aber darf man sie schon nach
dem bloßen Durchblättern nennen. Nähere Erörterung behalte ich mir
vor. Das Buch wird viele Feinde finden, wenig Freunde, was bis¬
her des Autors Loos häusig gewesen. Clemens bleibt aber doch ein
ursprüngliches Talent, ein Selbstdenker und geistig freier Mensch, der
mit rüstiger Kraft und seltener Energie auf einem höchst abenteuerli¬
chen Lebenswege bis zu seinem jetzigen Standpunkt vorgedrungen. —
Moritz Carrivre hat für die Gratisbeilage unserer „Jahreszeiten"
die Biographie Bettinens in sehr ausführlicher Weise geliefert.
Das Wesen der merkwürdigen, geistig riesenmäßigen Frau würde mit¬
telst der Carriore'schen Blätter sicher allgemeiner begriffen und grünt-
licher aufgefaßt werden, hätte ihr Biograph sich populärer auszudrüc¬
ken verstanden. Es ist eine schlimme Eigenheit der deutschen Litera-
ten, daß sie bei ihrem Schaffen so selten das Publicum im Auge be¬
halten, für welche es zunächst bestimmt. Die Franzosen verstehen das
bei weitem besser, oder vielmehr, sie schreiben so, daß fast immer jede
Classe von Lesern der Meinung ist, sie allein habe dem Autor vor¬
geschwebt. Könnten diese Worte dazu dienen, der Schrift Carric>re's
ihren Leserkreis recht bedeutend zu erweitern, so würden sie Gutes
stiften, denn jene Biographie wirst helle Lichter auf eine der Heroin¬
nen unserer Frau-nliteratur. — Von hier aus hat man vor Kurzem
der „Jllustrirten Zeitung" von der bevorstehenden Eoncurrenz einer
Hamburger „Bilderzeitung" geschrieben. An dieser Nachricht war je¬
doch, wie sich aus allen eingezogenen Erkundigungen ergab, kein wahres
Wort, sondern sie entsprang einem literarisch-industriellen Gehirn, wel¬
ches auch in anderer Hinsicht bereits eine nicht geringe speculative Thä¬
tigkeit offenbarte.
— Es ist eine alte Wahrheit, daß die Menschen lieber Almosen ge¬
ben, als zahlen, lieber großmüthig thun, als ihre Pflicht erfüllen, so
wie die Könige lieber gnädig sind, als gerecht. Ein komisches Bei¬
spiel sind die preußischen Misstonsprojccte. Hinter den englischen Un¬
ternehmungen der Art steckt Politik und Eolonisationsgeist. Will
Preußen mit seiner „Amazone" Eroberungen in China und Japan
machen? Da sitzen einige gottselige theologische Professorinnen und
Ministerinnen zusammen und stricken und nähen; die Frau Professo¬
rin Strümpfe für die Hottentotten und Hottentottlein, die so unglück¬
lich sind, barfuß zu lausen; die Frau Ministerin Hemden, Schürzen
und Bauchbinden, denn sie erröthet bei dem Gedanken, daß der Kaffer
und seine Frau in sündhafter Nacktheit einhergehen. Schlesien aber
curirt man durch ein neues Wehrsystem und durch die Erklärung, daß
die dortige Noth eine Erfindung der Zeitungsschreiber sei. Aus Alt¬
preußen, wo dieses Treiben am ärgsten sein soll, ging' uns darüber
ein „Bcttlerlicd von heute" zu, aus dem hier einige Strophen ein
Plätzchen finden mögen.
— I)r. Hitzig hat einen kleinen Beitrag zur Kritik deutscher Ue¬
bersetzungskunst geliefert, der recht amüsant ist. Im Mi' vrrimt kommt
eine Medaille vor mit der Inschrift: „Victiine 6e 1^. (!. I).
Niemand weiß bis jetzt, vielleicht Sue selbst nicht, was die Anfangs¬
buchstaben bedeuten. Herr Weschv übersetzt flottweg: Opfer des 1^.
it. ^ Hitzig bemerkt nun in der Vossischen, die Initialen könn¬
ten entweder «Jo ki» r.i nix <!v ^t'SU8, oder «1e in c«>api>A»is «I,ü.schuf
heißen, keinesfalls würden spater, wenn das große Mysterium heraus¬
kommt, die Buchstaben im Deutschen passen. — Wir glauben, We-
schv wird sich doch nicht so blind in Gefahr begeben haben, da er,
nach der buchhändlenschen Annonce, Herrn Sue selbst zum Mitarbei¬
ter hat?
— Ein englischer Tourist begegnete in Marocco einem Blöd¬
sinnigen, der für heilig gehalten wurde. Er warf ihm eine Geld¬
münze zu. Da nahm ihn der Heilige beim Kragen und spuckte ihm
in's Gesicht. Als der so Gesegnete sich abwischen wollte, rief ein
Maure: „Was thust Du? Der Heilige hat Dir in's Gesicht gespien,
Du wirst glücklich sein!" — Auch in der nichtmaroccanischen Welt
macht Mancher sein Glück dadurch, daß er sich von Einfaltspinseln
und Blödsinnigen anspucken laßt. Die Dummköpfe werden bei uns
nicht für heilig gehalten, aber sie sind oft mächtiger als alle Heiligen
der Welt.
Unter diesen Hausaventüren war nun nach den Weihnachts-
frcuden auch der Carneval vorübcrgerauscht und Fastnacht, jene Nacht,
erschienen, in der Berlin noch'einmal den Jubel des Sylvester wie¬
derholt und mit erneuerter Anstrengung seinen ganzen Wintcrtaumel
austobt. Wer feiert nicht Fastnacht in Berlin, wer durchjubelt nicht
diese Nacht wenigstens bei Punsch und Pfannkuchen? Ich könnte
Euch an Orte führen, wo man von all diesen Freuden Nichts hört
und weiß, wo, während der laute Jubel durch alle Straßen zittert,
während bunte Massen sich trunken durch glänzende Locale wälzen,
die dumpfste Stille und Gedrücktheit des Elends herrscht, und hinter
zerbrochenen Fensterscheiben ganze Familien bei einer düsteren, schon
halb erloschenen Lampe, in dumpfen, kalten Zimmern kauern, ihr
trockenes Brod verzehren und sich dann aus Mangel an Licht und
Wärme frierend auf ihr trockenes Strohlager werfen; ja, ich könnte
Euch, wenn es mir darum zu thun wäre, den Contrast hervorzuhe¬
ben, an all die verschiedenen Plätze führen, wo der hungernde Jam¬
mer seinen Sitz aufgeschlagen. Doch habe ich hier nicht dieses stille,
verlassene und verborgene Elend zu schildern, ich will mit Euch mich
amüsiren, mit Euch an die lauten, lärmenden Orte der Freude gehen,
für's Erste in eine Gesellschaft, in die ich heute Abend geladen ward.
Der Hofrath ist nicht blos ein reicher, sondern gilt auch als ein
kenntnißreicher Mann. Er hat in der Gesellschaft den Ruf als Freund
und Beförderer der Wissenschaften und Künste, und versammelt in
seinem Salon die meisten, besonders jüngere Notabilitäten, die sich,
zu seinem größten Stolze, bemühen, der Bildung und dem Geschmack
seiner Tochter in enthusiastischer Weise zu huldigen. Agnes verdient
in der That in der guten Gesellschaft den Namen eines geistreichen
^. ädchens, denn sie spricht sehr gut Französisch und Englisch, spielt
vortrefflich Klavier, sieht sehr bleich und interessant aus, macht höchst
geschmackvolle Toilette, hat Jean Paul und Goethe gelesen und sich
von ihrem Papa den Faust erklären lassen, hat sich auch mit dessen
Hauptsteckenpferd, der italienischen Poesie, vielfach beschäftigt, unter¬
hält sich am Liebsten mit jungen Gelehrten und Künstlern, liest alle
neuen Romane, schwärmt für die Paalzow, kurz sie ist das Muster
dessen, was man in der Gesellschaft ein gebildetes Mädchen ^nennt, ein
Mädchen, mit dem man sich unterhalten kann. In diese geistreiche
Familie war ich zu Fastnacht geladen. Ich fand eine sehr zahlreiche
Gesellschaft und, wie ich vermuthet hatte, auch Herrn Felir mit sei¬
ner Familie. Ich hatte ihn seit jener Begebenheit nicht gesehen; er
kam mir etwas scheu mit seiner gewohnten Gutmüthigkeit entgegen,
vermied es aber natürlich ganz, von unserem neulichen Zusammen¬
treffen zu sprechen. Agnes strich an uns vorüber- Ich habe Ihnen
Ihr Buch wieder zurückgeschickt, sagte sie zu Felir. Fast bin ich böse
auf Sie, das; Sie mich mit so undelicate? Lectüre versorgen, wie Boz
sie in diesen Londoner Skizzen wieder geliefert hat. Dieses Buch
hat mich in meinem Urtheil über Boz neu bestärkt; ich habe es längst
gesagt, er ist kein Dichter, es fehlt ihm jene Delicatesse und Zartheit,
dem feineren Auge zu verbergen, was es nicht ertragen kann. Er
weiß seinen Schilderungen des Lasters und Elends nicht jene ätheri¬
sche Hülle überzuwerfen, die es uns nur ahnen läßt; er hat eine
wahre Freude daran, uns die Zustände des niederen Volks so plump
und gemein zu schildern, wie sie wirklich sind. Während ich mich
in der Wirklichkeit vor dem Hauch dieser Sphären scheue, will ich
auch in einem Buche nicht mit ihm zusammenkommen; das kann nur
Speise für ein höchst ordinäres Publicum sein, eben so wie die
Schriften der Madame Düdevant, die uns gar idealische Schneider¬
und Tischlergesellen als Nomanfiguren vorführt und mit ihren oft
recht sinnlosen Romanen mehr lästig als angenehm wirkt. Aber das
Mitgefühl, das Boz mit der Armuth und dem Laster hat, wird doch
gewiß das zartfühlende Herz der Fräulein Agnes nicht unberührt ge¬
lassen haben, meinte der wohlthätige Felir, den in Boz besonders
seine sentimentale Seite angesprochen hatte. — Gibt es aber nicht andere
erhabenere, zartere Dinge, uns zu rühren, antwortete Agnes, als
den Anblick von Bettlern, wie wir sie täglich auf den Straßen sehen,
oder von verworfenen, gemeinem Gesindel, das wir gar nicht sehen
und kennen wollen? Das sind schlechte Mittel, den Effect hervorzu¬
rufen; ein guter Dichter wird sich ihrer nimmer bedienen. Während
Fräulein Agnes von diesen tiefen Gesichtspunkten aus dieses höchst
geistreiche Gespräch in derselben Weise, mit wahrhaft liebenswürdiger
Selbstgefälligkeit fortführte, und Felix's Blicke mit einem unnennbaren
Ausdruck von sprachloser Bewunderung auf den Marmorzügen der
urtheilenden Schönen ruhten, hörte ich, als ich eben auf dem Wege
war, die näheren Motive zu finden, warum er Mathilden so plötz.
lich verlassen habe, am anderen Ende des Zimmers den Namen
„Liszt" nennen.
ES war dies nämlich in jener Zeit, da Berlin gerade in seinem
wonnereichsten Lisztrausche lag, in jener ewig denkwürdigen Zeit, über
die einmal ein späterer Culturhistoriker staunen, sie mit ewigem Griffel
in die Bücher der Geschichte eintragen und als Zeichen von der
Größe des gegenwärtigen Geschlechts und seiner guten Gesellschaft,
seinen zwerghaften, geiht- und thatlosen Zeitgenossen entgegenhalten
wird. Berlin war damals der Schauplatz wichtiger Ereignisse und
Thaten, eine großartige Begebenheit drängte die andere: Liszt
ist heute dort geladen, morgen ist er da, gestern hat er auf der
Straße mit der oder jener Dame gesprochen, vorgestern hat er im
Gasthofe so und so viel Champagner getrunken, zum übermorgenden
Concert sind alle Billete schon vergeben u. s. w. Ich muß gestehen,
die Erzählungen dieser großartigen Begebenheiten hatten einen so an¬
greifenden Eindruck auf meine Nerven gemacht, daß ich ihretwegen
schon längst die Gesellschaft gemieden hatte. Jetzt also hörte ich plötz.
lich im Salon des Herrn Hofraths den Namen „Liszt" ausspre-
chen und sah gleich den gefürchteten Schrecken des Abends in seiner
ganzen Gestalt vor mir. Auch Felir und Agnes horchten gleich hoch
auf und unterbrachen ihre für mich so interessante Unterhaltung. Man
war dort bald im Schwunge, die steifen Glasgesichter der Damen
belebten sich, einige der Herren hatten wieder diese oder jene neue
Anekdote von Liszt zu erzählen, von seiner Lebensart, von seinen klei¬
nen und großen Neigungen, von seinen Thaten, seiner Bescheidenheit;
sie brachten aber durchaus den Damen nichts Neues, diese wußten
Alles bis auf die kleinsten Details schon umständlicher und besser.
Alles war nun in den Lisztzauber wie versenkt; doch bemerkte ich,
daß dabei der dampfende Punsch und die Pfannkuchen durchaus nicht
vergessen wurden. Ein junger Mann las ein sechszehnstrophiges Ge¬
dicht auf Liszt vor, das er eigens für den heutigen Abend gemacht
hatte, ein junger Komponist trug eine Phantasie vor: „Liszt am Kla¬
vier", ein junger Maler präsentirte ein Bild, das dieselbe Situation
vorstellte. Der Enthusiasmus, so von der Kunst geschmeichelt und
unterstützt, kannte nun keine Grenzen mehr, alte und junge Damen
und Männer, Alles war hingerissen zum stürmischsten, begeistertsten
Beifall. Besonders sah man dem Herrn Hofrath daS Entzücken über
das tiefsinnige Urtheil an, das seine Agnes über die vorgetragenen
Productionen äußerte. Wie war das gebildete Mädchen erhoben und
hingerissen! — O, wenn Jean Paul noch lebte, lieber Papa, sagte
sie am Schlüsse ihrer langen Rede, was würde er wohl von Liszt
sagen? Eine feierliche Stille verbreitete sich, das Gespräch fing sich
an zu wenden, man kam auf Jean Paul zu sprechen. Ein ernster
junger Mann, der dort im Winkel saß, wagte es, hier ein scharfes,
kritisches Urtheil auszusprechen. Der abgeschmackte, gelehrte Pedant,
hörte ich Agnes leise zu Felir sagen, der sich neben sie gesetzt hatte
und zärtliche Blicke mit ihr wechselte. Jener arme junge Mann, er
war noch kindisch genug, in der guten Gesellschaft ein gutes Urtheil
abgeben zu wollen, noch kindisch genug, das Urtheil dieser Leute für
so gewichtig zu halten, daß er ihnen widersprach! Die Damen hiel¬
ten sich bei seiner eifrigen Auseinandersetzung bald die Tücher vor's
Gesicht, um ihr Gähnen oder Lachen zu verbergen; die Männer aber
fuhren auf ihn los. — Der Mann muß sich noch nicht viel in gu¬
ter Gesellschaft bewegt haben, meinte Agnes zu Felir; sehen Sie nur,
mit welcher Art er widerspricht, wie pöbelhaft er schreit, und wie er
die Arme beim Sprechen in die Luft schleudert. Ich gab ihr im
Herzen Recht. Der junge Mann hatte in seinem Disput den Na¬
men Börne erwähnt. Das war Wasser auf der Mühle, nun ging
es an ein Raisomnren über Börne, über diesen Schwätzer und Schreier,
dem es an der nothwendigsten wissenschaftlichen Bildung gefehlt hätte.
Der junge Mann stritt begeistert für seinen Börne und hob beson¬
ders die Tiefe und den Ernst seiner Ueberzeugung hervor. Wie lä¬
cherlich! In der guten Gesellschaft von Ueberzeugungen zu sprechen,
als ob man da nichts Wichtigeres zu thun Härte, als sich um Ueber¬
zeugungen zu kümmern und sie würdigen zu lernen. Auch der bele¬
senen Agnes, der Verehrerin des classischen Romans „Thomas Thyr-
nau" war dieser Schreihals Börne ein Gräuel. Der fortdau¬
ernde Eifer des jungen FreihcitsmanneS, so wie das naheliegende
Thema führte endlich auf die neueren Tendenzen. Der junge Mann
wagte es, auch hier eine Meinung zu haben. Wie ertravagant, wie
aufgeblasen, wie närrisch man ihn fand, wie man auf die Faseleien
der kindischen Schreier stichelte, die jetzt Alles besser wissen wollten!
Die Philosophie wurde verdammt, daß es eine wahre Lust war,
Hegel ein höchst abgeschmackter Mensch genannt, von dem man nicht
drei Zeilen lesen könne, ohne auf eine Verrücktheit zu stoßen; Schel-
ling aber, der Gott des Tages, der damals gerade berufene, auf echt
loyale Weise hervorgehoben. Der junge Mann sprach' noch immer
mit einem Eifer, als disputire er mit Leuten, denen es wirklich Ernst
um die Sache sei, die wirklich wüßten, was sie sagten, die Alles
gelesen und studirt hätten, worüber sie sprachen, und sich eine Mei¬
nung darüber gebildet hätten. Es war wirklich eine höchst spaßhafte
Komödie, dies Alles mit anzuhören. Felir ergoß sich eben zu seiner
aufmerksamen ZuHörerin in einer geistreichen Schilderung der letzten
Vorlesungen Schelling's. Obwohl Agnes ihm,mit Interesse zuhörte,
als begriffe sie den mysteriösen, tiefen Sinn seiner Worte, merkte ich
doch, daß er selber das Einfachste nicht verstanden hatte. Unterdeß
war dort der Streit noch in voller Gluth. Der junge Mann wollte
sich durchaus nicht zufrieden geben; der Hohn, mit dem man seinem
Enthusiasmus begegnete, fachte seine Wuth nur noch mehr an. Er
vertheidigte Constituiion und Geschwornengerichte, sprach von „servi¬
len Sklaven und Beamtenknechlen", von einem „jungen Morgen",
der aufgehen werde, von den sieben Göttingern, von Jacobi und der
badischen Opposition u. s. w., kurz er emmirte, wie ich bald sah,
die ganze Gesellschaft, und Herr Felir, der so eben neben mir seine
Auseinandersetzung der Schelling'schen Weisheit vollendet hatte und
sich nun, wie er zu Agnes sagte, an dem Geschwätz dort langweilte,
erhob sich, nahm ein Glas zur Hand und rief mit so lauter Stimme,
daß augenblicklich Alles verstummte: Meine Herren und Damen!
Ich fühle mich gedrungen, bei unserem heiteren und schönen Beisam¬
mensein zwei Männern ein Lebehoch zu bringen, die gewiß unsere
tiefste Verehrung verdienen. Es lebe Schelling, der uns aus den
Irrgänger- der falschen Philosophie wieder dem Lichte der Wahrheit
entgegenführt, er, der von unserem allergnädigsten König selbst zum
geistigen Retter der leidenden Menschheit berufen wurde, und Liszt,
Franz Liszt, nicht der Künstler, nicht der Hervorzauberer kühner,
berauschender Töne, nicht der liebenswürdige, bescheidene, begeisternde
Mann von europäischer Bedeutung, sondern Liszt, der Wohlthäter
der leidenden Menschheit, der Helfer der Armen und Nothleidenden!
Er lebe hoch! Hoch! hoch! hoch! erscholl eS von allen Seiten unter
Gläserklirren, daß der Salon erzitterte. Es war das erste Mal, daß
ich eine Berliner Gesellschaft in Bewegung und aus der anständigen
noblen Ruhe hatte kommen sehen. Felir's Augen füllten sich mit
Thränen, und auch Agnes sah mit thränenfeuchten Blicken zu ihm
auf. Der FreihcitSprediger hatte sich schon während des Lebehochs
leise entfernt. Der Arme hatte heute eine bittere Erfahrung gemacht.
So aber geht es Allen, denen die heutige Gesellschaft noch nicht so
gleichgiltig geworden ist, daß sie sie noch bessern wollen, die für Con-
stitutionen und dergleichen liberale Institutionen und Ideen schwär¬
men, mit denen sie, einen alten zerbrochenen Zustand wieder zuflik-
kend, eine Schaar von Schwächlingen, die sich civilisirte Menschheit
nennt, wieder stark machen und auffrischen wollen. Wahrscheinlich
geht der junge Mann nur von hier weg, um anderwärts heute oder
morgen wieder denselben Scandal und dieselbe Langeweile hervorzu^
rufen.
Nach seinem Verschwinden war die Gesellschaft wieder unge¬
stört in ihrem Elemente; man fällte seine Urtheile, sprach über Cha-
misso, Friedrich Förster, Godwin-Castle und das französische Theater
u. s. w., kam wieder aus Liszt, und als sich Herr Felir endlich an
das Klavier setzte, empfahl ich mich ganz unbemerkt, denn eS war
schon drei Viertel auf zehn und ich hatte meinen Freunden verspro¬
chen, sie um zehn Uhr auf einem Kaffeehause zu treffen, um mit ih¬
nen zu überlegen, was von da an heute noch anzufangen sei.
Noch voller Humor über die Ereignisse des Abends, wußte ich
durch eine Schilderung derselben die Heiterkeit meiner Freunde
so zu wecken, daß wir für's Erste beschlossen, Streifzüge durch die
Stadt zu machen, uns ungebundener Lustigkeit hinzugeben und hin¬
einzufallen, wo es uns beliebe. Fort und immer der Nase nach!
hieß es. Ich hatte heute Abend der einen Seite unseres Philiste¬
rtums einen Besuch abgestattet, ich wollte nun einmal wieder die an¬
dere in ihrer Glorie, wollte den' Philister sehen, wie er sich, weil eS
Fastnacht ist, ein Vergnügen und ein Gläschen mehr erlaubt.
Aus einer bekannten Bierkneipe in der B.straße hörten wir lau¬
ten Gesang erschallen. Wir traten näher. Das Zimmer war von
einem Tabaksdampf erfüllt, daß man kaum durchsehen konnte. Die
jüngeren Stammgäste, meistens Studenten, hatten sich hier in lusti¬
ger Gesellschaft um einen tüchtigen Punsch versammelt, der schon
seine gute Wirkung gethan hatte. Denn die Herren, die meistens
in Hemdärmeln dasaßen, trommelten mit einem fürchterlichen Getöse
auf "die Tische, schlugen mit den Messern an die Gläser und sangen
mit brüllender Stimme ein Lied mit, das die Sängerin, die keine
andere, als meine Hausgenossin Emilie war, eben vortrug. DaS
Lied war gerade nicht von der moralischsten Sorte, und die Gesell¬
schaft des Herrn Hofraths hätte es wohl nicht gnädig aufgenommen.
Die lustigen jungen Leute aber waren, als es beendigt war, ganz
außer sich vor Jubel, drangen auf Emilien ein und erdrückten sie
fast mit ihren Liebkosungen und Umarmungen. Diese war übrigens
ihrerseits sehr lustiger, ausgelassener Stimmung und schien nebst ih¬
rem Begleiter, Herrn Alir, dem in Masse gereichten Punsch wacker
zugesprochen zu haben. Eben hatte sie wieder ein großes Glas in
einem Zuge geleert, als sie mich bemerkte, mir um den Hals fiel
und mich stolz als ihren Hausgenossen begrüßte; darauf nahm sie
die Guitarre wieder, setzte sich zu den jungen Leuten an den Tisch,
mit ihnen weiter zu singen und zu trinken. Herr Alir schien die lu¬
stige Stimmung derselben zu benutzen und ging immerwährend mit
dem Notenblatt umher, auf das ich Vier- und Achtgroschenstücke in
Menge werfen sah. Emilie sah heute wirklich recht gut aus, denn
die Schminke, die sie wahrscheinlich des Abends immer auf ihr tod-
tenbleiches Gesicht legte, ließ Spuren von Schönheit in demselben er¬
kennen, die noch nicht lange verwischt sein konnte. Wir mischten
uns noch einige Zeit unter den Jubel, halfen mit schreien und Glä¬
ser und Scheiben zerbrechen, und entfernten uns erst beim Beginne
einer kleinen Schlägerei, um uns das weitere Vergnügen der Nacht
nicht zu stören. Wir wollten noch mehr sehen und erleben, nahmen
Dominos und gingen in das Colosseum.
Welch ein Menschenmeer dort bunt durcheinander wogte! Das
glänzende Colosseum gewährt an solchem Abend wirklich einen über¬
raschenden, einen wunderbar schönen Anblick. In allen Gängen und
Nebenzimmern, auf allen Galerien drängten und tummelten sich die
Masken, in jedem der beiden Säle erscholl die rauschende Musik
eines besonderen Orchesters, zu der wieder Hunderte von Paaren,
von einer dichtgedrängten Zuschauermasse umgeben, in Hast und Eile
hin- und herras'ten. Im Tunnel, dieser weiten unterirdischen Halle,
war man schon demaskirt bei Tische. Auf den letzten Stufen der
Treppe drang uns schon das wilde Geschrei und der Weindunst ent¬
gegen. Welch ein unabsehbares breites Meer voll leidenschaftlicher,
tobender Lust, welch ohrzerreißendes Getöse und Gläscrklirren. Hoch
knallten unzählige Champagnerpfropfen, in betäubendem Gemisch san¬
gen, schrien, kaltem, jubelten unzählige Stimmen durcheinander, glänz¬
ten den Eintretenden Hunderte von rothen, glühenden Gesichtern ent¬
gegen. Juchhe! kam eine schlanke Türkin auf uns zu, hierher, Ihr
da, ich heiße Emma, Ihr müßt mit uns trinken, Kinder, es ist noch
viel, zu viel da. Wir mußten wohl der Aufforderung schnell gehorchen,
wenn wir nicht Scandal haben und das verhängnißvolle „Raus,
Raus" ertönen hören wollten. Das junge Mädchen setzte sich auf
den Schooß ihres schon halb schlummernden Begleiters und trank
uns den Champagner zu. Ueberall um uns her erblickten wir die
sonderbarsten Gruppen und Situationen, denn die meisten dieser Her¬
ren und Damen waren schon tüchtig berauscht und besonders wurden
die letzteren in diesem Zustande von ihren vornehmen Begleitern auf
das schonungsloseste malträtirt. Viele hatten gar ihre Begleiter
verloren und riefen angstvoll ihre Namen, bis wieder Andere so
barmherzig waren, sich ihrer anzunehmen. Nun zu all diesem Lärm
das Rauschen der Musik, das ganze Getöse der tanzenden, sich tum¬
melnden, jubelnden Menge, das aus den oberen Sälen hier dumpf
herabtönte! Es war, als wenn ein großes Heer von Verrückten dem
Tollhause entsprungen wäre und hier in dem dunklen Bewußtsein,
morgen doch wieder in die Jammerenstenz zurückkehren zu müssen,
sich auf Augenblicke der Lustigkeit hingäbe! Mit so leidenschaftlicher,
unnatürlicher Hast schlürften sie Alle die kurze Freude, als wäre es
das letzte Mal, daß sie lustig sein konnten; als wollten sie sich dem
ewigen Schlafe in die Arme jubeln. Ich hatte mich von meinen
Freunden losgemacht, stieg wieder die Treppe hinauf und lehnte
mich an die Thüre des großen Saals, dem Tanze zuzusehen. Wie
sie rasen und toben, wie sie sich drehen und jubeln, dachte ich. An
welchen Plätzen und Orten findet die Meisten der Morgen? Ich
mochte wohl hier eine halbe Stunde gestanden haben und war eben
damit beschäftigt, die vor mir aufgepflanzten Tänzer zu beobachten,
die, noch ganz erhitzt und kochend, auf den Augenblick warteten, wo
die Reihe an sie kam, sich wieder in den Tanz zu stürzen, als ich
in ihrer Mitte eine Dame im blauen Domino sich von ihrem höchst
eleganten Tänzer losreißen und gerade auf mich zuschreiten sah. Sie
stellte sich vor mir hin, betrachtete mich von allen Seiten, hob end¬
lich den schwarzen Flor vor meiner Maske in die Höhe und schrieb
mir darauf meinen Namen in die Hand. — Sie kennen mich wohl
durchaus nicht, hob sie an, nachdem ich vergebens hin- und herge¬
sonnen hatte. Nun hörte ich erst an der Stimme, daß es Mathilde
war. Auch sie war vom Wein und Tanz erhitzt, zog mich einige
Schritte mit sich fort, um mit mir zu tanzen, gewahrte aber in dem¬
selben Augenblick ihren Begleiter und hielt inne. Sie erzählte mir
noch, daß sie nun bald ihr Glück machen werde; sie sei seit einer
Woche nicht mehr in dem Conditorladen, ein Gesandtschaftssecretär
habe sich in sie verliebt, von dort weggenommen und wolle sie hei-
rathen. Er habe ihr schon eine prächtige Wohnung gemiethet, werde
aber in einigen Monaten mit ihr nach Paris gehen, wo sie Hoch¬
zeit machen wollten. Sie lebe übrigens schon jetzt fidel und vergnügt,
wie Gott in Frankreich. Als sie noch so sprach, hüpfte durch die
Thüre ein Maskenpaar in sauberer Tyrolertracht an uns vorüber,
sogleich dem Tanze zu. Die kommen spät, sagte Mathilde. Und
wissen Sie auch, wer sie sind? Ich habe sie gleich erkannt, das ist
kein Anderer, als der noble Herr Mir mit seiner Emilie, Ihrer Haus-
genossin. Haben heute Abend gewiß viel verdient, und nun geht'S
noch spät auf den Ball. Sehen Sie nur, wie eilig sie's haben, wie
sie dort schon tanzen! Mit diesen Worten hüpfte sie schnell zu ihrem
Begleiter zurück, ohne daß ich noch mit ihr sprechen konnte. In der
That sah ich Alir mit Emilien sich schon im wüthenden Tanze dre¬
hen. Um mich von dem Tumult etwas zu erholen, stieg ich in die
stilleren, kühleren Säle der Galerie hinauf. Hier saßen nur einige
verliebte Paare, ohne Masken, auf den Divans umher. Ich hatte
mich eben, ermüdet, in einen Winkel gedrückt, um ein wenig auszu¬
ruhen, als ich neben mir einige sehr laute Küsse fallen hörte. Ich
schlage die Augen auf, und wen erblicke ich? Wieder einen Haus¬
genossen, den sentimentalen, ewig verliebten Schreiber in rosafarbe¬
nen Domino, der den Arm fest um den Hals einer Fledermaus ge¬
schlungen hatte und mit aller Gluth das hohe Glück genoß, das
ihm heute Abend zu Theil geworden. Die Holde, die er gefunden,
mochte wohl etwas weit über die dreißig hinaus sein, hatte von Lie-
besgluth oder Schminke auffallend geröthete Wangen, lange, blonde
Locken, und erwiederte seine stürmischen Liebkosungen züchtig und mit
wahrhaft jungfräulicher Schüchternheit. ES machte mir unendlichen
Spaß, unerkannt und unbemerkt dieser komischen Scene zuzuschauen!
Endlich sagte die Schöne ganz verschämt, daß sie hinuntergehen und
ihren Bruder suchen wolle, da sie Hunger habe. Ich sah den Schrei¬
ber ängstlich in seine Taschen greifen. Nach einer Pause meinte er,
sie solle nur einstweilen hinuntergehen, er werde ihr gleich nachfolgen.
Der arme, galante Schreiber saß wieder trübsinnig, allein und ver¬
lassen da. Doch hatte mich der Hunger der Dame an ein ähnliches
Bedürfniß erinnert, das ich zu spüren begann; ich stieg wie¬
der in den Tunnel hinab, meine Freunde aufzusuchen und mit ihnen
zu speisen. Diejenigen, die ich vorhin hier so munter gesehen hatte,
waren schon stiller geworden, aber neue Lärmmacher an ihre Stelle
gerückt, das ganze Bacchanal war nur noch bunter und mannichfalti-
ger geworden Die meisten der Mädchen, die früher hier gesessen
hatten, waren entweder trunken wieder hinauf in den Tanz gestürmt,
oder lagen an die Schulter ihrer Begleiter gelehnt und schliefen.
Doch mußten sie so gewöhnlich den sich immer neu Hcrzudrängenden
nach heftigen Debatten den Platz räumen. Auch Mathilde sah ich
aus der Feine ausgelassen und laut lachend beim Champagner sitzen.
O Fakir, wenn Du hier an meiner Stelle wärest, wenn Du sie sehen
könntest, wie blühend, wie reizend sie ist, wie glücklich und selbstzu¬
frieden sie da sitzt, mit welch kecker Liebenswürdigkeit sie das Cham¬
pagnerglas an den kleinen Mund setzt, wie ihr eleganter Begleiter
sie lachend und entzückt an heilt Herz drückt.' Du edler Menschen¬
freund ! Du würdest Thränen der Freude vergießen, würdest, wie über
die Werke eines Schelling und Liszt, so auch über Dein eigenes
Werk stiller Wohlthätigkeit staunen. Niemand kennt die Thaten Dei¬
nes mitleidigen Herzens, Du verübst sie, unbemerkt und unbeachtet,
in der Stille, Du sprichst nicht von ihnen, verschmähst den Ruhm,
die öffentlichen Danksagungen und Orden. Du hast Dich von Dei¬
nem hohen Standpunkt herab für das Schicksal eines armen Mäd¬
chens interessirt, hast sie ihrer unsauberen Umgebung, hast sie der
Straße und dem Bordell entrissen, nur Du bist die Ursache, daß die
Hausirende Schwefelholzhändlerin zu einer Conditormamsell, und von
der Conditormamsell nun gar die Geliebte eines Legationssecretärö
geworden ist. Und wenn sie nun erst die Frau deS reichen, vorneh¬
men Mannes ist und in glänzender Equipage an Dir vorüberfährt!
O dann erst —
Ich hatte schon länger, als eine Stunde mit meinen Freun¬
den unter der jubelnden Tischgesellschaft gesessen, als wir mit einem
Male an der oberen Ecke des colossalen Gewölbes ein verworrenes
Geschrei vernahmen. Es ist dies hier nichts Auffallendes, und man
sieht sich gewöhnlich gar nicht darnach um. Doch vermehrte sich der
Lärm, und Alles stand auf, nachzusehen. „Raus, Raus mit dem
Hallunken, die Polizei her, Polizei! Polizei!" erscholl es. Auch wir
drängten uns hin und sahen einen jungen Mann, der vergebens An¬
strengungen machte, seine Hände von den Unzähligen, die ihn fest¬
hielten und umringten, zu befreien. Ich erkannte in ihm meinen Stie¬
felputzer, Herrn Alir. Hinter dem Gedränge hörten wir eine weib¬
liche Stimme in abgebrochenen Tönen fürchterlich schreien und jam¬
mern; ich vermuthete richtig, daß dies Emilie sei. So eben erschie¬
nen einige Gensdarmen, Herrn Alir festzunehmen und wegzuführen.
Jetzt wollte ich nur das arme Mädchen retten. Ich drängte mich
hindurch und fand sie am Fußboden, in Krämpfen liegend, an denen
sie, wie mir die Wirthin schon gesagt hatte, sehr häufig litt.
Es kostete viele Mühe, sie zum Leben zurückzubringen. Als sie sich
einigermaßen erholt hatte, führte ich sie hinab, setzte sie in eine
Droschke und fuhr mit ihr nach Hause. Beim Aussteigen bemerkte
ich, daß sie noch immer zu matt war, um allein gehen zu können,
und obwohl sie auf dem Hausflur zögerte und sich anstrengte, sich
von mir zu verabschieden, mußte ich sie doch bis zu ihrem Zimmer
begleiten. Wir stiegen die Kellertreppe hinab und kamen durch meh¬
rere stockfinstere Gänge, aus denen mir ein feuchter Erdgeruch ent¬
gegendrang. Als wir endlich im Zimmer waren und ich mit einem
Streichhölzchen die Lampe auf dem Tische angezündet hatte, konnte
ich mir wohl erklären, warum die ambitiöse Berlinerin mich nicht
hatte mit hinabnehmen wollen. Sie war auch, als ich sie an
jenem Abend zum ersten Male sprach, deshalb erst auf den Hof ge¬
gangen. Es war dies nämlich nicht eine von jenen zierlichen, Hoch¬
herauf gebauten, mehr dem Tageslichte zugekehrten Kellerwohnungen,
wie sie sich in vielen Berliner Häusern unter dem Namen souter¬
rains befinden, sondern der Raum, der in andern Häusern zum Auf¬
enthaltsort von Kartoffeln und anderem dergleichen Bedarf bestimmt
ist, war in dem Hause des Herrn Wonnig noch eine Wohnung
für Menschen. Er selbst hatte mit seinen kleinen Kindern in einem
dieser Gewölbe gewohnt, bevor er oben das Stübchen der Professo¬
rin bezogen. Das sogenannte Zimmer, in dem ich mich befand, war
ziemlich lang, doch so niedrig, daß ich mich setzen oder bücken mußte,
um nicht mit dem Kopf an die Decke zu stoßen; in die Kellerlöcher,
die sonst offen bleiben, hatte man kleine Glasscheiben eingesetzt, und
als ich die Wände betastete, wurde mir die Hand von der herab¬
rieselnden Feuchtigkeit naß. In diesem Zimmer lag die schlanke Ty-
rolerin, die sich noch vor einigen Stunden so lustig durch die Säle
des Colosseums gedreht hatte, noch im vollen Maskenputze halb ohn¬
mächtig auf dem Sopha. Sie war noch immer so schwach und be¬
täubt, daß sie weder sprechen, noch meine Fragen und Tröstungen
hören konnte. Endlich richtete sie sich auf und bat mich, sie zu ver¬
lassen. Ich ging mit dem Versprechen, mich am anderen Morgen
wieder nach ihr zu erkundigen.
Als ich in aller Frühe wieder hinabgestiegen war und mich
glücklich durch die finsteren Gänge hindurchgewunden hatte, traute
ich meinen Augen kaum, als ich Herrn Alir lang ausgestreckt auf
dem Sopha liegen und in aller Seelenruhe seine Cigarre rauchen
sah. Er stand auf und dankte mir kurz für die Freundlichkeit, die
ich seiner „Braut" bewiesen hätte. Diese lag im Bett und sah so
bleich und krank aus, daß ich kaum die rothwangige lustige Dirne
vom gestrigen Abend wieder in ihr erkannte. Die Mutter, die Nachts
außer dem Hause gewaschen hatte und oben am Fenster mit Stopfen
beschäftigt war, schien sehr gleichgiltig dagegen, ja sie warf mir so¬
gar einen verdrießlichen Blick zu, als ich sagte, daß ihre Tochter
jetzt mehrere Abende wohl nicht werde ausgehen dürfen. — Sie
glaubten mich schon recht fest zu haben, sagte Herr Alir, ich bin ih¬
nen aber in dem Gedräng so geschickt entwischt, daß sie gewiß jetzt
noch ganz verwundert dastehen. Obwohl ich Nichts gethan habe,
weshalb ich bestraft werden könnte, so ist es doch kein Vergnügen,
da vier Wochen lang in einem drei Ellen langen Loche in Untersu¬
chung zu sitzen. Ich habe das schon einmal mitgemacht, als ich dem
Hund von Fabrikherrn, da er den Arbeitslohn so herabdrückte, daß
wir unmöglich davon eriitiren konnten, in'ö Gesicht, gespien hatte.
Ich wollte mich eben nach den näheren Beweggründen seines gestri¬
gen Scandals erkundigen, als mir Emilie winkte, meine Hand er¬
griff, sie heftig drückte und sich unter Thränen bei mir bedankte. ES
mochte wohl dem armen Mädchen noch nicht vorgekommen sein, daß
ihr Jemand eine wirkliche Theilnahme bewiesen hatte. Jetzt aber
hatte ich erst Zeit gewonnen, mich ein Mal in dein nur wenig
durch das Tageslicht beleuchteten Zimmer umzusehen. Die Leute
hatten viele Möbel, die wohl zwei Zimmer ausgestattet hätten; hier
mußten sie nothwendig verderben, denn die kahlen Kellerwände wa¬
ren mit Schwamm und einer dicken, grünlichen Feuchtigkeit überzogen,
und die ganze Atmosphäre so dumpf und schwer, daß nicht einmal
das Holz, geschweige der Mensch gesund bleiben konnte. Der Fu߬
boden war mit schwarzer Wäsche bedeckt, auf einem Stuhle lag die
Guitarre, auf einem anderen der Tvroleranzug von gestern Abend,
auf einem dritten etwas Brod und Butter nebst einer hohen Schnaps-
flasche, Alles im bunten Wirrwarr unter einander. Emiliens lautes
Stöhnen störte mich bald aus meinen stillen Beobachtungen. Der
Fieberfrost fing an, sie so tüchtig zu durchschütteln und ihre Zähne
an einander zu schlagen, daß ich hinaufging, einen Arzt rufen zu
lassen.
Als ich, diesen erwartend, nach einer Stunde etwa an meinem
Fenster stand, sah ich Herrn Alir, von zwei Gensvarmen geführt,
aus dem Hause treten. Er war also der Polizei nicht entwischt, sie
hatte ihn zu finden gewußt. Was mag er verbrochen haben? Ich
hätte es gern gewußt, doch konnte ich Emilien in ihrer Krankheit
nicht darnach fragen.
Familiengeschäfte nöthigten mich damals zu einer schleunigen
Reise in die Umgegend Berlins. Da ich nicht berechnen konnte, wie
lange mich das aufhalten würde, mußte ich meine sonderbare Woh¬
nung kündigen. Die letzte Nacht verbrachte ich noch mit meinem
alten poetischen Freunde, der so wehmüthig heiter war, daß er mit
lauter Stimme seine alten Jugendlieder sang. Emilie war auf den?
Wege der Besserung, als ich abreiste, doch sagte mir der Arzt, daß
sie in dieser Wohnung nie gesund werden könnte.
Es war schon hoher Frühling, als ich nach Berlin zurückkehrte,
und wenn es in Berlin Frühling wird und die Bäume zu blühen
anfangen, da ist es Einem, als wäre der Winter mit allen seinen
Freuden, mit seinen interessanten und uninteressanter Seiten und Er¬
lebnissen, Nichts als ein trüber, wüster Traum gewesen, den man
gern vergißt. Ich denke in Berlin nicht gern an den vergangenen
Winter, weil mir dabei der nächstfolgende immer wieder einfällt.
Dazu kam ich diesmal vom Lande und konnte mich deshalb nicht
entschließen, mich in der dumpfen Stadt einzusperren, noch dem Won-
nig'schen Hause einen Besuch" abzustatten und dort Erkundigungen
einzuziehen. Ich bezog eine Sommerwohnung vor dem Schönhäuser
Thore, und da meine Freunde mich dort des Abends besuchten, kam
ich fast gar nicht nach der Stadt.
So war denn das Mottensest herangekommen, eines jener Som-
merfeste Berlins, wo die Schönhäuser Allee, der ganze Weg nach
Pankow und die an demselben liegenden Tabagien von Tausenden
von Spaziergängern und Gästen wimmeln. Man sieht an solchen
Tagen das Berliner Volk der unschuldigen Naturfreude sich hingeben
und possierliche Idyllen aufführen. Unabsehbare Wagenreihen fuhren
nach Pankow hinab und wirbelten den lustschnappenden, geputzten
Fußgängern, so wie denen, die sich mit ihren Schnapsflaschen und
Würsten schon am Wege und auf den Feldern massenweise gelagert
hatten, hohe Staubwolken in's Gesicht. Nachdem wir vom Fenster
aus lange genug dem bunten, lärmenden Schauspiel zugesehen und
die sich wälzenden Massen beobachtet hatten, beschlossen wir, auch
nach Pankow aufzubrechen, auf dem Wege dahin aber erst die Runde
durch verschiedene der interessantesten Locale zu machen. Zuerst stie-
gen wir auf den seitwärts liegenden Windmühlenberg. Wer kennt
in Berlin nicht Wurst's Local, jenen Ort, wo man den erhebenden
Genuß hat, auf einer lieblichen Anhöhe, umgeben vom sanften Ge¬
räusch hoher Windmühlen, bei Bratwurst, Liqueur und Weißbier die
herrlichste Janitscharenmusik zu hören; wo jetzt selbst die dramatische
Kunst sich einen Tempel erbaut hat, wo man in „Thalia" den Faust
von Klinger und die Toni von Körner unter vielen Thränen und
bengalischen Feuer aufführt? Dieser Erholungsort des Berliner Volkes
war es, in den wir zuerst eintraten. Der Garten war heute beson¬
ders gefüllt, die verschiedenartigsten, possierlichsten Toiletten drängten
sich bunt durcheinander, besonders amüsirten mich viele der älteren,
sehr geputzten Frauen, die, an dem Arm ihrer Gatten einherstolzierend,
den großen seidenen Pompadour gewöhnlich nicht in einer sehr
rein gewaschenen Hand hielten. Auch einige Gensdarmen mischten
sich heute recht gesellig unter die kleinen Bürger, die diese Herablas¬
sung freudig anzuerkennen schienen. Wie groß war aber meine Freude,
als ich am oberen Ende deö Gartens aus zwei riesigen Patermördern
eine hochrothe Nase hervorschimmern sah, die nur gleich bekannt schien.
Die Nase des Herrn Wonnig mußte sich so fest meinem Gedächtnisse
eingeprägt haben, daß ich sie augenblicklich unter Hunderten wieder
erkannte, denn, wie gesagt, sein übriges Gesicht konnte ich nicht se¬
hen, dies war fast bis zu den Augenbraunen von den Vatermördern
bedeckt. Zu dem hellblauen Frack rin gro en gelben Knöpfen, sehr
rein gewaschenen gelben Ncmkinhosen, ein ebenfalls hellgelbes Tuch
zierlich um den Hals geschlungen, auf dem Kopf den kleinen rictu- -
chen Sountagshut, so saß Herr Wonnig, mit dem Rücken gerade an
die Bretterwand Thalia's gelehnt, steif und unbeweglich da, neben
sich seine Familie, die sich ebenfalls im größten Feststaate um eine
hohe Weißbierkanne versammelt hatte. Denn Madame Wonnig hatte
heute das apfelgrüne Seidenkleid und das große Umschlagetuch her¬
vorgeholt und ihr Haupt mit der hohen stolzen Haube geschmückt,
auf der unzählige von rosafarbenen Schleifen sich stolz bewegten.
Ich kannte diese Kostbarkeiten schon, denn ich hatte sie im vergange¬
nen Winter immer mit ihrem Manne zanken hören, daß sie nun auch
dies habe versetzen müssen und zu Weihnachten nicht habe in die
Kirche gehen können. Madame Wonnig bemerkte mich bald, und es
trieb mich auch, zu ihnen an den Tisch zu gehen. — Meine
Frau sagt, daß man den Kindern einmal ein Vergnügen machen
muß, meinte Herr Wonnig, ohne mich anzusehen, da ich an der Seite
stand und er den Kopf in den Vatermördern nicht bewegen konnte.
Madame Wonnig fing mir mit ihrer bald in Bewegung gesetzten,
sehr geschäftigen Zunge zu erzählen an. Für's Erste eine Trauer¬
nachricht, die mich sehr wehmüthig berührte. Mein alter Freund im
Dachstübchen war gestorben. Schon lange hatte er krank und elend
ausgesehen und von seinem nahen Tode gesprochen. Endlich fand
man ihn an einem schonen Maimorgen todt am Schreibtisch, nach¬
dem er noch in der Nacht seine Promenade gemacht hatte. Sein
Nachlaß bestand in den dünnen Kleidungsstücken, die er täglich trug,
drei zerrissenen Hemden, einem Achtgroschenstück und einem großen,
eingesiegelten Buch, an mich adressirt. Sein Verwandter, ver Ein¬
zige, der ihn zu seiner letzten Ruhestätte begleitete, hatte dieses Ver-
mächtnisses wegen Madame Wonnig schon öfter nach meiner Woh¬
nung gefragt. Emilie war seit jenem Krankheitsanfall nicht wieder
gesund geworden. Sie wankte zwar noch mehrere Male des Abends
mit der Guitarre fort, wurde aber dann gewöhnlich ohnmächtig und
in Krämpfen nach Hause gebracht. Da sie so Nichts mehr verdie¬
nen konnte und ihrer Mutter zur Last zu werden anfing, wurde sie
von derselben als eine „faule, liederliche Dirne" zur Thüre hinaus¬
geprügelt. Sie konnte sich nicht entschließen, sich noch einmal dieser
Behandlung auszusetzen und zurückzukehren. Im heftigsten Fieber¬
anfall lief sie zu einem Weinhändler, der früher, als sie ihm noch
die Gäste anzog und mit ihnen singen und trinken konnte, immer sehr
freundlich gegen sie gewesen war. Sie bat ihn um ein Nachtlager,
er aber sagte, daß er solche liederliche Brut in seinem Hause nicht
dulden könne. Mir, der einzige Mensch, der sich ihrer angenommen
Hütte, war nicht mehr da, er hatte unterdeß freie Wohnung und Kost
in Spandau erhalten, da man eine Uhr, die ein Herr an jenem Abend
im Colosseum vermißte, wirklich bei ihm gefunden hatte. Am ande¬
ren Morgen fand man Emilien, ihre Guitarre in der Hand, bewußt¬
los und dem Tode nahe auf einer Bank im Thiergarten. Man
brachte sie von da in die Charitv, wo sie bald darauf starb. Ihren
Leichnam hat die Anatomie erhalten. — Der Schreiber wohnte noch
in demselben Zimmer und hatte jetzt ein zartes Verhältniß mit einer
Hausgenossin angeknüpft, die er täglich spazieren führte. Der Glück¬
liche! Auf meine Frage, ob sie Nichts wieder von Mathilden gehört
habe, rümpfte Madame Wonnig etwas verächtlich die Nase und er¬
zählte mir, daß sie jetzt dicht neben ihrem Hause in einem meub-
lirten Zimmer wohne, da der Gesandtschaftssecretär ohne sie nach
Paris gereist sei.
Dies waren die letzten Nachrichten, die ich über die merkwür¬
dige Bewohnerschaft des originellen Häuschens erfahren habe, an
dem ich niemals vorübergehe, ohne daran zu denken, welche neue
originelle Personen, welche neue Welt ewig wechselnder geheimer Er¬
eignisse es wohl jetzt in seinem kleinen abgeschlossenen Raume bergen
mag.
Das Vermächtnis; des Alten habe ich mir geholt. Es war
seine Lebensgeschichte nebst einem Briefe, in welchem er mir erlaubt,
dieselbe der Oeffentlichkeit zu übergeben. Ich werde nächstens einen
Auszug aus derselben mittheilen, der als Zeugniß schon untergegan¬
gener Zustände und Richtungen, aus denen der alte Mann als eine
kräftige Ruine einsam in unserer neubewegten Zeit übrig geblieben
war, manchem unserer Leser nicht uninteressant sein wird.
Mathilde habe ich seitdem öfter gesehen. Sie trägt seidene Klei¬
der und schöne Hüte und Schleier. Man sieht sie gewöhnlich in
den Concerten bei Günther's und Abends unter den Linden, jetzt
noch bewundert, lorgnettirt und verfolgt, bald wahrscheinlich nicht
mehr angesehen, arm und vergessen. Denn in der That hat für den,
der sie früher kannte, ihre Schönheit schon bedeutend an Frische und
jugendlichem Glanz verloren. Guter Felir! wenn Du ihr so auf
der Straße begegnest, was fühlt wohl Dein großes, weites Herz bei
ihrem Anblick? Sieh, was das arme Schwefelholzkind, die Du ge¬
rettet, durch Dich nicht Alles geworden ist! Jetzt sogar die verlassene
Geliebte eines vornehmen, adeligen Gesandtschaftssecretärs. Was
kann sie nun wohl noch werden? Ja, ja, Du hast sie, wenn auch
nicht der Straße, doch bis jetzt wenigstens dem Bordell entrissen.
Das ist und bleibt Dein Verdienst.
Herr Felir, den ich neulich gesprochen habe, ist übrigens über¬
glücklich und schwebt in allen sieben Himmeln. Er ist jetzt der von
den hochgestellten Männern Beneidete, der erwählte Bräutigam der
reichen, gebildeten, reizenden Agnes, und will, wie er mir sagt, gleich
nach seiner Hochzeit in den Schwanenorden treten, um so noch bes¬
ser als bisher der leidenden Menschheit seine Hilfe zu weihen.
- Der Aufsatz „die Hoflammer in Wien", welchen die Grenzboten
vor Kurzem enthielten,») macht bei so manchen interessanten und
zum Theil wenig bekannten Daten wohl so wenig Anspruch darauf, eine
erschöpfende Darstellung des darin berührten wichtigen Abschnitts aus
Oesterreichs Finanzgeschichte zu geben, daß die Kritik mit dem Ver¬
fasser nicht rechten darf, wenn er mit Hervorhebung mehrerer min¬
der bedeutenden Momente über erheblichere und folgenreichere hinweg¬
glitt, vielleicht weil ihm der rechte Standpunkt abging, um sie in
ihrem Zusammenhang zu erfassen und zu würdigen; vielleicht weil
mancher davon sich in seiner inhaltschweren Wichtigkeit nur einem
kleineren Kreise unverhüllt darstellte.
Ein Zeitgenosse jener denkwürdigen Uebergangsperiode stand ich
in Verhältnissen, welche mich veranlaßten, an allen Bewegungen der¬
selben denkenden und thätigen Antheil zu nehmen, daher so man¬
ches der Aufzeichnung Werthe meinem Gedächtnisse aufbewahrt blieb.
Ich finde mich hierdurch aufgefordert, Gegenwärtiges zunächst zur
Berichtigung und Vervollständigung jenes Artikels hier mitzutheilen,
wobei es jedoch auch von meiner Seite nur auf eine Skizze abge¬
sehen sein kann.
Ohne in die Darstellungsweise des früheren Berichterstatters ein¬
zugehen, aber mit dem Wunsche, nichts von dem dort Gesagten wie¬
derholt in Anregung zu bringen, glaube ich den Ueberblick über den
zu berührenden Gegenstand dadurch zu erleichtern, daß ich „suo ir-»
odie" die unmittelbar vorhergegangene Verwaltung von I8Z5
bis 1840 gegen die jetzige nach den drei Momenten des Finanz-,
des Bank- und des Mercantilwesens halte, mir dabei die Selbstbe¬
schränkung auferlegend, nur einige schärfer charakterisirende Züge
hervorzuheben.
Im Finanzwesen steht hier oben an, daß die frühere Ver¬
waltung es für angemessen fand, im Jahr 1835 bei dem eingetrete¬
nen Bedürfniß einer neuen Anleihe mit einer in Oesterreich ganz
neuen Papiergattung, den drei pro neuligen Metalliquesob-
ligationen, hervorzutreten. Von einem so niedrigen Zinsfuße war
in diesem Staate noch nicht die Rede gewesen, denn die Reducirung
der ältern Staatsschuld und die in den Jahren 1815 und 1816 cre-
irten zwei und ein halb procentigen und einprocentigen Metalliqueö
können als complicirte Operationen aus dem Zusammenhang, in wel¬
chem sie mit anderen standen, nicht gerissen werden, und namentlich
war man bei den letzteren so entfernt, an ihr Erheben oder näher¬
bringen zum Paricurse zu denken, daß sie durch lange Jahre auf
einem Standpunkte verblieben, welcher den Käufern eine sehr ergie¬
bige Rente gewährte und auch jetzt noch im Verhältniß zu Papieren
in höherm Zins stehen. Hatten nun selbst die andern, in ihrem
Finanzwesen weniger verwickelten deutschen Staaten und selbst Preußen
eS noch nicht gewagt, mit einem auf so niedrigen Zinsfuß basirten
Papier hervorzutreten, so vermochte dies die damalige Finanz-Ver¬
waltung nicht abzuschrecken, da sie vielleicht ein höherer Ehrgeiz be¬
wog, auf das Vorbild Englands und Frankreichs hinzublicken, und
sie auf die ganz verschiedenen Geld- und Handelsverhältnisse keine
Rücksicht nehmen zu müssen glaubte.
Und siehe da! das Meisterstück gelang vollkommen! Ein An¬
sehen von dreißig Millionen in dreiprocentigen Metalliques-Obliga¬
tionen ward mit den ersten Banquiers-Häusern abgeschlossen; die
Häuser zweiten und dritten Ranges rissen sich wie gewöhnlich um
Betheiligung an demselben, denn allüberall gilt es: „Wo die Könige
bauen, haben die Kärrner zu thun." Und wenn auch von dem offi-
ciellen Negotiatwnöcours von fünfundsiebzig einige Procente unter
der Form von Zinsbenisicationen herabgingen, so hatte doch die Ver¬
waltung die Genugthuung, ein Anlehen zu vier Procent und einem
nur sehr unerheblichen Bruchtheile contrahirt zu haben. Das ist noch
nicht Alles; die neuen dreiprocentigen Metalliques stellten sich bald
gegen achtzig, ja selbst bis dreiundachtzig und waren dadurch auf
eine kurze Zeit beinahe mit den französischen dreiprocentigen gleich,
was in der That unglaublich geschienen hatte. Welch ein Triumph!
Und dennoch hat die damalige Finanzverwaltung eine kostspie¬
ligere Operation gemacht, als seit langer Zeit und zu ungleich be¬
denklicheren Epochen der Fall gewesen. Dieser scheinbare Widerspruch
löst sich bald.
Das neue dreiprocentige Papier fand gar keinen Anklang beim
größeren Publicum, das sich, schon durch die Ziffer deS Nominal¬
zinsfußes abgeschreckt, davon ferne hielt. Allerdings schien es vor¬
theilhafter, dreiprocentige Metalliques it 75—80, als vicrprocentige
Metalliques it 96—100 zu kaufen, weil der etwaige ganz unbedeu¬
tende Unterschied im Zins reichlich durch die Gewinnchancen aufge¬
wogen schien, welche das dreiprocentige Papier in dem längeren
Steigweg zum Paricurse gegen das vicrprocentige darbot. Dazu aber
hätte man die österreichischen Rentiers erst zu der ungewohnten Ope¬
ration des CalculirenS bringen müssen, und daß sie sich hiezu nicht
bequemten, beweist die in den damaligen Jahrbüchern der Börse,
vulx» Courszettel genannt, oft sich wiederholende Anomalie, daß
vierprocentige Metalliques, selbst dem Zinsfuß nach, höher als drei¬
procentige Metalliques standen. Daß aber letzteres Papier sich trotz
so entschiedener Ungunst auf die mit diesen und den übrigen Verhält¬
nissen nicht zusaimnenstimmende Höhe hinaufschrauben und dort erhal¬
ten konnte, erklärt sich dadurch, daß der Tilgungsfond und die ande¬
ren zum Einkauf von Staatspapieren bemüßigten Staatskassen mit
sehr beträchtlichen Summen ganz vorzugsweise auf dasselbe angewie¬
sen waren.
Dies war außer dem Finanzchef auch mehreren Handelshäusern
bekannt, und darauf konnten sie ganz ruhig und mit fast mathema¬
tischer Sicherheit speculiren.
So kam es, daß bei weitem der größte Theil des dreiprocenti¬
gen Urlebens binnen sehr kurzer Zeit in die Staatskassen zurück¬
geflossen war, nur mit dem Unterschiede, daß dasselbe Papier, das
etwa K 73 ausgegeben worden war, in der Zeit von vier Jahren
durchschnittlich wieder » 80 aufgekauft ward. Nehmen wir demnach
einen Durchschnitt von zwei Jahren an, so theilt sich der Verlust
von sieben Procent aufi drei und ein halb Procent jährlich ein, und
erhebt den Kostenpreis der scheinbar so wohlfeilen Anleihe auf circa
sieben und dreiviertel Procent.
Glücklicher war die damalige Verwaltung mit dem Lottcriean-
lehen von 1839. Hier gelang es allerdings, ein Anlehen ä 4 Pro¬
cent abzuschließen, und dabei ohne Nachtheil des Staates eine bei
weitem spätere Rückzahlungsfrist einzugehen, als sich solche auf dem
Wege der gewöhnlichen Tilgung ergeben hätte. Nur freilich erschien
solche auch dann noch infofern als illusorisch, als die auf die letzten
Jahre accumulirten Rückzahlungen kaum einen andern Ausweg als
den eines wiederholten Urlebens im Gegensatze zu andern Tilgungs¬
arten vorausetzenlaen.
Ein Gewinn floß überdieß den Unternehmern hierbei zu, oder
konnte ihnen wenigstens zufließen, wie noch bei gar keinem früheren
Anleihegeschäfte der Fall eingetreten war. Nur Eines stellte sich sie¬
det etwas schielend heraus, nämlich die moralische Stellung der
Operation aus allgemeinem und aus besonderem staatlichen Ge¬
sichtspunkt.
An und für sich erscheinen Lotterieanleihen als ein Auskunftsmittel,
worauf Staaten in ruhigeren Zeiten kaum angewiesen find, Und wel¬
ches selbst von Oesterreich (Frankreich und England, ja selbst das
tief verschuldete Holland haben sich in den größten Bedrängnissen
nicht dazu bequemt) immer nur im Nothfälle, immer nur mit
Widerstreben ergriffen ward.
Dieses Bedenken erscheint begründet, fast eben so begründet, als
das Verwehren von Spielbanken, da, wenn auch nicht immer der
Einsatz, doch meist die ganze Rente oder ein Theil derselben aufs
Spiel gesetzt wird, zumal w) ein derartiges Papier durch die Agio¬
tage zu einer unverhältnißmAßigen Höhe hinaufgeschraubt wird. Auf
diese Weise wird der Rentier, gewohnt, mit weiser Sparsamkeit seine
Ausgaben nach seinen Einkünften zu bemessen, an letzteren irre , in¬
dem er, zur Metamorphose des Glücksritters unwiderstehlich verlockt,
einen Theil seines Capitals oder das Ganze auf eine so unproductive
Art anlegt und um so ungünstigeren Chancen entgegengeht, als die
Meinung, daß die günstigen sich durch den Besitz einer größeren Loos-
anzahl steigern, eben eine sehr verbreitete ist. Welche nachtheilige Ruck-
Wirkung aber dies auf den Privathaushalt äußert, indem es ent¬
weder Geiz oder Verschwendung erzeugt, ergibt sich, von selbst.
Bei der Lotterieanleihe von I8S9 traten aber diese Rücksichten
in einem besonders verstärkten Maße ein, indem der Plan, von den
gewöhnlichen Grundlagen abweichend und jedenfalls von einem ori¬
ginellen Kopfe zeigend, dem Theilnehmer für den unglücklichsten
Fall die Verdoppelung seiner Einlage — freilich in sehr verschiedenen
Zeiträumen und mit sehr verschiedenen Wahrscheinlichkeitschancen—zu¬
sichert. Verwaltung und Banquiers konnten durch die gewonnene
Erfahrung, daß eS an Calculationsgeist beim größeren Publicum
mangele, belehrt, einen glänzenden Erfolg dieses Papiers, trotz dessen
niedriger Verzinsung, auf jenen höchst sinnreich ausgedachten Plan
basiren. Und in der That war derselbe im Stande, selbst den ge¬
wiegteren Geldmännern Sand in die Augen zu streuen und den
bewilligten Agio aus dieses im Ganzen auf vier Procent bemessene
Papier bis zur unglaublichen Höhe von fünfzig Procent steigern,
freilich nicht, ohne daß späterhin eine furchtbare Reaction eingetreten
wäre, die den Wohlstand von vielen hundert Familien, welche sich
zum Glücksspiele mit dem Glückspapier verleiten lassen, tief unter¬
grub. Beiläufig gesagt, gehört einer der wenigen wahrhaft genialen
bildenden Künstler Oesterreichs dieser Zahl an.
Genug, man setzte sich auch nach herabgestimmten Ideen immer
über den innern Werth dieses Papiers im Verhältniß zu den Zins¬
tragenden, ja sogar zu der auf ungleich reelleren Grundlagen gestellten
und auf fünf Procent calculirten Lotterieanleihe d. I. 1834 hinaus
und erreichte den Zweck auch so vollkommen, daß dieses Effect sich
heut zu Tage, also in verhältnißmäßig sehr kurzer Zeit nach seiner
Emission beinahe vergriffen findet. Nur freilich hängen an den no¬
mineller Tausenden in den Cassen vieler Hausväter statt der halb¬
jährig einzugehenden Coupons chimärische Hoffnungen, die sich nur
bei höchst Wenigen realistren können, bei der aber bei weitem über¬
wiegenden Anzahl durch Aufhebung von Zins und Zinseszins für
eine lange Reihe von Jahren zugleich mit sehr bedeutenden Capita¬
lien in Rauch aufgehen müssen.
Zu den weiterhin hervorzuhebenden Momenten der finanziellen
Gebahrung unter der vorigen Verwaltung gehört wohl auch die
Contrahirung der Tabakslieferung für den Landesbedarf an diesem
Monopolarnkel mit dem Hause Sina. Nach späteren Ergebnissen
soll sich diese Finanz-Operation, wenn gleich nutzbringend, doch nicht
ganz zum Vortheil des Gouvernements vindicirt haben; sie hatte
übrigens- nur kurze Zeit vor dem Austritt des vorigen Ministers statt.
Eben so fand die Abfassung des neuen Stempelpatents, welches
in jenem Aussatz der jetzigen Verwaltung zugeschrieben wird, noch
unter der vorigen statt, wenn gleich weder die eine noch die andere
dahin gestellt war, unmittelbar darauf einzuwirken. Es ist bekannt,
daß dieses Patent einer vielfältigen Kritik heimgefallen ist und all¬
gemein nicht befriedigt hat, ja daß selbst ganze Provinzen gegen
dessen Einführung Vorstellungen unterbreitet hatten. Dabei hat es,
wenigstens in den ersteren Jahren, einen den früheren Ertrag um
die Hälfte übersteigenden Ausfall veranlaßt.
Beispielsweise seien nur einige Mißgriffe erwähnt. Der höchste
Stempelansatz ward von hundert Fi. auf zwanzig Fi. herabgesetzt,
wiewohl mit dem hierdurch bewirkten fühlbaren Nachtheil für den
Kammerbeutel eine durchaus nicht adequate Erleichterung der in sol¬
chem Falle zur Steuerpflicht Berufenen bewirkt ward; der Wechsel¬
stempel ward nur um Geringes erhöht und nicht, wie es ander¬
weitiger Vorgang vielfach gerechtfertigt hät:e, classenmäßig bemessen;
endlich verbreitete zwar die Anordnung, daß alle Noten unter und
von den Kaufleuten mit zehn Kreutzer gestempelt werden sollten, un¬
ter allen Handclsclassen Schrecken und Bestürzung, veranlaßte sie
aber nur, die Maßregel, die allzu drückend schien, um ausgeführt wer¬
den zu können, auf systematische Weise zu umgehen. Es ging da¬
mit, wie es mit hohen Eingangözöllen geht, die Nichts bewirken, als
dem Schmuggel die Thüre zu öffnen, während man vielleicht bei
dem kleinmoglichsten Stempelsatz für kaufmännische Zusicherungen
und Bestätigungen seinen Zweck erreicht hätte, wenn gleich jede Er¬
schwerung des Handelsverkehrs ein Bedenkliches bleibt.
Werfen wir nun noch einen Blick auf die Bank, dieses mit
den österreichischen Finanzen so innig verwebte Institut, daß es füg¬
lich als das Palladium des Staatscrcdits betrachtet werden kann.
Ja nun, dieses befand sich allerdings unter, der vorigen Verwaltung
in gewisser Art sehr gut. Wenigstens stiegen die Dividenden der
Actionäre, denn außer dem ungemessenen Anwachö des Bankporte-
fcuilleö, nahm auch die Kammerverwaltung nicht unbedeutende Sum-
men direct von der Bank auf; was freilich mit der ursprünglichen
Tendenz jenes Instituts in einigem Widerspruch zu stehen schien,
allein selbst bei dem niedrigen Zinsfuß, der siedet zu Grunde
lag, das Banlerträgniß immerhin vermehrte. Nur fehlte auch hier
der rothwangigen Frucht der Wurmstich nicht, und das -in^ins j„
t>erbit fällt unwillkürlich bei. Denn es kam, daß, während die
Masse der emittirten Banknoten durch das auf die unerhörte Höhe
von achtunddreißig Millionen Gulden angewachsene Portefeuille, dann
durch die verschiedenen directen und indirecten Anlehen an den Staat
sich sehr bedeutend vergrößert hatte, die dagegen zur theilweisen
Deckung aufbewahrten Silbervorräthe in umgekehrtem Verhältnisse,
nämlich auf den Belauf von siebzehn Millionen Gulden, geschmolzen
waren, und, obschon der politische Horizont sich wolkenlos zeigte,
lediglich durch die Operationen des Auslandes täglich mehr zu
schmelzen drohten,. Auch unterdrückten die patriotisch gesinnten und
in langjährigen Erfahrungen ergrauten Geschäftsmänner ihre Besorg¬
nisse hierüber keineswegs. Ja Einer oder der Andere derselben ging
wohl darin so weit, daß er Silbervorräthe in seinem eigenen Hause
sicherer verwahrt erachtere, als in den festen Gewölben der Bank, und
sein ganzes bewegliches Vermögen, gerade so, als ob der Feind vor
den Thoren Wiens stände, auf solche unproductive Weise umsetzte:
gewiß eben nur, um dem Gemeinbesten desto eilfertiger zur Hand
sein zu können.
Das Handels- und Merccmtilwesen, in so weit es in
der Hauptstadt centralistrt erschien, war zu jener Zeit wohl auch im
großen Flor, wenn der Lurus bei Banquiers, Kaufleuten und Fa¬
brikanten nicht etwa als taube Blüthe zu betrachten war. Man mag
sich einen Begriff davon machen, wenn man erfährt, daß der jähr¬
liche Haushalt des Banquiers G... keinen geringeren jährlichen Auf¬
wand als von Zweimalhundert Tausend Gulden Con-
vennonsmünze in Anspruch nahm, was sich auf verschiedene
Weise commentiren läßt. So kostete z. B. jeder Winterball dieses
Banquiers — und er gab deren mehrere im Jahre — zwölf bis
fünfzehn Tausend Gulden, während die Ananaszucht in seinen Som¬
merhäusern ungefähr eben so viel erheischte. Allerdings läßt sich
nicht behaupten, daß hiemit das Verfahren der gesammten Finanz-
aristvkratie repräsentirt worden wäre, eben so wenig läßt es sich aber
auch läugnen, daß ein solches Beispiel von übler Influenz erschien,
und Banquiers von angesehenen Handelsplätzen, wie z. B. von Ham¬
burg, Frankfurt, Berlin, machten nicht selten mißliebige Bemerkungen
über die sich in Wien immer mehr verbreitende Sucht, in Pracht
der Paläste und Villen, der Carossen und Livreen, der Diners und
FStcn, mit den angesehensten adeligen Häusern zu wetteifern. Be¬
denklicher schüttelten aber noch die besonneneren der inländischen Ge¬
schäftsmänner darüber den Kopf, daß jede noch so wenig auf festen
Grund basirte Spekulation, jede noch so wenig auf den Flor des,
Vaterlandes abgesehene Unternehmung einen unerschütterlichen Stütz¬
punkt in der Leichtigkeit fand, womit die sogenannte Wechselrei¬
terei ohne Rücksicht des ihr zum Grunde liegenden Zweckes in
Ausübung gebracht werden konnte. Galt es heute einen Schwindel
in Baumwolle oder morgen eine forcirte Manusacturthätigkeit hervor¬
zurufen, hier eine den Nationalinteressen ganz fremde Eisenbahmm-
ternehmung zu begründen, oder dort eine wechselseitige Assemranz
für morsche Mercantileristenzen zu schaffen: immer war die Wünsche!-
ruthe bei der Hand, — die Feder, welche in zwei oder drei Hände
übergehend mit wenigen Zügen die Geldquellen herbeibeschwor, die
zum nicht zu versiegenden Strom herangewachsen schienen. Man
pflegt wohl solche nicht auf eigentliches Mercantilbedürfniß begrün¬
dete Wechsel spottweise Keller-Wechsel zu nennen, und da deren An¬
zahl sich lavinenartig in der Bank vermehrte, so kam es bald, daß
die Bank mehr Kellerwechsel als volle Geldkeller hatte, — indem
Wechsel, welche die vereinten Unterschriften der ersten Banquiers, oder
derjenigen, die als solche galten, an sich trugen, füglich nicht zurück¬
zuweisen schienen, insofern die vorgezeichneten Modalitäten dabei
beobachtet blieben. Daher die achtunddreißig Millionen im Porte¬
feuille der Bank, — daher aber auch die weiterhin gerügten Uebel¬
stände, lune ni-lo I-tcrimiie! Wohin gelangen wir denn, wenn das
so weiter geht? fragten eben die Bedächtigem-«-), unbekümmert, daß
die Anderen sie höhnisch belächelten. Am Ende wäre ja jeder Schwin¬
del, jeder noch so aus der Lust gegriffene Einfall, gleich einer Despoten-
Laune in Vollzug zu setzen, und das Ausland baute und manöuv-
ritte mit unserm Gelde, während wir .....
Aber sie sprachen nicht weiter, denn eine glücklichere Stunde
hatte für Oesterreichs Finanz-Bank und Mercantilwesen geschlagen,
wenn gleich ihre ersten Töne ernst erklangen, und manchem unrett-
bar Verlornen zum Grabgeläute wurden.
Der Freiherr von Kübeck, dessen äußere Persönlichkeit sich bereits
im eingangserwähnten Aufsatz skizzirt findet, war im Staatsdienste
ergraut und hatte in mancher stürmevollcn Zeit mit am Ruder ge-
sessen. Wie der erfahrne Steuermann am scheinbar heiteren Himmel
das aufsteigende unheilvolle Wetter wahrnimmt, so konnte auch sei¬
nem Scharfblick das Gefahrvolle der geschilderten trüglichen, unhalt¬
baren Verhältnisse nicht entgehen. Als hoher Staatsbeamter war
Freiherr von Kübeck schon seit mehr als einem Viertel-Jahrhundert
rühmlich bekannt gewesen, ob er aber als Financier der jetzigen kri¬
tischen Lage gewachsen sei, darüber wechselten Hoffnungen und Be¬
sorgnisse. Nur ein Ruf ging von Mund zu Mund: „Da kömmt
einmal ein grundehrlicher Mann ans Ruder." Aber die
weitere Zeitfolge sollte noch etwas mehr an Freiherrn von Kübeck
erweisen.
Zur strengsten Rechtlichkeit gesellten sich bei Freiherrn von Kü¬
beck noch drei andere Eigenschaften, in seiner so schwierigen Stellung
von unschätzbarem Werthe, Scharfblick, Muth und Energie.
Er hatte das Uebel in seiner ganzen Tiefe entdeckt und erkannt, daß
man mit Pflaster und Salbe hier nicht ausreiche, sondern frisch
und herzhaft, aber besonnen zugleich schneiden müsse, unbekümmert
des wilden Fleisches, das bei der Operation wegzuschaffen sei. Nun
kümmerte ihn nicht mehr irgend ein Geschrei, kam es aus den Höhen
oder Niederungen; unaufhaltsam verfolgte er sein Ziel, das zunächst
auf Wiederherstellung des blosgestellten Bankkredits gerichtet ward,
und es ist zu bekannt, aufweiche siegreiche Weise er dasselbe erreichte,
um wieder auf's Neue darauf zurückzukommen,'zumal die Bankver¬
hältnisse in neuester Zeit späterhin noch einmal berührt werden.
Weniger besprochen als die Restriktionen des Bankcredits der
Handelswelt gegenüber, finden sich die unmittelbaren Finanzopera¬
tionen KübeckS, obschon sie ihm bei den in ihren innersten Interessen
verletzten Gemüthern einen kaum minder heftigen Sturm zuzogen.
Hatten sie doch hier schon heimliche Rüstungen veranlaßt, und dort
einem ganz mittelmäßigen Liede eine beinahe Elßler'sche Apotheose ver¬
schafft, in der Börsenwelt aber die höchste Bestürzung hervorgebracht.
Dies war namentlich der Fall, als eine neue Anleihe zu fünf Pro¬
cent und in sünfprocentigen Metalliques mit den Wechselhäusern ab¬
geschlossen wurde, wobei die Staatsverwaltung noch überdies die
Verbindlichkeit einging, binnen fünfzehn Jahren auf Kündigung zu
verzichten. Mau hat hiegegen vorzüglich zwei Einwürfe erhoben,
einmal, daß man zu einem höheren Anleihefuß contrahirt habe, als
andere Staaten, und als man selbst unmittelbar früher gethan, und
dann, daß man den Zinsfuß im Lande selbst zum Nachtheil des
Handels und der Industrie höher gestellt habe. Beide erschienen
mir von jeher unhaltbar.
Der praktische Franzose geht von der Regel aus: <i>um! »»
lie r>eut n-tL canine on veut, ein Kür cumnie un veut, und so ganz
einfach, ja gcmeinplätzlich dies klingt, so war es doch, und zwar, wie
bereits geschildert, auf sehr benachteiligende Weise früher unberück¬
sichtigt geblieben. Man erinnert sich recht wohl, daß die Thiers'schen
Rodomontaden nicht so ganz ohne Widerhall verklangen waren.
Allein noch keineswegs davon erholt, hatte sie und das mit ihr
zusammenhängende größere Publicum die unausbleibliche Katastrophe
des Credits und der Papiereiuziehungsperiode mit allen daran geknüpf¬
ten schweren Folgen zu bestehen; das Ausland, das an neuen öster-
reichischen Anleihen nur so lange Theil genommen, als erklecklich darin
zu gewinnen gewesen, war von anderen Anleihen und Eisenbahnun-
ternehmungen vielfältig in Anspruch genommen; zudem durste der
neue Finanzchef beabsichtigt haben, seine Anleihe direct aus den Kas¬
sen des größeren Publicums nur durch die unausweichliche Vermitt¬
lung der Wechselhäuser zu entnehmen, welchem Zwecke es entgegen¬
gesetzt gewesen wäre, ein Papier zu creiren, das wegen seiner schwe¬
ren oder langsameren Anbringlichkeit nicht nur ein Spielball der
Börse geworden wäre, sondern zum größeren Theil auf lange Zeit
die Wanderung in die Bank angetreten halte, so daß im Widerspruch
mit den eingeleiteten Maßregeln diese wieder die eigentliche Darlei¬
herin geworden wäre, und der einerseits mit weiser Umsicht eingezo¬
gene Geschäftskreis derselben andererseits wieder sich mehr erweitert
gefunden hätte. Unter solchen Umständen, so kurz und unvollständig
sie auch hier zusammengefaßt erscheinen, war wohl der eingeschlagene
Weg der klügste, ja vielleicht der einzig thunliche, gewiß aber der
sicherste, während nach den vorhergegangenen Ereignissen ein falscher
Schritt von unberechenbarem Nachtheil gewesen wäre. Ganz unrich¬
tig aber war eS, aus dem Anleihefuß eine Cynosur für den Zins¬
fuß im Lande herleiten zu wollen. Diese gab vielmehr der Diskonto¬
fuß der Nationalbank, welcher unverändert zu vier Procent blieb.
Wenn dessen ungeachtet sich größerer Geldmangel fühlbar machte, so
war dies die natürliche und unausweichliche Folge der Credits- und
Geldrestrictionen, zugleich mit den durch verschiedene Unternehmungen
veranlaßten Zahlungsaufforderungen. Ueberdies war selbst zur Zeit
des sogenannten wohlfeilen Urlebens der Privatcredit hievon wenig
berührt worden, und hatte sich namentlich in den Provinzen der Dis¬
konto auf bedeutender Höhe erhalten.
Allein noch andere hochwichtige Resultate ergeben sich als wohl¬
thätige Folgen der fünfprocentigcn Staatsanleihe, indem hierdurch
der bei Weitem größere Theil der dem Tilgungsfond zugewiesenen
sehr beträchtlichen Dotation dringenderen Bedürfnissen zugewendet wer¬
den konnte, da dieser Fond sich nicht berufen fand, ein Papier, wel¬
ches das ?-ni überschritten hatte, anzukaufen, ein tieferer Stand aber,
bei der überaus günstigen Meinung für dasselbe, sogar bei einiger
Trübung des politischen Horizonts nicht füglich vorauszusetzen war.
Dadurch aber, daß die neuen fünfprocentigcn Staatsschuldver-
schrcibungcn ohne Stockung und Umweg unmittelbar in die Kassen
der Rentiers geleitet wurden, gewann das größere Publicum und
dessen Repräsentation, die Börse, Raum zu erheblichen, industriellen
Unternehmungen, und wurde insbesondere die Zustandebringung der
schon eingeleiteten erleichtert, wo nicht ermöglicht. Und es wurde
hier einmal die so schwierige Ausgabe, das Gemcinbcste mit dem
Privatvortheil in Einklang zu bringen, auf eine glänzende Weise ge¬
löst, wiewohl sich gerade unter denjenigen, welche sich hierdurch be¬
reicherten, am meisten Krittler der getroffenen Einleitungen vorfanden.
Daß nun nach solchen höchst glücklichen Antecedentien zur Voll¬
führung der großartigen Entschließung, ein umfassendes Eisenbahn¬
netz auf Staatskosten zu errichten, eine weitere Serie jener fünfpro-
centigcn Anleihe, jedoch zu günstigeren Bedingungen, emittirt wurde,
kann kaum mehr besonders befremden. Wohl möglich, daß man
jetzt anstatt zu vier und dreiviertel Procent zu vier und ein halb
Procent, ja vielleicht zu vier und ein viertel Procent hätte
Geld ausnehmen können. Allein die Weisheit der aufgestellten Grund¬
sätze hatte sich zu sehr bewährt und die Dringlichkeit, sich die Aus¬
führung des großen Zweckes ohtie Verrückung der sonstigen Verhält¬
nisse zu sichern, zeigte sich zu überwiegend, um eines möglichen
geringen Vortheils wegen so hochwichtige Interessen im Mindesten
blos zu stellen. Seit Jahren erhalten sich die sünfprocentigen Me-
talliaueö aus dem Standpunkt von einhundert und eilf, und selbst
stärkere Oscillationen am politischen Chronometer vermögen diesen
Zeiger der Börsenuhr nicht im Geringsten zu verrücken. Die vier-
procentigm Metalliques aber, auf welche der Tilgungsfond mit leich¬
ter Müh und geringem Aufwand einwirkt, stehen fortwährend über hundert.
Vor Kurzem hat Nußland ein neues Anlehen abgeschlossen, und
allerdings hiefür nur vierprocentige Schuldverschreibungen emittirt, dage¬
gen ward dasselbe mit circa achtundachtzig abgeschlossen (wodurch das
aufgenommene Geld sich ebenfalls auf vier und ein halb Procent stellt);
nun aber sind jene Papiere nicht zu neunzig, also um zehn Procent
schlechter, als die österreichischen vierprocentigen, unter die Leute zu
bringen. — Der weitere Commentar ergibt sich sonach von selbst.
So wenig es meine Absicht sein kann, in die unter gegenwärti¬
ger Finanzverwaltung eingeschlagenen Maßregeln einzugehen, so kann
ich doch nicht umhin, zu bemerken, wie bei dem in Rede stehenden
Aufsatz noch ein höchst wichtiger Moment mit Stillschweigen über¬
gangen wurde, nämlich die den Besitzern der Mailänder Eisenbahn-
actien eingeräumte Alternative, zwei Jahre nach Vollendung dieser
Unternehmung nach eigenem Entscheid deren Kostenbetrag in vierpro¬
centigen Metalliquesobligationen beheben zu können, oder nicht, was
demnach einervierprocentigenZinsengarantie durch zwei Jahr gleichkommt.
Diese Entschließung ist um so mehr zu würdigen, als Hr. v. Kübeck sich
den dringendsten Sollicitationen der mächtigsten Häuser hinsichtlich
einer Zinsengarantie für die ihrer Vollendung schon nahen Eisenbahn-'
Unternehmungen fortwährend zu versagen gut befunden hat. Hier aber,
wo das im ersten Beginn begriffene Unternehmen—von unberechen¬
barer Wichtigkeit für die ganze Monarchie, wie für das gesammte
Italien- in Stockung zu gerathen schien, und wo ein früher ge¬
triebenes verderbliches Spiel mit einer unfruchtbaren Lurusbahn ab¬
schreckend auf das Publicum eingewirkt hatte, konnte jener Schritt
nur von der höchsten Weisheit eingegeben erscheinen.
Wenn wir nun noch einen Blick auf das Bankwesen unter der '
heutigen Finanzverwaltung werfen, so können wir die Beredsamkeit
der Ziffern ebenso in ihrer Größe, wie in ihrer Kürze vorwalten
lassen.
Wir haben früher gesehen, wie das Bankportefeuille auf acht¬
unddreißig Millionen angewachsen und der Silbervorrath auf sieben¬
zehn Millionen geschmolzen war. Zur Zeit, da ich dieses nieder¬
schreibe, beträgt das Portefeuille der Bank circa einundzwanzig Mil¬
lionen, und der Silbervorrath hat die nie geglaubte Höhe von fünf
und siebenzig Millionen Gulden überstiegen.
aniMll
Unter jenenenundzwzgonenbendensich aber mit
höchst geringen Ausnahmen lauter reale, durch wirklichen Handel
und wahrhafte Industrie hervorgerufene Wechsel, so daß hier aber¬
mals ein Fall eintritt, wo weniger mehr ist. Dabei ist der grö¬
ßere Theil der ungedeckten Darlehen der Bank an den Staat zurück¬
gezahlt, und das Vertrauen in jenes Institut hat sich auch anderwei¬
tig so erkräftigt, daß dessen Actien ganz dem Verkehr entzogen und
dem so lange damit gehegten Börsenspiel völlig entnommen erscheinen,
wiewohl sie nach ihrem jetzigen Erträgniß kaum viel über vier Pro¬
cent abwerfen.bl
Wer wollte aber in Arede stelen, welchen bedeutenden Aufschwung
Handel und Industrie in den letzteren Jahren genommen und
welche liberale Grundsätze zur Emporbringung derselben immer mehr
auftauchen!
Zwar waren die Erschütterungen, welche die Mercantilwelt in
der ersten Zeit der gegenwärtigen Finanzverwaltung erlitt, die heftig¬
sten, welche von ihr je erlebt worden waren, indem zwei der ersten
Wiener Häuser gleichzeitig zusammenbrachen, anderer keineswegs un-
bedeutender nicht zu gedenken. Allein so wenig an Unterstützung von
morschen, längst in sich zerfallenen Häusern von Holz und Stein viel
gelegen sein kann, so durste auch dort wahrhafte Abhilfe von ihr
nicht erwartet werden. Dennoch ward das Möglichste gethan, um das
Haus Geymüller zu retten. Rothschild, großartig wie immer, bot
hiefür zwei Millionen an. Vergebens! Seit zehn Jahren hatte
das Haus bereits mit einer überwiegenden, durch übermäßigen Lurus
und verfehlte Spekulationen angewachsenen Passiva zu kämpfen ge-
' habt, und nur auf unerhörte Weise sich so lange obenauf zu erhal¬
ten gewußt. Noch weniger wäre etwas für die andere schon gänz¬
lichem Mißtrauen heimgefallene Firma zu thun gewesen.
Daß nun nach einer so heftigen Handelskrisis eine geraume Zeit
lang ein schwacher Zustand verblieb, wird wohl Niemanden befremden
können, und so schmerzlich, ja selbst erschütternd das Schauspiel tief
gesunkener Handelsnotabilitäten wirken muß, so kann man doch nicht
in Abrede stellen, daß nur durch solches Hinwegschaffen der Geschwüre
und Abscesse am Mercantilkörper, dessen Genesung und langsame,
aber sichere Erstarkung bewirkt werden konnte.
Und begreiflicher Weise konnten diejenigen Häuser, welche nicht
nur den Kampf mit der furchtbaren Krise selbst, sondern auch den¬
jenigen mit der Hydra der Medisance und Verleumdung, und da¬
durch mit einem in's Lächerliche getriebenen Mißtrauen zu bestehen
hatten, unmöglich die Kraft der ihnen zur Verfügung stehenden Mit¬
tel siegreicher bewähren, als eben, indem ihnen eine solche noch nie
dagewesene und hoffentlich nimmer wiederkehrende Gelegenheit dazu
geboten wurde. Diese Betrachtung ist es denn aber auch, welche
wesentlich.dazu beitrug, den Credit des Wiener Platzes und den da¬
mit enger verbundenen anderweitigen, weit schneller, als Mancher
gedacht hätte, wieder zu heben und mindestens für Manche, welche
eine solche Feuerprobe ehrenvoll bestanden hatten, sogar noch fester,
als ehedem zu stellen.
Wenn sich aus dieser gedrängten Zusammenstellung unwillkür¬
lich ein sprechendes Zeugniß für die seltene Einsicht und Geistestiefe
des gegenwärtigen Chefs der Finanzverwaltung ergeben hat, so wird
man darum doch nicht glauben, daß ich mich zum Pancgyriker des¬
selben machen wollte, da ich es sehr gern würdigeren Federn, als
der meinigen, überlassen kann, das Wirken jenes Mannes seinem
ganzen Umfange nach darzustellen, wenn gleich keine in lauterer Ab¬
sicht ergriffen worden ist.
Mir elbt war es nur willkommen, einen Anlaß unden
,um
meine lang im Stillen gehegte hohe Verehrung für ein so seltenes
Wirken an den Tag zu legen. Aber ich glaube dieselbe nur in ei¬
nem gesteigerten Grade darzustellen, wenn ich zum Schlüsse kurz und
unverhüllt auch des vernommenen leisen Tadels erwähne, wofür ich
in meiner eigenen Beschränktheit und Kurzsichtigkeit nicht gleich die
entsprechende Entgegnung zur Hand fand. Dahin gehört z. B. die
Behandlung der älteren Staatsgläubiger, der Besitzer sowohl der so¬
genannten Domestical- als Aerarialvcrschreibungen; erstere sind noch
immer nicht vollständig in die ihnen unzweideutig gebührenden Rechte
eingesetzt, letztere, wie es heißt, dadurch beeinträchtigt, daß die ver¬
möge Patents vom Jahre 1818 zugesicherten Ankäufe seit einigen
Jahren fast gänzlich unterblieben, und dafür die herbeizuschaffenden
Stücke von anderweitigen Fonds genommen werden, wiewohl ein
solches Verfahren höchstens in erceptionellcr Weise einen Anhalts¬
punkt in den Bestimmungen jenes Patents fände. Dahin gehörte
z. B. ferner die Frage hinsichtlich des Fortbestehens der Frohnen in
Böhmen, welche mit einer Verbesserung der Lage des Ackerbauers
und aller auf Arbeit und Taglohn hingcwiesenen Classen kaum ver¬
einbar scheinen. Dahin gehörte endlich die Lösung des Problems,
wie in einem Staate, der sich in mancher Hinsicht der europäischen
Civilisation voranstellt und in keiner gänzlich zurückzubleiben gedenken
dürfte, sogenannte Judensteuern, auf das Bekenntniß und die
Ausübung einer förmlich geduldeten Religion gesetzt, fortbestehen kön¬
nen. Endlich fielen in gegenwärtigem Zeitpunkt des Wiedcraufblühens
der österreichischen Finanzen die gedachten Mißbräuche um so mehr
auf, als sich mehr als Ein Acquival.ut für die durch deren Abstel¬
lung verursachten Lücken sowohl durch Zuwachs der Einkünfte als
durch Ersparung in den Ausgaben ergeben haben müßte, und, um
nur eines Theils der ersteren zu gedenken, die indirecten Steuern al¬
lein seit fünfzehn Jahren, wie es mehrfach bekannt gemacht worden
ist, einen jährlichen Mehrertrag von sechsunddreißig Millionen aus¬
weisen. Vielleicht geht man zu weit, wenn man die Macht, solche
Anomalien abzustellen, dem Ressort der Finanzverwaltung zuschreibt,
Grcnzbot-» II.
gewiß ist es aber, daß Viele sie als unerklärliches Unrecht, Andere,
um mit Talleyrand zu reden, für noch mehr, nämlich für Fehler
ansehen, und daß deren Beseitigung dringend auch von den dabei
nicht unmittelbar Betheiligten gewünscht wird. Sehr begreiflich end¬
lich aber ist es, daß der Impuls hiezu mit besonderer Zuversicht
von dem Manne gewärtigt wird, welcher für Kräftigung und Er¬
starkung des Staatskörpers bereits so Großes und Ruhmwürdiges
geleistet hat.
Ein Theil dessen, was der Verfasser von „Oesterreich und dessen
Zukunft", als patriotischer Hellseher geweissagt, ist denn nun richtig
in Erfüllung gegangen. Der materielle Nimbus des leiblichen Wohl¬
lebens, der Glanz des Genusses, der bisher in den Augen des Aus¬
landes das rothbackige Haupt der gutgenährten Austria umgab, ist fast in
Nichts zerflossen, und alle Welt kennt nun das sorgfältig verwahrte
Geheimniß, daß auch in dem patriarchalischen Oesterreich die Leute
hungern können. Ja, das ist es, was die Wichtigkeit der Prager
Vorgange ausmacht, nicht das Bischen Blut, das schon oft bei ge¬
ringeren Anlässen, bei Wirthshausbalgereien und Straßentumulten
geflossen ist, nein, das Geständniß, auch in dem classischen Lande der
Phäaken, wo sich ewig der Spieß am Heerde dreht, ist der Dämon
des Pauperismus erschienen, hat den rothen Mantel zurückgeschlagen
und dem erschreckten Volk die klappernden Rippen und die fleischlose
Brust gewiesen.
Dem herrschenden System konnte Nichts unangenehmer sein, als
eine solche nackte statistische Thatsache, die man keinen Emissären,
keiner Preßfreiheit, keinen revolutionären Factionen in den Schuh
schieben kann, eine Thatsache, die man für keine Lüge erklären, und
die sich nicht einmal berichtigen läßt. Wo soll man in Zukunft die "
schlagenden Gründe hernehmen, mit welchen man im Angesichte Deutsch¬
lands den Völkern beweisen konnte, daß die repräsentativen Verfassun¬
gen nur zu einer endlosen Vermehrung der Steuerlast führen, und
die Weisheit einer väterlichen Regierung allein im Stande sei, den
wahren Wohlstand zu fördern und die unteren Classen gegen die wahl¬
berechtigten und gesetzgebenden Stande in Schutz zu nehmen? Bis
jetzt zeigte man immer triumphirend auf den materiellen Zustand der
Monarchie, sobald von der Nothwendigkeit geistiger Concessionen, von
durchgreifenden Reformen die Rede war, und Jedermann weiß, daß
eine solche Hinweisung in den Augen der Menge stets eine glänzende
Rechtfertigung einschließt. Fortan wird man sich wohl um andere
Beweismittel, um andere Abwehrungsbehelfe umsehen müssen, denn
das alte schöne Märchen von der österreichischen Behaglichkeit fangt
nachgerade an, ein Märchen im vollen Wortsinn zu werden.
In Wien freilich empfindet man die wachsenden Nothstände nicht,
da ist der Erwerb leicht, wenigstens für die Nothdurft des Lebens,
wenn auch die Vermögenssammlung lange nicht mehr so häusig vor¬
kommt, wie ehedem; allein in den Provinzen greift die Armuth doch
immer mehr um sich, und während die Bevölkerung der Hauptstadt
ihre Orgien feiert, nagen Tausende in der Ferne am Hungertuch. Die
Provinzen geben das Geld, das in Wien von vielen tausend Grund¬
besitzern verschleudert wird, und während so die Gcwcrbsamkeit der
Residenz jährlich steigt, sinkt der Wohlstand der Provinzen immer
tiefer. Daher ist sehr zu befürchten, daß die Bewegungen der öster¬
reichischen Zukunft centrifugal sein werden, und in Wien selbst gar
niemals eine energische Bestrebung Wurzel fassen wird.
Was die Unruhen in Böhmen betrifft, so sind diese wie ein.
Blitzstrahl aus blauem Himmel gekommen, denn darin stimmen alle
Berichte überein, amtliche und nicht offizielle, daß das physische Elend
daselbst keineswegs gegenwärtig unter dortigen Arbeitern größer sei,
als in früheren Jahren. Namentlich weiß das Jahr 1842 im Erz¬
gebirge Dinge zu erzählen, von welchen in diesem Augenblick gar nicht
die Rede sein kann. Es ist demnach weniger der Stachel des Elends,
der die Leute so mit einem Male rappelköpsisch gemacht hat, als viel¬
mehr eine plötzlich geweckte moralische Entrüstung, die sich nicht län¬
ger die Abhängigkeit und Willkür gefallen lassen will, womit das Loos
des Arbeiters in allen fast civilisirten Staaten noch zu kämpfen hat.
Diese Wahrnehmung mußte nothwendig auf innere Triebfedern hin¬
weisen, und diese Seite des Gegenstandes ist es ganz besonders, welche
ich in diesen Zeilen beleuchten wollte, denn die Details sind schon als
Tagesneuigkeiten in die Oeffentlichkeit gekommen, oder sind für die
tiefere Bedeutung der böhmischen Borfälle ohne Belang.
Die mit Umsicht gepflogenen Untersuchungen in Betreff des un¬
ter den Aufständischen verbreiteten Liedes: t>theil n» rebelli, haben
auf Spuren geleitet, die den Ernst der Sache nicht wenig verstärken
und ein grelles Streiflicht auf die Machinationen der Diplomaten
werfen. Auffallend war es schon früher, daß die Aufregung so plötz¬
lich und bestellt hervortrat und sich unmittelbar an jene in Schlesien
anschloß. Bedeutsam taucht dabei der Umstand hervor, daß gerade
die slavisch-deutschen Gegenden der Schauplatz der Unruhen wurden,
obgleich in anderen Theilen des deutschen Vaterlandes nicht minder'stark bevölkerte Fabrikbczirke sich befinden, über welche auch nicht das
Füllhorn des Ueberflusses ausgeschüttet ist und wo dennoch der Frie¬
den keinen Augenblick gestört worden. Ein wohlunterrichteter Korre¬
spondent der „Schlesischen Zeitung" meldete unlängst, daß man zu
Wien in den höchsten Regionen ti> beklagenswerthen Austritte in
Böhmen communistischen Umtrieben zuschreibe, und diese Meldung
widerspricht ganz und gar nicht der Unterstellung, daß russische Hände
dabei im Spiele seien. Man erinnert sich ohne Zweifel der diploma¬
tischen Komödie, welche im September 1843 in Athen abgespielt wurde,
wo sich der Absolutismus herabließ, die konstitutionelle Propa¬
ganda zu spielen, blos um die Consolioirung des jungen Staates und
der deutschen Dynastie zu stören, eben so wenig schrack man hier vor
der Rolle Weitling's zurück, und der Panslavismus macht sich
im Gefühle seines Loyalismus kein Gewissen daraus, wenn er zur
Erreichung seiner Absichten einmal die Maske des Fourrier oderOwcn
vor's Antlitz nehmen muß. Der Nothschrei des vorigen Jahres
drang aus Böhmen und Schlesien bis nach Petersburg und schlug
durch die Spiegelfenster des Palastes an das feine Ohr des dortigen
Cabinets; auf diesen Schrei ward alsbald ein Plan gebaut, der für's
Erste freilich keinen anderen Zweck haben konnte, als den Keim der
Zwietracht in jenen von deutschen Regierungen beherrschten Mischlän¬
dern auszustreuen und die Augen dieser Regierungen von den Vor¬
gängen im nahen Auslande abzulenken.
Es hat bereits Jemand in diesen Blättern die Aufgabe gelöst,
den Zusammenhang der projectirten Verbindung der Großfürstin Olga
mit dem Erzherzog Stephan und der Reise des Kaisers nach London
so wie die gewünschte Vereinigung der Donauländer zu einem Kö¬
nigreich unter einem befreundeten Prinzen aufzudecken; die Vorfälle
in Böhmen, Schlesien und Italien reihen sich indeß diesen Intriguen
organisch an und bezweckten nämlich, die deutschen Regierungen ein¬
zuschüchtern und namentlich Oesterreich, welches sich den treulosen,
aber lockenden Anerbietungen Rußlands gegenüber kalt benommen hatte,
mit Besorgnissen im eigenen Lande zu erfüllen. Seiner Zeit ging die
Nachricht durch alle politischen Zeitungen, daß die Insurgenten der
Romagna mit russischem Gelde ihre Bedürfnisse bezahlten, und die
jüngsten Nachforschungen in Böhmen und Schlesien haben auf die¬
selbe Quelle geführt. ^ ^,
were
Bevor wir indeß eine so sch Anklage gegen die slavische Pro¬
paganda erheben, wollen wir vorerst die vollen Resultate der eingelei¬
teten Untersuchung abwarten, wozu auch der bekannte Polizeirath
Duncker aus Berlin sich über Schlesien nach Böhmen begeben hat.
Es erinnert unwillkürlich an Katakazi in Athen, wenn wir erfahren,
der erwähnte Beamte habe in demselben Moment von Sr. Majestät
dem Kaiser aller Reußen einen kostbaren Brillantring erhalten, dessen
Feuer ihn hoffentlich nicht dergestalt blenden wird, um nicht die rus¬
sischen Finger zu sehen, die an den Schnüren des Vorhangs zerren,
hinter dem so eben ein Trauerspiel des Proletariats in die Scene
Das Gubernium zu Brünn hat gleichfalls Berichte einge¬
sandt, die von einer ungewöhnlichen Aufregung unter der dortigen
Arbeiterbevölkerung, namentlich in Iglau, sprechen, was die Folge
hatte, daß die niederösterreichische Landesregierung den Auftrag erhielt,
im Wege des Kreisamtes die Stimmung der Arbeiterklasse in Wien
zu erforschen, die indeß gar nichts Beunruhigendes hat.
Es erhält sich fortwährend das Gerücht, der Bürgermeister Ezapka
solle als Hofrath und Polizeichef an die Stelle des Hofraths Muth
nach Prag kommen, doch scheint dies nicht sehr wahrscheinlich; indeß
man glaubt einmal, was man wünscht. Bürgermeister Ezapka scheint
mit allen Klassen brechen zu wollen, denn auch die Künstler hat er
durch die Uebertragung. des auf der Freiung zu errichtenden Brunnens
mit tausend Dukaten Reugeld und 22,000 Fi. C.-M. ausbedunge¬
nen Honorar, an den Münchner Schwanthaler empfindlich beleidigt.
Als in der „Europa" von Lewald eine beißende Kritik dieses, glimpf¬
lich gesprochen, unklugen Schrittes, mitgetheilt ward, suchte er den
Verfasser durch Geldverfprechungen im Spionirwege zu entdecken und
als gleichzeitig die Kölnische Zeitung und die Frankfurter Oberpost-
amts-Zeitung, welche beide Journale hier öffentlich aufliegen, scharfe
Artikel über seine Amtsführung brachten und sein Begehren bei der
Eensurhosstelle um Unterdrückung der betreffenden Nummern unerfüllt
blieb, schlichen vertraute Personen in den Kaffeehäusern umher und
rissen die hochverräterischen Blätter heimlich heraus.
Um den Lärm zu beschwichtigen, sollen nun auch zwei öffentliche
Brunnen errichtet und deren Ausführung hiesigen Künstlern, wahr¬
scheinlich dem ' Professor Klieber übertragen werden. Diese beiden
Brunnen werden ihre Stelle auf dem Stephansplatz zu beiden Sei¬
ten der Domkirche erhalten und jedenfalls verdankt dieser Anordnung
der merkwürdigste Punkt der Hauptstadt einen sinnlichen Reiz, wel¬
cher mit der sprudelnden Frische eines hellen Wassers verknüpft ist
und Landschaften wie öffentliche Platze verschönert. Die Schwierig¬
keiten, die von Seite des Domcapitels gegen die Errichtung dieser
Brunnen in der unmittelbaren Nähe des Münsters erhoben werden,
indem das Geplätscher des fallenden Wassers und der mit den schwatz¬
haften Versammlungen der Mägde und Dienstleute unvermeidlich ver¬
bundene Lärm die Andacht der Beter und die Wirkung der Predigt
stören dürften, werden sicher ohne Folge bleiben, und die Bewohner
Wiens bald die Freude erleben, die volksthümlichen Helden dieser
Stadt, die Grafen Salm und Stahremberg, welche bei den türkischen
Belagerungen im Jo. und 17. Jahrhundert die Mauern Vindobonas
mit dem äußersten Heldenmuth vertheidigt haben, auf steinernem Piede-
stale in Erz prangen zu sehen. Die Idee dieser Schmückung ver¬
dient alles Lob.
So eben lese ich in der Wiener Hofzeitung, daß Sr. Majestät
der Kaiser dem Bürgermajor Kumasek und dem Finanzcommissär
Schürer von Waldheim nebst den Bürgern Tränkler und Hoffmann,
die sich bei der Vertheidigung der Brücke in Reichenberg gegen die
empörten Fabrikarbeiter durch entschlossenes Benehmen ausgezeichnet,
goldene Ehrenmedaillen verliehen, dem Schützencorps dieser Stadt aber
das Recht ertheilt haben, den kaiserlichen Doppeladler in seine Fahne
aufzunehmen. — Der einzige Sohn des großen Mozart, der hier
vom Unterrichtgeben sich ernährte, ist zu Karlsbad, wo er eben zur
Herstellung seiner Gesundheit verweilte, am 3V. Juli, dreiundfünfzig
Jahr alt, gestorben. Seine Mutter, Mozart's Wittwe, die dänische
Etatsräthin Nissen, achtzigjährig, ist noch am Leben.
Die Studirenden in Königsberg wollen den Tag des aetate-
mischen Säcularfestes durch den einmuthigcn Beschluß zur Aufhebung
des Duells feiern. Wenn es nur nicht geht, wie an einer andern
Universttat, wo die Häupter eines Antiduellvereins im Streit für die
Nothwendigkeit der Duellaufhebung — sich duellirten. Daß die Pro¬
fessoren von Königsberg in violetten, blauen, grauen und schwarzen
Lutherröcken erscheinen werden, wissen Sie; nun wollen auch alle
andern Festtheilnehmer in kurzen deutschen Röcken (analog dem
militärischen Waffenrock), das Albertuskreuz an der Brust, erscheinen.
Eine Beschreibung der Feierlichkeiten erwartet man vom Oberlehrer
Witt. Indeß haben sich bis jetzt zwei Drittel weniger Theilnehmer
gemeldet, als vor hundert Jahren, Einige wollen dies dem Schrecken
zuschreiben, den die Wahl einiger bekannten Liberalen in das Fest-
comit«- hervorrief. — Kant's Haus, sagt man, will der Staat
ankaufen und so herstellen, wie es bei des Philosophen Lebzeiten
war. Kant's Gärtchen ist jetzt eine Badeanstalt, und in seinem Hause
wohnt ein Zahnarzt, der den Leuten Weisheitszähne ausreißr. —
Schön's Standbild findet immer noch Schwierigkeiten. — Die Über¬
schwemmungen der Weichsel, Nogat und Pregel haben unsägliches
Elend gebracht. Die Heuernte ist verloren, Saaten und Kattoffeln
verfault, die Wiesen sind Moräste geworden, unter den Heerden wü¬
thet der Milzbrand. Das Oberpräsidium hat daher den König um
Aussetzung des Septembcrmanövers bei Heilsberg gebeten, um die
noch mögliche Ernte zu schonen, die sich jedenfalls in den October hinein¬
ziehen wird.— Der ganze Mettabruch ist durch den Austritt des Bohr und
Narew eine ungeheuere Wasserfläche, von der das Heu die Weichsel hinab¬
schwimmt. — Große tlulturanlagen sind im Königsberger Regierungs¬
bezirk beschlossen. Viele hessische Bauern werden, unter den gün¬
stigsten Bedingungen, im nächsten Frühjahr hierher übersiedeln; beson¬
ders wünschenswerth ist dies für Masuren, den romantischsten Theil
von Ostpreußen, der, trotz seiner steinigen Berge, viel fruchtbares Land
enthält — Erfreulich ist das Gedeihen der ostpreußischen Vereine
zur Verhütung von Verbrechen durch Versorgung und Erzie¬
hung entlassener Sträflinge. Der seit sechs Jahren bestehende Jn-
sterburger Verein zählt über fünfhundert Mitglieder von allen
Ständen. Außer den regelmäßigen Beiträgen fließen ihm viele Ge¬
schenke zu, Pfandungsgelder, außerordentliche Sammlungen; auch ein
Legat erhielt er schon. Anfangs herrschte eine Scheu, Pfleglinge die¬
ses Vereins in Dienst zu nehmen; jetzt ist große Nachfrage nach ih¬
nen. Solche Vereine sind auch im Goldaper, Angersburger
und Lyker Kreise. — Volkert, früher Redacteur des Danziger
„Dampfboots", improvisier nicht ohne Glück in Königsberg. — In
der Marien bürg wird, zum Empfang des Königs, viel gebaut und
gebessert. Auch das alte Schloß zu Heilsberg, eine der größten
preußischen Ritterburgen, soll auf Staatsunkosten restaurirt werden.
Der König soll als Kronprinz sehr gerührt worden sein, als er über
dem Thor der ehrwürdigen Ruine die einfache Inschrift las: „Herr,
erhalte mich!" — Zum Schluß eine wahre Begebenheit von der rus¬
sischen Grenze. Zwei preußische Gutsbesitzer reisten nach Polen. An
der Grenze ging einer von ihnen zum Revisor, um die Pässe visiren
zu lassen, kehrte aber erstaunt zurück mit der Meldung, der Russe
behaupte, da die Sonne noch nicht aufgegangen (sie stand aber schon
hoch am Himmel), so könne er weder visiren, noch den Schlagbaum
öffnen. — Was nun beginnen? — Das ist einfach, sagte der Andere,
besser Bewanderte, lachend; mit zwei Gulden können wir den Auf¬
gang der Sonne bewirken. — Richtig, der Russe hatte kaum die zwei
Gulden, so ging die Sonne auf und der Schlagbaum stand offen.
Am 19. August sahen wir Göthe's Egmont auf der neuen
Leipziger Bühne. Das Drama enthalt, neben den Schwachen des
großen Meisters, so viel von dem innigsten Reiz seiner Poesie, so
durchdringende politische Menschenkenntniß, daß es auch in minder
gelungener Darstellung fesseln muß, weil es durch zahllose, unver¬
wischbare Züge „freudvoll und leidvoll" zu denken gibt. Allein es
gehört das feinste Ensemble, eine mehr als gewöhnliche Vortrefflichkeit
und Nachhilfe einzelner Schauspieler dazu, wenn die Totalwirkung
nicht eine andere, als die vom Dichter beabsichtigte, werden soll. In
der Leipziger Darstellung war die rein politische Seite vielleicht zu
sehr hervorstechend. Drei Männer waren im Stück: Oranien, Alba
und Clarchen. Oranien und Alba spielen Schach um Egmont; nach¬
dem dieser genommen ist, erhebt sich der Heroismus des liebenden
Mädchens, um ihn zu retten, und geht unter in dem Kampf gegen
den stumpfen Widerstand, gegen die zähe, kalte und ängstliche Be¬
rechnung des Volkes. Dies die Handlung. Aber es ist schlimm,
wenn Egmont und Brackenburg sich bemühen, die schwachen Seiten
der Dichtung durch ihre Mattherzigkeit noch mehr hervorzuheben.
Der wenig dramatische, darum schwer darstellbare Gedanke des Dich¬
ters geht dann ganz verloren; wie Egmont anfangs unter das Volk
tritt, aus Gedankenlosigkeit Vertrauen und gesetzliche Ruhe predigend
nicht erst in seiner Zusammenkunft mit dem großen Schweigsamen
— da erkennt man, daß er verloren ist, aber wenn Egmont's Sicher¬
heit nicht durch genialen, überquellenden Lebensgeist, und durch den
Zauber seiner Liebe gerechtfertigt und verklärt wird; wenn auch
später, als Egmont gefangen, der glanzvolle ritterliche Held in
ihm nicht durchbricht, so denkt man blos, daß der passive Held
sein Loos verdient hat: man fühlt aber nicht zugleich die Göthe-
sche Wehmuth darüber, daß eine Natur, eine schöne, heitere,
freie Persönlichkeit, zu Grunde geht, weil sie ohne Rücksicht
auf Menschen und Verhältnisse, sich selber treu blieb. Man sieht
dann kein Opfer des finsteren spanischen Sinnes in ihm, keinen Mär¬
tyrer seiner ritterlichen, freudig vertrauenden Seele, sondern einen phleg¬
matischen, weibisch bequemen Gcwvhnheits-Menschen, der die freund¬
liche Gewohnheit des Daseins und (Nicht-) Wirkens so lange fortsetzt,
als es eben geht, und mit dem für die Sache des Volkes kaum et¬
was verloren wird. Herr Marrder scheint der Rolle Egmonts
nicht gewachsen; wir denken uns schon das Organ eines Egmont an¬
ders: hellschallend, Sorgen wie Gefahren weglachend muß es sein. Ei¬
genthümlich aufgefaßt, trefflich durchgeführt war Marr's Alba; ein
eiserner, ehrgeiziger Geschäftsmann. Mit besonnenen Eifer trifft er
die Anstalten zu Egmont's Fang, man sieht, dergleichen ist ihm nichts
Ungewöhnliches. Der Hohn in seinen Worten ist nicht absichtlich,
scheint nicht aus besonderem Haß gegen Egmont und Oranien zu
fließen, es ist seine scharfe, strenge Natur, die ihn nicht anders spre¬
chen laßt. Nur ist er innerlich gar sehr befriedigt, daß Pflicht und
Neigung bei ihm so schön zusammenstimmen, und seinen Sohn, den
er aufrichtig liebt, möchte er zu demselben pflichtgetreuen Staatsdiener
erziehen. Wir dachten einen ultrarovalistischen preußischen Büreaukra-
ten zu sehen. — Herr Ulram als Oranien sprach sehr verständig.
Aber sein Costüme gefiel uns nicht. So breit aufgedonnert darf
Oranien nicht erscheinen; schlicht und einfach, im schwarzen Reise¬
mantel, incognito, erwarteten wir ihn. — Fräulein Be rü h art (Klär-
chen) ist eine anziehende Gestalt, voll Feuer und Talent; sie hat viel
Routine, aber auch schon zu viel Sicherheit für eine Anfängerin. Sie
war eine Liebhaberin, kein Klärchen. Dazu fehlte es ihr an
Kindlichkeit, Naivetät und vor Allem an Maß. In den Liebesscenen
zu süßlich singend, in den Marktscenen zu heftig. Wenn Einer aus
dem Volke sagt: Bringt sie bei Seite, so bedeutet das nicht, daß
Klärchen in Fieberwuth ist, sondern das Volk hält in seiner besonne¬
nen Weise ihren schönen, gefährlichen Heldenmuth für thörichten Wahn¬
sinn. Viel besser war ihre letzte Scene. — Frau Dessoir (Regentin)
hätten wir nur etwas mehr Würde gewünscht. — Der c»n<ZicI.
ttieoloxiil« und burschenschaftlich sentimentale Ohnmachtsmensch Brak-
kenburg ist an und für sich eine mißliche Figur auf der Bühne. Hr.
Richter hatte nicht die rechte Art gefunden, diesen jungen Mann
leidlicher zu machen. — Ferdinand, Alba's natürlicher Sohn, soll
allerdings jugendlich, aber nicht so gar kindhaft sein, wie er gegeben
wurde. Herr Guttmann sagte seine Rolle her, als freute er sich,
zu zeigen, daß er sie auswendig wußte. — Alle Anerkennung ver¬
dienen Ballmann als Jetter und Berthold als Bansen. So
war z. B. die vorlaute Art, mit der Jetter das von Egmont's Hals
und dem Scharfrichter herausschnatterte, recht bezeichnend.
So viel ist gewiß, zur würdigen Darstellung eines Stückes, wie
Egmont, reicht diese Bühne noch lange nicht aus. Es fehlt ihr nicht
an versprechenden Kräften, aber diese sind, mit wenigen Ausnahmen,
jung und müssen gebildet werden. Mögen trotzdem unsere classischen
Dramen, an denen allein eine Pflanzschule junger Künstler sich em-
porziehen läßt, recht oft gegeben werden; wenn auch die Aufführung
von Lustspielen und Conversationsstücken bei Weitem besser gelingt
und glänzendere Erfolge hat. Die Direction zeigt so viel ehrlichen
Willen, daß man ihr gewiß allgemein die Erfüllung ihrer schweren
Aufgabe zu erleichtern suchen wird.
— Man hört in unserer Zeit so viel von allerhand Verketzerun¬
gen, Judenfcessereien, Glaubensverfolgungen und andern kleinen Ex¬
cessen, in denen sich das vom Scheintod erstehungslustige oder in den
letzten Zügen liegende Mittelalter Luft machen will; leider sind's aber
meist nur krankhafte Prickeleien, ohnmächtige Gelüste der mit ganz
andern Geburten schwangeren Zeit, noch häusiger die glorreichen
Schöpfungen einer sich für organisch und schöpferisch haltenden christ¬
lich-germanischen, besser unchristlich-romanischen Reaction. Da freut
es Einen ordentlich, wenn man dafür einmal von einem gesunden,
ehrlichen, der heiligen römischen Reichs-Zeit würdigen Loyalitäts¬
und Glaubenscravall hört, der dem guten Volk grad vom Her¬
zen oder von der Leber kam, — wie er etwa unlängst in
Rheda in Westphalen vorfiel. Dort lebt ein junger Dichter
Lüning, der ein Bändchen voll polizeiwidriger Lyrik im Auslande
herausgegeben und sich dadurch die Ehre einer Untersuchung auf
Hochverrath und Haussuchung zugezogen hat, in der ihm
auch einige Papierschnitzel seiner (Korrespondenz mit einer Dame
weggenommen worden sind. Doch das ist es nicht, was wir meinen.
Das wäre etwas Alltägliches, denn in Preußen fehlt es so wenig an
Untersuchungen, daß man sie bald zu den „kleinen Leiden des mensch¬
lichen Lebens", zu den gewöhnlichen sicherheits- und sanitätspolizeili-
chen Maßregeln rechnen, oder wie die Militärpflicht ansehe» wird, der
Jeder genügen muß; ein preußischer Literat, der noch nie in Unter¬
suchung war, wird daher bald wie ein Matrose angesehen werden, der
noch nie die Linie passirt, wie ein Soldat, der kein Pulver gerochen,
oder wie ein ehrlicher Mann, der nie einen Rausch gehabt hat; in
Berlin und einigen anderen preußischen Städten beginnt auch in ge¬
bildeten Kreisen die Mode zu herrschen, daß man, wie sonst nach dem
Wetter, nach dem Geschlafenhaben oder Wohlbefinden, seine Bekann¬
ten fragt: „Wie untersucht es sich?" — Das also ist es nicht, was
wir meinen. Wir bewundern vielmehr nur die vertrauensvolle Ein¬
mütigkeit, die zwischen den Rhcdaern und ihrer Polizei zu herrschen
scheint. Denn kaum hatten die Ersteren gehört, daß der Hr. Lüning
in Untersuchung sei, so verbreitete sich um sein Haupt ein schwefel¬
gelber Nimbus, man war überzeugt, ein wirkliches, leibhaftiges Glied
der antichristlichen, staatsumwühlenden und wahrheitsbrunnenvergif-
tenden Propaganda in seinen Mauern zu haben, und fühlte sich in
seiner Loyalität auf das Tiefste verletzt. Wo findet man noch solchen
Glauben in Israel, wo solches Vertrauen zwischen Volk und Poli¬
zei ? Des Abends zog daher ein Haufe sonst friedlicher Bürger — so
meldet der Westphälische Merkur — vor Lüning's Wohnung, schlug
ihm die Scheiben ein, rief: „Heraus mit dem Demagogen! Heraus
mit dem Gotteslästerer!" und hätte noch manch Anderes gerufen und
gethan, wenn nicht die Polizei selbst die wohlmeinenden Eiferer im
Zaum gehalten und Herrn Lüning — als Untersuchungsgcgenstand
ein werthvolles Object vor weiteren Demonstrationen geschützt
hätte. — Jetzt erklärt Herr Lüning in mehreren Zeitungen, es sei
eine Beleidigung und Verleumdung der Rhedaer Bürger, wenn man
den Unfug ihnen zuschreiben wolle; die Serenade sei ihm von einem
königlich preußischen Assessor arrangirt worden! Wie kann man einem
königlich preußischen Assessor, einem studirren, gebildeten Manne, ei¬
nem Mitglied des preußischen Veamtenstandes, dergleichen aufbürden
wollen! Wenn die Serenade von den Bürgern ausging, ist es ein
Anderes! Wir sehen nicht ein, wozu es von diesen wie eine
Blamage abgewälzt zu werden braucht, und wir lassen uns
den schönen' Glauben an die Richtigkeit der ersten Darstel¬
lung um so weniger nehmen, als wir, in vollem Ernst,
darin einen Beweis sehen, daß die vielgerühmte Einfalt und Gläu¬
bigkeit des deutschen Volkes nicht überall eine bloßeZeitungstradition,
sondern wirklich weit her ist. Nein, die wackern, altehrlichen Rhed¬
aer Bürger sollen leben! ohne etwa damit die Übertretung der Po¬
lizeigesetze predigen zu wollen. Jetzt sehen wir, daß es noch Gegen¬
den im Vaterlande gibt, wo ein zweiter Socrates, ein Bruno von
Nola oder ein anderer Märtyrer täglich erstehen kann; den nicht an
der Vlasirtheit unserer Bildung liegt es, nicht an dem allgemeinen
Mangel an Muth und Aufopferungslust, daß wir keine rechten Blut¬
zeugen für die modernen Ideen haben, sondern nur an der rechten
Gelegenheit, an dem rechten Widerstand. All' die Polizeien und
Kanzleien mit ihren Untersuchungsapparaten und Maßregelungen sind
selber halb und halb aufgeklärt, sie haben keine Consequenz und keine
Ueberzeugung und spielen wie die Katze mit der Maus, ohne den
Muth, etwas zur Entscheidung zu bringen. Die Nhedaer reden, wie's
ihnen um's Herz ist, und thun, wie sie reden. Wäre das, was die
servilen Zeitungen vom deutschen Volke sagen, wahr, so, müßte es
überall Scenen geben, wie dort. Könnten aber die ehrlichen West-
phalen mit einem Mal all die Aufklärung und politische Bildung sich
eintrichtern, die in anderen Gegenden herrscht, sie würden sich nach
der entgegengesetzten Seite hin gerade so benehmen und vielleicht vor
anderen Fenstern rufen: „Heraus mit dem Spion! Heraus mit dem
Heuchler! Heraus mit dem Speichellecker! ?c.
— In Nürnberg lebt ein Mann und Bibliothekar, Namens
Ol. Ghillany, der seit Jahren in dicken und dünnen Büchern den
Beweis führt, daß die Juden wirklich Menschenfresser sind und stets
bis heut zu Tage das Blut von Christenkindern zu ihrem Osterbrode
brauchten. Er führt seine Beweise gründlich und wissenschaftlich, durch
Citate aus Eisenmenger, aus alten Scharteken aus den Zeiten des
finstersten Judenhasses, und endlich aus — der Bibel, die er mit
den unglaublichsten Verdrehungen nothzüchtigt. Leider ist er so un¬
glücklich, keine allgemeine e u roy al sah e Judenunt e r su ebur g ver¬
anlassen zu können. In kleineren Kreisen mag er indeß glücklicher
sein. Vor einiger Zeit erhielt er von einem armen jüdischen Hau-
sirer, dem vielleicht von Pastoren, Schulmeistern und Bauern mit
Ghillany's wissenschaftlichen Resultaten etwas hart zugesetzt wurde,
einen anonymen Schmahbrief. Darauf erklärte Ghillany in der
„Dorfzeitung", daß es ihm um der Juden willen Leid thun würde,
wenn er sich genöthigt sehen sollte, den erwähnten Schmäh¬
brief zu veröffentlichen. Denn dann würde die Welt erst
sehen, was die Juden für ein Volk seien und was Einer
riskire, der ihnen „wissenschaftlich" die Wahrheit sage. — Wahrschein¬
lich ist also ein Bischen Menschenfressen noch gar nicht so arg, denn
das weiß ja die Welt schon von den Juden. Aber ein Schmähbrief
an 0,-. Ghillany! Das freilich übersteigt alle Grenzen.
unter den glänzenden Göttern und Heroen der Welt? Einsam würde
ich dastehen unter den hohen Herren; denn wo sind meine Thaten,
wo sind meine Siege, wer stellt mir das Patent meines Ruhmes
aus? Einsam würde ich stehen, wie ich jetzt stehe, kein blendender
Sohn der Sonne, kein Triumphator mit dem Lorbeerkranz, nein, ein
blutiges Nordlicht, kalt, thränenlos an dem starren, ehernen Himmel
des Pols.
Dir den ste'lzen Titel ausfertigen. Es fehlt Nichts, als daß. wir
Dir das Diplom der Dictatur überreichen.
neue, wo die Menschen aufwuchsen, die Etiketten auf dem Rücken, wie
die Pflanzen im botanischen Garten!
gefangen geben dem Zauberworte, sich um das siegverheißende Ban¬
ner schaaren. Ihr seid treulos; ihr verrathet den Adler der Repu<
but, den stolzen Sonnenaar der Freiheit. Die schlagfertigen Legionen
werden zu feilen Miethssöldnern. Das wird ein Puppenspiel mit
Bleisoldaten, der alte Zeitvertreib gelangweilter Könige. — Das
wäre viel Lärmen gewesen um Nichts; ein blutiges Taschenspieler-
Kunststück, um einige Köpfe Einsatz. — Doch halt! Ist das nicht
Feigheit von mir? Mißtrauen in meine eigene Tugend? Bin ich
nicht stark genug, selbst eine Krone in's Meer zu werfen? Und ich
sollte dem Popanz der Dictatur nicht dreist in das Auge sehen, ihn
nicht verabschieden können, wenn seine Zeit um ist? Mein Volk will
es, ich bin der Märtyrer seines Willens. Mein ganzes Leben geht
auf in der Freiheit; kann ich sie je verrathen? Gibt es einen Zau¬
ber, der stark genug ist, das Innerste, das Eigenste des Menschen
umzukehren, die Wahrheit seines Lebens zur Lüge zu machen? Den
gibt es nicht! Wohlan, ich wage die Dictatur! Doch, ich will nicht
vorgreifen. Jeder Augenblick ändert die Constellation der Gestirne,
macht zur Sünde, was eben Tugend, zur Tugend, was eben Sünde
war. Erst muß ich meine Feinde im Convent zu Boden kämpfen,
dann gilt es den kühnsten Schritt! Doch meine Dictatur kann nur
die Dictatur der Tugend sein. Nichts wäre ich, als der erste Die¬
ner des Volkes, der erste Sklave der Freiheit! Nicht in den Flam¬
men der Morgensonne, nicht in der Glorie der Majestät würde mein
Stern aufgehen über Frankreich, siegesprangend und schwelgend im
Glänze, nein, bescheiden und still, ein freundliches Licht der Hütten,
von der Welt, eine verbuhlte Betschwester. Doch ich bin heute in
einer verschnupften Stimmung. N) weiß acht, wo sich mein Ge-
"'^
Was, Widerstand? An den Laternenpfahl mit den Rebellen! Wer
wagt es, mit der Polizei zu spaßen? Donner und Wetter!
auf den Beinen stehen. Deine Allmacht wackelt wie ein hohler Zahn.
Geh schlafen, Robespierre!
Jrrlichtertanz kreisen die Sterne seines Schicksals; ich fürchte sehr, sie
werden in den Abgrund taumeln.
Der Aufstand der schlesischen Baumwollenweber ist ein Gegen¬
stand von allgemeinerem deutschem Interesse geworden. Er war das
erste Wetterleuchten in der schwülen Atmosphäre, welche die Niederun¬
gen der Volkszustände überzieht und in einem großen grauenvollen
Ungewitter sich über den ganzen Staat zu entladen droht. Man
kennt jetzt genauer die Ereignisse der Junitage der Weber; man hat
Abschriften ihrer Marseillaise, womit sie den Krieg der Armen gegen
die Reichen begannen; man sieht, daß die Arbeiterclassen im Allge¬
meinen nicht länger die historischen Kreuzträger und Sündenböcke der
krankhaften Gesellschaftsentwicklung sein wollen, wornach die anarchi¬
schen Erwerbs- und Eristenzverhältnisse der Massen der Oligarchie
des Capitals und der Spekulation schutzlos anheimfallen.
Die Vorfälle in Prag und andern österreichischen Fabrikorten
haben auf das Signal des schlesischen Weberaufstandes die eigen¬
thümlichen Belege geliefert, daß äußere Anregungen, wie sie für
Schlesien albern genug der Presse schuldgegeben werden, den wirk¬
lichen Ausbruch des von Einsichtigen längst prophezeihten Krieges
nicht herbeigeführt haben. Nur die Feinde der gesinnungsvollen
Presse, denen die Kenntniß der Volkszustände überhaupt und die der
speciellen schlesischen Weberverhältnisse ganz besonders abging, konn¬
ten auf diese fernliegende Ursache verfallen.
Wenn diese der Betrachtung einen ungemein reichhaltigen Stoff
geben, wenn Theorie und Praris sich in seiner Erklärung und vor¬
schlagsweisen Neugestaltung den Rang abzulaufen suchen, wenn da¬
bei in naher Folgerung die Gegenwart und Zukunft des ganzen
Gesellschastsbildes in den Gesichtskreis gerückt werden kann, so müssen
die wahren tiefliegenden Grundursachen jener Thatsachen hierzu die
Basis bilden. Unter den Arbeiterunruhen der jüngsten Zeit verdiene
einer gewissen Eigenthümlichkeit der Verhältnisse wegen, der Aufstand
der Baumwollenweber am Eulengebirge die größte Aufmerksamkeit.
Wer den Schauplatz, die dortigen Arbeiterverhältnisse und ihre Her¬
anbildung genau kennt, hat die Pflicht, mit ihrer unparteiischen Dar¬
stellung dem öffentlichen Urtheile den Dienst der Wahrheit zu leisten.
Dies will auch ich versuchen, da mir noch keine geschichtlich er¬
schöpfende Beleuchtung jener Verhältnisse und Ereignisse im Journal¬
bereiche bekannt geworden ist.
Im Anfange des Jahrhunderts führte der Kaufmann Sade-
beck zu Reichenbach im dortigen Kreise, jetzt dem volkreichsten des
preußischen Staats, die Baumwollenweberei ein, welche mit dem
spätern Sinken des Leinenhandels einen außerordentlichen Flor ge¬
wann. Das Leinengeschäft hatte die äußern Ursachen seines Verfalls
im gänzlichen Aufhören des Absatzes nach Polen und in dem immer
mehr verringerten nach Spanien und den transatlantischen Ländern,
die innern in der verschlechterten Beschaffenheit der ehevem so be¬
rühmten schlesischen Waare und in den allgemein ungünstigen
VerbrauchSconjuncturen, welche sich den Baumwollenzeugen zu¬
wandten.
Während nun in den Thälern westlich und nördlich vom Eulen¬
gebirge dem alten Erwerbszweige in Leinen immer mehr fleißige
Hände entbehrlich waren, wurden sie auf der östlichen Seite begie¬
rig in Anspruch genommen. Dort vermehrten sich, zur fabrikmäßigen
Verfertigung der Baumwollenwaaren, die großen Etablissements vor¬
nehmlich in den zwischen der Kreisstadt Reichenbach und dem Ge¬
birge meilenlang sich hinziehenden Dörfern, welche durch neuen An¬
bau eine noch größere Ausdehnung und durch die stets gesteigerte
Betriebsamkeit eine außerordentlich anwachsende Bevölkerung erhiel¬
ten. So wurde namentlich Langenbielau, mit jetzt dreizehn Tau--
send Einwohnern, ein Dorf, mit dem sich in statistischer und indu¬
strieller Wichtigkeit nicht leicht eine Mittelstadt von gleicher oder
auch größerer Seelenzahl, überhaupt aber kein anderes Dorf in
Deutschland vergleichen konnte. Nur in Ungarn soll das Dorf
Czaba mit zweiundzwanzig Tausend Einwohnern ihm den Rang
ablaufen.
Bei aller gesteigerten Dürftigkeit und verdüsterten Zukunftsaus-
ficht entschlossen sich gleichwohl die Leinenweber nicht so allgemein
zu der neuen Arbeitöfahne zu schwören, wie man es hätte erwarten
sollen. Dies moralisch und physisch verkümmerte Geschlecht, größten-
theils vom Vater auf Sohn und Tochter in ununterbrochener Folge
an den Leinenwebstuhl vererbt, hatte sich in der Gewohnheit einen
hundertjährigen Götzen erzogen, und darbte lieber, als daß es sich
jetzt mit Energie der Baumwollenweberei oder einer andern besser
lohnenden Arbeit gewidmet hätte. Bisweilen mochte auch ein ge¬
wisses Ehrgefühl davon abhalten, insofern der Leinenweber bei
aller Dürftigkeit eine freilich nur scheinbare Selbständigkeit bewahrt.
Denn er ist selbst der Fabrikant «in mmiuturv, d. h. er verfertigt
von dem aufgekauften Garne sein Gewebe für eigene Rechnung und
sucht es auf den dazu eigens bestehenden Märkten an die Leinen-
kauflcute abzusetzen, welche die Bleiche und Appretur der Waare für
den Welthandel besorgen. Der Baumwollenweber dagegen ist der
bloße Lohnarbeiter und Jndustriesklave des Fabrikanten, indem er
von diesem das Garn zu der Arbeit und nach ihrer Ablieferung
einen bestimmten Preis dafür empfängt. Dieser betrug zur Blüthe¬
zeit des neuern Erwerbszweigs wohl das Doppelte und Dreifache des
Einkommens, welches der Lcinenweber in seinen, von den Übeln Con-
juncturen bedrückten selbständigen Arbeitsverhältnissen während der¬
amerrinen konnte.
selben Zeit mühsg
So hungerte diesseits der Eule ein solcher starrsinniger Ge¬
wohnheitsmensch gewissermaßen aus Prinzip, indeß sein zur Baum-
wollcnweberei bekehrter Gewerksgenosse jenseits des Gebirges Arbeit
in Fülle und reichlichen Verdienst fand. — Da die nahen Leinen¬
weber sich den Chancen ihres Gewerbes nicht in solchen Massen ac-
commodirten, wie man ihrer bedürfte, so zogen die Fabrikanten in
jener glücklichen Vergangenheit, wo die Hast des Absatzes aller.
Baumwollenwaaren den Fleiß und die Arbeitszeit des Webers noch
überbot, von andern Seiten Arbeiter aller Art herbei, welche nach
einer Lehrzeit von einem oder ein paar Monaten die einfache mecha¬
nische Fertigkeit zum Betriebe des leichten einträglichen Gewerbes
hinreichend erlangen konnt.n. Bald machte dasselbe seinen Weg durch
alle nahen Thäler und über die Berge und fand in allen Häusern
eAunahme.
uvorkommend
In diesen Umständen lag der Brütpunkt zu dem jetzigen
Elende der Weber im Allgemeinen. Ihr mit fleißigen Händen ohne¬
hin reichlich versehenes Gewerk wurde mit Schaaren unzünftiger Leute
überschwemmt, welche sich andern Nahrungs- und Dienstverhältnissen
entzogen. Bet der herrschenden Gewerbfreiheit war dies hier eher
als bei einem andern Gewerbe möglich, wo die Regierung noch
eine gewisse wohlthätige Zunftordnung beim Betriebe duldet und auch
wohl schützt, während sie sich um die Zunftverbindung der im Ge¬
birge freilich sehr zerstreut betriebenen Weberei nicht bekümmerte und
die durch die Verhältnisse begünstigte Anarchie sorglos einreisten ließ.
— Bei den drängenden Arbeitsanforderungen mußten nämlich die
Gewerksmeister der Baumwollenweberei, die Besitzer der Webstuhle
und Locale, ohne Wahl und Bedenken aller zu erlangenden Arbeits¬
kräfte froh sein, die sich darbietenden Subjecte nach einer vier- bis
achtwöchentlichen Lehrzeit, statt wie bei andern Gewerken nach einer
mehrjährigen, zu Gesellen ernennen, und mit ihnen nach dem Her¬
kommen den Arbeitslohn der Webstuhle zur Hälfte theilen. Dieses
Herkommen wurde' durch einen esprit av noms auch in anderer
Hinsicht festgehalten; nämlich in der einer schrankenlosen persönlichen
Freiheit. Der Jüngling, der aus einer Weberfamilie stammt, hat
bereits als Knabe die nothwendigsten Handgriffe des Gewerks er¬
lernt und tritt, nach Entlassung vom Schullehrer und Geistlichen,
mit vierzehn bis sechzehn Jahren oft schon als Gesell auf, da es
keine bestimmte und an ein gewisses Alter gebundene Lehrzeit gibt.
Der Bursche unterliegt um innerhalb des weiten Umkreises der
Staatsgesetze keiner weitern Bevormundung mehr, weder von Seite
der Eltern noch des Arbeit gebenden Meisterst Er ist vielmehr, wie
die ältern Gewerksgesellen, sein eigener Herr im eigentlichsten Sinne
des Worts, von keinem Haus- und Zunftgesetze beschränkt. Er
kann, dem anarchischen Herkommen gemäß, arbeiten, wann und
wie er will, die Arbeit unterbrechen und sich auf Stunden ange¬
nehmere Unterhaltung suchen, so oft er will; er darf sich an keinen
Termin, an keine Woche, an keinen Tag gebunden halten, und Ar¬
beit und Meister ganz nach Laune verlassen, ohne das angefangene
Wehe zu vollenden.
Die Folgen dieser vorzeitigen und zügellosen Selbständigkeit wa¬
ren nun zur Zeit des Arbeitsüberflusses bei den Baumwollenwcbem
Trägheit und Liederlichkeit. Der Meister durfte dem Gehet-
Im seines Betragens wegen nicht eine zürnende Miene machen, viel
weniger ein tadelndes Wort sagen, sonst war er in Gefahr, ihn zu
verlieren, da jener schon bei einem der nächsten Nachbarn wahrschein¬
lich neue Arbeit finden konnte. Der frühreife, aber nur mechanisch
brauchbare Geselle sah sich also auch nicht einmal durch die Furcht
vor Entlassung in seinem willkürlichen Treiben beschränkt und zur
Thätigkeit nur in so weit angehalten, als es der Erwerb seines wö-
chentlichen Unterhalts und des zur Feier des Sonntags und blauen
Montags todtzuschlagenden Geldes dringend nöthig machte. Erst in
der wüsten Hälfte des Dienstags trat er die Arbeit der neuen Woche
unaufgelegt und zäh wieder an, um sie am Sonnabende oder Sonn¬
tage Mittags zu schließen, und die Fuselseligkeit der sich mehrenden
Wirthshäuser im Vereine mit liederlichen Dirnen von Neuem zu er¬
kaufen. Nach Umständen ward auch ein solches Frauenzimmer ge-
heirathet, und eine Menge Kinder die einzige Folge des segenlosen,
wüsten Lebens.
So versank, bei dem Mangel aller wohlthätigen Gewcrköord-
nung, der Webergesell in tiefe Unsittlichkeit, und vom Handwerker
zum Taglöhner herab. Es kosten sich alle Bande frommer Scheu.
Sohn und Tochter verließen den Vater, wie den fremden Meister,
sobald er sein Ansehen gegen ihre zügellose Liederlichkeit geltend ma¬
chen wollte; denn sie wußten anderwärts ihren Gesellenlohn zu ver¬
dienen, und es galten nur arbeitende Hände, nicht dem Fami-
lienwohle zugewandte Herzen. Das Beispiel dieses lustigen, zwang¬
losen, an'ö Herrenlebcn streifenden Gesellenverhältnisses blieb natürlich
nicht ohne Reiz auf andere Arbeiterklassen der Fabrikortschaften, die
sich zu strengerer Ordnung und Thätigkeit angehalten sahen. Vorzüg¬
lich der Bauernknecht und die Magd, die mit der ersten Morgenstunde
des Montags schon an schwere unausgesetzte Arbeit mußten — wäh¬
rend der Webergesell entweder noch schlief oder sich mit dem Plane
quälte, wie er den zweiten Feiertag jeder Woche mit Genuß und
Zeitvertreib ausfüllen sollte — reflectirten natürlich: So gut könnten
wir's ja auch haben, da die Sache so leicht ist! — Sie liefen also
zu der lockenden Arbeitsfahne des Webstuhles hinüber, wo sie sich
während der kurzen Lehrzeit mit ihrem Sparpfennige durchzubringen
wußten, und nach der leidlichen Abarbeitung von fünf bis zwanzig
Wersten, je nach der OertliclMt, als vollkommene Weber erklärt wurden.
So kam es, daß der Bauer in den Fabrikorten wahrend dieses
goldenen Zeitalters der Baumwollenweberei bald kein zufriedenes und
thätiges Gesinde erhalten, daß er es überhaupt nur aus der Ferne
beziehen konnte. So kam es ferner, daß der anarchische Erwerbs¬
zweig sich mit verwilderten Gesindel überfüllte, welches selbst beim
Eintritte des silbernen Zeitalters nicht auf eine» Sparpfennig für das
drohende eiserne bedacht war, denn die von der Regierung zahlreich
concessionirten Wirthshäuser forderten allzulockend ihre Eristenz vor¬
nehmlich von den zusammengedrängten Tausenden von Webern.
DaS eiserne Zeitalter der etwa zehn Jahre lang vorzugsweise
blühenden Baumwollenweberei ist längst erschienen. Längst schon
haben die gesunkenen Conjuncturcn für die am Eulengebirge verfer¬
tigten Waaren Tausende jener Ueberläufer überflüssig gemacht, bei
denen von einem näheren Eindringen in die Zugehörigkeiten des Hand¬
werks nie die Rede sein konnte. Längst schon waren die Fabrikan¬
ten in ihrer Willkür über die Arbeitslöhne die Sultane der nach
Arbeit seufzenden, nun übermäßig fleißigen Weber geworden, und
diese durch die Aenderung der Verhältnisse und den Hunger ihre Leib¬
eigenen. Immer wieder auf bessere Zeiten hoffend, verschmähten es
wohl die Meisten, zu der früheren, härteren, aber auch sichereren Be¬
schäftigung zurückzukehren; die Fabrikherren aber verschmähten, im
Bewußtsein ihrer Macht, einen geringeren Gewinn, und die größere
Wohlfeilheit der Waare zu größerem Absätze derselben wurde durch
immer härtere Lohnbedrückung erzielt. Ob dabei ein Mensch, der
täglich vierzehn bis achtzehn Stunden arbeitet, sich noch an Kartof¬
feln sättigen und mit einem Kattunlumpen bedecken könne, war ihnen
höchst gleichgiltig; denn sie achteten die Weber nur ihren Webma¬
schinen gleich, was diese in Bezug auf die Arbeit freilich auch mei-
stentheils nur waren. Sie wünschten die vielen Tausende, welche sie
herbeigerufen, allerdings zu beschäftigen, aber nicht aus Humanität,
denn diese hat bei einem echten Kaufmanne keine Stimme und wird
als Sentimentalität in'S Reich des Absurden verwiesen. Daß ehren¬
volle Ausnahmen stattfanden und gegen diese Anklage geschützt sind,
versteht sich von selbst. Das Lied, welches nach den Excessen der
Weber erschien, bezeichnet z. B. Herrn Wagenknecht als einen Fabrik¬
herrn, dem ein Vivat! gebracht wurde.
Der geschicktere Weber, der sein Handwerk gründlich erlernte,
indem er außer den gewöhnlichen mechanischen Fertigkeiten sich auch
eine wirklich umfassende Sachkenntniß erwarb, wird bei bestehenden
Verhältnissen und ausdauerndem Fleiße die Ordnung seines Haus¬
wesens und den Ruhm eines ehrlichen Mannes vielleicht noch zu
erhalten im Stande sein, besonders wenn er von Haus aus die noth¬
wendigen Mittel besaß, dem verschiedenartigsten Begehr des Fabri¬
kanten durch veränderte Einrichtung des Webstuhles und Lieferung
künstlicherer Waaren zu entsprechen. Allein die Zahl solcher Männer
ist nicht groß, wohl aber die derjenigen Subjecte, welche nur die
oberflächlichste GewerbSkenntniß besitzen. Bei diesen stellt sich, unter
verbürgter Nichtigkeit, heraus, daß durchschnittlich der kleine Häusler
nach Abzug der laufenden Aus- und Abgaben einundvierzig Thaler
zu seiner und seiner Familie jährlichen Unterhaltung übrig behält,
während bei dem zur Miethe wohnenden Weber sich diese kleine
Summe auf achtundzwanzig Thaler, eilf Silbergroschen reducirt. Es
ist dabei vorausgesetzt, daß fortdauernde Beschäftigung stattfand. Wer
diesen beiden Classen und Stufen des Erwerbs sich noch beizählen
kann, hat sich glücklich zu preisen, denn es wohnen zerstreut in den
Thälern um die Eule Tausende von Häuslern, welche zwei volle
Dritttheile der Löhnung entbehren, bei der die angegebenen Summen
als reines Unterhaltögeld verbleiben. Daß die Existenz dieser Leute
noch möglich ist, erklärt sich aus zwei unrechtmäßigen und einem
mindestens tramigen Aushilfsmittel: aus dem Raffinement, mit dem
sie die Fabrikherren um einen kleinen Theil des ihnen anvertrauten
Garnes zu betrügen wissen; aus ihren kecken häufigen Holzdiebstäh¬
len in den nahen Forsten und in dem Bettelertrage ihrer Kinder,
welche schaarenweis die Dörfer durchziehen. Aendern sich indeß bin¬
nen zehn Jahren die Verhältnisse des Handels und insbesondere der
Bevölkerung nicht, so möchten auch die reichsten Communen der dor¬
tigen Gegend dann außer Stand gesetzt sein, ihre Verarmten zu un¬
terstützen und zu unterhalten.
Fassen wir nun die geschichtliche Uebersicht der Weberzustände
am Eulengebirge in den einzelnen Punkten scharf in's Auge, so er¬
gibt sich daraus, daß an dem dortigen allgemeinen Elende die Ueber¬
füllung des gesunkenen Erwerbszweiges mit Arbeiterhänden die Grund¬
ursache ist, indem sie den Fabrikherren die härteste Lohnbedrückung
möglich machte. Diese Ueberfüllung entstand aus der Leichtigkeit, mit
der sich Jeder dem Weberhandwerk zuwenden konnte, also aus dem
Mangel einer Gewerbsordnung, welche die Regierung bisher
zu geben unterließ, während sie sich nur um die Steuerfähigkeit der
Weber, nicht um ihre moralischen und gewerblichen Zustände kümmerte.
Vielleicht unterblieb es aus Prinzip, um nicht die Gewerbefreiheit zu
beschränken. Es unterliegt aber aus medizinal-polizeilichen Gründen
die Apotheke, aus politisch-moralischen die Presse gewissen gesetzlichen
Beschränkungen, die mit der Gewerbefreiheit im weitesten Sinne auch
collidiren. Daher sollte man meinen, die Physische und moralische
Fürsorge hätte sich auch einem Gewerbe zuwenden können, das bei
seinen eigenthümlichen Verhältnissen so sehr einer gesetzlichen Verfas¬
sung bedürfte, um nicht viele, auf wenige Meilen zusammengedrängte
Tausende in den Wechselfällen des Handelsverkehrs der rohen Bedrük-
kung einiger Geldaristokraten und damit dem Elende und der Verzweif¬
lung preisgegeben zusehen! Wer hätte dem Weber im Allgemeinen die
moralische Kraft zumuthen wollen, der lockenden Sinnlichkeit und Träg¬
heit zu widerstehen, und für die eingetretene schlimme Zeit auf einen
Nothpfennig zu denken! Sollen die Schule und der Religionsunter¬
richt diese moralische Kraft hervorgerufen haben!? Bei der frühzeiti¬
gen Brauchbarkeit der Weberkinder in den Nebenbeschäftigungen des
Handwerks ist ihr Schulbesuch sehr beschränkt, und was dadurch in
dem Burschen und der Dirne Gutes aufgebaut worden, riß das böse
Beispiel der Masse bald nieder.
Schwer zu entscheiden ist vor der Kenntniß der offiziellen Er¬
sahrungen die Frage, welche unmittelbare Ursache die Tragödie am
4. und 5. Juni herbeiführte. Längst hat es in den Gemüthern ge-
gährt, längst haben die Weber sich gesagt, daß sie allein unter den
schlechten Conjuncturen zu leiden hätten, da die Fabrikanten bei ih¬
rem Geschäfte immer noch die Mittel zu einem üppigen Leben und
enormen Lurus fänden. Sie haben aber auch eingesehen, daß das
harte und eigennützige Verfahren Einzelner, wie z. B. der Gebrüder
Zwanziger, den menschlicher gesinnten Fabrikanten zu bösem Beispiel
gereichte, indem Jene auf den Messen die Concurrenz durch die Spott¬
preise ihrer eigenen Waaren überflügelten und lachend riefen: solche
Wohlfeilheit sei durch herabgedrückte Arbeitslöhne möglich! — Rech¬
net man zu dem allgemeinen Pauperismus, daß Viele durch den
Ankauf oder die Erbauung von Wohnungen aus urbar gemachtem
Boden, die sie nicht behaupten konnten, um ihre geringen Ersparnisse
kamen, und erinnert sich an die Worte deö einen der Herren Zwan¬
ziger, womit er die demüthige Vorstellung der Weber gegen aber¬
malige Herabdrückung der Arbeitslöhne beantwortete, so kann man
wohl darin den zündenden Funken erblicken, der in das Pulverfaß
fiel. „Freßt Gras und Klee, das ist draußen reichlich gewachsen!"
So lautete das Verdammungsurtheil der Armen, und es mag in
den Annalen unserer Provinz aufbewahrt bleiben, wie es in der
Marseillaise der Weber steht. Wahrscheinlich ist, daß einige kräftige,
intelligente Naturen unter ihnen die allgemeine Stimmung lange vor¬
her bearbeiteten, ehe das Volksgericht über die harten Fabrikherren
und insbesondere über die Herren Zwanziger wirklich ausbrach. Ge¬
wiß aber ist, zufolge der Untersuchung, daß kein fremder Einfluß, keine
communistische Theorie in das Eulengebirge drang und an dem
Aufstande Theil hatte.
Die ultillm rutio rexum hat für jetzt mit den letzten Demon-
strationen zweier Haubitzen auch den Weberaufstand gedämpft. Aber
das Hungergespenst, das wie sonst drohend über die Berge und durch
die Thäler schleicht, dürfte sich nicht immer so rasch beschwören lassen,
da auf die Sympathien von Millionen zu rechnen ist. — Eine mög¬
lichst rasche Zerstreuung und anderweitige Beschäftigung der allzu
dicht gedrängten Webermassen, welche die Speculation seit Jahren
heranzog, ist die nächste unabweisliche Aufgabe der Regierung, wobei
sie sich von den wohlthätigen Vereinen zur Abhilfe der Weber- und
Spinnernoth sicher kräftig unterstützt sehen wird. Wir rechnen hier¬
her als zweckmäßig die Einleitung von Kolonisationen und die Er¬
richtung eigener Arbeitshäuser, welche mit den Fabriken in möglichste
Concurrenz zu treten suchen. Ein eigenes Gewerbegcsetz für die
Weber diene aber als Palliativmittel gegen ähnliche Zustände der
Zukunft. Diese würden mit einem neuen Aufschwünge der Handels¬
verhältnisse für Baumwollenzeuge gewiß wieder eintreten, und nach
einem Lustrum vielleicht, sobald die üblen Conjuncturen sich wieder¬
holten, auch eine Wiederholung des düsteren Dramas herbeiführen,
jm Fall dies Gesetz unterbleibt. Es schreibe eine feste Gewerböord-
nung vor: eine mehrjährige Lehrzeit zuerst, die mit vierzehn Jahren
angetreten wird, dann einige Wanderjahre und endlich ein angemes¬
senes Verhältniß der Gesellen zu den Meistern, eine bestimmte Kur-
digungszeit der Arbeit, das Wegfallen der sogenannten blauen Mon¬
tage u. s. w. Dabei beschränke die Negierung in den Fabrikdörfern
die Wirthshäuser und Branntweinkneipen. Sind nur erst die allzu
überflüssigen Arbeitskräfte möglichst abgeleitet, was freilich sehr schwer
ist, so wird aus dem Gewerbsgesetze in der Erschwerung neuen Zu-
drangs, langsam, aber sicher eine neue freundlichere Aera für das be¬
drückte Handwerk hervorgehen, indem es bei geringerer Zahl seiner
Angehörigen von der unmittelbaren Willkür der Kaufleute und Fab¬
rikanten erlöst ist und diesen in der festen Gestaltung einer Corpo¬
ration würdiger gegenübersteht.
Nebst den fünf Artillerie-Regimentern, dein Feldzcugamte, dem
Bombardier- und Feuerwerks-Corps besteht die österreichische Artille¬
rie noch aus vierzehn Districten, welche in allen Provinzen vertheilt
sind und in den Festungen der Monarchie ihren Sitz haben. Zu
Commandanten dieser Districte werden meistens solche Stabsoffiziere
ernannt, welche vermöge ihrer physischen Gebrechlichkeit nicht mehr
für den Felddienst geeignet, d. h. entweder schon so alt sind,
daß sie nicht mehr das Zimmer verlassen können, oder so hinfällig,
daß sie sich oft auf einem abgelebten Gaul anschnallen lassen müssen,
wenn sie nicht herabfallen sollen. — Ist es nicht traurig, daß man
in der gerühmten österreichischen Artillerie eine Einrichtung bestehen
läßt, die das Ansehen des Offizier-Corps so sehr untergräbt? Mag
ein Offizier einen physischen oder moralischen Fehler haben, und ist
derselbe in jenen Districten, so sagt man: „Er ist ja nur von der
Garnisons-Artillerie!" und jeder Garnisons-Artillerie-Offizier, der
nicht unter Prinzen Eugen von Savoven gedient hat, — der nicht
auf Krücken geht, beide Augen im Kopfe hat, — der alle Wochen
zweimal nüchtern und so belesen ist, daß er weiß, Cicero sei kein
Hausmeister in Wien gewesen, — muß auf die demüthigende Frage
gefaßt sein, wie er in die Garnison gekommen ist?
Aus den individuellen Eigenschaften der Artillerie-GarnisonS-
Bewohner könnte man schließen, daß diese Garnisonen einen unter¬
geordneten Zweck haben müßten, daß der vorkommende Dienst keine
physischen Kräfte erfordere, und daß der Wirkungskreis der Offiziere
von der Art sein müsse, daß daran gar Nichts liegen könne, ob die¬
selben moralisch oder unmoralisch, bornirt oder gebildet seien.
Den österreichischen Artillerie-Garnisonen liegt in Friedenszeiten
nicht nur die Erzeugung aller Waffengattungen sammt Zugehör, der
Munition, der Laffetirung u. s. w. ob, sondern sie sind die Depots,
worin die Hauptkriegs-Materialien und derlei Gegenstände aufbe¬
wahrt und admimstrirt werden. Sowohl die Erzeugung als die
Conservation dieser kostspieligen Gegenstände erfordert ein sachverstän¬
diges Aufsichtspersonale, und wo Sachkenntniß nicht unumgänglich
nöthig ist, ist doch jederzeit gesunder Menschenverstand, Gedächtniß
und Genauigkeit unerläßlich. Zur Inspicirung eines Holzdepots
braucht man freilich leinen gediegenen Artillerie-Offizier; denn die
Stücke abzählen, ab- und zuschreiben, das wird wohl Jeder treffen,
der zählen und schreiben kann. Aber Munitions-Erzeugung und
Zeugsarbeiten leiten, Geschütz und Munition untersuchen, zweck¬
mäßige Depositirungen, die genaue Kenntniß des erforderlichen Ma¬
terials, dieses sind die wesentlichen Eigenschaften eines Artillcrie-
Garnisons-Offiziers, wenn er seine Pflichten erfüllen und seinem
Stande Ehre machen will. Daß man in einem Districte immer
einige Individuen findet, die eine oder die andere Eigenschaft besitzen,
ist freilich wahr, daß aber die meisten nur zum Holzschlichten, zum
Kugelputzen und zu Werkstatt-Inspektionen mit Beigabe eines oder
zweier Feuerwerker verwendet werden können, ist auch wahr.
Wenn sich daher in Loco acht Offiziere befinden, so pflegt die
Eintheili ng folgendermaßen zu sein. Der älteste Offizier ist krank,
der zweite ist mit einem Zimmermeister im Holzschlag, weil er fünf
hcirathsfertige Töchter besitzt und Diäten bezieht, übrigens vom Holze
keine Kenntnisse besitzt. Diese Commandirung dauert der Diäten
wegen drei Monate und trägt s-is et not'-is alle Jahre zwei-
hundertfunfzig Fi. C.-M. Der Dritte ist mit einem Feuerwerker
beim Kugelputzen angestellt. Der Vierte hat alle Holzdepots zu in-
spiciren, wobei ihm zwei Feuerwerker assistiren. Der Fünfte hat mit
einem Hauptmann und Feuerwerker den Gewehrsaal in Ordnung zu
erhalten. Der Sechste, eigentlich der Matador, hat die Munitionö-
Erzeugung und die Munitions-Depot-Respicirungen und alle jene
Dienste zu bestreiten, wozu man etwas Verstand bcnöthiget und
wozu man nicht den ersten besten Handlanger hinstellen kann. Die
zwei letzten wechseln mit der Personal- und Werfftatt-Inspection ab.
Die Feuerwerker sind den Offiziers aus dem Grunde beigegeben,
damit, wenn der Eine oder der Andere betrunken ist, noch immer ein
Mann von Gewicht da stehe. Wer nicht die kleinen „Geheimnisse
der Garnison" kennt, der wird sich wundern, daß gerade diese Indi¬
viduen, die Nichts wissen, Nichts zu wissen brauchen und fast Nichts
zu thun haben, da was sie thun, auch Nichts ist, — daß gerade diese
Individuen, sage ich, Zulagen genießen und mit Sinecuren bedacht
sind. Jeder Offizier, der beim Pulververschluß angestellt ist, —
wozu keine wissenschaftliche Vorbildung erfordert wird, genießt eine
jährliche Zulage von mehrern Hundert Gulden; ja selbst ein Offizier,
der über zwanzig Jahre bei der Uebernahme des ärarischen Werk-
cisens in Steinfeld bei Wiener-Neustadt angestellt ist, welche An¬
stellung doch für einen Schneidergesellen geeigneter und zweckmäßiger
wäre, bezieht eine jährliche Zulage von einigen Hundert Gulden,
und wird ohnehin bei seinem Avancement wegen seiner Bravheit be¬
dacht; und damit er bei Erreichung des Hauptmannsgradcs, welcher
oft die Beibehaltung der innegehabten Anstellung nicht zuläßt, nicht
etwa in finanzieller Hinsicht verkürzt werde, gibt man ihm dann als
Hauptmann neuerdings eine Anstellung, die ihm beträchtliche Emo-
lumente abwirft und zwar aus dem edlen Beweggrunde: weil der¬
selbe durch so viele Jahre im Genusse einer beträchtlichen Zulage
für's Faullenzen war und daher bei seinem verdienten Avancement
keinen Schaden erleiden darf. — Eine merkwürdige Rubrik bilden
die Posto - Commandanten, welche gewöhnlich Hauptleute, seltener
Stabs-Offiziere und subalterne Offiziere zu sein pflegen. Diese
Posto-Commandanten, welche in den minderen Festungen einer
Provinz, entfernt vom Districts-Stuhle, zerstreut sind, daselbst selb¬
ständige, jedoch vom Districts-Kommando abhängige Commandanten
vorstellen, beziehen gewöhnlich fire Zulagen, haben Gärten, Grasun¬
gen und Localitäten zu verpachten, haben das Monopol der Marke¬
tendern hintanzugeben, — können den Gewalthabern aller Branchen,
Generälen, Feldcorpö-Commissärs, Verpflegungsveamtcn, Aerzten und
politischen Behörden Gefälligkeiten erweisen, — können dem unter¬
stehenden Personale Concubinat erlauben oder verwehren, und kön¬
nen die beihabenden Professtonistcn, Büchsenmacher, Schlosser, Schmiede,
Wagner, Zimmerleute, worunter sich immer geschickte Tischler, Drechs¬
ler :c. befinden, für sich und für andere Personen verwenden, — sie
können die Zeughäuser, welche sie als Commandanten bewohnen, in
Meierhöfe umwandeln und mit Federvieh bevölkern, und endlich
können sie mit den Unter- und Oberzeugwarts, die als Rechnungs¬
leger ihnen beigegeben sind, ganz gemächlich und ungenirt ...rechnen.
Was von den Posto - Commandanten gesagt wird, gilt im höhern
Maßstabe auch von den Districts-Commandanten.
Zur Verständigung für Profane muß ich einige der vorerwähn¬
ten Punkte erläutern. — Bei der Organisirung der Artillerie-Gar-
nisons-Districte schien der edle Grundsatz vorgewaltet zu haben, für
verdienstvolle Artillerie-Offiziere in ihren alten Tagen friedliche und
angenehme Dienstanstellungen auszumitteln, um selbe nicht alsogleich
bei eingetretener Gebrechlichkeit dem Pensionsstande übergeben zu
müssen, ohne jene Abnormitäten vorauszusetzen, welche mit der Zeit
entstanden sind. Es wurden daher alle die Zeughäuser, welche zu
Wohnungen dieser halbinvaliden Offiziere dienen sollten, mit Gärten
dorirt, welche unter die Offiziere nach ihren Chargen zum Genuß
vertheilt waren. ' Bei der Vermehrung der Offiziere wurden diese
Gärten nicht vermehrt, und bei ihrer Unzulänglichkeit wurden sie an
bestimmte Anstellungen geknüpft, so daß derjenige, auf dem der wich¬
tigste Dienst liegt, z. B. Munitionserzeugung, Personaldienst u. s. w.
nie in den Genuß eines solchen Gartens tritt, weil derselbe nur
demjenigen gebührt, der z. B. die Depots zu respiciren hat. Daß
der größte Garten und mittelst Usurpationen oft auch mehrere Gär¬
ten dem Commandanten zur Benutzung oder Verpachtung überlassen
sind, versteht sich von selbst.
Rings um alle Artillerie-Depots gibt es große Plätze, die zu
den verschiedenen Manipulationen und zum Auf- und Abladen noth¬
wendig sind. Diese großen Plätze, die nicht angebaut, sondern mit
Gras bewachsen sind, gehören dem Artillerie-Commandanten, so wie
auch derselbe von der Grasung in den Festungswerken mit dem
Festungs- und Fortisications-Commandanten seinen Antheil erhält,
der oft viele Hundert Gulden abwirft. — Die Munirions- und
Pulver-Magazine sind meistens mit einer Mauer umgeben, in deren
innerem Raume diese Depots in angemessenen Entfernungen liegen
und wo die Wohnung des inspicirenden Magaziudieners, der hiezu
vom Gemeinen zu avanciren pflegt, oder des Offiziers liegt. Man
merke wohl, entweder des Magazindieners oder des
Offiziers! Die Obliegenheiten für den Inspicirenden sind gleich.
Sie bestehen, hauptsächlich darin: alle Tage bei schönem Wetter die
Fensterläden auf- und zuzumachen, — wenn etwas dahin abgesendet
wird, solches zu übernehmen, und wenn etwas abverlangt wird,
auszufolgen, alle Wochen einmal dem Commandanten mündlich oder
schriftlich zu melden, daß nichts Neues ist, und wenn der Comman¬
dant visitiren kommt, ihn sammt seiner Familie nach Würden zu
rractiren. Die Bewachung geht das Wachpersonale an und der
Jnspectionirende hat nur das Recht, eine Fahrlässigkeit in dieser Hin¬
sicht anzuzeigen. Für diese geistesanstrengenden Mühen hat ein solcher
gemeiner Kanonier oder der seine Stelle vertretende Offizier den Ge¬
nuß des um diese Depots, wegen Feuergefahr und zu Manipulatio¬
nen liegenden Grundes, der öfter von einer solchen Dimension ist,
daß darauf ein hübsches Dorf stehen könnte. Diese Plätze werden
zu Gärten umgewandelt und mit Zäunen umgeben, und nur eine
Strecke brach gelassen, die als Wiese entweder verpachtet oder zum
Heufutter für eigens eingestelltes Vieh benutzt wird. Diese Inspek¬
toren müssen den Gewinn mit den Commandanten theilen, oder
Letztere bedingen sich blos jährlich einen Zins aus. Der Eine muß
z. B. die erforderliche Milch, der Zweite das Gemüse, der Dritte
Hülsenfrüchte und der Vierte Obst liefern. Gedeiht das Federvieh,
so wird es der Diskretion eines jeden solchen inspicirenden Gemei¬
nen oder Offiziers überlassen, wie viel derselbe dem Herrn Comman¬
danten davon abliefern will. — Wird ein solcher Magazindiencr oder
Offizier versetzt, so muß der Nachfolger den Garten mittelst einer Ablösung
an sich bringen, sonst wird derselbe wieder in seinen Urständ versetzt.
In jeder Festung gibt es eine Menge Loyalitäten, die der Gar-
msons-Artillerie zur Benutzung überlassen sind. Es gibt aber keine
einzige Festung, wo alle diese Localitäten mit ärarischen Gütern be¬
legtsind. Diese leer stehenden Behältnisse, welche feuersicher, gewölbt
und wegen der aufgestellten Wachen vor Einbruch gesichert sind,
werden besonders aus letzteren Grunde von Handelsleuten gesucht
und sehr gut bezahlt, und in Mantua und Venedig sind diese
Vcrmiethungen eine schöne Hilfsquelle für die dortigen Commandanten.
Um den Soldaten einen billigen Trunk zu verschaffen, ist es
von höheren Orten gestattet worden, daß in den Kasernen der Aus¬
schau! der Getränke, mit Ausnahme des Ausschankö über die Gasse,
Militärpersonen überlassen werden darf. Daher sind auch jene Indi¬
viduen, welche sich mit der Marketendern befassen, von allen Abga¬
ben, denen die Wirthe unterliegen, befreit, und es wäre gewiß eine
nicht kleine Wohlthat für den Soldaten, wenn diese wohlmeinende
Absicht der hohen Vorgesetzten in ihrer Reinheit und ungetrübt erfüllt
würde. So lange das bsno des Auöschankeö einem mit Familie
belasteten Unteroffizier oder Gemeinen ohne Steuer und ohne Entgelt
überlassen wurde, fand der Soldat um billigen Preis einen guten
Trunk und um etliche Kreuzer etwas Warmes zum Essen, er durfte
nicht, vom Ererciren und von andern Fatiguen abgemattet, eine Vier¬
tel-Stunde vor die Kaserne laufen, um sich eine kleine Erfrischung
zu kaufen. Er rastete aus, brachte weniger Geld an, blieb mehr in
der Kaserne unter den Augen der Vorgesetzten und beging viele Aus¬
schweifungen und Excesse nicht, wozu ihn außer der Kaserne häu¬
figere Gelegenheit verführt und ihm barbarische Züchtigungen zuzieht.
— Was geschieht jetzt? — Nachdem sich einige arme Teufel von
Unteroffiziers und Gemeinen durch kleinen Gewinn ein Bischen auf¬
geholfen haben, wurde selben Anfangs unter irgend einem Verwände,
z. B. zur Beleuchtung der Kaserne eine kleine Auflage aufgebürdet,
hernach erwachte der Neid unter den Kameraden selbst, — es mußte
alle Jahre gewechselt werden, damit sich ein Einziger nicht zu sehr
bereichere. Dieses ging noch Alles an, obschon der Wechsel selbst
zu fernern Mißbräuchen den Grund legte. Nun stand es dem Com¬
mandanten frei, das Recht des Ausschanks an seine Günstlinge zu
vergeben, und wenn man noch keinen Zins wie jetzt zu fordern
wagte, wurden doch leicht Mittel gefunden, diese einträgliche Befug-
niß demjenigen zu ertheilen, der der Klügste unter den Kompetenten
war, — der nämlich am besten zu schmieren verstand.
Nachdem endlich der Gebrauch geheiligt und es kein Geheimniß
mehr war, daß die Befugniß des Ausschankcs beim Commandanten
erschlichen und zugleich auch erkauft werden müsse, so wagten es viele
Commandanten, um allen Parteilichkeiten ein Ende zu machen, den
bösen Nachreden das Maul zu stopfen und den gebräuchlichen Chi¬
canen und Schleichwegen die Thür zuzuschließen, — dieses Vorrecht
dem Meistbietenden zu überlassen, und dieses edle Beispiel wurde
dann von den übrigen befolgt. Dies ist der Ursprung jener Lici-
tationen, von welchen selbst Civilisten nicht ausgeschlossen sind, ver¬
möge welcher die Marketendereien um hohen Zins, der oft bis
tausend Gulden beträgt, verpachtet wurden, und wodurch das Mit¬
tel, sich aufzuhelfen, einigen Individuen aus dem Militärstande ent¬
zogen wurde. — Ist auf diesem Wege ein Civilist Kasernen¬
wirth geworden, so geht er meistens zu Grunde; denn um den ho¬
hen Zins zu erschwingen, kann derselbe bei guter Qualität seiner
Artikel keine billigeren Preise gegen auswärtige Wirthe machen, mit¬
hin ist schon der Zulauf bei guten Qualitäten getheilt, weil doch
Viele der billigere Preis vom Auslaufen aus der Kaserne abhielt;
bei gleichen Preisen aber zieht Jedermann vor, sein Geld außer dem
widerlichen Dunstkreise der Kaserne zu verzehren, wo man mehr un-
genirt ist und mehr Zerstreuung und Unterhaltung findet. Hält der
Kasernenwirth schlechte Qualität, so wird bei vorkommender Klage
der schlechte Artikel confiscire, und den Soldaten verboten, zu ihm zu
gehen. Mithin bleibt ihm nur die Wahl, so schnell als möglich zu
retiriren, oder in kurzer Zeit Bettler zu werden. Hat dagegen ein
Militär die Marketendern erstanden, so hat derselbe hinsichtlich der
Qualität seiner Artikel weniger Rigorosität zu befürchten, und es wird
auch jederzeit mit mehr Strenge darauf gesehen, daß von Außen keine
Einschwärzungen an Getränken und Eßwaaren überHand nehmen, auch
werden die Soldaten direct durch Kasernenarrest zu fleißigerem Be¬
such djs Kasernenwirthes gezwungen; demungeachtet gelingt es Ei¬
nem bei aller Klugheit und Industrie aber äußerst selten, da - seine
Unternehmung mit Vortheil ablaufe. — Statt daß also der von hö¬
heren Orten concedirte Kasernenausschank dem Soldaten zum Vor¬
theil und Nutzen gereichen sollte, ist ihm derselbe unheilbringend. Will
derselbe etwas außer der Kaserne zum Essen oder zum Trinken holen
lassen, so muß es heimlich geschehen, und wenn es auch nicht ver¬
boten wäre, so hat der Marketender kraft seines Einflusses immer eine
Partei für sich und kann daher einen solchen Schmuggler mittelbar
chicaniren. Ist der Marketender ein Unteroffizier, und der Soldat
geht nicht zu ihm zehren, so ist er demselben ohnehin aussäßig, und
es bedarf dann des geringsten Anlasses, um sein Müthchen an ihm
zu kühlen. — Auf diese Art wird also die wohlmeinende Absicht,
dem gemeinen Soldaten das Auslangen mit seinem kargen Solde zu
erleichtern, durch die unersättliche Habsucht dieser kleinen Wichte nicht
nur vereitelt, sondern selbe zu seinem Verderben und Nachtheile verkehrt.
Ich habe ferner erwähnt, daß die Districts- und Postocomman-
dcmten den Gewalthabern aller Branchen Gefälligkeiten erweisen kön¬
nen, und ich setze hier noch bei, daß oft die wichtigsten dienstlichen
Entscheidungen von ihrer größeren oder minderen launenhaften Ge¬
fälligkeit abhängen. Alle Regimenter z. B. fassen ihre Gewehre, Ka¬
rabiner, Pistolen u. s. w. von der Garnisonsartillerie, und wie sehr
den betreffenden Regimentern daran gelegen sein muß, gute Waffen
zu bekommen, ist einleuchtend, nachdem jede Waffe ihre bestimmte Ka¬
tegorie hat und der Unterhalt derselben von dem ausgeworfenen Pau¬
schale vom Negimentscommcmdanten bestritten werden muß. In den
Arsenälen gibt es Vorräthe, — man weiß, welche Gewehrläufe bes¬
ser oder schlechter sind, weil man weiß, aus welchen Eisenminen die
sogenannten Brände gewonnen worden; man weiß z. B>, daß die
Gewehrläufe von Brescia viel besser, als jene von Stadt Steyer
sind, und es hängt daher nur von der Laune, oder von der Gefäl¬
ligkeit des Arsenalcommandanten ab, ob dieses oder jenes Regiment
mit guten oder besseren Waffen (denn gut sollen alle sein) betheilt
wird. Noch auffallender tritt das Pouvoir dieser Garnisonöartille-
riecommandanten bei dem Austausch und der Abgabe der Gewehre
selbst hervor, nachdem durch die von denselben geleiteten Untersuchungs-
Commissionen der betreffende Regimentscommandat nach der Classi-
fication der abgegebenen Gewehre entweder zu keinem, oder zu einem
großen Schadenersatze wegen muthwilliger Beschädigungen, abgängi¬
ger Bestandtheile u. s w. verurtheilt wird.
In diesem Falle muß man aber fragen, ob der Herr Garni^
sonsartilleriecommandant etwas von Gewehren versteht. Eine enorme
Absurdität ist es, die Beurtheilung der Infanterie- und sonstigen Ge¬
wehre den Artillerieoffizieren zu übertragen und zu überlassen, von
denen unter Hundert kaum Einer die nöthige Kenntniß besitzt. Wie
viele Offiziere gibt's denn in der österreichischen Artillerie, die bei
der Erzeugung der Gewehre angestellt waren und aus Erfahrung
unterscheiden könnten, ob die Mängel an den Gewehrläufen, z. B.
Schweißnathen, Gruben, Schiefern :c. zufällig, muthwillig, oder durch
den langen Gebrauch herbeigeführt worden sind?
Außer diesem Wirkungskreis, wo die Garnisonsartillericchefs ih¬
ren Gefälligkeitöstnn gegen fremde Branchen bewähren können, gibt
es in ihrem weiten Bereiche tausend und tausend Gelegenheiten, wo
sie durch Zugeständnisse und Bewilligungen höher gestellte Personen
von sich abhängig machen können, und daher bei aller lächerlichen
Individualität, bei Ignoranz, bei moralischen ^ angeln einer still¬
schweigenden Achtung genießen, die keinen anderen Ursprung hat, als
ihre Unentbehrlichkeit. — Ist ein Garnisonsartilleriechcf nur ein we¬
nig Weltmann, so kann es ihm nicht fehlen, selbst in seinem hohen
Alter, bei seiner rauhen Außenseite, bei seiner häßlichen, durch Tabak¬
schnupfen ausgedehnten, schmutzigen Nase, — sich der Gunst des
schönen Geschlechts zu versichern. Von seiner Gefälligkeit hängt es
ab, ob der Namenstag der Frau Generalin und der Geburtstag des
politischen Chefs mit Lustfeuerwerken feierlich begangen werden soll.
Er bewilligt hiezu das Material, die sachkundigen Kanoniere müssen
Raketen schlagen, und der Herr Artilleriecommandant wird zum Spei¬
sen geladen und sitzt dann der gnädigen Frau zur Rechten.
Bei keiner Gelegenheit wird aber die Güte der Garnisonöar-
tilleriechess mehr in Anspruch genommen, als bei Artillerietranspor¬
ten. Bekanntlich unterliegt jede Bagage, jedes ärarische Gut sogar,
der Untersuchung der Gefällbcamten, und nur das einzige Artillerie¬
gut, nämlich Munitions- und Artillcriefuhrwerke sind jeder Untersu¬
chung überhoben. Man kann sich daher vorstellen, wie viele und
welche Sachen bei diesen häufigen Artillerietranöporten hin und her,
ohne Anais zu zahlen, verführt werden. Daß sich diese Herren solche
Gelegenheiten selbst am besten zu Nutze machen, ist gewiß, und ich
kannte Einen, der auf diese Art einen beträchtlichen Handel mit öster¬
reichischen Weinen treiben konnte und sich bei diesem Geschäfte, wel¬
chem derselbe seine Mußestunden widmete, ein bedeutendes Kapitälchen
erwarb.
Nicht nur, daß die schreibkundiger Kanoniere in allen Aemtern,
bei militärischen und politischen Stellen, mit Bewilligung der Com¬
mandanten ihren Sitz, jedoch ohne Stimme, haben, daher das Licht
ihrer Lampen, welches sie in den verschiedenen Bureaur verbreiten,
von der Sonne, nämlich vom Commandanten unmittelbar abfassen,
und mittelst dieser Zulassung alle Stellen gewissermaßen zu Gegen¬
gefälligkeiten gegen die Garnisonsartillerie gezwungen werden: son¬
dern vorzüglich die Benutzung der Artillerieprofessionisten, besonders in
kleinen Festungen, die von Hauptstädten weit entfernt sind, umgeben
die Artilleriechefs mit einem gewaltigen Nimbus. — Auf den kleinen
Posten sind die Professiomsten im Durchschnitt höchstens das Jahr
hindurch einen Monat mit ärarischen Arbeiten beschäftigt und daher
müßten selbe eilf Monate feiern, wenn die Commandanten nicht dar¬
auf bevacht wären, sie mit anderen Arbeiten zu versorgen, um sie
dem verderblichen Müßiggange zu entreißen. Sie fangen daher bei
sich selbst an. Zuerst wird ein Reisewagen, so groß wie die Arche
Noa's, zusammengestellt, wozu das ersparte ärarische Wagnerholz und
Eisen benützt wird. Die Zimmerleute, worunter auch Tischler zu sein
pflegen, beschäftigen sich mit der Zimmereinrichtung, wozu jedoch das
erforderliche Bretterwerk, wenn es nicht im Depot vorhanden ist, K
in-i-i»ni beigeschafft wird, um es dann gelegentlich durch die
ZeugSrapporte in Verwendung zu bringen. Die Büchsenmacher ma¬
chen aus fil-u t'»rak cassirten Gewehrläufen und zum Präsent erhal¬
tenen Bestandtheilen, die in jedem Arsenal zu Tausenden überzählig
sind, neue Gewehre, und sobald selbe damit fertig sind, so arbeiten
sie gemeinschaftlich mit den Schlossern an Kaffeemaschinen, Sporen,
Messern u. s. w.
Hat der Herr Commandant seine Einrichtung und die unent¬
behrlichsten Hausgeräthschaften beisammen, so wird mit seiner Bewillig¬
ung dem Zeugwart, der die Materialien in der Rechnung auf eine
pfiffige Art durchführen muß, das Abgängige neu verfertigt und das
Alte durch Neues ersetzt. Hernach kommen die anderen Offiziere mit
Kleinigkeiten, blos mit Koffern, weichen Kasten, Kücheneinrichtung
angestochen, und haben selbe ihre Werkstattinspcctivn zu der Zeit, als
an der Einrichtung des Hauptmanns und Zeugwarts gearbeitet wurde,
fleißig gehalten, so werden ihnen aus Großmuth und Erkenntlichkeit,
zum Theil aber auch, damit sie schweigen, die Materialien unentgelt¬
lich verabfolgt, welche durch den Nechnungslcger oder Zeugwart in
die Rechnung, wie man sagt, geworfen werden. Bleibt von den eilf
Monaten noch etwas übrig und kann zur Ausfüllung der Zeit im
Hause keine Arbeit mehr aufgetrieben werden, dann wird den Pro-
Monisten zur Belohnung ihrer Mühen erlaubt, zu Pfuscher, d. h.
für andere Personen zu arbeiten. Das künftige Jahr wird unter den
Möbeln Musterung gehalten; was nicht gefällt, wird verkauft und
durch Neues ergänzt, und so wird von Jahr zu Jahr fortgefahren
und das hohe Aerar genothzüchtigt.
Diese Art Defraudationen sind in der Artillerie schon durch den
langjährigen Gebrauch sanctionirt, und ich möchte sagen, rechtlich ge¬
worden. Da in der österreichischen Artillerie kein General, kein Gar¬
nisonsartillerie-Chef, Districts- oder Postocommcmdant enstirt, der
nicht ein ärarisches Reisefuhrwerk besitzt oder besessen hätte, — dem
nicht wenigstens ein Theil seiner Einrichtung durch Zeugsprofessioni-
sten angefertigt worden wäre, und nachdem Keiner dieser Herren ein
Geheimniß daraus macht, — so gehört diese willkürliche Aneignung
des ärarischen Gutes keineswegs unter die Rubrik Defraudation. —
Wenn ich oben erwähnte, daß die Garnisonsartilleriecommandanten
mit dem Oberzeugwart und Zeugwart gemächlich und ungenirt —
rechnen, so meinte ich nicht damit die verschiedenen Erzeugungen an
Mobilien und Gerätschaften, die ihnen Nichts kosten und vom ära¬
rischen Materiale gearbeitet werden, sondern ich meinte die Berech¬
nungen jener Summen, die zur Beischaffung der abgängigen Muni¬
tionssorten, des Holzwerkes, des Eisens, des Kanzlei- und anderen
Materials von hohen Orten bewilligt sind und möglicher Weise
in den Sack der Commandanten und der Rechnungsleger fließen kön¬
nen. Ob sie auch wirklich bisweilen dahin fließen? Sicher ist es,
daß es Ersparnisse gibt, die durch geschickte Wirthschaft erzielt wor¬
den sind und daher den klugen Oekonomen „von Rechtswegen" ge¬
bühren.
Ein jedes Garnisonsartillerie-Posto- oder Districtscommando reicht
alle Jahre ein Präliminar ein, worin die Erfordernis- an allen Ar¬
tikeln ersichtlich ist, — nach diesem Präliminar werden zur Deckung
der Ausgaben hohen Orts die nöthigen Gelder flüssig gemacht. Man
braucht aber nicht alle diese Artikel; denn theils hat man Sachen
zur Cassirung angetragen, die ganz gut sind, und deren Ergänzung
ganz unterbleibt, theils werden mehr Reparaturen aufgerechnet, als
geschehen sind, und daher mußte eine größere Verwendung stattfinden, als
wahr ist, — und theils läßt man sich größere Quantitäten von den
Lieferanten bestätigen, als selbe eingeliefert haben. Auf diese Art
braucht man von der bewilligten Summe nur höchstens zwei Drittel,
ein Drittel ist also die Erspamiß, welche zwischen dem Comman¬
danten und dem Rechnungsleger getheilt, und von welcher
den unwissenden Munitionärs ein Douceur verabreicht werden
- - könnte. Die ergiebigsten Quellen für diese sogenannten Erspar¬
nisse sind die Cassirungen und Reparatur-Arbeiten.
Unter Cassirungen versteht man die Vernichtung jener Gegen¬
stände, die zum ferneren Gebrauch nicht mehr tauglich sind. Um
jeden» Betrüge zu begegnen, soll diese Vernichtung commissionaliter
geschehen, was auch jederzeit geschieht, wie die höheren Orts einzu¬
reichenden Cassirungs-Consignationen bestätigen. Der Vorgang ist
im Grunde dieser. Der Rechnungsleger geht alle Rubriken in der
Rechnung durch und setzt von jedem Gegenstande und Artikel eine
beliebige Zahl als unbrauchbar an. Ob diese Gegenstände wirklich
unbrauchbar sind, das kümmert ihn nicht, er sieht sich auch nicht
darnach um; denn die wirklich unbrauchbaren Gegenstände sind
schon längst vorgemerkt, und es handelt sich dann nur darum, diesen
wirklich unbrauchbaren die fingirt unbrauchbaren anzuhängen.
Wenn die hohe Artillerie-Censur-Behörde, nämlich das Hauptzeug¬
amt bei Prüfung dieser Cassirungs-Consignationen immer die bei¬
habenden Rechnungen, von welchen dasselbe immer eine Copie besitzt,
zu Händen nehmen würde, so würde sich selbe manchmal überzeugen,
daß öfters Gegenstände zum Cassirer angetragen werden, die in der
Rechnung gar nicht vorhanden oder wenigstens nicht so viel an Zahl
vorhanden sind. — Uebrigens ist es Vorschrift, daß alle zu cassi-
renden Gegenstände einer unparteiischen Commission vorgewiesen
werden sollen und es werden daher sehr oft die Cassirungs-Consigna-
ttonen von solchen unparteiischen Commissions-Gliedern unterschrieben,
die entweder diese Gegenstände nicht gesehen haben, oder wenn sie
selbe gesehen haben, unter dem Wüste der wirklich zu cassirenden
auch die fingirten zu sehen glauben. Da überdies die unparteiischen
Commissionsglieder in der eigenen Branche ausgewählt werden, und
eine Krähe der andern nicht die Augen aushackt, so . . . Dies ist
der Vorgang bei den Cassirungen, worüber sich noch manches spre-
chen ließe. Auf diese Art wurden bei einem einzigen Post» dreißig
Stück vierspännige complete Fuhrwerke zur Cassirung und natürlich
zur neuen Erzeugung als Ergänzung des Abgangs angetragen. An
allen dreißig Fuhrwerken wurde nicht einmal ein neuer Nagel ange¬
bracht, sondern sie wurden blos neu angestrichen, und diese dreißig
Stück Fuhnverke wurden auf dem Papier neu erzeugt und in guter
Gesundheit verzehrt. — —
Bei allen Spötteln und Zuflüssen, bei allen gesetzlichen und
ungesetzlichen Einkünften ist die Habgier vieler Zeughaus-Com¬
mandanten nicht zu befriedigen. Man werfe nur einen Blick in diese
Zeughäuser; Hühner, Kapaunen, Gänse, Enten, Indianer, ja sogar
Pfauen und Störche, Kaninchen und Schweinchen, die noch in der
Erziehung begriffen sind, laufen vertraulich untereinander, und ein
Artillerist steht unter diesen sich bekämpfenden Nationalitäten mit einem
gezogenen Säbel unter dem Vorwande, die achtzehn- und vierund-
zwanzigpfündigen, auf einem Kanker gelagerten Kanonen vor Dieben
zu bewahren, im Grunde aber um selbe vor muthwilligen Verunrei¬
nigungen durch das Thierreich zu schützen, und um die häufigen
Zwistigkeiten zwischen diesen Hausfreunden zu schlichten. Was muß
sich ein ausländischer Offizier denken, wenn er in ein österreichisches
Artillerie-Zeughaus hineinblickt und diesen Scandal sieht? — Warum
wird denn dieser scandalöse Unfug nicht durch die von Zeit zu Zeit
visitirenden Stabsoffiziere abgestellt? — Allerdings kehren diese
auf ihren Bereifungen bei den Zeughaus-Commandanten ein, um
das Quartiergeld, welches ihnen ohnehin vom Aerar bezahlt wird
etwas zu schonen, auch pflegen sie bei diesen Herren Zeughaus-
Commandanten oft wochenlang umsonst gut zu essen und zu trinken
und die ersparten beträchtlichen Diätgelder in väterlichem Wohlwollen
ihren Töchtern als Heirathsgut mitzugeben. — Diese jährlichen
Bereisungen der Garnisons-Artillerie-Posten von hohem und höchsten
Vorgesetzten, die eine enorme Summe dem Staate durch die be¬
willigten Diäts- und Quartlergelder kosten, wären allerdings dem
Dienste angemessen und ersprießlich. Allein auch bei diesen Berei¬
sungen wird oft das Gegentheil von dem erlangt, was der Staat
durch einen wohlgemeinten Kostenaufwand bezwecken will. Um den
Visitirenden in den Stand zu setzen, daß derselbe nicht zu der
Hospitalität seiner Untergebenen während seiner Visitationsreisen Zu-
flucht nehmen und sich in seinen ökonomischen Verhältnissen deran-
giren muß, — damit derselbe nicht nöthig hat, seine Abhängigkeit
für Freiquartier und Kost zu opfern, werden ihm seiner Charge an¬
gemessene reichliche Diäten, — wird ihm Quartiergeld und Vorspann
in einem solchen Maße bewilligt, daß ein jeder Visitirende nicht
nur sehr nobel leben, sondern auch seine Untergebenen tractiren
kann. Null» reAuIit sin« exeoptiuns und doch frage ich, wie viel
Ausnahmen gibt's denn von dieser Regel? Wie viel Visitationsreisen
würden denn unternommen werden, wenn die Visitirenden keine Ein¬
ladung annehmen dürften und in Gasthäusern absteigen müßten,
wozu sie doch bei dem Bezug ihrer mehr als hinlänglichen Diäten
gezwungen werden könnten?
Sie werden sich gewundert haben, daß ich in allen meinen Brie¬
fen stets auf das Capitel: Censur umständlich zurückkam. Man
konnte denken, ich hatte das aus jener kindischen Rachsucht gethan,
die den Tisch schlägt, weil sich das weiche Köpfchen dran gestoßen;
dem ist aber nicht so. Ich habe es durch Uebung schon so weit ge¬
bracht, die Leichen meiner Gedankenkinder mit thränenlosen Auge zu
betrachten. Es geschah vielmehr in der Absicht, um Ihnen den specifi¬
schen Unterschied zwischen der schlesischen und der preußischen
Censur nachzuweisen. Wenn ich gestand, daß ich nicht wisse, warum
unsere Nothstifte scharfer seien, als in allen anderen Provinzen, so
kann ich heute sagen, daß ich es nur zu gut weiß. Für Schlesien
gibt es ein special-Censurgesctz. Hören Sie, auf welche Art wir
hievon Kenntniß erhalten haben. Dem Publicisten Hrn. F. W. Wolfs
war ein Artikel von dem hiesigen Censor abermals gestrichen worden,
nachdem bereits das Ober-Censurgericht den ersten Strich für null
und nichtig erklärt hatte. Auf die abermalige Beschwerde über diese
anscheinende Willkür des Censors ist nun in diesen Tagen das Er¬
kenntniß vom Ober-Censurgerichte eingegangen, wonach der Druck des
Artikels nicht verstattet ist und zwar deshalb nicht verstattet ist, weil
nach der Alters. Ordre vom 14. Juli d. I. Besprechungen von „Ge¬
genständen, welche die unteren Volksclassen gegen die höheren, und
die Armen gegen die Reichen aufzuwiegeln geeignet sein könnten, bis
auf Weiteres den in der Provinz Schlesien erscheinenden Zeitungen,
Wochenblättern und Flugschriften gar nicht gestattet sein sollen." Zu¬
erst drängt sich die Frage auf: Weshalb ist die Ordre nicht publicirt
worden? Weil's eine geheime Ordre ist. Und weshalb gelangt sie
nun doch zu unserer Kenntniß? Weil das Ober-Ccnsurgericht seine
Inkonsequenz damit rechtfertigen mußte. Diese Antworten liegen auf
der Hand. Schwerer dürften sie aber auf folgende Fragen sein > da
kein Gesetz eine rückwirkende Kraft haben soll, warum findet die
Ordre vom 14. Juli auf einen Artikel Anwendung, der bereits vor
dieser Zeit vom Ober-Censurgerichte die Druckerlaubnis; erhalten hatte?
Da in Berlin ebenfalls die Fabrikarbeiter gegen ihre Herren aufgestan¬
den sind, wird diese Ordre auch für die Provinz Brandenburg Gel¬
tung erhalten? Wird man überhaupt in dem Maße die Presse be¬
schränken, in welchem die Gährungen und die Unzufriedenheit in den
unteren Volksclassen zunimmt? Wer ist, der Antwort gibt? — Hier
zeigt sich übrigens recht deutlich, was für eine Ansicht man noch von
der Presse und ihrer Wirksamkeit hat. Man betrachtet sie wie ein
Spielzeug, wie eine bunte Rüstung, die man unmündigen Knaben
schenkt, damit sie zur Kurzweil logische Gedankenreihen sorniiren und
gegen ihre eigenen Schatten kämpfen. Kommt aber der Hofhund, der
ihnen das Vesperbrod stiehlt, so müssen die Kleinen ihre Säbel ab¬
schnallen und ruhig zusehen. Grade wenn die Presse ihre Macht be¬
währen könnte, wenn sich Gelegenheit bietet, wo sie zeigen kann,
was sie ist, grade dann wird sie in Fesseln gelegt. Worüber sollen
die schlesischen Publicisten nun schreiben? Politische Fragen werden
sie nicht behandeln tonnen, ohne in der vierten Zeile auf die socialen
Verhältnisse zurückzukommen; folglich müssen sie Litaneien componiren,
christlich-germanische Lieder singen, Morgen- und Abendbctrachrungen
anstellen. Ich bitt' Euch, Herrn, geht zu Bett, 's ist Schlafenszeit!
Der rothwangige Polizeidirecror Duncker weilt noch immer in
unseren Mauern, man meint aus Theilnahme für seinen Univcrsitärs-
freund und Bruder E. Pelz. Zwischen Beiden muß in der That ein
intimes, wahrhaft sympathetisches Verhältniß bestehen, denn je röther
sich die Backen des berühmten Inquirenten vom Champagner färben,
desto blässer wird das Antlitz des nicht minder berühmten Jnguisiten
von der Gefängnißluft. 'S ist doch schön, solchen hochgestellten und
tiefsichtigen Mann zum Freunde zu haben. Die Vreslauer können
gar nicht mehr froh werden, seitdem Duncker sich hier aufhält. Wenn
sie des Abends gemüthlich beim Biere sitzen und eine fremde Physio¬
gnomie erblicken, stürzen sie alsbald die „Halbe" hinunter und ren¬
nen davon. „Mir wird dunkerlich vor den Augen" ist eine Stadt¬
phrase geworden. Dort und dort ist er gewesen, das und das hat
er erspäht, so und so hat er gesagt. Es ist erschrecklich, was für eine
Angst man vor dem gemüthlichen Duncker besitzt! Man begreift gar
nicht, wie Berlin in seiner Anwesenheit so viel „kühle Blonde" con-
sumiren kann. Und trotzdem hatte sich in der Hauptstadt dieser Tage
das Gerücht verbreitet, wir hätten ein Attentat auf das Leben unse-
^ f«^»« ^->waat Gott bewahre uns! Was die Berliner von den
sehn f we Mewung haben! ^nich Thebens ist ein Schle-
sier ?lich nach der Berliner Logik ,eder Schles.er e.n Zschech. -
Soll es v n !°in Eindrucke erzählen, den der Mordversuch h.er her-
?° aebra-de i Das ist kaum nöthig, aber erwähnen w.it .es daß auch
7eim'ge Schlesier aus Berlin" in der Ac.tung von befleckter Prov.n-
zial-Ehre syes-n-
^^^^Unsere ^h'°l°g n sind ^ ^ Nachweis, wie manhandelt sich um nchts ^ '"S- ,^ ^^^^ Nichttheologen behaupten,sel.g wer en ronn- F -. - -1 unse iqen Gezänke rechtdaß es für sie schon Se " ^ » »
fern ^^se°h-"- N^-.1?e aus-"d'ähriges Jubiläum, und die Un-das SeUgke. sdog.in U) r i ^ ^. ^ Kampfhähnen zu Mutheem.ge-.t «-.rd um groß^en p !^ ^ z ^ ^„„^
^er^ehr^us^ Augenblicke he rschV zwar ein
W ff nstillstand, aber wie w.r hören, rüsten sich die Parteien zu
,?um b ton Wir würden gar Nichts dagegen haben,
wenn die theologischen Herren zu ihrer eigenen Belustigung sich rauf¬
en aber betrüben muß es, daß sie Kriegsmanifeste unter das Volk
schleudern daß sie aus der trostlosen Einsamkeit ihres formalen
Standpunkts herabsteigen, an der religiösen Ueberzeugung der Ge¬
meinden rütteln und die erregten Leidenschaften als Succurs mit auf
den Kampfplatz schleppen. Es ist unverzeihlich, daß unsere literarisch-
volitisch-n Kräfte dieser Wirthschaft kein energisches Veto entgegen¬
setzen und das Volk sich und ihren Doctrinen abspenstig machen las¬
sen Da sind überdies noch die kirchlichen Mäßigkeitsvereine, welche
, ' -r^naarme immer weiter ausstrecken und das rein humanistische
Element erdrücken. Gründe genug für unsere Politiker, die Hände
nicht unthätig in den Schooß zu legen. Wenn nur die Ordre vom
Das bedeutendste Ereigniß, das im Laufe dieser Woche das hie-
siae Publicum beschäftigte, war d.e am 15. August geschehene Eroff-
nuna d^ Es ist dieselbe aber auch in der That
n? blos fu7Berttn! Mdern für das gesammte deutsche Vaterland
ein bedeutendes Ereigniß zu nennen. W.r sehen h.er zum erstenmal
einen deutschen Eongreß, auf welchem n.ehe d.e Fürsten, sondern d-e
Völker vertreten sind, und zwar die Völker nicht durch ihren Zehr¬
stand, wie es in den Ländern mit hohem Wahlcensus der Fall zu sein
pflegt, sondern ausschließlich durch ihren Nährstand, welcher die Reich¬
thümer, die Jene verzehren, schafft, und die Ideen, die der Lehrstand
in Theorien aufstellt, in der Praxis anzuwenden und nutzbar zu ma¬
chen weiß. Ja, das ist es hauptsächlich, was unser Jahrhundert vor
seinen Vorgängern auszeichnet, daß es die Wissenschaft dem Leben
naher zugeführt, und daß es einen großen Theil dessen, was
früher bloßes Handwerk war, zugleich zum Werke des Kopfes gemacht
hat. Keine Fabrikation gibt es heute, die, wenn sie sich nur irgend¬
wie über das Gewöhnliche erheben will, ohne Kenntnisse der Chemie
oder der Mathematik betrieben werden kann. Hier sehen wir die letz¬
tere dem Maschinenbau auf wahrhaft ungeahnte Spuren helfen und
das der bloßen Menschenhand Unmögliche durch die Macht des Dam¬
pfes ausgeführt, und dort sehen wir in der Verarbeitung der Metalle
die neuesten Entdeckungen des Elektromagnetismus angewandt oder in
einer die Natur fast übertreffenden Farbenpracht alle Hilfsmittel der
Chemie benutzt. Das Zeughaus gibt in seinen zwei mächtigen Ge¬
schossen von dieser Vereinigung der Wissenschaft und der Industrie
die glänzendsten Zeugnisse, aber auch die Kunst ist als die Dritte im
Bunde zu nennen, denn die künstlerischen Formen der akademischen
Aeichnenschule lassen sich ebenso in den plastischen Werken der Eisen-
und Zinkgicßerei, wie in den vielen tausend Mustern der leinenen,
wollenen, baumwollenen und seidenen Stosse erkennen. Und nicht
blos geschmackvoll und mannichfaltig sind die hier ausgelegten Proben
deutscher Industrie, sondern auch die Anforderungen, die hinsichtlich
der Solidität und der Wohlfeilheit gestellt werden, finden sich hier
befriedigt, und so wird denn diese deutsche Ausstellung zugleich zum
lebhaftesten Vorwurf für alle Diejenigen, die die Befriedigung ihrer
Mode- und Luxusbedürfnisse immer noch von den Zufuhren aus Pa¬
ris und London abhängig machen, ohne Rücksicht darauf, daß manche
Dinge aus diesen Hauptstädten verschrieben werden, die man sich dort,
um sie solider und wohlfeiler zu erhalten, aus Deutschland kommen
läßt.
Allgemein bedauert man, daß weder der König, noch einer der
Prinzen, ja nicht einmal der Finanzminister hier anwesend ist, um,
die jetzt aus allen Gegenden Deutschlands in Berlin zusammenströ¬
menden Industriellen zu empfangen. Es ist zwar die sogenannte po¬
lytechnische Gesellschaft hier zusammengetreten, um bei dieser Gelegen¬
heit den Wirth zu machen und die Fremden in einem dazu gemie¬
theten Wirthshauslocale aufzunehmen; diese Gesellschaft aus den in-m-
nichfaltigsten Elementen zusammengewürfelt, ist jedoch in keiner Weise
als eine Autorität anzusehen, welche die gewerbliche Industrie Ber¬
lins ZU vertreten befugt ist.
Von den Bewegungen unter den Kattundruckern, die hier in der
vorigen Woche nach dem Beispiele Prags stattgefunden, ist jetzt keine
Spur mehr, da alle wieder zu ihrer Arbeit zurückgekehrt sind, und
zwar ohne daß ihnen irgend ein Zugeständnis) gemacht worden. Wir
haben jedoch das Vertrauen zu der Humanität der hiesigen, größten-
theils sehr achtbar renommirten Kattundruckcreibesitzer, daß sie, wenn
erst die jetzige Aufregung vorüber sein wird, die Beschwerden ihrer
Untergebenen gründlich untersuchen und da, wo es der Stand der
Fabrikation irgend zuläßt, ihnen Zuschüsse zu ihren Arbeitslöhnen be¬
willigen werden.
-
>),. Pcutz, der jetzt in Halle domicilirt, war auf einige Wochen
hier anwesend, um den Proben und ersten Aufführungen seines „Mo¬
ritz von Sachsen" beizuwohnen. Von letzteren hat er jedoch nur Eine
sehen können, da es vorläufig dabei geblieben ist, und wie es scheint,
auch keine zweite Aufführung stattfinden wird. Nicht etwa hat das
Stück mißfallen; im Gegentheil, man kann sagen, daß seit langer
Zeit kein Drama bei seiner ersten Darstellung vom Publicum mit
so stürmischem Beifall aufgenommen worden. Prutz wurde sowohl im
Laufe, als nach Beendigung des Stückes hervorgerufen und hielt
eine Anrede an das Publicum, worin er das Verdienst des Abends
von sich ablehnte und die Ursache der großen Theilnahme in der Idee
der Freiheit suchte, die in diesem Drama behandelt werde. Möchte
nur, fügte er hinzu, diese Idee bald auch im Leben unter uns ihre
würdigen Vertreter finden! Man glaubt, daß es gerade der Beifall
war, den diese Worte gefunden, was den Anstoß zur NichtWiederauf¬
führung des Stückes gab, denn angekündigt auf dem Zettel war es
bereits, als mit einem Male unvorhergesehene Hindernisse dazwischen
kamen.
Nestrov beendigt in diesen Tagen sein Gastspiel auf dem König¬
städtischen Theater. Man kann eben nicht sagen, daß er Furore ge¬
macht, wiewohl er gerade bei dem gebildeten Theile des Publi¬
kums, dem er als ein gemüthvoller Darsteller erschien, der sich fern
von aller Possenreißer« hält, den meisten Beifall fand. Höchst wider¬
wärtig war die Art und Weise, wie die Kritik der Bossischen Zei¬
tung, die hier in Theatersachen ein sehr einflußreiches Organ ist, den
geschätzten Gast behandelte. Herr Professor Gubitz, der diesen Theil
der Vossischen Theaterkritik schreibt, hat den Groll gegen das Königs¬
städtische Theater, dessen Komödienzettel nicht mehr in seiner Officin
gedruckt werden, auch auf die fremden Gäste übertragen, und das ist
doch wohl mehr als ungastfreundlich! Es ist hohe Zeit, daß die Thea¬
terkritik der Vossischen Zeitung sich regenerire, wenn sie nicht riskiren
will, selbst auf das geduldigste Publicum ihren Einfluß zu verlieren.
Das Schicksal liebt die Contraste und die Fremdenliste liebt sie
auch. Bald nach dem König von Sachsen ist ein anderer Reisender
bei uns angekommen, welcher die Aufmerksamkeit der Behörden und
weiterer Kreise lebhaft erregt hat. Er saß jedoch auf keinem Throne,
sonoern die meiste Zeit seines Lebens mit gekreuzten Beinen auf
einem Tische, in den letzten Monaten aber im Gefängniß oder auf
der Festung. Ich meine Weitling, den Eommunisten, der es für
nöthig halt, das Kleid unserer Gesellschaft zu wenden und ihm einen
neuen Schnitt zu geben. Darüber entsetzte sich namentlich Herr
Bluntschli in Zürich und es gelang ihm wirklich, vorläufig Staat
und Gesellschaft zu retten und Weitling in's Gefängniß zu bringen,
aus dem er vergebens vor dem Ablauf der ihm bestimmten Straf¬
zeit einmal zu entwischen suchte. Eines schönen Morgens aber
war man gewillt, den gefährlichen Mann der goldnen Freiheit
zurückzugeben, d. h. unter Gensd'armenbegleitung und zu Fuß über
die Grenze zu transportiren. Weitling widersetzte sich dieser, aller¬
dings willkürlichen Maßregel und schrie auf offener Straße um Hilfe,
wurde in das Gefängniß zurück- und dann in einen Wagen geschafft,
worin er, fortwährend unter der sorgsamsten Obhut von zwei Schwei¬
zer Gensd'armen, nach Stuttgart reiste. Magdeburg, seine Vaterstadt,
erreichte er vermuthlich unter ähnlicher Sauvegarde. Noch in seinen
Gefängnißklcidern traf er da ein, fand jedoch wohlwollende Theilnahme
an seinem Schicksale. Die Behörden selbst verfuhren mit voller Hu¬
manität gegen ihn; nur siel es ihnen ein, ihm das Heimathsrccht
streitig zu Machen, da es nach einer gesetzlichen Bestimmung jedem
Preußen verloren geht, der ohne besondere Erlaubniß länger als zehn
Jahre im Auslande verweilt. Weitling bestritt die rückwirkende Kraft
einer Verordnung, die später, als er Magdeburg verlassen, gegeben
ward. Heimathsberechtigt oder nicht, Weitling wurde für die Dauer
nicht in seiner Vaterstadt geduldet. Man wollte ihn bewegen,
seinen Aufenthalt in Amerika zu nehmen, wogegen er sich sträubte.
Er geht nun von hier nach England. Die preußische Negierung
zahlt die Kosten seiner Reise von Magdeburg aus, so wie die seines
hiesigen Aufenthaltes. Auf englischem Grund und Boden angekom¬
men, erhält Weitling von seinem liebevoll - furchtsamen Vaterlande
noch ein Zehrgeld von zwei Pfund Sterling und dann überläßt man
ihn mit erleichterten Herzen seinem Eommunismus und seinem Schick¬
sal. --Liegt nicht etwas entsetzlich Komisches in dieser hastigen
Depottation eines Mannes, den man jetzt, möge man über sein frü¬
heres Treiben noch so mißbilligend den Kopf geschüttelt haben, noth¬
wendig als einen Märtyrer der Idee betrachten muß? Wie kleinlich,
wie erbärmlich ist dieses Deutschland in seinem Ankämpfen gegen
jede fremdartige Erscheinung, die ihm etwas unbequem auf das Ner¬
vensystem fallt. An ein ruhiges Abwarten des Entwickelungsprozesses,
der ihr etwa vorbehalten sein könnte, wird nie gedacht. Und doch
hätte man sich so oft durch ein solches jede gewaltsame Anstrengung,
das Unbequeme bei Seite zu schassen, ersparen können--aber
Deutschland hat weder Seelengröße, noch ein gutes Gewissen. Darin
liegt's! Bei Campe wird von Weitling eine Liedersammlung erschei¬
nen. Er hat sie zu Zürich im Gefängniß geschrieben. Kerkerpoesie!
Es liegt immer ein eigener Reiz darin. Im Unglück und als Ver¬
liebter wird der Mensch am häufigsten zum Dichter. Weitling hat
zu seinen Liedern eine Vorrede geschrieben, die ich gelesen habe und
die, ungekünstelt, doch klar abgefaßt, sehr für ihn einnimmt. Er hat
auch englische Verse gemacht, was doch bei einem ehemaligen Schnei-
dergesellen selbst Leute, die ihn sehr verächtlich behandelt, ansehnlich
in Erstaunen setzen dürfte. — Die neue Gedichtsammlung von
Heinrich Heine, die ich Ihnen schon angekündigt, wird nächstens
ausgegeben; eben so die fünfte Auflage vom Buch der Lieder. Man
spricht auch von Heine's Memoiren. Er erregt noch immer war¬
mes Interesse im Kreise seiner Freunde. Für den großen Haufen ist
hier auch ein Literaturgenie von keiner weiteren Bedeutung, als daß
man einmal vernimmt: „Haben Sie schon gehört, der Heine ist
hier." „So? — kenn' ihn nicht. Und der Kaffee! Was sagen
Sie — schon wieder gewichen!" — Heine hat übrigens weniger
Embonpoint, als bei seiner Anwesenheit im vorigen Spätherbst. Sein
Witz hat sich vielleicht der blassen Fettwangen geschämt — Hier
noch eine Anekdote, deren Mittheilung bei ihrer'echt humoristischen
Natur wohl keine Indiskretion ist und die mir als vollkommen
wahr erzählt wurde. An der Tafel seines Onkels kam das Gespräch
neulich auf Heine's Polemik in Versen gegen den König von Baiern.
„Hör' mal. Du!" sagte der alte wackere Salomon zu seinem Neffen,
„ich begreif' nicht, wie Du Dir so was herausnehmen kannst gegen
'nen König. Was bist Du gegen den? 'n Lump bist Du!" —
„Da hast Du freilich recht, Onkel," antwortete der Dichter äußerst
gelassen: „aber siehst Du, das Versemachen ist mein Geschäft. Der
König von Baiern macht auch welche, beeinträchtigt mir mein
Handwerk und das brauch' ich nicht zu leiden, — also —"
Es geht hier jetzt die Sage, das beständige Regenwetter dieses
Sommers sei eigentlich Directionswetter und von den hiesigen wie
auswärtigen Bühnenvorstanden zur Entschädigung für frühere schlechte
Zeiten dringend erfleht. Unser Stadttheater hat allerdings jetzt die
brillantesten, und die überfüllten Hauser sind eben so häufig, wie es
in der letzten Wintersaison das schauerliche Gähnen war. Tichatschek,
der übrigens noch an keinem Abend mit durchgängig unbelegter Stimme
sang, ist fortwährend die Hauptzugkraft. Man honorirt ihn ausge¬
zeichnet. Dreißig Louisd'or für jede Vorstellung, fünfzig für jede
fünfte und der Ertrag eines halben Benefizes sind die Bedingungen,
unter welchen er hier gastirt. Seltsam genug, dieser ausgezeichnete
Künstler ist nie vor dem Forum des Berliner Publicums erschienen.
Jetzt, da seine Vlüthezeit vorüber, wird er wohl thun, dessen stren¬
ges capriziöses Urtheil gar nicht mehr herauszufordern. — Derselbe
„Chevalier de Grignon", welcher durch Bousses Meisterspiel in Paris
Furore und Monate lang volle Hauser machte, hat hier bis jetzt nur
eine Vorstellung erlebt, die sogar unter Oppositionslauten endete.
Freilich interessier das artige Stück am meisten vom französischen
Standpunkte aus, und es gehört zur richtigen und wirksamen Dar¬
stellung des Hauptcharakters eine Mischung von tiefem Gemüth und
feinere unabsichtlichere Komik, von naturwahren, flüssigem Spiele
und französischer Liebenswürdigkeit, die ich vollkommen einem Dö-
ring oder Hoppe zutraue, aber in dem stets prätentiös gemachten,
«ckigrn und declamatorisch gespreizten Wesen unsers guten Grunerr
— dessen bessere Talentgaben auf ganz anderem Gebiete liegen —
gleich vielen Andern, durchaus vermißte. — Gutzkow's „Pugatschef"
ist angenommen, eben so das vielbesprochene englische Preislustspiel:
„Huiu' >>,-<> s>no" oder „Der Tag der Rarren." — Im Thaliatheater,
wo man täglich Scholz von Wien erwartet, reitet Herr Wilhelm
Kunst als Lückenbüßer in sattsam bekannter Weise seine Parade¬
pferde.
— Josef Rank ist in Prag nach einer Hast von vierzehn Ta¬
gen auf freien Fuß gestellt worden. Ob die Untersuchung, wie es in
mehreren Blättern heißt, gegen ihn fortgesetzt wird, wissen wir nicht;
wir hören aber, daß man höheren Orts, wo Freunde sich für ihn ver¬
wendeten, die Versicherung gab, seine Verhaftung sei nur einem Mi߬
verständnis! zuzuschreiben und man würde ihm einen Paß zur Reise
nach Norddeutschland gewiß nicht verweigern. Hoffen wir, daß diese
Worte eine Wahrheit sind. Ein Theil derselben wird sich bald be-
wahren können, da Rank wirklich noch einmal um einen Paß nach¬
gesucht hat. — Das ist der Stand dieser, in den meisten Zeitungen
mit gerechtem Unwillen besprochenen Angelegenheit. Traurig aber ist,
im Allgemeinen, daß in Deutschland bei jeder Bagatellftage so un¬
geheuere Anstrengungen und Auseinandersetzungen nöthig sind, bevor
man einsieht, es sei eine Bagatellfrage; wenn man aber glaubt, es
sei endlich die letzte Krähwinkelei gewesen, so kommt den andern Tag
wieder der alte Schulmeister, und von Neuem muß man die Welt¬
geschichte und das Christenthum, die zehn Gebote und die Menschen¬
rechte in Bewegung setzen, bevor er die drohende Ruthe aus der Hand
legt. Die Erfahrung hat immer nur für den speciellen Fall gegolten.
Sollte man nicht glauben, bei der Rank'schen Paßsrage, das Erzge¬
birge sei eigentlich das Pyrenäengebirge und auf dieser Seite wüthe
ein carlistisch-christinischer Bürgerkrieg, die Polizei aber sei nicht auf¬
geboten worden, um einen harmlosen Novellisten, sondern um einen
gefährlichen Factioso aufzuheben? Diese Tragikomik ist kein blos öster¬
reichischer Zug, wie Mancher, mit dem Balken im Auge, sagen wird.
Preußen ist ja so eben im Begriff, sich mit viel Lärmen um Nichts
in lauter Untersuchungen aufzulösen, und laßt in solchen Dingen noch
weniger mit sich reden, als Oesterreich. Was die übrigen kleinen
Deutschlands betrifft, so sagen wir: H»it dem Manne, der
kein Fremdling ist in Acgvpten, oder einen Heimathsschein auf Lebens¬
zeit besitzt! —
— Ein Paar ergötzliche Beispiele von gar zu großer Czechophobie werden
in der Augsburger Allgemeinen angeführt. Dort hatte ein Wiener Cor-
respondent behauptet, die Czechomanie grassire bereits in Böhmen der¬
maßen, daß auf der Herrschaft Liboch deutschen Parteien vom Gericht
auf gut Czechisch geantwortet werde. Liboch ist aber ganz deutsch,
eben so der dortige Justitiar, Herr Hable, ein Mann von einigen
achtzig Jahren. Dieser erklärt nun in der Augsburger Allgemeinen,
er wisse sich auf czechisch kaum nothdürftig verständlich zu machen,
um so weniger könne es ihm einfallen, auf seine alten Tage dieses
schwere Idiom schreiben zu lernen; er bitte daher den Wiener Corre-
spondenten, in seinem blinden Eifer nicht „einen deutschen Mitbruder
umzurennen." Jener selbe Correspondent hatte auch von den vielen
russischen Brillantringen in Böhmen gesprochen und in weissagungs¬
vollem Tone gewünscht, daß nicht dereinst eine Kette daraus werde.
Nach einer Berichtigung aus Prag reduciren sich aber die vielen rus¬
sischen Kettenglieder auf vier, deren eins auf einen hohen katholischen
Geistlichen, und eines auf den deutschen Buchhändler Haase kommt,
welcher ein deutsches Werk dem Hofe von Se. Petersburg zugesandt
hat. Wir sind auch keine Freunde von russischen Ringen in Deutsch-
land, und glauben gleichfalls, daß daraus leicht eine elektromagnetisch-mora¬
lische Kette wird. Allein es scheint uns cibfurd oder perfid, jeden rus¬
sischen Ring gerade auf Rechnung des Czechenthums zu setzen. Es
ist wieder die Geschichte vom Balken und vom Splitter. Denn auch
mitten in Deutschland gibt es arme Seelen, die mit offenem Mund
nach der kleinsten russischen Decoration schnappen, und ein Boshafter
könnte sagen, es sei purer Neid; der deutsche Servilismus gönne näm¬
lich dem czechischen nicht gleichen Lohn und gleiche Früchte. Aus den
russischen Ringen, die in Berlin, Wien, Frankfurt, Dresden, Ham¬
burg, Bremen ?c. an Offiziers- und Beamtensingern stecken, ließe sich
doch wahrlich eine artige Kette, zur Sperrung gewisser Grenzen, fab-
riciren. Und die Orden! So oft Kaiser Nicolaus seine Nachbarn be¬
sucht, regnet es ja russische Orden vom Himmel, wie die Perfcrpseile
des Terres, die das Licht der Sonne verdunkelten!
— Worüber man vor einiger Zeit in Preußen klagte, daß näm¬
lich ausgediente Unteroffiziere zu Schulmeistern gemacht werden sollen,
das ist in Russisch-Polen in viel glänzenderer Weise längst ausge¬
führt. Die Lehrerstellen an allen höheren Vildungsanstalten, also die
Katheder der Geschichte, Literatur :c. werden mit älteren russischen
Offizieren besetzt, die vielleicht manchem preußischen Unteroffizier in
Bildung und Humanität wenig nachgeben mögen und vor Allem auf
Subordination sehen. Wahrscheinlich gehört zu den Schulstrafen auch
ein wenig Sibirien und Kaukasus. Daß dieses Verfahren von Sei¬
ten des „Ministeriums der Volksaufklärung" geeignet ist, etwaige
Genies unter der jungen Generation zu unterdrücken, wird von den
Russen selbst mit ganz heiterem Gesicht eingestanden. So werden die
geistigen Kinder der Zukunft im Mutterleibe getödtet und abgetrieben.
— Von Zeit zu Zeit taucht die mittelalterliche Romantik, die
man längst erschlagen glaubte, und die von so vielen zartsinnigen
Gemüthern beweint wird, bald in dem, bald in jenem Theile Deutsch¬
lands wieder auf. Jetzt in Schlesien. Nicht nur, daß es dort einen
Jagdreitverein gibt, welcher die adelige Jugend vor dem entnervenden
Müßiggang des Friedens bewahren will; nicht nur, daß die nüchterne
preußische Gensdarmerie an zwei imposanten Räuberbanden zum Rit¬
ter werden konnte: nein, es gibt selbst Autodafes in Schlesien, heim¬
liche Autodafes in nächtlicher Waldeinsamkeit. Die dortigen Forstbe¬
amten haben nämlich ein Mittel ersonnen, mit den Wilddieben so
kurzen Prozeß zu machen, daß ihnen selbst keine Verantwortung dar¬
aus erwachsen kann. Sie erschießen den Wilddieb und verbrennen
ihn auf einem Holzstoß im Walde, daß Nichts als die Knochen üb¬
rig bleiben, die natürlich bei einer Untersuchung keinen Anhaltpunkt
geben. Diese unglaubliche Procedur ist, nach der Liegnitzer „Silesia"
zehn Mal in diesem Jahre vorgekommen.
— Am Rhein ist ein Streit über den Ursprung des Wortes
„Alaaf!" entbrannt. Nach Einigen stammt es aus dem spanischen
i.l-.öl,, loben, nach Anderen aus dem englischen -«lost, in die Höh?,
oder hoch, nach Anderen ist es keltischen Ursprunges. Es wäre be¬
trübend, wenn sich das Wort, dessen sich selbst der König von Preu¬
ßen in einem begeisterten Moment bediente, zuletzt gar als ein wäl-
scher Bastard aufwiese. Denn es ist von Alters her in Köln einge¬
bürgert; und welches Licht würde dies auf die nationalen Gesinnun¬
gen der Kölner werfen! Wir wollen hoffen, daß es aus dem Engli¬
schen stammt.
— Aus Kopenhagen wird in der Deutschen Allgemeinen geschrie¬
ben, daß der Tod der Großfürstin Alexandra, der Gemahlin des
Prinzen Friedrich von Hessen, eventuellen Thronfolgers von Däne¬
mark, darum besonders schmerzliche Gefühle hervorgerufen habe, weil
damit zwei Millionen Rubel verloren gehen, die Kaiser Nicolaus sei¬
ner Tochter jährlich geben wollte und die in Kopenhagen verzehrt wor¬
den wären. Die dänischen Schriftsteller dagegen trösten sich, bei die¬
sem allgemeinen offiziellen Awei-Millionen-Schmerz, mit dem Gedan¬
ken, daß sie nun etwas mehr Preßfreiheit, in Bezug auf russische
Zustande, hoffen können.
— Der Polizeirath Duncker erklärt in öffentlichen Blättern, daß
die Berliner Gerüchte von einem Attentat auf sein Leben völlig aus
der Luft gegriffen sind; und daß er vielmehr von den Schlesiern mit
dem allgemeinsten und erfreulichsten Wohlwollen :c. aufgenommen und
behandelt worden sei. Wir glauben auch, daß die Attentatsgerüchte
vollkommen grundlos sind; was aber die Freundlichkeit und das Wohl¬
wollen des schlesischen Volkes betrifft, so scheint Herr Duncker da mit
einer Zuverlässigkeit und Voraussetzung zu reden, die sonst nur hohen
und allerhöchsten Personen eigen zu sein pflegt. Es ist charakteristisch,
was die Polizei sich für ein herablassendes Air zu geben weiß.
— Professor Benarv in Berlin hat eine Erklärung über die
„Geschichte der Herausgabe der Zeitschrift für Wissenschaft
und Leben und meiner Theilnahme an derselben" (Berlin, Veitund
Comp. 1544) herausgegeben. Jene, von den Herren Professoren Hotho,
Vatke und Benarv projectirte Zeitschrift hatte die Concession des Mi¬
nisteriums Eichhorn nicht erhalten, weil . . . kurz, weil sie nicht
Schelling'sah, sondern Hegel'sah gewesen wäre. Darauf gaben die drei
Herren das Unternehmen auf. Benarv, der Gymnasiallehrer und. da¬
bei Privatdocent an der Universität ist, bewarb sich nachher beim Mi¬
nisterium um eine Anstellung oder Beschäftigung, da er durch das
Scheitern jenes Unternehmens auch in materieller Hinsicht Schaden
litt. Dabei gab er jedoch seinen Widerspruch gegen die höheren
Staatsgründe, aus denen die Zeitschrift nicht concessionirt wurde, kei¬
neswegs auf und vereinigte sich auch spater mit seinen Collegen zu
einem nochmaligen Gesuch um die verweigerte Concession. Aus jener
Bewerbung um eine wissenschaftliche Beschäftigung, aus materiellen
Rücksichten wollte man nun Hrn, Benarv von mehren Seiten einen Vorwurf
machen, wir glauben, mit Unrecht. Die Erklärung Bmary's scheint uns
vollkommen genügend. Im Ganzen geht aber aus dem ganzen Handel
wieder hervor, wie windig es mit der sogenannten wissenschaftlichen
Freiheit in Berlin steht und von jeher gestanden hat. Es ist stets
nur eine vorgeschriebene commandirte Freiheit, eine ministerielle Phi¬
losophie, heiße sie Schellingisch oder Hegelisch. Das Ministerium ist
das Stabscommando, die Professoren sind die Offiziere der Wissen¬
schaft. Wehe dem, der gegen die Parole des Tages . . . denkt.
Wir sind nur neugierig, welche Philosophie, nach der Schelling's, vom
Generalcommando eingeschärft werden wird.
— Nach dem neuen preußischen Duellgesetz wohnen die Ehren¬
richter dem Zweikampf bei und lassen die beiden Gegner gleich nach
dessen Beendigung festnehmen. Die Ehrenrichter sind also halbe
Gensdarmen; wer wird die zu Zeugen einladen?
— Die Hoheitsfrage ist der friedlichen Lösung um einen schrie
naher gerückt, indem der deutsche Bund den Herzogen von Nassau
und Braunschweig den Titel: „Herzogliche Hoheit" zugestanden hat.
Es gibt aber noch andere Herzoge, und — werden nicht auch, der
Ausgleichung wegen, die Könige avanciren wollen?
In Leipzig und Berlin, wo- überaus feine und kluge Leute die
Fluth der Weltgeschichte durch das tausendfach durchlöcherte Sieb
ihres Raisonnements leiten und läutern, — obgleich man gegenseitig
darüber sehr im Unklaren ist, wer das rechte Sieb besitze, — hat man
über München zum Theil gar confuse und possierliche Ansichten, etwa
wie die Bewohner von Tombuktu über Jrkutsk, oder die von Jrkutsk
über Tombuktu. Möglich, daß sich der Münchner dadurch rächt, daß
er sich eben so wenig um die literarischen und journalistischen Ge¬
heimnisse Leipzigs und Berlins kümmert und nicht weiß, was zu
Berlin im Schooße der spargnapanischen Zuckerbäckerei, oder in der
Leipziger Literaturbäckerei sich historisch oder philosophisch oder poli-
tijch entwickelt. Leider gelangen die Semmeln des Raisonnements,
welche man in beiden norddeutschen Städten warm aus dem Ofen
schiebt, hier ziemlich kalt und trocken oder in abgerissenen Bröcklein
an, wie sie von reicher Herren Tischen fallen, damit der süddeutsche
Lazarus daran sich faltige. Indeß besitzt dieser, und namentlich der
Münchner, eine eigenthümliche Flüssigkeit, von der ein geistreicher
Wälsche, der Verfasser des Buches „II viverv", schreibt: Man be-
trachte ein Glas Münchner Bier: welche dicke, schwere, materielle
Feuchtigkeit! Dies fällt zuerst in die Augen. Aber diese Feuchtigkeit
ist von Atomen durchzuckt, glänzend wie Funken, zart und flockig wie
Seidenfaden, und ein Schaum, leicht, durchsichtig, vergoldet wie eine
Wolke im Orient, perlt oben auf dem Glase. — Hier lernt' ich zu¬
erst begreifen, wie eine Nation einige Aehnlichkeit mit ihrem gewöhn¬
lichen Getränk haben kann. In dieser goldenen Feuchtigkeit ertränkt
der Münchner seinen Gram über die Spöttereien der norddeutschen
Jung- und Altklugheit.
Man betrachtet in der Regel München als eine Einsiedelei, ganz
geeignet für capriciöse, wunderliche und mystische Personen, welche
mit den Entwickelungen der neueren Zeit abgeschlossen haben und sich
wie eine ihres Wärter- und Krautlebens überdrüssige Raupe ver-
puppen wollen. Es ist indeß eine doch ziemlich lebhafte und mun¬
tere Einsiedelei von etwa hunderttausend hier seßhaften Einsiedlern
und Einsiedlerinnen, denen es in keiner Hinsicht an weltlichen Be-
gchrnissen fehlt, ausgestattet mit Kunstschätzen allerlei Art, Journal¬
zirkeln, Leihbibliotheken, Gesellschaften, Liedertafeln, Universität, Thea¬
ter u. s. f., besucht von vielen Tausend Reisenden aus aller Herren
Ländern, so daß man sich, wenn auch nicht mitten in der Zeitströmung,
doch um so gewisser an ihrem Ufer befindet und dem Treiben der
Wogen um so ruhiger und unparteiischer zusehen kann. Namentlich
dürfte einem norddeutschen Literaten wohl zu empfehlen sein, hier ein¬
mal sein nomadisches Zelt aufzuschlagen, um sich zu sammeln und
zum Genusse und ruhigen Betrachtung seiner selbst zu kommen. ES
ist gewiß schon ein sehr großer Vortheil für ihn, hier Tage lang um¬
herwandern zu dürfen, ohne befürchten zu müssen ,daß er an der nächsten
Straßenecke mit einem literarischen College» unvermuthet zusammentreffe.
Wer in Leipzig ein Manuscript unter dein Arme trägt, dabei etwas hastig
einherschreitet und in seiner Physiognomie einige Anwandlungen von
Verdrießlichkeit blicken läßt, von dem ist gewiß anzunehmen, er sei ein
Schriftsteller, der nach mehrerlei mißlungenen Versuchen, sein Manuseript
an den Mann zu bringen, fast verzagten Muthes einen abermaligen
Sturm auf das hartnäckige Herz irgend eines Buchhändlers wagen
will. Wer steht mir dafür, daß nicht morgen in einem collegialiftben Kreise
erzählt wird: Gestern hat man unseren College« A. aus dem Laden
des Buchhändlers X. in den des Buchhändlers XL., von da in den
des Buchhändlers L. X. X., und von da in das Comptoir des Buch¬
händlers X. L. X. X. u. s. f. mit einem dicken Manuscript schlüpfen
sehen, und heute in aller Frühe soll der Unglückliche mit seinem Ma¬
nuskript schon wieder auf den Beinen gewesen sein. Wie ganz an¬
ders in München! Hier kann ich Wochen lang mit einem Manu-
script, ohne es eben so wenig als in Leipzig loszuwerden, aus einem
Buchhändlerladen in den anderen stürmen, so viel deren hier Vorhan¬
den sind, und Niemand wird es hier einfallen, zu sagen: Das ist
der unglückliche Schriftsteller, Literat oder Dichter So und So, und
das, was er unter dem Arme trägt, stellt ein Ding vor, welches man
Manuscript nennt, und woraus später ein gedrucktes Buch werden
soll — wie gesagt, man hat von dem Manuscripthandel, wie er in
Leipzig betrieben wird, hier keine Ahnung, keinen Begriff von den
schmerzlichen Empfindungen und Eindrücken, welche sich an ein un¬
verkauftes und überall zurückgewiesenes Manuscript knüpfen; man
würde aber, hätte man einen Begriff davon, demjenigen, welcher auf
der buchhändlerischen Fuchsprelle so aus einem Laden in den ande¬
ren geschnellt wird, ein unverhofftes, menschliches Mitleid zollen, ein
Mitleid, für welches die Leipziger GesellschaflSmaschine freilich erster¬
ben ist.
Denn dies muß man den Münchnern im Allgemeinen nachsagen,
daß hieber Natur und dem menschlich Einfachen viel näher stehen, als die
Culturmenschen an der Pleiße oder Spree, welche mitten im Gespinnste
der Weltgeschichte sitzen und auf ignorante Brummfliegen Jagd ma¬
che,,, um ihnen auf kritischem Wege das Blut abzuzapfen. Es wäre
eben so unvernünftig von den Münchnern, wenn sie von den Leip¬
zigern, welche an der Urstätte des Protestantismus Hausen, verlangen
wollten, ihre Anschauungen sollten plötzlich, wie man die Hand um¬
wendet, katholisch sein, als es von den Leipzigern unvernünftig wäre,
wenn sie an die Münchner die Anforderung stellten, sie sollten plötz¬
lich alle Dinge um sich her mit protestantischen Augen ansehen. Ich
will indeß keine Korrespondenz mit religiös-kirchlichen Tendenzen schrei¬
ben, sondern nur im Allgemeinen darauf aufmerksam machen, daß
ich von Intoleranz im geselligen Verkehr hier noch keine Spur wahr¬
genommen habe. Alt öffentlichen Orten habe ich hier noch nie über
religiöse Gegenstände, und am wenigsten in inhumaner und aufrei¬
zender Weise, disputiren hören, während in Norddeutschland religiöse
Sympathien an öffentlichen Orten häusig in höchst rücksichtsloser Art
beachselzuckt und bespöttelt werden. Ueberhaupt überlasse ich den klu¬
gen Männern an der Spree wie an der Jsar zu entscheiden, ob es
rathsam sei, jetzt, wo es sich um das politische Einheitsgefühl Deutsch¬
lands handelt, zwischen Jude und Christ, evangelischen und katholi¬
schen Christen durch das ewige Aufwärmen der religiösen Debatte
neue Scheidungen und Störnisse hervorzubringen. Viel sicherer gehen
die, welche, urlbeirrt vom Tagesgezänk, das Nächstliegende Stamm- und
völkervcrmittelnde Praktische im Auge behalten.
Das einfach Menschliche, welches ich den Münchnern nachrüh¬
men muß, zeigte sich auch nach jenen drei stürmischen Maitagen, als
das Volk mit den hiesigen Brauern wegen des Ausschlages von zwei
Pfennigen auf das Maaß im offenen Kriege lag. Da fiel es Nie¬
mandem ein, wie man in einem hochgebildeten Staate des deutschen
Nordens bei ähnlichen Anlässen zu beabsichtigen schien, die Presse
und die Journalistik für dieses Aufbrausen des Volkes verantwort¬
lich zu machen. Man hat hier gesunden Menschenverstand genug,
solche Ausbrüche der Volksleidenschaft auf ihre nächsten und einfach¬
sten Gründe zurückzuführen, ihnen keine höhere Bedeutung und Wich¬
tigkeit beizulegen, als sie von Hause aus haben, und nach gewon¬
nener Einsicht von dem Zustande der Dinge die nächsten Anlässe
sogleich und radical wegzuräumen. Es wäre auch wirklich ein kaum
als möglich zu denkender Triumph der Presse, wenn sie, selbst mit
preußischer Censur behaftet, dennoch im Stande gewesen wäre, die
ihres furchtsamen und geduckten Wesens halber bekannten schlesischen
Weber den Bajonetten und Flintenkugeln der Soldaten entgegen und
in den Tod zu treiben. Schrieb und las man aufregende Brochüren
und Journalartikel zur Zeit des großen deutschen Bauernaufstandes?
Doch, vielleicht! Götz von Bcrlicyingen verfaßte ja seine Autobiogra¬
phie, die ihn zur Aufnahme in den Leipziger Literatenverein berech¬
tigt hätte; vielleicht redigirte er auch ein jetzt untergegangenes, oder
durch Reichsbeschluß unterdrücktes Journal unter dem Titel: „Der
Bote von Jarthausen" oder „Jarthausener Jahrbücher", oder „Jart-
hausener Modezeitung", oder „Zeitung für die Jarthausener elegante
Welt", um auf die aufständischen Bauern zu wirken. Man lese doch
in den Stadtchronikcn des Mittelalters nach, um sich zu überzeugen,
daß damals städtische Aufstände zu den Alltagsbegebenheiten gehör-
ten; wer aber wollte behaupten, die damalige Presse sei das Huhn
gewesen, welches diese Aufstände ausgebrütet! Es gab ja Aufstände,
und weit furchtbarere als jetzt, zu einer Zeit, wo man noch gar nicht
daran dachte, Etwas drucken zu lassen, aus dem einfachen Grunde,
weil der Bücherdruck noch gar nicht erfunden war. Im Gegentheil!
will man zahme Unterthanen und Staatsbürger, s) lasse man sie
schreiben und immer wieder schreiben und schreiben, bis ihnen die
Hand müde wird und die Gedanken wie ein abgelaufenes Mühlrad
stille stehen; denn die ungefährlichsten und abgespanntesten Menschen
sind gerade die Schreiber und nächst ihnen die Leser, und zwar ge¬
rade diejenigen, welche aus der Journallectüre ein tägliches Geschäft
machen. Schickt nur unsere Studenten täglich acht Stunden lang
in unsere Conditoreien und literarischen Museen, und ihr werdet er¬
staunen, wie zerlesen, zerfasert, ermüdet und folgsam die nächstkünftige
Studentengeneration sein wird! Ein echter Mann nimmt sich nur
vor dem wirklichen Teufel in Acht, aber nicht vor dem körperlosen
Teufel, welchen die Korrespondenten politischer Zeitungen an die Wand
malen.
Man lebt hier im Ganzen einfach, will aber das Einfache wohl¬
feil und gut. Hiefür sorgen die hiesigen städtischen Behörden auf's
Beste »), und es ist bekannt, wie streng die Aufsicht 'über das Bier
ist, dem man das Prädicat der Klassicität mit Recht ertheilen kann.
Die Polizei, als die Censur des Münchener Biers, soll bereits man¬
chem Brauer ganze Orhofte gestrichen haben. Außer der Polizei wacht
aber auch die öffentliche Meinung mit großer Energie über die Güte
dieses kräftigen Getränkes, welches, wie die Grenzboten einmal wiz-
zig bemerkten, hier „gegessen" wird und allerdings den Hauptbestand¬
theil der Münchner Consumtion bildet. Während der Aermere in
einigen Gegenden Norddeutschlands von Kartoffeln mit Salz, erbet¬
telten Brod und Wasser, also ohne etwas verbrochen zu haben, von
wirklicher Gefangenkost leben muß (auch seine meist dumpfe Behau¬
sung unterscheidet sich nicht eben vortheilhaft von einem Gefängniß),
nährt sich der Aermere in München von kräftigem Brod und einigen
Maaß jenes köstlichen Bieres, welches, um einmal groß zu sprechen,
Shakspeare'sche (oder michelangelo'sche) Kraft mit goede'scher (oder
raphaelischer) Milde, dramatischen Effect mit epischer Behaglichkeit
verbindet und in den goldenen Perlen und Wolken, die darin auf-
und niedersteigen, wie in dem Schaumkranz, welcher seinen Scheitel
wie ein Heiligenschein ziert und verklärt, selbst einen lyrisch schwär¬
merischen Charakter entwickelt; ja es würde mir sogar nicht schwer
fallen, bei einiger Anstrengung meiner Seelenkräfte aus diesem Ge¬
tränk den constructiver Charakter sowohl der griechischen wie der
gothischen Architektur nachzuweisen, was gewiß die aschgraue Mög¬
lichkeit wäre. — Noch bemerke ich, daß sich das Bier gerade an den
vorzugsweise von den ärmeren Classen besuchten Orten durch seine
Vortrefflichkeit auszeichnet, während es das Vorrecht der Erclusiven
zu sein scheint, an den von ihnen vorzugsweise besuchten öffentlichen
Orten ein minder gutes, selbst mittelmäßiges Bier trinken zu müssen.
Natürlich wollen die Crclusiven, da hier einmal selten ein anderes
Getränk gefordert wird, doch etwas, d. h. eine schlechtere Sorte Bier
vor dem Pöbel voraus haben. Welche Begriffe von dem schlechten
Geschmack der erclusiven Gesellschaft mag mancher arme Teufel er¬
halten, der zufällig an einen solchen vornehmen Ort geräth!
Indeß glaube man nicht, daß hier die Demarcationslinie zwi¬
schen Hoch und Gering eben so entschieden ist, als in den norddeut¬
schen Militär- und Beamtenstaaten; es mischt sich hier Alles viel
menschlicher, und die verschiedenen Stände lausen an öffentlichen Or¬
ten eben so leicht zusammen, wie die Milch während eines Gewitters.
Es gibt zwar auch hier eine Crome; doch tritt sie öffentlich nicht so
grell, noch mit so schneidenden und verletzenden Ansprüchen hervor, als
anderwärts, obgleich freilich in Privatkreisen die aristokratischen My¬
sterien in nicht minder vornehmer und erclusiver Weise gefeiert wer-
.den, als in allen übrigen europäischen Residenzstädten; wie man über¬
haupt wahrnehmen will, daß sich auch hier das Familienleben in
norddeutscher Art mehr in sich selbst zurückzieht als früher. Es be¬
finden sich hier verhältnißmäßig wohl nur wenige Orte, welche der
Anständige ganz zu meiden hätte. Wo ein renommirtes gutes Bier
geschenkt wird, da versammeln sich, wie von geheimer Attractionökrast
angezogen, Beamte, Künstler, Gelehrte, Offiziere, Studenten neben
dem gemeinen Soldaten, dem Handwerker, dem Schiffer, dem Flößer,
dem Fuhrmann, dem Bauer und der Bäuerin, in ungezwungener
Gattung; jene widerliche Manier, womit man in Norddemschland
jeden Eintretenden mit Blicken zu firiren und so lange festzuhalten
pflegt, bis man ungefähr weiß, aus welchem Stoff seine Weste be¬
steht, wessen Standes er ist, was er sich verabreichen läßt u. s. w.
findet hier durchaus nicht statt. Auch fällt jenes städtische Klatsch¬
geschäft, wie man es wohl anderwärts auf offenen Bierbänken treibt,
hier gänzlich weg. Es liegt dies nicht in der großstädtischen Natur
der Einwohner; vielmehr ist München zu schnell gewachsen, um sich
jetzt schon, so geräumig und prächtig es ist, als große Stadt zu füh¬
len und alle provinzielle Naivetät, die übrigens ihr Reizendes hat,
von sich gestreift zu haben; aber der böse Leumund und die vorlaute
Klatschsucht liegen dem hiesigen Volkscharakter im Ganzen fern; man
lebt und läßt leben; man liebt es, selbst unbeachret zu bleiben, und
beachtet daher auch Andere nicht, sobald sie nicht etwa mit norddeut¬
schen Ansprüchen und StandeSprätensionen lästig fallen.
Der Münchner ist überhaupt mehr schweigsam verschlossener, als
geschwätziger Natur, wovon jedoch, wie überall, die Frauen eine Aus¬
nahme machen mögen. Auf Komplimente und süße nichtige Redens¬
arten, wie sie in Norddeutschland so häufig sind, versteht er sich durchaus
nicht; er kennt nicht jenes wohlfeile Zu- und Anlächeln, als wüßte
er um Shakspeare'ö Wort: daß man lachen und doch dabei ein aus¬
gemachter Schurke sein könne. Er erscheint häufig etwas derb, wenn
aber Taillandier in der lievuo des 6<z>ix monlK>8 gelegentlich von
den „Uitlntutles lin-It-x-indes" und dem it unten-mi" der Münch¬
ner spricht, so ist dies doch wohl ein etwas harter Ausspruch und nur
die französische Paraphrase einer in Deutschland weit verbreiteten
Journalausicht. — An feiner Eleganz und Salonbildung — wenn
man einmal hiernach den Geist eines Volkes beurtheilen will —
fehlt es hier in den höheren Kreisen keineswegs, am allerwenigsten
aber an natürlichem Takt; und es bleibt immerhin merkwürdig, daß,
während man die Münchner der Plumpheit beschuldigt, eine geborne
Münchnerin, Charlotte von Hagn, auf den norddeutschen Bühnen
als das Muster aller Grazie und seinen Salonbildung bewundert
wird. Ich will hier nicht die Borzüge des deutschen Nordens ver¬
kennen, nicht jene ermunternde, wenn auch häufig flache und flüchtige
Zuvorkommenheit, nicht jene, wenn auch oft erkünstelte, enthusiastische
Theilnahme für öffentliche Interessen und für den Fortschritt der Zeit,
nicht jene große, wenn auch nicht selten fast krampfhafte geistige Regsam¬
keit im Allgemeinen; aber eben so wahr ist es, daß jenes hastige,
lärmhafte, widerspruchsvolle Treiben, wobei die persönliche Eitelkeit
oft im Spiele ist, und die zungenfertige, kecke Mittelmäßigkeit nur zu
oft sich in den Vordergrund zu drängen weiß, betäubend und verwirrend
auf ein der stille» Betrachtung vorzugsweise hingegebenes Gemüth
wirken muß. Wenn das spanische Fliegenpflaster Blasen auf der
Haut gezogen hat, so liebt man wohl, eine lindernde Salbe auf die
schmerzhafte Stelle zu streichen. Auch der Aufenthalt in München
wirkt Krampf und Schmerz stillend. Man empfindet dies, ohne sich
über das Wie und Wodurch Rechenschaft geben zu können. In man¬
cher Hinsicht fehlt es hier allerdings an Stimulation und geistiger
Anregung, aber wahrlich nicht an Leuten, welche an den Fortschritten
und Entwickelungen der Zeit innig Theil nehmen und in der Beur¬
theilung derselben einen vollkommen tüchtigen und gesunden Men¬
schenverstand blicken lassen, obschon sie »veniger als im Norden auf
dem hohen Pferde des selbstbewußten Raisonnements einherzutraben
wissen, um gelegentlich als schlecht geschulte Sonntagöreiter in den
Sand gesetzt zu werden.
Auch die moderne Zeit hat ihre Fabeln und Mythen, und manche
Ansichten über München scheinen mir in diesen mythischen Kreis zu
gehören. Man greift Einzelnheiten, vage Gerüchte wie bei Personen
auf und paßt sie dem Gesammturtheil, welches man sich im Voraus ge¬
bildet hat, an der geeigneten Stelle an. Diese Art und Weise ist
bequem, besonders für den Ignoranten, welcher sich bei diesem wohl¬
feilen Raisonnement vorzüglich gut steht. Wer wird mir glauben,
wenn ich behaupte, daß auch München seit der Mitte deS vorigen
Jahrhunderts in geistiger Hinsicht Riesenschritte gethan hat? Den¬
noch, es ist so; man mu nur die historischen Vordersätze kennen,
wenn man einen gerechten Vergleich zwischen Sonst und Jetzt an¬
stellen will. Preußen ist vergleichsweise kaum rüstiger fortgeschritten,
wenn man seine geschichtliche und wissenschaftliche Vorbildung er-
wägt, wenn man bedenkt, daß es einen Friedrich den Großen hatte,
von dem hier nur folgende Aussprüche angeführt sein mögen:
„Eben hatte ich einen Brief angefangen über die Mißbräuche
der Mode und der Gewohnheit, als die Gewohnheit des Erstgeburts¬
rechts mich auf den Thron rief und mir meinen Brief wegzulegen
befahl. Gern hätte ich ihn in eine Satyre gegen diese Gewohnheit
umgeändert, wenn nicht Satyre aus dem Munde eines Fürsten ver¬
bannt sein müßte"; oder:
„Fast nie sind die Menschen an Plätzen, die sie sich selbst wäh¬
len würden; daher gibt es so viele schlechte Schuster, schlechte Prie¬
ster, schlechte Minister und schlechte Fürsten"; oder:
„Die deutschen Prinzen verachten gemeiniglich die Gelehrten.
Die unmodische Kleidung, der Bücherstaub, der diesen etwa anhängt,
und das wenige Verhältniß, das zwischen einem kenntnißreichen Kopf
und dem leeren Hirn dieser Herren stattfinden kann, machen, daß
sie sich über ihr Aeußeres aufhalten und den großen Mann ohne
Hofkleid gar nicht gewahr werden. Der Höfling hält das Urtheil
des Fürsten zu hoch, als daß er anders als Er zu denken sich ge¬
trauen sollte; sie affectiren also auch, die zu verachten, welche tau¬
sendmal mehr als sie selbst werth sind.----Ich, der ich
mich überhaupt nicht für das Zeitalter geschaffen fühle, in dem wir
leben, mag dem Beispiele meiner Herren Mitbrüder nicht nachfolgen;
ich predige ihnen unaufhörlich, daß der Gipfel der Unwissenheit
Hochmuth sei, und glaube, daß ein großer Mann, der über mir ist
auch meine Achtung verdiene."
Diese und andere für einen regierenden Fürsten doppelt rühm¬
liche Aeußerungen findet man in Friedrich's des Großen: „Oeuvres
uostlmmks", bei Herder in Auswahl und Uebersetzung in demjeni¬
gen Bande seiner Werke, welcher den Titel „Zur Philosophie und
Geschichte" trägt. Man wird allerdings erstaunt sein, auf diese Ci¬
tate in einer Correspondenz aus München unversehens zu stoßen oder
gestoßen zu werden; sie verdienen indeß angeführt zu werden, selbst
wenn man aus dem Peter- und Paulshafen in Kamtschatka oder
aus Upernamik in Grönland correspondirte. Friedrich der Große ge¬
hört auch zu den Vertretern des freieren Geistes in Deutschland, die
man mit deutscher Undankbarkeit jetzt absichtlich verkennt und welche
vergebens gepredigt und umsonst sich bemüht haben, ter stumpfen,
immer wieder Platt auf den Bauch zurückfallenden Menge Flügel zu
verleihen! Natürlich; denn ihrer ist das irrische Element, nicht daS
himmlische, und das Fett des Bauches, dem sie unterthänig sind,
zieht sie nieder. Es fragt sich nun, ist Preußen weiter hinter seinen
historischen Vorder- und Vorsätzen und den Tendenzen seiner Fürsten
zurückgeblieben, oder Baiern?
Was jedoch Marimilian Joseph III. für die geistige Entwicke¬
lung Baierns gethan hat, ist der Nachwelt unverloren geblieben, na¬
mentlich gehört hierher die Stiftung der Akademie der Wissenschaften
im Jahr 1759, und eS ließen sich Wunderdinge über den Widerstand
berichten, den die Gründer und ersten Mitglieder dieser Akademie,
gegen welche z. B. eine Schmähschrift „die bairischen Hicseln in ihrem
Frosch- und Nattentnege" erschien, bei einer großen Partei fanden,
welche die Wissenschaft als ein ihre Macht gefährdendes Mittel der
Aufklärung betrachtete. Die eben erwähnte Schmäh- und Schinach¬
schrift nannte jene Männer „Schurken", denn sie wünschten offenbar
Toleranz. Nur das ausdrückliche Patronat des entschlossenen Chur¬
fürsten sicherte die Enstenz und das Gedeihen der jungen Stiftung.
Leider haben die edleren Geister Baierns bis auf die heutige Zeit
das Unglück, wenig vom deutschen Auslande gekannt und anerkannt
zu sein, wie die eigentlichen Stifter der Akademie: von Lori, wel¬
cher auch zuerst den Gedanken zu einer stehenden Schauspielertruppe
hier anregte, Limburger, Lipowöky, Graf Tvrring u. A.
oder später der noch jetzt hochgeachtete, im Anfang seiner Laufbahn
viel verfolgte Patriot Westenrieder, welcher freilich seiner späteren
Ansichten wegen sich gleichen Verfolgungen wohl nicht mehr ausge¬
setzt gesehen hätte. Der König Maximilian" Joseph I. faßte, durch
die Kriegsläufe begünstigt, die inzwischen wieder aufgegebenen frei¬
sinnigen Tendenzen seines Vorgängers, des Churfürsten Maximilian III.
bekanntlich mit noch größerer Energie wieder auf. Streng und be¬
fehlend lauteten die Toleranzverordnungen dieses Regenten, unter dem
zuerst eine protestantische und israelitische Gemeinde sich bildeten, denen
die Huld des jetzt regierenden Königs neue und stattliche Gottes¬
häuser gewährte.
Noch leben viele jener ernst gemüthvollen, hochverständigen Män¬
ner aus früherer Zeit, während die jüngere Generation unwillkürlich
moderne Ideen mit der Luft einathmet. Meint man, daß sdie neue
Zeit sich in ihren eigenen Eingeweiden umkehren könne?
Selbst liebenswürdige und malerische Kleinigkeiten, Aeußerlich-
keiten und Gebräuche fallen dem nivellirenden Geist der modernen
Zeit immer mehr zum Opfer. Jene kleidsamen, mit allerlei Zierwerk,
Münzen u. f. w. behangncn Mieder, wie sie sonst für ein Münch¬
nerisches Bürgermädchen als Staatstracht unerläßlich waren, sind
jetzt fast nur noch Tracht der Kellnerinnen, und selbst der Riegel-
Häubchen, welche kecken und frischen Gesichtern so allerliebst stehen,
fängt man sich an im Mittelstande zu schämen und dem ziemlich ge¬
schmacklosen Gebäude des französischen Hutes die Herrschaft einzu¬
räumen. Der Dialekt nimmt durch den Schulunterricht, den häufigen
Verkehr mit Fremden, den Besuch des Theaters immer mehr hoch¬
deutsche Nüaneirungen an, obschon der Münchner Dialekt, welcher
höchstens im Munde junger und hübscher Mädchen und Frauen an¬
muthig naiv klingt, seine Rauhheiten wohl eben so wenig ganz auf¬
geben wird, als der im Munde von Männern allzuweichlich klin¬
gende meißnisch-sächsische Dialekt sein „Schöne!" oder „ich muß Sie
sagen", oder sein Singen oder seine harte Aussprache deö b und d
und die weiche deS p und t, wodurch freilich die sächsischen Dichter
den schönen Vorzug haben: „Neige" und „Leiche", „Bude" und
„Pute", „Teppichs (nach der vulgären Leipziger Aussprache „Deebich")
und „Geb' ich" zu reimen.
Merkwürdig bleibt es, daß, während auf der Berliner Bühne
in Folge höherer Ansicht „die Räuber" und „Wilhelm Tell" nicht
zur Aufführung kommen durften, (später soll, wie ich höre, auch
„Jsidor und Olga" der russischen gemüthlichen Ansicht von der Leib¬
eigenschaft zum Opfer gebracht worden sein), beide Dichtungen hier
uttverstümmelt aufgeführt wurden. „Nathan der Weise" fand, wie
ich selbst als Augenzeuge berichten kann, zu Eßlair'ö Zeit in Mur-
chen ein höchst aufmerksames Publicum, welches manche polemische
Stelle mit den lebhaftesten Zeichen des Beifalls aufnahm. Eben so
wenig scrupulös zeigt man sich bei der Aufführung des „Faust", in¬
dem hier manche Verse gesprochen werden dürfen, die auf den mei¬
sten übrigen Theatern verpönt sind. Die Luft kommt bei uns zu¬
weilen wohl aus der Campagna ti Noma; aber die Luft Sibiriens
wenigstens dringt nicht bis nach München.
Freilich, ein als classisch anerkanntes älteres Drama gilt überall
als kecomnli, jedes neue eines jetzt lebenden Autors als unvoll¬
endete Thatsache, gegen welches man auf der Hut ist, um es, wie
ich vor mehreren Jahren selbst an einem unverfänglichen Drama er¬
leben mußte, nöthigenfalls noch zwischen Probe und Aufführung un¬
terdrücken zu können. Auch über der bereits durch einen Komödien¬
zettel angekündigten Aufführung des beziehungs- und anspielungs¬
reichen „Moritz von Sachsen" von Prutz scheint ein eigenes Ver-
hängniß zu walten; die Aufführung unterblieb wegen plötzlicher Un¬
päßlichkeit der Mad. Dahn. Wochen sind darüber vergangen, Mad.
Dahn ist wieder aufgetreten; aber von einer Aufführung deö Trauer¬
spiels hat man Nichts weiter gehört.
Mir ist nicht bange um die deutsche Einheit, so weit sie durch
die deutschen Theater gefördert wird. In Dresden führt man „Zopf
und Schwert" auf, untersagt aber die Aufführung des „Patkul"; in
Berlin führt man den „Patkul" auf, untersagt aber die Aufführung
von „Zopf und Schwert"; man schreibe ein Stück, worin ein Alt¬
vorderer des ersten Bürgermeisters von Hamlburg auftritt, und es
wird überall aufgeführt, in Hamlburg aber verboten werden.
Diese Erwähnung des Theaters führt mich wie von selbst auf
die Münchner Literatur, die ich in dem nächsten Kapitel skizziren will.
Ich werde mich bemühen, eine Visitationsreise, die ich mit ei¬
nem Districtöcommcmdanten als dessen Bedienter mitmachte, zu be¬
schreiben. Er war ein Sechziger und in kleinen Dingen ein großer
Mann, guter scribere und ein sehr langweiliger Redner, der über¬
dies die eine Hälfte der Worte verschluckte und die andere lispelnd,
wie eine Wöchnerin, herausstotterte. Uebrigens war er ein genialer,
erfinderischer Kops, und wenn ich nicht irre, so hat er die wohlthä¬
tige Bedachung der im Freien aufgestellten Lafettirungen erfunden,
dem Staate vorgeschlagen und auch durchgesetzt. Er hat nämlich
durch scharfe und vieljährige Beobachtungen herausgebracht, daß
die im Freien aufgestellten Geschütz-Lafettirungen, Pöllerschlei-
Pfen und Bettungen durch den häusigen Regen naß werden und
verfaulen, und daher während ihrer zwanzigjährigen Dienstzeit höch¬
stens zwei- oder dreimal auf dem Papier cassirt werden können und
dann wirklich als unbrauchbar zusammengeschlagen werden müssen.
Um diesem Uebelstande vorzubeugen und um diesen Lafetten eine län¬
gere Lebensdauer auszumitteln, hat derselbe für diese Geschützgestelle
einen bretternen Ueberzug, der gelb und schwarz angestrichen wird/
ersonnen, der während der Dauer des Schützlings höchstens dreimal
erneuert werden muß, und durch diese dreimalige Erneuerung nicht
weniger, wenn nicht mehr, als das Geschützte selbst kostet. Kurzum,
er hat dem Staate durch diese vortheilhafte Erfindung mit einem
Kostenaufwande von circa fünftausend Gulden einen Schaden von
tausend Gulden erspart, und wegen Kabale hat er dafür nicht ein¬
mal einen Orden erhalten. Dieser verdienstvolle, sechzigjährige Mann
war ein Wittwer und von väterlicher und mütterlicher Seite schon
längere Zeit verwaist. Er lebte außer seinem beschwerlichen Dienste
blos seiner Tochter und einer Nichte, die er beide recht väterlich
liebte. Die Tochter hatte sich mit einem Artillerie-Offizier, wie die
Leute sagten, vergessen und befand sich in der Hoffnung, — ich
glaube, sie hoffte diesen Offizier zu heirathen. Die Nichte, welche
um einige Jahre älter als die Tochter war, wurde beinahe zwei
Jahre vor der Hoffnungszeit der Tochter von einem Knaben ent¬
hofft, und was das Schönste dabei war, man hat durchaus nicht
herausbringen können, wer ihr die ursprüngliche Hoffnung eingeflößt
hatte. Der gekränkte Oheim besaß genug Evelmuth, um seine Nichte
wegen ihrer zweideutigen Enthoffung nicht zu verstoße», und wie
man allgemein versicherte, soll er sie wegen des dubiösen Sprößlings
noch mehr geliebt haben. Ihr zu Liebe soll er die ganze Hoffnungs-
zeit seine Tochter selber mit einer ihren Umständen angemessenen
Schonung behandelt haben, und er gestattete es sogar, daß der Ar¬
tillerie-Offizier ungenirt seine Tochter in ihrer Hoffnung stärken und
ihre kindischen Träumereien erfüllen durfte. In diesen Umständen
wurde diesen beiden Fräuleins der getreue Diener des Districtöcom-
mandanten als Schutzwache ihrer Tugend zurückgelassen, und ich
trat mit ihm als supplicirender Fourierschütze die Postovisitation an.
Wir machten unsere Reise nicht per t«-> l-im, sondern per in-u-o. Zu
diesem Behufe wurde ein Schiff ausgemittelt, welches uns um fünf¬
zig Gulden C.-M. ausnehmen sollte. Damit wir aber diese fünfzig
Gulden ersparen konnten, so wurde ein anderes Schiff mit Artillerie-
Gütern beladen und ein zweiter Contract abgeschlossen. Diese Güter
wurden embarkirt und wir zwei wurden vom Schiffspatron aus Ge¬
fälligkeit mitgenommen; mithin gehörten uns die fünfzig Gulden von
Rechtswegen, die wir dem hohen Aerar' abgenommen hatten. So
lange wir auf dem Meere waren, hatte ich doppelte Löhnung, und
der Commandant hatte so viel Kreuzer täglich, als er Gulden mo¬
natlich bezog, mehr; mithin hatte ich als Kanonier auf dem
Wasser täglich zwanzig Kreuzer, und der Commandant, der monat-
lich einhundert vierzehn Gulden C.-M. bezog, eine tägliche Zulage
von ein Gulden vierundfünfzig Kreuzer C.<M.
Sobald wir jedoch an's Land stiegen, verlor ich meine Seezu¬
lage ganz, der visitirende Commandant aber trat dann in den Ge¬
nuß täglicher Diäten von vier Gulden C.-M., dann des Quartier¬
geldes von täglichen achtundvierzig Kreuzer C.-M.; mithin bezog
derselbe, so lange seine Visitationöreise dauerte, nebst seiner Gage
hundert vierundvierzig Gulden monatlich. Um sobald als möglich
den Hauptposten zu erreichen, hielten wir uns auf den dazwischen
liegenden kleinen Filialien, wo nur Unteroffiziere oder subalterne Of¬
fiziere commandirten, nur sehr kurze Zeit auf, wo wir aber überall
auf das Beste bewirthet wurden. Außerdem wurden wir von Sta¬
tion zu Station reichlich mit Proviant versehen, der trotz der eminen¬
tester Cßkunstfertigkeit meines Commandanten nie gänzlich verzehrt
werden konnte. Die Depositvrien und sonstigen Localitäten wurden
auf diesen kleinen Posten nicht besichtigt und auch die Mannschaft
ließ man nicht ausrücken, sondern wenn der diesfcillige Postocom-
mandant etwas zu proponiren hatte, so wurde ein solcher Gegenstand
während des Mittag- oder Nachtmahls abgehandelt und^rselbe an¬
gewiesen, seine Proposition zu fassen und selbe dem Visitirenden auf
den Hauptposten zur Zusammenstellung der Hauptrelation nachzu¬
senden. Im Allgemeinen haben wir auf diesen kleinen Posten wenig
zu loben oder zu tadeln Ursache gefunden, — das Essen war über¬
all gut und der Wein von der besten Qualität. In dem einen die¬
ser Zeughäuser hatten wir jedoch einen im Anstrich sehr herabge¬
würdigten Fensterladen bemerkt, und es wurde beschlossen, diesen An¬
strich gelegentlich herstellen zu lassen. Ferner wurde auch sür zweck¬
mäßig erkannt, daß die in selbem Zeughause neben einander gelager¬
ten zwölf- und achtzehnpfündigen Kanonen künftighin nach dem Ka¬
liber separirt und die eine Gattung links und die andere rechts im
Zeughaushofe gelegt werden sollten, um allenfallsigen Reibungen und
Zwistigkeiten unter ihnen vorzubeugen. Der eine dieser besuchten
Commandanten war ein großer dicker Mann und hatte eine magere
hübsche Frau, mit welcher derselbe nicht in der Ehe, sondern in Freund¬
schaft lebte und in dieser Freundschaft mit ihr fünf kleine Kinder er¬
zeugte. Diese zahlreiche Familie hatte ihr Schlafzimmer dem Coa-
Mandanten aus die Dauer der Visite eingeräumt, aber vergessen, die
darin eingenisteten allerliebsten kleinen Jnsecten, die gewöhnlich in
alten Bettstellen ihren Wohnsitz haben, mitzunehmen, welche den ar¬
men Commandanten die zweite Nacht jämmerlich sekirten, weil der¬
selbe durch die zufällige Anwesenheit eines fremden Stabsoffiziers,
der ihm eine Bewillkommnungsvisite abstattete, verhindert war, sich
ein Räuschchen anzutrinken. Dieser Uebelstand wurde dem betreffen¬
den Commandanten sehr streng verwiesen, und ich weiß nicht, ob die
uns bei unserer Abreise zur Gesellschaft mitgegebenen zwei gebratenen
Enten und die drei Bouteillen mit Malvasierwein den visitirenden
Commandanten zu günstigeren Gesinnungen über die Administration
des von uns besuchten Postens gestimmt haben, oder ob derselbe sei¬
ner Pflicht gemäß in der Relation an die hohe Artilleriebehörde zur
gelegentlichen Abstellung diesen verdrießlichen Umstand angezeigt hat.
Wir hatten unsere Enten noch nicht ganz aufgezehrt und den Mal¬
vasierwein nur mit sichtbarer Anstrengung kaum geleert gehabt, als
wir den Hauptposten endlich erreicht hatten.
Auf unseren Msitationöreisen habe ich mir durch fleißiges Beob¬
achten einen Ueberblick in dem Wisitationsgeschäfte erworben, der
mich jederzeit errathen ließ, ob wir viel oder wenig Anständen be¬
gegnen würden. Kaum hatten wir in Begleitung des unserer An¬
kunft in größter Parade am Ufer harrenden Offiziercorps den inne¬
ren Raum des Zeughauses betreten, so wußte ich auf der Stelle,
daß es hier ohne große Anstände, zu deren Beseitigung geraume Zeit
erforderlich sein würde, nicht abgehen werde, denn da gab es Gänse,
Enten, Indianer, Kapaunen und Hühner, daß einem Menschenken¬
ner das Herz im Leibe lachte, und Jedermann aus dem gesunden
Aussehen und dem sichtbaren Wohlbehagen jener benannten Zeug¬
hausbewohner auf die große Intelligenz desjenigen Personals, wei'-
chem das Erziehungsgeschäft derselben anvertraut war, unwillkürlich
schließen mußte. Dein visitirenden Commandanten wurde im Zeug¬
hause von dem Quartier des Postocommandcmten ein Zimmer zu
seiner Wohnung eingerichtet. Ein großer runder Tisch war mit ro¬
them Tuche, welches der Hauptmann und Postocommandant von den
Aufschlägen der KanonierSröcke durch zweckmäßige Gebahrung erspart
hatte, überzogen, der Boden des Zimmers selbst war jedoch mit reh¬
farbenem Tuche belegt, welches mit der Farbe der Artillerieröcke eme
frappante Aehnlichkeit hatte und höchst wahrscheinlich auch von den
gewöhnlichen Compagnie-Ersparnissen herrührte. Unter einem großen
Spiegel, der nur vor fremden Personen entschleiert zu werden pflegte,
jedoch zum Hausgebräuche niemals diente, stand ein bunt gefärbtes
Kanapee. Die Frau Postocommandantin hatte dieses Möbel, sobald
sie die Ankunft des visitirenden Commandanten erfuhr, aus ihrem
Sitzzimmer in jenes des hohen Gastes übertragen lassen, und da
selbes von vielem Gebrauch etwas abgenützt war, so verfiel sie auf
die Idee, den Ueberzug zu renovircn. Sie benutzte hiezu ihre aus
der Mode gekommenen seidenen Schürzen. Sie wählte unter diesen
nur die Hauptfarben aus, so daß der Ueberzug wie ein schöner Re¬
genbogen aussah. Neben diesem Kanapee standen zu beiden Seiten
zwei mit rothem Artillerietuch überzogene Stühle, vor denselben stand
ein Schreibtisch, auf welchem die gesammelten Notizen auf der Vi¬
sitationsreise zu Papier gebracht, geordnet, corrigirt und recorrigirt
und endlich in eine Relation übergingen, die an die hohe Artillerie-
Stelle nach Wien zur Benützung des Beamtenpersonals jederzeit ein¬
gesendet werden muß. Ein schöner polirter Schubladkasten, auf wel¬
chem ein Jesuskindlein unter einem gläsernen Sturze schelmisch lä¬
chelte, und worauf die prahlende Hausfrau ihre Porzellanschalen und
geschliffenen Gläser symmetrisch geordnet hatte, stand dem Schreib¬
tisch gegenüber und lehnte sich an das sür den hohen Gast bereitete
Bett. Es war mit einer schneeweißen Mousselindecke, welche hin und
her in künstliche Falten gelegt, mit kunstreichen Stickereien versehen
und deren Rand mit einer geschmackvollen Einfassung versehen war,
belegt. Es war, wie die Frau Postocommandantin ihren Gast mit
einer blassen Schamröthe versicherte, ihr eigenes Brautbett, in welchem
außer ihr noch Niemand gelegen hatte, und sie bat daher ihren Stell¬
vertreter, indem sie ihm mit ihrem rechten Zeigefinger scherzend drohte,
mit einem geheimnißvollen Lächeln, mittelst welches sie den Abgang
einiger Vorderzähne offenbarte, ihr Brautbettchen nicht etwa durch
einige schlimme Gedanken zu entheiligen, welche Bitte der sechzigjäh^
rige Gast gleichfalls scherzend und dabei verdrießlich schmunzelnd als
eine reine Unmöglichkeit ablehnte. Das eine Klafter und drei Schuh
hohe und fünf Schuh breite Fenster war mit zwei blaurothen Vor¬
hängen versehen, welche bei Tage rechts und links hinter den in
der Mauer eingeschlagenen Vorhängringe» gefaltet herabhingen. Diese
Fenstervorhänge waren von dem Unterfutter, welches die Feuerwerker
und Mimitionäre zu ihren langen Röcken ans der Montur-Oekono-
miecommission abfassen müssen, jedoch wegen grober Qualität
und der blaurothen statt hellrothen Farbe nicht als Futter ver¬
wenden dürfen, und gaben dem Zimmer, wenn die Sonnenstrah¬
len selbe beleuchteten, ein schauerlich feierliches Ansehen, und so oft
ich selbes betrat, erbebte mein Herz von einer Bangigkeit, die sich in
eine schuldige Ehrfurcht vor meinem Herrn auflöste. Dieses wahr¬
haft feenhafte Zimmer bewohnte der visitircndc Commandant volle
vier Wochen, und es hieß bei unserer Abreise, daß es zur Erinne¬
rung an dieses Ereigniß ein ganzes Jahr, nämlich bis zur Mistigen
Visitation in jenem Zustande unverrückt verbleiben sollte. Ich ward
unter der gemeinen Mannschaft einquartirt; da ich aber einen inte-
gxirenden Theil der Visitationscommission ausmachte und bei Tische
jederzeit assisttren mußte, so wurde ich während unserer Postenberei-
sung unmittelbar mit der Kost der Postocommandanten gespeist, und
hier insbesondere, nachdem ich die Gunst der Frau Postocommandan-
tin gewonnen hatte, wurde ich wahrhaft königlich gefüttert. Schon
den ersten Tag wurde mir in der Küche ein wahres Göttermahl
servirt und hierzu eine Vouteille Wein vorgesetzt, der von der eigenen
Fechsung des Postocommandanten gewonnen und auf deutsche Art
gepreßt wurde. Aus diesen Umständen schloß ich gleich, daß wir
hier lange, lange Zeit würden visitiren müssen, denn ich kannte be¬
reits meinen Herrn und wußte, daß er gern erschöpfend war. Als ich
ihm den folgenden Tag die geputzten Stiefel und gesäuberten Kiel«
dungsstücke überbrachte, lag er noch in dem Brautbette der Frau
Postocommandantin. Er sah nüchtern-betrunken aus, und seine Au¬
gen schienen während der Nacht viel kleiner geworden zu sein. Mit
diesen verkleinerten Augen sah er mich eine Weile nachdenkend an,
und nachdem er einige Male recht anmuthig gegähnt und ich theils
aus Sympathie, theils aus Schuldigkeit als Mitvisitirender sein
Gähnen, so gut als ein armer und dummer Gemeiner kann,
nachgeahmt hatte, sagte mein Herr mit einem unbeschreiblichen Ge¬
fühle : Mir scheint's, hier werden wir sehr lange zu thun haben. Ich
antwortete ihm in der Zerstreuung, weil ich eben an den vortreffli¬
chen Wein des Herrn Postocommandanten dachte: Ja wohl, Ew.
Gnaden, wir werden hier sehr lange zu thun haben, — die Frau
Postocommandantin hat mir gestern anvertraut, daß sie noch mehr
als zwei Eimer von dem guten Wein hat. — Er ist ein Esel, ver¬
setzte mein Herr, wer redet denn vom Wein? — Nach einer kurzen
Pause sagte er jedoch, mich begütigend: Er hat Recht, es ist
ein Kapitalwein, und er kann wohl auf eine gescheidte Art der Frau
beibringen, daß ich gerne davon ein halbes Eimerchen nach Hause
mitbrachte — es versteht sich jedoch, gegen Bezahlung, sonst nehme
ich durchaus keinen an.
Wir waren von dem vielen Nichtsthun, welchem wir seit unse¬
rer Postobereisung unsere ganze Zeit widmeten, so abgemattet, daß
wir einige Tage ausruhen mußten. Während dieser Ruhezeit war
ich hauptsächlich beflissen/ die höher gestellten Person n. welche sich
bei diesem Garnisonsposten befanden, kennen zu lernen. Ich kann
nicht genug rühmen, mit welcher Zuvorkommenheit mir die Frau
Pvstocommandantin in diesem Geschäfte an die Hand ging. Sie
war von Natur äußerst redselig, und es schien fast, daß sie ihre Re¬
den auswendig zu lernen pflegte, denn sie sprudelte dieselben mit
einer solchen Zungengelenkigkeit heraus, als wenn sie mittelst einer
Dampfsprachmaschine herausgetrieben worden wären. Nebst dieser
Kunstfertigkeit im Sprechen besaß sie eine so ausgebreitete Menschen¬
kenntniß, daß sie im strengen Sinn des Wortes die Nieren prüfen
konnte und in dem Herzen des Nächsten mit einer solchen Meister¬
schaft zu lesen verstand, daß ihrem Späherauge nicht die geheimste
Schwäche unbemerkt entgehen konnte. Bei ihr war eS nicht Schmäh¬
sucht, wenn sie die Fehler der Mitmenschen aufdecken mußte, es war
nur eine verzeihliche Herzensgüte, die sie zu Zeiten übermannte, wenn
sie Jemand vor gewissen Personen warnen wollte. Uebrigens konnte
man durchaus nicht sagen, daß sie bei ihren Charakterschilderungen
tadelnd auftrat, — nein! sie erzählte nur Facta und enthielt sich je¬
der moralischen Nutzanwendung. Sie überließ es dem Urtheile der
Zuhörenden, welchen moralischen Werth derselbe ihren geschilderten
Personen beilegen wollte, und ihr Wahlspruch war, wenn sie derglei¬
chen von Jemand erwähnen mußte: Mein Gott, wir sind ja Alle
fehlerhaft.
Diese ausgezeichnete Frau, welche der geflügelten Jugend die
Vortheilhasteste ^Erziehung zu geben und den eingefechsten Trauben
den herrlichsten Saft zu erpressen wußte, stand in der Reife ihrer
Jahre, ohne daß man geradezu sagen konnte, daß sie gealtert war.
Man konnte sagen, sie wäre gerade zeitig, und daher war sie mit
einer Kaiserbirne zu vergleichen, die am Baume von ihrer ursprüng¬
lichen grünen Farbe in's Gelbe übergeht und sodann den Reifpunkt
erreicht, in welchem selbe gepflückt wird, damit sie. nicht eigenmächtig
vom Baume herabfallen möchte. Sie war trotz ihrer Wohlbeleibt¬
heit sehr gut gestaltet, weder zu fett, noch zu mager, weder zu groß,
noch zu klein, hochbustg und mir einem so üppigen Gesäße ausge¬
stattet, daß man ihr sehr gerne verzieh, wenn sie damit aus weibli¬
cher Eitelkeit zuweilen coquettirte. Ihr rundes Gesicht hatte noch
kein Gram gefurcht, und ihre Nase, die sich in ein pfiffiges Spitzchen
endete, war durch den Gebrauch des Schnupftabaks, den sie sich dem
Herrn Gemahl zu lieb angewöhnt hatte, noch nicht aus ihren Fugen
gewichen. In ihren kohlschwarzen Augen lag ein verborgenes Feuer,
pas man nur anzublasen brauchte, um die hochrothe Flamme daraus
leuchten zu sehen. Ihre schmalen Augenbrauen und die übrigen
Haare waren pechschwarz und von einer bewunderungswürdigen Dicht¬
heit und Länge. Ihr Mund mag wohl früher viel kleiner gewesen
sein; allein durch den langjährigen häufigen Gebrauch war derselbe
etwas ausgedehnt, und dieses war die Ursache, daß sie bei dem vor¬
sichtigsten Lächeln nicht ganz den Abgang einiger Zähne verschweigen
konnte. Ihre beiden Füße waren reizend schmal und nach meiner
Meinung ein Bischen zu lang, aber selbst wenn diese Länge ein
Mangel gewesen wäre, so mußte man ihn mi,r toi-ve vergessen, wenn
das Auge von Ungefähr durch eine plötzliche Neigung des Körpers von
dem Anblick einer im blühendweißen Strümpfchen eingezwängten üppi¬
gen, runden, luftathmenden Wade überrascht wurde, die sich von ihrer ver¬
schwenderischen Fülle zum Knöchel hinab in einer zunehmenden
Schlankheit Kr-tckuiin verlief. Ihre fleischigen Theile waren in
ihrer jugendlichen Festigkeit erhalten. — Ihre beiden Händ¬
chen waren so weiß und klein, daß, wenn man nicht selbe küssen
konnte, man unwillkürlich wünschen mußte, wenigstens eine Ohrfeige
damit zu bekommen. Nebst diesen körperlichen Reizen besaß diese
Dame baare zweitausend Gulden, welche sie nebst fünfhundert Eiern
blos von der kleinen Wirthschaft während ihrer Anstellung als Posto-
Commandantin erspart hatte. Diese fünfhundert Eier mußte ich ihr
als ein Unbekannter während unserer Ruhezeit auf dem Markte ver-
kaufen, und ich war so glücklich, ihrem Vertrauen vollkommen zu
entsprechen. Im September sind die Eier überall schon etwas theu¬
rer, in jenem Lande -sind sie es aber das ganze Jahr; was Wunder
daher, wenn ich alle fünfhundert Stück zu Zweien um einen Gro¬
schen in einer halben Stunde angebracht hatte. Als ich der Frau
Postocommandantin den gelösten Betrag von zwölf Gulden dreißig
Kreuzer C,-M. übergab, war ihre Freude so groß, daß sie mir in
der Zerstreuung alle zwei Hände auf einmal zum Küssen reichte,
welche Befugniß ich nicht nur nicht benützte, sondern ich nahm mir
sogar die Freiheit heraus, in ihre linke Herzensband meine Herzensem-
pfindungen mittelst eines bedeutenden Druckes zur gefälligen Beachtung
niederzulegen, während ich ihre rechte mit verschiedenen heißen Küs¬
sen zu unterhalten mich bemühte. — Sie sind ein loser Vogel, sagte
sie, indem sie ein vorsichtiges Lächeln formirte, hinter welchem sich die¬
ses Mal der geheimnißvolle Zahnmangel wirklich versteckt hielt, —
wenn Sie nicht so geschickt wären, ich könnte Ihnen wegen Ihrer
Manieren zürnen. Wenn mein Pauli, so hieß der Hauptmann,
etwa bemerkte, daß ich so was von Ihnen dulde, dann wäre der
Teufel los; Sie müssen daher sehr vorsichtig sein, damit wir niemals
von ihm überrascht werden. Heute macht es gerade Nichts, denn er
ist mit dem Herrn Major fortgegangen und ich bin ganz allein zu
Hause; wir können daher schon eine Weile beisammen ungenirt zubringen,
wenn Sie mir versprechen, nicht schlimm zu sein. Ich versprach Al¬
les. — Sie zeigte mir nachher alle Briefe von ihrem ersten Liebha¬
ber bis zum Pauli!selbst; sie zeigte mir ihr Silberservice und eine
Silbermedaille, die ihr erster verstorbener Mann als Fuhrwcsenskor-
poral wegen einer Bravour erhalten hatte, mit einem Worte, sie zeigte
mir Alles, was sie! Sehenswürdiges hatte, oder woran sich an¬
genehme Erinnerungen aus der Vergangenheit knüpfen ließen. Jenen
vertrauten Stunden verdanke ich die interessanten Charakterschilder¬
ungen des wichtigen Personals, welches umer dem Commando Pau-
li's stand. Es befand sich nämlich bei diesem Posto ein lediger Ober-
lieutenant, der seit vielen Jahren mit einem Frauenzimmer wie ver-
heirathet lebte, aber trotz dieses Zusammenlebens ein sittliches Erem-
pel statuirte, — sie hatten nämlich keine Kinder u. s. w. u. s. w.
— Mein Pauli war schon Artilleriehauptmann, als ich ihn ken¬
nen lernte, und war seit einigen Jahren Wittwer, jedoch ohne Kin¬
der. Dafür hatte er aber baare acht Tausend Gulden Münze und
schien ein äußerst guter Mann, der mich hoffen ließ, daß ich ihn
sehr leicht würde lenken und regieren können. Er ist von Religion
ein Schwarzstrümpfler und dabei so bigott, wie ein Kapuziner. Er
wollte durchaus von einer morganatischen Ehe Nichts wissen, sondern
wollte mich feierlichst von einer Lieutenantin mit Uebergehung aller
Oberlieutenaiuinnen zur Hauptmännin befördern. So schmeichelhaft
mir diese Beförderung auch gewesen wäre, so habe ich mich vom
Ehrgeize doch nicht blenden lassen und ihn endlich durch vernünftige
Vorstellungen auch persuadirt, daß er von seinen streng sittlichen
Grundfäden ein wenig abwich. Unter uns gesagt, Pauli ist ein
wenig zähe, wenn es sich um's GeldauSgebcn handelt, ohne geradezu
geizig zu sein. Er ist nur sparsam, und eben dieser Sparsamkeit
hat er das artige Sümmchen, welches von Monat zu Monat wächst,
zu verdanken; denn wir legen alle Monate von seinen zweiundsiebzig
Gulden baar zweiundvierzig Gulden auf die Seite; und mit dreißig
Gulden, nachdem man Geflügel, Eier, Gemüse und Wein u. s. w.
Alles im Hause hat, läßt sich schon auslangen und gut leben. Dann
ist er von Jugend auf an die Sparsamkeit gewöhnt; denn er diente
von Pique auf. Er war lange Gemeiner und Compagnie-Schuster,
dal,n Korporal, Feldwebel und endlich Offizier im Handlanger-Corps.
Als dieses Corps aufgelöst wurde, kam er in die Feld-Artillerie,
von der er, wie er sagte, damals gar Nichts verstand, und avancirte
da bis zum Hauptmann. Als Compagnie-Schuster hat er geheira-
thet, und seine selige Frau soll ein Muster von einer guten und fleißi¬
gen Hauswirthin gewesen sein. Im Kriege machte sie Marketende¬
rin und in Friedenszeiten hatte sie für die Soldaten gekocht, und
weil sie hübsch gewesen sein soll, hat sie sür die Herren Offiziere
auch gewaschen. Mein Pauli sollte jene Garnison, in welcher er
meine Bekanntschaft machte, mit einer andern vertauschen, und dieser
nöt.ab b eschlemügte unser gegenwärtiges Verhältniß. Ich verkaufte
in aller Hast meine überflüssige Einrichtung. Mein Pauli bezog
mit seiner Compagnie eine kleine Kaserne, in welcher keine andere
Truppe lag, und auch wir nebst den übrigen Offiziers untergebracht
waren. Unter den Letztern war auch ein verheirateter Oberlieute¬
nant, dessen Frau meine Freundschaft suchte, und sie gefiel mir im
Anfange so wohl, daß ich ihr nicht nur meine Freundschaft schenkte,
sondern sie auch zu meiner Vertrauten machte. Diese intime Freund¬
schaft währte jedoch nicht lange zwischen uns; denn diese Frau Ober,
lieutenantin hatte die Gewohnheit, mich immer Frau Lieiüencmtin zu
tituliren, um mich gewissermaßen fühlen zu lassen, daß sie eine höhere
Charge als ich in der Armee bekleide. Auch erfuhr ich durch meine
Dienstboten, daß sie immer die Nase rümpfte, wenn von mir die
Rede war und man mich die Frau Hauptmännin nannte. Ich ver¬
zieh ihr dieses Alles, obschon ich über diesen Hochmuth innerlich
grollte. Cs ereignete sich aber bald, daß mein Pauli, ich, dieser
Oberlieutenant sammt Frau und die übrigen Offiziere übers Land
fuhren, um uns dort auf gemeinschaftliche Kosten zu unterhalten. Es
ward ein Diner angeordnet. AIS die Suppe aufgetragen war,
nahm ich den mir gebührenden Ehren-Platz ein und wollte die Suppe
austheilen. Statt aber den Platz zu meiner Rechten einzunehmen,
war die Frau Oberlieutcnantin so impertinent, mir in Gegenwart
aller Herren in's Gesicht zu sagen: Frau Lieutenantin, Sie haben
wahrscheinlich vergessen, daß mir der Platz als einer größeren
Dame gebühret, welchen Sie eingenommen haben. — Mein Pauli
sah verlegen auf seinen Teller und sagte Nichts! Der Oberlieute-
»ant , der seine Frau zur Ruhe verwies, fachte nur ihren Zorn an,
und die übrigen Offiziere lachten. Ich konnte nicht länger meinen
Zorn mäßigen, und indem ich diese anmaßende Figur verächtlich an¬
sah, sagte ich zu ihr: Wer sind denn Sie, daß Sie sich unterstehen,
so mit mir zu reden und sich eines Ranges anmaßen, der Ihnen
nicht gebührt? Ich bin nicht nur Offiziersfrau wie Sie, sondern
mein Pauli ist der Commandant, und Ihr Gemahl ist sein Unter¬
gebener; folglich gebührt mir der erste Platz! — Der Oberlieutenant,
der sich bisher sehr bemühte, dem Streite durch Besänftigung seiner
F>an ein Ende zu machen, fand sich durch meine Worte beleidigt
und sagte in einem zornigen Tone: Sie sollten als eine Concubine
des Hauptmanns, der allerdings mein Vorgesetzter ist, so viel Be¬
scheidenheit besitzen und nicht aus einem verbotenen Verhältniß auch
noch Rechte herleiten wollen, die jede rechtschaffene Frau beleidigen
müssen. Wissen Sie, gnädige Frau Lieutenantin, daß Sie nur so
lange in der Kaserne bleiben dürfen, als ich will und es dulde!
Diese kecke Sprache eines Untergebenen hat endlich meinen sanften
Pauli auch aufgebracht. Sie, sagte er zum Oberlieutenant, ich ver¬
bitte mir solche Ausdrücke! Sie haben weder was zu erlauben, noch
zu verbieten, ich bin der Commandant, — Sie haben sür mich
Nichts zu veramworten. — Morgen, antwortete der Oberlieutenant,
werden wir beim Rapport weiter hierüber sprechen, und ich werde
Ihnen zeigen, Herr Hauptmann, daß Sie deswegen, weil Sie Com¬
mandant sind, nicht Alles thun können, was Ihnen beliebt. Nach
mehreren ähnlichen Repliken nahm der Oberlieutenant seine Frau und
empfahl sich. Als sie fort waren, haben wir uns dann ungestört
unterhalten; denn die anderen Offiziere waren dem Oberlieutenant
auch jnicht gut und meinem Pauli waren sie alle Geld schuldig.
Den folgenden Tag forderte der Oberlieutenant Pauli beim Rapport
auf, mich augenblicklich aus der Kaserne zu entfernen, nachdem die
Concubinate alle ohne Unterschied und insbesondere! in den Kasernen
von Sr. Majestät verboten wären, und er sich daher bemüssigt fin¬
den würde, es höhern Orts anzuzeigen. Mein Pauli ließ eS dar¬
auf ankommen, aber zu unserm größten Verdruß ließ der Festungg-
Commandant meinen Pauli holen, und ich mußte noch denselben
Tag die Kaserne räumen. Pauli nahm mir in der Stadt ein hüb¬
sches Quartier auf, und ich war recht froh, daß ich aus diesem
Soldaten-Vogelhaus heraus war. Die Reibungen zwischen Pauli
und diesem Oberlieutenant hörten aber nimmermehr auf. Eines
Tages ließ der Oberlieutenant einen Kanonier, der in der Gärtnerei
sehr erfahren war und aus dieser Ursache unseren Garten besorgte,
arretiren, weil er zu spät und betrunken in die Kaserne kam und
sich gegen den Korporal, der ihn in Arrest führte, sehr unanständig
benahm. Pauli wollte ihn für dieses Vergehen krumm schließen,
denn wir konnten ihn in unserem Garten nicht entbehren; der Ober¬
lieutenant bestand aber darauf, ihn mit Kasernen-Arrest zu belegen,
und Pauli war schwach genug, ihm einen vierwöchentlichen Kasernen-
Arrest zu dictiren. Als ich dieses hörte, wußte ich vor Zorn nicht,
was ich thun sollte. Ich wollte auf der Stelle einpacken und davon
fahren, so ärgerte mich die Schwachheit meines Pauli. Nachdem
er jedoch sein Unrecht einsah und mir versprach, basi er dem Kano¬
nier erlauben werde, alle Tage in den Garten zu kommen, so ließ
ich mich damit besänftigen. Es wurde daher dieser Kanonier
zwei Tage immer durch einen Korporal in den Garten geführt und
aus demselben wieder abgeholt. Den dritten Tag holte ihn ein
Korporal wieder zur bestimmten Stunde ab, da er aber noch eine
Arbeit zu verrichten hatte, so sagte ich dem Korporal, er solle ihn
noch länger da lassen, indem ich es verantworten würde. Der
Korporal kam nach einer kurzen Weile wieder zurück und meldete
mir, daß ihm der Oberlieutenant befohlen habe, den Kanonier
augenblicklich mitzubringen. Ich ließ ihn daher gehen und feste im
Zorn bei, daß ich ihm die Nachsicht seiner weitern Strafe erwirken
werde. Der Korporal war boshaft genug, diese Worte dem Ober¬
lieutenant zu hinterbringen. Als Pauli nach Hause kam, bestürmte
ich ihn init Bitten, er möchte dem Kanonier seinen Kasernen-Arrest
schenken, und nach vielen Bitten, die er zurückwies, machte ich es
zur Bedingung meines Beiihmseins. Er versprach'S und hielt Wort.
Auf dieses hatte der Oberlieutenant den Korporal zum Rapport be¬
stimmt, welcher so boshaft war, die Worte, die er von mir gehört,
in Gegenwart der übrigen Offiziere zu wiederholen, und selbst der
Kanonier war so dumm, die Wahrheit derselben zu bestätigen. —
Nun, rief der Oberlieutenant aus, ist es nicht für uns eine Schande,
daß wir uns von einer Concubine commandiren lassen? Mein
Pauli verlor die Contenance und entschuldigte sich damit, daß er
von dem, was ich mit dem Korporale sprach, Nichts wußte; aber
der Oberlieutenant bestand auf meiner gänzlichen Entfernung, und
was das Aergste war, die übrigen Offiziere, die Pauli schuldig
waren, stimmten ihm alle bei. Pauli wußte keinen Ausweg und
war von diesem Vorgang so ergriffen, daß er mir krank wurde. Er
ließ daher den Oberlieutenant zu sich bitten, um sich über Dienst¬
angelegenheiten mit ihm zu besprechen, und ich horchte in einem Ne¬
benzimmer. Nachdem Pauli den Oberlieutenant um die Führung
des Conimando in seiner Krankheit ersucht hatte und ihm zu ver¬
stehen gab, daß er an seiner Krankheit Schuld wäre, war der Ober¬
lieutenant so unverschämt, ihm Folgendes zu erwiedern: Wissen Sie
was, Herr Hauptmann, Sie sind schon alt genug und mit Ihren
Kenntnissen haben Sie es auch nicht sehr weit gebracht; denn aufrichtig
gesagt, von den Artillerie-Wissenschaften wissen Sie nicht viel, —
überdies sind Sie zu schwach, um sich von diesem Frauenzimmer, die
ich von früher her kenne, und welche immer Nichts nutz war, los¬
zumachen. Ich gebe Ihnen daher den Nath, melden Sie sich in die
Garnison, dorthin sind Sie gut genug, oder lassen Sie sich pensio-
niren; denn in der Activität werden Sie ohnehin kein Major und
in der Garnison wird Ihnen dann kein Mensch etwas in den Weg
legen, wenn Sie auch daS Commando Ihrer Freundin übertragen.
So ironisch und beleidigend auch der Nath des Oberlieutenanls ge¬
wesen ist, so lag doch viel Wahres darin, und mein Pauli,'weit
entfernt, darüber böse zu werden, versprach sich den Vorschlag zu
überlegen. Als der Oberlieutenant fortging, hat er mir eröffnet,
daß er wirklich Willens sei, dem ihm gegebenen Rath zu folgen, und
nachdem er mir das gute ruhige Leben, welches die Hauptleute in
den Garnisonen führen, auseinandergesetzt hatte, willigte ich mit
Freuden ein, ihm zu folgen. Er meldete sich daher zu der Garni-
sons-Artillerie, und wir leben, wie Sie sehen, recht glücklich. Ich
bin estimirt, mache, was ich will, heiße die Frau Hauptmännin und
weh dem, der mir was in Weg legt! Mein Pauli thut nicht das
Mindeste, ohne mich zu Rathe zu ziehen, und wenn mich die 'V ann-
schaft auch Frau Posto-Commandantin nennt, so thut sie mir nicht
Unrecht, denn ich muß Alles regieren, und fragen Sie nach, ob man
mit mir unzufrieden ist. Blos der Lieutenant, der seit kurzer Zeit
hier ist, macht mir viel Verdruß, — doch weil Sie mit Ihrem Her¬
ren visitiren gehen müssen, so werde ich Ihnen diesen boshaften Men¬
schen nächstens schildern, und wenn's Ihnen gefällig ist, machen wir
eine Partie Manage. Wir spielten, ich verlor und ging.
Den folgenden Tag sollte eine große Visitation einiger ruinirten
Küsten-Batterien und eines hohen Forts comissionaliter unter Jnter-
vmirung der Genie- und sämmtlicher Artillerie-Offiziere vorgenom¬
men werden, und da selbe den ganzen Tag dauern sollte, so wurden
sämmtliche Herren zu einem Diner vom Herrn Posto-Commandan-
ten eingeladen, und da die Frau Posto-Commandantin nur für
Pauli und meinen Herrn das erforderliche Geschirr und nicht für
die anderen Herren mitgeben wollte, so wurden selbe mit der Be-
merkung zu diesem Diner geladen, daß jeder seine Schanzzeug, (wo-
unter Messer, Gabeln, Löffel :c. verstanden war), mitbringen möchte.
Ich mußte dieses Mal mitgehen, weil ich das Archiv meines Herrn
sammt allerlei Plänen hinter ihm schleppen sollte.
Wir haben mehrere verfallene Küsten>Batterien besichtiget, und
haben ausgemacht, daß sie ohne Anstand ihrem gänzlichen Verfall
entgegen gehen dürfen. Endlich besichtigten wir die letzte, und ich
bemerkte alsogleich, daß mein Herr von einem napoleonischen Gedan¬
ken befallen ward. Meine Herren, sagte er seufzend und mit einer
zarten Stimme, — Schade um diese Batterie, von welcher sich die an¬
nähernden feindlichen Schiffe so vortheilhaft bestreichen ließen. Hier müssen
wir unsere Stimme für das Wohl des Staates, für unser Vater¬
land erheben, und durch genaue Prüfung aller Pult'te und Um¬
stände, durch gründliche Darstellung aller wichtigen Gründe die Auf¬
merksamkeit der hohen Artillerie-Behörde auf den Aufbau dieses
Werkes leiten, damit Hochselbe in ihrer Weisheit das nöthig Erach¬
tet hoch gütigst anzuordnen geruhen möchten. Ich fordere daher einen
jeden Herrn auf, seine Meinung ohne Rückhalt nach bester Einsicht
abzugeben, und nicht etwa meiner unvorgreiflichen Meinung aus schul¬
digen Respect und aus Gehorsam beizupflichten; denn ich bin so
freimüthig, Ihnen, in der Voraussetzung, daß Sie von meinem Ge¬
ständnisse keinen Mißbrauch machen werden, zu bekennen, daß ich
als Districts-Commandant auch irren kann. Also meine Herren,
geben Sie mir unbefangen nach Ihrem Range Ihre aus Über¬
legung und Erfahrung geschöpften Meinungen ab. — Ich bin der
Meinung, meine Herren, fuhr mein Herr fort, diese schöne Position
nicht eingehen zu lassen, vielmehr diese Batterie, welche nur auf
sechs Geschütze, wie die Schußscharten bezeugen, aufgebaut war, mit
zwei Geschützen zu vermehren, im Hintergrunde eine Pulverkammer
aufzubauen und ein Lafetm-Depot anzulegen, paru wegen eines
rückwärtigen möglichen Ueberfalles eine hohe Mauer aufzurichten.
Nachdem mein Herr diese imposante Anrede geendigt hatte, klärte
sich seine Stirne wieder auf, und einer Antwort von Pauli entgegen
harrend, sah er in das vor ihm ausgebreitete Meer. — Der Pauli
wartete mit dem Schnupftabake aller Seits auf, nahm zwei Prisen
hintereinander, setzte seine grüne Brille auf seine gespitzte Nase,
drehte sich nach allen Seiten um, schritt die Länge und Breite der
Batterie ab, sah dann in die Höhe und sagte einige unverständliche
Worte vor sich hin, dann trat er schnellen Trittes zu dem in tiefe
Gedanken versunkenen Major und nachdem er mit der Hand salu-
tirt hatte, sagte er: Herr Oberwachtmeister, ich bin mit Ihnen vollkom¬
men einverstanden. — Gut, sagte der Major, aber ich glaube, lieber
Herr Hauptmann, acht Geschütze werden sich hier doch nicht anbringen
lassen, denn der Raum wäre viel zu beengt. — Ja, Herr Obcr-
wachtmeister, das hab' ich auch gedacht, darum hab' ich den Raum
abgeschritten; aber das thut Nichts, wenn der Herr Oberwachtmeister
befehlen, man kann ja mit den Geschützen zusammenrücken. —
Der Jngenieurmajor, welcher dieses Gutachten anhörte, brach
in ein recht unartiges Lachen aus und verrieth seine ganze Unwis¬
senheit im Batteriebaue, da er mit der Bemerkung herausplatzte:
Was? Ihr Artilleristen thut nach dem Befehle Euerer Vorgesetzten
die Batterien dehnen und verengen? — Das ist ja herrlich, das hab
ich gar nicht gewußt! Um diesem ärgerlichen Auftritt ein Ende zu
machen, trat der Feldartilleriehauptmann, der schlechtweg der lange
Martin hieß, vor, salutirte und sprach: Herr Oberstwachtmeister, ich
trete Ihrer Meinung vollkommen bei. Aber, versetzte mein Herr,
es ist ja die Frage, ob sechs oder acht Geschütze angetragen werden
sollen? — Herr Oberstwachtmeister, sagte verlegen der lange Mar¬
tin, in diesem Falle stimme ich gehorsamst entweder für sechs oder
acht Geschütze. Der Major ward über diese vorsichtige Antwort
ärgerlich, kehrte ihm den Rücken und winkte dem Garnisvnsartillerie-
Oberlieutcnant, den man spottweise den guten Franzi hieß, zu sich
und sagte ihm: Sprechen Sie wenigstens, Herr Oberlieutenant, Ihre
Meinung unverhohlen aus. Der gute Franzi zitterte vor lauter
Aengsten, machte eine tiefe Verbeugung, salutirte und verzog zwei-
vder dreimal nach seiner Gewohnheit die unteren Lippen, öffnete den
Mund, und sprach: Herr Oberstwachtmeister, ich bin mit sechs und
acht Geschützen, mit der Pulverkammer, mit dem Depot einverstanden;
aber statt der Mauer glaube ich, wäre es besser, wenn man den
Felsen oben sprengen und einen tiefen Graben dadurch gewinnen
würde, in welchem der Feind bei einer nächtlichen Ueberrumpelung
ohne Gnade und Barmherzigkeit sich das Genicke brechen müßte.
Der Vorschlag, meinte mein Herr, wäre allerdings nicht übel, aber
bedenken Sie, Herr Oberlieutenant, was ein solches Unternehmen
dem Aerar kosten würde. Herr Kamerad, sagte der mit der Artille¬
rie sehr unvertraute Jngenieurmajor lachend, fühlen Sie auch den
anderen Herren ein Bischen auf den Zahn; denn so gehaltvoll die
Proposition des Herrn Oberlieutenants ist, so unterliegt es keinem
Zweifel, daß die übrigen Herren Votanten noch viele Vorschläge i..
petto haben, die einen größeren Mann, als Napoleon war, in sei¬
nen großartigen Entwürfen verwirrt gemacht hätten. Mein Herr
wußte eigentlich nicht, wie er die Bemerkung seines Kameraden deu¬
ten sollte und sah ihn schweigend eine Weile an. — da trat Herr
Joseph, der Zeugwart, der von seinen nächtlichen Fatiguen nicht ganz
ausgenüchtert war, hervor und sprach mit Beobachtung aller üblichen
Formalitäten: Herr Oberstwachtmeister, ich bin mit Allem einverstan¬
den, aber gegen die Pulverkammer muß ich Protestiren, denn diese
muß an einem Orte angelegt werden, wo keine Feuersgefahr zu be¬
fürchten ist. Wenn diese Pulverkammer, wie Herr Oberstwachtmeister
proponirte, im Hintergrunde der Batterie angelegt würde, wie bald
könnte selbe durch einen Zufall oder eine Unvorsichtigkeit in die Luft
gesprengt werden. — Nun konnte mein Herr seinen verhaltenen Zorn
nicht länger mäßigen. Von Ihnen, Herr Zeugwart, habe ich ohne¬
hin keine Meinung abverlangt, weil ich weiß, daß die Artilleriewis¬
senschaften außer Ihrem Artillerierock nicht zu Ihren leidenschaftlich¬
sten Beschäftigungen gehören. Es wundert mich daher gar nicht, daß
Sie die Pulverkammer außer der Batterie wissen wollen, wo nach
Ihren fortificatorischen Kenntnissen ein Branntweinschank viel zweck¬
mäßiger angebracht wäre. Während sich der Herr Major und Di-
strictscommandant recht erzürnte, schwatzte der Garnisonsartillerielieu¬
tenant mit einem Jngenieuroffizier von Mädchen und lachte nach
Herzenslust. Mein Herr bemerkte dieses mit Unwillen, und obschon
der Lieutenant seinem Range gemäß noch nicht zur Abgabe seiner
Meinung an der Tour gewesen wäre, so winkte ihn doch mein Herr
zu sich und sagte zu ihm ironisch: Während wir uns hier mit wich¬
tigen Gegenständen befassen, sind Sie, Herr Lieutenant, voll guter
Laune, und ich wette, daß Sie sich bereits über den streitigen Gegen¬
stand entschieden haben. Der Lieutenant, ein großer, noch junger
Mann, trat ohne Verlegenheit und alle bisher beobachteten Ceremo¬
nien auf, und gleichsam, um Zeit zu gewinnen, fragte er meinen
Herrn, um was es sich eigentlich handle? — Ohne einen Verdruß
blicken zu lassen, den mein Herr hinter einem zweideutigen Lächeln
verbarg, wiederholte er ihm die gemachten Propositionen und setzte
hinzu: Nun können Sie um so unbefangener Ihre Meinung abge¬
ben, nachdem Sie die früheren ?rü ot ('«»tut überhört haben. Die
Herren Offiziere lachten alle schadenfroh, ohne jedoch den Lieutenant
aus der Contenance zu bringen, welcher auf der Stelle folgende merk¬
würdige Antwort abgab: Diese Batterie wurde unter der Regierung
des größten Mannes, den das vorige Jahrhundert hervorbrachte und
das jetzige umbrachte, unter den Augen seiner berühmtesten Marschälle
erbaut, und es wäre daher eine unverschämte Anmaßung von einem
Garnisonsartillerielieutenant, an dieser Batterie, die allerdings in Ver¬
fall gerathen ist, einen Stein verrücken zu wollen. Aus diesem Grunde
würde ich daher für die Herstellung dieser Batterie in den ursprüng¬
lichen Zustand stimmen, wenn jeder Antrag dieser Art nicht ohnehin
unnütz wäre; denn wie Herr Oberstwachtmeister wissen, wird die
Renovirung und Dotirung dieser Batterie durch volle zwanzig Jahre
durch die visitirenden Districtscommandanten angetragen, ohne daß
nur eine Antwort erfolgt wäre. Wenn aber auch die Batterie aus¬
gebaut würde, müßten dann nicht die anderen Batterien, deren Verfall
wir bereits einstimmig sanctionirt haben, auch ausgebaut werden,
oder soll vielleicht dem supponirten Feinde diese Mühe sammt Ko¬
sten übertragen werden? Ferner, hat man denn hiezu Geschütze? Es
gibt ja hier im vollkommen guten Zustande erhaltene Batterien, welche
seit zwanzig Jahren trotz aller Anträge mit dem gehörigen Geschütze
noch nicht versehen sind, wie kann man daher hoffen, daß diese Bat¬
terie, die im günstigsten Falle in zehn Jahren ihre Vollendung er¬
reichen würde, besser als ihre vernachlässigten Schwestern behandelt
werden würde?— Endlich, Herr Oberstwachtmeister, bin ich so frei,
meine eigenen kühnen Hoffnungen auszusprechen. Ich hoffe nämlich
binnen etlichen vierzig Jahren, wenn mir der Schöpfer das Leben
und Gesundheit schenkt, selbst Major und Districtscommandant zu
werden, und dann werde ich diese Batterie nach meiner unbeschränk¬
ten Einsicht zur Herstellung beantragen. — Während der Lieutenant
so sprach, stieg die Gesichtsröthe meines Herrn bei jedem Worte und
die vernarbte Grube auf der linken Wange, welche eine beborstete
Warze bewachte, ward zwetschkenblau. Er wäre unfehlbar in seiner
Wuth über den kecken Lieutenant hergefallen, wenn ihm sein Käme-
rad, der Jngenieurmajor, hiezu Zeit gelassen hätte. Er näherte sich
hastig dein Lieutenant, als er geendigt hatte, klopfte ihn: auf die
Achsel und sagte: Freund, Sie haben den Nagel auf den Kopf ge¬
troffen, — vor Ihnen habe ich Respect! und indem er sich z« mei¬
nen, Herrn wandte, sagte er: Herr Kamerad, gehen wir, auf die
Beweisgründe Ihres Lieutenants läßt sich Nichts erwiedern, und zog
ihn mit Gewalt fort, die andern folgten mechanisch und stillschwei¬
gend nach, — ich auch. Wir bestiegen zwei Barken, welche uns
am Meeresufer erwarteten. Ich bestieg die zweite Barke, welche für
die niederen Personen bestimmt zu sein schien, denn die erstere schien
wegen ihres Ueberzuges von grünem Tuche für die höheren Perso¬
nen bestimmt. In dieser Barke befand sich auch der Lieutenant, ein
Ingenieur und mehrere Feldartillerieoffiziere. Als wir unsere Sitze
eingenommen und sich jeder seine Pfeife angezündet hatte, hub ein
Feldartillerie-Oberlieutenant mit dem Garnisonsartillerie-Lieutenant
zu sprechen an. Du Bruder, sagte ersterer, hast den Major famos
abgetrumpft und ihn curios beschämt, er wird Dir's bei Gelegenheit
schon einbrocken. — Unter ähnlichen Discurscn landeten wir an dem
Wege, der zu dem hoch gelegenen Fort führte. Auf die jungen Jn-
genieuroffiziere warteten gesattelte Maulesel, die selbe auf dem steilen
Wege in das Fort auf ihren Rücken bringen sollten, während die
alten und gebrechlichen Garnisonsoffiziere zu Fuß gingen.
In ernsten Betrachtungen wandelte ich unter der Last des
Handarchivs meines Herrn, den Zug schließend, den steilen Berg zum
Fort hinauf. Eigentlich nennt man diesen Weg einen vom Wasser
ausgewühlten Graben, in welchem hie und da große und kleine Ver¬
tiefungen liegen, die man zu überspringen pflegt. Erst hundert Klaf¬
ter vom Fort entfernt, beginnt ein Weg, der von Jahr zu Jahr län¬
ger gemacht wird und, wie ich hörte, in fünfzehn Jahren gänzlich
beendigt werden soll. Wir hielten unterwegs siebenundvierzig Mal
an und eben darum gelangten wir erst anderthalb Stunden nach
dem Eintreffen der Jngenieuroffizicre im Fort an. Bevor nur etwas
unternehmen konnten, mußten wir eine halbe Stunde rasten, denn
uns allen war der Athem ausgegangen.
Dieses Fort ist ein kühnes Andenken Napoleons, der nach der
Allerhöchsten Aeußerung Sr. Majestät des Kaisers Franz um etliche
Jahre zu früh vom Schauplatze entfernt wurde, weil er es gewiß
nach dem vorhandenen Plane vollendet hätte, woran natürlich unter
Oesterreich gar nicht mehr zu gedenken sei.
Während wir, wie die übereilten PostPferde, um die Wette
schmausten, hatte der auf vierzehntägiger Wache in diesem Fort
stehende, wie ich vernahm, sehr verschuldete Fähnrich eines italieni¬
schen Infanterieregiments, die Herr.'« sämmtlich mit Cypern- und Mal-
vasier-Wein, Rvsoglio und Gefrornem, dann mit allerhand feinen
Zuckerbäckereien, mit Brot und Schinken uno mit Obst bewirthet.
Nachdem Alles aufgezehrt war, begaben sich die Herren in die
Festungswerke und ich folgte nach. — Die Ingenieur-Offiziere be¬
stiegen, als auch die Tafel vorüber war, ihre Maulesel, die Artille¬
rie-Offiziere gingen zu Fuß. War das Hinaufsteigen beschwerlich,
so war das Hinabsteigen äußerst gefährlich, und ich mußte sogar
meinen Herrn, dem. der genossene Wein einen Schwindel verursachte,
hinabführen. Hör' er, sagte er zu mir, wenn ich ihn nicht bei mir
hätte, so müßte ich mich niederlegen und mich wie ein Faß hinab¬
wälzen, so schwindelt mir der Kopf.
Als wir zu Hause anlangten und ich meinen Herrn entklei¬
dete, stattete die Frau Posto-Commandantin ihrem Gaste einen Be¬
such ab und erzählte ihm, daß sie eine große Langeweile gehabt
habe weil sie immer allein sein müsse. Es ist mir sehr leid, meine
Gnädige, sprach der Major, daß ich Ihnen immer ihren Pauli ent¬
führe und alles Gute, was Sie mir erweisen, mit Bösem vergelte.
Ihres herrlichen Weins wegen wünschte ich, ich könnte Ihnen einen
Gefallen erweisen. — O, bester Herr Oberstwachtmeister, Sie sind
gar zu gütig, dieser Kleinigkeiten zu erwähnen, und wenn es nicht
hinsichtlich des Weines ein Kompliment ist, und derselbe Ihnen wirk¬
lich schmeckt, so werde ich Sie bitten, ein halbes Eimerchen davon mit
nach Hause zu nehmen. Ich habe ihn schon abziehen lassen und
ich hoffe, Sie werden mir diese Bitte nicht abschlagen. — Da hat
dieser Mensch gewiß geplaudert, — indem er auf mich zeigte, — ich
werde ihm die Rippen einschlagen, sobald wir allein sind, sagte mein
Herr, und ich kannte ihn zu gut, als daß ich geglaubt hätte, daß es sein
Ernst sei.— Herr Oberstwachtmeister, müssen mir schon verzeihen, daß
ich mich unterstanden habe, Ihnen diesen Antrag zu machen, Ihr
Kanonier hat zu mir nur gesagt, daß Ihnen mein Wein schmecke,
und ich mache mir ein Vergnügen daraus, wenn Sie mein Anerbieten
nicht zurückweisen. - Wer sollte Ihnen wohl, schöne Frau, etwas
abschlagen können, aber ich werde Ihnen den Wein bezahlen. —
Ist schon recht, Herr Oberstwachtmeister, sagte die Frau Posto-Com-
mandantin, — wir werden schon gleich werden. Aber mochten Sie
mir nicht die Gefälligkeit erweisen, Ihren Kanonier morgen zurück¬
zulassen und statt seiner unseren Burschen mitnehmen? — Mit grö߬
tem Vergnügen, antwortete der Herr Oberstwachtmeister, — Sie kön¬
nen ihn ganz behalten, insolangc ich mich hier aufhalten werde, nur
bedinge ich mir aus, daß er mich noch während meiner Anwesenheit
und kein Anderer bediene. — Die Frau Posto-Commandantin war zu
meinem größten Vergnügen über die Condescendenz meines Herrn
sehr erfreut, und ich durfte also hoffen, ungestört mit ihr managen
und ihren biographischen Vorlesungen beiwohnen zu können. Nach¬
dem sie fortgegangen und ich mit meinem Herrn allein war, sagte
er zu mir: Sei Er nur klug und lasse Er sich nicht vom Herrn
Hauptmann in die Karte gucken. Uebrigens, wenn Er hier bleiben
will, ich will Ihn in seinem Glücke gar nicht hindern, — Er hat
mir ohnehin des Weins wegen einen Gefallen erwiesen, und ich
will aus Erkenntlichkeit für Ihn sorgen, — ich werde Ihn zum
Korporal in Vorschlag bringen, und ich hoffe, ein hohes Haupt¬
zeugamt wird meinen Vorschlag genehmigen.
Mein Herr entließ mich, und die pensionirte Frau Lieutenan¬
tin und Posto-Commandantin harrte meiner auf dem Gange und
verschämt lächelnd sagte sie mit ihrer lieblichen leisen Stimme: Mor¬
gen sind wir den ganzen Tag allein zu Hause, — da haben Sie
einen Zwanziger, damit Sie sich heute unterhalten können, — mor¬
gen kommen Sie aber zeitlich zu mir, ich werde für Sie ein Früh¬
stück in Bereitschaft halten!
Man erzählt sich, daß der König in Erdmannsdorf gesagt habe:
Den Webern soll und muß geholfen werden. Bis jetzt sieht man
noch Nichts, was darauf hindeuten könnte; es heißt vielmehr, daß
die armen Leute noch die Kosten der wider sie geführten Untersuchung
aufbringen sollen. Das wäre allerdings das geeignetste Mittel, die
kaum erloschene Flamme wieder anzufachen. Uebrigens begreift man
nicht, was den obersten Behörden noch zu thun übrig bliebe, nachdem
sie die Ursachen der Unruhen hinweggeräumt haben. Die Presse ist
zum Schweigen gebracht und das Haupt der communistischen Pro¬
paganda sitzt im Breslauer Jnquisitoriat. Wer jetzt von den Gebirg¬
lern noch hungert und Noth leidet, der thut's aus unwohlmeinender
Absicht. Eine herrliche Erfindung, diese Censur! Mit einem Strich
vernichtet sie den Nothstand von so vielen Tausenden. Unter den
Papieren des Herrn Pelz hat man Briefe von Volksfreunden vorge¬
funden, die sich über Zeiterscheinungen freimüthig aussprechen. Einer
dieser Briefsteller, der seine Ansichten über Organisation der Weber
äußert, ist bereits vernommen worden und hat nähere Aufschlüsse über
dieses unliebsame Wort geben müssen. Es sollte eine Untersuchungs¬
commission niedergesetzt werden, welche die ganze provinzielle Intelli¬
genz über dieses Thema ausfrüge. Das wäre freilich umständlicher,
als das schriftliche Votiren durch die Organe der Presse, aber man
sähe doch, daß die Furcht vor den Thatsachen der Aelt uns nicht ge¬
rade Reißaus nehmen ließe. Wir sind schon wieder, was die Presse
betrifft, glücklich bei dem Jahre 1839 angelangt. Damals strich ein
Herr von Kottwitz dem Wiener Strauß die Apposition: Walzerko-
nig fort; der Herr von Schönfeld erachtete laut Urtheil vom 22.
August folgende Stelle in einem Theaterreferate für staatsgcfäyrlich:
„ . . . Dadurch wird das Drama zu einem Solospiel, zu einer Mo¬
narchie, da es doch eine Verfassung haben soll, in der jeder der Mitspie¬
lenden sich noch um etwas Anderes, als um seine Rolle zu beküm¬
mern hat." — So etwas wäre begreiflich, wenn dieser Passus gegen
unsere erste Liebhaberin gerichtet worden, und unsere erste Liebhaberin
zugleich die hundertste Liebhaberin unseres Don-Juan-Schönheit wäre;
ich kann Ihnen aber die Versicherung geben, daß Censor Schönfcld
eben so sehr die weibliche Schönheit, als die männliche Wahrheit haßt.
Warum also wohl hat obiger Satz nicht das Licht der Welt erblicken
dürfen ? Wer mir hierauf genügend antwortet, und wäre es selbst
Herr von Schönfcld, erhält eine ansehnliche Belohnung. Ich könnte
Ihnen übrigens mit unzähligen solcher Unbegreiflichkeiten aus der
Sphäre der Breslauer Censur aufwarten, wenn ich nicht fürchtete,
Sie damit zu ermüden. Wie ich höre, erscheint nächstens ein neues
Heft von „Du sollst und mußt lachen"; darin werde ich sie abdruk-
ken lassen. Doch ein Curiosum nehmen Sie noch in Kauf, weil es
mit einem Vorfalle der letzten Zeit in Verbindung steht. Einer von
den hiesigen unzähligen Vereinen, in die sich das sociale Leben zer¬
bröckelt hat, die „Lätitia", hatte eine Eisenbahnlustfahrt nach dem
romantischen Fürstenstein veranstaltet. Dort sollte nun Ungeheuerli¬
ches vorgekommen sein: Man hatte die Tricolore aufgesteckt und Ed.
Pelz war mit Böllerschüssen empfangen worden. Der Staat schwebte
natürlich am Rande des Verderbens, und die Polizei säumte keinen
Augenblick, die denuncirten Demagogen zu citiren. Es stellte sich aber
heraus, daß die an den Waggons angebrachten Fahnen der Eisenbcchn-
Direction gehört hatten und daß die Böller des Echos wegen abge¬
schossen worden waren. Hiermit war die Sache abgethan. Da er¬
schien aber ein Artikel in der Trier'schen Zeitung, der einige Uebertrei¬
bungen enthielt und keineswegs zu Gunsten der Polizei lautete. Hie-
gegen wollte die Direction der „Lätitia" remonstriren und eine Er¬
klärung dahin abgeben, daß die bezügliche Nachfrage der Polizeibehörde
durchaus in der gehörigen Form geschehen und mehr den Charakter
einer humanen Erkundigung, als den einer officiellen Inquisition an
sich getragen habe. Herr von Schönfcld strich diese Erklärung mit
dem Bemerken: Ruhme man die Humanität der Polizei, so liegt darin
die Voraussetzung, daß die Polizei auch inhuman zu Werke gehen
könne. — Also auch loben dürfen wir nicht mehr. Sie begreifen
nun wohl, weshalb wir in auswärtigen Blättern so viel Rühmens
von unserem Censor machen.
Die Frau des noch immer seiner Freiheit beraubten E. Pelz hat
die Anwesenheit des Königs in Erdmannsdorf benutzt und Se. Ma¬
jestät um die Freilassung ihres Mannes gebeten. Der König soll sich
aber sehr ungnädig ausgesprochen und unter Anderm geäußert haben:
Das ist der Pelz, der mir meine Unterthanen aufgewiegelt. — Unser
König liebt die Wahrheit; möchten sich doch alle diejenigen, welche
die Wahrheit nicht um ihrer selbst willen lieben, wenigstens durch
diese Rücksicht bestimmen lassen, ihm nicht den Schein der Wahrheit
für sie selbst zu bieten. Wie niederschlagend müssen solche Aeußerun¬
gen auf das Volk wirken, das diesen einzelnen Fall gleich zur Allge¬
meinheit erhebt und sich dem Glauben hingibt, alle seine Be¬
dürfnisse gelangten nicht zur Einsicht des königlichen Herrn. Eine
Wahrheit vor dem Throne eines guten Königs gilt mehr, als tausend
in dem Munde eines Philosophen, denn sie strömt in tausendfachen,
segenbringenden Strahlen auf das Volk zurück.
Wir leben jetzt unter lauter Romantik hier in Schlesien. Es
werden Streifzüge gegen Räuberbanden unternommen, Wilddiebe zu
Dutzenden auf Scheiterhaufen verbrannt, Bauern von edlen Rittern
erlegt, Säufer müssen öffentliche Kirchenbuße thun, die Bernhards
und Peters predigen einen Kreuzzug gegen den Branntweintürken und
unsere studirten Leute feiern Studienfeste in Warmbrunn. Ein jun¬
ger Ritter, der fünfzigste und letzte Abonnent der „Zeitschrift für
Recht und Besitz", hat dabei „die Aristokratie, die Stütze des Staa¬
tes", leben lassen. Ihre Deutsche Allgemeine Zeitung, die bei uns
drollige Käuze zu Correspondenten hat, berichtet darüber, daß man
diese Verirrung jugendlichen Sinnes unbeachtet gelassen, und wie dies
das beste Zeugniß von der „Harmlosigkeit" aller Anwesenden abgebe.
Wenn schon die „harmlosen" Feste überhaupt ein eigenes Kapitel des
deutschen Jammers bilden, so diese schlesischen sogenannten Studien¬
feste ganz besonders. Die Leute kommen zusammen, um den erclust-
ven Firlefanz des akademischen Lebens wieder aufzuwärmen, ihre bun¬
ten Mützen aufzusetzen, die Corpsbänder umzuhängen und nebenbei
zu essen und tüchtig zu trinken. Von einem ideellen Zwecke keine
Spur, an eine geistige Verbrüderung kein Gedanke! Harmlosigkeit ist
das Feldgeschrei, und darum darf man sich gar nicht wundern, daß
jener freiherrliche Toast ungeahndet vorübergegangen ist. Sind doch
die Herrlichkeiten des deutschen Studententhums in Nichts verschieden
von den Herrlichkeiten der Aristokratie. Die Festgenossen hätten noch
konsequenter sein und jubelnd die Mützen schwenken sollen bei einem
Trinkspruch, welcher der ebenbürtigen Schwester ihrer eigenen Erclu-
sivität galt.
Man wundert sich auswärts, daß die Schlesier bis jetzt für die
Unglücklichen in Ost- und Westpreußen noch nicht gesammelt haben.
Wir finden diese Indifferenz sehr erklärlich. Die Schlesier haben sich
mit wahrer Aufopferung der Weber angenommen, es sind viele Tau¬
sende von Thalern in die Hütten des Jammers gewandert, aber ohne
sichtlichen Erfolg. Das Ungethüm des Hungers lagert noch immer
an den Wanden der Berge entlang und verschlingt die Almosen, ohne
eben eine große Dankbarkeit gegen die Geber an den Tag zu legen.
Was Wunder, daß der Enthusiasmus des Sperbers sich verloren
hat. Freilich ist das Elend der Weber ein ganz anderes, als das in
Preußen; dem letzteren kann durch Wohlthätigkeit abgeholfen werden;
aber solche Reflexionen dringen nicht aus dem Kopfe durch das Herz
Endlich haben wir den Monat August und mit ihm hoffentlich
das fatale Wetter hinter uns, das dieser Sommer uns in beispiel¬
loser Gleichmäßigkeit gebracht. Hatten wir es nicht an den lang¬
gestreckten Tagen gemerkt, daß wir uns in den Zeichen des Löwen
und der Jungfrau befinden, der trübe Himmel, die kalte Luft und
die Winteranzüge auf den Straßen würden uns glauben gemacht ha¬
ben, daß unsere Sonne eben dem Wassermann und den Fischen zu¬
geeilt sei, deren Element in der That gar nicht aufhörte, uns zu be¬
herrschen. Heil dem September, der uns endlich auf das Trockene
gesetzt hat und der hoffentlich auch den schwer heimgesuchten Bewoh¬
nern der Weichselniederungen außer dem Besuche des Königs und der
Jubelfeier der Albertus-Universität warme Sonne und erquickende
Lüfte wieder gebracht hat. Auch hier ist das 300jährige Fest der
Albertina von einer Anzahl ihrer ehemaligen Söhne gefeiert worden,
an deren Spitze der bekannte Operateur Prof. Dieffenbach, der ge¬
heime Justizrath Schröder, der Generalauditeur der Armee, Dr. Fric-
cius und zwei jüngere Männer, Herr Assessor Lehwald (ein Neffe des
Gegners aller Europamüden und ein Bruder der Verfasserin der
/,Jennv") und Herr Dr. Waldeck, ein von ostpreußischer Gesinnung
erfüllter junger Arzt, standen. Das Jnteressanteste an dem Feste
war, daß nicht blos den Beschützern und Pflegern der Wissenschaft,
sondern auch den Männern der Freiheit Worte der Verehrung und
Liebe gewidmet wurden. Namentlich ward ein Toast auf den Ver¬
fasser der „vier Fragen" und ein anderer auf Daniel O'Connell, von
welchem zufällig ein Verwandter bei dem Fest anwesend war, mit
Jubel aufgenommen, obwohl zwei Anwesende in ihrer loyalen Aengst-
lichkeit so weit gingen, sich nach diesen Toasten zu entfernen. Sol¬
chen ängstlichen Leuten haben wir es wohl auch zu verdanken, daß
in diesen Tagen Ludwig Walesrode's bei Bassermann in Mannheim
erschienene Schrift: „Der Humor auf der Bank der Angeklagten",
hier zum Debit verboten worden ist.
Die Gcwerbeausstellung zog trotz der bisherigen schlechten Wit¬
terung zahlreiche Fremde hierher, von denen jedoch für die nächsten
Wochen eine noch viel größere Anzahl erwartet wird. Der König
wird, wie es heißt, am 10. September auf einige Tage hier ein¬
treffen, um sowohl die Gewerbe-, als die jetzt eben auch eröffnete
große Blumen-, Frucht- und Gemüse-Ausstellung zu besichtigen, die
in ihrer Art noch merkwürdiger ist als jene, denn sie zeigt, was
Kunst und Fleiß Alles in einer von der Natur so vernachlässigten
Sandgegend, wie die Berlinische, dem Boden zu entlocken vermögen.
Man glaubt sich durch diese Ausstellung in die fruchtbarsten Gefilde
Deutschlands versetzt und hofft, daß das improvisirte Local, welches
dazu dem Zeughause und der GeWerbeausstellung gegenüber errichtet
worden, in der Folge zu einem permanenten Blumcnmarkt, wie ihn
die Pariser besitzen, benutzt werden wird.
Berlin hat mit seinen militärischen Befehlshabern kein Glück,
seine Commandanten bleiben höchstens ein bis zwei Jahre im Amt,
und kaum sind sie inthronisirt, so macht auch schon wieder der Tod
für ihren Nachfolger Platz. Kürzlich ist an dieser Stelle wieder ein
wackerer Mann gestorben, der General Lützow, ein Bruder des Man¬
nes, der die „wilde verwegene Jagd" commandirte und selber auch
ein tapferer Haudegen. Ich möchte keinem meiner Freunde rathen,
sein Nachfolger zu werden, da es mit dieser Stelle, die freilich im¬
mer nur alten müden Generalen zu Theil wird, ähnliche Bedenken
zu haben scheint, wie mit dem Sitz auf dem römischen Stuhl, der
auch seine wandelbaren Launen hat und nur mit Gregor XVI. eine
Ausnahme macht.
Unser junger Prinz Woldemar, ein Bruder der Kronprinzessin
von Baiern, ist im Begriff, eine kleine Vergnügungsreise nach Ost¬
indien, Ceylon und China anzutreten, bei welcher Gelegenheit er
dann auf dem Rückwege dem Bischof Alexander in Jerusalem einen
Besuch abstatten will. Sein Bruder, Prinz Adalbert, hat bekannt¬
lich vor zwei Jahren eine Reise nach Brasilien gemacht. Prinz Al¬
brecht ist vor Kurzem aus Aegypten und dem Sennaar zurückgekehrt.
Es wird demnach bald keinen Welttheil mehr geben, de nicht einer
^ Vor einiger Zeit stand in Potsdam ein alter, /A"
Kreuz geschmückter und mit Narben bedeckter Soldat vor dem Schloß,
um dem König, der eben ausfahren wollte, eine Bittschrift zu über-
reichen. Der König kam, die Bedienten aber wiesen den Soldaten
zurück, weil Sr. Majestät keine Zeit habe, ihn anzuhören. Da rief
der Invalide mit lauter Stimme: Anno l3, 14 und 15 hj^ß es
immer nur: Vorwärts! und jetzt ruft das Bedientenpack überall:
Zurück! — Das wirkte. Der König winkte den Soldaten näher
und nahm ihm selbst die Bittschrift aus der Hand. — Schade, daß
im Großen und Ganzen ein derbes Wort nicht so schnell helfen kann;
denn das „Bedientenpack" ruft wirklich überall: Zurück! —
— Entsetzlich ist' die selbstmörderische Nachlässigkeit der englischen
Regierung, die ein junges England sich entwickeln, sich offen
proclamiren und Propaganda machen sieht, ohne das Geringste da¬
gegen zu thun. Keine Untersuchungen, keine Aufenthaltskarte-Ver¬
weigerungen, nicht einmal die künftigen Schriften dieses „jungen
England" sind verboten worden. Und doch sind seine Tendenzen nicht
national, nicht stockenglisch > seine philanthropischen Ideen schmecken
nach französischem Einfluß und dürften sogar in einen entfernten Zu¬
sammenhang mit socialistischen Anschauungen gebracht werden kön¬
nen; seine Verspottung ehrwürdiger altenglischer Formen und Forma¬
litäten grenzt an Frivolität. Mitglieder dieses jungen Englands sitzen
im Parlament und zählen sich zu den Tones. Wer das begreift,
wird in seinem Leben kein Hofrath. Wie viel vorsichtiger und um¬
sichtiger ist man bei uns gegen das junge Deutschland verfahren! —
„Eoningsby oder die neue Generation" von Benjamin d'Jsraeli, ein
Tendenzroman des jungen England, im Mai erschienen, hat bereits
die dritte Auflage erlebt.
— Die Biedermann'sche Monatsschrift (Augustheft) urtheilt sehr
günstig über Wiesner's „Russisch-Politische Arithmetik" welche gegen
Tengoborsky's Buch über Oesterreichs Finanzen gerichtet ist, und bemerkt,
daß'in ähnlicher Weise, wenn auch nur andeutend, sich schon ein an¬
derer österreichischer Publizist über die Tendenz des Tengoborskv'sehen
Buches ausgesprochen hat (in dem Artikel: „Freiherr von Kübeck und
die österreichische Finanzverwaltung", den das Januarheft der Monats¬
schrift brachte! und der in Wien großes Aufsehen erregte). Tengobors¬
ky's Tendenz geht vorzüglich darauf aus, zu beweisen, daß die Oester¬
reicher noch etwas mehr Steuern zahlen könnten und sollten. Wiesner
ist nun für die Niederlage, die er Tengoborsky bereitet, in der Augs¬
burger Allgemeinen mit einem Kartätschenfeuer überschüttet worden, zu
dem der russische Staatsrath das Pulver geliefert hat. Wahrschein¬
lich rührt der Angriff ganz von ihm her, wenn man nach der Taktik
schließen darf, die in vielen Wendungen echt russisch ist und vielfach
an die Feinheiten Gretsch's und Tolstoi's erinnert. So wird Wies-
ner's Buch geradezu eine literarische Speculation gescholten. Was
kann man darauf sagen? Höchstens, daß Tengoborsky's, dem Kaiser
Nikolaus gewidmetes Buch jedenfalls eine bessere Spekulation war.
Wiesner's Buch, heißt es, verdiene gar keine Widerlegung, sei nicht
der Rede werth, und doch wird der Widerleger nicht fertig und rückt
mit einer Eolumne nach der andern vor. Endlich meint der Nüsse,
Herr Wiesner solle, wenn er so loyal sei, doch lieber die bei Reclam
in Leipzig und bei Campe in Hamburg erschienenen Broschüren über
Oesterreich bekämpfen. Seht nur, seht, der Russe thut schon, wie zu
Hause in Oesterreich, ja als wäre er österreichische Polizei. Wir glau¬
bengern, daß den Russen damit gedient wäre, wenn der österreichische
Patriot lieber leeres Stroh dreschen, als Unkraut jäten wollte. Die
Reclam- und Campe-Bücher sind, den schlimmsten Falle, offene Feinde,
Tengoborsky's aber ist ein gefährlicher Freund. — Traurig ist, daß in
solchen Fragen, wie die Tengoborsky'sche, Diejenigen, welche reden
könnten, aus gewöhnlichen deutschen Rücksichten schweigen, während
die Majorität des gebildeten Publicums zu wenig von Finanzsachen
versteht, um zu urtheilen. Die Augsburger Allgemeine aber hat so¬
gar eine „Erklärung" Wiesner's nicht aufgenommen, weil dieselbe
nicht das österreichische Imprimatur hatte. Sonst sind der Verbrei¬
tung des Wiesner'schen Werkes in Wien keine besonderen Schwierig¬
keiten gemacht worden.
— Alle Welt war erstaunt, als vor Kurzem Mehemed Ali von
Aegvpten abdankte, um sich, wie Karl V., in die Einsamkeit zurück¬
zuziehen. Eben so erstaunt ist man jetzt, bei der Nachricht, daß der
autodidaktische Herrscher die Iügel der Regierung wieder übernommen
hat. Was sollte die Komödie? Die Zeitungen werden es nicht an
complicirten und dunklen Erklärungen fehlen lassen. Am Ende aber
war es Nichts als ein Börsenmanöver. Der Alte hat vielleicht auf
das Fallen der Actien speculirt und ein gutes Geschäft gemacht. Louis
Philipp sollte einmal einen solchen conx versuchen, er würde gewiß
der Mühe lohnen.
— In London sind zwei Bände „Enthüllungen über Rußland"
erschienen, die, ohne in Custine'scher Nachtstückmanier gezeichnet zu
sein, doch die Beobachtungen des französischen Marquis bestätigen.
Besonders wichtig sind die Notizen über die russische Armee und Flotte.
Letztere wird für ein leeres Schattenspiel erklärt.
Nicht weit von dem Städtlein Elsterberg im Voigtlande steht
auf einem Berge die Ruine des Schlosses Liebau, deren Thurm gar
ernsthaft hinunterschaut auf die geschwätzige Elster, die drunten den
Steinen lauter Wundergeschichten erzählt von badenden Nymphen, vom
Wassermenk, vom Liebesleid und anderen Geheimnissen; aber kein
ungeweihtes Ohr versteht ihr Schluchzen und Jauchzen durcheinander.
Der Thurm droben weiß auch Geschichten zu erzählen, er bleibt aber
immer schweigsam, und nur, wenn sein alter, rauher Kumpan, der
Sturm, um ihn hersaust, fängt er an zu stöhnen und beginnt einen
lanen Sermon, der von vergangener Große handelt.
gEs ist schon lange her, als dort auf Schloß Liebau die schöne
Geliebte des starken August wohnte und dem von der Jagd ermü¬
deten Fürsten Freuden schaffte, aber früher noch hausten da meine
Väter. Ich weiß nicht, wie es kam, daß ihnen am Ende vom Schloß
Nichts übrig blieb als der Name. Mein Urururgroßvater war noch
ein junger, frischer Mensch und mochte mit diesem Erbtheil allein
nicht zufrieden sein. Da dachte er drüber nach, wie er es wohl zu
einer großen Herrschaft bringen könnte. Er hatte sich in der Welt
umgesehen, harte Viel gelernt, verstand Latein, konnte brav hauen
und stechen und meinte nun, es könne ihm nicht fehlen. Aber seine
Eroberungspläne scheiterten alle, und deshalb ward er mißmuthig,
und ging sogar einmal in die Kirche nach Elsterberg, um vom hei¬
ligen Geor, seinem Schutzpatron, sich einen guten Rath zu holen.
Da hörte er denn den Kaplan predigen vom Himmelreich, wie es
da gar schön und lieblich wäre, und wie eS die Armen zuerst crober^
ten, während die Kaiser und Könige die Letzten wären, so hinein¬
kämen. Das gefiel denn dem Junker Heinrich gar sehr — denn so
hieß er, und von ihm führen alle Erstgebornen unserer Familie die¬
sen Namen — und er ging stracks hin zu dem Kaplan und frug
ihn mit dürr.n Worten: wo der Weg zum Himmelreich wäre, denn
er sei gesonnen, es im Guten oder mit Gewalt zu erobern. Der
ehrsame Pfaff frug ihn dies und jenes aus dem Christenthume und
dem Latein, worin er so wohl bestand, daß der fromme Vater ihn
in sein Herz schloß, einen langen Brief schrieb und ihn mit diesem
hinübersendete gen Plauen, allwo fromme Brüder dem heiligen Do-
minico dienten.
Junker Heinrich machte sich alsobald auf den Weg und kam
nach Plauen, ward auch von den frommen Brüdern wohl empfan¬
gen und aufgenommen in ihr Kloster. Aber er mußte gar harte
Arbeiten tragen, und wenn er nur einmal von einem Mägdlein ge¬
träumt hatte, was er immer aufrichtig gestand, so mußte er Buße
thun und mußte sich kasteien, während sich die heiligen Väter gütlich
thaten und dick und fett wurden. Da sagte er ihnen einstmals ganz
unerschrocken, wie er zu ihnen gekommen sei, um zu studiren und um
den Weg in's Himmelreich zu finden, nicht aber, um ihr Knecht zu
sein und sich bei gemeiner Arbeit zu schinden und zu placken. Sie
aber meinten, das eben sei der Weg zum Himmelreich, doch das
viele Studiren nütze Nichts dazu. Da mußte er sich denn wohl getrösten.
Einmal sendete ihn der Convent hinauf nach Asch als Boten.
Wie er da seinen Auftrag ausgerichtet hatte, ging er in die Kirche
und sah da ein so schönes Jungfräulein, wie er noch von keinem
geträumt hatte. Nun war aber seine Prüfungszeit bald zu Ende
und er mußte sich gerade jetzt vor sinnlichen Erregungen wohl hüten,
um würdig zu sein, in den heiligen Convent aufgenommen zu wer¬
den. Er war zwar deS Lebens im Kloster schon längst überdrüssig,
doch wollte er die Anwartschaft auf das Himmelreich nicht gern ver¬
lieren. Als nun das Mädchen aus der Kirche ging, konnte er nicht
umhin, ihr zu folgen. Auf der Straße trat er sie an mit frommem
Gruß und fragte: Wo hinaus, lieber Engel?
— In's Himmelreich, antwortete sie, wohin die Engel gehören!
— Wie konnte ich auch fragen, meinte der angehende Clerieus,
das mußte ich ja wissen! Aber ich suche nunmehr schon seit einem
Jahre den Weg in'S Himmelreich und habe ihn immer noch nicht
gefunden. Die frommen Herren im Kloster »rollten mir ihn zwar
zeigen, aber sie scheinen selbst nicht ans ihm zu wandeln. nachgerade
habe ich auch daS geistliche Leben satt, und seit ich Dich gesehen
habe, mag ich vollends gar nicht in's Kloster zurück, sondern ich will
mich von Dir in'S Himmelreich führen lassen und will Dir gewissen¬
hafter folgen, als ich dem Orden des heiligen Dominici gefolgt bin.
Das Mägdlein schaute den Junker vom Kopf bis zu den Füs¬
sen an und sah nicht ohne ein geheimes Wohlgefallen, wie er ein
gar schmucker Bursche war.
— Aber Ihr dürft nicht glauben, sprach sie, daß das Leben im
Himmelreich eitel Liebe, Lust und Nichtsthun ist. Seid Ihr denn zu
etwas zu gebrauchen?
— O ja! entgegnete der Liebauer, ich kann lesen, rechnen, schrei¬
ben, jagen, fechten, verstehe Latein, bin in der Geometrie und der
heiligen Theologie nicht unerfahren, und im Nothfälle kann ich dem
lieben Gott donnern helfen!
— Nun seht, sprach das Mädchen, ich will Euch einen Vor¬
schlag machen. Mein Vater besitzt eine Mühle da droben hinter
Wernersreuth, und gleich daneben liegt das Forsthaus des gnädigen
Grafen von Asch. Das steht jetzt leer, denn der frühere Inhaber
ist gestorben, und unter den Bewerbern um die Stelle ist Keiner, der
ihn ersetzen könnte. Denn das war Euch ein gar gelehrter Mann,
und der war zugleich Informator der jungen Grafen, und der gnä¬
dige Herr möchte nun Einen haben, der eben so gelehrt wäre und
dasselbe Amt mit übernehmen könnte. Getraut Ihr Euch daS wohl?
— Ich kann und will das! rief der Junker freudig; und nicht
wahr, wenn ich dem Grafen anstehe und die Stelle erhalte, so darf
ich oft bei Dir sein?
— So oft Ihr wollt! sagte das süße Kind, leicht erröthend.
Dort ist das"Grafenschloß; geht und stellt Euch dem gnädigen Herrn
vor. Ich habe noch Geschäfte in der Stadt und will dort in dem
Haufe auf Euch warten. Dann könnt Ihr sogleich mit mir gehen
und Euere künftige Wohnung besehen, oder sagt mir wenigstens bald
Nachricht. Ich will mich recht freuen, wenn Ihr unser Nachbar werdet!
— Ich hoffe das Beste, liebes Mädchen! sagte der Junker,
drückte ihre Hand und schritt auf das Schloß zu.
Hinter der Stadt Asch ist ein, Thal, das so heimlich, so traut
daliegt, daß man dort immer wohnen möchte. Jenseits des Thales
steigt allmälig ein Berg hinan, der große Fichten- und Tannenwal¬
dungen trägt, die sich weit ringsum in das Land hinein erstrecken.
Auf diesem Berge entspringt die Elfter, die als kleines Bächlein in
daS Thal herunterrollt und auf dem Wege sich mit vielen Quellen
vereinigt, so daß sie nicht weit von ihrem Ursprünge schon eine Mühle
treibt. In dieser Mühle war es, wo die rosige Magdalene, deS
Müllers einziges Kind, wohnte und wohl oft aus dem Fensterlein
hinüberlugte nach dem Forsthause, von dem jetzt freilich keine Spur
mehr zu sehen ist. Dem Junker Heinrich gefielen die grünen Bäume
im Walde weit mehr, als die steinernen Pfeiler in der Kirche, und
er mochte lieber seinem süßen Liebchen ein lustiges Waidmannslied-
lein singen, als der hölzernen Muttergottes einen langweiligen Cho-
ral. Seit er Magdalene zum ersten Male geküßt hatte, nannte er
sie seine Braut, und wie der Winter kam, wo man der Wärme be¬
darf, wurden sie Mann und Frau. Jedes Jahr, wenn die Störche
kamen, brachten sie in das einsame Forsthaus einen neuen Bewohner
mit, und Heinrich bereute es nicht, daß er dem Kloster entlaufen
war. Wenn er seine Kinder um sich spielen sah, so drückte «r oft
seine Magdalene an's Herz und sagte: So hast Du mich doch nicht
getäuscht, als Du mir versprachst, mich in das Himmelreich zu füh¬
ren, denn hier bin ich wirklich selig. Er nannte auch das Thal stets
das Himmelreich, und diesen Namen führt es noch bis auf den heu¬
tigen Tag. Die Elster kann sich also eines sehr hohen Ursprungs
rühmen.
Die große Liebe meines Urahn zu seiner neuen Heimath pflanzte
sich auch auf seine Kinder fort, für welche dieses kleine Arkadien noch
den Reiz hatte, daß sie da geboren und groß geworden waren. Sie
blieben also Alle in ihrem stillen Thale. Auch die Enkel entfernten
sich nicht weit davon, sie wurden in der Nähe Förster, Schulmeister
und Pastoren. Ich selbst bin nur wenige Stunden vom Himmelreich
jung geworden; aber seit Jahrhunderten bin ich der Erste aus mei¬
ner Familie, den es mit einer unwiderstehlichen Gewalt in die Fremde
Hinaustrieb. Wenn ich im Herbste die Vögel südwärts ziehen sehe,
so laßt es mir keine Ruhe, ich muß hinaus in die Welt, ich muß
wandern. Ich habe schon viele Länder gesehen; nur eines, in das
seit meiner Kindheit eine unnennbare Sehnsucht mich hinzieht, habe
ich noch nicht erreichen können, und wenn ich dorthin meinen Wan¬
derstab lenke, so treibt mich immer irgend eine Nothwendigkeit wo
anders hin. Das Land meiner Sehnsucht ist Italien. Ich war schon
in der Schweiz, hatte schon die Alpen überschritten, ja ich sah schon
den Gardasee vor mir liegen, da erkrankte mein Freund, und als er
wieder gesund war, nöthigte uns der Mangel der Zeit und des Gel¬
des zur Rückkehr. Woher diese Sehnsucht kommt? Ich wäre wie
meine Väter in der Heimath geblieben, wäre Schulmeister geworden,
wozu ich von Jugend auf bestimmt war, hätte jetzt Weib
und Kind, wenn nicht ein — Märchen meinem Leben eine andere
Richtung gegeben hätte. Es bedarf aber in der Jugend bei einem
empfänglichen Gemüthe nur eines kleinen Samenkorns, um eine mäch¬
tige Saat in der Seele hervorzurufen. Es war kein Unkraut, was
in meiner Kindheit von einem alten Weibe in meine Seele gepflanzt
wurde, ich danke ihr noch jetzt mit Freuden, daß sie mich, ohne eS
zu wollen, erweckt hat zu einem mächtigen Streben und für Ideale
begeisterte, die mein Leben zwar mit Unruhe erfüllen, aber es doch
wieder verklären Mit einem Zauberlicht, das mich tröstet und erhebt.
Ich will erzählen, wie das geschah.
Oben in dem Walde, wo die Elster entspringt, wachsen weit
und breit die schönsten Preißelsbeeren, und mein Vater ließ sich je¬
den Herbst von seinen Verwandten in Wernersreuth ganze Säcke voll
aus derselben Gegend besorgen, wo seine Väter sie gepflückt hatten.
Die wurden gesotten, in großen Waldenburger Büchsen aufbewahrt
und bildeten dann, mit Zucker versüßt, das ganze Jahr hindurch eine
Zierde unserer Tafel, und ohne Preißelsbeeren mochte der Sonntags¬
braten Niemandem schmecken. Als ich nun mit meiner Schwester so
groß geworden war, daß der Vater glaubte, uns auf einige Tage
allein aus dem Hause lassen zu können, sendete er uns einstmals in
wonnigen Septembertagen hinauf nach Wernersreuth, mit dem Auf¬
trage, täglich in den Wald zu gehen und Preißelsbeeren zu pflücken.
Das war uns denn ein willkommener Auftrag, und wir machten uns
auf den Weg.
Unser Vetter, bei dem wir zum Besuche waren, ließ uns mit
seinen eigenen Kindern und der Magd hinausgehen in das Him¬
melreich. Ich hatte von meinem Vater oft gehört, auf welche Weise
unsere Familie dorthin verpflanzt worden sei, und betrat die Gegend,
deren Namen mir schon so schon klang, mit einem Gefühl von Ehr¬
furcht. Ich ging sogar in die Mühle, die mein Ahn einst von sei¬
nem Schwiegervater geerbt hatte, und bat um einen Trunk Wasser,
um dieses classische Haus im Innern sehen zu können. Meine
Schwester war mit den andern Kindern unterdessen an dem Bäch¬
lein den Berg hinausgegangen, und Alle pflückten schon eifrig die
schönen rothen Beeren, die so schalkhaft in Träubchen zwischen den
kleinen grünen Blättern hervorlugten. Man wettete, wer am Ersten
sein Körbchen füllen würde, und ich fing nun an, unermüdlich zu
beeren. ES dauerte gar nicht lange, so rufte ich frohlockend: „Voll!"
Die Andern staunten, denn sie hatten ihre Körbchen kaum halb ge¬
füllt. Sie kamen her und schlugen ein Gelächter auf, wie sie mein
Körbchen sahen, denn ich hatte die Träubchen von den Sträuchen
abgestreift, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, ob sie reif waren oder
nicht, und so hatte ich fast nur weiße Beeren, die kaum an einer
Seite roth waren, während die Uebrigen lauter schöne, purpurrothe
hatten. Das verdroß mich denn, und ich war jetzt so gewissenhaft,
daß ich fast jede Beere besonders ansah, ehe ich sie pflückte. Das
ging nun freilich langsamer von Statten. Jetzt waren wir hinauf¬
gekommen bis zur Elsterquelle, die aus hölzerner Einfassung hervor¬
plätschert. Da sahen wir erst unsere Lust, der ganze Boden war
grün und roth von PreißelSbeeren, und die Körbchen wurden oft
in den Tragkorb geleert, den die Magd meines Vetters trug. Ich
aber war von dem unablässigen Bücken müde geworden und setzte
mich endlich, ohne auf daS Gespött der andern Kinder zu achten,
an die Quelle und pflückte die umherstehenden Beeren nur in mei¬
nen Mund.
Ich war zwar ein wilder Bube, aber dann doch zu gewissen
Zeiten so still in mich hineinträumend, daß ich schier Alles vergaß,
was um mich her vorging. So saß ich auch dort an der Quelle
und schaute dem davoneilenden Bach kein nach, den Berg hinunter,
und erzählte mir selbst die Geschichte meines Urahns, der dort unten
im Thale gelebt und hier wohl oft gesessen hatte. Ich merkte kaum,
daß eine alte Frau in ärmlicher Kleidung, aber mit einem Gesicht,
in dem Etwas lag, was man in seinem Leben nicht wieder vergißt,
in meiner Nähe Preißelsbeeren sammelte. Eben erweckte mich daS
Geräusch, das sie machte, als plötzlich zwei Hände mir die Augen
zuhielten, und eine klare Stimme fragte: Wer ist's? Ich «ces
richtig auf meine Schwester. Diese setzte sich min neben mich, denn
sie war auch müde geworden und meinte: ich hätte nun lange ge¬
nug gesessen und möchte nun wieder pflücken, dieweil sie ruhe. Ich
aber sagte: Ach, es ist doch gar zu schön hier, und die Geschichte
unseres Urururgroßvaters, der da unten sein Himmelreich gefunden
hat, will mir gar nicht aus dem Sinne. Wollen wir lieber die
Kinder rufen und uns Geschichten erzählen, denn Beeren können
nur noch alle Tage genug lesen!
— Ihr hört wohl auch Märchen gern? begann die Alte, die
uns nun ganz nahe gekommen war.
— O vom ganzen Leben gern! rief ich, mir ist Nichts lieber
als das!
— Ja, so war mein Traugott auch, ehe er in die Welt ging!
sprach sie schmerzlich bewegt. Wenn ich ihm ein Märchen erzählte,
so ließ er Essen und Trinken stehen, und was ich ihm erzählte, das
malte er gleich, und so deutlich, als ob er es selber mit angesehen
hätte. Da kam einmal ein fremder Maler in unsern Ort, der sah
ein Bild, das mein Traugott mit Farben gemalt hatte, wie der junge
Bauer aus Freiberg auf einmal in Venedig aufwacht und sich über
alle die Herrlichkeit wundert, die er überall sieht, und da setzte er
mir zu, daß ich meinen Sohn mit ihm nach München gehen lassen
mußte, weil er Maler werden sollte. Ich hatte Nichts, wovon ich
meinen Sohn ein Handwerk lernen lassen konnte, und so willigte
ich schweren Herzens ein. Da schrieb er mir öfters Briefe, und sein
Lehrherr lobte ihn sehr und meinte, mein Traugott würde ein be¬
rühmter Mann werden. Aber da kam Anno fünfzehn der gottlose
Napoleon wieder nach Frankreich, und die Deutschen marschirten hin,
um ihn wieder zu verjagen. Da zog mein Traugott auch einen
Soldatenrock an und schrieb mir einen schönen Brief. Es war der
letzte, denn in Frankreich ist er geblieben.
Die Alte fing an zu weinen, wir hörten teilnehmend zu; als
sie sich aber ein wenig beruhigt hatte, fragte ich: Was war das
für eine Geschichte, die Euer Traugott gemalt hat?
Sie setzte sich zu uns und sagte: Er las auch einmal mit mir
hier oben Preißelsbeeren, und ich hatte ihm versprochen, wenn er
fleißig wäre, wollte ich ihm eine Geschichte erzählen. Da war er
emsig! Als wir hernach eben hier an der Quelle saßen, erzählte ich
ihm die Geschichte, die Ihr jetzt auch hören sollt. Ach, ich habe
sie schon tausendmal erzählt, daß sie alle Kinder im Dorf auswen¬
dig wissen, und ich kann es doch nicht sattkriegen, sie zu erzählen,
weil ich dann allemal denke, ich hätte meinen Traugott noch und er
horte mir zu. Nun also!
Meine Schwester schlang den Arm um meinen Nacken, wir hör¬
ten beide gespannt zu. Die Alte begann zu erzählen.
— Seht Ihr, Kinder, die Elster, an deren Brunnen wir sitzen,
birgt weiter unten, über Adorf hinaus, einen gar herrlichen Schatz
in ihrem Bette. Da liegen Tausende von Muscheln, und wenn
man sie aufmacht, so findet man Körner, die wie Erbsen und Hasel¬
nüsse gestaltet sind, aber sie glänzen so hell, wie die Sonne, wenn
sie in das Wasser scheint. In der ganzen Welt ist kein so kleiner
Fluß weiter, der solche Kleinode in die Schatzkammer eines Königs
lieferte, nur im großen Weltmeere findet man tief unten, stundentief
in dem Wasser solche Muschelhäuschen mit Perlen. Vor mehr als
zweihundert J.ihren wußte man noch Nichts von den Schätzen unse¬
rer Elster. Da kamen aber wildfremde Leute Hieher in unser Land,
die wohnten weit drüben über hohen Bergen in Wälschland, wes¬
halb man sie Walen hieß, und durchsuchten jeden Sommer unsere
Bäche und liefen in den Wäldern herum, und wenn sie Abends in's
Quartier kamen, brachten sie Steine mit und solche Dinge, aus de¬
nen hier Niemand Etwas zu machen wußte. Aber die Walen wu߬
ten wohl, was sie damit wollten, denn sie fanden manchen Edelstein
in den Felsen und ganze Säcke voll Goldkörner im Wasser — da
oben bei Grün liegt ein Oertchen, das von ihnen noch heute den
Namen „Goldbrunnen" führt — aber das Edelste waren die Perlen,
und die Walen lachten sich in das Fäustchen, wenn die Bauern über
ihr Thun und Treiben den Kopf schüttelten.
Ein solcher Wale wohnte denn auch manchen lieben Sommer
lang bei einem armen Bauer in Freiberg, das hinter Adorf liegt,
nicht weit von der Elster. Weil er den armen Leuten viel Geld
gab für Kost und Wohnung und den Kindern schöne Geschichten
erzählte, und allemal, wenn er im Frühjahr aus seiner Heimath
kam, viele schöne Sachen für sie mitbrachte, so hatten ihn die Leute
gern, und er war gehalten wie ein lieber Bruder.
Einmal aber, als die Preißelsbeeren wieder reif, die Bäche
aber kalt wurden, sagte er seinen Wirthsleuten und den Kindern,
die ihn sehr liebten, daß er nun fortginge und auch nicht wiederkäme,
denn er wolle nun in der Heimath ruhig seines Reichthums genießen.
Das ging denn den armen Leuten sehr zu Herzen, die Kinder aber
waren ganz betrübt. Der älteste Sohn des Bauers besonders, der
nach dem Namen seines Vaters Georg hieß und ein starker und
braver Bursch von sechszehn Jahren war, konnte es gar nicht den¬
ken, daß er sich von seinem Freunde trennen sollte, der auch ihn
besonders in das Herz geschlossen hatte, und er siel dem Walen ein¬
mal um das andere um den Hals und sagte: Ach, bleibt doch
bei uns!
Der Fremde aber sprach: Georg, es wird mir schwer, mich von
Euch zu trennen, denn Ihr seid so biedere Leute, wie man sie selten
findet, und dennoch muß ich fort. Denn sieh', ich habe zu Hause
in meiner Heimath auch ein trautes Weib und drei liebe Knaben,
und es thut nicht gut, wenn der Vater immer von den Seinen ge¬
trennt leben muß. Deshalb will ich fort und darf nun auch nicht
wieder kommen. Aber hast Du mich so lieb, wie ich Dich habe,
und hast Du Lust, die Welt kennen zu lernen, so komme Du mit
mir in meine Heimath, und ich will Dich halten und für Dich sor¬
gen, als ob Du mein Kind wärst. Bist Du dann etwas Rechtes
geworden, so magst Du immerhin wieder in Dein Vaterland zurück¬
kommen; wer aber in der Heimath sitzen bleibt, aus dem wird sein
Lebelang nichts Rechtes.
Da rief Georg ganz trunken vor Freude: Ich komme mit Euch,
und wenn Ihr am Ende der Welt wohntet!
Der Vater und die Mutter aber entsetzten sich sehr, daß mit
dem lieben Gaste auch ihr Sohn sort wollte, und die Mutter sagte:
Gorge, daraus kann nun und nimmermehr Etwas werden! Wenn
Du fortgingst, ich könnte mich nicht trösten und härmte mich zu
Tode! und dabei sing sie an zu schluchzen, daß es einen Stein hätte
erbarmen mögen. Der Vater sagte auch: Lieber Freund, es ist nicht
recht von Euch, daß Ihr meinem Jungen solche Sachen in den
Kopf setzt! Ich kann meinen Gorge gerade jetzt bei der Arbeit am
allerbesten brauchen, und ich habe meinen Kindern immer das Sprü¬
che! gesagt, das mein Vater mich gelehrt hat: Bleib' im Land und
mähr' Dich redlich! Fort darf mir mein Junge nun einmal nicht,
und wenn er etwa ein Kopfhänger werden sollte und sich drüber
abgrämte, daß er hier bleiben muß, so wäre es Eure Schuld. Das
ist nicht recht von Euch gethan!
— Nun, sprach de,r Wale, Elternwille kommt gleich nach Got¬
tes Willen, ich glaubte aber, Euch einen Gefallen zu thun, wenn
ich aus dem Burschen was Tüchtiges machen könnte. Aber da Ihr
nicht wollt, so sei es drum!
Georg setzte sich nun in eine Ecke und schluchzte in sich hinein,
daß er nun doch hier bleiben und von seinem lieben Freunde sich
trennen sollte. Die Alten beruhigten sich nach und nach wieder und
sprachen Nichts mehr von der Sache. Endlich sagte der alte Gorge:
Ihr redet davon, daß Ihr große Reichthümer hättet, und nach den
Geschenken, die Ihr uns immer mitgebracht habt, ließe sich das schon
vermuthen. Aber nehmt es mir nicht übel, wie reimt sich das da¬
mit zusammen, daß Ihr den ganzen Sommer lang Steine klopft
und im Wasser herumwatet?
— Lieber Wirth, entgegnete der Wale, Ihr werft manchmal
einen Stein nach der Kuh, und der Stein ist mehr werth als die
Kuh. Seht, diesem Herumwaten im Wasser und diesem Stein-
klopfer verdanke ich eben meine Reichthümer.
Der Bauer schüttelte ungläubig den Kopf, die Frau horchte gar
neugierig, der Fremde aber fuhr fort: Meine Vaterstadt heißt Vene-
zia, oder wie Ihr Deutschen es nennt, Venedig. Diese Stadt ist
gar reich und herrlich und liegt auf hundert Inseln im Meer, in
das sie auf Balken und Pfosten weit hineingebaut ist, so daß man
auf den Straßen in Kähnen fahren kann. Der Herzog dieser Stadt
fährt alljährlich am Himmelfahrtstage in einem goldenen Schiffe hin¬
aus auf das Meer und wirft unter großem Gepräng einen golde¬
nen Verlobungsring hinein in die Fluchen, zum Zeichen, daß Vene¬
dig die Braut des Meeres und seine Herrin sei. Und wirklich ist
Venezia großmächtig zur See, alle Welt nennt sie die Königin der
Meere. Viele große, stolze Städte sind ihr Unterthan und dazu noch
unermeßlich reiche Inseln. Unsere Kaufleute sind reicher als Euere
Kurfürsten und Herzöge lind haben draußen Hundert und Tau¬
sende von Schiffen, die mit allen Winden segeln und Handel treiben
mit allen Welttheilen. Mein Haus aber ist eines der größten, und
meine Schiffe dürfen sich an Pracht und Reichthum mit allen messen,
so daß ich wohl künftig ohne Sorgen zu Hause bleiben kann. Denn
hätte ich auch hundert Kinder, wie ich nur drei habe, ich könnte sie
alle reich machen.
Deß verwunderten sich nun die guten Leute sehr, denn sie konn¬
ten von dem Allen Nichts begreifen. Der Venetianer mußte noch
Viel erzählen, und sie wären nicht müde geworden zuzuhören, hätte
der Gast sie nicht erinnert, daß es Zeit sei zum Schlafen.
Nun hatte der Venetianer ein besonderes Kämmerlein im Hause,
da schlief er bei seinen wohlverschlossenen Kisten. Als um in der
Nacht Alles still war, so klopfte es leise an seine Thüre. Er dachte
eben drüber nach, wie schön es sein würde, wenn er wieder bei den
Seinen wäre, und war wegen dieser Gedanken noch nicht eingeschla¬
fen, sondern fragte: Wer da wäre?
— Ach lieber Herr, macht mir auf, rief eS leise, ich bin
Georg und muß Euch noch Etwas sagen!
Der Wale ahnte wohl, was Georg noch in der Nacht zu ihm
treibe, und machte auf. Da trat Georg herein und setzte sich auf
das Bette zu dem Gaste und sprach: Ach, Ihr habt gesagt, Ihr.
wolltet mich mitnehmen in Eure Heimath, und wie meine Eltern
nicht wollten, so meintet Ihr, daß Elternwille gleich nach Gottes
Willen käme. Aber seht, ich will dennoch fort mit Euch, und nehmt
Ihr mich nicht mit, so laufe ich allein, so weit mich die Füße tra¬
gen. Denn mir ist, als wäre es Gottes Wille, daß ich fort sollte
von hier, und in mir sagt immer Etwas: Gott will es! Wollt Ihr
mich nun nicht mitnehmen?
— Aber sieh', lieber Georg, sprach der Wale, wenn ich Dich
mit fortnehme, so härmt sich Deine Mutter über Dich, und die Thrä¬
nen der Eltern über ihre Kinder bringen keinen Segen!
—- Ach, sagte Georg, Weiber trösten sich bald, und meine Mut¬
ter wird sich schneller beruhigen über mein Fortgehen, als über den
Tod meines Brüderchens, und wenn Etwas aus mir wird, so wird
sie sich über mich freuen und Euch segnen. Nehmt mich mit, wenn
Ihr mich nicht unglücklich machen wollt!
Der Fremde wendete noch dies und jenes ein, aber Georg
weinte und bat so lange, bis er versprach, ihn mitzunehmen.
Am nächsten Morgen war Georg heiter und guter Dinge, und
die Mutter freute sich sehr, daß er sich beruhigt hatte und nicht
mehr an das Fortgehen zu denken schien. Doch stille Wasser sind
tief. Der Venetianer wollte nur noch wenige Tage bleiben, und
Georg wurde doch ein wenig sonderbar zu Muthe, wenn er dachte,
daß er nun bald auf lange Zeit von seinen Eltern und Geschwistern
sich trennen sollte. Er hoffte, der Venetianer werde mit Vorstellun¬
gen die Seinen zur Einwilligung bewegen, es war aber Nichts da¬
von bemerkbar. Georg baute fest auf seinen Freund, als dieser aber
eines Tages seine Kisten in die Stadt Oelsnitz hatte fahren lassen
und selbst mitgegangen war, um Pferde an seinen Reisewagen zu
kaufen, den er in der Stadt stehen hatte, wurde Georg doch ängst¬
lich und meinte, er werde am Ende gar nicht wiederkommen, lief
also gegen Abend auf die Straße hinaus ihm entgegen. Nach einer
Weile sah Georg ihn kommen, stürzte in seine Arme und rief: Um
Gottes Willen, lieber Herr, verlaßt mich nicht, vergeßt nicht, was
Ihr versprochen habt!
— Georg, sprach der Wale geheimnißvoll, ziehe heute Abend,
ehe Du schlafen geh'se, Deine Sonntagsjacke an und halte Dich
bereit, wenn ich Dich rufe. Denn diese Nacht müssen wir fort.
— Jetzt schon? fragte Georg etwas erschreckt, ich denke erst
übermorgen!
— Ich habe das Deinen Eltern nur gesagt, entgegnete der
Wale, weil es mir schien, als glaubten sie doch, ich könnte Dich
heimlich mit fortnehmen. Sie könnten leicht in dieser Furcht die letzte
Nacht schlaflos bleiben, und Du dürftest nicht mit fort. So aber
werden wir sie überraschen, zumal wir bis Oelsnitz gehen und dort
erst in den Wagen streigen. Es thut mir weh, daß ich Deine El¬
tern so hintergehen muß, aber es bleibt kein anderes Mittel übrig,
weil sie auf vernünftige Gründe doch niemals hören würden, und
ich thue es doch nur aus Liebe zu Dir!
— Nun, es bleibt dabei! rief Georg, ich gehe lieber heute
als morgen.
So kamen sie in das Dorf. Abends wurde noch Viel von
der bevorstehenden Abreise gesprochen, Georgs aber wurde keine Er¬
wähnung gethan.
Alle legten sich wie gewöhnlich ruhig schlafen. Georg lag mit
seinen Geschwistern in einer Kammer. Als der kleine Hans nicht
mehr schrie, der mit drüben bei der Mutter lag, und Christoph und
Christel tief Athem holten, wie man es im Schlafe thut, stand er
auf, zog seine Sonntagskleider an und legte sich auf das Bette. Er -
mochte nicht einschlafen, aber er träumte mit offnen Augen. Da
war es ihm endlich, als rüste der Venetianer seinen Namen, als
stände er auf und ginge fort aus seines Vaters Haus. Und nun
war ihm wieder, als säße er in einem schönen Wagen mit dem
Fremden und er sähe große Städte und äße und tränke so herrlich
wie ein König, und so ging es fort in einem Traum. Eben hatte
er von der Ankunft in Venedig geträumt, da fuhr er auf und dachte:
Hilf Himmel, du hast dich verschlafen, und der Fremde ist sort!
Aber wie staunte er, als er sah, daß er in einem weichen, seidenen
Bette schlief, und daß die Sonne durch rothseidene Vorhänge herein-
schien auf sein Gesicht. Er dachte immer noch, er träume, schlug
endlich die Vorhänge zurück und erblickte ein wunderschönes Zimmer.
Da sprang er aus dem Bette, erschrack aber gewaltig, als er nicht
weit von sich einen mächtigen Löwen unter einem rothen Vorhange
hervorschauen und den Nachen öffnen sah. Da fuhr er zurück und
wollte wieder in sein Bett sich flüchten, aber Hilf Himmel! das war
in einen Tiger verwandelt/ Da aber die Sonne hell auf den schien,
so entdeckte er zu seiner Freude, daß der Tiger nicht lebendig, son¬
dern von Gold war, und diese Bewandtniß hatte es auch mit
dem Löwen.
Neben seinem Bette lagen prächtige sammetne Kleider, mit Gold
gestickt. Nach einigem Bedenken zog er die an und trat an das
Fenster. Da sah er eine Stadt, so hoch und herrlich, wie er in
seinem Leben noch nicht gesehen hatte, daß ^r sich in seiner
Freude gar nicht zu fassen vermochte. Er glaubte aber, er sei ver¬
zaubert.
— schläfst Du, Kleiner? fragte jetzt die Alte, denn ich hatte
die Augen geschlossen und legte mich zurück in den Schooß meiner
Schwester.
— Ach nein, entgegnete ich, ich thue das nur so, weil es mir
dann ist, als erlebte ich Alles selber.
— Ja, ja! gerade so machte es mein Traugott auch, sagte sie,
und wischte wieder eine Thräne vom Auge.
Nach einer Pause fuhr sie sort:
Am nächsten Morgen standen die Eltern ans und wunderten
sich, daß ihr Gorge noch nicht munter war, wie sie herunter kamen
in die Wohnstube. Der Vater rüste zur Treppe hinauf: Gorge, steh'
auf! Aber wer nicht kam, war Gorge. Statt seiner wurden die
kleineren Kinder munter und kamen herab, weil sie glaubten, der
Vater habe sie gerufen.
— Warum schläft denn der Große so lang? fragte der Vater.
— Gorge ist schon aufgestanden, wie es noch ganz finster war,
und ist die Treppe herunter und zur Hausthür hinausgegangen. Es
war noch Jemand dabei, ich dachte, es wäre der Vater, erzählte
die kleine Christel.
Das war dem alten Georg bedenklich. Er ging hinauf in die
Kammer, sah seines Sohnes leeres Bette und vermißte die Sonn¬
tagskleider. Da erschrack er sehr, aber als er nun in die Kammer
des Venetianers kam, und auch die leer stand, fing er an zu schreien,
zu beten und zu fluchen durch einander, daß seine Frau sich entsetzte
und schnell die Treppe hinauf rannte. Als nun auch die den Jam¬
mer sah, war die Wuth gegen den Fremden groß. Der Vater tobte,
die Mutter jammerte, die Kinder heulten und schrieen, sogar
die Kühe im Stalle brüllten und der Hund winselte. Das war
ein Lärm!
— Vater, da ist ein Brief und ein Beutel mit Geld! rief jetzt
der kleine Christoph, und zeigte auf einen Stuhl neben dem Bett
des Walen.
— Was! der Satan will uns Geld geben für unsern Jungen?
schrie der Vater wüthend. Christoph, trage den Beutel gleich ins Wasser.
Der Sohn nahm den Beutel und trug ihn fort, die Mutter schickte
die Christel gleich nach dem Schulmeister, der den Brief lesen sollte.
Als der Schulmeister kam, hatte sich der erste Sturm gelegt,
doch wie sie ihm den Vorgang erzählten, fing es wieder tüchtig an
zu donnern und zu blitzen. Der Schulmeister suchte sie zu beruhigen
und las endlich den Brief. Darin hatte der Italiener geschrieben,
wie er nur zu ihres Georgen Glück und ihrem eigenen Segen den
Jungen mitgenommen habe, und wie er hoffe, aus ihm noch einen
vornehmen Mann zu machen, an dem sie rechte Freude haben könn¬
ten, und der in ihren alten Tagen ihre Stütze und ihr Stab sein
werde. Wie sie das hörten, weinte die Mutter zwar noch sehr, und
der Vater meinte, das seien leere Vorspiegelungen, und hörte nicht
auurollen, aber sie fluchten dem Walen doch nicht mehr.
Jet fragte der Schulmeister, ob Nichts dabei gewesen wäre?
— O ja, sagte Christoffel, ein schwerer Beutel, den ich in den
Tümpel geworfen habe, wo kein Grund ist.
— Du böser Bube! schrie der Schulmeister auf ihn los, daß
Du es weißt, Du hast Deiner Eltern Glück in'S Wasser geworfen!
Es war viel Geld drinnen, das Deine Eltern aus allen Sorgen
hätte reißen können. Du mußt Prügel kriegen, daß Dir der Athem
ausgeht.
— Ich Hab's ihm geheißen, sagte ruhig der Bauer; denn es
war Sündengeld, und das bringt kein Glück!
— O Ihr verblendeten Leute, schrie der Schulmeister außer
sich, Ihr stoßt Euer Glück mit Füßen von Euch! Und wäre es
Sündengeld gewesen, hättet Ihr es nichr der Kirche schenken, oder
sonst eilt gutes Werk damit stiften können? Das hätte Euch Segen
gebracht. Aber Ihr Kleingläubigen stoßt die Hilfe, die Euch Gott
schickt, mit Füßen von Euch!
Der Schulmeister konnte sich lange nicht beruhigen, der alte
Georg aber blieb bei seinem Starrkopf, auch dann noch, als er das
Ende des Briefes hörte, wo der Wale sagte, daß er Hundert Du¬
katen beilege, um sich ihnen dankbar zu zeigen, und daß sie für Ge¬
org schadlos gehalten werden sollten, der ihnen nun nicht mehr zur
Hand gehen könne. Die Mutter aber fing an, sich über Christoph
zu ärgern, daß er dem Vater zu gehorsam gewesen war, und wider¬
sprach sogar ihrem Manne, wenn der steif und fest behauptete, der
Wale sei ein Seelenverkäufer und sein Geld hätte ihnen nur Fluch
und Unheil gebracht, wenn sie es behalten hätten.
Der Winter, der nun kam, war recht traurig für die armen
Leute. Die Ernte war im Sommer ihnen nicht sonderlich gerathen,
ein Kornwucherer betrog sie auch um das, was sie in die Scheuer
gebracht und ausgedroschen hatten, der Vater fiel in eine schwere
Krankheit, kurz vor Weihnachten stürzte noch ihre beste Kuh und an
eine Christbescherung zum Weihnachtsfest war nicht zu denken. Der
Vater hielt den Walen für die Ursache an all diesem Unglück.
Acht Tage vor dem Christfest saß die Mutter auf der Ofen¬
bank und weinte, der Vater lag im Bette und war seit langer Zeit
zum ersten Male wieder fest eingeschlafen. Der kleine Christoffel sagte
theilnehmend: Mutter, weine doch nicht, sonst muß ich mitweinen!
Da sagte die Mutter: Ach, Ihr armen Kinder, ich muß wohl
weinen, denn wir haben nicht einmal Geld, um zum heiligen Christ
ein Paar Aepfel und Nüsse kaufen zu können. Hätte nur der Vater
das Geld behalten! Mußtest Du eS denn gleich in den Tümpel
werfen?
Da lachte Christoffel und sagte: Mutter, wenn's weiter Nichts
ist, so lache nur wieder, das Geld ist noch da, ich habe mich nur
nicht getraut, es Euch zu sagen.
— El, Du Herzensjunge! sagte die Mutter und schloß Christoph
in ihre Arme, der aber sprang fort, ging an den Bach, grub ein Loch
in einem hohlen Weiterbauen auf und zog einen schweren Beutel
heraus, den er zu Hause verstohlen seiner Mutter gab. Nun war
wieder Freude im Haus.
Der Schlaf hatte den alten Gorge,so gestärkt, daß er immer
besser wurde, und die Kraftsuppen, die seine Frau ihm kochte, brach¬
ten ihn wieder so weit auf, daß noch vor dem Christfest fein Bett
aus der Stube in die Kammer gesetzt werden konnte.
Am Christmorgen such, wie es noch ganz finster war, stand die
Mutter auf, kam aber bald wieder hinauf und rief: Vater, Christoph,
Christel, steht auf, der heilige Christ hat beschert! Und wie sie'her¬
unter kamen, brannte ein schön geputzter Tannenbaum mit vielen
Lichtern auf dem Tisch, und da lagen für Vater, Mutter und Kin¬
der neue Kleider und Aepfel und Nüsse und noch viele schöne Ge¬
schenke; sogar das kleine Häuschen, das noch nicht ein Jahr alt
war, war nicht vergessen. Das war ein Jubel, der Vater wurde
vor Freuden wieder ganz gesund, und die Mutter schlug immer vor
Verwunderung die Hände zusammen, denn sie stellte sich, als wisse
sie nicht, wo das Alles hergekommen sei. Wie sie nun Alle dastan¬
den und den Christstollen kosteten und Christel ihre schöne Pupp«
bewunderte, hörten sie eine Kuh im Stalle brüllen.
— DaS war doch nicht die Stimme unserer Kuh? sagte der
Vater. — Freilich war sie es, entgegnete die Mutter, ich habe vor
lauter Freude dem armen Vieh noch nicht zu fressen gegeben. Sie
zündete die Laterne an und ging in den Stall, Gorge aber ging mit.
Und Wunder über Wunder, da Mut neben ihrer Kuh noch eine,
und dem Alten ging es wie seinem Georg; er dachte, daß er träume.
Die Kinder jauchzten noch über den so unerwarteten und reichen
heiligen Christ, der alte Georg schritt schmunzelnd in der Stube auf
und ab, die Hausfrau legte für den Mittag einen schönen Schweine¬
braten in die Pfanne, da trat der Bauer Melchior herein. Auf ein¬
mal verfinsterte sich das Gesicht des Hausvaters, wie wenn eine
Gewitterwolke vor die helle Sonne tritt. Er dachte: o weh! der
kommt mahnen und nimmt mir am Ende doch noch das Häuschen
ab. Denn Melchior war sein Gläubiger und mochte nicht länger
Geduld haben. Aber wie erstaunte er, als Melchior freundlich sagte:
Nun, nachbarlich wünsche Euch Glück zu den Feiertagen! El, wie
ist der heilige Christ bei Euch eingezogen! Solche schöne Sachen
hat er meinen Kindern nicht mitgebracht. Und da wir jetzt in Nich¬
tigkeit sind, so steht Euch mein Beutel jederzeit wieder offen, wenn
etwas brauenolltet denn richtie Rechnung macht ute Freunde!
r;gg
— In Nichtigkeit? Wie meint Ihr das? fragte der alte Georg.
— Wie esagt, fuhr Melchior fort, ich bin bezahlt, und der
g
Adam und der Pfeiferfriedel auch. Ihr dürft nicht darnach fragen;
ein reicher Herr hat Euch schuldenfrei gemacht und hat Euch auch
dem Jahnsmüller seine Schenke gekauft, die schönste Kuh im ganzen
Dorf.
Das war dem Bauer fast zu viel Glück auf einmal. Die letzte
Spur von Schwäche, die er von der Krankheit her noch fühlte, ver¬
schwand; er zog seine neuen Kleider an, die ihm beschert worden
waren, und ging nach Adorf in die Kirche, um Gott für seinen rei¬
chen Segen von ganzem Herzen zu danken.
Ihr errathet wohl, daß die kluge Frau das Alles im Geheimen
so angestellt hatte. Sie hatte aber immer noch einen Nest in ihrem
Beutel, womit sie gut zu wirthschaften wußte. So kam das Haus¬
wesen der armen Leute wieder in die Höhe, und sie galten überall
für wohlhabend. Als der Alte nun endlich den Hergang der Sache
erfuhr, so meinte er: Der Wale hat es am Ende doch gut gemeint
und wird vielleicht auch unseren Sohn glücklich machen! Und sie
waren wieder fröhlich und guter Dinge.
Die Erzählerin hielt an. Ich schlug die Augen auf, neugierig
auf den Verlauf der Geschichte, meine Schwester fragte - Ist es alle ?
— Dachte gar, meinte ich, wir wissen ja noch nicht, wie es mit
Georg geworden ist.
Die Alte pflückt.- sich schweigend eine Handvoll PreifielSbeeren.
Während sie die aß, sahen wir wieder eine Thräne in ihrem Auge,
sie dachte an ihren Traugott. Ich fühlte ihren Schmerz und schaute
andächtig in ihr tiefgeprägteö braunes Antlitz, meine Schwester aber
fragte ungeduldig: Nun, wie ist es denn mit Georg geworden?
— Das will ich Euch jetzt erzählen, begann die Alte wieder.
Wie Georg in dem prächtigen Zimmer stand und durch die hohen
Bogenfenster hinausschaute auf eine große, herrliche Stadt und drü¬
ben das Meer sah mit Tausenden von Schiffen, die mit ihren Ma¬
sten und Flaggen über die Häuser hervorragten und unten in den
Straßen Gondeln und Kähne bunt durcheinander, und wie er immer
noch dachte, er träume, da trat ein hoher Mann herein, so glänzend
angethan, wie ein König, und fragte: Nun Georg, Du hast lange
geschlafen, bist Du endlich munter?
Georg erschrack und wußte nicht, wer es war, sondern schaute
den stattlichen Mann mit großen Augen an.
— Kennst Du mich denn nicht mehr, Georg? frug der Herr
wieder, und wir haben so lange zusammen gelebt in Deines Vaters
Haus und sind mit einander her nach Venedig gereist, und jetzt bist
Du Gast in meinem Hause.
Da erkannte ihn Georg wieder und war voller Freude, aber,
rief er, wie bin ich denn hierher gekommen, ich weiß ja Nichts davon!
— Wie, sagte der Nenetianer, weißt Du es denn nicht mehr,
wie wir bei Nacht und Nebel aus Deines Vaters Haus gingen?
— Ja, aber ich glaubte, ich hätte das nur geträumt.
— Weißt Du denn nicht mehr, wie wir mit einander durch
alle die schönen Städte gefahren sind und wie Du Dich wundertest
über die hohen Kirchen und Paläste?
— Ja, und wenn mir recht ist, ist uns vor Nürnberg ein Rad
gebrochen, und wir kamen erst bei Nacht und Nebel in die Stadt,
und der Gasthof, wo wir einkehrten, hieß das goldene Kreuz, und
war ein dicker, lustiger Wirth da — das weiß ich Alles noch, aber
mir ist es wie ein Traum.
— Nun hältst Du denn auch das für einen Traum, daß wir gestern
Abend hier ankamen, und daß großer Jubel war in meinem Hause
über unsere Ankunft, und daß Du meine Kinder nicht verstehen konn¬
test, weil sie italienisch sprachen und ich Dir erst Alles verdeutschen
mußte?'
— Das ist mir erst recht wie ein Traum, und mir istS auch
wie ein Traum, daß ich nun in Venedig bin, sagte Georg. Und es
war auch kein Wunder, daß all die Herrlichkeiten und das abwech¬
selnde Leben, in daS der arme Bauernknabe gekommen war auf der
Reise, ihn so betäubt hatten, daß ihm Alles wie ein Traum war.
Georg mußte nun mit dem Walen in sin anderes Zimmer ge¬
hen. Als sie da eintraten, erschrack er gewaltig, denn alle Wände
waren große silberne Spiegel und überall, wohin er sah, erblickte er
sich als Junker gekleidet. Die Kinder aber sprangen ihm entgegen
und sagten ihm tausend schöne Sachen, wovon er aber Nichts ver¬
stand. Auch die schöne Hausfrau hatte große Freude über den'deut¬
schen Knaben, und für Georg begann ein herrliches Leben, wie wir.
es hier in unserem armen Voigtlande gar nicht denken können.
Georg lebte um in Venedig, und das Haus, in dem er wie
ein lieber Sohn gehalten war, wurde ihm immer theurer. Er lernte
gar bald die welsche Sprache und wurde nun von gelehrten Män¬
nern mit den Kindern des Hauses in Sprachen, in der Weltkunde
und in anderen schönen Dingen unterrichtet. Es dauerte gar nicht
lange, so war er weiter als die Andern gekommen, und sie konnten
sich ein Beispiel im fleißigen Lernen an ihm nehmen. Was er aber
am schnellsten begriff, war das Lautenspiel, und dazu sang er so
schön, daß man meinte, man höre einen Engel vom Himmel singen.
Wenn der Frühling kam, schickte er an die Seinen in Freiberg
durch einen Walen. der jedes Jahr dahin ging, einen Brief und
sagte ihnen, wie gut es ihm gehe. Da freuten sich denn die Alten
und die Geschwister sehr, und der Wale, der den Brief brachte,
mußte bei ihnen bleiben und wurde nicht müde zu erzählen, was für
ein feiner junger Herr Georg geworden wäre.
Als nun Georg ein Jahr in dem Hause des guten Venetianers
gelebt hatte, so bat er, daß er ein Kaufmann werden dürfte. Darüber
freute sich nun sein Pflegevater sehr, denn er hatte schon lange im
Stillen gewünscht, Georg mochte sich dazu entschließen, und gab ihm
auch sogleich eine Stelle in seinem Geschäfte. Weil nun die Deut¬
schen in dem Rufe stehen, daß sie brave, ehrliche Leute sind, so wurde
von dem Herrn ihm Alles anvertraut, und Georg machte diesem Zu¬
trauen alle Ehre. Wie er nun Alles genau gelernt hatte, fuhr er
mit den Schiffen seines Patrons über das Meer und sah viele
fremde Länder. Da er seine Geschäfte stets mit Glück und Geschick
ausrichtete, so schenkte ihm sein Pflegevater viel Geld, so daß er sich
bald ein eigenes Geschäft hätte gründen können, wenn es ihm nicht
zu weh gethan hätte, sich von dem Hause seines Wohlthäters, mit
dessen Kindern er in der größten Freundschaft lebte, zu trennen.
Da kam nun einstmals der Tag wieder, wo der Herzog von
Venedig seine Vermählung mit dem Meer feierte. Georg war nach
seiner Gewohnheit in einer Gondel allein hinausgefahren und sah
das Meer bedeckt von unzähligen hohen Schiffen und Tausenden und
aber Tausenden von Gondeln und Kähnen, auf denen ganz Venedig,
.Hoch und Niedrig, Arm und Reich, Alt und Jung mit Freuden des
Festes wartete. Er fuhr da ganz mutterseelenallein unter dem hüll¬
ten Haufen herum und sah mit vielem Vergnügen die tausend schö¬
nen Frauen und Mädchen, die sangen, scherzten und lachten nach
Herzenslust, Da kam er an ein Schiff, das so hoch und prächtig
war, wie wenig andere. Und wie er nun an dem hinausschaute, sah
er ein Ä ädchen mit langen schwarzen Locken, in denen der Wind
spielte, als wäre es ihm eine rechte Lust, und ihr Gesicht war wie
ein Maimorgen, so mild und erquicklich, aber ihr Auge glich einer
Mondscheinnacht.
Wenn Einem die Nacht im Schlafe der Mond auf das Gesicht
scheint, so bekommt man eine solche Sehnsucht nach dem Monde, daß
man keine Ruhe mehr hat unten auf der Erde, sondern man möchte
hinauf und weiß doch, daß man nicht hinauf kann; es ist aber, als
hätte der Mond eine Gewalt über uns und zöge uns hinauf. Denn
solche mordsüchtige Leute steigen auf die höchsten Dächer und Thürme
und fallen doch nicht herab; aber man darf sie nicht wecken, sonst
stürzen sie sich zu Tode.
Diese Kraft haben nun auch manche Menschen in den Augen,
und wenn ihnen Jemand recht tief hineinschaut, so ist er an sie ge¬
bunden und hat keine Ruhe bei Tag und bei Nacht. Und wenn er
den Gegenstand seiner Sehnsucht nicht erreichen kann, so verschmach¬
tet er, und es gibt auch kein Mittel gegen ein solches Uebel, als
— eine Heirath.
Deshalb sagte ich, des Mädchens Auge wäre wie eine Mond¬
scheinnacht gewesen. Denn wie Georg sie erblickt hatte, so war er
auch wie verzaubert und dachte: Die ist's! Das Mädchen schaute
hernieder auf das belebte Wasser, und ihr Antlitz umgab ein seiner
seidener Schleier, der doch gleichwohl Nichts verhüllte. Sie bemerkte
Georg auch und ihr Auge ruhte mit Wohlgefallen auf dem kräftigen
Jungen, der schlank und hoch mit seinem Nuder und der Laute am
rothen Band um den Nacken im Kahne stand. Georg hätte gern
seinem Herzen in einem Liede Luft gemacht, aber er durfte es ja
mitten unter der Menschenmenge nicht wagen und mochte es auch
Niemandem verrathen, welche schöne Perle er gefunden habe.
Jetzt donnerten die Kanonen von allen Schiffen, von hundert
Thürmen läuteten die Glocken, das golvene Schiff des Herzogs kam
prächtig einhergeschwommen, alle Gondeln und Kähne drängten sich
in seine Nähe, aber Georg hatte für Nichts Auge, als für das Mäd¬
chen. Wie Alles hinüberstarrte, nahm er schnell seine goldene Kette
vom Halse, hing sie über die Nuderstange und reichte sie der Ge¬
liebten hinauf. Ueber ihr Antlitz flog eine Nöthe, wie über den
Himmel beim Sonnenaufgang; doch nahm sie die Kette und hing
ihre eigene an das Ruder. Wer war seliger als Georg! Er küßte,
daß sie es sah, das goldene Herz der Kette, verbarg sie an seinem
Herzen und fuhr schnell ein wenig hinweg. Jetzt donnerten wieder
die Kanonen, der Herzog hatte sich mit dem Meere vermählt in Ve¬
nedigs Namen und segelte zurück in den Hafen; ihm folgten all die
Tausende von Schiffen und Gondeln im bunten Gewühl, aber Georg
verlor das Schiff, welches ihm am liebsten war, nicht aus den An-
gen. Er sich, wie sie mit Andern aus dem Schiff in el«e Gondel
stieg, und folgte von fern bis zu dem Hause, wo sie wohnte. Als
er in sein Zimmer kam, war er wie neugeboren, so wunderselig, daß
er selbst nicht wußte, wie ihm geschah.
Nun war er niemals mehr allein; Tag und Nacht sah er das
Bild seiner Geliebten vor sich und wurde so träumerisch und zerstreut,
daß das scharfe Auge seines zweiten Vaters gar bald merkte, wie
viel die Glocke geschlagen hatte. Aber er schwieg still.
Die literarische Stallfütterung in Leipzig war in den letzten Jah¬
ren so überschwenglich reichlich ausgefallen, ich fühlte mich von dein
Genuß literarischer Bekanntschaften und Discussionen so überfüttert
und abgespannt, daß ich mich in Bezug ans das Anknüpfen neuer
literarischer Bekanntschaften absichtlich auf eine strenge Diät setzte. Ich
habe bisher nur wenige Repräsentanten der Münchner Literatur kennen
gelernt, nur in flüchtiger Begegnung, wie wenn man mit dem Aer-
mel an einen Vorübergehenden anstreift. Wenn ich mich durch strenge
Diät von der Leipziger Uebersättigung hergestellt fühlen werde, hoffe
ich wohl daS Versäumte nachzuholen. Nicht einmal an der Beschmau-
sung Oehlenschlägers auf der Menterfchwaige habe ich Theil genom¬
men, da ich aus früherer Erfahrung weiß, wie selten die reine, ur¬
sprüngliche Begeisterung daran Theil hat und wie häusig sie bei
solchen Gelegenheiten im Weihrauchdampf gegenseitiger Betoastung,
Beräucherung und Ansingung aufgeht; höchstens, daß die Lärmschüsse
knallender Champagnerpropfen einen Moment erhöhterer Empfindung
anzeigen. Möglich, daß man in München reiner und ungemischter
fühlt, obgleich ich dein hiesigen Selbstlob unbercchnender Naivetät
doch nicht so ganz traue. Auch gehöre ich nicht zu denen, welche
den hier durchreisenden renommirten Schriftstellern Zschocke, F. von
Holbein, Deinhardstem u. s. w. die Aufwartung machten, da ich
aus Erfahrung weiß, wie gering dabei das gegenseitige Vergnügen
in der Regel ist.
Ohnehin ist es hier nicht so leicht, als in Leipzig, selbst wider
Willen in den Strudel literarischer Bekanntschaft gerissen und von
ihm verschlungen zu werden, da man hier überhaupt weniger zugäng¬
lich ist. Auch betreiben die Münchner Autoren ihr schriftstellerisches
Geschäft meist nur nebenbei aus Liebhaberei und Neigung, so daß
von einem zunftmäßigen Interesse gar nicht die Rede sein kann. In
Leipzig pflegt ein ankommender Literat gewöhnlich zuvörderst die
Redacteure der dortigen Journale, wie alle diejenigen zu besuchen
welche überhaupt kritisch thätig sind. Dieser Mühwaltung ist man
hier überhoben, da die hiesigen Journale: „der bäuerische Landbote",
„die baierische Landbötin", „der baierische Eilbote", „das Münchner
Tageblatt", „der baierische Volksfreund" u. s. w. bekanntlich nur ein
locales Interesse haben und von vornherein auf eine literarische und
kritische Bedeutung Verzicht leisten. Das Bedeutungsvollste, was
auf daS innerste Leben der Gegenwart und auf die fernere Gestal¬
tung der Zukunft Bezug hat, geschieht hier bekanntlich auf dem Ge¬
biete der kirchlichen Polemik. Darüber wissen Sie in Leipzig durch
Broschüren und Journale vielleicht ziemlich eben so viel, als ich hier
in München, da die hiesige so behutsame allgemeine Conversation zu
dieser theologischen Prozeßsache nur wenig Ergänzungen liefert. Oder
soll ich Ihnen zum Ueberfluß den sprachgewaltigen Görres nennen,
dem selbst sein entschiedenster Gegner Genialität, sogar eine gewisse
Großartigkeit nicht abläugnen wird? Oder Thiersch, welcher von
München aus für den Protestantismus ficht? Oder seinen katholischen
Gegner, den geistlichen Rath und Professor der Theologie, Döllin-
ger? Oder Phillips, den Mitherausgeber der „historisch-politischen
Blätter"? Vielleicht mögen Sie im Norden noch durch einzelne Fabeln
und Sagen erschreckt werden, womit die Phantasie die reine histori¬
sche Wahrheit betriebsam auszuschmücken liebt. Die Zukunft wirv
auf diese, wie auf so viele in der Gegenwart angeregte Fragen die
Antwort nicht schuldig bleiben; denn die Weltgeschichte, die klügste
Schiedsmännin und Friedensrichterin, hat noch keine bedeutsame Frage
lib liet-t gelegt, wenn schon häufig, alle menschliche Berechnung durch
einen Meisterstreich zu nichte machend, sie in ganz anderer Weise ge¬
löst, als die gegentheiligen Prozeßführer glauben konnten. Wir in
unserer Hast fordern allerdings eine schnelle Entscheidung in wenigen
Jahren, während die Weltgeschichte Hunderte von Jahren dazu ver-
wendet und freilich ganze Generationen in Kampf und Unruhe sich
darüber verzehren läßt.
Die hiesigen Lireraten und Poeten klagen über die Theilnahm-
losigkeit des deutschen Nordens an ihren Bestrebungen und Produc-
tionen. Aber schon der hier verstorbene talentvolle Novellist und
Lyriker, Aloys Büffel, Verfasser des Romans: „Pilgernächte des
Meisters Tisotheus", der Canzonen: „des Kaisers Schatten" u. s. w.
klagte vielfach darüber, daß der Sitz dieser Theilnahmlosigkeit und
Gleichgiltigkeit in München selbst zu suchen sei. Was kann das
deutsche Ausland dafür, daß München kein Journal besitzt oder nicht
auf die Dauer in Schwung bringen kann, worin die Interessen der
Münchner Literatur vertreten und ihre Erzeugnisse zur Kunde der
außerbaierischen Staaten gebracht würden? F. von Elsholtz, A.
von Maltitz und Baron Zu-Rhein begründeten die „Theeblät¬
ter", welche später als „Deutsche Blätter" monatlich erschienen, wirk¬
lich ganz hübsche Aufsätze brachten und ein Mittel- und Sammel¬
punkt für die hiesigen literarischen Kräfte zu werden versprachen.
Dies freilich nur für ein fein ästhetisches Publicum berechnete Jour¬
nal hätte verdient, auch im deutschen Auslande Verbreitung zu fin¬
den; aber zuvörderst mußte doch auf Südbaiern und München ge¬
rechnet sein, und Südbaiern und München versagten ihre Theilnahme.
Wenn der Saft in der Wurzel vertrocknet, wie kann man verlangen,
daß er sich dem Stamm und der Krone des Baumes mittheile?
C. Fernen, (Darenberger) klagt selbst in seinem „Münchner Hundert
und Eins:" die hiesige Journalistik beschränkt sich auf einige Lokal¬
blätter, und diese zahlen fast keine Honorare. Ermunterung fehlt.
München hat keinen Markt wie Leipzig, wie Stuttgart, kein literari¬
sches Publicum wie Wien. Die hiesigen Buchhändler verlegen außer
Erbauungs-, Gebetbüchern u. s. w., fast nur Schriften, welche einen
localen Inhalt haben, und diese erleben auch meist mehrere Auflagen.
Keine Stadt in Deutschland besitzt wohl eine so specielle gründliche
Literatur über ihre Geschichte, Kunstwerke u. s. w. als München,
und noch immer ist diese Stadtliteratur im Wachsen, da München
wirklich bei näherer Bekanntschaft in vergangener und gegenwärtiger
innerer Entwickelung und äußerer Gestaltung ein unerschöpfliches
und überraschend reiches Interesse bietet. Es liegt überhaupt in der
hiesigen Atmosphäre, wie ich offen gestehen muß, etwas undefimrbar
Verführerisches, was dem Beobachter die kleinste Stadteigenthümlich-
keil lieb und werth macht. Viele, welche ohne besonders günstige Erwar¬
tungen und nur eines temporären Aufenthalts wegen hierher kamen
und sich für Jahre, ja für die Dauer ihres Lebens hier fesseln ließen,
gestehen dies ein und zeugen dafür. Die eigentlich raisonnirfertigen
und vorzugsweise nach Außen lebenden Naturen werden in München
freilich den ihnen entsprechenden Boden nicht finden.
Der bekannte dramatische Schriftsteller, F. v. Elsholtz, Ge¬
schäftsträger mehrerer sächsischen Herzoge am königlich baierischen
Hofe, stiftete eine literarische Dienstagsgesellschaft, auch die Gesell-
schaft der Zwanglosen genannt, weil, wie Fernau bemerkt, „den
Mitgliedern auch Bier zu trinken und zu rauchen erlaubt ist". Ge¬
genwärtig versammelt sie sich in der Weinhandlung von Ott, früher
bei Junemann; ihre größeren Festschmäuse feiert sie zum Theil auf
der Menterschwaige. Sie ist keine speciell literarische Gesellschaft,
sondern hat auch viele nicht literarische Elemente in sich aufgenom¬
men, so daß sie, abgesehen von dem Vorlesen von Fest- und Gele¬
genheitsgedichten, als eine mehr gesellige Zusammenkunft zu betrach¬
ten ist. Mehrere ihrer liebenswürdigsten und belebend-belebtesten
Mitglieder hat sie bereits eingebüßt, so den edlen Freiherrn August
von Zu-Rhein, welcher seinem amtlichen Rufe nach Regensburg
gefolgt und ein freundlicher Liederdichter ist. Zugleich gehörte er zu
jenen einflußreichen Protectoren der Literatur, die in dem Kreise, auf
den sie wirken, geistiges Leben zu verbreiten und die vorhandenen
literarischen Kräfte anzuregen und zusammenzuhalten wissen. Gegen¬
wärtig werden derartiger Personen, welche mehr als Genießende an
der Literatur fördersam Theil nehmen, leider immer weniger. Ihm
an Gesinnung und redlichem Streben verwandt, zeigte sich Apol-
lonius von Maltitz, Verfasser mancher sinnvollen Gedichte, auch
als dramatischer Schriftsteller beachtenswert!), jetzt in Weimar. Beide
vertraten mit Ernst und Würde als Förderer und Patrone des
geistigen und literarischen Lebens die noble Richtung der älteren Adels¬
bildung. F. von Elsholtz, der eigentliche Stifter der Zwanglo¬
sen, residirt in seiner reizend am Starnberger See gelegenen Villa
und mag wohl schon deshalb nur noch selten an den Versammlungen
der Gesellschaft Theil nehmen. Stieglitz träumt über den Lagunen
Venedigs, Ehrenbaum, der Verfasser eines Romans: „Der Psy-
chologe" ist, vielleicht nicht ganz freiwillig, ausgewandert, Maß manu,
der Turner und deutsche Sprachforscher, hat Urlaub nach Berlin ge¬
nommen. Mehrere angesehene Mitglieder verlor die Gesellschaft durch
den unerbittlichen „Gevatter Tod", so Eduard von Schenk, den
Dichter des Belisar, Aloys Büffel, und erst im Laufe des gegen¬
wärtigen Jahres den Gymnasialdirector, Franz Paula v. Hoch-
eder. welcher den Verein durch satyrisch-humoristische Aufsätze zu
erheitern pflegte. Andere erscheinen gar nicht mehr oder nur selten,
wie z. B. Weichselbaumer, welcher als Tragödiendichter berühm¬
ter sein würde, wenn nicht zwischen ihm und der norddeutschen Jour¬
nalistik die Donau flöße, und dessen jüngste Tragödien: „Die Lon-
gobarden" und „Wladimir und seine Söhne" von eben so viel
künstlerischem Bewußtsein, als dramatischem Talente zeigen. sollt,
hiesiger quiescirter Professor, bekannt als Geschichtschreiber der Deutschen,
der Pfalzgräfin Elisabeth u. s. w., auch Verfasser eines Werkes über
München, worin der geschichtliche, auf tolerant-humaner Gesinnung
und tüchtigen Studien beruhende Theil sehr beachtenswerth ist. Z uc-
carini, ein ehrenhafter Charakter, naturgeschichtlicher, besonders im
botanischen Fache ausgezeichneter Autor, auch Herausgeber einer
Sammlung von Gedichten unter dem Titel „Kleeblätter"; der als
Kenner des Altdeutschen berühmte I. A. Schmeller, Verfasser des
vortrefflichen „baierischen Wörterbuchs"; der mystische Arzt Um göeis;
Franz von Kobell, der gemüthvolle Verfasser der „Gedichte in
südbaierischer Mundart", wovon jetzt der zweite Band, Berchtesgaden
umfassend, erschienen ist, und Andere. Die jetzigen Stammhalter sind
vorzugsweise wohl folgende: Hofrath Thiersch, der Reisende von
Martius, Heumann, der gründliche Kenner chinesischer Liter«'
tur, Franz Graf von Pocal, auch im Norden durch anmuthige
Märchen, durch seine Soldatenlieder u. f. w. bekannt, zu denen er
selbst Illustrationen lieferte; ferner or. Darenberger, genannt
Carl Fernau, dessen „Münchner Hundert und Eins" treffliche, die
geistige Physiognomie Münchens abschildernde Skizzen enthält, welche
von eben so zartem als tiefem Gemüth zeigen und mich häufig
an die lyrische Auffassungsweise des verstorbenen Berliner Ferrand
unwkürli erinnerten.
Ernst Förster, der bekannte Mitredacteur des Cotta'schen
Kunstblatts, bildet in diesem Kreise ein Element, wie es in keiner
Gesellschaft von solche», Charakter fehlen darf, indem die Anregung
zu mancherlei Festlichkeiten, wie noch erst jüngst die zur Herderfeier,
hauptsächlich von ihm auszugehen scheint. Auch ist er der allezeit
fertige Toastbringer und Festdichter, welcher mit gleicher Unparteilich¬
keit und Gewandtheit den Virtuosen Liszt und die Kunstgrößen Cor¬
nelius und Thorwaldsen besingt. Seine schriftstellerische Thätigkeit
ist übrigens erstaunlich, seine durch ausgebreitete Erfahrungen unter¬
stützte Technik und Virtuosität im kritischen Kunstfache außerordent¬
lich, und die Urtheile, die er mit einer gewissen Miene der Unfehl¬
barkeit ausspricht, scheinen ihm wie reife Pomeranzen von selbst in
den Schooß zu fallen. Ferner nimmt in diesem Kreise Fr. Beck,
der talentvolle Verfasser einer Sammlung wohllautender und theil¬
weise von tief katholischer Innigkeit erfüllter Gedichte, dadurch eine
hervorragende Stellung ein, daß er Redacteur der Münchner politi¬
schen Zeitung ist; oder vielmehr, er könnte diese hervorragende Stel¬
lung einnehmen, wenn der politische Theil der Zeitung, wenigstens
zum größeren Theil, aus Originalartikeln bestände, das Feuilleton
aber durchweg den höheren wissenschaftlichen und literarischen Inter¬
essen Münchens gewidmet wäre. Aber der Redacteur scheint es sich
im Gegentheil zur Aufgabe gemacht zu haben, jede Gelegenheit zu
vermeiden, bei welcher er die wissenschaftlichen und literarischen Be¬
strebungen Münchens zur Kunde des Auslandes bringen könnte.
Also hatte doch der verstorbene A. Büffel mit seiner Klage Recht,
daß der Grund, warum die Münchner Poeten und Literaten auswärts
so wenig bekannt sind, hier in München selbst gesucht werden müsse.
Zuletzt nenne ich noch als ein nicht eben emsiges Mitglied dieses
Vereins den Maler W. Lindenschmitt, welcher auch im Norden
durch seine Gemälde in der Neuen Residenz, unter den Arkaden, im
Schlosse von Hohenschwangau u. s. w., namentlich aber durch sein
Freskobild an der Sentlinger Kirche bekannt ist. Er stellte darin
den Todeskampf der Oberländer Bauern gegen die österreichische Usur-
pation, oder die Mordweihnachten von I7V5 mit eindringlicher Leb¬
haftigkeit dar, hat auch diesen'heldenmüthigen Kampf, welcher sich
auf dem Sentlinger Kirchhofe, nach entsetzlicher Metzelei, mit dem
Untergänge der Gebirgsbewohner zu Gunsten der österreichischen re¬
gulären Uebermacht entschied, in einer Broschüre beschrieben, deren
zweitausend Exemplare starke Auflage bei Gelegenheit der Einweihung
des Bildes in wenig Tagen vergriffen war. In seinen Gemälden,
wie in seinen literarischen Arbeiten hat er sich die Verherrlichung
deutscher Hcldenkrast und deutscher Selbständigkeit zur Hauptaufgabe
gemacht. W. Lindenschmitt, übrigens ein studirter Mann, arbeitet
gegenwärtig an einem größeren, die deutsche Urstammgeschichte betref¬
fenden Werke, welches mit Illustrationen in Holzschnitt erscheinen soll.
Diese und noch Andere, unter denen ich noch den penstonirten
Oberappellationsrath und Epigrammatisten, von Seuffert, einen
Mann von sehr ehrenwerthen Charakter, nennen will, bilden die
Gesellschaft der Zwanglosen, welche, wie sich leicht denken läßt, nicht
die gesammte hiesige Literatur in sich aufgenommen hat. Mit der
gelehrten Literatur will ich mich jedoch hier nicht befassen, da es mich
offenbar zu weit führen würde, auf die „Münchner gelehrten Anzeigen"
auf die historisch oft wichtigen Schriften des „Oberbaierischen Ver¬
eins", für welchen besonders der Staatsrath von Stichaner, Forin-
ger und Professor Hefner thätig sind, auf die schriftstellerischen
Leistungen des als Gelehrter eigenthümlich tiefen, als Erzähler ge-
müthvollen G. H. von Schubert, des staatswirthschaftlichen Schrift¬
stellers F. B. W. v. Hermann, welcher auch den unterProtection
des Kronprinzen in zwei Jahrgängen erschienenen Münchner Pracht¬
kalender herausgab, des Chemikers Fuchs, des in einseitiger Rich¬
tung gründlich forschenden Historikers Höfler u. s. w. näher ein¬
zugehen. Ich könnte Ihnen auch noch den als Kunstschriftsteller be¬
kannten Canonicus Speth»), Beilhack, welcher eine sehr brauch¬
bare deutsche Grammatik und Beigabe von Sprachdenkmalen geschrie¬
ben hat, oder den Professor Metzger nennen, welcher sich durch
einige zugleich gründlich und scharf und stellenweise nicht ohne tref¬
fenden Witz geschriebene Untersuchungen über Fragen der Architek¬
tur, mitgetheilt in der „Wiener Bauzeitung" und in den „Münchner
Jahrbüchern für bildende Kunst", in ehrenvoller Weise bekannt ge¬
macht hat. Besondere Erwähnung verdient noch der berühmte Ar-
chitect Leo von Klenze, dessen auf seiner Reise nach Griechenland
gesammelte „Aphoristische Bemerkungen" (Berlin 1838) durch ihre
Darstellungsweise auch dem Laien ein großes und mannichfaltiges
Interesse bieten. Auch leben hier Sulpiz Boisserve, der das
schöne Prachtwerk über den Kölner Dom herausgab, Nagler, Ver¬
fasser des höchst fleißig gearbeiteten Künstlerlerikons und Andere.
Ich wende mich, als uns Allen näher liegend, zu der producti-
ven Literatur Münchens zurück. Sie wissen und mit Ihnen Europa,
daß der regierende König Baierns mit der Würde eines Herrschers
auch die eines lyrischen Dichters verbindet, weshalb die Franzosen
ihn auch den rin-noi-to nennen; auch unser Kronprinz hat in dem
Taschenbuche Charitas, welches ein Vereinigungspunkt der baierischen
Dichter und Novellisten zu werden versprach oder verspricht, wohllau¬
tende Gedichte veröffentlicht; endlich hat Maximilian, Herzog in
Baiern, unter dem Namen PHantasus mehrere Bändchen Novel¬
len, ein „Skizzenbuch" u. s. w. herausgegeben, die sich sowohl durch
leichte und gewandte Erzählungsgabe als durch einen fröhlichen Le¬
bensmuth vortheilhaft auszeichnen. Bekannt ist desselben hohen Ver¬
fassers recht interessante „Wanderung nach dem Orient im Jahre
1838" (München, 1839; zweite Auflage 1840).
Aus diesen über meine Kritik hinausreichenden hohen Sphären
lasse ich mich wieder herab und nenne Ihnen noch Guido Gör-
res, Sohn des berühmten I. I. von Görres, den Herausgeberund
Verfasser der mystisch tiefen „Marienlieder"; Aurbacher, bekannt
als sehr humoristischer Dichter des Schwanks von den sieben Schwa¬
ben; Steub, welcher erst ganz kürzlich ein sehr gelehrtes, aber auch
hypothescnreichcs Werk über die Verwandtschaft der rhätischen Sprache
mit der Etruskischen geschrieben hat. Ohne die Bedeutung und den
wissenschaftlichen Zweck dieses Buches zu verkennen, enthalte ich mich
doch jedes Urtheils, da ich von dem Rhätischen und Ezruskischen nicht
ein Wort verstehe, überhaupt auch zweifle, ob ich je in die Verlegen¬
heit kommen werde, mich mit einem Altrhätier oder AltetruSker in
deren Landessprache zu unterhalten. Dagegen habe ich Steub'ö frü¬
her erschienenen „Bilder aus Griechenland" ihrer Frische und Leben¬
digkeit, und theilweise selbst humoristischen Auffassung wegen in den
Blättern für literarische Unterhaltung zu loben Gelegenheit gehabt;
neulich aber mußte ich in einer im Morgenblatt mitgetheilten Cor-
respondenz aus München lesen, daß Steub „genial" sei. Gott be-
hüte uns vor unseren Freunden! Wie schwer.wird es von jetzt an
Herrn Steub fallen, ein Manuscript bei einem Verleger loszuschla¬
gen! Man nenne einen Schriftsteller gemein, trivial, gesinnungslos,
frivol, dumm, frech, aber für die Menge unterhaltend, und der Buch¬
händler der gewöhnlichen Art wird mit allen zehn Fingern zugreifen;
man nenne ihn genial, und er wird die zehn Finger nur brauchen
um das Manuscript verächtlich von sich zu stoßen. Wie es Vogel¬
scheuchen gibt, so ist das Prädicat „genial" die Buchhändlerscheuche.
— Auch befindet sich hier der norddeutsche Historiograph Dönni-
ges, mein Landsmann, ferner der bekannte, viel genannte, auch wohl
viel angefeindete Publizist, G. Bacherer, jetzt hiesiger Hausbesitzer;
doch kann ich von ihm eben so wenig, als von allen übrigen hier
lebenden Schriftstellern sagen, mit welcher literarischen Arbeit sie jetzt
guter Hoffnung sind. Man hat hier nicht so das Herz auf der
Zunge, wie in Leipzig, und eine kameradschaftliche Mittheilungslust
findet hier nicht in gleichem Grade statt. Der sehr talentvolle Ver>
fasser des Romans „Ritter und Bauer", Lentner, ist ein südbaie--
rischer Autochthone und zuweilen, wie ich höre, auch besuchsweise in
München. Noch muß ich Ihnen den hier lebenden Fallmerayer
nennen, der Ihnen durch seine Versuche, die jetzigen Griechen im
Schmelztiegel seiner Reflexionen und Untersuchungen in Slaven um¬
zuformen, bekannt sein wird. Uebrigens ein origineller Kopf, mit
den Eigenthümlichkeiten des Orients genau vertraut, voll Leben und
Geist und, wie mehrere seiner Skizzen aus dem Morgenlande dar-
taten trefflicher Stylist und tüchtiger Schilderer.
,
Ferner vermuthe ich, daß die liebenswürdige Pseudonyme Schrift¬
stellerin, Emma von Niendorf, eine Frau von Suckow, sich
häusig und für längere Zeit hier aufhält. Ich kenne von ihr einige
reizende lyrische Sachen und mehrere Redeschriften, in denen sich eine
naive Tiefe des Gemüths offenbart, ein fast mystisches Geheim- und
Jnstchhincinleben, wodurch sie sich wesentlich und in echt weiblicher
Liebenswürdigkeit von mehreren norddeutschen Schriftstellerinnen un¬
terscheidet, welche, pikant-geistreich und coquett-suffisant und mÄiscmt,
meist an der Oberfläche der äußeren Erscheinung hängen bleiben'
wie der Schmetterling an der Blume, nicht wie der Rosenkäfer wel¬
cher sich tief in das Herzblut der Blume einsenkt und vergräbt.'Neu¬
lich las ich von ihr einen phantastischen Aufsatz in der Europa, wo¬
rin diese Dame einen nächtlichen Bilderspuk in der Münchner Pina-
kothek beschreibt,, ganz in derselben Weise, wie ich in meinem bereits
dem Jahre 1837 angehörigen Büchlein „Bücher und Menschen" ein
ähnliches phantastisches Gezeuge geschildert habe. In einem „Nächt¬
liche Bilderschau" betitelten Aufsatze ließ ich die Hauptbilder des
Berliner Museums lebendig aus ihren Nahmen hervor und mit den
sie besuchenden Hauptgemälden der Kunstausstellung in Verkehr und
dramatische Handlung treten. Wer denkt des Erfinders, während
man jetzt der phantastischen Idee der Dame Beifall zulächelt? Doch
ich beklage mich nicht über das schlechte Gedächtniß unserer Leser und
Journalisten, die, außer an sich, auch noch an so vieles Andere zu
denken haben; aber glücklich preise ich die Dame, die jetzt noch den
Muth und die Neigung hat, sich vor dem lichten Tage der kritischen
Wahrheit in das heimlich unheimliche Zwielicht der Phantastik zu
flüchten. Mir sind die Flügel zu einem solchen Wagniß von der
Gluth des Tages schon längst versengt und ich fühle die Nadel,
welche mir mehr als eine muthwillige Büberei durch die Brust ge¬
stochen. Die Thräne, die ich, leider noch manchmal sentimentaler
Mensch, jetzt weinen möchte, fällt nun freilich vielleicht Manchem
zum Aerger und Schmerz als kritischer Gifttropfen auf das Papier
nieder mit ätzender Schärfe. Vielleicht erzähle ich einmal später der
Welt, wie man Kritiker wird; es greift dies vielleicht tiefer in den
faulen Zustand der moralischen, gesellschaftlichen und literarischen
Dinge ein, als der leichte und flache Sinn der Menge meint. Und
welche Hetzereien, Plackereien, gemeine Zu- und Anmuthungcn, Un¬
dank und Unredlichkeit, lügnerische Huldigungen, Intriguen, Perfidien,
lächelnde Schurkereien und possierliche Jämmerlichkeiten und Eitelkei¬
ten könnte nicht ein Kritiker in seinen Memorabilien der Welt auf¬
decken! —
Was unsere Theaterdichter anlangt, so ist es unter ihnen nur
den Vertretern der Lustspielmuse gelungen, im deutschen Auslande
populär zu werden. Besonders ist der gewandte Bühnenschriftsteller,
Johann von Plötz, zu nennen, dessen Lustspiele, z.B. „das Aben¬
teuer in der Neujahrsnacht", „die Hintertreppe", neulich noch „der
verwunschene Prinz" u. s. w. die Runde über alle deutschen Bühnen
gemacht haben. Tiefer in die modernen Conflicte griff er mit seinem
Stück: „Der Kaufmann, oder Stolz der Geburt und Stolz des Gel¬
des" ein, welches, wie ich aus Fernau's Schrift über München er-
fahre, in der baierischen Hauptstadt den größten Theatersturin erregte.
Ein jüngerer Lustspieldichter ist Feld manu, dessen Komödien, welche
zum Theil recht spaßhaft sind, auch im deutschen Norden gern gese¬
hen werden. Dagegen hat es den Münchner Trauerspieldichtern seit
Babo, unter dessen trefflicher Leitung bekanntlich die Münchner Bühne
in Bezug auf das recitirende Drama ihre höchste Blüthe erlebte, nicht
recht gelingen wollen, auf außerbaierischen Bühnen festen Fuß zu
fassen. Ich nenne Ulrich von Destouches, Löste, Philipp
Berg er, den Verfasser der Dramen: „Die Bastille" und „Maria
von Medicis", Köberle, der bei der Aufführung seines Stückes
„die Prätendenten" einige böse Theatererfahrungen gemacht zu habe»
scheint, und welcher für die Theaterchronik in zum Theil sehr schar¬
fer und offener Weise correspondirt. Wie ich höre, soll von ihm ein
neues Stück, „Ludwig der Gebartete", und von dem jungen Dichter
Trautmann ein im Voraus viel gerühmtes Trauerspiel „Jugur-
tha" der Theaterintendanz vorgelegt sein. Auch der hiesige Schau¬
spieler Heigel hat Mehreres für die Bühne geschrieben und'hier
aufführen lassen. Daß unter Einigen der hiesigen Bühnendichter eine
gewisse Verabredung bestehen soll, Stücke außermünchnerischer Büh¬
nendichter nicht aufkommen zu lassen, kann ich nicht glauben, da ich
die hiesigen Theaterschriftsteller für ehrenwerthe Männer halte. Man
beginge mit einem solchen Verfahren ein Unrecht an München, das
man ohnehin einer zu großen Ausschließlichkeit beschuldigt, an der
deutschen dramatischen Poesie, an der Intendanz, welche sich des
deutschen Dramas annimmt, an den Schauspielern, welche umsonst
Fleiß und Mühe verschwendet hätten, endlich an sich selbst, da die
Nemesis nicht ausbleiben würde. Am Ende haben wir gar keine
Theaterdichter; denn Fernau sagt: Es gibt keinen Theaterdichter hier,
aber Hunderte von Schau- und Trauerspielen sind in München
fruchtlos gedichtet worden. Ich bemerke hierbei, daß Darenberger-
Fernau selbst die „Cenci" und „Philippine Welser" schon vor Jah¬
ren in nicht aufgeführten und nur als Manuscript gedruckten Dra¬
men verarbeitet hat. Ueber die darstellenden Kräfte der Bühne, über
die Oper u. s. f. ein ander Mal.
Auch die Volksbühne in der An führt Originaldramen auf,
neulich eins unter dem Titel: „Der Kornwucher im Theuerungsjahre
1817" vom Professor Kimmacher inUeberlingen. Man füge also
den hoffnungsvollen Namen der jungen deutschen dramatischen Poesie
Gutzkow, Laube, Mosen, Prutz noch den Namen Kimma-
cher bei. Indeß ist der Mann um seinen populären Stoff zu be¬
neiden. Während wir durch Aufwendung aller ästhetischen Mittel
nach Wirkung jagen, schnappt uns dieser Mensch blos durch den
Stoff ein ganzes vorstädtisches Publicum weg. Das ist schön! hörte
ich die Leute sagen, als sie den Theaterzettel lasen; da müssen wir
hin! Wenn's nur recht stark wäre! wenn's nur recht stark wäre! —
Dann liegt der Kern aller Volksphilosophie und Volksästhetik. Uebn-
gens glaube man im Norden nicht, daß wir hier in München keine
Gelegenheit hätten, unsere Zeit mit der Lectüre der Journale und
politischen Zeitungen bis zum letzten Blutstropfen todt zu schlagen.
In den Conditoreien und an anderen öffentlichen Orten findet man
freilich höchstens die Münchner Localblätter und die Augsburger All¬
gemeine Zeitung, welche für München ein nothwendiges Bedürfniß
geworden ist; indeß verschwinden ja auch aus den Conditoreien Leip¬
zigs die Journale immer mehr, seitdem das dortige Museum alle
Jvurnalleser an sich gerissen hat. Ein so großartiges Institut, wie
Leipzig in seinem Museum, besitzt München allerdings nicht,
wir haben dafür den „Literarischen Verein", welcher indeß reichhaltig
genug ausgestattet ist, um das Lesebedürfniß seiner Mitglieder Voll¬
kommen zu befriedigen. Zwar ist die Belletristik und die Kritik nur
schwach vertreten; doch finden wir hier das Morgenblatt, die Zei¬
tung für die elegante Welt, die Grenzboten, die Europa, den Hu¬
moristen, Bäuerle's Theaterzeitung, die Theaterchronik, die Leipziger
illustrirte Zeitung, die Blätter für literarische Unterhaltung, die Ber¬
liner Literalu.rzeitung, die Cotta'sche Vierteljahrsschrift; dagegen ist
das politische Zeitungswesen nach allen Richtungen und in guter
Auswahl vertreten. Wir haben den „National", die „Demokratie
pacifique", den „Siecle", den „Constitutionnel", den „Commerce" die
„Revue de Paris", die „Revue des deur mondes", den „Charivari"
u. s. w.; neben dem „Journal des Debats" mehrere englische Zet¬
tungen, eine neugriechische u. s. w. Die deutsche politische Presse ist
nach allen Richtungen des deutschen politischen Bewußtseins — so
viel wir uns bereits politisches Bewußtsein eingelernt haben — mit
guter Auswahl und großer Unparteilichkeit reichlich und mannichfal-
tig repräsentirt; und gewiß finden hier die „Deutsche Allgemeine Zei-
tung" und die „Mannheimer Abendzeitung" nicht minder aufmerk¬
same Leser alö die „Frankfurter Oberpostamtszeitung" oder die „Würz¬
burger Zeitung". Mit gleicher Unparteilichkeit ist die theologische
Literatur sowohl durch streng protestantische, als durch streng katho¬
lische Journale und Broschüren vertreten. Dieser Verein ist zahlreich
besucht; dabei herrscht eine Stille wie in der Kirche, wozu auch das
auf rother Tafel in goldener Schrift prangende Commandowort
„Lilvlltim»" auffordert. Es fällt überhaupt den Münchnern leichter,
den Mund zu halten, als den Leipzigern und denen, die in Leipzig
aus aller Herren Ländern zusammengeblasen worden sind. Die Bei¬
fügung eines sprach-, Rauch- und Trinksaals, wo die bewegten
Gemüther ihren Gedankentauschhandel treiben können, war daher für
Leipzig auch eine historische Nothwendigkeit. Es ist auch ein medicinischer
Nutzen dabei, da das Blut durch das Sprechen wieder in Bewegung
kommt, während es durch das Lesen in Stockung geräth. Ohnehin
ist die fanatische Journallesewuth auf ihrer jetzigen Hohe kein natur¬
gemäßer Zustand, und Nichts kommt mir im Grunde unheimlicher
und gespenstischer vor, als solch ein Saal voll ernst blickender, leichen¬
artig stummer alter und junger Männer, die wie in einer großen
Maschinenarbeiteranstalt aufgereiht sitzen und Journal auf Journal
mit wahrer Gier verschlingen.
Außerdem befinden sich in München zwei Vereine mehr geselli¬
gen Charakters, das „Museum" und der „Frohsinn", beide mit Lese-
localen, worin für die belletristische Journalistik besser gesorgt sein
soll, als im Literarischen Verein, welcher mehr von den politisirenden
Männern, den Gelehrten u. s. w. besucht wird, die sich um das
hin-.Il t>M der belletristischen Journalistik wenig kümmern. Das
Museum verbindet zugleich mit Veranstaltungen geselliger Art im
Winter auch öffentliche, gemein verständliche Vorträge über wissen¬
schaftliche, artistische und andere Gegenstände. Ich hatte Gelegenheit,
bald nach meiner Ankunft Hierselbst einem derartigen Vortrag beizu¬
wohnen, welchen Professor Schafhäutl, der eigentlich Geognost ist,
über gewisse historische Entwickelungsmomente der musikalischen Com-
ponirkunst hielt. Charakteristisch in diesem Vortrage erschien mir be¬
sonders eine bittere Polemik gegen die Alles haarscharf bis auf die
letzte Faser zerlegende und abhäutende kritische Richtung des Nordens.
Der Münchner ist gegen den Norddeutschen, dessen süffisante kritische
Beize ihm ein Gräuel ist, überhaupt auf der Hut; hat mau aber
erst sein Vertrauen gewonnen, so darf man auch auf seine Treue
um so fester rechnen. Man läßt hier seine Zuneigungen nicht wie
kleine Scheidemünze censiren; man greift nicht so leicht zu, wie in
dem nach innen und außen spekulativen Norden, aber man hält län¬
ger fest.
Auch an Leihbibliotheken fehlt eS hier nicht. Im Jahre 183?
erzählte mir ein damals in München sich aufhaltender Schriftsteller,
daß jetzt erst Nachfrage nach Heine entstände und Eremplare der
Schriften dieses Autors in Münchner Leihbibliotheken angeschafft
würden. Die Wahrheit dieser Mittheilung angenommen — warum
wollte man sich darüber beklagen? Die Unsterblichkeit eines jetzigen
deutsche» Autors dauert nicht leicht über zehn Jahre. Wie trostreich ist
es nun für einen berühmten Leipziger Schriftsteller, wenn er sich nach
den ihm zugemessenen zehn Jahren sagen darf: jetzt bist Du zwar
in Norddeutschland todt und vergessen, jetzt beginnt aber dafür Deine
neue Unsterblichkeit und Namensverlängcrung in München!
Schließlich dies: Wenn die Münchner Poeten und Schriftstel¬
ler wünschen, für ihre im Ganzen so friedfertigen und vom Welt-
und Zeitschmerz wenig oder gar nicht angebohrten Schöpfungen auch
im deutschen Norden Anklang und Theilnahme zu finden, so ist die¬
ser Wunsch sehr natürlich; werden sie aber auch, da sie, so viel ich
glaube, ziemlich sensible.; Stoffes und an ein ungetrübtes Still- und
Blumenleben gewöhnt sind, Selbstverläugnung genug haben, durch
alle jene Verdächtigungen, Anfeindungen und Treulosigkeiten, welche
von dem wachsenden Rufe eines Autors fast unzertrennlich sind, sich
nicht schrecken, noch in ihrer gemüthstiefen Productionslust stören zu
lassen? —
Also mit Belgien wäre nach kurzem Streite der Friede wieder
hergestellt, und die Grenzboten könnten ihren ursprünglichen Beruf,
den geistigen Austausch zwischen Deutschland und dem vlämischen
Belgien zu vermitteln, wieder antreten, ohne sich hüben und drüben
mit Differentialzöllen und mit Feindschaften aller Art bedroht zu se¬
hen. Wenn irgend etwas, so kann dieser Friede dazu führen, daß
uns die historisch entfremdeten niederdeutschen Brüder wieder recht
nahe gebracht werden. Haben sie doch bei dieser Gelegenheit dem deut¬
schen Handel mehr Augeständnisse gemacht, als bisher der König von
Hannover, dessen Gesandter Sitz und Stimme auf dem Bundestage
hat und dessen Soldaten einen Theil eines deutschen Armeecorps bil¬
den. Die Belgier haben uns die Scheide völlig freigegeben und ma¬
chen Antwerpen zu einem deutschen Freihafen, während der König von
Hannover auf der deutschen Elbe von deutschen Schiffsladungen einen
schweren Zoll in Stade erheben läßt! Wahrlich, das Ausland hat
Recht, wenn es behauptet, Deutschland in seiner vollständigen Einheit
manifestire sich nur durch die Censur und andere vom Bundestag
ausgehende Freiheitsbeschränkungen. In keinem geistigen und in kei¬
nerlei materiellem Interesse begegnen wir uns mit Oesterreich oder
mir Hannover, und nur wenn es sich um Verbote handelt, treffen
wir in Einigkeit mit ihnen zusammen. Allerdings liefert der Zollver¬
ein den Beweis, wie sehr sich den meisten deutschen Fürsten die Ue¬
berzeugung aufgedrungen, daß eben noch ein anderes Band, als das
in Frankfurt a. M. nöthig sei, um die Völker, dem Auslande gegen-
über, mit einander zu verbinden, aber wie viel fehlt noch zur völligen
Realisation jenes Planes, bei welchem man übrigens Preußen die
Gerechtigkeit muß widerfahren lassen, daß es, wo es der höheren Idee
gilt, ein pecuniäres Opfer nicht scheut, was mit dem selbstsüchtigen
und goldgierigen Verfahren Hannovers um so schneidender contrastirt.
Auch bei der gegenwärtigen großen GeWerbeausstellung ist aller¬
dings eine gemeinsame deutsche Idee vorherrschend: der Decorateur
und der Tapezier haben es nicht daran fehlen lassen, die deutschen
Stämme alle unter einen Hut zu bringen, und es macht sich recht
imposant, wenn man in den verschiedenen Räumen des großen Hau¬
ses die alten Reichswappen mit den goldenen Inschriften: „Erzherzog-
chum Oesterreich", „Stadt Wien", „Baiern und Würtemberg" :c.
prangen sieht; aber die wahre Einheit hat weder der Decorateur noch
der Tapezier herstellen können, denn die wunderschönen Shawls aus
Wien, die verführerischen Handschuhe aus der Kaiserstadt, die glän¬
zenden Krystalle aus Böhmen und die buntfarbigen Zitze aus Prag
— sie müssen alle den preußischen Einfuhrzoll erlegen, wenn sie nicht
nach ihrem Vaterlande zurück, sondern nach den Magazinen hiesiger
Modehändler wandern wollen. Es hat die Ausstattung des Zeughau¬
ses zum Zwecke der Ausstellung an zwanzigtausend Thaler gekostet,
die die Regierung mit Liberalität hergegeben hat, und zwar sind vor¬
zugsweise die Aufstellungen und Decorirungen der fremden Sachen
dafür besorgt worden, während die hiesigen Fabrikanten die der ihri¬
gen meistens selbst besorgt und bezahlt haben. Der Klage über den
Mangel an Orientirung in dem ungeheueren Waaren- und Maschinen-
Labyrinth ist jetzt zum Theil dadurch abgeholfen, daß die Ausstellungs-
Eommission den früher bereits ausgegebenen Grundriß der beiden Eta¬
gen des Zeughauses vervollständigte, indem sie auf demselben die Ver-
rheilung der verschiedenen Producte bezeichnet hat. Die fremden Be¬
sucher der Ausstellung werden übrigens immer zahlreicher, so daß in
keinem Gasthof mehr Platz zu finden ist. Auch an besonderen De¬
putaten der verschiedenen deutschen Gewerbstadte fehlt es nicht: fo ist
aus Augsburg Dirccror Leo, aus Chemnitz »i. Hülse, aus Darm¬
stadt Commerzienrath Rößlec,' aus Hamburg Dir. Soetber, aus Leip¬
zig i». Weinlig, aus München Hofrath Herrmann, aus Prag »i.
Kreutzberg und aus Stuttgart Professor Plieninger als außerordentli¬
cher Gesandter und bevollmächtigter Rath bei der Ausstellungsconfe-
rcnz anwesend. Möchte doch nur etwas, der deutschen Gewerbsamkeit
recht Förderliches, das Resultat dieser Conferenzen sein!
Im Lause der letzten Tage ist hier kaum von etwas Anderem
gesprochen worden, als von den Vorgängen in Königsberg, die hier
allgemeine Theilnahme finden. Doch man könnte von dem Verhält¬
nisse der beiden Städte sagen, was einmal von Athen und Sparta
gesagt wurde: „Die Berliner wissen, was recht ist, aber die Königs-
berger thun es/' Wir cMiben nicht, daß die hiesige Universität einen
Professor besitzt, der den Muth hätte, dem Minister mit solchem Frei¬
muth entgegen zu treten, wie es der ehrwürdige Burdach gethan, von
dem die Stadt Leipzig sich rühmen kann, daß sie ihn erzeugt und er¬
zogen hat. Herr Eichhorn hat dort manche unangenehme Wahrheit
hören müssen, und zwar hatte er sich dadurch seine Stellung noch
mißlicher gemacht, daß er gerade kurz vor seiner Abreise nach Königs¬
berg die nicht blos in Preußen, sondern im ganzen nördlichen Deutsch¬
land in vielen Auflagen verbreitete und allgemein beliebte Schullehrer¬
bibel von Dinter verbot. Der vor einigen Jahren in hohem Alter
verstorbene Consistorialrath und Professor Dinter (ebenfalls ein hal¬
ber Leipziger: er war nämlich in Borna geboren, studi?te in Leipzig
und war lange Pastor in Borna und Dresden) hatte an der Univer¬
sität sowohl, als in der Stadt Königsberg, deren beliebtester Prediger
er war, ein unvcrtilgbarcs Andenken hinterlassen, und nun trifft ihn
gerade der ministerielle Bannstrahl wegen seines angeblichen Rationa¬
lismus unmittelbar vor der Jubelfeier der während der Reformation
und zur Ausbreitung derselben gestifteten Universität! Der Minister
soll sehr verstimmt von Königsberg hier wieder angekommen sein.
Haben Sie schon davon gehört, daß unser Oberbürgermeister den
König bei seiner bevorstehenden Rückkehr singend empfangen will?
Es klingt zwar unglaublich, aber er hat selbst in einem Umlaufschrei-
ben an die städtischen Beamten dieselben aufgefordert, ihn bei jenem
Gesänge zu unterstützen.
Kaum tragt der Baum der Dichtung in unserem Baterlande
einige spärliche Blüthen und Früchte, so ist mit dem Frühling der
Poesie auch Eris eingezogen, und die wenigen Männer, deren Name
der deutschen Literatur nicht fremd, haben nichts Eiligeres zu thun,
als sich gegenseitig mit Koth zu bespritzen. — Die erste harmlose
Besprechung von Tirols „poetischen Regungen" rief eine Reihe pole¬
mischer Artikel hervor, deren Verfasser mit mehr oder minder Geschick
Ill-o 1'«,<-is et -ni« (?) kämpfend, nicht bedachten, wie wenig ehrenvoll
ihr Kampf sei, und wie das an Producrionen höheren Werthes noch
immer arme Land nur zum Gespötts der productiven deutschen Pro¬
vinzen werde, die nicht mit Unrecht „viel Geschrei und wenig Wolle"
sagen dürfen. — Artikel aus Parteien- und Religionshaß hervor-
gegangen, haben uns unter den Vertretern tirolischer Literatur Namen
genannt, über die wir mit billigem Rechte staunen dürfen. — Man
nannte uns Männer, wie F. H. Weninger und Stappold, die durch
mittelmäßige und höchst unbedeutende ascetische Büchlein kaum den
untern Volksclassen bekannt, sich bisher weder in Wort noch That
zur Höhe eines poetischen oder philosophischen Gedankens emporzu-
schwingen vermochten. — Man scheute sich nicht, einen Namen wie
Stappold zu nennen, dessen Name mit unverlöschlichem Zügen in der
Geschichte der Religionsverfolgungen steht, dessen Name im Munde
der heimatlosen Iillerthalcr nur von Verwünschungen begleitet ist. —
Nicht als Schriftsteller, wohl aber als Verfasser eines energischen
Majestätsgcsuches zur Vertreibung der protestantischen Zillerthaler, ist
er bekannt, und es ist an der Zeit, daß solch' jämmerliche Lobhude¬
leien, wie die, mit denen ein seiner politischen Richtung angehöriges
Blatt ihn überschüttete, dem Lichte historischer Wahrheit weichen. Es
ist kaum glaublich, daß in den genannten Besprechungen tirolischer
Austande, Individuen als Dichter genannt und gelobhudelt wurden,
deren Erzeugnissen die Druckerpresse noch eine Uüiil inen^rien ist
und vielleicht auch dienen wird. Solchen Berichterstattern möchte
man wohl mit Häute>. urufern
„I^se t!>s door» Ile flink upon Ilia; tust I>s max et>« took nonilerv
>>>et in's o^vn Iiouse."
Da es nicht der Zweck dieser Zeilen ist, der Welt die poetischen Ver¬
dienste der Tirolerdichter nochmals wiederzukäuen, so gehe ich nach
dieser kurzen Einleitung, hervorgerufen durch die tiefe allseitige Ent¬
rüstung über geschmack- wie gewissenlose Besprechungen nationaler
Verhältnisse, zu des in letzter Zeit vielgenannten A. Jäger's neu
erschienenen Werke „Tirol im Jahre (Innsbruck, Wagner
1«44) über. Es ist um so erfreulicher über diese ausgezeichnete hi¬
storische Arbeit vortheilhaft berichten zu können, als wir mit den ent¬
schieden liberalen Tendenzen und dem tiefen Patriotismus, aus dem seine
auch in diesen Blättern besprochene Vorlesung nach Angabe Ihres
Correspondenten hervorgegangen sein soll, noch sehr im Unklaren sind.
Manche, ja Viele, die unsere einheimischen Verhältnisse und die Stel¬
lung, die die verschiedenen geistlichen Korporationen zu einander ein¬
nehmen, genau kennen, sind mit dem Verfasser dieser Zeilen der An¬
sicht, daß die Abneigung des Benedictiners gegen den Jesuitenorden,
und nicht liberaler Patriotismus die wahre Quelle jenes freisinnigen
historischen Vortrags war. Wie dem auch sei, so ist hier nicht der
Ort weiter seine Motive zu verfolgen. Da an eine ausführliche tie¬
fere Besprechung des genannten historischen Werkes des Raumes
dieser Spalten halber nicht zu denken, und es auch schon anderwärts
seine Würdigung erfahren, will ich nur mit kurzen Worten der ^5or-
züge wie der Mängel derselben erwähnen. Tiefe historische Forschung,
klare Anschauung der Verhältnisse, so wie deren unparteiische Dar¬
stellung bilden die Vorzüge dieser historischen Skizze, deren stilistische
Ausführung leider ausfallend vernachläßigt ist.
Beda Weber, der in letzter Zeit ebenfalls vielgenannt wurde,
hatte einen Ruf als Direktor des Gymnasiums zu Sicgmaringen er¬
halten; da jedoch durch seine Entfernung vom Gymnasium zu Meran
Albert Jäger dessen Stelle als Professor hätte einnehmen und sein
Amt als Erzieher der Kinder des Gouverneurs von Tirol niederlegen
müssen, so war Beda Weber genöthigt, den sehr vortheilhaften An¬
trag abzulehnen. ^ , ^
unee
Als Beitrag zu Hausdurchsuchgn wgen Verdacht eines Preß-
vcrgehens, kann die in jüngster Zeit bei dem in Innsbruck als Lite-
rat lebenden F. Freiherrn von Fennberg, stattgehabte Visitation
dienen. Derselbe wurde fünf Uhr früh in seiner Wohnung überfallen,
dessen Papiere und Journale*) weggenommen und versiegelt, und eine
darauf bezügliche Untersuchung gegen ihn eröffnet, deren Resultat eine
Verurtheilung zu viertägigem Arreste war, der im Rccurswcge auf
zwei Tage ermäßigt wurde. Merkwürdig ist es, daß er, ehe er die
Bewilligung erhielt, sich in's Ausland begeben zu dürfen, einen Re¬
vers unterzeichnen mußte, sich auch im Auslande als getreuer öster¬
reichischer Unterthan zu betragen! Die verpfändete Unterthanentreue
kam auf zwölf Kreuzer N. W. zu stehen, da der Act auf Stempel¬
papier geschrieben werden mußte.
Die Entlassung des Finanzministers von Herdegen hat zu vielen
Besprechungen der würtembergischen Finanzzustande Veranlassung ge¬
geben, so wie nicht minder zu Ausfällen gegen die Adelspartei und
den als Candidaten für das erledigte Ministerium bezeichneten Frei¬
herrn von Berlichingen. Ein norddeutsches Blatt entsetzt sich sogar
über die Möglichkeit, daß ein Nachkomme des Götz mit der eisernen
Faust das Ruder der Finanzen führen sollte, obgleich Niemand we¬
niger als Freiherr von Berlichingen daran dachte, Minister zu wer¬
den. Seine Entlassung erfolgte nicht, wie er selbst im Merkur dar¬
zustellen sich bemühte, in Folge der Eisenbahngesetzc und seiner An-
Häßlichkeit an- parlamentarische Principien, sondern wegen übereilter
Reduction des Zinsfußes der Staatsschuld. Alle disponiblen Fonds,
mit ihnen die von den- Standen zum Beginn der Eisenbahnbauten
bewilligten drei Millionen zweimalhunderttausend Gulden mußten zur
Heimzahlung verwendet werden. Ganz richtig haben viele Blätter
behauptet, daß die in Rede stehende Reduction weit eher ein Ge¬
genstand der parlamentarischen Berathung gewesen, als die Ab¬
weisung von Privatgesellschaften zur Uebernahme der Eisenbahnbauten.
Um so bemerkenswevther ist, daß seiner officiellen Entlassung selbst der
übliche Beisatz „in Gnaden" fehlt, als eben jene Reduction, höherew
Orts projectirt, nur durch die unzeitige Nachgiebigkeit die Ursache sei¬
nes Falles' geworden. Dem Vernehmen nach bezeichnet man ihn als
künftiges Mitglied für die Kammer, was dem neuen Ministerium ei¬
nen schwierigen Standpunkt schaffen würde. Glaubwürdiger Quel¬
len zufolge soll der gegenwärtige Hosßammerprasidcnt, von Gärtner,
der Nachfolger im Ministerium sein. Unter den localen Verhält¬
nissen verdient eine seit kurzer Zeit eingerissen Vereinswuth eine auf¬
merksame Beachtung. Die Stadt zählt über fünfzig Leichemassenver-
eitte und eine wenig geringere Anzahl von Wöchnerin-Unterstützungs-
Kindbettcassen und Aussteuervereinen, deren hauptsächliche Tendenz
doch die indirecte Nutzziehting der Gründer ist und in der Folge eine
unversiegbare Quelle von Mißbräuchen und Betrügereien sein wird.
Die Giftmischerin Rudhard äußerte: „sie habe ihren Alten in drei
Leichencassen." Die Regierung dürfte wahrscheinlich einschreiten, um
die Mitglieder solcher Lassen durch strenge Beaufsichtigung der Vor¬
steher wo möglich sicher zu stellen. — Der ehemalige Stadtrichter und
Verordnete, von Rümelin, wurde unweit Uhlbach erstochen gefunden.
Die Umstände zeugten für Selbstmord und widrige Familienverhält¬
nisse werden als Motiv angegeben. — Vom geheimen Legationsrath
Friedrich Kölle, der durch seine „Betrachtungen über Diplomatie" und
die „Aufzeichnungen eines nachgebocnen Prinzen" eine namhafte Lücke
in unserer Literatur ausfüllte und den französischen Diplomaten Flas-
sant an Gewandtheit der Darstellung, scharfer Auffassung der Ver¬
hältnisse und diplomatischer Induction weit hinter sich läßt, steht ein
neues Werk über Italien zu erwarten. Die eigenthümliche, in bei¬
nahe macchiavellistischen Geiste gehaltene Weise seiner Schreibart, ver¬
eint mit den ihm auch zu Gebote stehenden geistigen, so wie mate¬
riellen Mitteln (Kölle war stebenzchn Jahre würtembergischer Ge¬
schäftsträger am römischen Hofe) berechtigen zu großen Erwartungen.
— Zum Schluß dieser Zeilen einige Worte über die Sommervorstel¬
lungen im Theater zu Kannstadt. Dieselben waren im Verhältnisse
zu der Abwesenheit der vorzüglichsten Mitglieder der Oper und des
Schauspiels noch immer für ein besseres Badepublicum anziehend,
vorzüglich sind die Aufführungen der kleineren Opern zu erwähnen.
Demoiselle Povuda, die als erste Sängerin gastiere, ist ^oll Tglent,
im Besitze schöner Stimmmittel und einnehmender Gestalt und dürfte
als .die -beste Gabe .der Sommersaison betrachtet werden. Vorzüglich
gelungen war ihre Durchführung der Gabriele im „Nachtlager von
Granada". Der im Gefolge des Herzogs Max von Baiern anwe¬
sende Aitherspieler Petzmaier gab ein Concert, in dem er viele Pie¬
ren mit großer Meisterschaft vortrug. Herr Moritz ,und Madame
Wittmann sprachen „Bekenntnisse eines Brautpaares" von Feldmann.
Der namenlose Unsinn und die gänzliche Gehaltlosigkeit dieses Mach¬
werks wurde durch den Vortrag des Künstlers erst recht hervorgeho¬
ben, .während ein minder gelungener Vortrag das Ganze hatte spur¬
los verschwinden lassen. Am I. kommenden Monats wird die Bühne
mit
Bei schönem Wetter — Gott Lob, wir haben es endlich wieder!
— sind wohl die Menschen freundlicher und.die Straßen gangbarer,
aber die Hamburger Bürgerschaft zeigte sich letzter Tage auch bei gol¬
denem Sonnenschein starrköpfig und mürrisch. Die Proposition des
Rathes in Betreff der Genehmigung des zu Dresden im April d. I.
abgeschlossenen ElbfchissfahrtSvcrtragcs ward abermals zurückgewiesen,
wie schon früher. Damit aber gibt sich ein hochedlcr Rath, wie er
ungefähr in gleichen Worten fagt, noch keinesweges zufrieden, son¬
dern begehrte, bei der außerordentlichen Wichtigkeit der Sache, eine
Wahl von Kirchspielsdeputirten, mit welchen Senatsbevollmächtigte
aufs Neue die Berathung der Sache vorzunehmen haben. Das Re¬
sultat wird jedoch schwerlich von dem bisherigen abweichen. Die all¬
gemeine Stimme ist entschieden gegen die Ratifikation, und ich habe
in ähnlichen Fällen noch immer wahrgenommen, daß der . kaufmänni¬
sche Instinkt fast unfehlbar Gutes vom Bösen zu unterscheiden weiß,
wenn seine eigenen nächsten Interessen in Frage stehen. Diesmal, ist
die Frage eine mercantilische. Darum wird die vox >>mal>i wohl einen
recht gescheidten Ausspruch gethan haben. — An sonstigen Tages¬
ereignissen verdient noch die am 5. d. M. stattgefundene Eröffnung
des'neuen israelitischen Tempels Erwähnung. Unmittelbar an der
Straße darf sich ein jüdisches Gotteshaus in Hamburg noch immer
nicht blicken lassen. Die Toleranz erstreckt sich bis jetzt noch auf
Hintergebäude. Sie verbirgt ihr Angesicht halb vor der christlichen
Welt, aus welcher übrigens Repräsentanten der höchsten Staatsbür-
gen, des Senates, des Oberalten-Collegiums u. s. w. bei der Ein¬
weihung des neuen israelitischen Tempels zugegen waren. Der altere
faßte die große Zahl Derer nicht mehr, welche sich im Laufe der Jahre
dem geläuterten mosaischen Cultus angeschlossen hatten. Er hatte bei
seinem Auftauchen mit den erbittertsten Anfeindungen der orthodoxen
Partei zu kämpfen, schlug sie aber entschieden und konnte sich spater
des Triumphes rühmen, stärkern Anwachs gerade aus dem Heere sei¬
ner ehemaligen Gegner empfangen zu haben. Zwei tüchtige Kanzel¬
redner wirkten seit dem Jahre 1818 am Hamburger israelitischen
Tempel — die Prediger Kiep und Salomon, von welchen Letzte¬
rer auch am neuen Gotteshause fortwirkt und namentlich durch die
klare, kräftige und beziehungsreiche Einweihungsrede bewies, daß sich
die jüdische Homiletik durch solche Repräsentanten der gerühmtesten
christlichen eines Dräseke, Röhr u. s. w. ohne Scheu an die Seite
stellen darf. t)r. Kiep entsagte seit 184t) dem Predigeramte und
gehört jetzt, als Director einer in vieler Hinsicht vortrefflichen israeli¬
tischen Freischule ausschließlich dem Lehrerberufe an. Im Allgemeinen
geschieht hier überraschend viel für die Bildung und praktische Erzie¬
hung der jüngeren jüdischen Generation. Wenn sich dennoch jeder
frische Nachwuchs zum größten Theile dem Handelsstande zuwendet,
so liegt der Grund hauptsächlich in der leidigen Beschränkung des
Terrains, worauf der Jude später zu wirken vermag, nicht als Staats¬
bürger oder Eingesessener, sondern, trotz des seit Kurzem gestatteten
Grundbesitzes, nur als Geduldeter, Schutzgenicßender. Näheres über
Geschichte und Verhältnisse der Hamburger Juden schreibe ich Ihnen
in einem späteren Briefe. In ihrer Vergangenheit steht manches
Moment mit der Cultur- und Sittengeschichte Hamburgs in engerer
Verbindung, als sich's beim flüchtigen Ueberschauen darthut. Erfreu¬
lich ist, daß seit geraumer Zeit die Parteikämpfe unter den hiesigen
Israeliten ihr Ende erreicht haben. Der letzte Zankapfel war ein vom
Tempelverein publicirtes Gebetbuch. Ganze Rieße Papier sind - hier
und auswärts darüber verschrieben worden.
Wie ich vernahm, hat die Stadtthcaterdircction eine Phrase mei¬
nes vorletzten Briefes sehr übel aufgenommen. Ich sprach von dem
Verbot, welches das im Thaliatheater erwartete Kinderballet der Wie¬
nerin Weiß betroffen hatte und fügte hinzu — Fama behaupte,
eine rivalisirende Theaterdirection könne wohl einigen mephistophelischen
Einfluß in dieser Angelegenheit entwickelt haben. Natürlich gelte ich
jetzt als ein Generalböscwicht, als Erzfeind des Stadtthcaters und
als Champion der Thaliatheaterdirection, als ein Mensch, der mehr
'As je „den Schelm im Nacken" hat und als ein Undankbarer oben¬
drein, denn man hat ja ein paar Stücke aus meiner Feder gütigst
zur Darstellung angenommen und — nicht minder bereitwillig wie
bei andern Autoren im Voraus honorirt, Wirklich, anerkennungs-
werth ...... aber habe ich etwa deshalb den verehrten Herren Direkto¬
ren meine Feder contractlich überlassen, muß ich deshalb in die hier
gegenwärtig wieder stark anschwellende Reihe jener gehorsamst ergebe¬
nen Theaterklatsch-Fabrikanten treten, die ohne Gesinnung, Ueber¬
zeugung und eigentliches Interesse in Sachen der Kunst ihr kredit¬
loses Pensum in diesem oder jenem Journal ableiern, ihre Schreib¬
kiele statt in gewöhnliche Gallapselflüssigkett, in schmutzigen, klebrigen
Syrup tauchen, in jeder Zeile sechs Katzenbuckel und drei Kratzfüße
machen, die Schauspieler im Tadel nicht anfassen, sondern nur be¬
tüpfelt, sanftmüthig kitzeln, so daß man immer nicht recht weiß, ob
der scribere schmeicheln oder unhöflich sein will. Ueber solche Leute,
und schwatzten sie den horriblcsten Unsinn in Theaterdingen, beklagt
man sich nicht. Gott bewahre! Lebt auch im Innern die Verach¬
tung, oder besser die richtige Werthschäizung - - man muß nur, wie
ich vor Kurzem einmal, einen der Herren Theateroirectoren in vor-
sündfluthlicher Grobheit und Rücksichtslosigkeit sich über Hamburgische
Kritik aussprechen hören unter einem oder sechs Augen — acht
waren schon zu viel ^ drückt man ihnen leutseligst die Hand, klopft
ihnen auf die Schulter, füllt ihnen die Taschen mit Ertrafreibillets
und handelt am Ende, gedenkt man hier der allgemeinen praktischen
Directionsklugheit, grundgeschcidt. Dies zugegeben, erwarte ich von
den ehrenwerthen Leitern des Hamburger Kunsttempcls nicht minder,
daß sie von einem Magister Katzenbuckel und Allerweltsfccund den
freien, unabhängigen Mann zu unterscheiden wissen, der, wie er mit
freudigstem Eifer alles Gute, Tüchtige, Ausgezeichnete eines Kunst-
institutes über die engen Localgrenzen hinaus zur öffentlichen Kennt¬
niß bringt, sich nicht minder für verpflichtet hält, wenn es die Um¬
stände bedingen, auch einmal Unangenehmes zu schreiben. Konnte
ich dafür, wenn Fama in einer allgemein besprochenen, sogar von
politischen Zeitungen erörterten Theatcrangelegenheit so Ungeheuer¬
liches plauderte? ^ Wahrheit oder Lüge, die Behauptung an und für
sich, vielfach gehört, war nicht die meine, also wird eine etwa bei
Ihnen eingelaufene „Erklärung" nur als gegen Madame Fama ge¬
richtet zu betrachten sein.
Auf den Grenzen stehen die Boten, und sie werfen einen Blick
über die Nachbarländer unwillkürlich, wenn der Donner des groben
Geschützes der Flotten und Landheere in ihre Ohren dröhnt. Den
Deutschen verrostet das Schwert in der Scheide und der Huf ver¬
fault an dem Fuße des Streitrosses. Anders im Lande der Franken,
wo die kampflustige Jugend unter Anführung der Fürstensöhne das
Antlitz in Afrikas Hitze bräunt und die Ufer von Tanger mit einem
Feuermeer überschüttet. Der Franke kämpft seit fünfzehn Jahren
in den heißen Steppen Algeriens und richtet von seinen Flotten die
Fcuerschlünoe auf die Gestade der Mauren, um erlittene Unbilden
grandios zu rächen. Anders in Wien und Berlin, .wo man dieSpei-
sen für den Magen, wie für Auge und Ohr ,zu würzen versteht.
Wie unvergleichlich spielt nicht Herr Liszt, der Träger des Ordens
jam- le- mvritt-, und wie harmonisch dazu singt die Podosta. Wie
sentimental die Antigone, und wie prachwoll der Promedh.eus
des Aeschylus. Der Plautus fehlt noch mit seinem Pönuilus, um
die harmonische Trias zu der göttlichen Dreieinigkeit zu gestalten.
Die Politik ist schon längst eine verbotene Waare in Deutschland,
weil die Diplomatie ^hinlänglich das ^deutsche Bedürfniß befriedigt.
Recht so! Wir erfreuen uns des ewigen Friedens, und wenn es ja
der Franzmann, Russe oder Engländer wagen sollte, zu uns herübcr-
zublicken, um die genossenen Früchte des Krieges noch einmal zu ko¬
sten, weiß ihn die Diplomatie urplötzlich in die Schranken zurückzu¬
weisen. Darum versteh ich ^es nicht, warum auf den Budgets noch
die Militäretats mit so'vielen Millionen figuriren, gleichsam als sei
es ein deutsches Nationalbedürfniß für den Städter und Landmann,
ihm sein köstliches, zum Leben so gedeihliches Blut für Nichts und
wieder Nichts abzuzapfen. Wozu Krieger, wo ein Krieg undenkbar
ist und der Gedanke daran schon zum Irrenhaus den armen Tropf
verdammt. Doch, bald wird es kommen, wo kein glücklicheres Volk
ist, als das deutsche, was da schwelgt, zecht, zehrt, lärmt und schilt,
in einer ewigen Friedenszeit. Wie dürften wir doch unsere Väter, die
Einfältigen, die Thoren, verlachen, die so bornirt waren, unter Ar¬
min die Römer und unter Wittekind die christliche Kirche zu be¬
kämpfen. Uns Veteranen, die wir die abscheulich revolutionäre Zeit
von 1789—1815» verdammt waren, in halsbrechenden Kämpfen .zu
vergeuden, möge man es nicht ungnädig aufnehmen, wenn wir einfältig
und unerfahren, wie wir sind, die so glückliche.Friedenszeit nicht zu würdigen
wissen. Wir gaffen die Gestatten an, vor welchen wir niederknien
sollen, wie Prometheus auf dem Feloe zu Mekone die Götter, welche
sich mit den Männern, wie heute die Reichsrathe mit den Deputirten
in ihren Kammern, versammelten, um über die Glücksgüter der Sterb¬
lichen zu würfeln. Und wie der Titan so kühn und frech, weil er
sich weigerte, der Götter Unterthan zu sein, an die Felsen des Kau¬
kasus von den wackeren Gesellen auf M^thttene geschmiedet ward, so
sind von uns und unseren Freunden so viele in ein .gleiches Verhäng¬
nis) geführt, weil wir, gleich dem Prometheus, zu unkundig waren,
die goldene Aelt zu erkennen, die als irdisches Paradies von der >»ii-
jL«tit« vel unserem sterblichen Auge vorgehalten wurde. Heute aber,
'nachdem wir die wohlverdienten Strafen Jahre lang erduldet, aus'
der Unterwelt von Eharon über den Stör zurück, auf der Oberwelt
angelangt sind, gewahren wir die göttliche Friedenszeit mit den Dampf¬
schiffen, den Dampfwagen, den Pasteten und Backwerken, den bunten
Bändern in den Knopflöchern, den silbernen und goldenen Uniformen,
den Schauspielen und Concerten, den Legionen von Eß- und Trink¬
gelagen, und erkennen auf's Deutlichste, daß der Magcnmensch ein
ganz anderes Product sei, als der Ge.stesmensch. Also kein Krieg,
noch weniger eine Zeit, wie die von 17«^-I!?l.i; nur Friede, wie
die goldene Epoche von 1815— in die Ewigkeit, d. h. die deutsche
Ewigkeit. .
— Die gekreuzte Null in der Deutschen Allgemeinen (Joel Ja¬
cob») hat unlängst wieder eine brillante Vorstellung im journalistischen
Seiltänzer gegeben. Wir meinen seine Zusammenstellung der Königs-
berger Jubelfeier, der Berliner Gewerbeausstcllung und der großen
Wallfahrt zum ungenähten Ehristusrock in Trier; alle drei Er¬
scheinungen feiert er, als erfreuliche Zeichen der Zeit, mit gleich sal¬
bungsvoller Begeisterung; er muntert die freie Wissenschaft auf, wal-
ter fortzustreben, er klopft dem industriellen, freisinnigen Bürgerthum
auf die Schulter, und er ist poetisch gerührt über den kindlichen Glau¬
ben der Völker und über die ewige Gewalt sinnlicher Kirchenpracht.
Man kann nicht sagen, daß er gesinnungslos — pfui über den ba¬
nalen, bornirten Vorwurf! In der That ist er dies nicht auf gewöhn¬
liche Weise, sonst würde er seine verschiedenfarbigen Erpectorationen
in verschiedene Organe ausschütten. Er' thut es in einem und dem¬
selben Blatt, in einem und demselben Brief. Er ist, wie der mo¬
dernste König, allen Meinungen zugleich auf das Gnädigste gewogen ;
er will blos jeder „Partie" zeigen, wie viel Anpreisungsfahiges sie
hat, und wie jede Richtung zur vollsten Zufriedenheit bedient werden
könnte, wenn die geschickten Federn nicht so selten waren. Wir glau¬
ben immer noch, daß der Mann seine Carriere machen wird.
Ist doch selbst Hofrath Rousseau placirt worden, der lange nicht so
viel Geist wie Joel und vor Allem nicht sein diplomatisches »itvuir
viol-e hat. Bewunderungswürdig ist Joel Jacob», wenn er angegrif¬
fen wird. Man schildert seine Persönlichkeit als die eines gehetzten,
dämonischen Abenteurers. Und wie ganz anders weiß er sich in der
Zeitung zu geben! Er parirt die gröbsten deutschen Stöße mit der
graciösen Leichtigkeit eines französischen Fechtmeisters. Werft ihm Ver¬
rath und Lüge und Speichelleckerei in's Gesicht, und er wird mit lä¬
chelnder Herablassung, gleichsam eine Prise nehmend, antworten: Lie¬
bes Kind, werden Sie nur erst etwas alter oder blasirter, und Sie
werden anders sprechen.
Fast ein Gegenstück zu dem Seiltänzer ist ein anderer Cor-
respondent.der Deutschen Allgemeinen, der sich über das nationale
Geschrei nach einer Kriegsmarine ärgert und mit seltener Gradheit
und Ueberzeugung eine deutsche Flotte für thörichten Luxus erklärt.
Wir glauben, eine deutsche Seemacht wäre gar nicht übel, und müs¬
sen nur über Diejenigen lächeln, die sich das Ding so leicht denken.
Der Deutschallgemeine aber meint, unsere Handelsschiffe seien bis jetzt
überall gut und sicher durchgekommen und würden auch später, ohne
Kanonen, von jedem rechtlichen Staat anständig behandelt werden.
Das ist wahr. Wenn man sich ordentlich aufführt, wenn man der
Polizei den schuldigen Respect erweis't, kommt man durch die ganze
Welt. Freilich gibt es zu Wasser wie zu Lande rohe und gewaltthä¬
tige Menschen; man kann sogar von Seeräubern mißhandelt werden,
die gar mächtig sind. Aber am Ende ist ein Seeräuber doch nur ein
gemeiner Mensch, ein ehrloser Verbrecher. Der kann Einen gar nicht
beleidigen.
— Zur Berliner Kunstausstellung waren bis zum 5. Septem¬
ber bereits an viertausend Kunstwerke eingelaufen, von denen freilich
ein großer Theil in die „Todtenkammer" (der Platz für die nicht auf¬
genommenen Bilder) geworfen wurde. Die Ausstellung von 184^,
die zu den bedeutendsten gerechnet wurde, zählte nur eintausend fünf¬
hundert und sechzig Nummern.
— Dem bekannten Dr. Lorenzen in Kiel, der über die „Frö¬
sche" des Arisrophancs lesen wollte, hat die dänische Regierung den
Lehrstuhl verboten. Das Quanten aristophanischer Frösche hätte wahr¬
scheinlich den Sprachstreit noch mehr erhitzen können. Hier paßt das
Wort: Etwas ist faul im Staat von Dänemark!
— Herrn Professor Gubitz müssen wir, wegen der uns zugesand¬
ten „Erklärung", aus Mangel an Raum ersuchen bis zur kommenden
Woche warten zu wollen.
Die Idee eines permanenten KunstsalonS gehört, wie die mei
sten praktischen Gedanken dieser Art in Betreff der Kunst, den Fran
zosen. Sie sahen längst ein, daß es dem Kunstliebhaber angeneh
mer und bequemer sein müsse, was er suche, an ein, zwei Orte
zusammen zu finden, als es in den Ateliers der verschiedenen Künst
ler aufzusuchen. So entstanden die permanenten Kunstsalons, wohi
Maler und Bildhauer ihre Werke gleich nach der Beendigung sandten
um sie zu verkaufen, oder . . . nach vergebener Hoffnung zurü
zu erhalten.
Nach diesen Vorbildern richtete der bekannte Kunsthändler Kuhin einem eleganten Local unter den Linden eine permanente Aus
stellung ein, welche er dem Publicum zu den vortheilhaftesten Be
dingungen öffnet. Ein jährliches Abonnement von drei Thalern be¬
rechtigt zu dem täglichen Eintritt, und der Abonnent empfängt noch
Kunstsachen zum vollen Werth dieser drei Thaler. Einzelne Besuche
werden mit fünf Silbergroschen bezahlt.
Da schon eine geraume Zeit seit Eröffnung dieser Ausstellung
verflossen ist und sich dadurch der Stoff zu einer Besprechung über
die Maßen gehäuft hat, so können wir nur dem Totaleindruck Folge
leisten und das zurückrufen, was am Meisten auel.
Zu diesen gehört ein Bild von Ueberhand, daS gleich im
Anfang der Ausstellung erschien und verschwand, dem wir jedoch
unter allen seitdem erschienenen Bildern den ersten Platz einräumen.
Es war eine norwegische Gebirgslandschaft, die uns den
wilden Eindruck des schaurigen Nordens gab. Ueber Felsen und
Klippen rauscht der Gebirgsstrom und löst die Wu
nen, die das bröckelnde Gestein vergebens zusammenzuhalten suchen.
In der Höhe los't sich das Licht von dem Nebel und fällt streifend
auf das schäumende Wasser, dessen bläuliche Schatten sich kräuseln
zum wilden Tanze. Im Vorgrund, von Gestrüpp umgeben, liegen
lauernd zwei Bären, die gewöhnt an dies Treiben der Natur gleich¬
artig vor sich hinschauen. — Ueberhand hat eine gewaltige Phan¬
tasie, deren göttlicher Ursprung sich dadurch äußert, daß sie be¬
stimmt und entschieden auf Jeden wirkt, dem sie im ^Bilde nahe
tritt, sei er Laie oder Kunstgenossc. Aber auch er, den man mit
Recht den König der Landschafter nennt, auch er hat wie
jeder Künstler seinen bösen Dämon, den er zwar kräftig bekämpft,
aber schwerlich besiegen wird. Dieser böse Dämon Ueberhand's ist
seine Farbe. Sie ist nicht schön, seine Farbe; sie hat von der Na¬
tur den Auftrag erhalten, seiner Phantasie zu gehorchen und sie darf
daher nicht murren, wenn sie von dieser geknechtet wird. Aber das¬
selbe, was in der Phantasie Gewaltigkeit, Hoheit ist, äußert sich in
der Farbe als Schwerheit. So war es natürlich, daß Ueberhand
sich dem Norden zuwandte, und daß er sich fast immer in gewaltigen
Naturerscheinungen aussprach, weil diesen in ihrer Hoheit jenes zarte
Gefühl abgeht, was auch ihm fehlt, weil er gewaltig ist. Aber
trotzdem gehört das obenerwähnte Bild zu den weniger ernsten und
schönsten, welche unser Jahrhundert malte. Da wir einmal mit ihm
beschäftigt sind, wollen wir ihn gleich ganz abfinden. Wir sahen
außerdem von Ueberhand eine kleine Skizze, die denselben norwegischen
Charakter trug wie das große Bild, nur daß sie freundlicher war.
Ferner eine Marine: Gefangene werden auf Kriegsschiffe
transportirt, die uns nicht so zusagte, wie die beiden vorher¬
gehenden Bilder. Hier ist wirkliche Schwerheit, und diese wird nicht
sogleich durch einen umzogenen Himmel gerechtfertigt. — Wir können
uns nicht versagen, des Contrastes wegen der äußersten Grenze des
Gewaltigen die höchste Lieblichkeit in einem Genrebilde Wald¬
mülle r's aus Wien gegenüberzustellen. Ein junges Mädchen,
von der Alp zurückkehrend, lauscht dem Gesang ihrer
Genossinnen. Hier geht der Künstler heiter in die kleinsten De¬
tails der Natur, in das kleinste Blümchen, in das kleinste Sonnen¬
licht ein. Wie sie dasitzt, die halberblühte Rose, wie der Zug
des Lauschers sich neckisch ausprägt in ihren Mienen. Man meint
das Echo durch die Wälder hallen zu hören, man meint das Jo¬
deln ihrer Genossinnen zu vernehmen. — Werden beide Gegensätze
so vertreten, da ist eS selbst Kunst zu entscheiden, welche schöner ist,
— die gewaltige oder die liebliche Seite der Natur? — Ein Bild
von LasynSki: Gustav Adolph empfiehlt seinen Ständen
bei seinem Abgang nach Deutschland seine Tochter Chri¬
stine, war schon auf der großen Ausstellung von 1842 und wurde
schon damals als ein Bild betrachtet, das weniger historisch sei,
als es einen historischen Moment zur Darstellung brächte.
Von historischen Bildern erinnern wir uns eine Semiramis,
der die Kunde deö Aufruhrs gebracht wird, von Köhler
gesehen zu haben; wir konnten eS leider nur einmal flüchtig sehen,
zählen es aber trotzdem zu den besten Bildern deö Salons. Ein
Bild von Blunck: Der Sonntag, muß rühmlichst erwähnt wer¬
den. Der Sonntag schwebt in der Figur eines Mädchens mit dem
Palmenzweige, von zwei Engeln begleitet, über die Erde. Die Zeich¬
nung hat jenen gräcivsen Charakter des Schwedens, (wohl zu Un¬
terscheiden vom Fliegen) den wir immer von Neuem bewundern
müssen. Und man ist überzeugt, daß solch ein Engel Frieden brin¬
gen muß. Er lächelt nicht, aber er ist so ruhig, daß es beruhigt,
ihn nur zu sehen. Eines der reizendsten Genrebilder ist das bekannte:
Die Rose von Sonderland. Wir hatten uns schon so oft an dem
Stück ergötzt, daß es uns eine angenehme Überraschung war, das
Bild selbst kennen zu lernen, in sein volles Leben hineinzuschauen.
Es will mir immer scheinen, als sei der Stich eines Bildes den» ge¬
lungenen Portrait eines Menschen zu vergleichen. Mag Beides noch
so schon sein, so ist es doch uicht Mensch, nicht Bild. Ein Mäd¬
chen, auf'S Meer blickend von Simonsen ist ein niedliches Bild,
obgleich eS zu einem empfindsam-lyrischen Genre gehört, das größten-
theils auf großen Ausstellungen so krank macht. Waldmüller hatte
ein zweites Bildchen dort: Ein Mädchen, zum Frohnleich-
nams fest geschmückt, das noch viel mehr gefallen haben würde,
wenn er ihm nicht selbst in seinem oben erwähnten Bilde einen mäch¬
tigen Rivalen zugegeben hätte. Ave Maria auf dem Starem-
berger See von Volker, konnte mit dem Bilde von Simonsen zu¬
sammengerannt werden, dessen Vortheile es hat, wie es seine Nach¬
theile besitzt. Baudin: Bettlerin mit ihrem Kinde, ist ein eigen-
thümliches Bild, düster, unheimlich. ES erinnert an die Geheim¬
nisse von Paris, deren Wahrheit es theilt. Körner's Kinder mit
Hunden ist ein niedliches Bildchen, eine Kinderidylle, die von dem
Gemüth eines Künstlers immer gutes Zeugniß gibt. Wir kommen
nun zu einem Maler, der die Kuhrsche Ausstellung besonders reich
bedacht hat, und dem man dafür besonders dankbar sein muß. Es ist
Hasenclever. Er gibt fünf kleine Skizzen aus seinem Jobs, das
berühmte Lesecabinet und ein kleines Bild, die Wachtstube be»
nannt. So sehr Hasenclever schon jetzt anerkannt wird, so geht man
doch noch nicht genug auf seinen Werth ein. Hasenclever ist der
Hogarth unsers Jahrhunderts. Er versteh! sich zu mäßigen, aber
wenn er seinem Humor die Zügel schießen läßt, wie in seinem Jobs,
als Fürst von Thorn, dann streift er so nah an den Meister, daß
er ihn fast erreicht. Und Hasenclever malt schön. Er hat eine be¬
sondere Vorliebe für den Effect des brennenden Lichtes oder der
Lampe, und darin ist er Meister; wenn er auch Rembrandt lange
nicht erreicht, der seine Dunkelheiten klarer und weniger schwarz
als er malte. Im Lesecabinet sind einige Köpfe wirklich wunderbar
stark modellirt, und das Halbdunkel, in welches sich die Ecken der
Zimmer verlieren, ist naturgetreu. Bon den fünf Skizzen aus Jobs
ist und bleibt das bekannte Eramen die bedeutendste. Dann folgt
unsrer Meinung nach der Fürst von Thorn. Das Lesecabinet ist
vielfach besprochen, und ich mag nur Jedem wünschen, daß er das
Bild selbst zu sehen bekommt. Die Wachtstube behagte uns nicht so
sehr, obgleich sie wie alle seine Bilder voll Witz und Laune ist.
Ein Taschenspieler von Körner darf hier genannt werden, weil
er ziemlich glücklich auf dem Felde des Humors ist. Ein weib¬
licher Studien kopf von Blanc zeigt ein schönes italienisches
Weib. Zu den besten Copien, welche wir je gesehen haben, gehört
die heilige Cäcilie nach Rubens von Fetter. — Wir ge¬
hen nun zu dem größten Theile der ausgestellten Bilder, zu dem
Landschaftlichen über, an dessen Spitze das erwähnte Bild von Ueber-
hand gestellt werden muß. Die großartige Naturauffassung dieses
Künstlers treffen wir in einzelnen Bildern wieder, wenigstens ein
deutliches Streben darnach, das beinahe bis zur Imitation
geht. So ist es mit Lange's Waldlandschaft mit Hirschen,
einem schönen, kräftigen Bilde. Mit einer Landschaft von Hengs-
bach und mit dem Seesturm von Baumann, der selbst den
nicht eben schönen Ton der Ueberhand'schen Maniren hat. Auch ans
eine Marine von Houguet treffen wir hier, das dieselben
Fehler hat wie das neulich geschilderte Bild, obgleich es viermal
so klein ist. Wir müssen sehr bedauern, die Marineu des
Franzosen Tanneur nicht gesehen zu haben, von denen in der
Vossischen Zeitung so furchtbares Aufhebens gemacht wurde, und
die wirklich ihre Verdienste gehabt haben sollen. Leider hat der
Künstler diese guten Sachen zu schnell hinweggenommen und statt
ihrer eine kleine Skizze: Aussicht aufTunis hiergelassen, die
uns keinen zu guten Begriff von der Borzüglichkeit seines Talentes
geben würde, wenn wir es nicht schon aus seinem Rufe achten ge¬
lernt hätten. Das kleine Bild ist französisch; das genügt. Scheu¬
ren hat zwei Bilder und eine Skizze hier, über welche wir nicht
so schnell hinweggehen können. Scheuren gehört offenbar zu den
Befähigten unsrer lebenden Landschafter, was er dadurch bewiesen,
daß er sich in Düsseldorf über die Mittelmäßigkeit erhoben hat. Er
hat ein warmes Gefühl und ein glückliches Auge für die freundliche
Seite der Natur, für das neckische Lächeln der Sonne aus Blumen
und Gräsern, das durch eine Landschaft geht. Dennoch ist Scheu¬
ren das nicht geworden, was er zu werden versprach. Es geht
ihm wie den meisten Künstlern, die einigen Ruf erlangen, ohne schon
auf recht festen Füßen zu stehen. Ihre Hand hat den Kopf unter¬
jocht, — sie ist der Künstler, obgleich es doch umgekehrt sein soll.
Die Aufgabe eines Bildes ist es, ein Gefühl, eine Stimmung dar¬
zuthun, die sich auf den Beschauer äußert,.....leider sehen wir
hellt zu Tage oft in glänzend goldenen Nahmen statt eines Bildes
ganz allerliebste Kunststücke und Sprünge, die eine gelenkige Hand
auf der Leinwand zurückläßt, indem sie dem Kopf, das ist dem Ma¬
ler, mit dem Pinsel davon läuft. — Auch bei Schemen darf dies
gesagt werden. Er malt sehr niedlich, sehr hübsch sogar, aber der
innere Drang, ohne den ein Kunstwerk nie entsteht, wird vermißt.
In seinen beiden Bildern, die viele Schönheiten, aber auch wohl
coquette Kunstgriffe zeigen, spricht sich wohl ein Gedanke aus, aber
der Gedanke ist nicht so gewaltig, daß er den Uebermuth der Aus¬
führung im Zügel gehalten hätte. Das ist's, was den Künstler
macht: die Ruhe, die Einfachheit. Dagegen gibt uns Scheuren
eine kleine handgroße Skizze, der wir volle Gerechtigkeit widerfahren
lassen. Eine Kapelle im Walde, mit untergehender Sonne, die durch
die Stämme blitzt. Hier ist der Genius, da ist das Gefühl vor¬
herrschend; man würde in diese Landschaft treten und beten; das
empfindet man deutlich, und das ist ein gutes Zeichen für den Werth
des Bildes. — Die Tasso-Eiche von Biermann darf hier
wohl genannt werden, denn das eben über Hand und Kopf des
Künstlers Gesagte trifft Biermann mit. Bei ihm ist allerhand, und
wie man in seinem Streben sieht, daß eine glänzende Technik ihm
über Alles geht, muß man gestehen, daß er sie hat; . . . aber
was sonst? — Hilgers stellt zwei schöne Bilder aus, von denen
das eine einen Eisgang bei Düsseldorf darstellt, ein Gedanke,
den der Künstler mit vielem Genie und besonders mit vieler winter¬
lichen Farbenzartheit ausführte. Mit Einem nur hätte er nicht so
schnell sertig werden müssen; das ist das Format. Es stimmt durch¬
aus nicht mit dem Bilde. Sein zweites Bild ist eine Eifell an ti¬
sch äst, die uns noch mehr anspricht, als Saal's Sonnenunter¬
gang in einer Eifellandschaft. — Wilhelm Brücke's Forum
in Rom ist reichlich und lehnt sich theils an Eatel, theils an Eich¬
horn und Biermann an. Ein Buchenwald von Naalmever
hat viele Natur. Waldlandschaft von Klein in Düsseldorf ist
auch eins von den hübsch gemalten Bildern, bei denen man trotzdem
nicht lange verharren mag. Ein Winter von Formradt bekundet
ein nicht geringes Talent für das Colorit, aber leider auch eine
große Hinneigung an das Französische. Zu den besseren der aus¬
gestellten Landschaften gehören noch die von Gemmel, Schmidt und
Happel. Von Thierstücken sahen wir Wenig, aber Gutes. Ausge¬
zeichnet, eine wahre Hunde-Madonna, war Steffecks Hündin
mit Jungen. Sie war eben so schön gemalt wie sein früher er¬
wähntes Pferderennen in Palermo. Einen eigenthümlichen Eindruck
machte ein großes Bild von Prestel: Einbruch des Wildes zu
einer großen Jagd des Fürsten Esterhazy. Das Wild ist
von allen Seiten durch Treiber umzingelt, und wird so mehr und
mehr zusammengedrängt. Hirsche, Rehe, Schweine, hier und da ein
Wolf, ergreifen alle in ihrer eigenthümlichen Gangart die Flucht.
Für den Jäger ein gewiß ergötzlicher Anblick, aber auch von Interesse
für den Künstler, denn die Thiere waren meisterhaft gezeichnet. Mes-
rere andere Bilder von Prestel, Landschaften mit walachischem Fuhr¬
werk waren ebenfalls verdienstlich. Fruchtstücke waren in reich¬
licher Anzahl vorhanden, unter denen die von Preyer in Wien
die überwiegend Besten waren. Preyer ist von allen lebenden Ma¬
lern unsers Wissens der, der den Alten in diesem Genre nachkommt.
Seine Bilder sind sowohl in künstlerischer Anordnung, wie in großer
Naturtreue dem Besten an die Seite zu stellen, was die Gegenwart
malt. Von allen hier erwähnten Bildern nehmen sie, nächst Ueber-
hand's norwegischer Landschaft, die zweite Stelle ein, ja Mancher
würde sie vielleicht höher stellen, weil sie ruhiger, vollendeter find.
Zuletzt können wir Waagen's Zeichnung nach Kaul¬
bach ö Zerstörung Jerusalems nicht unerwähnt lassen. Leider
ist es uns nicht gestattet, näher darauf einzugehen, denn mit weni¬
gen Worten ließe sich über ein Kunstwerk so hoher Bedeutung nur
Wenig sagen, und gerade der Raum ist es, der uns gebricht.
'
Wir werden übrigens die Kuhrsche Ausstellung im Auge be¬
halten und von Zeit zu Zeit der vorzüglichsten Einsendungen ge¬
denken.
Georg zog eine unnennbare Sehnsucht nun immer nach dem
Hause seiner Geliebten, und wenn er nur die Mauern gesehen und
in stiller Nacht ein Lied hinauf zu ihren Fenstern gesungen hatte,
wo sie wohnte, so war er schon viel ruhiger. Denn die Liebe ist ein
gar närrisches Ding, und wenn Ihr einmal groß werdet, Ihr guten
Kinder, so werdet Ihr wohl auch erfahren, was Lieben heißt. Ich
sehe es aus Eueren schwarzen Augen heraus, daß Euch dieses Ge¬
fühl nicht fremd bleiben wird.
— El, sagte meine Schwester, ich weiß schon, wie es ist, wenn
mau Einem recht gut ist, und Oberförsters Hugo weiß es auch, denn
in der Schule rechnet er mir allemal mein Erempel, daß ich kein
AuSgezankteS bekomme, und zum Adorfer Jahrmarkt hat er mir ein
großes Pfeffcrkuchenherz mitgebracht!
— I, das gehört ja gar nicht her! sagte ich unwillig, die Alte
aber sprach lächelnd: Da sieht man, was ein Häkchen werden will,
krümmt sich bei Zeiten: aber Einem gut sein, und Einen recht wahr¬
haft lieben, das ist so ein Unterschied, wie dieser kleine Bach und
das große Weltmeer, wo Georg seine Laura sah — denn das will
ich Euch nur gleich sagen, daß sie so hieß. Die kleine Elster aber
geht auch in's Meer und — aber das versteht Ihr noch nicht!
In der Nacht, wenn die meisten Menschen schon schliefen, bestieg
Georg seinen Kahn und ruderte zum Hause seiner Geliebten. Einst¬
mals, als er nach seiner Gewohnheit dort ein Lied zur Laute gehult-
gen hatte, that sich oben ein Fenster auf und er erkannte beim Mon¬
denschein Laura's Antlitz. Da flatterte ein weißes Tuch hernieder,
er fing es glücklich auf, als er aber wieder emporsah, war das
Fenster geschlossen. DaS Tuch war an einer Ecke zusammengeknüpft.
In banger und doch freudiger Erwartung fuhr er seinem Hause z„.
Damit ihn Niemand bemerke, fuhr er dahin, wo die Häuser ihren
Schatten über das Wasser warfen, und öffnete den Knoten. Er fand
ein Briefchen. Eben wollte er einen Versuch machen, es im Mond¬
schein zu lesen, da hörte er nicht gar weit von sich einen Hilferuf.
Er verbarg also schnell Tuch und Brief und fuhr pfeilschnell dahin,
woher der Ruf kam. Unter einem Brückenbogen vernahm er ein
Aechzen und sah, wie in einem Kahn ein wilder Kerl mit einem
jungen Menschen rang und ihm eben einen Dolch in die Brust sto¬
ßen wollte. In demselben Augenblick sprang Georg in jenen Kahn,
packte mit starken Händen den Banditen bei den Armen und entriß
ihm den Dolch; der junge Mann sprang auf, und nun hatte sich
das Blatt gewendet. Der Bandit flehte um Schonung seines Lebens
und sagte, daß er von einem vornehmen Jüngling mit vielem Gelde
bestochen worden sei, diese That auszuführen, schwur auch bei seinem
Schutzpatron und bei allen Heiligen, ihm ewig dankbar zu sein und
sich durch alle Schätze der Welt nicht mehr zu solch einer Schänd¬
lichkeit verführen zu lassen, sondern aus allen Kräften ihm zu dienen.
So wurde ihm endlich die Strafe erlassen. Der junge Mann aber
sagte zu Georg: Ihr habt mir das Leben gerettet, und ich werde
Euch ewig dankbar sein. Sagt mir Eueren Namen und wenn ich
in irgend einer Sache Euch dienen kann, so verlaßt Euch aus mich!
Wollt Ihr mir jetzt einen Platz in Euerem Kahn gönnen, so will
ich Euch erzählen, wie ich in diese Lebensgefahr gerathen bin. Sie
stiegen Beide in Georg's Kahn, der Schiffer fuhr mit tausend Ge¬
lübden und Danksagungen von dannen.
Der junge Venetianer erzählte nun, wie er ein Mädchen liebe,
um dessen Gunst sich auch ein Anderer bewerbe. Er aber habe mehr
Glück gehabt, als jener; der sei deshalb fast rasend und habe nun
den Schiffer, der ihn jeden Abend zu seiner Geliebten fahre, besto¬
chen, ihn zu ermorden. Er habe lange so Etwas vorausgesehen und
freue sich, daß durch Georg's Hilft der Anschlag verunglückt sei. Er
würde nun seinem Nebenbuhler die Lust zur Wiederholung seiner
Büberei zu verleiden wissen und könne auf die Treue des Fähr¬
manns eben so rechnen, wie Georg auf seine Freundschaft. So
könne es übrigens, meinte er, Jedem gehen, der bei einem Mädchen
in Venedig Glück mache, und Georg möge deshalb in einem ähnli¬
chen Falle auf der Hut sein.
Die beiden Jünglinge schlössen einen Freundschaftsbund, und der
Venetianer bat dringend, Georg möge ihn bald besuchen, jetzt aber
ihn an sein Haus bringen und sich merken, wo er wohne. DaS
geschah, aber wie erstaunte Georg, und wie bebte sein Herz vor Freude,
als sein neuer Freund an dem Hause vom Kahne stieg, wo Laura
wohnte. Er erinnerte sich auch, daß der junge Mann mit auf dem
Schiffe gewesen sei, wo er das geliebte Mädchen zuerst gesehen habe.
Er dachte: Dieser Abend ist doch lauter Glück! und fuhr nach Hause.
In seinem Zimmer las er die Zeilen, welche Laura geschrieben hatte.
Sie schrieb in wenig Worten, daß sie den folgenden Tag gegen
Sonnenuntergang mit Mutter und Bruder eine Lustfahrt machen
werde. Wer war froher als unser Georg! Denn nun konnte er doch
die Geliebte wieder einmal sehen. Er konnte fast die ganze Nacht
nicht schlafen und am folgenden Tage gab er ein Unwohlsein vor,
das ihn nöthige, eine Ausfahrt zu machen, und lange vor Sonnen¬
untergang kreuzte er schon durch die Wasserstraße, durch die Laura
kommen mußte.
Endlich kam eine Gondel daher geschwommen, auf der Georg
im Augenblick neben Laura seinen Freund von gestern und eine äl¬
tere Dame erkannte. Wie schlug dem Glücklichen das Herz, als er
aus des Freundes Munde seinen Namen rufen hörte und hinrudern
durfte an die Barke der Liebsten. Laura's Bruder — denn das war
der junge Venetianer — reichte dem Georg, der sich schüchtern gegen
die Frauen verneigte, die Hand und sagte seiner Mutter und Schwe¬
ster, daß dieser junge Deutsche ihm gestern das Leben gerettet habe.
Die Mutter überhäufte den Glücklichen mit Lobsprüchen, Laura sagte
ihm, über und über glühend, manches schöne Wort, und Georg wäre
ihr gern zu Füßen, noch lieber um den Hals gefallen, durste aber
nicht einmal das Auge zu ihr aufschlagen, weil es ihm dann nicht
möglich war, ruhig zu bleiben.'
— Du bist wohl ein Sänger, lieber Georg, fragte LauraS
Bruder, weil Du die Zither bei Dir trägst? So singe uns ein Lied,
und damit Du das Ruder weglegen kannst, steige in unsere Gon¬
del und binde Deinen Kahn daran fest! — Ach, meinte Georg, ich
klimpere nur bisweilen ein wenig! Doch als selbst Laura und ihre
Mutter baten, that er, wie ihm geheißen war. Nun sang er ein
schönes deutsches Lied und Alle bewunderten ihn wegen seines Ge¬
sanges und die deutsche Sprache wegen ihres volltönenden Wohl¬
lautes.
Viel zu früh für den Glücklichen sank die Nacht herab. Sie
kehrten zurück in die Stadt und Georg wurde freundlichst eingeladen,
seinen Freund oft zu besuchen. Darauf schied er und fuhr allein sei¬
nem Hause zu. In der Nacht träumte er natürlich von Nichts, als
von seiner Liebe und am nächsten Tage verfehlte er nicht, seinen
Freund zu besuchen.
Laura's Vater war ein reicher Rathsherr, aber ein stolzer, hoch¬
fahrender Mann, der den Plan hatte, seinen Sohn mit der Tochter,
Laura mit dem Sohne des Herzogs zu vermählen, um immer höher
an Macht und Ansehen zu steigen. Er durfte deshalb Nichts davon
merken, daß sein Sohn ein Liebesverhältniß mit einem anderen Mäd¬
chen hatte, und so durfte auch Georg sich wenig Hoffnung machen,
seine Geliebte einstmals zu besitzen. Doch war er gern gesehen in
dem Hause als lieber Freund des Sohnes, und auch Laura liebte
ihn immer schwärmerischer, je öfter sie ihn sah, und wenn er vollends
zu erzählen begann von seinem Heimathlande und von den dunklen
Fichtenwäldern, von den schlichten, biederen Sitten seiner Bewoh¬
ner, und wenn er unsere Märchen erzählte, so hing ihr Auge so an¬
dächtig an seinen Lippen, daß sie schier die ganze Welt vergaß. Er
wußte es eben so gut, wie sie, daß sie einander von ganzer Seele
liebten, obwohl es Keines dem Andern sagte, denn sie waren nie
allein.
Wenn aber Georg nicht in Laura's Nähe war, so hing er den
Kopf wie eine Blume, die nach Regen schmachtet, und er glaubte,
ohne sie nicht leben zu können. Weil er aber nun doch einsah, daß
er nicht die geringste Hoffnung haben konnte, so wurde er niederge¬
schlagen und traurig, und wenn er sich dachte, daß Laura eines an¬
deren Mannes Weib werden müsse, so wünschte er lieber nicht zu
leben, oder daß er in der Heimath geblieben und Bauer geworden
.wäre.
Der Wale, der ihn mit nach Venedig genommen, dessen Gemah¬
lin und die drei Söhne liebten Alle den jungen Voigtländer, als ob
er ein Kind deö Hauses gewesen wäre. Sie merkten gar wohl, daß
die Liebe ihm einen Streich gespielt habe, denn das sieht man den
Leuten gleich am Gesichte an.
— Woran sieht man denn das? fragte meine Schwester wie¬
der. Ich stieß sie, daß sie ruhig sein sollte, denn ich mochte Störung
nicht leiden. Die Alte lächelte und sagte- I, Du willst auch Alles
gar zu gern wissen! Sieh, Verliebte haben ganz absonderliche Augen,
die man gar nicht beschreiben kann, sehen entweder auf den Boden,
oder stieren den blauen Himmel an. Sie halten immer auf saubere
Kleider, schmücken sich mit wohlriechenden Blumen, antworten nicht,
wenn man sie fragt, machen Gedichte und sonst noch tausend dum¬
mes Zeug. Aber hört jetzt nur zu, meine Geschichte wird bald zu
Ende sein!
Die Söhne deö Hauses suchten also Georg auszuhorchen, er
wich aber immer ihren Fragen geschickt aus. Zuletzt erkundschafteten
sie aber doch das Haus, wo er immer Ständchen brachte. Sie
wußten, daß dort der reiche Rathsherr wohne, konnten sich aber nicht
denken, daß Georg sein Auge so hoch erhoben habe, denn deS Raths¬
herrn Stolz war bekannt, und man wußte auch, daß er gern mit
dem Herzog verwandt werden wollte. Als sie aber Georg mit des
Rathsherrn Sohn zusammensahen, ging ihnen ein Licht auf. Als
sie dem Vater ihre Vermuthungen sagten, erschrack der gewaltig und
beschloß, nun doch Georg einmal in die Beichte zu nehmen, um viel¬
leicht mit Vernunft ihn zur Vernunft zurückzubringen.
So that er denn auch. Er rief Georg in sein Cabinet und
sagte ihm: Er wisse längst, daß Georg etwas auf dem Herzen trage,
habe aber geglaubt, sein Vertrauen in vollem Maße zu verdienen,
den» er sei fein ausrichtigster Freund und liebe ihn mehr, als wenn
er sein Vater wäre. So sprach er manches Wort, das zu Georg's
Herzen drang. Der fiel seinem Beschützer endlich um den
Hals und gestand ihm Alles, verschwieg auch nicht, daß er nicht
leben möge, wenn nicht Laura sein Weib werde. Der Wale erschrack
und setzte Georg anfangs auseinander, wie er sich diese Dinge aus
dem Kopf schlagen müsse, denn es sei nicht daran zu denken, daß
der stolze Rathsherr seine Einwilligung geben werde. Da kam aber
Georg in Verzweiflung und vermaß sich hoch und theuer, er wolle
sich auf der Stelle, wo er Laura zuerst gesehen, in das Meer stürzen
und der Welt Adje sagen, wenn seine Geliebte eines Andern Weib
werden sollte.'
Da schüttelte der Wale den Kopf, denn Georgs Leid ging ihm
sehr zu Herzen, und doch sah er nicht, wie er ihm helfen konnte.
Endlich fragte er: Weiß eS denn das Mädchen, daß Du sie liebst?
— Ach, entgegnete Georg, als ich sie sah, sah sie mich; ich
wurde roth, sie wurde roth; ich schenkte ihr eine Kette, sie schenkte
mir eine Kette, und seitdem lieben wir uns, und sie mag auch keinen
Andern, als mich!
— Eine schöne Geschichte! murmelte der Kaufherr in den Bart,
legte die Stirn an die Fensterscheiben und starrte hinaus auf die
Stadt. Georg stand unterdessen da, wie ein armer Sünder.
Endlich kehrte der Wale sich um, gab Georg die Hand und
sagte: Lieber Sohn, ich habe noch eine schwache Hoffnung, Dich an
das Ziel Deiner Wünsche zu führen. Fasse jetzt Muth und vertraue
mir! Liebt Dich das Mädchen wirklich, so kann vielleicht noch Alles
gut werden!
Das war Balsam auf das kranke Herz unseres guten Georg,
und getröstet ging er von dannen. Als er aus dem Cabinet und
in sein Zimmer kam, sand er Laura's Bruder, der gekommen war,
ihn zu einer Spazierfahrt abzuholen. Der schüttelte über Georg's
Aussehen den Kopf, sagte aber kein Wort. Doch als sie in ihrer
Gondel, die derselbe Schiffer führte, welcher den Mordversuch gemacht
hatte, zwischen all den hundert Barken, die schöne Frauen und schmucke
junge Männer trugen, zwischen den jodelnden Fischern und den lau¬
tenschlagenden Liebhabern umherfuhren, so fragte endlich der junge
Venetianer: Aber Georg, wie kommst Du mir vor, was ist Dir
widerfahren?
Da stürzte der Freund schluchzend an seine Brust und rief: Vei>
zeihe mir, daß ich ein Geheimniß so lange Dir vorenthalten habe;
ich muß eS Dir aber endlich sagen, aus die Gefahr hin, daß Du die
Freundschaft mit mir abbrichst!
— Georg, sagte der Venetianer, Du hast mir das Leben ge¬
rettet, und ich werde ewig Dein Schuldner bleibt n. Vertraue mir
jchjn scM n?'? nM?« 'et'M !eng?jZ n; WnlMs.'M ,,1 MW,?!
nur immer Dein Geheimniß, in meiner Brust soll es gut ruhen. Du
zweifelst doch nicht an mir?
Da erhob Georg das schwarze Auge und schaute tief in die
Seele deö Freundes: So wisse es denn—ich liebe Deine Schwester!
Der junge Venetianer sprach lächelnd: Glaubst Du, daß ich
dies jetzt erst erfahre? El, el, mein Freund, wie kannst Du mir so
wenig Scharfsinn zutrauen! Und ich bin meiner Schwester mehr als
Bruder, ich bin ihr Vertrauter und weiß schon längst, was in ihrem
kleinen Herzen vorgeht. Da drückte Georg seinen Freund an die
Brust, daß der fast schreien mußte, und fragte, aber kaum halblaut:
Und darf ich hoffen?
— Wenn es auf meine Schwester ankäme, entgegnete dieser, so
wäre sie Dein, denn Deine Kette hebt sie gleich neben ihrem Mut-
tergortesbild auf — aber wo hast Du die Kette meiner Schwester?
Ich habe sie noch nicht bei Dir gesehen!
— Was Einem das Liebste ist, trägt man nicht vor allen Leu¬
ten zur Schau! sagte Georg und zeigte dem Freunde die Kette. Sie
ruhte gleich auf seinem Herzen.
— Es ist doch merkwürdig, fuhr der Venetianer fort, mit welch
einer rührenden Innigkeit Ihr Deutschen liebr. Wir Italiener lieben
glühend heiß, aber unsere Muth verfliegt oft wie ein Srrohfeuer.
Sieh, das Mädchen, wegen welcher ich neulich in Lebensgefahr kam, habe
ich abgedankt, und nun ist mein Nebenbuhler Hahn im Korbe. Aber
meine Schwester hat so eine Art deutscher Natur, und ich weiß, Ihr
würdet einander glücklich machen, und ich gönne meine Schwester
keinem Schlechteren, als Du bist; einen Besseren aber habe ich bis
jetzt noch nicht gefunden. Aber dennoch steht Euere Sache ziemlich
hoffnungslos. Damit es Dir nicht zu überraschend kommt, wisse es
nur, daß mein Vater Laura mit dem Sohne des Herzogs zu ver¬
mählen gedenkt, und auch der Herzog wünscht dies, denn unsere Fa¬
milien sind von jeher befreundet. Fasse Dich also, wenn Deine Hoff¬
nung eitel werden sollte!
— So ist Laura's Hochzeitstag mein Todestag! flüsterte Ge¬
org, beugte sich über den Rand der Gondel und schaute mit einem
so melancholischen, verliebten Blick in das Wasser, als möchte er lie¬
ber gleich jetzt hinunterspringen. Sein Freund sagte: Es ist doch ein
Unglück, so schwärmerisch zu lieben! Aber jetzt verliere den Kopf nicht
und baue noch ein wenig auf meine Freundschaft und meiner Schwe¬
ster Liebe. Unser Vater will uns zwar nicht gestatten, bei seinen
Plänen ein Wort mitzureden, aber im Nothfall wissen wir am Ende
auch unsere Stimme geltend zu machen, denn klug sind wir Italiener
alle. Uebrigens kommst Du jetzt mit zu mir, ich werde Dir Gele¬
genheit geben, meine Schwester einige Augenblicke allein zu sprechen.
Da sagst Du ihr, daß Du sie liebst!
— Um Gotteswillen, nein! Das kann ich nicht! rief Georg, und
wozu das? sie weiß ja, daß ich sie liebe!
— Den Mädchen, unseren Italienerinnen namentlich, ist eS nicht
genug, zu wissen, daß man sie liebt; sie wollen auch, daß man es
ihnen sagt. Bis jetzt konntest Du Deine Liebe nicht anders zeigen,
als Du es gethan hast; bist Du aber nur einen Augenblick mit ihr
allein und Du läßt ihn unbenützt verstreichen, so wird sie an Deiner
Liebe zweifeln und dann ist Alles aus, oder sie hält Dich für feig,
und dann ist auch die Liebe weg; denn nur durch kühne Entschlos¬
senheit .macht man bei unseren Mädchen Glück. Liebst Du Laura?
— Wie kannst Du noch daran zweifeln? sagte Georg und sein
Freund fuhr fort: So sag' es ihr! Fährmann, nach meiner Wohnung!
'
Nach einer Weile waren sie in Lauras Haus. Georg stand
im Zimmer seines Freundes, der hinausgegangen war, aber bald zu¬
rückkehrte. Das Herz klopfte ihm gar gewaltig.
Es dauerte nicht lange, so erschien auch Laura und sprach ziem¬
lich unbefangen mit ihrem Bruder und Georg. Unter irgend einem
Vorwande ging ihr Bruder hinaus. Da stand Laura und schlug
die Augen nieder, aber ihre Wangen waren roth, wie der Himmej,
ehe die Sonne aufgeht. Georg sah sie an, aber seine Sinne waren
wie betäubt. Endlich flüsterte er leise: Laura! und sie antwortete,
ohne das Auge zu erheben: Georg! Da waren die Fesseln gebrochen,
er stürzte vor ihr auf die Kniee; was er sagte, weiß ich nicht, als
aber nach einigen Augenblicken Laura's Bruder leise die Thüre öff¬
nete, sah er eben, wie Georg einen recht herzhaften Kuß auf Lau¬
ra'S rosige Lippen drückte.
— El, el! rief es plötzlich hinter ihnen, da sehe mir Einer die
Leute an. Kaum einen Augenblick darf man den tugendhaften Haus¬
freund mit der sittsamen Schwester allein lassen, so liegen sie°schon
einander am Hals und herzen sich. Wart, es soll nicht wieder ge¬
schehen !
Da wurden alle beide roth bis über die Ohren, Georg aber
sagte: Du bist selbst Schuld daran, und habe ich eine Sünde ge¬
than, so war sie doch so schön, daß ich sie alle Tage tausendmal
thun möchte. Manche Leute wollen auch wissen, daß Georg seine
Geliebte in des Bruders Beisein zum Abschiede noch einmal recht
herzlich geküßt habe.
Am folgenden Tage rief ihn sein Patron wieder in das Cabi-
net und redete folgendermaßen zu ihm: Lieber Sohn, ich bin nun¬
mehr alt und wünsche in Ruhe zu leben; deshalb habe ich gestern
Abend mit meinen Söhnen einen Plan besprochen, der nur Deiner
Beistimmung bedarf, um uns Alle zufrieden zu stellen. Du stehst
nun seit geraumer Zeit mit mir an der Spitze meines Geschäfts und
hast mit so viel Glück und Geschick sür mich gearbeitet, daß sich mein
Reichthum unter Deinen Händen fast verdoppelt hat. Ich sähe es
nun gern, wenn einer meiner Söhne in meine Fußtapfen träte, aber
da will der Eine die Rechte studiren, der Andere macht Verse und
glaubt es zu einem großen Dichter zu bringen, der Dritte aber will
auf den Rath seiner Mutter sein Leben der heiligen Kirche weihen
und Mönch werden. Unter solchen Umständen würde mein schönes,
blühendes Handelsgeschäft an einen ganz Fremden kommen, wenn ich
Dich nicht hätte. Mein Plan ist nun der: Das Vermögen bleibt
unter Deinen Händen beisammen und Du führst für Deine und
meiner Söhne Rechnung die Handlung fort. Außer dem Vermögen,
waS Du Dir jetzt schon zurückgelegt, hast Du noch eben so viel
Theil an meinem Reichthum, wie jeder meiner Söhne. Gehst Du
auf diesen Plan ein, so gehörst Du von jetzt an zu den reichsten
Leuten in Venedig und kannst Deine Augen schon ein wenig hoch
emporheben. Du bist eben so reich, wie der stolze Rathsherr, und
stammt er auch aus einem alten edeln Geschlechte, ich will es doch
wagen, sür Dich Brautwerber zu sein!
Da stürzte Georg dem edeln Manne an die Brust und mochte
es nicht glauben und konnte sich gar nicht fassen. Der aber sagte:
Ich habe mir den Grund zu meinen Reichthümern in Deiner H"-
mals geholt, und es ist meine Schuldigkeit, Dich daran Theil haben
zu lassen, zumal ich versprochen habe, Dich wie meinen Sohn zu
halten.
Georg war überglücklich und dachte tausendmal: Ach, wenn eS
nur die Meinigen in Freiberg gleich wüßten, wie wohl es mir gehl.
'
Den folgenden Tag warf sich Georgs Vater —denn so nannte
er seinen Wohlthäter schon lang — in sein stolzestes Prachtgewand,
Georg's Herz klopfte laut und bang, denn er wußte, was das zu
bedeuten hatte. Er saß am Pult, rings um ihn wohl hundert Hand¬
lungsgehilfen, die heute noch einmal so unterthänig gegen ihn waren
als früher; er hatte die Feder in der Hand, aber er schrieb nicht.
Er wußte nicht, sollte er weinen oder fröhlich sein. Der reiche Han¬
delsherr wurde von Laura's Vater als einer der angesehensten Bür¬
ger von Venedig wohl ausgenommen, als er aber erzählte, wie er
sein Geschäft seinem wackeren Pflegesohne übergeben habe, und end¬
lich gar mit seiner Bewerbung herausrückte, da zog der Rathsherr
ein gar saures Gesicht und schlug mit Heftigkeit das Gesuch ab,
trug auch dem Kaufherrn auf, Georg zu bedeuten, daß er sein Haus
meiden möge. Der Brautwerber mußte abziehen, beschloß aber, Georg
vor der Hand den traurigen Ausgang des Feldzugs zu verschweigen
und ihn erst nach und nach darauf vorzubereiten.
Im Hause des Rathsherrn brach nun auch ein Donnerwetter
über Sohn und Tochter los, und der Jammer war nicht gering.
Georg ahnte sogleich, daß die Hoffnung fehlgeschlagen sei, wie er
seinen Vater so still zurückkehren sah. Das Leben hatte für ihn von
da an seinen Werth verloren. Als er endlich den Hergang der Sache
erfuhr, überraschte es ihn nicht mehr.
— Ach, das ist eine traurige Geschichte! rief meine Schwester
und trocknete eine Thräne vom Auge, ich sagte unwillig: Sei doch
ruhig, sie werden sich schon einander kriegen! Die Erzählerin seufzte:
Ach, man muß gar manches Herzeleid im Leben tragen, und der ist
schon glücklich zu nennen, der unter zehn Regentagen nur Einen
Sonnentag hat. Meine Geschichte geht nun bald zu Ende.
Georg verlor alle Lebenslust. Seine Brüder gaben sich alle
Mühe, ihn aufzuheitern, aber vergebens. Auch sein Freund, Laura's
Bruder, kam nicht, aber er hörte das Gerücht durch die Stadt lau¬
fen, daß nächstens eine Doppelhochzeit im Hause des Herzogs und
des Nathöhcrm stattfinden werde. Er gelobte sich, Laura's Hoch-
zcitstag nicht zu überlebe». Einmal in der Abenddämmerung kam
Laura'S Bruder zu ihm, lustig wie immer. Um Gotteswillen, Bru¬
der, rief er, wie siehst Du aus? Du wirst ja wie ein Schatten!
'
-— Habe ich nichtUrsache? entgegnete Georg kleinlaut, wann
wird mein Todestag sein?
— Närrischer Kauz, lachte der Freund, willst Du, ein besonne¬
ner Deutscher von Geburt, den Kopf verlieren, wo ich erst recht für
Dich zu hoffen anfange? ES ist klar und leuchtet Dir wohl selbst
ein, daß dieser Sturm kommen mußte. Aber in wenig Tagen kann
und wird sich Alles ändern. Verlaß Dich auf mich, ich bin ein
Italiener und schlau wie ein Fuchs. Ich habe den Knoten in der
Hand und werde ihn lösen.
Georg lächelte wehmüthig, denn er glaubte, sein Freund wolle
ihn mit leeren Hoffnungen trösten.
— Und Du zweifelst an mir? fragte der jetzt fest. Georg schüt¬
telte den Kopf, sein Freund fuhr fort: Verlaß Dich darauf, es geht
Alles besser, als ich selbst gedacht habe. Meine Schwester ist krank
vor Kummer, der größte Theil ihrer Krankheit aber ist Verstellung,
denn sie kennt meinen Plan. Wäre sie nicht krank geworden, so hätte
ich sie durch künstliche Mittel krank gemacht. Der Hausarzt ist von
mir bestochen und macht Höllenlärm um Laura's Krankheit. Mor¬
gen soll er aussagen, daß ihr Tod unvermeidlich ist, wenn nicht der
geheime Gram gehoben wird, an dem sie leidet. Darauf baue ich
meinen Plan. Ich bestürme den Herzog und seinen Sohn, zurück¬
zutreten, indem ich die Sachlage ihnen erzähle. Die Mutter muß
meinen Vater umstimmen, und im Nothfall erkläre ich, daß ich des
Herzogs Tochter nicht nehmen werde, wenn er durch seine Härte
meine Schwester tödte. Basta! mach Dich bereit, Laura bald wie¬
der zu sehen.
So stürmte er fort. Georg wurde wieder ruhiger, denn er be¬
gann wieder zu hoffen; aber doch mochte er seiner Hoffnung noch
nicht recht trauen. Es vergingen wieder einige Tage, da erscholl
durch die Stadt das Gerücht, die schöne Tochter des stolzen Raths-
herrn sei todtkrank und werde wohl heute noch sterben. Georg hatte
eben diese Kunde in Todesschreck vernommen, als plötzlich sein Freund,
Laura'S Bruder, hereinstürzte, Georg an die Brust drückte und jauchzte:
Das Spiel ist gewonnen, wenn Du es verstehst, meine Schwester
wieder gesund zu machen! Das Mädel ist wirklich ernsthaft krank
geworden, mehr, als in meinem Plane lag, und wärst Du nicht ihr
Arzt, ich fürchtete für ihr Leben. Komm nur sogleich mit!
Georg glaubte wieder zu träumen, wie auf seiner Reise nach
Venedig, und ging stumm mit seinem Freund zur Gondel, die mit
ihnen von dannen fuhr. Sie betraten das Haus; Georg sprach
immer noch kein Wort, so sehr sein Freund auch in ihn hineinredete.
Sie schritten die Stiegen hinauf und traten in ein Zimmer. Da
stand Laura's Mutter und schwamm in Thränen; der Rathsherr
war auch weich geworden und redete zärtlich auf seine Tochter, die
bleich, mit halbgeschlossenen Augen regungslos in ihrem Bettchen lag.
Wie die beiden jungen Männer eintraten, flog ein verklärtes Lächeln
und eine zarte Nöthe über ihr bleiches Engelsantlitz. Georg stand
jetzt vor dem Lager, sie schlug die großen, schwarzen Augen weit auf
und flüsterte: Georg!
— Gott Lob! rief der Arzt, Gott Lob! riefen Vater und Mut¬
ter; denn es war seit drei Tagen das erste Wort, das sie sprach.
Wie Georg von ihrem Munde seinen Namen horte, beugte er sich
nieder und drückte einen herzigen Kuß auf ihre Lippen. Da rollte
wieder warm das Blut durch ihre Adern, sie richtete sich halb auf
und reichte Georg lächelnd die Hand, als danke sie ihm, daß er sie
aus den Fesseln der Krankheit erlöst habe.
— Sie ist gerettet! sprach der Arzt, Vater und Mutter sielen
einander um den Hals, und der Jubel war groß.
In Georg's Hause wußte man nicht, wo er hingerathen war,
und als der Abend herankam, wurde man um ihn besorgt, denn
sein Trübsinn war Keinem mehr verborgen. Auf einmal aber stürzte
er in das Haus und in das Zimmer, wo die ganze Familie bei¬
sammen war, und jauchzte: Hosianna, Laura ist meine Braut!
In drei Tagen war Laura frisch und rosig, wie zuvor. Es
dauerte nicht lange mehr, da donnerten eines Tages die Kanonen
und die Glocken läuteten von allen Thürmen. Das Volk strömte
»ach der prächtigsten Kirche von Venedig. Aus dem Kirchthore trat,
von vielen Edlen begleitet, Laura's Bruder mit des Herzogs herab-
tenter Tochter und Georg mit Laura, deren Brautführer des Her¬
zogs Sohn war, der ihr freiwillig entsagt hatte, als er ihre Liebe zu
Georg erfuhr. Es war ein Tag, der noch heute in der Chronik
von Venedig steht, so schön und herrlich, wie wir ihn nicht erleben.
Nach einer Pause fuhr die Alte fort:
— Jetzt sind wir wieder in Freiberg. Es war einmal ein
Pfingsttag, die Saaten waren schon hoch emporgeschossen, die Rosen
blühten, der Himmel war blau, und die Sonne schien warm. Die
Bauerburschen waren schön geputzt, die Mädchen strahlten alle in
blendend weißen Schürzen und paarweis gingen sie gegen Abend
hinaus vor das Dorf, banden Kränze, lachten und sangen, schlickerten
und küßten und freuten sich ihres Lebens.-
Nur Christel, Georg's Schwester, mochte sich nicht freuen, son¬
dern saß daheim am Fenster, nähte und wischte sich bisweilen eine
Thräne vom Auge. Vater und Mutter waren hinausgegangen auf
das Feld, Christoph, der kleine pfiffige Bube, der den Beutel versteckt
hatte, war mit seinem Schatz spazieren gegangen' Die Leute waren
alle groß geworden, denn seit Georg's Flucht waren neun Jahre
verflossen. Gegen Abend ging die Thüre auf, und hereintrat ein
junger schmucker Bauerbursche und bot Christel wehmüthig einen gu¬
ten Abend.
— Du kommst wohl, um mir Abschied zu sagen, Friedrich?
fragte Christel traurig.
— Ach, sagte der, mein Vater darf es freilich nicht wissen, daß
ich noch zu Dir gehe, aber ich kann ja doch nicht von Dir lassen!
— Du kannst Dich wohl trösten, seufzte Christel, denn Du
nimmst die Melchiors Rose; die ist freilich reich und wohl auch schö¬
ner als ich, aber was soll ich anfangen?
^- Ich mag die Rose nicht, betheuerte Friedrich, mag mein
Vater machen, was er will; darf ich Dich nicht nehmen, so bleibe
ich all mein Lebtag ledig!
So redeten die jungen unglücklichen Liebesleutchen hin und her
und man sah es ihnen an, daß sie sich recht von Herzen lieb hatten;
aber weil Christel nitrei war, ollte sie Friedrich nicht nehmen.
Die Eltern kehrten, wie eS fast Abend wurde, vom Felde zurück.
Als sie an ihr Halts kamen, blieben sie stehen, denn sie sahe» das
Dorf herauf einen prächtigen Wagen gefahren kommen, wie ste M
ihrem Leben noch keinen gesehen hatten. Die Leute rissen alle die
Fenster auf und wußten nicht, was das in ihrem abgelegenen Dorfe
zu bedeuten habe. Der Wagen, von vier stolzen Rappen gezogen,
rollte heran und hielt vor Georg'S Vaterhaus still. Die Alten wu߬
ten nicht, was sie denken sollten, Christel mit ihrem Liebsten kam auch
heraus. Aus dem Wagen stieg ein junger Mann in fremdländischer
Kleidung von Sammet und Seide, mit Gold gestickt, und hob eine
junge Dame heraus, über deren Schönheit sich die armen Dorfbe¬
wohner, die von allen Enden herzuliefen, nicht genug wundern
konnten. Ein kleiner Bube fragte seine Mutter, die ihn an der Hand
führre: Mutter, das ist wohl ein Engel? Die beiden Alten standen
an der Thüre und warteten der Dinge, die da kommen sollten. Der
junge Mann wandte sich jetzt an den alten Georg und fragte: Kennt
Ihr mich nicht mehr, Vater?
— Georg! schrien Vater, Mutter, Schwester, ist'S möglich? und
die Freude war grenzenlos.
— Ich bin'6, sagte Georg und fiel ihnen um den Hals, und
das ist meine junge Frau!
Wie nun der erste Jubel vorbei war, gingen sie zusammen in
das Haus, und alle guten Freunde und Bekannten strömten schaaren-
weis herbei, um das Wunderkind Georg und seine schöne Frau zu
sehen. Jetzt erst fand Georg seine Schwester Christel heraus und
fragte, indem er auf Friedrich deutete: Ist das Christoph?
— Ach nein! sagte der Alte, der ist nicht zu Haus; es ist der
Liebhaber der Christel, sein Vater aber will's nicht zugeben, daß sie
sich nehmen, weil Christel ihm zu arm ist. Er ist der einzige Sohn
und erbt einmal zweitausend Thaler.
— Nun, ist's weiter Nichts, sagte Georg lächelnd, und sind
sich die Leute wirklich gut, so soll Christel dreitausend haben!
Diese Freude hättet Ihr wohl mit ansehen mögen?
Christoph und der zehnjährige Hans, der noch in der Wiege
gelegen hatte, als Georg fortging, machten gar große Augen, wie
sie vor ihres Vaters Haus den schönen Wagen, den Kutscher und
Diener sahen, die die herrlichsten Reisegeräthschaften auspackten und
in das Haus trugen. Noch mehr aber staunten sie, als sie in die
Stube traten und Alles erfuhren. Es läßt sich denken!
Georg blieb über einen Monat mit Laura, der das gemüthliche
Leben der biederen Leute sehr gefiel, in Freiberg bei seinen Eltern
und sah noch die Hochzeit seiner Schwester Christel mit ihrem Fried¬
rich. Wenn Georg den Eltern sein Leben erzählte, und wie er jetzt
so glücklich sei, so sagte er oft: War es nun nicht gut, daß ich in
die Fremde ging, statt in der Heimath zu bleiben? Und seine Eltern
weinten Freudenthränen und segneren ihn tausendmal. Als er end¬
lich mit Laura wieder von dannen fuhr, Heini nach seinem Venedig,
so that er es nicht anders, sein kleiner Bruder Hans mußte mit
ihm und soll nachmals auch ein großer Mann geworden sein.
Seine Geschichte ist noch heute da oben im Munde der Leute,
und jetzt habt Ihr sie auch gehört. Hat sie Euch gefallen?
Die Alte stand auf — meine Schwester dankte für die schone
Geschichte, ich gab der Erzählerin mit Thränen die Hand, legte mich
dann in das Moos zurück und schaute auf zum blauen Himmel.
Zum ersten Male fühlte ich da das sehnsüchtige Klopfen in meiner
Brust, das seitdem immer wiederkehrt; ich wußte nicht, wie mir ge¬
schah. Da sah ich obenhin eine Schaar Schwalben fliegen. Nehmt
mich mit! nehmt mich mit! rief ich, aber sie nahmen mich nicht mit.
Jetzt ward mir, als rufe das Elsterbächlein plätschernd und neckend
zu mir her: Komm mit! komm mit! und ich konnte nicht anders,
ich sprang auf und lief der davoneilenden Quelle nach, und lief
immerfort den Berg hinunter, bis ich bei meinem Vetter in Werners-
reuth war. Ich glühte über und über und antwortete verkehrtes
Zeug auf die Fragen meines Vetters. Venedig, Italien, Laura, wei¬
ter konnte man aus mir Nichts herausbringen.
— Gewiß, meinte die Muhme, hat die alte katholische Kräutcr-
here ihm ihr dummes Märchen erzählt, womit sie den Kindern den
Kopf verwirrt! Diese Vermuthung bestätigte sich denn auch, wie die
Magd mit den Kindern später nachkam.
In der Nacht träumte ich bunte Bilder durcheinander. Jetzt
war mir, als wäre ich Georg und der Wale rufe mir; ich stand auf,
schlich auf den Zehen aus der Kammer, die Treppe hinunter, und
arbeitete an der verschlossenen Hausthüre, aber vergebens. Wer ist
unten? hörte ich jetzt rufen, vernahm, wie mein Vetter aus dem
Bette sprang, hörte den Hahn an seiner Flinte knacken, die immer
neben ihm hing, da erwachte ich. Wer da? oder ich schieße! rief
es jetzt auf der Treppe. Ich bin es ja! sagte ich weinerlich und
ließ mich gutwillig wieder in mein Bett schaffen. Ich glaube, der
Junge ist mondsüchtig! hörte ich den Vetter sagen.
Am nächsten Tage hatte ich Fieber und phantasirte erst recht
toll von der Herrlichkeit Italiens. Ich mußte Thee trinken und durfte
auch nicht wieder in das Himmelreich; aber der Thee half Nichts,
denn die unbeschreibliche Sehnsucht, die mich damals erfaßt hatte, ist
heute noch nicht von mir gewichen.
Wie doch das Schicksal waltet! Es ist noch nicht zehn Jahre,
seit Heinrich Liebau diese Erzählung aus seinem Leben niederschrieb.
Er war damals noch ein frischer Student, und wir liebten uns so
recht von ganzem Herzen. Sein Bild steht noch so wahr, so lebhaft
vor mir, daß mir immer noch ist, als schauten seine dunkeln, sehn¬
süchtig glühenden Augen tief in das Innerste meiner Seele. O wie
schwärmerisch begeistert war er, wenn wir davon sprachen, wie wir
mit einander Italien durchwandern und in seinen Wonnen schwelgen
wollten! Wir waren nur kurze Zeit beisammen, da trennten sich un¬
sere Wege, aber die Herzen schlugen immer wärmer für einander.
Einmal sagte er mir in einem Briefe kurz: Ich muß in die Welt;
wenn Du diesen Brief erhältst, bin ich auf dem Ocean. Wo ich
mich aufhalte, erfährst Du nicht eher, bis ich gefunden habe, was
ich suche. Lebe wohl!
Es sind viele Jahre verflossen, ich habe Nichts wieder von ihm
gehört. Vielleicht hat er auf einer schattigen Insel im stillen Ocean
gefunden, was er sucht; vielleicht hat er die Sehnsucht verlernt und
schläft ruhig in einer kühlen Wohnung unter wehenden Palmen und
Eypressen. Mir ist noch nicht so wohl geworden, und ich wünsche
mir auch die Ruhe nicht, denn nur im Kampf ist Leben und Lebens-
glück.
Dieser Lieutenant, den Sie nun persönlich kennen, hub die Frau
Postocommandantin an, hat mir anfangs den Hof gemacht, und ich
gestehe Ihnen, ich habe an ihm viel Vergnügen gefunden. Er spricht
mehrere Sprachen und ist immer gut aufgelegt,—voll Schelmerei und
guter Einfälle. Mein Pauli selbst hat ihn anfangs recht gut leiden
können, obschon er nicht immer, wie die anderen Offiziere, mit gro¬
ßer Achtung mit ihm zu sprechen pflegte. Das wäre noch hin¬
gegangen; allein dieser Lieutenant hat sich in kurzer Zeit angemaßt,
in unser Commando einzugreifen. Mein Pauli, wie Sie wissen, ist
schwach und gut, und hat sich mehrere Eingriffe in seine Rechte von
ihm gefallen lassen, und ich schwieg auch dazu; weil ich immer glaubte,
daß der Lieutenant es auf ein ernsteres Verhältniß zwischen uns bei¬
den abgesehen hatte. Ich habe mich jedoch sehr in ihm getäuscht.
Während er mir scheinbar den Hof machte, stattete ihm eine Muni-
tionärstochter täglich Visiten ab, und ich erfuhr durch seinen Privat¬
diener, daß diese Person, die zwar jung und hübsch ist, seine ganze
Neigung gewonnen hatte. Sie können sich leicht denken, daß mir
diese Nachricht nicht gleichgiltig bleiben konnte. Ich habe mir vor¬
genommen, mich an ihm zu rächen und heuchelte gegen ihn durch
verschiedene geheime Mittheilungen eine unbegrenzte Freundschaft und
Wohlwollen; aber im Geheimen suchte ich auszuspähen, ob ihm nicht
auf der einen oder anderen Seite beizukommen wäre. Sein Privat¬
diener hat mir Manches mitgetheilt, was ich und mein Pauli früher
nicht gewußt hatten, obschon wir noch vor seiner Ankunft nebst sei¬
ner Eonduitenliste und Nationale auch eine Warnung und eine um¬
ständliche Beschreibung dieses merkwürdigen Subjects von seinrm
früheren Commandanten erhielten. Er schrieb uns, wie Sie selbst
hier lesen können, Folgendes: „Der Lieutenant, der auf dem Hin¬
marsche sich befindet, ist ein äußerst brauchbarer Mensch, — er ist
sehr belesen, im Dienste pünktlich und eifrig, in der Gesellschaft sehr
angenehm, beredsam; aber er ist ein sehr gefährlicher Mensch. Er
ist mit seinen Untergebenen nicht gemein, aber er übt gegen sie eine
gewisse Toleranz aus, daß sie ihm Alle nach und nach geneigt wer¬
den und alle ihre übrigen Vorgesetzten zu hassen anfangen. Er ist
oft sehr streng gegen seine Untergebenen, aber diese Strenge ist im¬
mer so politisch angebracht, daß alle Uebrigen den Betreffenden darum
nur hassen und ihn noch mehr lieben. Alle freuen sich, wenn sie
unter seinem Commando irgend eine Arbeit oder einen Dienst ver¬
richten müssen; denn er unterhält sie mit seinen Scherzen, weiß ihre
Ambition zu spornen, und was ein anderer Offizier mit all seinem
Ernste, Eifer, Schelten und Fluchen in einem Tage nicht verrichtet,
das verrichtet er spielend, lachend, scherzend in zwei Stunden unter
Singen und mit einer solchen Accuratesse, daß auch sein größter
Feind nicht das Mindeste auszustellen im Stande wäre. Er pflegt
nicht, wie andere Offiziere, selbst Alles anzuordnen, sondern er be¬
fragt gewöhnlich seine Untergebenen, — wie werden wir dieses oder
jenes machen? — Schlägt ihm Einer einen Plan vor, der ihm der
beste zu sein scheint, und treten ihm die anderen bei, dann sagt er
gewöhnlich zu dem Proponenten: Gut, so machen nur es und Er
wird das Ganze leiten! Dann sieht er ganz gleichgültig zu, — die
Kanoniere singen oder erzählen allerlei lustige Stückchen, und er —
statt selbe abzumahnen und sich solche Freiheiten, die seine Offiziers-
charge nur herabwürdigen, zu verbieten, — lacht und singt mit.
Wenn auch auf diese Art die ihm übertragenen Arbeiten, Verrichtun¬
gen und Manipulationen erstaunungswürdig schnell und präcise aus¬
geführt werden, - so leidet doch das Ansehen des Offiziers und
die Disciplin darunter; denn ein Anderer, der sich streng nach Vor¬
schrift und Reglement hält, kann 5ann mit der verwöhnten Mann¬
schaft, bei aller Energie, Nichts ausrichten, muß Strafen eintreten
lassen und zieht sich unschuldigerweise noch Vorwürfe von seinen
Vorgesetzten zu. Z. B. Einem scheint die Arbeit zu schwer, oder er
ist zu faul, so treibt er ihn nicht zur Arbeit ein, oder schickt ihn in
Arrest. Nein! er Muß auf der Stelle nach Hause gehen und sich
krank melden, und wenn er es nicht thut, dann wird er erst gestraft
wegen Faulheit, wegen Raisonniren und derlei Anschuldigungen. Die
Uebrigen lachen ihn dann aus, — er ist längere Zeit dem Spotte
preisgegeben, — und seine Kameraden, weit entfernt, darüber böse
zu sein, daß sie für einen solchen Faullenzer arbeiten müssen, vor-
doppeln ihre Kräfte, um ähnlicher Schmach zu entgehen. — Solche
Beispiele bizarrer Art könnte ich Ihnen Hunderte für eins erzählen!
Man kann ihm nicht beikommen, aber darum kann ihm kein Kame¬
rad gewogen sein, und wenn dieses Benehmen, oder diese Hand¬
lungsweise einem Commandanten gleichgiltig sein müßte, so muß er
doch dagegen arbeiten, weil dadurch die Mannschaft verdorben, die
Offiziere >unter 'einander entzweit und gewissermaßen Parteien gebil¬
det werden, die ein Commandant durchaus nicht leiden darf.
„Anderer Seits ist dieser Lieutenant gegen seine Vorgesetzten äu¬
ßerst artig keck und weiß seine Worte so zu stellen, daß man seine
Keckheiten wegen der eingehüllten Artigkeiten durchaus nicht zurück¬
weisen kann, und man daher immer am besten thut, -wenn man seine
Gesellschaft fo viel als möglich meidet, um diesen Verlegenheiten aus¬
zuweichen. Er lobt Einen tadelnd und tadelt Einen lobend, und mit
einer solchen kunstreichen Mimik, daß kein Mensch unterscheiden kann,
ob es Dummheit oder Bosheit sei. Weh aber einem Vorgesetzten,
wenn er seine Schwächen ausspäht, oder ihn wohl gar bei einem
Unrecht ertappt, dann kennt er keine Schranken! Ihm gilt dann kein
Reglement, kein Gesetz, keine Autorität, kein Vorgesetzter, — er spricht
dann ganz parallel-insolent! Er schert sich dann um keinen Men¬
schen, um seine Charge gar nicht, — er trägt, wie er sagt, sein
Quittirungsgesuch immer im Sacke, und Letzteres ist auch wahr.
„Bei dem letzten Affront, den er mit dem Haupunann Kregler
in Brescia gehabt hat, hatte er seine Frechheit so weit getrieben,
daß er sogar sein Quittinmasgesuch, und wie er sich ausdrückte: ,.dn6
goldene Verhungenmgspatent" hervorzog und mir und dem demander
Hauptmann in's Gesicht sagte: Ich kann in sechs Sprachen Unter¬
richt ertheilen, kann singen und geigen, was Sie Beide nicht wissen,
Ich brauche meine LientenantScharge nicht!--
„Es ist wahr, damals hatte dieser Lieutenant vollkoimnen Recht,
aus seinen Hauptmann aufgebracht zu sein. Er hatte ihm nämlich
einen Diebstahlsverdacht aufgebürdet, von dem sich jedoch «der
Lieutenant durch ein halbes Wunder mittelst der Entdeckung des
Diebes und durch das. Auffinden des Gestohlenen gereinigt hatte.
Ich zeigte ihn deshalb bei der hohen Garnisonsartillerie-Djrection
an; aber nachdem diese Geschichte sich zu Gunsten dieses' Lieute¬
nants geendigt hatte, so ist von dieser hohen Stelle gar Nichts- dar¬
über erfolgt.
„Sie werden finden, daß er gleich nach seiner Ankunft irgend
eine Bekanntschaft anknüpfen wird, wo er die heftigsten politischen
Journale zu lesen bekommt, als: „Allgem. Zeitung, Gazetta ti Mi-
lano u. s. w." und sein Kopf ist daher ganz voll von solchen dum¬
men Raisonnements, die diese aufrührerischen Journale liefern. — Bei
der triumphirenden Reise unsers Allergnädigsten Monarchen zur Krö¬
nung nach Mailand, äußerte sich dieser Mensch, als von den Fati-
guen dieser Reise unseres guten Kaisers die Rede war: Ich habe
mehr ausgestanden durch das Lesen der ekelhaften Lobhudeleien, mit
welchen die schamlosen Zeitungsschreiber in dieser Zeit unseren wirklich
guten Monarchen beschimpften, — als der Kaiser während feiner
ganzen Reise bei allen seinen Fatiguen und Nahrungssorgen erlitten
hatte. — Wenn ich Kaiser wäre, ich würde die österreichische
Preßfreiheit ganz aufheben, und diese elenden Wichte, die
durch ihre übertriebene lächerliche Vergötterung unsere Herrscherfamilie,
die wegen ihrer Gutherzigkeit, ihrer altsgezeichneten Bildung und ihrer
Privattugend nicht nur in Oesterreich, sondern in der ganzen Welt hoch¬
geschätzt wird — herabsetzen, — diese elenden Wichte würde ich ent¬
weder beim Hals mittelst des Stranges aufhängen, oder nach der
österreichischen Milde und System — gut Pensioniren lassen.
„Ich habe diese Aeußerungen meiner Pflicht gemäß höheren Orts
denuncirt, und ich hoffe, daß dieser Mensch baldmöglichst wird un¬
schädlich gemacht werden. Sie werden wahrscheinlich auch beauftragt
werden, ihn zu surveilliren, und sollten Sie diesen Austrag nicht, er-
halten, so ist es Ihre Pflicht, zufolge meiner intimen Mittheilung auch
ohne diesen Auftrag ihn sorgfältig zu beobachten und Ihr Amt als
Vorgesetzter gewissenhaft zu handhaben.
„Dieser Mensch hat auch keine Religion! —'Wenn er die Mann¬
schaft in die Kirche führt, so blieb er nicht in der Messe, sondern er
ging während dieser Zeit in daS gegenüberstehende Kaffeehaus, dessen
Jlchaber ein lutherischer Schweizer-'ist, und mit dem er ein intimer
Freund war. Bei ihm kehren Juden mit katholischen Geistlichen ein,
— ihm gilt Jeder gleich, und als ich ihn hierüber reprimandirte,
gab er mir zur Antwort: Christus war ein Jude!------
„nebstbei ist dieser Lieutenant im höchsten Grade verschuldet!
Er hatte früher sehr lucröse Anstellungen und ist, ohne ein Debaucheur
zu sein, blos aus Schwäche, Leichtgläubigkeit, zu großer Freigebigkeit,
Gastfreundschaft, aus Bravour-Wohlthätigkeit, und aus leichtsinnigem
Bürgschaftleisten, — aus übermüthigem Borgen und endlich aus
einem unbegreiflichen Credit — in seinen derangirten Zustand gera¬
then. In diesem Zustande müssen Sie ihn zu erhalten suchen;
denn ein Mensch, der kein Geld hat und obendrein Schulden,
den kann man unschädlich machen,' wie man will, und wenn
Sie den Plan verfolgen, den ich entworfen und zur Ausführung ge¬
bracht hätte, wenn dieser Lieutenant unter meinem Kommando ge¬
blieben wäre, — so müßte er cassirt oder bei aller seiner Gescheidt-
heit doch wenigstens pensionirt werden. Dahin^müssen Sie daher
wirken, — bringen Sie ihn bei seiner anerkannten, vielseitigen Bil¬
dung, Brauchbarkeit, — seiner conservirten Lebensfrische dahin, daß er
pensionirt werde, so ist er dann für immer verloren und für die
gute Sache unschädlich. Dann werden ihm alle seine Freunde ab¬
fallen, und er müßte dann die Beredsamkeit eines Demosthenes und
eines Cicero besitzen, um auch den Nicht-Militärs zu erweisen, daß
er nicht selbst seinen politischen Mord verschuldet habe. —
„Ich habe ihn so viel als möglich decreditirt und seinen Kame-
raden bei ihrem heiligen Ehrenworte zur Pflicht gemacht, ihm nie
aus Verlegenheiten zu helfen, und mein Plan ist mir herrlich ge¬
glückt. Seine Kameraden, die sein Uebergewicht fühlten, folgten mei¬
nem Rathe, und das Civile schreckte ich durch seine Insolvenz ab.
Er mußte daher zu Wucherern, und von allen Seiten gedrängt, zu
verzweifelten Mitteln, die er verabscheute, seine Zuflucht nehmen. —
Auf diesen Point habe ich ihn bereits gebracht, und wenn Sie mei¬
nen Plan mit Klugheit verfolgen, so werden Sie einen dem Staate
gefährlichen Menschen vernichten, der in mancher Hinsicht vieles
Unheil stiften würde. — Sobald ein subaltern-Offizier den Wu¬
cherern preisgegeben und für keine Unterstützung von seinen Vorgesetz¬
ten zu hoffen, von Seiten seiner Kameraden keine Hilfe zu erlangen
und er überall dccreditirt ist, dann ist er auch unwiederbringlich verlo¬
ren. Man kann ihm dann Alles als Fehler anrechnen! Jeder Ver¬
such sein Gemüth zu erheitern, kann ihm dann ohne Gefahr als
Sünde angerechnet und hohem Orts angezeigt werden. — Spielt
er Whist eines Tages, — ist er ein Spieler! — Geht er alle Tage
in's Wirthshaus, — ein D^baucheur! — Trifft man ihn einmal
gut aufgelegt, — ein Trinker! — Begegnet man ihm mit einem
Mädchen, — ein ausschweifender Mensch! u. s. w. und Alles die¬
ses mit Recht; denn woher kämen seine Schulden? Er wird hier¬
über nicht gefragt, es geschieht ja Alles amtlich und geheimnißvoll,
und sollte er wirklich seine Keckheit so weit treiben, einstens die vom k. k.
Hofkriegsrathe erlassene wohlmeinende Verordnung: „daß jedem Offizier
dessen Fehler bei Verfassung der Conduitenliste vorgelesen werden
sollen," zu seinem Vortheil zu citiren, so kann man ja auf vielfache
Art sich dieserhalb verwahren. Erstens man kann gesprächsweise ihm
sagen: Herr Lieutenant, gestern waren Sie recht lustig, — Sie ha¬
ben sich prächtig mit dem Mädchen oder mit der Karte unterhalten!
Zweitens, man kann ihm beim Rapport, oder bei einer andern Gele¬
genheit gutmüthig und lächelnd sagen: Sie haben heute einen Schnaps
getrunken! Dieses kann er bei einer dienstlichen Aufforderung nachher
nicht läugnen. mithin ist er gewarnt worden und die hofkriegSräth
liebe Verordnung wurde gewissenhaft erfüllt. —
„Trachten Sie, lieber Freund, auch seinen Burschen zu gewinnen,
ohne sich Preis zu geben, damit Sie ihn wo möglich auf frischer
That in seinen Verlegenheiten ertappen, und ich stehe Ihnen gut
dafür, Sie werden ihn loswerden, — loswerden zu Ihrem Besten,
denn er ist Feind, ein außerordentlicher Feind aller Concubinate!"
Nachdem ich diesen Uriasbrief unter schwermüthigen und schmerz¬
vollen Betrachtungen, die ich nicht laut äußern durfte, der verdienst¬
vollen pensionirten Frau Lieutenantin und Posto-Commandantin
zurückgestellt hatte, fuhr sie in ihrer Erzählung fort: Sem Bursche ist,
unter uns gesagt, ein niederträchtiger Mensch? Wenn, es nicht die¬
ser Lieutenant wäre, den ich von ganzem Herzen hasse, so würde ich
diesen Menschen in die Gasse bringen! — Ich habe ihn bereits so
weit gewonnen, daß er nicht nur Alles erzählt, waS sein Herr thut
und macht, — wer zu ihm kommt u. s. w., sondern er bringt uns
auch alle Tage getreulich, wenn der Lieutenant ausgeht, alle Briefe,
die er empfängt und schreibt, und alle Bücher, die er liest. Das
Hören und Sehen vergeht Einem« oft, was man da erfährt!
Sie haben gar keinen Begriff, wie er mich und meinen Pauli schildert!
— Aber das wäre Alles Nichts gegen das, was er liest.! — Da
gibt's bald italienische, bald französische Bücher, die, wenn man sie
nnr aufmacht, nach Revolution riechen, und mein Pauli, der zwar
keine dieser Sprachen versteht, hätte schon aus Voreiligkeit und aus
Zorn mehrere dieser Bücher verbrannt, wenn ich ihn nicht abgehal¬
ten hätte. Das Wort „Mord" (mort) stand in einem dieser Bücher
auf jedem Blatte und das Wort „Revolution" fast in jeder Zeile.
Die deutschen Bücher, die er liest, sind meistens nur Übersetzungen
aus dem Englischen und Französischen, (und stellen Sie sich vor)
auch aus dem Türkischen. — Da betrachten Sie, sprach die Frau
Posto-Commandantin, indem sie mir ein Buch reichte, was dieser
Mensch zusammenliest! — Es waren Uoung's Nachtgedanken im
Englischen! — Eure Gnaden, sagte ich, schreiben Sie den Titel
dieses Buches genau ab, und der Herr Hauptmann kann dieses an¬
zeigen, und dem Lieutenant muß das Genicke gebrochen werden, denn
.es ist ein fürchterliches Buch! — Die Frau Posto-Commandantin
lachte über diese Zusicherung mit einer solchen verächtlichen Schaden¬
freude, daß ich zum ersten Male die mir angebotene Mariage-Partie
unter einem Vorwande auszuschlagen wagte, und sie vielmehr bat,
in ihrer Erzählung fortzufahren. — Der Privatdiener deS Lieute¬
nants, fuhr die Frau Posto-Commandantin mit einem unterdrückten
Zorn fort, hat schon in Mantua über seinen Herrn, einen Haupt¬
mann, der mit ihm im Arsenale logirte, referirt. Dieser Hauptmann,
nach der Aussage des Burschen, hat sich des ganzen Vertrauens
dieses Lieutenants bemächtiget, und der Letztere war so dumm, daß
er isogar seine Geliebte mit ihm theilte. Sobald aber der Lieutenant
ausging, da avisirte den Hauptmann der Bursche, und dieser visitirte
alle seine Papiere. Auf diese Art machen wir es jetzt! Ich und
inoiu Pauli sind beständig von allen Angelegenheiten des Lieutenants
genau unterrichtet, und 'ich hoffe, daß es uns gelingen wird, diesen
. Menschen los zu werden. Ich habe mit Ihrem Herrn schon darüber
gesprochen, er will aber noch nicht recht anbeißen! Mit Gottes
Hilfe, antwortete ich, wird eS Euer Gnaden wohl gelingen, diesen
Menen los u werden.
Unterricht, Batteriebau, Geschützplaciren und Dienste und Crercier-
Reglemcnt u. s. w. gut kann, so weiß er genug! Ich bin eine Zeit
lang hingegangen, aber da hat mich so ein dummes Geschwätz ein--
mal vertrieben. — Ein naseweiser Lieutenant hat mit einem an»
dem Offizier vom Kaiser-Jägerregiment discurirt, und ich hörte
mehrmal: „Schiller und Don Carlos." Da sagte ich: Meine Her¬
ren, Sie irren sich, wir haben wohl mehrere Schiller in der Armee,
aber wir haben keinen Don Carlos, sondern Don Miguel und Don
Pedro, — und ich kenne selbst einen Schiller, der mit mir Feuer¬
werker im Bombardier-Corps war. Da lachten mich diese jungen
Lassen aus, und ich erfuhr hernach von meinen Kameraden, daß sie
einen talketen Romanschreiber gemeint haben. Seit dieser Zeit bin
ich ausgeblieben und bin eine Zeitlang zum Hirschen in die Koth-
lake gegangen, wo eine recht hübsche Kellnerin war.
ausgestochen lind bin dann zweimal von meinem Schimmel herunter¬
gepurzelt. — Waren Herr Oberstwachtmeister auf dem Gebhardsberg,
wo man den Bodensee, viele Städte, den Rhein und das ganze
Vorarlberg sehen kann?
mein Stammhäusel haben. In Wien war ich täglich im Domini<
canerkeller, in Brünn bei den drei Juden, in Ollmütz beim Goliath,
in Prag auf der Kleinseiten beim Jäger, in Grätz beim Sandwirth,
in Pesth beim weißen Schiff, in Peterwardein beim weißen Ochsen,
in Verona im Husarenkellcr, in Mantua bei der Faschin auf dem
Paoloplatz, oder beim Pudel, —in Brescia bei der Lucietta, und in
Mailand beim steinernen Tisch. —
den österreichischen Leopoldsorden zu verleihen geruhet. Was braucht
denn jeder Mensch zu wissen, warum? Ist es denn nothwendig, daß
Jedermann weiß, wie der neue Baron dem Staate durch Armeeliefe¬
rungen Millionen erspart, wie viel der neubeförderte Hofrath sein
Leben Bogen verschmiert, und daß der creirte Ordensritter einen ei¬
genhändigen Brief bei einem fremden Hofe übergeben und dabei noch
mündliche Empfehlungen und Grüße ausgerichtet hat. — Ebenso
kann der Papst sich die Freude machen, Heilige zu ernennen, und
unsere Pflicht und Schuldigkeit ist, selbe anzubeten.
Wie zu erwarten war, hat der König der im Laufe dieser
Woche von seiner am 26. Juli angetretenen Reise zurückkehrte, die
ihm von Seiten der Comunalbehörden zugedacht gewesenen Empfangs¬
feierlichkeiten, bei welchen auch unter dem Portale, in welchem das
beklagenswerthe Attentat vom 26. Juli geschehen, einige Lieder ab¬
gesungen werden sollten, entschieden abgelehnt. Der Monarch ist viel¬
mehr von dem einen Eiscnbahnhofe nach dem andern gefahren, ohne
sich durch die verschiedenen Deputationen, die sich auf dem erstem
versammelt hatten, aufhalten zu lassen. Eben so machte er es in
Potsdam, wo ihn die Eommune ebenfalls mit ihrer dienstfertigen
Freude bestürmen wollte; er zog sich eilends nach seinem ländlichen
Palast in Sanssouci zurück, wo er mit Alexander von Humboldt
und einigen andern ihm nahestehenden Freunden die Stunden genoß,
die er der ceremoniösen Langweil eben abgerungen hatte. Indessen
wird ihm diese doch nicht ganz erlassen sein, denn wahrscheinlich wird
am 24. September, an welchem Tage der König mit der Königin
hier eintrifft, Alles nachgeholt werden.
Neben der GeWerbeausstellung ist nunmehr auch unsere Kunst¬
ausstellung eröffnet, über welche Ihnen wahrscheinlich Ihr martistischer
Correspondent besonders berichten wird. Ich bemerke daher für jetzt
nur, daß, da diesesmal wieder eine zweijährige Pause seit der letzten
Ausstellung stattgefunden, die Resultate auch wieder viel erfreulicher
sind, als sie bei den von Jahr zu Jahr auf einander folgenden Aus¬
stellungen waren, obwohl es diesesmal an Mittelmaßigem nicht fehlt.
Die Düsseldorfer Schule, die durch die Berliner Ausstellungen
ihren ersten Ruf begründet, hat sich ebenfalls wicver, ihren Director
Wilhelm Schadow an der Spitze, in voller Zahl eingestellt, doch ist
von dem berühmtesten Meister derselben, von C. F. Lessing, nur
eine Landschaft, und zwar eine „Flache, sumpfige, einsame Gegend
nach Sonnenuntergang" ausgestellt. Von den übrigen bekannteren
Meistern der Düsseldorfer Schule hat Theodor Hildebrandt einen
Dogen und seine Tochter, Karl Sohn eine Dame mit dem Spie¬
gel, Hermann Stille einen Kaiser Heinrich ni., Adolph
Schröder einen Till Eulenspiegel, I. W. Schirmer ein deutsches
Abendbild mit mehreren anderen Landschaften, Rudolf Jordan
Genrebilder von Friesland, Holland und der Normandie, I. P. Ha¬
senclever Nheinweinprobirer und Damenbrettspieler, zwei treffliche
Charakterbilder, Eduard Wende manu (jetzt in Dresden) das
Bildniß eines Knaben und Julius Hühner ebenfalls, jetzt in
Dresden, eine Melusine geliefert. Unter den hiesigen Professoren hat
sich diesesmal auf ganz unerwartete Weife Karl Kolbe ausgezeich¬
net, der, obwohl nicht mehr ganz jung, sich an neue großartige Ent¬
würfe gemacht und einen Kaiser Karl V. aus der Flucht, sowie einen
Ezzelino ti Romano geliefert hat, welche die Aufmerksamkeit der
Kunstfreunde auf sich ziehen. Von Begas sind wieder einige wahr¬
haft ausgezeichnete Porträts — namentlich von Schelling und Karl
Ritter — sowie ein Christus, der die Mühseligen und Beladenen
zu sich ruft, ausgestellt. Wach hat eine große Composttion, der
heilige Otto und die ersten Christenkinder in Pommern, Hensel
einen Kaiser Wenzel und den jungen Prinzen von Wales, Völker
wieder eine treffliche Auswahl von Frucht- und Blumenstücken und
W. Krause eine Anzahl wohlgelungener Mariner geliefert. Im
Ganzen sind die kirchlichen Gegenstande weniger vorherrschend, als
sonst; nur Wilhelm Schadow in Düsseldorf hat in gewohnter
katholischer Weise wieder einige durch Zeichnung und Colorit gleich
anziehende Composttionen eingesandt. Dagegen ist politische Male¬
rei mit einigen sehr gelungenen Versuchen aufgetreten, wir zählen
dazu die schlesischen Weber von Karl Hübner, die beiden trefflichen
Gruppen polnischer Auswanderer von Elisabeth Baumann aus
Warschau in Düsseldorf, sowie die ägyptischen Lager- und Veduinen-
bilder von H. Kretzschmar. Das Ausland ist durch einige Meister
aus Frankreich (Horace Vernet, Lepoittevin, Ar» Scheffer, Bel-
lang6, Mozin :c.), Belgien (de Biefve, Franz Cautaerts -c.)/
Holland (Koekkoek, van Scherbet), die Schweiz (Aurel Robert), -
und Rußland (Hendel, der für die Kaiserin von Rußland die drei
Männer im feurigen Ofen gemalt) vertreten. Die aus Italien
zahlreich eingegangenen Sachen führen wir hier nicht auf, da sie M
sämmtlich von Deutschen herrühren, doch gehört eines derselben, eine
neapolitanische Fischersamilie von A. Riedel aus Baireuth in Rom
zu den Perlen der Ausstellung. Aus dieser flüchtigen Uebersicht wer¬
den Sie entnehmen, wie reich diesmal unsere Kunst-Ausstellung be¬
dacht ist. Im Ganzen sind 1Z35 Gemälde und Zeichnungen (unge¬
rechnet die vielen unter Einer Nummer befindlichen Porträts) hun¬
dertsechzig plastische Bildwerke, dreiundzwanzig der Architectur ange¬
hörende Arbeiten, zweihundertzweiundvierzig Kupferstiche, Holzschnitte
und Steinbrücke, und achtundzwanzig Werke der Kunst-Industrie aus¬
gestellt. Unter den Bildwerken befinden sich Meisterarbeiten von
Rauch, Wichmann und Schwanthaler und einige treffliche plastische
Arbeiten, die für das neuerstehende Opernhaus bestimmt sind.
"
Morgen endlich geht die „letzte weiße Rose von dem Redacteur
dieser Blätter in Scene. Wir wollen hoffen, daß es diesem Drama
nicht so ergehen werde, wie dem Prutz'schen „Moritz von Sachsen",
der nach der mit Beifall aufgenommenen ersten Aufführung dazu ver¬
urtheilt wurde, keine zweite zu finden. Glücklicherweise ist jedoch der
Verfasser der „letzten weißen Rose" nicht hier anwesend, so daß er
nicht in die Versuchung kommen kann, falls er hervorgerufen würde,
Dankesworte zu sprechen, die ihm so übel ausgelegt würden wie dem
politischen Liederdichter Prutz, von welchem übrigens — beiläufig be¬
merkt - ' ein Conterfei auf der Ausstellung sich befindet.
Nicht ohne einige Verwunderung hat man hier die Gratulations-
Adresse gelesen, welche die Breslauer Universität an ihre Königsberger
College,, bei Gelegenheit der Jubelfeier der Albertina erlassen hat. Es
ist in der That keine kleine Eoquctterie, wenn sich die junge Bres-
lauerin der alten Königsbergerin an Ruf und Freisinn an die Seite
stellt. Namentlich was den letztern betrifft, brauchen wir nur an
die Art und Weise zu erinnern, mit der man Hoffmann von Fallers-
leben in Breslau fallen ließ, um den Unterschied zu bezeichnen, der
zwischen dem Geiste der einen Hochschule und dem der andern be¬
steht. Auch würde es, um ein anderes Beispiel anzuführen, der Kö¬
nigsbergerin gewiß nie in den Sinn kommen, wie es die Brcslauerin
vor einigen Jahren gethan, für ihre philosophische Facultät ein Sta¬
tut zu entwerfen, wornach keinem Juden der Grad eines Doctors
der Philosophie ertheilt werden darf. !5x un^no Je-um-in!
Schlesien wird von den patriotischen Hvperbolikern die Perle in
der Krone Preußens genannt. Diese stereotype Phrase erhält immer
mehr einen ironischen Beigeschmack. Nirgends kann das Elend grö¬
ßer sein, als bei uns. Ich bin in den Hütten polnischer Bauern ge¬
wesen und sah, wie die Menschen mit den Schweinen in schmutziger
Friedlichkeit zusammenwohnten und aßen. Sie waren glücklich, denn
sie kannten's nicht anders. Die schlesische Armuth hat bessere Tage
hinter sich, und in der Zukunft droht ihr der Hungertod. Zwischen
der Erinnerung an die Vergangenheit und der Furcht vor dem künf¬
tigen Tage sitzt sie im öden, trostlosen Mißmuth und webt ihr eige¬
nes Leichenhemde. Der Rcgierungsasscssor A. Schmer hat auf Kosten
des hiesigen Comites zur Linderung der Noth unter den Gebirgsbe¬
wohnern fünf Wochen lang Pauvertätsstudien gemacht, und in einem
Berichte das, was er mit eigenen Augen gesehen, getreulich erzählt.
Eine Haarsträubende Lectüre! Schmeer ist Salonmcnsch und Regie¬
rungsbeamter. Man kann sich denken, wie beredt der Thatbestand
gesprochen, wenn solch ein Historiograph ihm gegenüber zu dem Ge¬
ständnis) der sprachlichen Unfähigkeit gezwungen wird. Es ist Zeit,
daß die Pfingsten kommen und uns neue Sprachen lehren. Vorerst
aber Phrasen, wie die vom Perlen-Schlesien, ausgerottet! An solchem
Wortreichthum ißt sich Keiner satt. Und dann nehmt uns das Schloß
vom Munde, daß wir zu stammeln versuchen können, ehe der Tag
kommt, wo die neue Grammatik sich mit Keulenschlägen anmeldet.
In einem Dorfe der Grafschaft Glatz haben die Bauern der Grund-
Herrschaft die Handfrohndienste aufgesagt. Die Widerspenstigen sitzen
bereits im Kreisarrest zu Habelschwerdt. Die kleinen Eigenthümer in
Schlesien befinden sich zu ihren Grundherren in demselben Verhältniß,
wie die Weber und Spinner zu den Fabrikanten. Das arme Volk
arbeitet, und die Reichen haben den Lohn dafür. Wir trösten uns
damit, daß der liebe Gott und Duncker uns nicht verlassen werden.
Letzterer hat sich in Langenbielau zur Freude aller Berliner Spitzbu¬
ben häuslich niedergelassen und soll bereits eine Agentur seines haupt¬
städtischen Geschäfts eingerichtet haben. Auf das Soll bitte ich ei¬
nen Accent zu legen, denn ich schreibe blos, was man sich hier in
Breslau überall in die Ohren raunt. Wir gehen somit einer schönen
Zukunft entgegen. Findet doch jetzt schon die Allgemeine Preußische
Zeitung Manches bei uns, was zu loben ist, wie z. B. die Gedichte
zweier Lebendigen, die vor Kurzem in Breslau erschienen sind. Sie
meint, es gebe eine gewisse Sorte politischer Dichter, welche durch
polizeiliches Einschreiten am besten widerlegt werden könnten. Trotzdem
hatten die beiden Lebendigen nicht ein Uebriges gethan, daß sie den
Herwegh, Gottschall und Dingelstedt (!) ein Bischen mit Ruthenstrei-
chen regalirt. Eine vortreffliche Kritik dieser Awei-Männer-Gedichte.
Jede Zeile in letzteren tragt in der That die polizeiliche Uniform, aus
jedem Worte schauen Büttel und Haltfeste hervor. — R. Gottschall,
dessen Freunde Sie neulich durch Abdruck einiger Scenen aus seinem
Robespierre erfreuten, hält sich gegenwärtig bei dem Grafen Reichen¬
bach in Waltorf bei Neisse auf. Letzterer, ein wackerer, politisch streb¬
samer Mann, wird das genannte Drama seines Gastfreundes auf ei¬
gene Kosten herausgeben. Unser Censor streicht schon drei Wochen
lang im Manuscripte herum. Hat wohl Robespierre geahnt, daß ihn
nach fast einem halben Säculum noch die Censur verstümmeln würde?
Unsere Universität hat in der jüngsten Zeit wieder von sich
reden gemacht und zwar wegen der freisinnigen Adresse, wo¬
mit der Professor Haase - im Namen seiner College» der Al¬
bertina gratulirte. Unter achtzig Männern spricht einer ein
Wort, wie es gesprochen werden sott, und die Welt schlagt lauten
Jubel auf! Was folgt hieraus wohl für die neunundsiebzig? Die
Zeitungsschreiber übersetzten die lateinische Adresse in's Deutsche, der
Censor strich's. Die Zeitungsschreiber wollten das Original abdrucken
lassen, der Censor strich's. Wohl Dir, Tacitus, daß Du Deine
Werke vor zwei Jahrtausenden geschrieben, wo es noch keine Censur-
instructionen, geheime Ordres und streichlustige Schönfelde gab. —
Sämmtliche Studirende der katholischen Theologie haben sich zu einer
Zeit, wo die Collectivpetitionen noch nicht verboten waren, an den
Minister Eichhorn gewandt und um Besetzung der vacanten Lehr¬
stühle ihrer Facultät gebeten. Doch nein, sie haben die' Petition
dem Regierungsbevollmächtigter zur Weiterbeförderung übergeben. Der¬
selbe ist darüber sehr erfreut gewesen und hat nur gewünscht, die
Herren möchten, der Form zu genügen, das Bittschreiben- durch die
Facultät an ihn gelangen lassen. Es geschieht; aber seit jener Zeit
hat man nie wieder von de5 Petition gehört. Sie soll nach der Aus¬
sage sehr glaubwürdiger Männer über das Weichbild der Stadt nicht
hinausgekommen sein. Die katholischen Theologen betragen beinahe
ein Dritttheil sämmtlicher Studirenden und haben nur drei Profes¬
soren. Encyklopädie der theologischen Wissenschaften und Dogmen-
geschichte sind noch niemals hier gelehrt worden. Pastorat, Katechetik,
Moral, theologisches und kanonisches Kirchenrecht ist seit Jahren va-
cant. Gerechtigkeit gegen Alle! — warum diese stiefmütterliche Be¬
handlung? — Eine Eigenthümlichkeit der hiesigen katholisch-theolo¬
gischen Facultät lassen Sie mich noch erwähnen. Wenn es sonst die
mit einer akademischen Würde bekleideten Professoren sind, welche den
Geist der Studirenden überwachen und zum Gebrauch von Präven-
riv-Flanelljacken rathen, so ist es bei der hiesigen katholisch-theologi¬
schen Facultät umgekehrt der Fall. Die jungen Loyolas haben den
Maßstab der Rechtgläubigkeit in den Handen und legen ihn an jede
Aeußerung ihrer Lehrer an. Paßt nun was nicht recht zu ihrem
frommen Märchenglauben, so eilen sie alsbald auf den „Dom" und
verketzern die Männer bei dem hohen Tribunal. Also auch Druck
Unter den literarisch bekannten Personen, welche in Hamburg
leben, wird eine Dame von Rang gegenwartig viel genannt: Frau
von Nach eracht, die Tochter des russischen Gesandten, von Struve,
in Hamburg. Sie schreibt unter dem Namen Therese. Eine der
letzten Nummern der Jllustrirten Zeitung, brachte das wohl gelungene
Porträt dieser Schriftstellerin und eine Analyse ihres literarischen Cha¬
rakters. Diese Kritik ist so überschwänglich ausgefallen, daß man wohl
sieht, ihr Verfasser hat mit anderen Augen, als denen eines Kritikers,
geschaut. Zur Herstellung einer richtigeren Würdigung des literari¬
schen Charakters der Frau von Bacheracht dürften daher einige Worte
hier am geeigneten Platze sein. Ihr erstes Auftreten fällt in jene
Epoche des weiblichen Lebens, die sich, als der Uebergang aus der rei¬
feren Zugend in das nahende Alter, bei den Frauen sehr häufig durch
einen tieferen Ernst auszeichnet. Im Rückblick auf eine vielfach be¬
wegte Jugend, auf ein buntes Gemisch von glänzenden Erinnerungen,
die ihr das Leben in diplomatischen Kreisen, am Petersburger Hose
und an deutschen Höfen gab, gebannt in die Verhältnisse einer schlich¬
ten Bürgerstadt, die für ihren lebhaften, nach Abwechselung dürsten¬
den Geist zu poesielos erscheinen muß ; jung noch an Geist und Kör¬
per; im Verkehr endlich mit Schriftstellern und Schriftstellerinnen, lag
der Gedanke nahe, ihre Zeit ebenfalls mit poetischen Arbeiten auszu¬
füllen. Therese ließ sich von ihrem alten Freunde Strombeet in Braun¬
schweig in die literarische Welt einführen. Ihre „Briefe aus dem
Süden" waren mit einem Vorwort ihres literarischen Protectors be¬
gleitet, das sich ganz dazu eignete, die Aufmerksamkeit des Publicums
auf sie zu ziehen, aber auch zugleich die Schwächen und Mängel der
Verfasserin scharf bezeichnete. Strombeet sprach ihr ein gutes Judi-
cium ab und wollte überhaupt die Ansichten der Verfasserin in keiner
Weife vertreten. Aufgemuntert durch den Erfolg ihres ersten Buchs,
wandte sich Frau von Bacheracht entschieden der Literatur zu. Gutz-
kow's Bekanntschaft, die sie wahrend der Anwesenheit desselben in
Hamburg machte, konnte sie in diesem Entschluß nur bestärken. Gutz-
kow nahm die Stelle Strombeet's ein; nur in anderer Weise. Daß
das junge Deutschland selbst in der Kritik galant sein konnte, bewies
der Verfasser Wally's in seinen verschiedenen Besprechungen über die
literarische Bedeutsamkeit dieser Frau. Wie giltig Gutzkow's kritisches
Urtheil auch sonst sein mag, hier hat es sich doch offenbar irre leiten
lassen durch die Keckheit und das äußere polirte Wesen, mit welchem
Therese auftrat. Wenn diese in der illustrirten Zeitung neben Georges
Sand gestellt, ja sogar über dieselbe erhoben wird; wenn die Kölnische
Aeitung und andere Blätter sich in ähnlicher Weise aussprachen, so
muß man sich wundern, daß sich bis jetzt noch keine Stimme zur
Steuer der Wahrheit erhoben hat, welche jenem gedankenlosen Lob 'die
richtige Grenze setzte und vor der Ueberschätzung einer Classe von vor¬
nehmen Schriftstellerinnen warnte, die uns mit aufgewärmten fran¬
zösischen Emancipationsideen beglücken und sehr post lo8denn eine Art
weibliches junges Deutschland aufführen möchten. Eine Frau, die
sich von den socialen Banden, in welchen sie als Tochter eines rus¬
sischen Staatsbeamten, als Gattin eines russischen Diplomaten lebt,
nicht zu lösen vermag, will Emancipation und alle möglichen moder¬
nen Tendenzen predigen. Und das soll mehr als dilettantische Laune
und fashionable Coquetterie, das soll Beruf oder Genie sein? Wir
können es nicht billigen, wenn ein Steinmann (im Mephistopheles),
oder ein Hocker (in seinen saloppen Gedichten) diesen Charakter in
überspöttischer Weise besingen; aber es empört eben so sehr jedes recht¬
liche Gefühl, ihn als das baare Gegentheil von alle dem anpreisen zu
hören. Die redliche Kritik sollte dafür sorgen, daß unter dem äuße¬
ren Schein, unter dem chevaleresken Gepränge, keine neuen Thorhei¬
ten in die Mode gebracht werden. Therese lehnt sich anj cgliche Art
von hergebrachter Renommisterei leidenschaftlich an; die Gestalten in
ihren Romanen, ihren Novellen fröhnen alle ihrem „wühlenden" Ge¬
fühl, wie die Verfasserin sagt, und auf ein Dutzend gebrochener Her¬
zen kommt es ihr nicht an, kurz, sie ahmt an den modernen literari¬
schen Heroinnen fast nur das Unschöne und Aeußerliche nach. Therese
hat Beobachtungsgabe, sie erzählt einfach und gewandt; aber produc-
tiv ist sie nicht, in die geheimen Tiefen des menschlichen Herzens und
der Zustande der Gesellschaft einzudringen vermag sie nicht, am aller¬
wenigsten ist sie aber im Stande, die Erwartungen zu rechtfertigen,
welche ihre literarischen Freunde über sie in Umlauf setzen. Ohne
fremde Nachhilfe kann Therese nicht schreiben; Selbständiges ist nicht
an ihr; sie mit einer Georges Sand in eine Kategorie zu stellen, ist
eine Lächerlichkeit, die wie Satyre klingt. Therese schreibt nour l'lis-
t«;r le t<!»>i>s; von einer inneren Nothwendigkeit kann bei ihr nicht
die Rede sein.
— Die Grenzboten erwähnten neulich der Lehninischen Prophe¬
zeihung, die man auf das Attentat des Thebens deutet, begehen dabei
aber einen kleinen chronologischen Irrthum. Es heißt da nämlich:
obwohl jeder einigermaßen scharfsinnige Kritiker wohl die Zeit nach¬
weisen könnte, in welcher dieses Opus im neunzehnten Jahr¬
hundert fabricirt worden, so hat es doch bei der für dergleichen
mysteriöse Dinge empfänglichen Menge Eingang und Glauben gefun¬
den.— Der „scharfsinnige Kritiker" dürfte aber aus diese Nachweisung
Zeit und Mühe vergeblich verwenden; denn es gab bereits vor mehr
als hundert Jahren zahlreiche Drucke der genannten Prophezeihung.
Mir selbst sind drei davon bekannt; der eine findet sich in: „Euro¬
päischer Staatswahrsager: d. i. wundersame Prophezeihungen von den
vornehmsten Staaten Europas. Bremen, 1742. d."; ein anderer ist:
„Der wiedcrlebcnde Frater Herrmann von Lehnin nebst anderen Pro-
phezeihungen, lateinisch und deutsch. Frankfurt, 1745. 8."; der dritte
endlich: „Der neu vermehrte preußische Wahrsager, oder wundersame
Prophezeiungen von den Regenten des kurfürstlichen Hauses Bran¬
denburg ze. von Zoroaster, Engelland 1742. 4." Doch sind dies je¬
denfalls noch nicht die ältesten Drucke und die Abfassung dürfte frü¬
hestens an's Ende des siebenzehnten Jahrhunderts zu setzen sein. Diese
in Leoninischcn Versen (gereimten Hexametern) abgefaßte Prophezeihung
war übrigens in früherer Zeit vielfach verbreitet und von dem preu¬
ßischen Regentenhause gekannt und gefürchtet, daher auch verboten.
Diejenige Stelle, welche man auf das Tschechsche Attentat deutet,
lautet:
?im^em se«!Mil Mont, <j>n »lvmiiuUis. ultimus orit:
Isi-tel in^mtMi» «ni-Ius imclvt *) inortv nuuulum.
O'Connell's Schicksal ist eben so eigenthümlich, wie seine
Stellung. Während es Viele gibt, die seinen Charakter — wie je¬
des Agitators, der zu klug oder zu glücklich ist, um verbrannt oder
gekreuzigt oder gehängt zu werden — verdächtigen, wird er von Mil¬
lionen seines Volkes mit ausdauerndem Enthusiasmus angebetet;
während die Klugen im Lande seine politische Bedeutung sehr gering
anschlagen und nur aus allerhand, jedem politischen Helden nothwen¬
digen Nebenumständen ableiten wollen, zeigt sich doch leder seiner
Schritte, jede feiner kleinsten Bewegungen vom gewaltigsten Einfluß
auf das stolze England. Es ist wahr, ohne die geistliche Volksherr-
schaft in Irland, ohne den Parteicnstreit in England, ohne die Halb¬
heit der Whigs und ohne den innern Zwiespalt der Tories wäre Da¬
niel machtlos. Warum ist aber kein Anderer durch diese „ohnes'
mächtig geworden? Warum wußte nur er sich mit dem tiefsten, in-
dividuellsten Geiste seines Volkes so zu identificiren, daß er siegt, nicht
blos, weil er die Tugenden, sondern eben so sehr, weil er die Schwä¬
chen seiner Landsleute hat, und daß er dem halbzertretenen celtischen
Stamm die höchste Geltung errang, die ihm bis heute zu erringen
noch möglich gewesen? — Bei O'Eonnell'ö Verurtheilung haben die
nach dem augenblicklichen Erfolg Richtenden darüber triumphirt, daß
der schlaue Agitator sich doch verrechnet, und sich gewöhnt, durch die
scheinbar definitive Beseitigung des alten, Mannes seine eigentliche
Bedeutungslosigkeit zu beweisen. Man wird seine jetzige Freisprechung
einem blinden Ohngefähr, einer englischen Inconsequenz oder Pedan¬
terie zuschreiben; denn Niemand, und vielleicht er selbst nicht, hätte
sich träumen lassen, daß das Urtheil der irischen Jury vom Ober¬
hause werde umgestoßen werden. Es wird aber Andere geben, welche
das Urtheil der Lawlords whiggistischen Sympathien und politischen
Gründen, also mittelbar doch der Macht Daniel's und der Rücksicht
auf die etwaige Wirksamkeit des nach ^- Jahren doch Freizulassenden
zuschreiben werden, während das irische Volk seinem Führer die Paar
Monate Haft als ein volles Märtyrthum anrechnen wird. Wahr¬
scheinlich also wird Daniel jetzt doppelt mächtig dastehen. Der Jubel
eds Volkes in Dublin, als am 7. September der Alte aus dem Ge¬
fängniß geführt wurde, war awful, d. h. Respect einflößend, und wi¬
derhallte durch die ganze katholische Welt Europas. — Die Coblenzer
wollten ja sogar illuminiren.
— Die Nachwehen der Königsberger Universitäts - Jubelfeier be¬
standen: erstens in einigen Ordensverleihungen an Professoren, wobei
natürlich — denn das gehört immer dazu — der populärste und
freisinnigste Mann Königsbergs, Rosenkrantz ausgeschlossen blieb;
zweitens in einem Duell aus politischen Gründen zwischen einem Of¬
fizier und einem Referendarius, in welchem der Letztere erschossen wurde.
— Welches Unrecht man der preußischen Regierung that, wenn
man glaubte, sie wolle die Bildung eines deutschen Nationalvereins
in Berlin protegiren, hat sich jetzt endlich gezeigt. Das Obercensur¬
gericht hat entschieden, daß Firmenich's, Wöniger's und v. Holtzen-
dorff's Aufforderung zu jenem Verein in Berlin mit Recht nicht ge¬
druckt werden durste. Das hieß freilich einen Todten zum Tode verur-
theilen. Indeß kann das Urtheil immer noch vollzogen werden; eS gibt
ja eine Auferstehung der Todten.
— Liegt nicht eine seltsame Ironie darin, daß wir von den
Slaven immer zuerst auf unserer weltbekannten schwachen Seite, der
philologischen, angegriffen werden? Die Slaven berufen sich auf
unsere buchstabentreue Gründlichkeit und beweisen uns etymologisch,
daß wir selbst slavisch sind. Man lese nur den neuesten Bericht aus
Gratz in der Augsb. Allgemeinen. Dort heißt es wörtlich: „Als
nun der deutsche Freiherr Hammer-Purgstall sich für „Gratz" er¬
klärte" — diese Erklärung war allerdings schon eine halbe Undeutsch-
heit! — „und auf diese Autorität hin die oberste Behörde des deut¬
schen Herzogthums den Beschluß faßte, hinfort „Gratz" zur amtlichen
Benennung der Hauptstadt zu erheben, da kicherte ein freudiges Lä¬
cheln von einem Hauptsitz des Slavismus zum andern. Unmittelbar
darauf brachte die Wiener Zeitung bereitwilligst eine Abhandlung:
„Gratz, eine Colonie der Slaven!" worin durch das Zeugniß Schaf-
farik's bewiesen wurde, nicht nur der Name der Hauptstadt, sondern
der des ganzen Landes sei slavisch. Endlich ist eine Geschichte Steier-
mark's in slovenischer Sprache von Krempl erschienen!" — Sieht
der Berichterstatter nicht ein, daß alle diese Calamitaten nur eine
Strafe des Himmels sind für den langweiligen, echt deutschen Streit
über „Gratz oder Gratz"? Der Slavismus würde kein „freudiges
Lächeln kichern" lassen, wenn er nicht sähe, d.,ß wir so ungeheueres
Gewicht auf Namen und Buchstaben legen. Und wenn Gratz auch
winklich früher eine slavische Colonie war, und wenn der Name
Gratz ein stockslavischer ist, folgt etwa das Geringste daraus gegen
die Existenz des deutschen Volkes in Steiermark? —
— Von ganz anderer Art ist ein Zeichen der Zeit, das uns aus
Wien berichtet wird und, so charakteristisch es ist, bis jetzt doch nir¬
gends beachtet wurde. Die Slaven, die in Wien aus allen Provin¬
zen zusammenströmen, Czechen, Slovaken, Russen, Serben, Polen,
Zllyrier; die in der deutschen Kaiserstadt nicht ihre speciellen volks-
thümlichen Unterschiede, nur ihre Gemeinsamkeit als Slaven überhaupt
fühlen und sich deshalb eng an einander schließen, wollten ein Mu¬
seum, nach Art des juridisch-politischen Lesevereins, gründen. Die
Regierung verweigerte nam die Erlaubniß dazu. Da öffnete der rus¬
sische Gesandte den Slaven sein Palais und räumte ihnen einen Saal
ein, wo sie alle slavischen Journale finden könnten, — natürlich gra¬
tis. Dieser Vorfall ist gewiß nur ein kleines Beispiel von dem, was
sich im Großen und Geheimen hundertmal begeben mag. Wird und
kann die österreichische Regierung dem russischen Gesandten jene poli¬
tische Gastfreundschaft verbieten? Oder wird sie Repressalien ergreifen
und dem österreichischen Gesandten in Se. Petersburg einen Wink
geben, dort die Polen an sich zu ziehen und zu protegiren? Gewiß
wird sie weder das Eine, noch das Andere thun. Wer aber in dem
politischen Kampf gegen Rußland bestehen will, muß sich ganz auf
die Seite der Freiheit stellen; sonst kämpft er mit ungleichen Waffen.
Rußland kennt nicht die halben Maßregeln, nicht die Rücksichten un¬
serer altersschwachen Diplomatie und ist daher Allen überlegen, o,e
ohne russische Nerven nach der Methode des -in<:ion i^imo fechten.
— Vielleicht bedauert man jetzt, daß man nicht lieber den Slaven
ihr Museum erlaubte. Das wäre am Ende nicht so bedenklich oder
ärgerlich gewesen.
— Die Deutschen sollten doch von Zeit zu Zeit ihre fernen
Brüder in Siebenbürgen eines Blickes würdigen. Vielleicht, daß sie
ihnen manchmal helfen, mit Rath und That, mit ihren weitumfas¬
senden Theorien beistehen, vielleicht daß sie von ihnen auch manchmal
etwas lernen könnten. Da sind z. B. die Sachsen in Siebenbürgen,
vielleicht dazu auserwählt, dereinst die deutsche Vorhut gegen die Ko¬
saken zu bilden. — Was weiß man von ihnen an der Elbe und am
Rheine? Und doch hängen sie durch deutsche Tugenden, durch Sitten
und Geisteskräfte mit ihrem Mutterlande zusammen, weniger durch
die Fehler, die ihnen als echten Deutschen eigenthümlich sein sollten.
Im Kampfe gegen die Wildheit ihrer Umgebungen, gezwungen, durch
ewige Wachsamkeit, durch beständige Thätigkeit die theils zugestande¬
nen, theils errungenen Privilegien und Rechte gegen die schleichende
Gewalt zu beschützen, haben sie ihre Kraft gestählt, sind vorsichtiger,
klüger, praktischer geworden. Sie sind wie die Eidervögel, die sich
aus den Ebenen und Wiesen in die Felsenhöhlen Islands und der
Orkneyinseln geflüchtet haben. Der bricht den Hals, der sie da oben
anzugreifen wagt. — Man lese nur das „Siebenbürgner Wochenblatt"
und seinen Gefährten, den „Satelliten." — Das ist eine Sprache,
eine Kraft, ein Muth! Nichts von der servilen Phraseologie deutscher
Zeitungen, Nichts von Kriecherei und Speichelleckerei; Alles gerade
heraus, ohne Umschweife, wie es ihnen um's Herz ist. Börne hätte
dort seine Deutschen gefunden, wie er sie wollte. Aber wer kennt das
Siebenbürgner Wochenblatt, den Brief der Freiheit auf schlechtem Pa¬
pier mit halbvcrwischten Lettern, von der äußersten Grenze der Civili¬
sation? — Wir empfehlen es nicht nur deutschen Zeitungslcscrn, son¬
dern auch vielen deutschen Journalisten als Erfrischung, wie als Probe
kernhaften und zugleich eleganten Styles.
— Der „Rheinischer Beobachter" des Professor Berche, eine
neue Zeitung, die in Köln vom 1. October an erscheinen soll', wird,
nach dem Programm zu urtheilen, sich sehr contemplativ verhalten,
also ein wahrer Beobachter sein. Berche scheint den Unterschied zwi¬
schen „liberal" und „conservativ"gar nicht zu begreifen, oder blos
moralisch zu nehmen.
— Edgar Bauer ist als Verfasser des confiscirten Buches:
„Die Kritik im Streit mit Staat und Kirche", in erster Instanz zu
drei Jahren Festung verurtheilt worden. Der Streit wurde vor der
Polizei geführt und da haben Staat und Kirche natürlich einen glän¬
zenden Sieg erfochten.
Herr Professor F. W. Gubitz schreibt uns aus Berlin vom 5.
September: Nro. 10. (Seite 475,) der „Grenzboten" enthält einen
Ausfall gegen mich, den ich hiermit als übereilt und völlig haltlos
bezeichne. — In der Regel nehme ich für meine Druckerei gar keine
Bestellungen vom Publicum an; sie sind mir kein Bedarf, sondern
eine Last, da meine Pressen mit dem Verlag meiner Buchhandlung
bisher so beschäftigt waren, daß ich zuweilen sogar in anderen Druk-
kereien mir noch helfen ließ. Die Arbeiten für das Königsstädtische
Theater habe ich nach mehrmaligem Ersuchen übernommen, sie aber
ohne allen Widerspruch gerne entbehrt, als man, nachdem ich längst
schon und pflichtgemäß über den immer sichtbarer gewordenen geistigen
Verfall der Königsstädtischen Bühne mich öffentlich geäußert, Mei¬
nungen daran zu knüpfen schien, die der Gesinnung und demnach der
Ehre des Mannes entgegen sind. Diese Arbeiten wurden deshalb
auch, als man sie mir in jüngster Zeit wiederholt von Neuem an¬
trug, auf das Entschiedenste von mir zurückgewiesen. Was nun
die Berichte der -Vossischen Zeitung über Hrn. Nestrov betrifft, so
habe ich selbst sie zwar nicht geschrieben (da ich für meine Person
jetzt die über das recitirende Drama des Königlichen Theaters über¬
nahm), wohl aber diesen Wiener Komiker in einigen Darstellungen
gesehen, und bin mit Vielen der Ueberzeugung, daß jene- Berichte,
in denen Hrn. Nestroy's gute Seiten gleichfalls von dem Referenten
anerkannt wurden, vor jedem urtheilsfähigem Unbefangenen bestehen
können und bestehen werden. Sind aber über-haupt, wie der Herr
Correspondent der „Grenzboten" sagt, die Theater-Berichte der Vossi¬
schen Zeitung von Einfluß, ist's eben nur, weil sie, so weit dies
redlichem Streben möglich, an der Wahrheit festhalten. Es ist auch
zu hoffen, daß dieser Einfluß den Zweck, die Erhebung des geistig
sehr gesunkenen Königsstädtischen Theaters, befördern hilft, und hiezu,
wenn ich's vermag, mitzuwirken, sollen mich keinerlei Anfälle hindern. —
Uebrigens stimmen die Berichte über Herrn Nestrov in der Vossischen
Zeitung mit denen der Spener'sehen Zeitung und auch anderer Blät¬
ter hinsichtlich des Kerns genugsam überein. Ihr Herr Correspondent
konnte daher feine Meinung gegen alle diese Urtheile kritisch geltend
machen, ohne das Urtheil der Vossischen durch Unterschiebung persön¬
licher Motive zu diSrreditiren.